Gottes Wort und Gottes Dienst: Festschrift für Jorg Christian Salzmann 9783534275113, 9783534275120

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Gottes Wort und Gottes Dienst: Festschrift für Jorg Christian Salzmann
 9783534275113, 9783534275120

Table of contents :
Cover
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort
Vorwort
Gottesdienst in Gegenwart eines verborgenen Gottes
1 Die biblische Tradition
2 Abgrenzung gegen benachbarte Vorstellungen
3 Äußerungen Luthers
4 Der liturgische Ansatz bei Christian und Karl Müller
5 Ein letzter Hinweis
Gottes Wort ist der Hammer!
1 Ein Wort wie ein Hammer
2 „Gottes Wort“ in den „Wörtern Jeremias“
3 Vom „verbo solo“ zum „sola scriptura“
4 Zusammenfassung und Ausblick
Gal 3,26–28 als fundamental ekklesiologischer Text im Dialog mit anderen neutestamentlichen Texten und seine Rezeptionen
1 Die ekklesiologische Bedeutung von Gal 3,26–28 im Briefkontext
2 Argumentation für die ekklesiologische Gleichwertigkeit der dritten Kategorie männlich/weiblich
3 Bibeltheologischer Umgang mit dem exegetischen Befund
Über die Wachstumsnotizen in der Apostelgeschichte
1 Einleitung
2 Die „Wachstumsnotizen“ und die Gliederung der Apostelgeschichte
3 Der Hintergrund der Wachstumsnotizen und ihre Bedeutung in der Apostelgeschichte
4. Der Abschluss der Apostelgeschichte – ein unerwartetes Ende
Die Heilige Schrift im Gottesdienst
1 Die Bezeichnungen
2 Das Alte Testament
3 Jesus Christus und das Alte Testament
4 Von Jesus zum Neuen Testament
5 Die Entstehung der zweiteiligen christlichen Bibel
6 Bibel und Wort Gottes
7 Was gilt in der Kirche?
8 Luthers Schriftverständnis
9 Die Bibel, die Kirche und die Ökumene
Eva, Adam und die Schlange
1 Gemeindevortrag
2 Nachlese
Warum predigt Meister Eckhart?
Predigen als ‚Geburtshilfe‘ der Gottesgeburt in der Seele
Meister Eckhart – ein Mitarbeiter Gottes
Dogmatik im Gedicht
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
The Reformer as Reader
1 Reading as an Integral Part of Luther’s Life
2 How Did Luther Read?
3 Whom and what did Luther read?
Conclusion
August Vilmar (1800–1868) und das Kirchenlied
1 Einleitung
2 Das Kirchenlied als Bekenntnis
3 Bekenntnis als Erfahrung
4 Das (evangelische) Kirchenlied in der Geschichte
5 Fazit und Ausblick
Nietzsches Ringen mit dem Tod Jesu Christi am Kreuz und um die Erlösung des Menschen
1 Schuldgefühl und Ressentiment
2 Zur Genealogie des „asketischen Ideals“
3 Schuld und Leid
4 „Verewigung der Person“ und Institutionalisierung des Glaubens
5 Die Person Jesu Christi
6 Rom: Ursprung der weltlichen Macht des Christentums
7 Gerechtigkeit durch Vergeben der Schuld
8 Erlösung des menschlichen Daseins
Gesetz und Evangelium, Gesetz und Recht
1 Erinnerung an Werner Elert
2 Tora und römisches Recht im Neuen Testament
3 Luther 1530 und Luthertum 1580: CA vs. Konkordienbuch
4 Die Tora im Neuen Testament, Rechtsbegründung im Neuen Testament
Radikales Vertrauen – unbeirrbare Hoffnung
1 ‚Hoffnungslose Fälle‘ unbeirrbaren Hoffens
2 Die Offenheit des Reiches Gottes für unser menschliches Hoffen
3 Die Offenheit unseres menschlichen Hoffens für das Reich Gottes
4 Konkrete Hoffnung: Fürbitte und Fürsorge
5 Hoffen und Erinnern
6 Hoffen und Mitarbeiten
7 Radikale Hoffnung
8 ‚Holzwege‘: Optimismus und Pessimismus im Diesseits
9 Die Möglichkeit und die Wirklichkeit des Guten
Schluss: Radikales Vertrauen – unbeirrbare Hoffnung
Alltagsbezüge im Gottesdienst
1 Vorüberlegungen
2 Der Weg in den Gottesdienst
3 Die Predigt als „Widerspruch zum Ritus im Kontext des Ritus“
4 Abkündigungen und Fürbitten
5 Gaben
6 Schlussgedanken
Lehren als Dienst im Auftrag Gottes
1 Vorbemerkungen
2 Die Heimkehr des Verlorenen Sohns
3 Der Autor des Spiegelungstextes: André Gide
4 Anmerkungen
5 Arbeitsvorschläge
6 Literatur
Gottesdienst zur Kirchweihe
1 Vorbemerkungen
2 Agendarische Ordnungen
3 Das Erleben von Kirchweihen
4 Schlussgedanken
Lk 8,4–15: Gesätes Wort Gottes
1 Das Gleichnis vom Sämann
2 Die Frage der Jünger
3 Die Deutung des Gleichnisses
4 Der Ausweg: Treue zum Wort Gottes und Fruchtbringen
Autorinnen- und Autorenverzeichnis
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Christoph Barnbrock Achim Behrens (Hg.)

Gottes Wort und Gottes Dienst Festschrift für Jorg Christian Salzmann

Christoph Barnbrock / Achim Behrens (Hg.)

Gottes Wort und Gottes Dienst

Christoph Barnbrock / Achim Behrens (Hg.)

Gottes Wort und Gottes Dienst Festschrift für Jorg Christian Salzmann

Die Bibelzitate in diesem Buch sind, abgesehen von eigenen Übersetzungen, folgenden Bibelausgaben entnommen: Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar

wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Umschlag und Titelei: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Umschlagsabbildung: Andachtsraum im „Kluge(n) Haus“ der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel (© Christoph Barnbrock) Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27511-3 Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-27512-0

Inhaltsverzeichnis Hans-Jörg Voigt Geleitwort ........................................................................................................................ 7 Christoph Barnbrock/Achim Behrens Vorwort ........................................................................................................................... 9 Volker Stolle Gottesdienst in Gegenwart eines verborgenen Gottes ............................................ 11 Achim Behrens Gottes Wort ist der Hammer!..................................................................................... 39 Heidrun Mader Gal 3,26-28 als fundamental ekklesiologischer Text im Dialog mit anderen neutestamentlichen Texten und seine Rezeptionen ......................... 64 Niklas Brandt Über die Wachstumsnotizen in der Apostelgeschichte .......................................... 80 Ulrich Heckel Die Heilige Schrift im Gottesdienst .........................................................................108 Ekkehard Mühlenberg Eva, Adam und die Schlange. ...................................................................................134 Stefanie Frost Warum predigt Meister Eckhart? ............................................................................163

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INHALTSVERZEICHNIS Johannes Schilling Dogmatik im Gedicht ................................................................................................ 184 Robert Kolb The Reformer as Reader............................................................................................ 197 Gilberto da Silva August Vilmar (1800–1868) und das Kirchenlied ................................................ 217 Henry Kerger Nietzsches Ringen mit dem Tod Jesu Christi am Kreuz und um die Erlösung des Menschen ....................................................................... 240 Folker Siegert Gesetz und Evangelium, Gesetz und Recht ............................................................ 281 Christian Neddens Radikales Vertrauen – unbeirrbare Hoffnung ....................................................... 292 Christoph Barnbrock Alltagsbezüge im Gottesdienst ................................................................................. 313 Diethardt Roth Lehren als Dienst im Auftrag Gottes....................................................................... 330 Michael Schätzel/Christoph Barnbrock Gottesdienst zur Kirchweihe .................................................................................... 353 Peter Söllner Lk 8,4–15: Gesätes Wort Gottes ............................................................................... 371 Autorinnen- und Autorenverzeichnis .................................................................... 379

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Geleitwort Hans-Jörg Voigt „Denn es ist eyn ernste grosse sache, da Christo und aller wellt viel anligt, das wyr dem jungen volck helffen und ratten. Da mit ist den auch uns und allen geholffen und geratten. Und denckt, das soliche stille, heymliche, tueckische anfechtunge des teuffels will mit grossem Christlichen ernst geweret seyn. Lieben herrn, mus man jerlich so viel wenden an buechsen, wege, stege, demme und der gleichen unzelichen stucke mehr, da mit eyne stad zeyttlich fride und gemach habe, Warumb sollt man nicht viel mehr doch auch so viel wenden an die duerfftige arme jugent, das man eynen geschickten man oder zween hielte zu schulmeystern?“1

Der mit dieser Festschrift geehrte Pfarrer und Professor Dr. Jorg Christian Salzmann hat in Luthers Sinn große Teile seiner Lebensarbeitszeit als „geschickter Schulmeyster“ für die „duerfftige arme jugent“ gearbeitet. Fast ein viertel Jahrhundert, vom 9. November 1997 bis zum 31. August 2021 war er Professor, zunächst für Altes und dann für Neues Testament, an der Lutherischen Theologischen Hochschule (LThH) der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) in Oberursel. Dafür schuldet seine Kirche ihm großen Dank! Er hat „wege, stege, demme und der gleichen unzelichen stucke mehr“ in die Herzen und Sinne junger Menschen mit der biblischen Botschaft geebnet, damit nicht nur weltlicher Friede, sondern letzten Endes ewiger Friede verkündigt werde.

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An die Burgermeyster und Radherrn allerley stedte ynn Deutschen landen. Martinus Luther. 1524, WA 15, 30,12–21

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HANS-JÖRG VOIGT: GELEITWORT Dabei liegt ihm der „geschickte Schulmeyster“ quasi im Blut, war doch schon sein Vater (+ 2018) Professor für Pädagogik an der Universität Osnabrück. Auch persönlich konnte ich mich von dieser Begabung überzeugen bei mündlichen Prüfungen zum Ersten und Zweiten Theologischen Examen, an denen ich als Mitglied der Prüfungskommissionen beteiligt war. Ich beziehe mich hierbei auf keinen Geringeren als Sokrates, dessen Mutter eine μαία eine Hebamme war. Sokrates soll seine Gesprächstechnik mit der Geburtshilfe verglichen haben. Gemeint ist, dass man einer Person zu einer Erkenntnis verhilft, indem man sie durch geeignete Fragen dazu veranlasst, den betreffenden Sachverhalt selbst herauszufinden. So wird die Einsicht mit Hilfe der Hebamme – des Lernhelfers – geboren, der Lernende ist in diesem Bild die Gebärende. Den Gegensatz dazu bildet Unterricht, in dem der Lehrer den Schülern den Stoff dozierend mitteilt. Μαιευτική nennt man diese Hebammenkunst. Jorg Christian Salzmann ist der beste „Mäeut“, den ich kenne. Nicht unerwähnt soll in diesem Zusammenhang bleiben, dass Jorg Christian Salzmann über lange Jahre in der Theologischen Kommission der SELK mitgearbeitet hat. Hierzu sei die „Biblische Hermeneutik“ 2 erwähnt, an deren Entstehung er maßgeblich beteiligt war. Auch für diesen Dienst schuldet seine Kirche dem hier zu Ehrenden großen Dank. Es ist in unseren Tagen sehr beunruhigend, wenn der Berufstand von Lehrern und Lehrerinnen in unserm Land an Ansehen einzubüßen scheint. Für den Reformator Martin Luther war ein „geschickter Schulmeyster“ ohne Zweifel ein Ehrentitel. Dass ein solches Amt biblisch begründet ist, darf hier nicht unerwähnt bleiben. Im Epheserbrief heißt es: „Und Christus selbst gab den Heiligen die einen als Apostel, andere als Propheten, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer“3. Der mit dieser Festschrift geehrte hatte seine besonderen Gaben und beruflichen Schwerpunkte deutlich in der zweiten Vershälfte. Hannover, zwischen den Jahren 2021 Bischof Hans-Jörg Voigt D.D. 2 3

Biblische Hermeneutik, Hrsg. von der Kirchenleitung der SELK, 2011. Eph 4,11.

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Vorwort Christoph Barnbrock/Achim Behrens Im Jahr 2021 durfte unser Kollege Jorg Christian Salzmann seinen 65. Geburtstag feiern und wurde im Sommer mit einem Festakt in den Ruhestand verabschiedet. Im Nachgang zu diesen Ereignissen erscheint nun diese Festschrift. Als Titel haben wir „Gottes Wort und Gottes Dienst“ gewählt. Dabei klingt im zweiten Wortpaar bewusst auch das Wort „Gottesdienst“ an. Thematisch ist so die Brücke geschlagen zu den Forschungsschwerpunkten Salzmanns, nämlich der Schriftauslegung und dem frühchristlichen Gottesdienst. Mit dem Wortpaar „Gottes Dienst“ klingt zugleich eine praktische Komponente an. Recht verstandene Theologie bleibt nicht eingesperrt in eine Studierstube, sondern ist und bleibt bezogen auf die Praxis. Auch Jorg Salzmann war von 1990–1997 Pfarrer in der St. Michaelis-Gemeinde der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) in Kassel und kennt die praktische Gemeindearbeit aus eigener Anschauung. Und dass er nach der Arbeit am Schreibtisch immer wieder auch den Drang und als Vorsitzender des Grundstücksvereins der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel (LThH) auch die Verpflichtung verspürte, auf dem Campus zum Beispiel mit Werkzeug und Motorsäge selbst praktisch tätig zu werden, war Teil des Dienstes, den er an dieser Hochschule getan hat. So war Jorg Salzmann immer auch ein Grenzgänger: • zwischen Theorie und Praxis, • zwischen den nationalen Kontexten: mit Studium in Deutschland (Oberursel, Göttingen und Tübingen) und Schottland (St. Andrews), • zwischen Kirchengeschichte (von 1983–1988 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter für Kirchengeschichte und patristische Theologie an der Georg-

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CHRISTOPH BARNBROCK/ACHIM BEHRENS: VORWORT



August-Universität Göttingen) und Exegese (im Fachbereich Neues Testament wurde er an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen promoviert), zwischen Altem und Neuem Testament (1997–2005 war er Professor für Altes Testament an der LThH, 2005–2021 dann Professor für Neues Testament).

Die Beiträge dieses Bandes spiegeln die Wirksamkeit Salzmanns, indem Weggefährtinnen und Weggefährten aus verschiedenen Generationen Beiträge beigesteuert haben. Dabei setzt der Band bei der Beschäftigung mit dem Wort Gottes an und führt über kirchengeschichtliche und systematisch-theologische Beiträge zu Reflexionen aus dem Bereich der Praktischen Theologie. Als roter Faden lässt sich das erkennen, was im Titel zusammengefasst ist: dass Menschen dem Wort Gottes auf die Spur kommen, gelegentlich auch mit ihm ringen und sie konkrete Perspektiven für ihren Dienst als Kinder Gottes in Kirche und Welt entdecken. Neben den Autorinnen und Autoren, die Beiträge für diesen Band zur Verfügung gestellt haben, danken wir dem Team um Dr. Jan-Pieter Forßmann von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für die Aufnahme des Bandes in das Verlagsprogramm und die unkomplizierte Betreuung dieser Publikation. Für Druckkostenzuschüsse danken wir der Fakultät und dem Kreis der Freunde und Förderer der LThH sowie der SELK, der Jorg Salzmann neben seiner Tätigkeit als Pfarrer und Professor unter anderem auch als langjähriges Mitglied in ihrer Theologischen Kommission und als Vorsitzender der Jury des HermannSasse-Preises der SELK gedient hat. Oberursel am 31. Dezember 2021 Christoph Barnbrock und Achim Behrens

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Gottesdienst in Gegenwart eines verborgenen Gottes Volker Stolle Aufgrund seiner Spurensuche im Neuen Testament nach Aussagen über den verborgenen Gott hat Jorg Christian Salzmann zwar eine gewisse Anschlussfähigkeit „für mancherlei zeitgenössisches Hadern mit Gott“ festgestellt, zugleich aber darauf aufmerksam gemacht, dass im Neuen Testament „ganz andere Fragen beantwortet werden als ein modernes Gefühl der Gottferne und des Unverständnisses Gott gegenüber“. Die eigenen Leiden würden hier in die Nähe des Leidens Christi gerückt. Die von ihm näher betrachteten Texte könnten „in ihrer Gesamtheit als Einladung zur Leidensbewältigung im Glauben und zur Hoffnung verstanden werden“.1 Diese Beobachtung lädt dazu ein, den Gesprächsfaden aufzunehmen und den Gedanken noch ein wenig weiter auszuspinnen. Liegen die beiden Weisen, Fragen an Gott zu stellen oder Gott sogar infrage zu stellen, nicht vielleicht dichter beieinander, als es auf den ersten Blick hin erscheint? Der deus absconditus ist nicht nur im Gegenüber zum deus revelatus zu sehen. Über die Verborgenheit Gottes lohnt sich auch im Bereich seiner Offenbarung nachzudenken.2 Gottes Verbor1

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Jorg Christian Salzmann, Der verborgene Gott im Neuen Testament – eine Spurensuche, LuThK 45 (2021), 3–26, Zitate dort 3, 4, 26. Werner Elert (1885–1954) beschränkte seine Betrachtung dieser „Dialektik“ allein auf die Offenbarung des Gesetzes: Wenn „der Zorn Gottes geoffenbart wird, so sind Gesetz und Zorn sowohl Offenbarung wie seine Verhüllung. Was Gott im Augenblick der Zornesoffenbarung verhüllt, ist aber genau dasselbe, was er in der Sicht des Evangeliums offenbart, nämlich seine Gnade. Diese Offenbarung ist das ‚helle Licht des

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VOLKER STOLLE genheit hat neben ihrer als schmerzlich empfundenen Seite zugleich eine ausgesprochen faszinierende Seite. Der Eindruck einer Verborgenheit Gottes kann ja sehr unterschiedliche Ursachen haben. Das Gefühl seiner Ferne kann darauf beruhen, dass er sich selbst zurückgezogen hat, aber auch darauf, dass er überhaupt nicht existiert. Ferner kann es sich um eine nur vermeintliche Abwesenheit handeln, sei es, dass man Gott unter falschen Voraussetzungen aufgrund unangemessener Indizien sucht, oder sei es, dass er trotz seiner aufmerksamen Nähe dennoch nicht allgemein wahrnehmbar ist. Er kann im Verborgenen durchaus sehr aktiv sein. Ja, die Rede von der Offenbarung Gottes macht überhaupt nur Sinn, wenn man zugleich von einer weiter andauernden Verborgenheit Gottes ausgeht. Gott ist in seinem Wirken ja nicht erschöpft und am Ende. Wenn alles schon klar wäre, wäre überraschend Neues ausgeschlossen. Insofern ist ein simul von deus revelatus et absconditus zu konstatieren. Die allgemeine zeitgenössische Wahrnehmung und die speziell christliche Wahrnehmung berühren sich demnach: Gott „ist kein ausgeklügelt Buch“, könnte man in Abwandlung des Diktums, das Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) über den Menschen formuliert hat,3 sagen, er bleibt in bezeichnender Weise geheimnisvoll verborgen. 4 Erst recht in seiner gnädigen Großzügigkeit bleibt er einfach unbegreiflich.

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Evangeliums von der Klarheit Christi, welcher ist das Ebenbild Gottes‘ (2. Kor. 4,4)“ (Der christliche Glaube. Grundlinien der lutherischen Dogmatik, Hamburg 51960, 139–140; vgl. 148, 155, 280, 284). Allerdings bleibt auch die Gnade durchaus noch verborgen. So gilt die angesprochene Dialektik in anderer Weise auch für die Offenbarung des Evangeliums, wie zu zeigen sein wird. In dieser Hinsicht führt Gottes Verborgenheit zum Gotteslob und Gebet. Und es gilt dann nicht, was Elert vom deus absconditus generell feststellt: „Er ist der absolut Fremde, zu dem es keine Brücke, keinen Weg, keine Verständigungsmöglichkeit gibt. Wir wissen nur, daß er uns entgegensteht. Ihm gegenüber sind wir absolut einsam“ (dort, 155). Vgl. dagegen 1 Petr 4,12. Vielmehr bleibt hier die Möglichkeit, im Gedenken an Gott ihn um sein eigenes Gedenken an seine Gemeinde zu bitten. Vorangestelltes Motto bei: Conrad Ferdinand Meyer, Huttens letzte Tage, Leipzig 201901, 1. Von einem „Mensch mit seinem Widerspruch“ (Meyer) unterscheidet sich Gott darin, dass Menschen zwar Erfahrungen mit ihm machen, die ihnen widersprüchlich

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GOTTESDIENST IN GEGENWART EINES VERBORGENEN GOTTES

1 Die biblische Tradition So besagt schon der Ausruf bei Deuterojesaja, den man als Antwort auf das KyrosOrakel (Jes 44,24–45,7) verstehen kann: „Fürwahr, du bist ein sich verbergender (‫ סתר‬im hit.) Gott, Israels Gott, ein Helfender (‫( “!)מושיע‬Jes 45,15). Das verborgene Wirken Gottes ist auf Rettung ausgerichtet.5 Gottes Heil spielt sich keineswegs nur offensichtlich und deutlich mitgeteilt ab, sondern weist einen weit größeren Rahmen auf. Gerade indem Gott sein „Herz“ offenbart,6 bleibt er wunderbar verborgen und großartig unbegreiflich. Weil ihm seine Zuwendung zu uns Menschen Herzenssache ist, liegt in ihr ein „großes Geheimnis“ (1 Tim 3,16). Gerade weil Gott „ein Gott der Hoffnung“ ist (Röm 15,13), ist Glaube an ihn so beglückend. Auch Gottes Offenbarwerden in Christus trägt den Charakter von Verheißung seines endgültigen Offenbarwerdens. Ein kurzes Gleichnis Jesu bringt es auf den Punkt: „Ein anderes Gleichnis sagte er ihnen: Das Himmelreich gleicht einem Sauerteig, den eine Frau nahm und unter einen halben Zentner Mehl mengte, bis es ganz durchsäuert war“ (Mt 13,33; Lk 13,20–21). Gottes Herrschaft erweist ihre Wirkmächtigkeit gerade auf die Weise, dass sie unter einer Unmenge Menschen, die ganz auf sie angewiesen sind und die sie erreichen will, „verborgen wird“ (ἐνέκρυψεν).7 Gott ist in einer für

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erscheinen, ihn aber doch als den einen, mit sich selbst identischen und in seiner Gnade treuen Gott bekennen. „Dieser Satz zieht das theologische Fazit aus dem Kyros-Wort, das Deuterojesaja in die Mitte seiner Verkündigung gestellt hat“ (Claus Westermann, Das Buch Jesaja. Kapitel 40–66, ATD 19, Göttingen 1966, 139). LXX wendet die Aussage anthropologisch: „Du bist Gott, und wir wussten es nicht.“ David konnte ja „ein Mann nach Gottes Herzen“, der alle seine Wünsche erfüllte (Act 13,22), nur dann sein, wenn Gott ihm zuvor sein Herz geöffnet hatte. Und Gott spricht auch dann aus, wie ihm ums Herz ist, wenn das Herz der Menschen dies nicht beherzigt (Gen 8,21). Dabei bleibt der Aspekt der Hoffnung (2 Sam 2,35; Jer 3,15; 32,41) aufgrund seiner bisher noch nicht an ihr Ziel gelangten Barmherzigkeit (Hos 11,8). Nicht der Erwähnung bedarf offenbar, wie groß die Menge Sauerteig ist. Üblicherweise hätte man immerhin 2 kg davon für die 40 Liter Mehl gebraucht (Ulrich Luz,

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VOLKER STOLLE ihn charakteristischen Verborgenheit rettend zur Stelle, und das macht den an Christus Glaubenden Mut, sich von ihm leiten zu lassen und sich zu ihm zu bekennen. Widerstände vonseiten des Mehls gegen seine einsetzende Säuerung, die ins Leiden führten, sind im Gleichnis offensichtlich nicht im Blick.8 Von Verborgenheit der Gottesherrschaft ist dennoch die Rede. Salzmann geht auf „die im Geheimnis verborgene Weisheit Gottes“ (ἀποκεκρυμμένη, quae abscondita est) ein, von der Paulus 1 Kor 2,7–8 spricht, sieht aber „eben auch dieses Geheimnis durch die Predigt des Evangeliums offenbar geworden“.9 Paulus sagt ja ausdrücklich: „Uns aber hat Gott offenbart (ἀποκαλύπτω) durch den Geist; denn der Geist erkundet (ἐραυνάω) alles, auch die Tiefen Gottes“ (1 Kor 2,10). Doch offenbar sieht Paulus diese geistliche Erkundung noch nicht als abgeschlossen an, sondern versteht sie als einen fortlaufenden Prozess.10 Paulus unterscheidet denn auch gleich anschließend zwischen dem „Geist Gottes“, der „das, was Gott betrifft, erkennt“, und dem „Geist aus Gott“, der uns wissen lässt, „was, uns von Gott geschenkt ist“ (1 Kor 2,11–12). „Diese Formulierung anstelle des Genitivs (V 12a) betont die göttliche Herkunft und Verfügungsgewalt über den Geist. Menschen – auch Christen – haben den Geist nie einfach als Besitz oder werden gar zu Geist.“11 Auch im Geist erfolgt keine mystische Identifikation des Menschen mit Gott, sondern es bleibt der eschatologische Abstand, der eine fortdauernde Verborgenheit Gottes für die Glaubenden bei aller vom Geist geschenkten Gnadengewissheit impliziert. Zu Röm 11,33–36 bemerkt Salzmann, „dass die Menschen nicht auf derselben Ebene wie Gott stehen“ und deshalb auch Paulus noch manches verborgen und

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Das Evangelium nach Matthäus [Mt 8–17], EKK I/2, Zürich u. Neukirchen-Vluyn 1990, 334). Die Frau knetet den Teig nicht etwa, sondern wartet die Wirkung des Sauerteigs ab. Salzmann, Der verborgene Gott (s. Anm. 1), 24. Der Wechsel vom ingressiven Aorist (ἀπεκάλυψεν) zum Präsens (ἐραυνᾷ) verdient Beachtung. Auch wenn die Christen Empfänger der Offenbarung sind, bleiben Gott und sein Geist das unverfügbare Subjekt des Offenbarens (Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther [1Kor 1,1–6,11], EKK VII/1, Zürich u. Neukirchen-Vluyn 1991, 247.257). – Vgl. Erich Fascher, Der erste Brief des Paulus an die Korinther I (Kap. 1–7), ThHK 7/I, Berlin 1975, z. St. 126–127. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (s. Anm. 10), z. St. 260.

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GOTTESDIENST IN GEGENWART EINES VERBORGENEN GOTTES unverständlich bleibt: „Was also Paulus nicht begreifen kann, ist doch bei Gott, darauf vertraut er, kein Problem.“12 Eben darum geht es, um dieses Vertrauen auf Gott in seiner Verborgenheit! In dem späteren Paulusbrief, der an die Gemeinde in Kolossä gerichtet ist, heißt es nicht etwa, „alle Schätze (thesauri) der Weisheit und der Erkenntnis“ seien in Christus offenbart (revelati), wie Paulus 1 Kor 2,10 das Wirken des Geistes schildert (vgl. auch Eph 3,18), sondern sie blieben dort „verborgen“ (ἀπόκρυφοι, absconditi, Kol 2,3).13 Obwohl der Briefschreiber seinen Lesern bezeugt: Ihr seid durch die Taufe „mit Christus auferweckt“, stellt er ausdrücklich fest: „Euer Leben ist verborgen (κέκρυπται, abscondita est) mit Christus in Gott“ (Kol 3,1.3). Gott bleibt eben „unsichtbar“ (ἀόρατος), auch wenn er in der Herrschaft Christi in einzigartiger Weise als „Bild“ (εἰκών) begegnet (Kol 1,13–15). „Wenn aber Christus, euer Leben, sich offenbaren wird, dann (τότε, tunc) werdet ihr auch offenbar werden mit ihm in Herrlichkeit“ (Kol 3,4). Solange Gott seine „Herrlichkeit“ (δόξα) noch nicht voll erschlossen hat, bleibt seine verheißungsvolle Verborgenheit gewahrt. Dieser Brief bringt also „ein dialektisches Moment ein, das den eschatologischen Vorbehalt sichert“.14 Der Hinweis auf die Verborgenheit ist an solchen Stellen in einem ganz positiven Sinne zu verstehen. Bei Gott ist etwas sicher und gut aufgehoben, was sonst 12 13

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Salzmann, Der verborgene Gott (s. Anm. 1), 6f. Diese Aussage wird durch eine existentiale Interpretation abgeschwächt, wie sie Eduard Schweizer vertreten hat: „Nur in immer neuem Hören kann Offenbarung geschehen“ (Der Brief an die Kolosser, EKK 12, Zürich u. Neukirchen-Vluyn 1976, 94). Demnach soll gesagt werden, die Weisheit sei zwar nicht verborgen, erschließe sich aber nicht ein für alle Mal, sondern je und dann immer wieder. Vgl. schon Karl Barth: „Also kein direkt zu verstehendes, einmalig zu erfassendes Ding unter Dingen, sondern das unter Furcht und Zittern immer neu zu vernehmende, weil immer neu gesprochene Wort des Ursprungs aller Dinge“ (Der Römerbrief, München 51926, 4). Noch weiter ging Ernst Lohmeyer, der aus der Aussage einen versteckten Imperativ zu frommer „Bemühung“ herauslas und „dem Glauben die bleibende Pflicht auferlegt, sich der Weisheit denkend zu bemächtigen“ (Der Brief an die Kolosser, KEK 9, Göttingen 111956, 94). Bei aller noch so bemühten Glaubenserkenntnis bleibt das „Geheimnis“ dennoch „verborgen“. Martin Karrer, καλύπτω, TBLNT II (NA, Wuppertal 2000), 1422–1430, Zitat dort 1430.

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VOLKER STOLLE in der gefährdeten und vergänglichen Weltwirklichkeit verloren gehen kann. 15 Gott hat sich nicht zurückgezogen, sondern er ist noch auf dem Weg, sich uns in seiner ganzen Herrlichkeit zu offenbaren. Paulus spricht in diesem Fall der eschatologisch ausgerichteten Heilserwartung außer von Verborgenheit (1 Kor 2,7) oder in der bereits genannten Begrifflichkeit des Unergründlichen (Röm 11,33)16 vor allem von Verborgenheit von Unsichtbarkeit: Achtet nicht auf „das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare“! Denn „das Sichtbare ist nur für den Augenblick, das Unsichtbare (τὰ μὴ βλεπόμενα) aber für alle Zeit“ (2 Kor 4,18). So gesehen steht Gottes Verborgenheit für gültige und verlässliche Geborgenheit. Was nicht mit den Augen wahrzunehmen und mit Händen nicht zu greifen ist, ist deshalb nicht etwa abwesend, sondern in einem wahren Sinne zugegen, unmittelbar nahe, bestimmend und wirksam. Gerade die letztlich entscheidende Nähe Gottes liegt in seiner Verborgenheit. „Denn wir wandeln, indem wir uns am Glauben und nicht an Geschautem (οὐ διὰ εἴδους) orientieren“ (2 Kor 5,7).17 Glaube ist also die Kunst, mit der noch andauernden Verborgenheit Gottes umzugehen. „Wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das

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Gerade das lateinische Kompositum absconditus betont diesen Aspekt, indem es als verstärktes conditus die Bedeutung unterstreicht, die bereits im Simplex enthalten ist. Condo umfasst das Bedeutungsspektrum gründen (ab urbe condita), bauen, sicher aufbewahren (oleum conditum), verstecken und verbergen (lunam condunt nubes). Auch das deutsche Wort verbergen beruht auf dem Grundwort bergen mit dem Partizip geborgen. Dabei korrespondiert „letztlich unausforschlich“ (ἀνεξερεύνητος) dem Simplex „erforschen“ (ἐραυνάω) in 1 Kor 2,10, während „letztlich unaufspürbar“ (ἀνεξιχνίαστος) in Eph 3,18 noch einmal aufgenommen wird. Während das Schauen sehr profanen Fakten gilt, liegt die offenbarende Dimension im Unsichtbaren. „Das Geschaute ist dann nicht ein noch ausstehendes Zukünftiges, das ersehnt, sondern ein gegenwärtig Vorhandenes, das ausgeschlossen wird, und d. h., daß hier als ‚Offensichtliches‘ das Verfolgtwerden von 4,17f. aufgenommen wird. Paulus will sagen: Wir orientieren uns am Inhalt der Glaubensformel […] – aber nicht an den offenkundigen Verfolgungen als vorläufigen und vergänglichen Erscheinungen“ (Wolfgang Schenk, Gemeinde im Lernprozeß. Die Korintherbriefe, BiAuPr 22, Stuttgart 21980, 119–120).

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GOTTESDIENST IN GEGENWART EINES VERBORGENEN GOTTES hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld“ (Röm 8,24–25). Derzeit ist Schauen (βλέπομεν ἄρτι) noch nicht in der letzten Direktheit möglich, sondern nur andeutungsweise wie in einen matten Spiegel: „Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“ (1 Kor 13,12). Die eigene Sehschwäche ist nicht entscheidend, wenn nur Gott uns sicher im Blick behält. Die feste und gewisse Größe ist Gott, während der Mensch sich seiner selbst nicht aus sich heraus sicher sein kann. Die vordringliche Frage ist deshalb, ob Gott daran interessiert ist, dass ich lebe. Dann wird die andere Frage, ob und wie ich wirklich existiere, schon ihre Antwort finden. Letztlich erfolgt diese Antwort im „Gott Schauen“ (Mt 5,8),18 in der perfecta visio Dei beatifica.19 Menschliches Schauen kann zum Staunen führen, ja sogar zum Erahnen Gottes: „Denn, was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird seit der Schöpfung der Welt ersehen (καθορᾶται) aus seinen Werken, wenn man sie wahrnimmt, sodass sie keine Entschuldigung haben“ (Röm 1,19–20). Aber solche Wahrnehmung aufgrund von Offenbarung führt nach Paulus gerade nicht zu einer angemessenen Kommunikation mit Gott. Schauen, das letztlich Theorie bleibt, ist nicht schon der Schlüssel, um die letzte Wirklichkeit zu erfassen. Der Gott der Bibel ist keine Weltformel, mit deren Hilfe sich alles Weltgeschehen entschlüsseln und erklären ließe. So bliebe für Beten nur der Sinn, sich mit dem abzufinden, was sowieso kommt.20 Und aller Gottesdienst würde 18

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Diese Gottesschau darf nicht als religiöse Selbstgenügsamkeit verstanden werden, da Gott ja alles in allem umfassen wird (1 Kor 15,28), die soziale Dimension nicht abblendet, sondern integriert. „Objectum visionis hujus non tantum Goel [‫ = גאל‬Erlöser] noster in assumta humanitate, sed & ipsa Divina essentia est“ (Johann Friedrich König, Theologia Positiva Acroamatica, Rostock 51675, De Theologiae procognitis § 308). Bei der Menschwerdung bleibt also eine Verborgenheit Gottes bestehen, die Gott erst noch auflösen wird. Vgl. den berühmten § 146 in der Glaubenslehre von Friedrich Schleiermacher (Der christliche Glaube, 21830/31, Studienausgabe, hg. v. Rolf Schäfer, Berlin 2008, 417– 420): „Dann aber wird beides auch dadurch erreicht, daß unter Voraussetzung der Differenz der persönlichen Vorgefühle und Wünsche Jeder sich für die Andern zu

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VOLKER STOLLE nur dazu dienen, sich der eigenen Lebenssituation bewusst zu werden. Das letztlich Entscheidende bliebe verborgen. Es erschließt sich nur, wenn man sich auf das Verborgene einlässt. Gott teilt sich nicht im Vordergründigen mit, sondern durch das Vordergründige hindurch, das er transparent werden lässt zu sich hin. In Gott ist nicht allein Zukünftiges verborgen. Auch Vergangenes, das in Vergessenheit geraten ist und damit von der Bildfläche verschwunden ist, ist aus Gottes Gedächtnis nicht ausgelöscht, sondern bleibt in seiner Verborgenheit geborgen. Darauf macht das Sendschreiben in der Johannesapokalypse an die Gemeinde in Pergamon aufmerksam: „Dem Sieger, ihm werde ich vom verborgenen Manna (μάννα τὸ κεκρυμμένον, manna absconditum) geben“ (Apk 2,17). Wer sich Christus und damit dem Gott Israels zuwendet, bekommt Anteil an Gottes Verheißung für Israel, indem er in die himmlische Speisung mit dem seit der Zerstörung des irdischen Tempels in Jerusalem nun im Himmel aufbewahrten Manna (vgl. Ex 16,32–34) mit einbezogen wird.21 Gottes frühere Rettungsgeschichte behält bei ihm Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung. Sie unterliegt nicht dem Auflösungsprozess irdischer Vergänglichkeit, sondern bleibt weiterhin für alle Zeiten wirksam. Sie verbirgt sich zwar für Menschen, bleibt aber zum Heil der Menschen bei Gott geborgen und durchaus wirklich. Auch nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem und dem Verlust der Bundeslade bleibt das Manna der Wüstenzeit aufbewahrt; es hat in seiner Wunderhaftigkeit verborgenen Bestand, weil es Gott bewusst bleibt.

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dem Gebet vereinige, daß sie durch die Thatsachen der göttlichen Weltregierung, sei es nun unter der Form der Ergebung oder unter der der Dankbarkeit zur Annäherung an die reine Freude an Gott immer mehr möchten gebracht werden“ (a. a. O., 420,26– 32). Das zunächst in der Bundeslade aufbewahrte Manna (Ex 16,32–34) war der Legende nach bei Zerstörung des Tempels von Jeremia gerettet und zum Horeb gebracht und dort versteckt worden bis zur Zeit der Erneuerung des Tempelgottesdienstes (2 Mac 2,4–8). Nach einer anderen Überlieferung hatte die Erde die heiligen Dinge aus dem Allerheiligsten in sich aufgenommen (ApcBar[syr] 6,6–10), bis „wieder die Mannavorräte von oben herabfallen; und sie werden davon in jenen Jahren essen, weil sie das Ende der Zeiten erlebt haben“ (29,8). Vgl. auch Joh 6,31–35.48–50 (Manna – wahres Brot vom Himmel).

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GOTTESDIENST IN GEGENWART EINES VERBORGENEN GOTTES Indem auch die Vergangenheit aufbewahrt und gültig bleibt, ist Gott in seiner Verborgenheit nicht als reines Postulat zu werten. Vielmehr wird von dem deus revelatus auf den deus in novissimis geschlossen. Dass Gott Himmel, Erde und Menschen ins Dasein spricht und sich bezeugt, begründet die Existenz der Welt. Und indem er sich immer wieder ganz konkret zu Wort gemeldet hat, hat er sich bezeugt. Gerade dadurch hat er sich zugleich auch verborgen und lässt sein Offenbarwerden erwarten. So ist auch Jesus in seinem Lebenseinsatz zum Heil der Vielen auf verborgene Weise bei den Seinen gegenwärtig. Das Gedächtnis, das er gestiftet hat, ermöglicht das. „Empfangt die Himmelslust, die heilge Gottesspeise, die auf verborgne Weise erquicket jede Brust“, so lädt die Gemeinde im Lied von Ernst Moritz Arndt (1819) zum Tisch des Herrn ein, an dem er selbst der Gastgeber ist.22 Arndt nahm dabei auf, was vorher Martin Luther über den Leib Christi im Abendmahl eingeräumt hatte: „verborgen im Brot so klein“.23 Glaubenssprache bezeichnet Sterben als Heimgang, bekennt angesichts offensichtlicher Vergänglichkeit einen Fortgang des Lebens auf verborgene Weise als Präsenz im Gedächtnis Gottes und hofft auf eine Zukunft, die durch und durch von Gottes ewiger Wirklichkeit (δόξα) bestimmt ist.24 Dem entspricht der Rat Jesu: „Bete zu deinem Vater im Verborgenen (ἐν τῷ κρυπτῷ), und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird es dir vergelten“ (Mt 6,6), ein Rat, der sein eigenes Verhalten widerspiegelt (Mt 14,23; 26,39 mit Parallelen, vgl. Mk 1,35 par). Sicherlich geht es zunächst um die Haltung des Beters, dass er das Gebet nicht als Mittel zu frommer Selbstdarstellung missbraucht. Aber dieser Rückzug aus der Öffentlichkeit und aus der eigenen bunten Lebenswelt macht nur dann Sinn, wenn bei solcher eigenen radikalen Zurücknahme Gott tatsächlich begegnet, und zwar Gott als „Vater“, in aufmerksam zugewandter Nähe. Gott sieht den Beter auch dann, wenn der sich versteckt und selbst nichts sieht.

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ELKG 160,3; ELKG² 243,3; EG 213,2. Jesus Christus, unser Heiland (1524); ELKG 154,2; ELKG² 299,2; EG 215,2. Schon Paulus spricht von dem Tod der Christen als einem „Schlaf“ (κοιμώμενοι/ κεκοιμήμενοι) (1 Thess 4,13; 1 Kor 15,20); aus diesem Schlaf wird aber keiner von einer inneren Uhr aufgeweckt.

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VOLKER STOLLE Und der Mensch muss sich nicht etwa ertappt und bloßgestellt fühlen, sondern darf sich verstanden und liebevoll bestätigt (ἀποδώσει σοι) wissen. Es gibt Dinge zwischen dem Vater und dem Gotteskind, die in den Raum der Verborgenheit gehören und nicht in die Öffentlichkeit passen, die also die menschliche Erfahrungswelt transzendieren. Gerade im Verborgenen begegnen sich Gott und Mensch. Diese Begegnung geht sogar über den Verkündigungsauftrag (Mt 10,26–27; vgl. Mt 5,14–16) hinaus. Denn alle menschlichen Worte können nur auf Gottes Wort verweisen. Als Offenbarungsrede respektieren sie zugleich Gottes Verborgenheit und bewahren vor dem Abgleiten in rationalistische Banalität. Bedeutungsvoll werden sie gerade dadurch, dass sie mit Gottes rettendem Eingreifen rechnen, das alle irdische Wahrnehmung transzendiert, und deshalb eine unsichtbare und verborgene Seite ansprechen. Denn Gott geht als Schöpfer von Himmel und Erde nicht in seiner Schöpfung auf. Sosehr sie als sein Werk der Eigenart ihres Meisters Ausdruck verleiht, bleibt dieser doch zugleich das Gegenüber zur Welt und geht in seinem Wesen und Wirken weit über diese begrenzte und vergängliche Wirklichkeit hinaus. Angekündigt ist jedoch eine Unmittelbarkeit der Begegnung, die diese noch bestehende Wirklichkeitsbarriere völlig aufhebt (vgl. 1 Kor 15,42–49). Eberhard Jüngel wies den von Ludwig Feuerbach erhobenen Vorwurf der „Borniertheit des Glaubens“ entschieden zurück: „Verborgenheit ist ein Modus der Offenbarung Gottes, nicht aber deren Problematisierung, die es erlaubte, das definitive Geschehensein der Offenbarung als Liebe noch einmal zur Disposition zu stellen.“25 Karl Heinrich Rengstorf (1903–1992) hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass „die evangelische Überlieferung und das mit ihr gegebene Kerygma die Verborgenheit der Auferstehung und des Auferstandenen ganz offensichtlich gerade nicht als belastend für den Osterglauben empfunden haben“.26 Zwar ist „die ent-

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Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 1977, 460. – Er berief sich dabei ausdrücklich auf Luther, wenn der zwischen Liebe und Glaube unterscheidet (Galaterbrief. 1531, zu Gal 2,14; WA 40/I, 212,10–213,3). Karl Heinrich Rengstorf, Die Auferstehung Jesu. Form, Art und Sinn der urchristlichen Osterbotschaft, Witten/Ruhr 41960, 99, innerhalb seiner Ausführungen über die Verborgenheit, dort 97–107.

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GOTTESDIENST IN GEGENWART EINES VERBORGENEN GOTTES scheidende kerygmatische Aussage: Der verborgene Gott hat sich nach der Tötung Jesu gerade nicht endgültig für seine Verborgenheit entschieden; vielmehr ist er aus ihr herausgetreten, um sich seiner Schöpfung als ihr zugewandt zu offenbaren, und bleibt ihr nunmehr auch zugewandt, solange er sie bestehen läßt, nämlich bis zur Wiederkunft Jesu.“ Aber als der auferweckte Herr geht Jesus doch zunächst in die noch weiter andauernde Verborgenheit Gottes ein. Die Offenbarung Gottes „findet ihren Abschluß erst in der Wiederkehr des Erhöhten, da erst mit ihr das Leben der Schöpfung als Leben unter dem Schöpfer oder gegen den Schöpfer in seiner Verborgenheit zu seinem Ende und Ziel kommt (vgl. Offbg. 19,1ff.)“.27 Bis dahin bezieht der Glaube seine Kraft aus der bleibenden Verborgenheit Gottes, die unter der Herrschaft des erhöhten Christus ganz neu wahrgenommen wird. „Um der Auferweckung Jesu willen weiß sich die erste Gemeinde mit ihren Gliedern dem neuen Äon angehörig, der mit jener angebrochen ist. Zwar hat auch der neue Äon teil an der Verborgenheit Gottes, ebenso wie er an der Verborgenheit des Auferstandenen Anteil hat, so daß die Veränderung, die mit dem Anbruch des neuen Schöpfungswerkes Gottes in der Osternacht begann, noch keineswegs sichtbar ist. Sie steht aber doch außerhalb jedes Zweifels; denn sie ist durch den Auferstandenen selbst verbürgt.“28

2 Abgrenzung gegen benachbarte Vorstellungen Der von Jesus angeratene Rückzug in die Einsamkeit (Mt 6,6) ist etwas anderes als die spätere christliche Arkandisziplin. Die exklusive Konzentration auf den Beter und Gott ist, wie die Perikope vom Gebet Jesu in Gethsemane (Mk 14,35– 36 parr) zeigt, gar nicht mit einem Interesse an Geheimhaltung verbunden. Den Forschungen Salzmanns zufolge ist eine Arkandisziplin ausgeprägt überhaupt 27 28

Beide Zitate a. a. O., 106. A. a. O., 109. – Rengstorfs Terminologie erscheint nicht ganz schlüssig, da er zugleich zwischen Unsichtbarkeit und Verborgenheit unterscheidet: „In dem auferweckten Jesus Christus ist der unsichtbare Gott als Schöpfer zwar nicht aus seiner Unsichtbarkeit, wohl aber aus seiner Verborgenheit herausgetreten“ (dort 101).

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VOLKER STOLLE erst bei Tertullian nachzuweisen, und sie hatte vor allem praktische Zwecke, indem sie dem Schutz vor bösartigen Missverständnissen in Verfolgungszeiten diente.29 Demgegenüber will die Gebetsanweisung Jesu zu einer konzentrierten und ungestörten Gemeinschaft der Betenden mit Gott helfen. Es geht nicht darum, unliebsame Zeugen auszuschließen, sondern sich voll und ganz auf Gottes Zuwendung einzustellen. In dieser Verborgenheit begegnet man nicht einem fernen und abwesenden, sondern einem nahen und liebevoll zugewandten Gott. Die Unterscheidung zwischen Apokryphen (verborgenen Schriften) und Apokalypsen (Offenbarungsschriften) im biblischen Schrifttum ist ein Phänomen seiner Wirkungsgeschichte, nicht aber in diesen Schriften selbst angelegt. Die Bezeichnung einer Gruppe von Spätschriften des Alten Testaments als Apokryphen wurde erst üblich, als sie in der Reformationszeit anhangsweise in einem besonderen Block zusammengestellt wurden, während sie in der griechischen und der lateinischen Bibel an unterschiedlichen Stellen in das Textganze integriert sind, also gar nicht als eigentümlicher Bestand hervortreten. „Verborgen“ sind sie lediglich in dem Sinne, dass sie nicht im hebräischen Kanon enthalten sind.30 Apokalypsen sind visionäre Ereignisse in Vergangenheit und Gegenwart. Und sie werden durchaus auch in Zukunft erwartet. Da solchen erhellenden Wahrnehmungen besondere Bedeutung beigemessen wurde, wurde die Erinnerung an einzelne solcher zeitlich begrenzten Erfahrungen durch schriftliche Traditionsbildung gesichert. Dabei verbanden sich traditionelle Vorstellungen und Sprachmuster mit neuem Erleben und neuen Ausdrucksformen. Als Bezeichnung eines literarischen Werkes erscheint der Begriff „Apokalypse“ zum ersten Mal in der 29

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Jorg Christian Salzmann, Lehren und Ermahnen. Zur Geschichte des christlichen Wortgottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten, WUNT II, 59, Tübingen 1994, 428–429; 462–463. Apokryphon ist seiner ursprünglichen Bedeutung nach jede synagogale Handschrift, die aus dem Gebrauch genommen, aber nicht zerstört wurde, sondern in der Geniza aufbewahrt wird, um den darin geschriebenen Gottesnamen nicht zu verletzen. – Vgl. Sigfried Meurer (Hg.), Die Apokryphenfrage im ökumenischen Horizont, BIW 22, Stuttgart 1989; Jorg Christian Salzmann, Die Apokryphen – Ein vergessenes Erbe der Lutherischen Kirche, in: Lutherische Theologische Hochschule Oberursel 1948– 1998. FS, OUH.E 3, Groß Oesingen 1998, 126–149, dort 127–130.

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GOTTESDIENST IN GEGENWART EINES VERBORGENEN GOTTES Johannesoffenbarung (Apk 1,1).31 Und gerade die literarischen Apokalypsen verfolgen neben der Offenbarung zugleich eine Strategie der Verschlüsselung, die sich nur Eingeweihten erschließt. Schon der Visionär ist oft auf einen angelus interpres angewiesen, um Gehörtes und Geschautes überhaupt verstehen zu können. Auch hier geht es darum, eine geschützte Gruppenidentität zu wahren. Ebenso wenig verbindet sich das Wissen um Gottes Verborgenheit im Neuen Testament mit gottesdienstlichen Riten der Verhüllung (καλύπτω). Sie sind zwar vom Alten Testament her bekannt,32 werden aber in Christus als aufgehoben betrachtet. Paulus reflektiert dies ausführlich an einem Beispiel, nämlich dem Gesicht des Mose, das nach seiner Begegnung mit Gott glänzte (2 Kor 3,7–18). Die Decke (κάλυμμα, velamen) diente demnach dazu, die zeitliche Begrenzung des Phänomens zu verhüllen und nicht offensichtlich werden zu lassen. Indem die Christen auf Christus schauen, sind sie sich seiner bleibenden Gegenwart gewiss. Ja mehr, „wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit (δόξα) zur andern von dem Herrn, der der Geist (πνεῦμα) ist“ (V. 18). Anders als bei Mose ist die Herrlichkeit der Christen kein sichtbares Phänomen, sondern eine geistliche Erfahrung, die allerdings in einer Steigerung begriffen ist. Es geht nicht darum, das, was vergeht, zu verstecken, sondern das zu feiern, was Bestand hat. Und das geschieht im Geist, in dem Christus als der Herr gegenwärtig ist. Schon sprachlich legt „verhüllen“ (καλύπτω) den Akzent mehr auf den Akt des Einhüllens, während „verbergen“ (κρύπτω) darauf abzielt, etwas dauerhaft verborgen zu halten.33

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Dabei verdient der Wechsel der Genitive von der Superscriptio (ἀποκάλυψις Ἰωάννου) zum Buchanfang (ἀποκάλυψις Ἰησοῦ Χριστοῦ) Beachtung. Wird einerseits der Berichterstatter genannt, so andererseits der entscheidende Akteur des Ereignisses. Verhüllungen erfolgten, indem Gott sich durch eine Wolke auf dem Gottesberg (Ex 24,15–16) verbarg oder unter den Flügeln der Kerubim auf der Lade (2 Chr 5,8), hinter einem Vorhang im Zelt (Ex 26,14) oder im Allerheiligsten (Ex 26,3–34; 2 Chr 3,14; Mk 15,38; Hebr 9,1–15; 10,19–22) oder indem Mose und Elia sich durch Verhüllung ihrer Gesichter schützten (Ex 3,6; 34,33–35; 1 Reg 19,13). Der Bedeutungsunterschied wirkt sich deutlich bei der Erweiterung durch die Vorsilbe ἀπο- aus. Während ἀποκαλύπτω privativ „enthüllen“ meint, heißt ἀποκρύπτω verstärkend „sicher verstecken“.

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VOLKER STOLLE Wenig hilfreich ist es, dem Wort Gottes als solchem einen „Charakter der Verhüllung“ zuzuschreiben, wie es Helmuth Schreiner (1893–1962) getan hat. Er selbst versteht „die Tatsache, daß alle Worte Gottes nur durch Vermittlung endlicher Gegebenheiten zu uns kommen“, allerdings als „eine befreiende Tatsache“.34 Das Wort dient ja gerade dazu, Gottes Wirklichkeit transparent werden zu lassen. Denn „nur auf Grund der Vermittlung kann die Unbedingtheit, das Nicht-Dinghafte am Wort den Offenbarungsgehalt heraustreten lassen, so daß er lebendig macht, anstatt zu vernichten“.35 Sprache ist generell eine Wirklichkeit eigener Art mit ihrem besonderen Geschehenscharakter. Sie bildet andere Wirklichkeiten metaphorisch ab. Im Neuen Testament geht es – das alttestamentliche Zeugnis von Gottes Offenbaren weiterführend – nun pointiert um „Enthüllen“ (ἀποκαλύπτω) durch das Wort. Doch ist nicht gleich alles Verborgene gelichtet. Vielmehr ist ein Prozess in Gang gesetzt. Und damit ist ein neuer Gottesdienst angesagt, der auf kultisches Verhüllen verzichten kann.36 Der Prolog des Johannesevangeliums stellt das Bekenntnis: „Wir sahen (θεάομαι) seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14), vor den Hintergrund: „Niemand hat Gott jemals gesehen (ὁράω)“ (V. 18). Der kultische Vorstellungshorizont wird dadurch deutlich, dass Jesus im Tempel in Jerusalem auf den „Tempel seines Leibes“ verweist (Joh 2,21) und dann zur Samaritanerin sagt: „Die wahren Anbeter werden dem Vater huldigen in Geist und Wahrheit“ (Joh 4,23), und damit nicht ortsgebunden wie auf dem Garizim oder in Jerusalem. Wie bei Paulus wird auch hier das „Sehen“ (vgl. ὁράω Joh 14,9; 20,8) als Wahrnehmung einer geistlichen Wirklichkeit definiert. Den eschatologischen Vorbehalt markiert der Prolog, indem er den Wechsel der gottesdienstlichen Situation nicht etwa schon als Offenbarung bezeichnet, sondern als „Exegese“ (V. 18) durch den „Logos“ (V. 1.14). Ein Wort 34

Helmuth Schreiner, Die Verkündigung des Wortes Gottes. Homiletik, Hamburg 1949, 41. Das Eingehen auf menschliche Sprache stellt also den Modus der Offenbarung dar, soll aber nichts verhüllen. Schreiner, Verkündigung (s. Anm. 34), 41. Auch das Christentum kennt bestimmte Riten der Verhüllung und Verschleierung (Velum über den Geräten zum Abendmahl, Trauer-, Scham- und Bußsitten). Dabei stehen zwar biblische Gebräuche im Hintergrund (2 Sam 15,30; Jer 14,3–4), aber ihnen kommt keine wesentliche theologische Bedeutung zu. 5

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GOTTESDIENST IN GEGENWART EINES VERBORGENEN GOTTES hat immer verweisende Funktion. So spricht der Evangelist von den Taten Jesu als von semantischen „Zeichen“ (σημεῖα), in denen Jesus seine „Herrlichkeit“ (δόξα) offenbart (Joh 2,11). Diese spezielle Semiotik macht „schauen“ (θεάομαι) möglich (Joh 1,14); dies aber erfolgt im Modus des Glaubens (Joh 2,11), der ausdrücklich vom Sehen abgegrenzt wird: „Selig sind, die ohne Sehen zum Glauben kommen“ (Joh 20,29). Der Logos führt letztlich über den Glauben zur Gottesschau (θεωρία). In der Ostkirche hat der Gottesdienst eine entsprechende Ausprägung erfahren. Die Ikonostase soll nicht verhüllen, sondern Durchblick gewähren. Sie schließt den Altarraum nicht von den Gläubigen in der Kirche ab, sondern eröffnet ihnen das geistliche Wesen des Geschehens im Altarraum, das sie durch die geöffneten Türen erreicht. Die Bilder dienen als Brille, die helfen soll, die göttliche Wirklichkeit wahrzunehmen. Sie zeigen, wie der Mensch wird, wenn er sich aufgrund der ganz einzigartigen Begegnung mit Christus mit Gott vereint. Zugleich rekapituliert der Gottesdienst die Geschichte der Zuwendung Gottes von der Schöpfung her, um die Gemeinde in der Erwartung des endgültig offenbaren Heils zu stärken, markiert damit ihre Schwellenexistenz.

3 Äußerungen Luthers Gottes Verborgenheit bleibt. Aber sie wandelt ihr Gesicht. Wirkt sie zunächst dunkel und verschlossen, so wandelt sie sich, wenn man sich darauf einlässt und sich das Wort des Evangeliums sagen lässt; sie wird hell und heilvoll.37 Luther bringt das auf den Punkt: „Wenn der glaube wil schwach werden und anhebet zu zappeln, ist kein ander radt noch zuflucht denn zu dem, der uns lesset zappeln.“38 Vordergründig bleibt das menschliche Gesicht, bleiben Kreuz und Sterben, aber

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Der Vorgang erinnert an folgende psychologische Erfahrung: Wenn man sich einem Problem, das sich beängstigend vor einem auftürmt, nähert, wird es bei fortschreitendem Näherkommen immer kleiner, bis es sich auflöst. Es ändert also grundlegend seinen Charakter. Schließlich kann man sogar stolz darauf sein, es bewältigt zu haben. Martin Luther, Predigten über das 1. Buch Mose. 1527, zu Gen 32,9; WA 24, 571,16– 18.

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VOLKER STOLLE darin wird für den Glauben Gottes Gesicht erkennbar. Unvermittelt und unverhüllt zeigt sich Gott allerdings noch nicht. Der Glaubende vertraut, dass die Begegnung mit Gott in seiner Verborgenheit zu dieser letzten Offenbarung Gottes hinführt. Diese Möglichkeit, mit Gottes Verborgenheit umzugehen, motiviert ganz grundsätzlich zum Gottesdienst. Der Gottesdienst aber ist der Quellgrund des Glaubens. Der Fokus der Rede Luthers vom verborgenen und offenbaren Gott liegt denn auch in der gottesdienstlichen Wirklichkeit. Unter Hinweis auf den Lobpreis Gottes in Röm 11,33: „O welch eine Tiefe der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“ lässt er sich ausdrücklich darauf ein, „dass Gottes Gerechtsein geglaubt wird, wo er uns ungerecht zu sein scheint“.39 Eben diesem Gott „sei Ehre in Ewigkeit. Amen“ (Röm 11,36). Gottesverehrung erfolgt also in liturgischem Vollzug. Luther forderte Erasmus auf, angesichts der Verborgenheit Gottes nicht „in Verzweiflung, Hass und Gotteslästerung“ zu verfallen40, sondern „den Finger auf die Lippen zu legen, vor dem, was verborgen bleiben soll, ehrfürchtig zu verharren und den verborgenen Rat der Majestät anzubeten“, unter Hinweis auf die elementare Abhängigkeit als Gottes Geschöpf nach Röm 9,20 (Jes 29,16).41 Gerade im Gotteslob verbinden sich die zwei Seiten Gottes, dass er so verborgen bleibt, dass er sich jeder menschlichen Beurteilung entzieht, und sich doch zugleich als der gnädige Gott zusagt. Luther spricht hier tatsächlich nicht von zwei Seiten des Christenmenschen, dass dieser Gerechter und Sünder zugleich sei und deshalb Gott nur in unterschiedlicher Weise wahrnehme, sondern tatsächlich von zwei Seiten in Gott selbst, dass der sich zugleich offenbart und verborgen bleibt. Einleitend zum Pauluszitat Röm 11,33 stellt er ausdrücklich klar: „Wenn Gott der wahre und einzige ist, dann ist er auch ganz unbegreiflich und unzugänglich für die menschliche Vernunft, das bedeutet zugleich, ja sogar notwendig, dass auch

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„ut iustus esse credatur, ubi iniquus nobis esse videtur“ (De servo arbitrio. 1525; WA 18, 784.8–9). – Das Pauluszitat dort 784,14–15. „quod ad desperationem et odium et blasphemiam prolabantur homines impii“; WA 18, 631,14–15. „os digito compescere, revereri quod lateret, adorare secreta maiestatis consilia“; WA 18, 631,40–632,1.

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GOTTESDIENST IN GEGENWART EINES VERBORGENEN GOTTES seine Gerechtigkeit unbegreiflich ist.“ 42 Und abschließend betont er in Anlehnung an Psalm 68,36: „Gott ist es, der inmitten seiner Heiligen wunderbar gepriesen wird.“ 43 Diese Erkenntnis ist also unmittelbar mit dem gottesdienstlichen Vollzug verbunden. Und als wunderbar (mirabilis = ‫ )נורא‬wird Gott nicht deshalb gepriesen, weil er menschliche Erwartungen befriedigt, sondern weil er in seiner Herrlichkeit und seinen Taten über alle menschliche Vorstellungskraft hinausgeht. Zuvor notiert Luther auch explizit den eschatologischen Vorbehalt bis zu dem Zeitpunkt, „wenn Gott seine Herrlichkeit offenbart hat, dass wir alle dann einsehen und begreifen, dass er immer gerecht gewesen ist und es weiterhin bleibt“.44 „Tatsächlich läßt sich sagen, daß Gott im gekreuzigten Christus viel tiefer verborgen ist als in seiner Schöpfung. Denn der natürliche Mensch bringt jedenfalls die Idee der Göttlichkeit viel leichter mit Macht und Gerechtigkeit in Zusammenhang als mit der Erniedrigung und dem Kreuzesleiden. Gerade das aber hat Luther im Sinn, wenn er von der in der Menschheit Christi verborgenen Gottheit redet.“45

Schon in der Heidelberger Disputation 1518 stellte Luther fest, wir Menschen hätten Gott als „verborgen in den Leiden“ (absconditum in passionibus) zu verehren.46 Und in seinen Resolutiones aus demselben Jahr definiert er den „Theologen des Kreuzes“ (Theologus crucis) „als einen, der von einem gekreuzigten und

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„cum sit Deus verus et unus, deinde totus incomprehensibilis et inaccessibilis humana ratione, par est, imo neccessarium est, ut et iustitia sua sit incomprehensibilis“; WA 18, 784,11–13. – Dabei wählt er den biblischen Wortlaut der Vulgata investigabilis (aufspürbar) noch verstärkend inaccessibilis (unerreichbar, unbetretbar). Gottes Weisheit ist und bleibt ein uns Menschen verschlossenes Land. WA 18, 787,6. – Luther versteht den Plural nicht neutrisch als Heiligtum, sondern personal als Heilige. „ubi gloriam suam revelarit, ut omnes tum videamus et palpemus, eum fuisse et esse iustum“; WA 18, 784,32–34. Philip S. Watson, Um Gottes Gottheit (Let God be God), Berlin 21967, 123. WA 1, 362,8.

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VOLKER STOLLE verborgenen Gott spricht“ (id est de deo crucifixo et abscondito loquens).47 Im Kontext des offenbarten Evangeliums begegnet man Gottes Verborgenheit also sogar in gesteigertem Maße. Dieser positive Aspekt der Abscondität Gottes kam in der Folgezeit nicht voll zur Geltung, wohl, weil die spätmittelalterliche Frömmigkeit dazu geführt hatte, den Heilsglauben durch die Ungewissheit des Ausgangs des Jüngsten Gerichts zu verunsichern.48 Die verborgene Seite Gottes wurde so allein als ein Phänomen des angefochtenen Glaubens erfahren, nicht auch als verheißungsvolle Perspektive. Luther versuchte die Diskrepanz zwischen Offenbarung und Erfahrung denn auch in der Weise zu bewältigen, dass er sie auf die Anfechtung durch den Teufel und die eigene Sündhaftigkeit zurückführte, also nicht in Gott, sondern im Menschen verortete.49 Angesichts der verbleibenden Verborgenheit Gottes warnte Luther, soweit ich sehe, nur vor naseweiser Neugier50, ohne die Chance zur Horizonterweiterung zu würdigen, die angesichts der eigenen Begrenztheit im Annehmen dieser verborgenen Wirklichkeit liegt. Da der moderne Zweifel an Gott ein Phänomen späterer Zeit ist, lag das für Luther wohl auch gar nicht nahe. 47 48

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WA 1, 613,23–24. Die Problematik wurzelt wohl bereits in der Trinitätslehre. Eberhard Jüngel sah die Schwäche der traditionellen Trinitätslehre darin, „daß die mit der Unterscheidung von deus absconditus und deus revelatus gegebene Dialektik für die Trinitätslehre merkwürdig irrelevant blieb“, und „das bedeutet, daß einerseits die Spannung von Gesetz und Evangelium für die Rede von Gott selbst letztlich bedeutungslos bleibt und daß andererseits die Trinitätslehre in eine gefährliche Abstraktion von der Geschichte gerät, in der Gott des Menschen Gott sein will und ist“ (Gott als Geheimnis, s. Anm. 25, 474). Vgl. etwa seine Ausführungen zu 1 Kor 15,19 (1532/1534): WA 36,537–542. – Die Motive, die Luther ausführt, ergeben sich nicht vom paulinischen Text her, sondern verdanken sich der homiletischen Entfaltung. WA 18, 686,8–12. Vgl. auch: Predigt Röm 11,33–36 in Crucigers Sommerpostille. 1544; WA 21, 508–522, dort 519,16–520,13. Oder: „Quae supra nos nihil ad nos (Dinge, die uns zu hoch sind, gehen uns nichts an)“ (Vorlesung über den Ersten Timotheusbrief. 1528; WA 26, 36,34). – Vgl. Eberhard Jüngel, Quae supra nos, nihil ad nos. Eine Kurzformel der Lehre vom verborgenen Gott – in Anschluß an Luther interpretiert, EvTh 32 (1972), 197–240 (Der von mir angeführte Beleg ist Jüngel entgangen).

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GOTTESDIENST IN GEGENWART EINES VERBORGENEN GOTTES Gerade in einer Zeit aber, in der mit Salzmann „mancherlei Hadern mit Gott“ zu beobachten ist, worin sich Luthers Suche nach einem gnädigen Gott geradezu anthropologisch umkehrt,51 ja viele meinen, mit einer Gottesvorstellung nichts anfangen zu können, verspricht die Einladung zu einem Gottesdienst in Gegenwart eines verborgenen Gottes durchaus die Chance, diese wunderbare Dimension neu zu entdecken und die Gottlosigkeit zu überwinden.52 Das Hadern des modernen Menschen mit Gott bietet einen Ansatz, die Verborgenheit Gottes in neuer Weise zu entdecken, ohne sie vom Glauben her bereits als überwunden auszugeben. Es gilt, gerade eine Solidarität angesichts der Verborgenheit Gottes wahrzunehmen, um den rechten Umgang mit dieser Verborgenheit zu lernen. Die Theodizee-Frage lässt sich nicht in gedanklicher Reflexion klären, sondern nur in gottesdienstlichem Vollzug, so also, dass die Antwort von Gott selbst erbeten wird. Denn der Gottesdienst stiftet dazu an, sich auf einen verborgenen Gott einzulassen in der Hoffnung, gerade hier auf den Gott zu treffen, der sich zum Heil rettend erschließt. Und gerade solcher Glaube schließt die Einsicht ein, dass die Gottesvorstellung dadurch nicht einsichtiger und begreiflicher wird, Gott vielmehr in seiner Verborgenheit als unverzichtbares Gegenüber anzubeten ist. Glaube und Intelligenz bleiben inkommensurable Größen, die sich unter menschlichen Voraussetzungen nicht zur Deckung bringen lassen; denn Gott handelt in Freiheit. Hiob bekam durch die Gottesrede eine Antwort (Hi 38–40,2; 40,6–41,26), die es ihm ermöglichte, für sich selbst Stellung zu beziehen und sich in angemessener Weise zu verhalten, nämlich Gott anzubeten (Hi 40,3–5; 42,1–6). Sie gab ihm aber keine Erklärung, mit der sich Gottes Verborgenheit aufgelöst hätte. Ebenso gibt das Evangelium eine Antwort, die der Hörerschaft die gnädige Treue Gottes gewiss macht und ihr den Glauben an diesen Gott erschließt, ohne deshalb dessen 51

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Fragte Luther, ob der Mensch sich vor Gott rechtfertigen kann, so der moderne Mensch, ob sich Gott vor dem Menschen rechtfertigen kann. Wenn religionspsychologisch die Erfahrung des Heiligen immer sowohl mit dem mysterium tremendum als auch dem mysterium fascinans verbunden ist (vgl. grundlegend: Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen [1917], 26.–28. Aufl., München 1947), dann sollte das auch für das defizitäre Gefühl, Gott sei verborgen, gelten, sofern dies nicht einfach auf Gleichgültigkeit trifft.

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VOLKER STOLLE Verborgenheit in ein rational erklärbares, allgemeines Prinzip zu überführen. Das Geheimnis der souveränen Persönlichkeit Gottes bleibt gewahrt und wird nicht durch eine plausible Theorie ersetzt, sondern gottesdienstlich gefeiert.

4 Der liturgische Ansatz bei Christian und Karl Müller In der Geschichte der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche findet sich ein Beispiel dafür, wie dieser Weg, Gott in seiner Verborgenheit anzurufen, ganz bewusst beschritten wurde. Christian (1825–1892) und Karl (1859–1929) Müller53 erarbeiteten eine „Handreichung zur Uebung des Gemeindegebets in Kirche und Haus“, die 1892 bei Wilhelm Hopf in Melsungen im Druck erschien und in den Gemeinden der „Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in den hessi-

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Karl Müller verwaltete vor allem das Erbe seines Vaters, der als bedeutender Theologe zu gelten hat. Christian Müller war am 17. März 1825 in Darmstadt geboren, hatte von 1843 bis 1846 in Gießen Theologie studiert, nach seiner Ordination 1852 war er zwei Jahre als Pfarrvikar in Bad König im Odenwald, dann 12 Jahre Pfarrer in Beerfelden, 1867 wurde er Lehrer der Söhne des Grafen zu Erbach-Fürstenau und Hausgeistlicher an der Kapelle in Fürstenau. Nach Ablehnung der neuen Kirchenverfassung von 1874 sammelte sich um diese Hausgemeinde eine kleine Gemeinde der Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche im Großherzogtum Hessen. Müller trat als sehr engagierter jüngerer Freund und Mitarbeiter von August Vilmar (1800– 1868) hervor. Er starb am 9. Februar 1892 in Fürstenau. Seine persönliche Bibliothek wurde zur Kirchenbibliothek der Selbständigen Kirche. Karl Amelung (K. A.), Pfarrer Christian Müller †, Hessische Blätter, Melsungen, 21. Jg., Nr. 1822 vom 2. März 1892; in eigener Bearbeitung aufgenommen von: Eduard Bingmann (B.), Pfarrer Christian Müller †, Unter dem Kreuze 17 (1892), 90–93; Anton Haidmann, Pfarrer Christian Müller (1825–1892). Ein (fast) vergessener Mathesius-Forscher aus dem Odenwald, JHKGV 48 (1997), 147–148. – Sein Sohn Karl Müller gab später die Sammlung mit Selbstdarstellungen der einzelnen Gemeinden heraus: Die selbständige evangelischlutherische Kirche in den hessischen Landen. Ihre Entstehung und Entwicklung, Elberfeld 1906.

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GOTTESDIENST IN GEGENWART EINES VERBORGENEN GOTTES schen Landen“ Verbreitung fand. 54 Als Titel wählten Vater und Sohn Müller „Gedenke, Gott, an Deine Gemeinde! Psalm 74, 2.“ Wenn auch das Wort ‚verborgen‘ nicht fällt, brachten sie ihr Anliegen, auf die modere Gottvergessenheit zu antworten, doch klar zum Ausdruck: „Der flehentliche Psalmruf, welcher dieser Sammlung von Gebetsordnungen als Titel voransteht, kennzeichnet deutlich den Zweck und Brauch derselben. Das Buch möchte geringe Handreichung leisten zu praktischer Bethätigung und Uebung des täglichen Gemeindegebets in Haus und Kirche, dessen dringende Notwendigkeit und siegende Gewalt innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen für den nahe bevorstehenden Kampf mit dem wüsten Widerchristentum anerkannt sein dürfte.“55

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Christian und Karl Müller, Gedenke, Gott, an Deine Gemeinde! Psalm 74,2, Melsungen 1892. Vgl. die Vorstellung dieser Handreichung durch Friedrich Wolff (–ff) in: Unter dem Kreuze 17 (1892), 318–319. Diese Agende basiert auf der Evangelischen Handagende, die Christian Müller 1858 zusammen mit Georg Christian Dieffenbach als Teil II im Rahmen der Sammlung „Diarium pastorale“ bei Samuel Gottlieb Liesching in Stuttgart herausgegeben hatte. Liesching war der Verleger auch von Wilhelm Löhe, zu dem dieser enge persönliche Kontakte pflegte, die sich sogar zu familiären Beziehungen entwickelten. Schon der gemeinsame Verleger weist auf eine enge Verbindung in den liturgischen Anschauungen hin. Nachdem die Autoren der Handagende in der kirchlichen Frage getrennte Wege gegangen waren, hatte Dieffenbach in alleiniger Verantwortung 1876 bei Schloeßmann in Gotha eine zweite Auflage erscheinen lassen (Der Verlag Liesching war 1869 zu Bertelsmann in Gütersloh, teilweise auch zu Gustav Schloeßmann in Gotha übergegangen). Müller, Gedenke, Gott (s. Anm. 54), III. Schon die beiden Tatsachen, dass dieses Psalmwort als Titel gewählt wird und nicht der Fachbegriff „Agende“, zudem das gottesdienstliche Handeln auf den Begriff „Gemeindegebet“ gebracht wird, machen die besondere Akzentsetzung deutlich. – Ps 74 wird dann in das Proprium de tempore als Psalm für das Himmelfahrtsfest und den 13. Sonntag nach Trinitatis aufgenommen (323.330). Die neu aufgenommenen Festgebete münden in Fürbitten, die mit dem Ruf „Gedenke“ beginnen (58).

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VOLKER STOLLE Sie präzisierten damit den Communio-Gedanken, der für ihr Gottesdienstverständnis bereits früher charakteristisch war, 56 und bildeten damit ein eigenes theologisches Profil aus.57 Das Klagelied des Volkes, das mit Psalm 74 aufgenommen wird, war offensichtlich ursprünglich Teil eines liturgischen Geschehens in Erwartung einer Antwort, die Gott, von dem man sich schon „für immer verstoßen“ wähnte (V. 1), durch einen Propheten geben sollte, der gegenwärtig aber gar nicht zur Stelle war (V. 9).58 Der Psalm setzt die geschichtliche Situation voraus, dass die betende Gemeinde angesichts des gewaltsamen Wütens der Fremden am Ort des zerstörten Tempels in Jerusalem und der eigenen Erfahrung eines total verborgenen Gottes59 eben diesen Gott um die Rückkehr an seinen angestammten Wohnsitz bittet. Und dabei erinnert sie ihn an weit zurückliegende Erfahrungen nicht nur seiner gottes-

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Der Gedanke, den Gottesdienst als ganzen und nicht nur die Sakramentsfeier, sondern auch den Wort- und den Gebetsteil unter das Motto „Communio“ (Gemeinschaft durch Teilhabe) zu stellen, war schon für den gemeinsamen Entwurf von Dieffenbach und Müller grundlegend gewesen. – Zu weiteren Besonderheiten der „Handreichung zur Uebung des Gemeindegebets“ vgl. Detlef Lehmann, Eine Gabenepiklese in einer lutherischen Agende des 19. Jahrhunderts, JLH 25 (1985), 109–111. Die spezifische Akzentuierung des Gebets in V. 2 findet sich nicht in der Auslegung des Psalms bei August Vilmar, Collegium Biblicum, hg. v. Christian Müller, Des Alten Testaments dritter Teil, Gütersloh 1882, 166–167. – Rudolf Rocholl sah in Christian Müller einen der „genialsten Schüler“ von August Vilmar und urteilte zugleich: „Die Arbeiten für Pastoraltheologie von Christian Müller, Pfarrer in Fürstenau und seinem Sohn, Kaplan Karl Müller in Michelstadt, treten den Arbeiten Löhes an die Seite“ (Geschichte der evangelischen Kirche in Deutschland, Leipzig 1897, 542.554). Diese doppelte Schülerschaft führte sie zu einer charakteristischen, durchaus selbstständigen Position. Vgl. schon: Claus Westermann, Das Loben Gottes in den Psalmen, Göttingen 31963, 40–48. – Unter dem Gesichtspunkt einer späteren aktualisierenden Erweiterung (V. 19–21) eines Primärpsalms vgl. Erich Zenger, Psalm 74, in: Frank-Lothar Hossfeld/Erich Zenger, Psalmen 51–100, HThKAT, Freiburg i. Br. 2000, 355–372. „Unsre Zeichen sehen wir nicht, kein Prophet ist mehr da, und keiner ist bei uns, der etwas weiß“ (V. 9). Gerade in dieser Situation beten sie zu Gott im Gedächtnis seiner machtvollen Taterweise von der Schöpfung an, die nicht in Frage gestellt werden, sondern für sie den Grund darstellen, auf Größeres zu hoffen.

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GOTTESDIENST IN GEGENWART EINES VERBORGENEN GOTTES dienstlichen Nähe, sondern in hymnischer Weise auch seines gewaltigen schöpferischen Wirkens (V. 12–17). „Der Hymnus wird also zur kontrafaktischen Verkündigung von Gottes Macht und somit wiederum zu einer Aufforderung an Gott, diese sichtbar werden zu lassen.“60 Gerade in Situationen, in denen das eigene „Gedenken“ an den deus revelatus in die Krise geriet und die Verborgenheit Gottes übermächtig wurde, trat schon im Gebet Israels eine Elementarisierung ein, die sogar selbst auf ein hymnisches Gedenken seiner früheren Großtaten verzichtete: Gott schien nur noch als „Vater“ anrufbar. Diese Gottesbezeichnung bot den allerletzten Anker für die Vergewisserung seiner Treue angesichts eigener Untreue (besonders Jes 63,16–19; 64,7– 8, daneben Dtn 32,6; Ps 68,6; Jer 3,4.19–20; 31,9; Mal 1,6; 2,10). Und Jesus radikalisierte diese minimale Möglichkeit noch einmal, indem er seine Jünger anleitete, seinem eigenen Beispiel zu folgen und Gott sogar im Diminutiv Abba anzurufen, gleichsam wie einen alt und schwach gewordenen Vater in der Zuversicht, dass er sich unter dem Eindruck eigener Verlassenheit und aller mangelnden eigenen Erfahrung doch wieder in seiner Macht und Herrlichkeit erweisen wird (Mk 14,36; Lk 11,2; Röm 8,15; Gal 4,6).61 Selbst dann noch nötigte ein Innewerden der eigenen Gottlosigkeit zu Gebet und Gottesdienst, damit Gott selbst seine Verborgenheit lichtet, indem er an seine Gemeinde gedenkt. Vater und Sohn Müller sahen in dieser Spannung eine Entsprechung zu Entwicklungen ihrer eigenen Zeit. Angesichts einer allgemeinen Verweltlichung sollte dazu ermuntert werden, Gottesdienst zu feiern. Angesichts großer Hoffnungen auf menschliche Leistungen in Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft wollten sie darum werben, wirkliche Hilfe von Gott zu erwarten. Es ging ihnen nicht einfach darum, die Erinnerung an Gott lebendig zu halten, sondern vielmehr darum, Gott um sein Erinnern zu bitten: „Gedenke Gott!“ Sie meinten nicht, mit eigener Frömmigkeit in sich ein Gefühl tieferer Sinnfindung zu entdecken. Sie hofften vielmehr auf einen „andächtigen“ Gott, der sein Volk nicht vergessen hat (Gen 8,1; Ex 2,24; Lev 26,42; Jer 2,2; 31,20; Ez 16,60; Ps 106,45; 111,5; neutesta60

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Joachim Vette, Psalm 74, in: Manfred Oeming/Joachim Vette, Das Buch der Psalmen (Psalm 42–89), NSK.AT 13/2, Stuttgart 2010, 181–187; Zitat dort: 184–185. Vgl. meine Untersuchung: Das Gebet der Gemeinde Jesu Christi nach dem Neuen Testament, KuD 37 (1991), 307–331, dort 312.314–315.317–318.

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VOLKER STOLLE mentlich fortgesetzt Lk 1,54.72–73; Act 10,31; Hebr 2,6 [Ps 8,5]; 8,12; 10,17 [Jer 31,34]). Gottes eigene Andacht soll ihn zu seiner Umkehr bewegen.62 Weil es Vater und Sohn Müller um einen Dienst unter den Herausforderungen ihrer eigenen Zeit ging, gaben sie nicht einfach eine der alten Agenden neu heraus, wie es sonst vielfach geschah, sondern entwickelten einen neuen Entwurf, in dem sie traditionelle Elemente neu zur Wirkung bringen wollten. Indem sie einen Impuls von Adolf Harleß aufnahmen, gestalteten sie die Communio-Konzeption in diesem Sinne weiter aus.63 Die beiden Liturgiker befanden sich mit ihrem Rekurs auf Psalm 74 übrigens auf einer Linie mit dem Neuen Testament. In einer ganz ähnlichen Situation hatte nach dem Bericht der Apostelgeschichte schon Paulus in Milet bei seinem Abschied von den Ältesten der Gemeinde Ephesus gerade diesen Psalm anklingen lassen. Indem er die Gemeinde64 wie eine Herde65 von einfallenden Wölfen be62

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Pointiert stellt Vette, Psalm 74 (s. Anm. 60), 186, fest: „Nach Psalm 74 muss nicht das Volk umkehren, sondern Gott.“ Im Vorwort wird Adolf Harleß zitiert: „Es ist eine Entscheidungsstunde für den Kampf zwischen Licht und Finsternis, zwischen Christentum und Widerchristentum. Da hat ein Christ als Streiter Christi nicht bloß seinen HErrn thun und sorgen zu laßen. Vielmehr gilt es, in Christi Namen zur rechten Waffe zu greifen. Und diese Waffe ist das Gebet, gegründet auf Gottes Wort“ (Müller, Gedenke, Gott [s. Anm. 54], VIII). Und von Harleß wird die Anregung aufgenommen, an den Donnerstagen in der Fastenzeit ein gemeinsames Gebet für die Kirche zu halten, das von diesem Gedanken geprägt ist (Müller, Gedenke, Gott [s. Anm. 54], 113–121); vgl. Adolf Harleß, Aufforderung, AELKZ 7 (1874), 119–121: Denn „seine Kirche steht inmitten der Feindschaft der Welt“ (a. a. O., 119). Dieffenbach hat diesen Bezug auf Harleß und das Formular des gemeinsamen Gebets für die Kirche in seine zweite Auflage der Agende nicht aufgenommen. Demgegenüber wurde das Donnerstagsgebet für die Kirche als erste neue Ordnung 1878 von der Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in den hessischen Landen eingeführt (Richard Lucius, Die Entstehung und Entwicklung der selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in den hessischen Landen, in: Müller, Kirche [s. Anm. 53], 9–42, dort 35). Während die Septuaginta (ψ 73) das hebräische ‫ עדה‬mit συναγωγή wiedergibt, wählt die Apostelgeschichte den Begriff ἐκκλησία (Vulgata: congregatio – ecclesia). Das hebräische ‫ צאן‬wird mit ποίμνιον aufgenommen, während die Septuaginta πρόβατα bietet(Vulgata: oves/grex – grex).

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GOTTESDIENST IN GEGENWART EINES VERBORGENEN GOTTES droht sah, hatte er zu besonderer Wachsamkeit aufgerufen. Die Basis der Gemeinde sei, dass Gott sie als „sein Eigentum erworben“ habe (Act 20,28; Ps 74,2).66 Ihre Bestandssicherung liege darin, dass Gott in seiner Gnade ihr das Wort gegeben habe (Act 20,32).67 Auch damals hatte das Gebet in einer schmerzlichen Situation Halt gegeben (20,36). Der Gottesdienst angesichts eines verborgenen Gottes lebte also weiter, ohne dass die konkrete Perspektive des Psalms, Gottes Rückkehr in den Jerusalemer Tempel zu erwarten, als das entscheidende Kriterium empfunden wurde. Hatte schon die aktualisierende Erweiterung Ps 74,19–21 einen Gotteserweis in der sozial-gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit des Volkes Israel erwartet, so bestand zwar zur Zeit des Neuen Testaments der Tempelgottesdienst in Jerusalem noch, doch war der Bezug der paulinischen Gemeinde in Ephesus dorthin offenbar nicht grundlegend für ihre Gewissheit, Gottes Eigentum zu sein. Und auch nach der Zerstörung des Tempels durch Titus behielt dieser Psalm seine gottesdienstliche Aktualität. Der Gott, der um seine Hilfe angerufen wird, bleibt verborgen in seinem Wirken und ist nicht mit bestimmten geschichtlichen Erfahrungen zu plausibilisieren. Deshalb ist dieses Wirken keineswegs obsolet, sondern setzt eine eigene Wirklichkeit. Kernzelle dieser Wirklichkeit ist die betende Gemeinde selber. Die Valenz des Psalms liegt wesentlich in seiner usuellen liturgischen Kompetenz.68 Dabei verdient sorgfältige Beachtung, dass diese Kompetenz nur dann

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Das hebräische ‫ קנה‬wird mit περιποιέομαι übersetzt, während Septuaginta κτάομαι setzt (Vulgata: possideo – acquiro). Die Formulierung nimmt Psalm 74,2 sehr selbstständig auf, wenn die motivische Verbindung auch sehr eng ist. Die Wortwahl ist weder typisch lukanisch noch für Paulus charakteristisch. Es handelt sich wohl um ein Traditionsstück unsicherer Herkunft. Schon die Septuaginta hatte die Gebetssituation aus der Zeit Nebukadnezars in die Zeit Antiochus’ IV versetzt (Eberhard Bons, Psalm 73/74 in: Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare zum griechischen Alten Testament, hg. v. Martin Karrer u. Wolfgang Kraus, II, Stuttgart 2011, 1705–1709, dort zu V. 3). Für die Überlieferung war nicht entscheidend, dass sich die Ursprungssituation präzise historisch eingrenzen ließ, sondern dass eine immer neue Aktualisierung erfolgen konnte.

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VOLKER STOLLE gegeben ist, wenn Gottes Gedenken „zuerst“ (Röm 1,16) für seine Gemeinde Israel erbeten wird, von der sich dies Gedenken nicht ablösen lässt.69 Immer wieder leitete die Erfahrung eines verborgenen Gottes zum gottesdienstlichen Gebet an.70 Die Verborgenheit Gottes wurde nicht nur als unverständliche Leid- und Krisenerfahrung verstanden, sondern positiv als Hoffnungspotential genutzt. Denn Glaube richtet sich an einen Gott, der nicht mit der Welterfahrung zu verrechnen ist, sondern auf dem Weg aller geschichtlichen Erfahrung einen Überschuss an gnadenvoller Wirklichkeit aufweist. Auch der Hebräerbrief spricht diese einzigartige Motivation an: „Glaube ist Anwartschaft auf Erhofftes und ein Beweis für nicht sichtbare Tatsachen“ (Hebr 11,1). Gottesdienstlich gelebter Glaube gewährt Teilhabe an einer Wirklichkeit, die noch hoffnungsvoll aussteht und sich im Unsichtbaren bewährt. Martin Luther hat Hebr 11,1 eben in diesem Sinne als Aussage über den verborgenen Gott (deus absconditus) interpretiert. 71 Gerade der deus revelatus bleibt ein deus 69

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Zu den Fragen, die sich aus heutiger Rezeption in gottesdienstlichen Formularen ergeben, vgl. Ulrich Schwemer, Beten am Israelsonntag, in: Kirche und Synagoge. Ein lutherisches Votum, hg. v. Folker Siegert, Göttingen 2012, 405–417, dort 407–408. Das gilt gerade auch für das Judentum, das die Shoah überlebt hat. Aufgrund der Erfahrung dieser tiefen Verborgenheit Gottes nun auf die „Heiligung seines Namens“ und damit auch auf das Gebet zu verzichten, hätte ja bedeutet, Hitlers Ziel noch nachträglich zu befördern. Allein im eigenen weiteren Gedenken an Gott und der Bitte um sein Gedenken lässt sich die Identität als Gottes erwähltes Volk vergewissern. „Selbst wenn die Schneide des Schwertes schon des Menschen Hals berührt, selbst dann muss er seinen Glauben an Gott nicht aufgeben, sondern zu Gott beten“ (bBer 10a). Der Yom HaShoah wird nicht nur mit einem Staatsakt in Israel begangen, sondern auch in gottesdienstlichen Feiern, für die eigene Liturgien entwickelt wurden. – Vgl. Christoph Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Gütersloh 1995. In dieser Untersuchung steht jedoch der ethische Aspekt ganz im Vordergrund, dagegen fehlt der entscheidende Aspekt, dass bei solchem Gedenken Gott auch um sein Gedenken gebeten wird, so dass der Unterschied zwischen religiösem und säkularem Denken verschwimmt. „Ut ergo fidei locus sit, opus est, ut omnia quae creduntur, abscondantur. Non autem remotius absconduntur, quam sub contrario obiectu, sensu, experientia. Sic Deus dum vivificat, facit illud occidendo; dum justificat, facit illud reos faciendo; dum in coelum vehit, facit id ad infernum ducendo (Also, damit für den Glauben Platz wird,

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GOTTESDIENST IN GEGENWART EINES VERBORGENEN GOTTES absconditus, sofern er die Glaubenden noch nicht zur letzten, vollkommenen Vollendung geführt hat. Diese Vollendung ist sicher verbürgt und lässt sich gerade in dieser Gewissheit, dass er als verborgener Gott ein helfender Gott ist, gottesdienstlich feiern. Die Verborgenheit Gottes stellt nicht nur ein Problem dar, sondern enthält auch die Lösung. Unsere Gespräche, die der Jubilar angesprochen hat,72 wollte ich durch diesen Beitrag meinerseits gerne ein wenig fortsetzen.

5 Ein letzter Hinweis Zum Schluss sei die Bemerkung gestattet, dass nicht nur Salzmann selbst eine Affinität zu Hessen zeigt als Pfarrer in Kassel und Professor in Oberursel, sondern Familie Salzmann überhaupt aus Hessen stammt.73 Und der Großvater des Jubilars, Pfarrer Johannes Salzmann (1894–1974), unterstrich in einer Andacht die

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muss alles, was geglaubt werden soll, verborgen werden. Es kann aber nicht weiter hinten verborgen werden als unter dem Gegenteil dessen, was wir vor Augen haben, fühlen und erfahren. So wenn Gott lebendig macht, tut er dies, indem er tötet; wenn er gerecht spricht, tut er dies, indem er Anklage erhebt; wenn er in den Himmel hebt, tut er es, indem er in die Hölle führt)“ (De servo arbitrio. 1525; WA 18, 633,7–11). Vgl. schon Luther in seiner ersten Psalmenvorlesung (1513 – 1515) zu Ps 92,6 unter Hinweis auf 1 Kor 1,21; WA 4, 82,14–30. Salzmann knüpft in seinem eingangs genannten Aufsatz (s. Anm. 1) an Gespräche an, die er mit mir „über Gott und die Welt“ geführt hat. Schon der Großvater Johannes Salzmann war zwar nicht in Hessen geboren, sondern in Stendal, weil der Urgroßvater, der aus Hersfeld stammte, dort beruflich tätig war. Johannes erinnerte sich später an diese Zeit seines Vaters: „Ich glaube, er hat sich in Stendal nie wohlgefühlt, weder im Schuldienst noch auch sonst.“ Das Abitur legte Johannes Salzmann dann jedoch in Kassel ab, nahm in Marburg das Studium der Theologie auf und wurde Kandidat der „Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in Hessen“, ehe er 1919 Pfarrer der „Hannoverschen evangelisch-lutherischen Freikirche“ wurde, seit 1921 in Bergen-Bleckmar. Er kehrte 1955 in seine hessische Heimat als Pfarrer in Berge-Unshausen zurück und lebte nach seiner Emeritierung 1963 bis zu seinem Tod im ehemals hessischen Bad Nenndorf.

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VOLKER STOLLE Programmatik der Hessischen Agende, die Vater und Sohn Müller erarbeitet hatten, mit einem Beispiel: „Ein Missionar rüstet sich mit seinem Eingeborenen-Gehilfen zu einer neuen Missionsfahrt. Ehe sie aufbrachen, sprach er zu seinem Mitstreiter: ‚Nun wollen wir zusammen mit Gott in den Kampf ziehen!‘ Der Eingeborene blieb stehen: ‚In den Kampf? Nein! Wir ziehen in den Sieg!‘ Und der Missionar schlug vor dem sieghaften Leuchten dieser Augen beschämt seine Augen nieder.“74

Nicht etwa schwer zu ertragende Leiderfahrungen und deprimierende Enttäuschungen stehen im Vordergrund, wenn Gottesdienst gefeiert und die Christusbotschaft verkündigt wird, sondern die Heilszusage, die schon von Gottes Verborgenheit ausstrahlt. Denn Christen sind Herolde, die den Herrschaftsantritt Jesu Christi proklamieren, der sich in seiner ganzen Reichweite noch erst durchsetzen wird. Der umfassende Ostersieg Christi, der im Glauben gewiss ist und deshalb verkündigt und gefeiert wird, bleibt trotz vielfältiger Erweise weitgehend doch schmerzlich unanschaulich und reicht noch tief in die Verborgenheit Gottes hinein – allerdings bei zuversichtlicher Hoffnung auf sein endgültiges volles Offenbarwerden.

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Johannes Salzmann, Zuflucht und Sieg unter den ewigen Armen, MHELF 39 (1937), 61–62, Zitat dort 61. – In seiner Andacht legt Salzmann den Satz „Aber der Herr wird seinem Volk eine Zuflucht sein“ (Joel 4,16) aus (Die Phantom-Angabe Joel 3,21 ist zu korrigieren).

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Gottes Wort ist der Hammer! Beobachtungen zum Verständnis des Wortes Gottes im Jeremiabuch Achim Behrens „verbo solo + fide sola“1 – allein durch das Wort und allein durch den Glauben kommt Gottes Heil zu den Menschen. Das ist das Zentrum der lutherischen Reformation. Im Hinblick auf das Gottesverhältnis des Menschen liegt alles an Gottes Gnade, die ganz an Christus hängt, ausschließlich durch das Wort vermittelt wird und einzig im Glauben zu empfangen ist. Das ist die Kernaussage evangelischen Christseins, insbesondere in seiner lutherischen Gestalt. Mit der Konkordienformel lässt sich sagen: das glauben, lehren und bekennen wir. Aber das reicht uns nicht. Dass das Amt der Evangeliumsverkündigung „sine vi humana sed verbo / on leiplich gewalt, sondern mit dem Wort“2 geschieht, ist auch in der lutherischen Kirche nicht immer durchgehalten worden. Bereits die Regel „cuius regio eius religio“ des Augsburger Religionsfriedens von 1555 stellt für Gläubige, die anders als ihre jeweilige Landesherrschaft glaubten, einen Zwang in Fragen der Religion dar. Immer wieder ist die „Rechtgläubigkeit“ von Christenmenschen mit Zwangsmaßnahmen der jeweiligen kirchlichen oder staatlichen Instanzen durchgesetzt worden, immer wieder wurde versucht, ein „gottgefälliges“ Leben 1

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So steht es am neuen Bibliotheks- und Hauptgebäude der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel, dessen Entstehung sich wesentlich dem Einsatz von Jorg Salzmann verdankt. So in CA 28, BSELK, 194f.

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ACHIM BEHRENS mit Mitteln der sozialen Disziplinierung zu erreichen – und damit eben doch mit menschlicher Gewalt und nicht allein mit dem Wort. Darüber hinaus gab es in der Geschichte der Christenheit Strömungen oder Gemeinschaften, in denen das Bedürfnis nach dem Erleben des eigenen Glaubens, des Wirkens Gottes oder der Wirksamkeit des Heiligen Geistes, z. B. in Wundern oder Visionen, stärker wurde als das ausschließliche Vertrauen auf das Wort (und den Empfang der Sakramente). Statt sich nur vom Wort erbauen zu lassen, möchten Christenmenschen selbst den Hammer in die Hand nehmen und selbst bauen, sei es die Gemeinde oder das eigene, „richtige“ Leben. Verbo solo ist, ebenso wie das „mere passive“ der lutherischen Rechtfertigungslehre, eine Zumutung. Ein Blick in bestimmte Passagen des Alten Testaments erweckt den Eindruck, dass das Vertrauen allein auf das Wort bereits vor 2500 Jahren eine Herausforderung war. Insbesondere das Jeremiabuch reflektiert die Erfahrungen mit der Ausrichtung eines Wortes, das bei den Zuhörerinnen und Zuhörern meist nicht die erhoffte Wirkung erzielte und das für den Boten, personifiziert in der Gestalt des Propheten Jeremia, eben eine Zumutung und eine biographische Last darstellt. Dabei geht es im Buch Jeremia vor allem um das Wort, weit weniger um die Biographie einer historischen Person mit Namen Jeremia.3 Aber in der literarischen Person „Jeremia“ werden Charakter, Ursprung und Rezeption des Wortes abgebildet und durchdacht. Zugleich blickt diese Reflexion bereits auf die Erfahrungen

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Zu den Einleitungsfragen vgl. Franz Josef Backhaus/Ivo Meyer, Das Buch Jeremia, in: E. Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, KStTh 1.1, Stuttgart u. a. 92016, 553–582; Walter Dietrich, Das Jeremiabuch, in: ders./Hans-Peter Mathys/Thomas Römer/Rudolf Smend, Die Entstehung des Alten Testaments, ThW 1, Stuttgart u. a., 2014, 333–364; Konrad Schmid, Das Jeremiabuch, in: Jan Christian Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, Göttingen 62019, 346–361; Gunther Wanke, Jeremia 1, Jeremia 1,1–25,14, ZBK.AT 20/1, Zürich 1995, 11–25; Werner H. Schmidt, Das Buch Jeremia. Kapitel 1–20, ATD 20, Göttingen 2008, 1–41; Georg Fischer, Jeremia 1–25, HThK.AT, Freiburg i.Br. 2005, 37–122; zur Forschungsgeschichte vgl. Siegfried Herrmann, Jeremia. Der Prophet und das Buch, EdF 271, Darmstadt 1990; Georg Fischer, Jeremia. Der Stand der theologischen Diskussion, Darmstadt 2007.

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GOTTES WORT IST DER HAMMER! mit denjenigen Worten Gottes zurück,4 die die Propheten seit dem 8. Jh. v. Chr. verkündigt hatten und die dem oder den Verfasser(n) des Jeremiabuches zumindest in Teilen wohl auch schriftlich vorlagen. 5 In drei Schritten soll das Wort Gottes hinsichtlich seines Charakters, hinsichtlich seines Ursprungs und hinsichtlich seiner Rezeption im Jeremiabuch betrachtet werden.

1 Ein Wort wie ein Hammer Den Anfang soll ein Blick auf Jer 23,23–32 machen, einem Text, der einerseits ein Stück Auseinandersetzungsliteratur darstellt und andererseits intensiv den Charakter oder das Wesen des Wortes Gottes bedenkt. Ein besonderes Thema im Jeremiabuch ist der Konflikt zwischen „falscher“ und „wahrer“ Prophetie.6 Bibelkundlich wird dies vor allem in Jer 26–29, der Auseinandersetzung Jeremias mit den Propheten Uria und Hananja greifbar. Aber bereits in Kapitel 23 ist das Thema präsent. Jer 23,23–32 23 Bin ich [nur] Gott [in] der Nähe, Raunung Jahwes; und nicht [auch] Gott [aus] der Ferne? 24 Ob ein Mensch sich in Verstecken versteckt, ohne dass ich ihn sehe? – Raunung Jahwes. Bin ich es nicht, der den Himmel und die Erde ausfüllt? – Raunung Jahwes. 25 Ich habe gehört, was die Propheten gesagt haben, die Propheten, die in meinem Namen Lüge reden: „Ich habe geträumt! Ich habe geträumt!“ 4

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„Ein theologischer Begriff hat einen anderen Ursprung als das religiöse Geschehen, das in ihm zu erfassen versucht wird. Der Begriff ‚Wort Jahwes‘ entstammt nicht der prophetischen Gottesrede selbst, sondern dem Nachdenken über sie“ (Christoph Levin, Das Wort Jahwes an Jeremia. Zur ältesten Redaktion der jeremianischen Sammlung, ZThK 101 (2004), 257–280, hier: 257). Vgl. Zur Aufnahme von anderer biblischer Literatur im Jeremiabuch Fischer, Jeremia 1–25 (s. Anm. 3), 65–75. Vgl. den Exkurs bei Werner H. Schmidt, Das Buch Jeremia. Kapitel 21–52, ATD 21, Göttingen 2013, 33–36.

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ACHIM BEHRENS 26 27

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Wie lange gibt es im Herzen der Propheten Prophezeiungen der Lüge und Prophezeiungen aus Betrug ihres Herzens? Wollen sie, dass mein Volk meinen Namen vergisst für ihre Träume, die sie einander erzählen, so wie ihre Väter meinen Namen vergessen haben für Baal? Der Prophet, der einen Traum hat, soll einen Traum erzählen, aber der, der mein Wort hat, soll mein Wort sagen in Wahrheit. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen? – Raunung Jahwes. Ist nicht mein Wort so wie Feuer? – Raunung Jahwes – und wie ein Hammer, der Felsen zerdrischt? Deshalb, siehe ich bin gegen die Propheten – Raunung Jahwes –, die meine Worte voneinander stehlen. Siehe, ich bin gegen die Propheten – Raunung Jahwes –, die ihre eigenen Zungen nehmen und Raunungen raunen. Siehe ich bin gegen die Propheten mit Lügenträumen – Raunung Jahwes –, die sie erzählen und lassen mein Volk abirren mit ihren Lügen und ihrem Geflunker, aber ich habe sie nicht gesandt und ihnen nicht geboten, und so helfen sie diesem Volk nicht – Raunung Jahwes.

Der hier zitierte Text ist Teil des Abschnittes Jer 21–24, in dem Worte gegen die leitenden Instanzen in Juda gesammelt sind. In Jer 23,9 beginnt ein Text, der mit „betrifft die Propheten“ (‫ )לנבאים‬überschrieben ist und sich dezidiert gegen falsche Propheten richtet. Der Text beginnt in V. 9 in der Perspektive Jeremias, geht dann aber geradezu unmerklich in Gottesrede über.7 Alle Aussagen der ab Jer 23,9 versammelten Texte sind gegenüber den Propheten kritisch. Nachdem ihnen in V. 9–15 allgemein Bosheit und ethische Verfehlungen vorgeworfen wurden, geht es ab V. 16 um die Anklage, die Propheten Judas hätten eben nicht im „Rat Jahwes“ (V. 18: ‫ )סוד יהוה‬gestanden, sondern verkündigten die „Offenbarung ihres Herzens“ (V. 16: ‫)חזון לבם‬. Kurz: Ihr Wort ist nicht von Gott, sondern selbst erdacht.

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Vgl. die Schlussformel „Raunung Jahwes“ ‫ נאם יהוה‬in V. 11.

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GOTTES WORT IST DER HAMMER! In V. 23 wechselt die Tonlage des Textes wiederum.8 Immer noch geht es um Anklage und Drohung gegen die falschen Propheten. Aber diesen Abschnitt durchziehen eine Reihe von rhetorischen Fragen, die dem Text etwas WerbendArgumentatives verleihen.9 Denn Fragen fordern als direktive Sprechakte eine Reaktion der Angesprochenen heraus.10 Hörerinnen oder Leser müssen sich auf das Erfragte einlassen und darauf reagieren, indem sie eine Antwort geben. Das gilt auch für rhetorische Fragen, die sich scheinbar „von selbst“ beantworten, weil sie immer schon eine bestimmte Antwort nahelegen. Aber auch diese vermeintlich selbstverständliche Antwort müssen die Rezipienten sozusagen „im Kopf“ formulieren oder mitdenken. So werden sie an der Produktion von Textsinn mitbeteiligt und sind zum Nachvollzug einer Argumentation in gewisser Weise „eingeladen“.11 Bereits auf diese Weise ist der Text Jer 23,23–32, der inhaltlich das Wort Gottes thematisiert, selbst wirksames Gotteswort. Im Appellcharakter der Frage wird der Text als Anrede an die Hörenden, bzw. bis heute an die Lesenden deutlich erkennbar. Zusätzlich wird der Charakter des Textes selbst als Gotteswort durch den ständig wiederholten Gebrauch der Formel „Raunung Jahwes“ / ‫נאם יהוה‬ (V. 23.24[2x].28.29.30.31.32[2x]) unterstrichen. Insbesondere im Jeremiabuch sind Formeln, die das Gesagte als Gotteswort ausweisen, besonders häufig; darunter vor allem die Wortereignisformel („es geschah das Wort Jahwes zu …“ Jer 1,1: ‫ ;)היה דבר יהוה אליו‬die kô ’āmar-Formel (‫ )כה אמר יהוה‬oder eben die Gottesspruchformel (‫)נאם יהוה‬. Diese Formeln dienen zuweilen als Textgliederungssignale, dürfen deshalb aber nicht als entsemantisierte Aussagen oder eben „leere Formeln“

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Es wird diskutiert, ob die Verse 23f. für sich zu deuten oder mit dem folgenden Text verbunden sind. Für eine eigenständige Auslegung vgl. Wanke, ZBK.AT 20/1 (s. Anm. 3), 215f.; Schmidt, ATD 21 (s. Anm. 6), 47ff. „Mit den rhetorischen Fragen V 23f. verteidigt Jeremia seine Botschaft, sucht Zustimmung für seine Einsicht“ (Schmidt, ATD 21 [s. Anm. 6], 47). Vgl. Andreas Wagner, Sprechakte und Sprechaktanalyse im Alten Testament. Untersuchungen im biblischen Hebräisch an der Nahtstelle zwischen Handlungsebene und Grammatik, BZAW 253, Berlin/New York 1997, 233–240, bes. 239f. Vgl. Achim Behrens, Art. Argumentation I. Alttestamentlich, Lexikon der Bibelhermeneutik, hg. von Oda Wischmeyer, Berlin 2009, 42–43.

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ACHIM BEHRENS verstanden werden, sondern unterstreichen durchgehend den Charakter der im Jeremiabuch versammelten Texte als Gotteswort. Die Verse 23 und 24 richten den Blick von den Propheten, um die es auch schon bis V. 22 ging, auf Gott. Mit Fragen wird die Leserschaft auf Gottes Wesen hingewiesen. Die Formulierung „Bin ich nur Gott in der Nähe oder nicht auch Gott aus der Ferne?“ zielt wohl auf den Einwand, dass Gott, der im Himmel ist, die Verfehlungen gar nicht sieht, die die Menschen auf Erden tun. Darauf deutet auch die Frage in V. 24, ob es wohl ein Versteck für Menschen gäbe, das Gott nicht einsehen kann? 12 „Nein“, muss die aufmerksame Leserschaft antworten, „der liebe Gott sieht alles“. Der Grund dafür ist eben, dass dieser Gott als Schöpfer von Himmel und Erde (‫ את השׁמים ואת הארץ‬V. 24; vgl. wortgleich Gen 1,1), diese Erde auch „füllt“.13 Dieser Gott nimmt wahr; in diesem Falle hört er, wie V. 25 fortfährt.14 Auch die angeklagten Propheten können ihre falsche Botschaft nicht von Gott unerkannt unter die Menschen bringen. Gott hat ihre „Lügen“ (‫)שׁקר‬, wie es jetzt ausdrücklich heißt, gehört. Besonders schlimm ist es, dass diese Lügen „in meinem Namen“ (‫ )בשׁמי‬vorgetragen, also als Wort Gottes ausgegeben werden. Der Inhalt dieser Lügenprophetie wird nur mit dem Ausruf „Ich habe geträumt! Ich habe geträumt!“ wiedergegeben. Die Berufung auf einen Traum soll offenbar dem Wort Nachdruck verleihen. Das marktschreierische Sich-Berufen auf diese Offenbarungsform wird hier karikiert. Sind noch im Buch Genesis bei Jakob oder Joseph Träume ein probates Mittel des Gotteskontaktes, findet sich in der prophetischen Literatur des Alten Testaments mit Ausnahme von Joel 3,1 kein Beleg für eine positive Wertung des Träumens.15 Der Traum als Berufungsinstanz der 12

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Zum Anklang an ähnliche Motive in Am 9,3 oder Ps 139 vgl. Fischer, Jeremia 1–25 (s. Anm. 3), 699f. „Jahwe ist es, der Himmel und Erde, also die ganze Schöpfung durchdringt. Es gibt keinen Bereich, der nicht von ihm bestimmt wäre. So entziehen sich die Propheten einer Einsicht, die – jedenfalls in nachexilischer Zeit – zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Jahweglaubens geworden ist: Jahwe ist der Schöpfer der Welt“ (Wanke, ZBK.AT 20/1 [s. Anm. 3], 215f.). „Gottes Hören ergänzt bezüglich des Wahrnehmens das Sehen aus V. 24; ihm sind die Reden dieser seiner angeblichen Sprecher bekannt“ (Fischer, Jeremia 1–25 [s. Anm. 3], 700). Vgl. Fischer, Jeremia 1–25 (s. Anm. 3), 700.

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GOTTES WORT IST DER HAMMER! (falschen!) Propheten soll den Vorgang der Offenbarung anschaulich machen. Das Wort allein reicht nicht, es muss schon ein Traum sein! Aber von vornherein werden diese Träume hier als „Lüge“ qualifiziert.16 V. 26 und 27 bieten wiederum Fragen. Diese dienen hier aber weniger als argumentatives Mittel, um die Leserschaft zu Antworten zu ermutigen, sondern sind Ausdrucksmittel der Klage, wie gleich das einleitende „Wie lange?“ (V. 26: ‫עד‬ ‫ )מתי‬deutlich macht. 17 Zugleich mit der Klage ergeht wiederum eine Anklage. Herkunft und Effekt der Träume werden negativ gewertet. Die Lügenträume dieser Propheten stammen aus „ihren Herzen“ (V. 26: ‫)לבם‬, d. h. sie sind selbst erdacht. Schlimmer als der Ursprungsort der Träume ist ihre Wirkung: Sie lassen das Volk Jahwes Namen vergessen! Früher ist dann an die Stelle von Israels Gott „Baal“ getreten, wie sich bei Hosea lesen lässt (V. 27).18 Hinzu kommt die auffällige Formulierung, die Propheten „erzählten“ einander ihre Träume (V. 27: ‫)בחלומתם אשׁר יספרו אישׁ לרעהו‬. Auch das Verb ‫ ספר‬mag auf die mangelnde Seriosität dieser prophetischen Träume und ihrer „Verkündigung“ hinweisen,19 wie der nächste Vers nahelegt. V. 28 zieht ein Fazit aus dem Thema „Träume“: Wer mag, soll Träume „erzählen“ (‫ ;)ספר‬andere „sagen“ (‫„ )ידבר‬mein Wort“ (‫ )דברי‬und das „in Wahrheit“ (‫)אמת‬. Der Gedanke schließt mit einem Sprichwort, nach dem Stroh und Weizen nicht zusammenpassen. Der Weizen ist das Nahrhafte, während das Stroh allenfalls als

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„Inhalt und Medium rücken oder gehören zusammen […]. Die eigentliche Gestalt des Offenbarungsempfangs ist das Wort; das ‚Gesicht‘ der Propheten ist ‚Traum‘. Galt es zuvor als möglicher Weg göttlicher Offenbarung, so wird hier die ‚Lüge‘ mit Berufung auf Gottes ‚Namen‘ als Träumen bestimmt oder auf Träume zurückgeführt“ (Schmidt, ATD 21 [s. Anm. 6], 49). Die Frage „Wie lange?“ als Verbalisierung der Klage in den Klagepsalmen des Einzelnen, findet sich z. B. in Ps 6,4; 74,10; 80,5; 82,2; 90,13; vgl. Reinhard Müller, Art. Psalmen, Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de) 2013 [Stand: 19.8.2021]. Vgl. die seltene Formulierung ‫ בבעל‬in Jer 23,13 mit ausdrücklichem Bezug auf „Samaria“ und in Hos 13,1 (sonst nur noch Jer 2,8; 12,6). Vgl. ähnlich Fischer, Jeremia 1–25 (s. Anm. 3), 701.

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ACHIM BEHRENS Streu dient. Aber Brot wird aus dem Weizenmehl gebacken.20 So ist hier mit wenigen Strichen, das Wort Gottes – obwohl vielleicht weniger spektakulär als ein Traum – als ein Lebensmittel gezeichnet. Die Gottesspruchformel schließt diesen kurzen Gedanken ab. V. 29 setzt wiederum mit rhetorischen Fragen ein und kommt zum Kern der Aussage. Das Stichwort „Wort Gottes“ bzw. „mein Wort“ wird aufgenommen. Jetzt geht es nicht mehr um Träume, sondern um dieses Wort. Dieses Wort ist „wie Feuer“ – die eben noch präsente Identifikation der Träume mit Stroh macht die Bedrohlichkeit dieses Bildes deutlich. Ebenso ist das Wort „wie ein Hammer, der Felsen zerdrischt“. Die Wirkung des göttlichen Wortes kann also fatal sein, ist doch auch die Prophetie von Amos bis Jeremia vor allem Gerichtsprophetie.21 Das Wort, das so wenig spektakulär ist, ist doch wirksam! Nicht vergessen werden darf dabei, dass es auch mit dem Weizen verglichen wurde; Gottes Wort ist also richtend und rettend zugleich. Aus dieser doppelten These – „Träume sind Schäume, aber das Wort ist der Hammer“ – werden jetzt Folgerungen gezogen. V. 30 leitet mit „Deshalb“ (‫)לכן‬ ein Gerichtswort gegen die Propheten (‫ הנני על הנבאים‬/ „Siehe, ich bin gegen die Propheten“22) ein, das in V. 31 und 32 jeweils wiederholt und jeweils mit der Gottesspruchformel ‫ נאם יהוה‬unterstrichen wird. Falls die Propheten mal „mein Wort“ sagen, handelt es sich um Plagiate (V. 30).23 In der Regel sprechen sie nur mit ihrer eigenen Zunge und „raunen Raunungen“ (V. 31: ‫)וינאמו נאם‬, die aber eben nicht ‫ נאם יהוה‬sind.24 Fazit: Ihre Träume sind Lügen und führen das Volk in die Irre. Dabei sollten sie dem Volk eigentlich „helfen“ (V. 32). Dies aber 20

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„Traum und Wort Jahwes entsprechen sich wie die wertlose Spreu und das lebenerhaltende Getreide“ (Wanke, ZBK.AT 20/1 [s. Anm. 3], 217). „Daß Gottes Wort wie ‚Feuer‘ ist, begegnete bereits zweimal in der Jer (5,14; 20,9), setzt also konsequent diese Linie fort. Darin steckt die Erfahrung, daß sein Sprechen reinigende, verzehrende und verwandelnde Kraft enthält“ (Fischer, Jeremia 1–25 [s. Anm. 3], 703). Vgl. Fischer, Jeremia 1–25 (s. Anm. 3), 703, der hier von einer „Herausforderungsformel“ spricht. Vgl. Fischer, Jeremia 1–25 (s. Anm. 3), 703f. Die falschen Propheten sind „Sprücheklopfer“ (Wanke, ZBK.AT 20/1 [s. Anm. 3], 217) oder sie „spruchen Spruch“ (Fischer, Jeremia 1–25 [s. Anm. 3], 704).

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GOTTES WORT IST DER HAMMER! können sie nicht, weil Gott sie nicht „gesandt“ (‫ )ואנכי לא שׁלחתים‬und ihnen ihre „Erzählungen“ auch „nicht geboten“ (‫ )ולא צויתים‬hat.25 Mit den Vokabeln „senden“ und „gebieten“ sind zwei Stichworte aufgerufen, die auch für den Propheten Jeremia und sein Verhältnis zum Wort Gottes entscheidend sind. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf Jer 1.

2 „Gottes Wort“ in den „Wörtern Jeremias“ In der Einleitung zum Jeremiabuch im 1. Kapitel, das in seiner vorliegenden Form sicher eine späte „Ouvertüre“ in das ganze Buch darstellt, 26 werden die Stichworte „senden“ und „gebieten“ bereits im Kontext einer theologischen Reflexion über das Wort Gottes gebraucht.27 Jer 1,4–8: 4 Da geschah das Wort Jahwes zu mir folgendermaßen: 5 „Ehe ich dich im Mutterleib bildete, habe ich dich erkannt, und bevor du aus dem Schoß gekommen bist, habe ich dich geheiligt, als Prophet für die Völker habe ich dich eingesetzt.“ 6 Da sprach ich: „Ach mein Herr Jahwe, siehe ich verstehe nicht zu reden, denn ein Jüngling bin ich.“ 25

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Mit dieser Formulierung sind die falschen Propheten aus dem Jeremiabuch auch von dem Verdikt des Prophetengesetzes in Dtn 18,20 getroffen: „Nur der Prophet der vermessen handelt, indem er in meinem Namen ein Wort redet, das ich ihm nicht geboten habe zu reden, oder der redet im Namen eines fremden Gottes, jener Prophet soll sterben“; vgl. Achim Behrens, „Ich lege meine Worte in deinen Mund …“ Zum Verständnis des Wortes Gottes nach Dtn 18, LuThK 40 (2016), 3–24. Das Kapitel ist mit hoher Wahrscheinlichkeit als eine programmatische Einleitung in das ganze Buch verfasst, die zahlreiche Stichworte und Themen des Jeremiabuches bereits „anspielt“; vgl. z. B. Backhaus/Meyer, Buch (s. Anm. 3), 561–565, oder Fischer, Jeremia 1–25 [s. Anm. 3], 143. Zur Analyse von Jer 1 vgl. auch Achim Behrens, Prophetische Visionsschilderungen im Alten Testament. Sprachliche Eigenarten, Funktion und Geschichte einer Gattung, AOAT 292, Münster 2002, 105–125.

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Aber Jahwe sprach zu mir: „Sage nicht: ‚Ein Jüngling bin ich‘; sondern überallhin, wohin ich dich sende, wirst du gehen [‫כי על כל אשׁר אשׁלחך‬ ‫]תלך‬, und alles, was ich dir gebiete, wirst du reden [‫ואת כל אשׁר אצוך‬ ‫]תדבר‬. Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin mit dir, um dich zu retten – Raunung Jahwes.

Der Text berichtet von Jeremias „Berufung“28 und reflektiert dabei implizit über die Zumutung, die es bedeutet, dass der Prophet sich allein auf Gottes Wort hin aufmachen soll.29 Der Text repräsentiert diese Reflexion in der Form des Einwandes „Ich kann nicht reden und ich bin zu jung“ (V. 6). Zunächst wird diesem Einwand dadurch begegnet, dass eben Jahwe der Sendende und Gebietende ist, sodass Jeremia nicht aus eigenem Vermögen und eigener Vollmacht seine Aufgabe angehen muss (V. 7). Er soll im Auftrag handeln – und zwar im Auftrag dessen, dem er sein Dasein verdankt (V. 5).30 Dies wird nun in V. 9f. noch durch eine Art Inauguration in den Prophetendienst unterstrichen.

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Das Stichwort Berufung bezeichnet eher ein Motiv als eine Gattung im formgeschichtlichen Sinne, vgl. Achim Behrens, Art. Berufung, Wörterbuch alttestamentlicher Motive, hg. von Michael Fieger/Jutta Krispenz/Jörg Lanckau, Darmstadt 2013, 63–66; vgl. auch Levin, ZThK 101 (2005) (s. Anm. 4), 258–261. „Die vorgeburtliche Bestimmung zum Propheten beschreibt Jeremia als einen Menschen, der aus allen sozialen Bindungen herausgeholt und in die alleinige Bindung an Jahwe hineingestellt wurde (V. 5), und als einen Menschen, der sich der Größe der Aufgabe nicht gewachsen fühlt“ (Wanke, ZBK.AT 20/1 [s. Anm. 3], 29); vgl. auch Schmidt, ATD 20 (s. Anm. 3), 55. „Der Berufungsbericht sollte nicht als Zusammenstellung biographischer Einzeldaten mißverstanden werden, vielmehr ist er sprachlicher Niederschlag von Erfahrungen im Umgang mit der prophetischen Beauftragung. In ihm wird etwas von dem Bewußtsein sichtbar, daß das Tun des Propheten in einem Widerfahrnis begründet liegt, welches ihm Einsicht in seine eigene Unfähigkeit, gleichzeitig aber auch in die Zuwendung Jahwes gewährt“ (Wanke, ZBK.AT 20/1 [s. Anm. 3], 30).

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GOTTES WORT IST DER HAMMER! Jer 1,9–10: 9 Und Jahwe streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an, und Jahwe sprach zu mir: „Hiermit lege ich meine Worte in deinen Mund. 10 Hiermit bestelle ich dich an diesem Tag über Völker und Königreiche, um auszureißen und niederzubrechen und zu zerstören und zu vernichten, um zu bauen und zu pflanzen.“ Jahwe selbst berührt den Mund des Propheten, der hier als Organ des Sprechens in den Blick kommt. Diese quasisakramentale Geste wird begleitet durch einen deklarativen Sprechakt:31 „Hiermit lege ich meine Worte in deinen Mund“. Mit diesen Worten wird die Geste vereindeutigt. „Die Berührung allein, tut’s freilich nicht“, ließe sich in Anlehnung an Luthers Kleinen Katechismus sagen, „sondern das Wort“.32 Der Text versucht, die Übermittlung des göttlichen Wortes an den Propheten in ein Bild zu fassen.33 Damit wird noch einmal klar, dass die „Worte Jeremias“ (‫ – )דברי ירמיהו‬so ist das ganze Buch in Jer 1,1 überschrieben – eben im Kern Wort Jahwes (Jer 1,2: ‫ )דבר יהוה‬sind.34

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Vgl. Wagner, Sprechakte (s. Anm. 10), 110. „Zur Bestätigung vollzieht Gott oder lässt vollziehen eine – nicht nur hörbare, sondern jetzt sichtbare – zeichenhafte Handlung. Sie bedarf, da Riten und Symbole ihrem Wesen nach mehrdeutig sind, des erläuternden Wortes“ (Schmidt, ATD 20 [s. Anm. 3], 55). „Genau darauf bezieht sich die Geste: ‚Siehe, ich lege mein Wort in deinen Mund‘. Auf diese Schlußpointe läuft alles zu: Der Vorgang der Wort-Übergabe begründet die Prophetie. Die Botschaft, die der Prophet als der prädestinierte Sprecher Jahwes zu verkündigen hat, ist in keiner Weise sein Eigenes. Sie hat ihren Ursprung allein in Jahwe“ (Levin, ZThK 101 [2004] [s. Anm. 4], 261). Vgl. Wanke, ZBK.AT 20/1 (s. Anm. 3), der mit anderen zwischen den „Worten Jeremias“ (V. 1) und dem „Wort Jahwes, das erging an …“ (V. 2) literarkritisch scheiden möchte. In der älteren Fassung (V. 1) seien hier schlicht Worte des Propheten gesammelt worden. Möglich ist das. Allerdings liegt hinter dem vermuteten redaktionellen Prozess jedenfalls eine theologische Reflexion: Jeremia redet nicht aus eigenem Antrieb, und Jahwes Wort ergeht eben in den Worten Jeremias. Dazu Fischer, Jeremia 1–25 [s. Anm. 3], 128: „So enthält dieses Incipit bereits am Beginn von Jer eine Theologie des prophetischen Wortes, die das Miteinander beider Dimensionen betont.

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ACHIM BEHRENS Zugleich wird der Zweck dieses Aktes in V. 10 näher bestimmt. Wieder geschieht dies in Form eines deklarativen Sprechaktes 35 : „Hiermit setze ich dich heute über Völker und Königreiche, um auszureißen und niederzubrechen und zu zerstören und zu vernichten, um zu bauen und pflanzen“. In den Bildern aus Bau und Ackerbau sind wieder Gericht (ausreißen, niederbrechen) und Heil (bauen, pflanzen) beieinander gehalten.36 Das Wort ist auch hier schon einerseits „Feuer“ und „Hammer“, aber andererseits auch „Weizen“. Im Kontext der sog. zweiten „Konfession“ Jeremias, in Jer 15, findet sich eine weitere bemerkenswerte Aussage über das Wort Gottes. Jer 15,15–18 15 Du weißt es, Jahwe! Denke an mich und besuche mich und räche mich an meinen Verfolgern. Nimm mich in deiner Langmut nicht hinweg; erkenne, dass ich für dich Schmach trage! 16 Fanden sich deine Worte, aß ich sie und deine Worte wurden für mich Jubel und Freude meines Herzens; denn dein Name ist über mich genannt Jahwe, Gott Zebaoth. 17 Ich habe nicht im Rat der Lachenden gesessen und mich mit ihnen gefreut; vor deiner Hand einsam habe ich gesessen, denn mit Zorn hast du mich gefüllt. 18 Wozu widerfahren mir dauernd Schmerzen und unheilbare Wunden? Sie wollen nicht mehr heilen. Du bist für mich tatsächlich geworden wie trügerisches Wasser, dem man nicht trauen kann.

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Das paßt gut zu einem Propheten, der wie kein anderer in seiner Verkündigung angefochten erscheint und bei dem das Thema des Wortes mehr als sonst dominiert.“ Vgl. Wagner, Sprechakte (s. Anm. 10), 127. „Die Reihenfolge ordnet die vier Verben des Zerstörens den zwei Verben des Aufbauens vor. Das entspricht sowohl einer Bewegung innerhalb des Jer-Buches, daß nämlich Heil erst auf den Untergang folgt (s. vor allem Jer 29–33), als auch seinem Schwerpunkt auf düsteren, niederdrückenden Ereignissen“ (Fischer, Jeremia 1–25 [s. Anm. 3], 137 [Hervorhebung im Original]).

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GOTTES WORT IST DER HAMMER! Dieser kurze Abschnitt ist gefüllt mit Elementen des Klagepsalms.37 Der Text rekurriert auf die Ablehnung des Gotteswortes, die hier auch den Boten trifft, der diese Worte ausrichtet, wie an der Person Jeremias verdeutlicht wird. Er beklagt die Ablehnung, die er erfährt (V. 15: „Schmach“) und die durchaus auch zu körperlichen Schmerzen führen kann (Vgl. 18). Der Prophet wird in eine freudlose Einsamkeit geführt (vgl. V. 17a), die im „zornigen“ Charakter seiner Botschaft begründet ist (V. 17b). Die Wozu-Frage (‫ )למה‬verlangt von Gott, einen Sinn in alledem aufzuzeigen und steigert sich sogar zu einer Anklage Gottes:38 „Du bist für mich tatsächlich geworden wie trügerisches Wasser, dem man nicht trauen kann“ (V. 18). Bliebe es dabei, schiene das „verbo solo“ für Jeremia jedenfalls tatsächlich eine unerträgliche Zumutung. Aber einerseits blickt das ‫ למה‬immerhin doch auf die Möglichkeit eines Sinnes aus. Es fragt nicht nach der Vergangenheit, sondern sucht in dem Widerfahrnis ein Ziel.39 Hier wird zumindest andeutungsweise mit Gottes Möglichkeiten gerechnet, das Schicksal noch zu wenden. Zum anderen findet sich auch in diesem „Klagepsalm“ eine Art „Stimmungsumschwung“. 40 Dieser steht aber nicht am Ende, sondern im Zentrum des Textes.41

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Vgl. Wanke, ZBK 20/1 (s. Anm. 3), 154. Vgl. Wanke, ZBK 20/1 (s. Anm. 3), 155. Vgl. Diethelm Michel, „Warum“ und „Wozu“? Eine bisher übersehene Eigentümlichkeit des Hebräischen und ihre Konsequenzen für das alttestamentliche Geschichtsverständnis, in: ders., Studien zur Überlieferungsgeschichte alttestamentlicher Texte, TB 93 Gütersloh 1997, 13–34; Bernd Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003, 360. „Im Kontrast zu der seine vorigen Bitten auslösenden Situation steht Jeremias Freude an Gottes Wort, die hier in einer sonst nicht erreichten Intensität zum Vorschein kommt“ (Fischer, Jeremia 1–25 [s. Anm. 3], 508. [Hervorhebung im Original]). Wanke sieht daher in V. 16 eine „Vorhaltung“ Jeremias gegenüber Gott. Der Prophet verweise damit auf sein untadeliges Verhalten, dem sein Geschick nicht entspreche (vgl. ZBK 20/1 [s. Anm. 3], 154). Dem widerspricht allerdings, dass bereits innerhalb von V. 16 auch von „Jubel und Freude“ als Effekt der Verinnerlichung des Wortes die Rede ist.

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ACHIM BEHRENS 16

Fanden sich deine Worte, aß ich sie und deine Worte wurden für mich Jubel und Freude meines Herzens; denn dein Name ist über mich genannt Jahwe, Gott Zebaoth.

Der Empfang und die Verinnerlichung des Wortes Gottes wird mit dem Akt des Essens verglichen. Weit konkreter als der Begriff „Inspiration“ es könnte, wird hier das Wort als Lebensmittel beschrieben.42 Es „belebt“ den Propheten auch im Herzen, sodass es fast wie ein Psychopharmakon wirkt. Hier stehen Jubel und Freude statt Isolation und Schmerz. Der Prophet erinnert sich daran, in wessen Namen er redet. „dein Name ist über mich genannt“ – das ist sozusagen Jeremias „baptizatus sum“.43 Auffällig ist die Formulierung „fanden sich deine Worte …“ / ‫נמצאו דבריך‬, die unweigerlich zu der Frage führt, wo und in welcher Form Jeremia Jahwes Worte „gefunden“ haben könnte. Wieder ließe sich daran denken, dass hier der Versuch vorliegt, den prophetischen Wortempfang sprachlich auszudrücken. 44 Dabei könnten aber durchaus auch ganz weltliche, handfeste Dinge im Spiel sein. Es ließe sich daran denken, dass Jeremia Gottes Wort – jedenfalls auch – bereits in Gestalt der geschriebenen Worte anderer Propheten, z. B. in Form einer Schriftrolle „gefunden“ hat.45 In eine ähnliche Richtung deutet die nächste sprachliche Parallele zu diesem Text im Buch Ezechiel.46 Ez 2,8–3,347: 8 „Und du Menschenkind, höre, was ich zu dir sage, sei nicht widerspenstig wie das Haus der Widerspenstigkeit; öffne deinen Mund und iss, was ich vor dich lege.“ 9 Da sah ich, und siehe: Eine Hand war zu mir hin ausgestreckt, und siehe in ihr eine Schriftrolle. 42

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Die Formulierung „umschreibt den Offenbarungsempfang“ (Schmidt, ATD 20 [s. Anm. 3], 281). Vgl. Fischer, Jeremia 1–25 (s. Anm. 3), 508f. So Schmidt, ATD 20 (s. Anm. 3), 281. Vgl. so Fischer, Jeremia 1–25 (s. Anm. 3), 508. Vgl. Schmidt, ATD 20 (s. Anm. 3), 281; Fischer, Jeremia 1–25 (s. Anm. 3), 508. Zur Analyse des Textes vgl. Behrens, Visionsschilderungen (s. Anm. 27), 199–209.

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Und er rollte sie vor mir aus, und sie war beschrieben auf der Vorderund der Rückseite und geschrieben war darauf Klage und Ach und Weh. Und er sprach zu mir: „Menschenkind, was du findest, das iss!“ (‫את‬ ‫)אשׁר תמצא אכול‬. Iss diese Schriftrolle und dann geh und rede zum Haus Israel!“ So öffnete ich meinen Mund und aß diese Schriftrolle. Und er sprach zu mir: „In deinen Leib schlinge und fülle deinen Bauch mit dieser Schriftrolle, die ich dir vorgelegt habe!“ So aß ich, und sie wurde in meinem Mund wie süßer Honig.

Die Wortwahl „Finden“, „Essen“ und „werden zu …“ lässt diesen Text deutlich an Jer 15,16 anklingen. Allerdings ist hier explizit von einer Schriftrolle die Rede. Ezechiel kann also auch nach Auskunft des Buches selbst bereits auf geschriebene Gottesworte zurückgreifen. 48 „Inspiration“ ist kein ausschließlich spiritueller Vorgang, sondern hat auch mit Texten zu tun. Zumindest für das Jeremiabuch in der vorliegenden Endgestalt gilt Ähnliches, wie z. B. das wörtliche Zitat von Mi 3,12 in Jer 26,18 zeigt. Bereits bei Jeremia lässt sich greifen, wie Gottes Wort Schrift wird und als solche eine besondere Wirkung entfaltet.

3 Vom „verbo solo“ zum „sola scriptura“ In ungewöhnlich eindeutiger und detaillierter Weise thematisiert das Jeremiabuch im 36. Kapitel die Niederschrift der Prophetenworte in eine „Buchrolle“

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„Der Text reflektiert nicht die Entstehung der Schriftprophetie, er setzt sie voraus, denn der Prophet erhält die fertiggestellte und von beiden Seiten beschriebene Schriftrolle unmittelbar von Jahwe“ (Harald Martin Wahl, Die Entstehung der Schriftprophetie nach Jer 36, ZAW 110 [1998], 365–389, hier: 365 Anm. 1).

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ACHIM BEHRENS (‫)מגלת ספר‬49 und gibt damit auch Hinweise auf die Buchwerdung des prophetisch vermittelten Gotteswortes.50 Jer 36,1–3: 1 So geschah es im vierten Jahr Jojakims, des Sohnes Josias, des Königs von Juda, da geschah ebendieses Wort zu Jeremia von Jahwe folgendermaßen: 2 „Nimm dir eine Buchrolle und schreibe darauf alle die Worte, die ich zu dir geredet habe über Israel und über Juda und über alle Völker, von dem Tag an, an dem ich mit dir geredet habe in den Tagen Josias bis heute. 3 Vielleicht hört das Haus Juda all die schlimmen Dinge, die ich vorhabe, ihnen zu tun, sodass sie umkehren, ein jeder von seinem bösen Weg; dann vergebe ich ihre Sünden und ihre Verfehlungen.“ Das Kapitel kehrt noch einmal in die Tage Jojakims zurück, genauer: in das Jahr 605 v. Chr., das mit dem Machtantritt Nebukadnezars in Babylon verbunden ist.51 Dabei war bereits vorher im Jeremiabuch von Zedekia, Jojakims Nach-Nachfolger die Rede gewesen. Es geht also nicht um chronologische Historiographie, sondern um ein theologisches Thema. Jahwe selbst befiehlt Jeremia in einem durch die Wortereignisformel als Offenbarung gekennzeichneten Akt, seine bisherigen Worte aufzuschreiben. Gott verbindet damit die vage Hoffnung, 52 das „Haus

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Der Ausdruck ist ungewöhnlich und begegnet nur noch in V. 4; Ez 2,9 (wohl als Aufnahme aus Jer) und in Ps 40. Obwohl auch schon andere Propheten zum Schreiben aufgefordert wurden (vgl. Jes 8,1; Hab 2,2), waren es dort doch stets kleine Schriftstücke („Tafeln“). Zum literarischen Charakter der Erzählung, die nicht unmittelbar biographisch ausgedeutet werden darf, sowie zu einer möglichen Literargeschichte vgl. Gunther Wanke, Jeremia 2. Jeremia 25,15–52,34, ZBK.AT 20/2, Zürich 2003, 331ff. sowie Wahl, ZAW 110 (1998) (s. Anm. 48), 368–275 Vgl. Wanke, ZBK.AT 20/2 (s. Anm. 50), 333. Das Wörtchen ‫„ אולי‬vielleicht“ deutet darauf hin, dass die Zukunft in gewisser Weise noch offen ist. Bemerkenswert ist, dass das Wort hier im Munde Gottes begegnet (vgl.

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GOTTES WORT IST DER HAMMER! Juda“ könnte angesichts drohenden Unheils von seinen bösen Wegen lassen. Der Akt der Niederschrift und Rezeption dieser Jeremiarolle aus Gottesworten wird daraufhin als äußerst komplexer Vorgang geschildert. Jer 36,4–8: 4 So rief Jeremia den Baruch, Sohn des Nerijah, und Baruch schrieb nach dem Diktat Jeremias alle Worte Jahwes, die er zu ihm geredet hatte, auf die Buchrolle. 5 Und Jeremia gebot Baruch folgendermaßen: „Ich bin gebunden und kann nicht in das Haus Jahwes kommen. 6 Also gehe du und lese die Rolle vor, in die du von meinem Mund die Worte Jahwes geschrieben hast, vor den Ohren des Volkes, das im Hause Jahwes ist am Fastentag, und auch vor den Ohren alle Judäer, die aus ihren Städten gekommen sind, sollst du sie vorlesen. 7 Vielleicht fällt ihr Flehen vor Jahwe [nieder], und sie kehren um, ein jeder von seinem bösen Weg; denn groß ist der Zorn und die Wut, die Jahwe über dieses Volk zur Sprache gebracht hat.“ 8 Und Baruch, der Sohn Nerijahs, tat gemäß allem, das Jeremia, der Prophet, ihm gebot; indem er aus dem Buch die Worte Jahwes [im] Haus Jahwes vorlas. Jeremia schreibt diese Worte nicht selbst, sondern diktiert sie seinem Adlatus Baruch Ben Nerijah. V. 4 deutet die Komplexität der Vermittlung des Gotteswortes an: „Baruch schrieb nach dem Diktat Jeremias alle Worte Jahwes, die er zu ihm geredet hatte, auf eine Buchrolle“. Baruch schreibt – Jeremia diktiert – Jahwe hat geredet; alles gemeinsam ergibt einen literarischen Text.53 Bereits dieser Halbsatz sollte einem allzu simplen Verständnis von „Inspiration“ im Wege stehen. Gottes

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ähnlich Jer 26,3), während es in Am 5,15 oder Jon 1,6 die Hoffnung der Bedrohten ausdrückt, Gott könnte „vielleicht“ von geplantem Unheil ablassen. Dazu Georg Fischer, Jeremia 26–52, HThK.AT, Freiburg i.Br. 2005, 285: „Freilich spiegelt Jer 36 indirekt Prozesse, wie Bücher – und damit auch Jer – damals entstanden. Als modellhafte Erzählung verwendet es reale Vorgänge, unter ihnen Diktieren, Aufschreiben, öffentliches Verlesen, ergänzendes Hinzufügen usw.“ [Hervorhebung im Original].

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ACHIM BEHRENS Wort gehört offenbar in den Tempel (vgl. V. 6). Dort liest Baruch es auch vor; allerdings erst ein Jahr nach dem erfolgten Diktat. Im „fünften Jahr Jojakims“ (V. 9) liest Baruch die Worte dieser Buchrolle anlässlich eines „Fastens“ (weil das viele „Gottesdienstbesucher“ brachte?) im Tempel vor.54 Damit setzt ein äußerst komplexer Rezeptionsprozess ein: Ein gewisser Micha aus der am Königshof einflussreichen Familie der Schafaniden55 „hört“ die Worte Baruchs, geht an den Königshof, aber nicht direkt zum König, sondern zu den „Schreibern“. Denen „berichtet“ (V. 13 ‫)ויגד‬56 er das Gehörte. Bis hierhin wird aus dem geschriebenen Wort wieder ein mündlicher Bericht, ja fast so etwas wie ein „Gerücht“. So jedenfalls könnte es die versammelte Gruppe der Scheiber und Beamten empfunden haben. Die jedenfalls schicken einen gewissen Jehudi zu Baruch (Vgl. V. 14), damit dieser komme und und den einflussreichen und gelehrten Mitgliedern des Hofstaates die Rolle selbst noch einmal vorlese.57 So geschieht es, und das Wort wirkt. Jer 36,16–19 16 Und es geschah, als sie alle die Worte hörten, fürchteten sie sich, ein jeder [mit] seinen Nächsten, und sagten zu Baruch: „Wir wollen unbedingt dem König alle diese Worte mitteilen.“ 54

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Dabei heißt es in V. 10: „Da las Baruch aus dem Buch die Worte Jeremias (‫את דברי‬ ‫ )ירמיהו‬im Hause Jahwes vor …“; während Jeremias Aufforderung in V. 6 lautete: „Also gehe du und lese die Rolle vor, in die du von meinem Mund die Worte Jahwes (‫ )את דברי יהוה‬geschrieben hast …“ Die Worte Jeremias sind also deshalb von Gewicht, weil sie zugleich Worte Jahwes sind, und andererseits ist das Wort Jahwes ohne die Worte Jeremias nicht zu haben; vgl. Fischer, Jeremia 26–52 (s. Anm. 53), 292. Zur Bedeutung dieser Familie sowohl für die sog. „Reform Josias“ in 2 Kön 22f. (und damit auch für die „Deuteronomistische Bewegung?“) als auch für Jer 36 und damit vielleicht für die Sammlung und Überlieferung der jeremianischen Prophetie insgesamt vgl. ausführlich Wahl, ZAW 110 (1998) (s. Anm. 48), 380f.385ff. Vgl. Fischer, Jeremia 26–52 (s. Anm. 53), 294. „Auch wenn sich nach Jer 36 die Entstehung beider Schriftrollen allein Jahwe, der den Auftragt gibt, Jeremia, der den Auftrag empfängt und übermittelt, und Baruch, der ihn wortgetreu aufschreibt, verdankt, so sind noch andere Personen an der Rezeption der Schriftrolle maßgeblich beteiligt“ (Wahl, ZAW 110 [1998] [s. Anm. 48], 379).

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Und Baruch fragten sie folgendermaßen: „Erzähl uns doch: Wie hast du alle diese Worte aus seinem Mund geschrieben?“ Und Baruch sprach zu ihnen: „Aus seinem Mund hat er mir alle diese Worte verkündigt, und ich habe sie mit Tinte in das Buch geschrieben.“ Und die Fürsten sprachen zu Baruch: „Geh, versteck dich, du und Jeremia, so dass niemand weiß, wo ihr seid.“

Das Wort wirkt; die Oberen fürchten sich.58 Auch hier ist das Wort wie ein Hammer; die Furcht deutet darauf hin, dass sich die erhoffte Wirkung, die Judäer könnten „vielleicht“ ihres falschen Handelns innewerden, einzustellen scheint. Dann aber wollen es die Zuhörer genau wissen. Wie kann das sein, dass die Worte „aus dem Mund“ Jeremias so von Baruch aufgeschrieben wurden? Wie kann das Wort Gottes Text werden? Daraufhin hat Baruch allerdings nur einen alltäglichen Vorgang zu berichten; er hat es mit Tinte auf die Rolle geschrieben.59 Näher ist dem Geheimnis nicht zu kommen.60 Seinen Charakter als treffendes Wort entfaltet der Text vor allem in seiner Wirkung. Für die Oberen Judas heißt das Zweierlei: Erstens müssen diese Worte vor den König gebracht werden. Zweitens sollten sich die Verfasser – Baruch und Jeremia – lieber verbergen. Die Angehörigen der intellektuellen Oberschicht ahnen offenbar bereits, dass mit einem kritisierten Herrscher nicht gut Kirschen essen ist. Aber auch der erwartbare Widerstand ist Wirkung eines Wortes, das wie ein Hammer ist. Das Wort Gottes, das Jeremia geredet und Baruch aufgeschrieben hatte, gelangt jetzt vor den König in Gestalt einer Schriftrolle, die dem König von dem bereits erwähnten Jehudi vorgelesen wird (Vgl. V. 20ff.). Das textgewordene Wort löst sich also von seinem Sprecher und Schreiber und entfaltet ein Eigenleben. 61 58 59

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Vgl. Fischer, Jeremia 26–52 (s. Anm. 53), 295. Vgl. Wanke, ZBK.AT 20/2 (s. Anm. 50), 334; Fischer, Jeremia 26–52 (s. Anm. 53), 296. „Wo und wie sich der zweimalige Empfang der Gottesbotschaft ereignet hat, gibt der Text (V. 1–2.29–30) auch in der Erweiterung (V. 3.31–32) nicht preis“ (Wahl, ZAW 110 [1998] [s. Anm. 48], 378). „Bemerkenswert ist auch, daß der menschliche Initiator des Geschehens, nämlich Jeremia, im Hintergrund bleibt, sodaß innerhalb des Hauptteils der Erzählung die Rolle fast ein Eigenleben zu spielen beginnt. Dadurch gibt der Erzähler zu verstehen, dass

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ACHIM BEHRENS Gleichzeitig ist das Medium „Schrift“ die Bedingung der Möglichkeit für diesen Vorgang.62 Allerdings entfaltet dieses Wort bei Judas König Jojakim nicht dieselbe Wirkung wie das zuvor bei seinen Oberen geschah. Hier folgt die bekannte Szene, in der der König in seinem Winterhaus die Schriftrolle Kolumne für Kolumne in einem Feuerbecken verbrennt. Das „Wort wie Feuer“ wird selbst ein Raub der Flammen. Gottes Wort setzt sich auch im vergänglichen Medium „Text“ der menschlichen Willkür aus. Jer 36,22–25: 22 Und der König saß im Winterhaus im neunten Monat und vor ihm stand ein Kessel mit Feuer. 23 Und es geschah: Wenn Jehudi drei oder vier Kolumnen vorgelesen hatte, dann schnitt er sie mit dem Schreibermesser ab und warf sie ins Feuer, das im Kessel brannte. 24 Aber der König und alle seine Diener erschraken nicht und zerrissen auch nicht ihre Kleider, als sie alle diese Worte hörten. 25 Aber auch Elnathan und Delaja und Gemarja baten den König, die Schriftrolle nicht zu verbrennen, aber er hörte nicht auf sie. Obwohl also das Wort „wie Feuer und wie ein Hammer, der Felsen zerdrischt“ ist, können sich Menschen dem Wort gegenüber verschließen. Die Wirkung ist nicht immer dieselbe. Mit der ausdrücklichen Erwähnung, dass der König und seine Diener nicht erschraken und eben nicht ihre Kleider zerrissen, wird Jojakim einerseits als Gegenbild zu Josia geschildert (vgl. 2 Kön 22,11.19)63 und ande-

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es ihm letztlich nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Jeremia und dem König geht, sondern um einen Konflikt zwischen dem Wort Jahwes, das schriftliche Gestalt gewonnen hat, ja gleichsam materialisiert erscheint, und dem König“ (Wanke, ZBK.AT 20/2 [s. Anm. 50], 335). „Damit gewinnt Prophetie eine ganz neue Dimension und Wirksamkeit“ (Fischer, Jeremia 26–52 [s. Anm. 53], 291 [Hervorhebung im Original]). Vgl. Wanke, ZBK.AT 20/2 [s. Anm. 50], 338, Schmidt, ATD 21 [s. Anm. 6], 192; Fischer, Jeremia 26–52 [s. Anm. 53], 285f.299f. „Jer 36 ist eine theologische Gegenerzählung zu II Reg 22–23, die literargeschichtlich von ihrer Vorlage abhängig ist“, urteilt Wahl, ZAW 110 (1998) [s. Anm. 48], 376.

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GOTTES WORT IST DER HAMMER! rerseits wird ihm im Jonabuch der Hofstaat des Königs von Ninive entgegengehalten, bei dem sich die erwartete Buße einstellt (vgl. Jon 3,5ff.).64 Der berühmte Text schließt mit einem Szenenwechsel und kehrt noch einmal zu dem versteckten Jeremia zurück. Dieser erhält den Befehl erneut eine Schriftrolle anzufertigen. Die Rolle lässt sich verbrennen, aber das Wort lässt sich nicht mehr aus der Welt schaffen, sobald es geschriebener Text wurde und immer weiter überliefert wird. Jer 36,27–32: 27 Da geschah das Wort Jahwes zu Jeremia, nachdem der König die Schriftrolle verbrannt hatte samt den Worten, die Baruch nach Jeremias Diktat darauf geschrieben hatte, folgendermaßen: 28 „Nimm dir noch einmal eine andere Schriftrolle und schreibe darauf alle früheren Worte, die auf der ersten Schriftrolle waren, die Jojakim der König von Juda verbrannt hat. 29 Und gegen Jojakim, den König von Juda sage: So spricht Jahwe: Du, der du diese Schriftrolle verbrannt hast, wobei du sagtest: Warum hast du darauf geschrieben: ‚Ganz gewiss kommt der König von Babel, verwüstet dieses Land und wird Mensch und Tier wegführen’? 30 Deshalb, so spricht Jahwe über Jojakim, den König von Juda: Niemand wird es für ihn geben, der auf dem Thron Davids sitzt, und seine Leiche wird ausgeliefert sein der Hitze des Tages und der Kälte der Nacht. 31 Und ich will an ihm, seinen Nachkommen und seinen Dienern ihre Sünde heimsuchen, das heißt, ich will über sie bringen und über die Bewohner Jerusalems und über die Männer Judas alles Übel, das ich ihnen angedroht habe, aber sie haben es nicht gehört.“ 32 So nahm Jeremia eine andere Schriftrolle und gab sie Baruch, dem Sohn Nerijahs, dem Schreiber, und der schrieb darauf nach dem Diktat Jeremias alle Worte des Buches, das Jojakim, der König von Juda, im Feuer verbrannt hatte, und noch mehr Worte wurden hinzugefügt – wie diese.

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Vgl. Schmidt, ATD 21 (s. Anm. 6), 193.

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ACHIM BEHRENS Es scheint paradox: Aber gerade das vergängliche Medium einer Schriftrolle (aus Pergament, Leder oder Papyrus)65 verleiht dem Wort Beständigkeit.66 Man kann die Texte vernichten, aber sie sind reproduzierbar.67 Sie werden überliefert, indem sie reproduziert werden. Dabei werden „noch mehr Worte hinzugefügt wie diese“ (V. 32). So lässt sich bereits hier der Prozess der Fortschreibung alttestamentlicher Prophetenworte greifen, der ganz in Gottes Sinne zu sein scheint.68 Das Wort erweist sich gerade dadurch als wirksam, dass es über den Moment seiner ersten Verkündigung hinaus Text wird und sich so überliefern und immer neu rezipieren lässt. Auch indem es im Zuge dieses Überlieferungsprozesses immer neu bedacht, immer neu rekontextualisiert und immer auch fortgeschrieben und ausgelegt wird, erweist es sich als lebendiges Wort. Gerade weil es zu einem scheinbar so flüchtigen Text wird, wirkt es immer wieder als „Feuer oder Hammer“, aber auch als „Weizen“, als Lebensmittel oder Pharmakon, das Freude und Jubel auslöst (Jer 15,16).

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Vgl. Wanke, ZBK.AT 20/2 (s. Anm. 50), 334; Fischer, Jeremia 26–52 (s. Anm. 53), 288. „Nur die Schriftlichkeit des Wortes garantiert seine Erhaltung […] So erhält das schriftliche Prophetenwort überzeitliche Gültigkeit und ist von verschiedenen Lesern an unterschiedlichen Orten und Zeiten in Israel und Gola rezipierbar; nur so bleibt es nicht mehr auf die kleine Gruppe der Hörer, wie sie Jer 36 schildert, beschränkt“ (Wahl, ZAW 110 [1998] [s. Anm. 48], 382f.). „Mit der Vernichtung der Rolle ist offenbar die Vorstellung zum Ausdruck gebracht, daß mit ihr auch ihr Inhalt außer Kraft gesetzt werden kann. Schriftlich fixiertes Wort ist ja wegen seiner Materialisierung ungleich wirksamer als gesprochenes Wort, sodaß je nach Lage der Dinge und Einstellung zu ihm an seiner Beseitigung bzw. Erhaltung verstärktes Interesse besteht. Das geschriebene Wort ist gleichsam auf Dauer gestelltes mündliches Wort und kann beliebig wiederholt und in seiner Wirkung überprüft werden“ (Wanke, ZBK.AT 20/2 [s. Anm. 50], 337). Vgl. Wanke, ZBK.AT 20/2 (s. Anm. 50), 337: Schmidt, ATD 21 (s. Anm. 6), 195; Fischer, Jeremia 26–52 (s. Anm. 53), 304.

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GOTTES WORT IST DER HAMMER!

4 Zusammenfassung und Ausblick Im Jeremiabuch wird über das Wort Gottes reflektiert. Dies geschieht auch und vor allem da, wo es um die Biographie des Jeremia aus Anathot zu gehen scheint. Diese Figur ist der Prototyp der Propheten, der an der scheinbaren Schwäche des einzigen Mittels leidet, das ihm für seine Aufgabe zur Verfügung steht: dem Wort Gottes, das er auszurichten hat. Es führt ihn in die Isolation und erzeugt bei seinem sozialen Umfeld Ablehnung. Jeremia stehen andere Propheten gegenüber, die leichtere Botschaft zu berichten haben und die auch im Namen Jahwes auftreten. Darunter auch solche, die den Offenbarungsvorgang scheinbar anschaulich mit „Ich habe geträumt, ich habe geträumt!“ in Worte fassen können. Bei alledem geht es nur vordergründig im die Person Jeremias. Er verkörpert vielmehr bereits Erfahrungen, die die Propheten Israels und Judas seit dem 8. Jh. gemacht haben, insbesondere dort, wo sie Gottes Gericht anzusagen hatten. In der Person Jeremias verdichtet sich ein Nachdenken über das Wort Gottes, seine Herkunft, sein Wesen und seine Rezeption, das bereits länger währte. Das macht insgesamt auch die bleibende Attraktivität dieses alttestamentlichen Buches aus: Es bringt Erfahrungen mit Gottes Wort zur Sprache, die diejenigen, die an den Gott der Bibel glauben, bis heute umtreiben. Der scheinbaren Schwäche des bloßen Wortes, die das „verbo solo“ als Zumutung, ja vielleicht sogar als defizitär erscheinen lässt, wird die Kraft des Wortes als Feuer und Hammer, aber auch als Nahrung für die Seele entgegengehalten. Eine solche Kraft entfaltet dieses Wort, indem es den Verlauf der Geschichte als von Gott initiiert deutet und indem es Individuen immer wieder die Erfahrung von „Freude und Jubel“ machen lässt. Dabei liegt es in der Natur von „Worten“ und „Sprache“ überhaupt, dass es am Ende immer um ein Auslegungs- und Deutungsgeschehen geht.69 Wo das „Wort wie Feuer“ tatsächlich einen Weltenbrand entfachen soll, wo der „Hammer“ tatsächlich menschliches Leben zermalmt oder wo Menschen mit dem Wort als „Lebensmittel“ nicht ernährt, sondern lediglich 69

„Die Art der Vermittlung ist ja mit im Blick; das Gotteswort meint zugleich die – in geschichtlicher Situation durch Menschen an Menschen ergehende und in der Auseinandersetzung stehende – prophetische Verkündigung“ (Schmidt, ATD 21 [s. Anm. 6], 51).

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ACHIM BEHRENS abgespeist werden sollen, liegt ein Missbrauch vor. Das Leiden Jeremias an der Zumutung des „verbo solo“ ist auch heute noch ernst zu nehmen. Aber glaubende Menschen haben durch die Zeiten immer wieder auf die Kraft des Wortes vertraut und davon gelebt. Über den Ursprung dieser Kraft im Wort reflektiert das Jeremiabuch, indem es die Herkunft des Wortes bedenkt. Das Buch, das nach Auskunft seiner Überschrift in Jer 1,1 „Worte Jeremias“ enthält, versammelt „in, mit und unter“ diesen Prophetenworten Gottes Wort. Nur zaghaft wird angedeutet, dass Gott selbst Jeremia seine Worte in den Mund gelegt hat. Bildhaft wird der Prophet zitiert mit der Aussage, er habe Worte Gottes „gegessen“, die „sich gefunden“ hätten. Ohne dass irgendeine Inspirationstheorie oder gar -lehre vonnöten wäre, vermittelt das Buch so den Charakter der Worte Jeremias als Gotteswort. Hier liegt ein zentraler Ursprung für die Kategorie „Wort Gottes“, die besonders für die Christenheit und ihren Umgang mit der Bibel so fundamental ist.70 Dabei ist das Wort Gottes ohne die Worte Jeremias nicht zu haben. Zugleich löst sich die Bedeutung der Worte im Zuge der Überlieferung mehr und mehr von ihrem historischen Ursprungsort und der vermeintlichen Biographie eines Mannes aus dem jüdäischen Anathot im späten 7. Jh. v. Chr. Möglichkeitsbedingung hierfür ist die Schriftwerdung des prophetisch vermittelten Gotteswortes. Dies schildert das Jeremiabuch detailliert und komplex in der Erzählung von der Entstehung der Jeremiarolle in Jer 36. 71 Baruch schreibt, Jeremia diktiert, Gott hat geredet, Baruch liest vor, Micha hört die Worte und erzählt davon weiter, die Oberen Judas lassen sich von Baruch vorlesen und fürchten sich; sie nehmen die Schriftrolle dem Baruch ab, Jehudi liest das Buch dem König vor, dieser fürchtet sich nicht und verbrennt die Rolle; die Rolle wird erneut geschrieben und dabei fortgeschrieben … Hier wird nicht nur die fast schon profane Entstehung einer prophetischen Schriftrolle („mit Tinte in ein Buch geschrieben“, berichtet Baruch), sondern deren Rezeption, Überlieferung und Fortschreibung berichtet und reflektiert. 72 Damit ist die vermeintliche Schwäche des (jetzt geschriebenen) 70 71

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Vgl. Levin, ZThK 101 (2004) (s. Anm. 4), 278ff. „Der Gattung nach ist Jer 36 weder eine Biographie noch ein historischer Bericht, sondern eine theologische Erzählung“ (Wahl, ZAW 110 [1998] [s. Anm. 48], 374). Vgl. zusammenfassend Fischer, Jeremia 26–52 (s. Anm. 53), 305–307.

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GOTTES WORT IST DER HAMMER! Gotteswortes erneut auf dem Plan, zugleich aber liegt in diesen geschichtlichen und scheinbar ganz „weltlichen“ Prozessen die Lebendigkeit des Wortes Gottes.73 Die ablehnende Reaktion des Königs ruft ein neues Gerichtswort Gottes hervor. So wächst die Jeremiarolle, die mit anderen Texten schließlich zum Jeremiabuch wird. Insbesondere die komplizierte und in ihren Einzelheiten nicht mehr vollständig aufzuklärende Textgeschichte des Jeremiabuches scheint eine Art Fortsetzung der Prozesse darzustellen,74 die in Jer 36 beginnen. Das Jeremiabuch wird schließlich Teil des Corpus Propheticum der LXX oder der nebi’im der Hebräischen Bibel und in christlicher Perspektive Teil des Alten Testaments und schließlich mit dem Neuen Testament auch Teil der christlichen Bibel. Dabei entsteht ein Netz von Texten, die sich in intertextueller Verknüpfung gegenseitig interpretieren. So ließe sich die Vergänglichkeit der Jeremiarolle in Jer 36 auch als Illustration zu dem Satz „Das Wort ward Fleisch“ aus dem Johannesevangelium lesen. Dass dieses Wort zwar in äußerlich schwacher Gestalt daherkommt, aber dennoch kräftig und wirkungsvoll ist, bekennt das Neue Testament etwa im Hebräerbrief. Hebr 4 12 Lebendig nämlich ist das Wort Gottes und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und es dringt durch bis zur Trennung von Seele und Geist, von Gelenk und Mark, und ist ein Richter der Gedanken und Absichten des Herzens. Unter der Überschrift „verbo solo + fide sola“ bleibt es eine lebenslange Herausforderung, sich diesem Urteil auszusetzen im Vertrauen darauf, dass Gottes Urteil getragen ist von seiner Gnade, und es bleibt – zumal für Theologinnen und Theologen – ein lebenslanger Lernprozess, in Glaubensfragen nicht immer den Hammer selbst schwingen zu müssen, sondern Gottes Wort als Lebensmittel zu nehmen und davon „Herzens Freude und Trost“ (Jer 15,16 Luther 2017) zu erwarten. 73

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„Dementsprechend ist das theologische Leitmotiv von Jer 36 die wiederholte Verkündigung des letztlich unzerstörbaren göttlichen Willens“ (Wahl, ZAW 110 [1998] [s. Anm. 48], 368). Vgl. Backhaus/Meyer, Buch (s. Anm. 3), 554–559.

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Gal 3,26–28 als fundamental ekklesiologischer Text im Dialog mit anderen neutestamentlichen Texten und seine Rezeptionen Heidrun Mader Der Galaterbrief ist für christliches Leben, das sich aus der Rechtfertigung heraus versteht, ein wichtiger Bezugstext. Paulus hat die Rechtfertigung durch den Glauben an Christus, die uns ein rechtes Verhältnis mit Gott eröffnet, in diesem Brief zentral herausgestellt. 1 Der Apostel hat sie in harter Auseinandersetzung mit christusgläubigen Gemeindegliedern paganen Hintergrunds in Galatien formuliert. In diesen Kontext der Auseinandersetzung hinein stellt Paulus in Gal 3,26– 28, in die Mitte seines Briefes, einen Tauftext, in welchem es um Gleichheit in Christus geht, um Gleichheit von jüdischen und paganen, von versklavten und freien, von männlichen und weiblichen Menschen. Dieser Gleichheitsgrundsatz ist fest in der Auseinandersetzung des Galaterbriefes verankert und stellt nach vielen Abgrenzungsformulierungen2 positiv das ekklesiologische Bild dar, das in 1

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Martin Luther fasst in seiner Vorlesung zum Galaterbrief vorab den Grundgedanken der Epistel zusammen, indem er auf „Christi Gerechtigkeit“ den Fokus richtet. Siehe Hermann Kleinknecht, Dr. Martin Luthers Epistelauslegung, 4. Bd., Der Galaterbrief, Göttingen ²1987, 20–28. Besonders in Kapitel 3 beklagt Paulus an den galatischen Gemeindegliedern die theologischen Missstände direkt und schreibt sie ihnen zu (Gal 3,1–5.10). Auch hatte er ihnen bereits zur Eröffnung seines Briefes Abwendung vom Evangelium vorgeworfen

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GAL 3,26–28 ALS FUNDAMENTAL EKKLESIOLOGISCHER TEXT Christus gilt. Paulus greift mit seinem ekklesiologischen Bild den chronologischen und kausalen Anfangspunkt gemeindlichen Lebens auf, die Taufe, Eingangsritual in die Gemeinde. Dieser Beitrag möchte Gal 3,26–28 im Kontext des Galaterbriefes verstehen. Welche Bedeutung übernehmen diese Verse in ekklesiologischer Hinsicht? In einem weiteren Schritt wird gezeigt, wie dieses ekklesiologische Bild in den Gemeinden paulinischer Zeit umgesetzt wurde. Von dort aus wird in einem dritten Schritt überlegt, wie dieser Grundsatz schrifttheologisch für die Ekklesiologie der Kirche Jesu Christi zu gewichten ist und was er für sie bedeuten kann.

1 Die ekklesiologische Bedeutung von Gal 3,26–28 im Briefkontext Paulus schreibt den Brief an die galatischen Gemeinden, die er selbst gegründet hat, aus aktuellem, für ihn sehr dringlichem Anlass. In der Zeit seiner Abwesenheit haben einflussreiche Christusgläubige die Gemeinden in Galatien paganen Hintergrunds davon überzeugt, dass sie sich der Proselytenbeschneidung unterziehen sollten, um vollgültige Glieder der Gemeinde zu werden. Explizit bringt er das in folgenden Briefpassagen zum Ausdruck: Gal 3,3; 5,2–6.11–13; 6,12–13. Mithilfe der Hagar-Sara-Allegorie warnt er in Gal 4,21–31 davor.3 Paulus hält gnadentheologisch dagegen: Wäre Proselytismus für pagane Menschen Bedingung, vollgültiges Gemeindeglied zu werden, wäre Christus umsonst gestorben, so Paulus in Gal 2,21. Denn

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(Gal 1,6). Kritik am Verlauf der gestörten Tischgemeinschaft in Antiochia äußert Paulus, da er diese analog zur Situation in Galatien sieht (Gal 2,11–14). Siehe Heidrun Mader, Circumcised Hagar, the Slave, and Uncircumcised Sarah, the Free Woman. Feminizing the Circumcision Scenario of the Galatian Congregations, in: Korinna Zamfir/Uta Poplutz (ed.), New Testament Epistles, The Bible and Women: An Encyclopaedia of Exegesis and Cultural History 2.2, Atlanta: SBL 2022 (im Druck, 12 Seiten).

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HEIDRUN MADER bestünde die Mehrheit der Gemeinde aus ProselytInnen, die durch ἔργα νόμου4 – bei männlichen Gemeindegliedern in erster Linie durch die Beschneidung – Teil der Gemeinde würden, hätte dies zur Folge, dass nicht mehr die Gnade Gottes, die Gott jüdischen Menschen durch ihre Geburt und allen Menschen in Christi Kreuzestod und Auferweckung zuteilwerden lässt, an erster Stelle steht, sondern ein Gesetzeswerk. Damit würde für die pagane Gemeindemehrheit die theologische Reihenfolge des Bundesnomismus5 vertauscht, nach der Gott zuerst gna4

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Die Wendung ἔργα νόμου ist im Griechischen bisher nur bei Paulus belegt. Eine analoge Formulierung in hebräischer Sprache findet sich nur in 4QMMT (Zeile C27) ‫התורה מעשי‬. Vgl. Michael Bachmann, Was für Praktiken? Zur jüngsten Diskussion um die ἔργα νόμου, NTS 55 (1), 2009, 35–53, hier: 43, der auch eine gute Übersicht über die jüngere Forschungsdiskussion zu den ἔργα νόμου bietet (35–39). Paulus verwendet das Syntagma acht Mal, in den Clustern von Gal 2–3 und Röm 3, jeweils im Kontext der strittigen Beschneidung paganer Christusgläubiger (Gal 2,3; Röm 3,30). Bachmanns Lesart der ἔργα νόμου als Halakhot im Lichte der Parallele von 4QMMT ist zuzustimmen. Die Qumranparallele macht deutlich, dass mit dem Begriff auf die präskriptive Ebene über den Praktiken abgehoben wird. Siehe Bachmann, Praktiken, 50–51. Ich spitze das Verständnis der ἔργα νόμου über die breite exegetische Diskussion hinaus auf die Dynamik zu, die der Proselytismus innerhalb des Bundesnomismus auslöst: Siehe Heidrun Mader, Proselytismus als Mehrheitsphänomen in den galatischen Gemeinden als Kontext für Paulus’ Kritik an des Gesetzes Werken, in: Ute E. Eisen/Heidrun Mader (Hg.), Talking God in Society. Multidisciplinary (Re)constructions of Ancient (Con)texts, Festschrift Peter Lampe, Bd. 1., NTOA 120/1, Göttingen 2020, 557–573. Wenn Proselytismus, ein Minderheitsphänomen im Judentum, in christlichen Gemeinden plötzlich zum Mehrheitsphänomen würde (wie die Opposition in Galatien es wollte), geriete das gnadenreiche „Getting-in“ in den Bund mit Gott, wie es im jüdischen Bundesnomismus gedacht wird, ernsthaft in Gefahr. Siehe auch Heidrun Mader, Narratives Gestalten paulinischer Theologoumena? Paulus und Markus im Vergleich, ZNT 47 (2021), 41–58. Die „New Perspective“ hat richtig herausgestellt, dass das Judentum eine Gnadenreligion ist – gegenüber der traditionellen, von der Reformation geprägten Sicht vom Judentum als Religion der „Werkgerechtigkeit“. Siehe grundlegend Edward P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London 1977, 75, 420–422, 544 (auf Anfragen an den von Sanders geprägten Begriff des covenantal nomism geht Sanders selbst in einem jüngeren Beitrag ausführlich ein, Edward P. Sanders, Covenantal Nomism Revisited, in: Edward P. Sanders, Compa-

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GAL 3,26–28 ALS FUNDAMENTAL EKKLESIOLOGISCHER TEXT denreich und souverän erwählt und der Mensch dann auf diese Erwählung mit Toraobservanz antwortet – nicht die Gnade aber durch Toraobservanz herbeiführt.6 Aus diesem Grund lehnt Paulus jede Form von ἔργα νόμου ab, die paganen Menschen jüdische Regelungen nahelegen. Neben der Beschneidung gilt dies vor allem für die Speisegebote (Gal 2 und Röm 14). Paulus hält damit grundlegend fest, dass pagane Christusgläubige erwählungstheologisch nicht als minderwertig zu betrachten sind. Gottes Gnade wendet sich in gleichem Maße allen scheinbar Heillosen zu. Dass Gott das scheinbar Heillose zum Heil gemacht hat, erweist sich an Christus dem Gekreuzigten (Skandalon in Gal 5,11), in welchem Sünde und Tod für alle Menschen besiegt sind.7 Auch der Tauftext von Gal 3,26–28 ist vor dem Hintergrund des drohenden Mehrheitsproselytismus zu verstehen. Die unterschiedlichen Kategorien in Gal 3,28, die als in der Taufe gleichwertig betont werden, – jüdisch/pagan, versklavt/frei, männlich/weiblich – lassen alle drei sich auf die galatische Problematik der Einbeziehung paganer Menschen in das Heil durch Proselytismus beziehen: (1) Die Proselytenbeschneidung markiert den Erwählungsunterschied zwischen jüdischen und paganen Menschen, da jüdische Männer bereits als Säuglinge am achten Tage beschnitten wurden. Die Beschneidung am achten Tage

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ring Judaism and Christianity. Common Judaism, Paul and the Inner and Outer in the Study of Religion, Minneapolis 2016, 51–83); James D.G. Dunn, The New Perspective on Paul, Tübingen 2005, 167–170; ders., The Theology of Paul, the Apostle, Grand Rapids, Michigan 1998, 152–153. John Barclay, Paul and the Gift, Grand Rapids, Michigan 2015, 565, stellt in neuerer Zeit zurecht die Beobachtungen zur Gnadenreligion noch deutlicher heraus und differenziert nochmals: „[…] grace is everywhere in the theology of Second Temple Judaism, but not everywhere the same. On the critical question of the congruity of grace, we have found not unanimity, but diversity.” Durch die Proselytismusforderung der jüdischen Christusgläubigen würden sich die Verhältnisse von Proselytenanteil zu Gemeinde umkehren, da der Proselytismus im Judentum ein deutliches Minderheitenphänomen innerhalb jüdischer Gemeinden darstellte und sich damit theologisch nicht auswirkte. Siehe genauer in Mader, Proselytismus (s. Anm. 4), 557–562. Siehe dazu Mader, Proselytismus (s. Anm. 4), 570–571.

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HEIDRUN MADER lässt sich als Teil der Toraobservanz verstehen, die auf die gnadenreiche Erwählung durch die Geburt in Israel antwortet, und zählt damit zum „staying in“ der erwählten Gruppe. Die Proselytenbeschneidung hingegen fungiert als Getting-inRitual, um als Proselyt in die Heilsgemeinschaft Israels mitaufgenommen zu werden, da dies ja nicht qua Geburt erfolgte. Die Taufe in die christusgläubige Gemeinde hinein hingegen galt jüdischen und paganen Christusgläubigen unterschiedlos.8 (2) Metaphorisch „versklavte“ oder „freie“ Menschen werden in Paulus’ Rhetorik des Briefes immer wieder bemüht, um vor der Proselytisierung zu warnen, mit der man Sklave des Gesetzes werde, statt als Freier nach der Gnade Gottes gerettet zu werden (Gal 2,10; 2,24–26; 4,1–7; 4,21–31). Die Warnung auf der metaphorischen Ebene, sich mit der Proselytisierung in die Sklaverei zu begeben, wirkt umso kräftiger, wenn man bedenkt, dass viele in der angesprochenen Gemeinde tatsächlich Sklaven und Sklavinnen gewesen sein werden. (3) Schließlich betrifft die Proselytenbeschneidung nur männliche, nicht aber weibliche Mitglieder der Gemeinde. Dies trifft zwar auch auf die Säuglingsbeschneidung zu, da jüdisch geborene Mädchen nicht beschnitten werden. Doch liegt der Unterschied darin, dass weibliche wie männliche jüdische Säuglinge bereits durch ihre Geburt ins Heil hinein erwählt werden, während pagane Frauen, die Christus nachfolgen wollen, von der Beschneidung, die der Paulus-Opposition für die christliche Initiation unabdingbar wichtig erscheint, ausgeschlossen sind.9 Gen 17,10, Leitvers

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Damit soll nicht dem triumphalistischen Gegensatz von jüdischer Beschneidung und Taufe das Wort geredet werden. Paulus wendet sich nicht gegen die jüdische Beschneidung am achten Tage, sondern gegen die Proselytenbeschneidung, da sie – wenn sie für die Mehrheit der Gemeinde durchgeführt wird – das Verhältnis von Gnade und Gesetz auf den Kopf stellt. Die judenchristlichen Paulusgegner in Galatien haben paganen Frauen wohl kein der Beschneidung analoges Ritual angeboten. Jedenfalls warnt Paulus nicht analog zur Beschneidung der Männer die Frauen vor einem besonderen Ritual. Die Quellen über den Proselytismus im Judentum vor der Mischna nennen kein eigenständiges Ritual für die Frau außer der Heirat mit einem jüdischen Mann. Shaye Cohen, The Beginnings of Jewishness. Boundaries, Varieties, Uncertainties, Berkeley/London 1999, 169, schlussfolgert nach gründlicher Sichtung der Quellen: „There was no ritual, then, that could serve as a sign for women the way that circumcision could serve as a sign for men.“ Erst die Mischna bringt für die Zeit ab dem 2. Jh. n. Chr. Licht ins

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GAL 3,26–28 ALS FUNDAMENTAL EKKLESIOLOGISCHER TEXT der Beschneidung Abrahams, auf den sich die judenchristlichen Lehrenden in Galatien beziehen, bezeichnet das Männliche, das beschnitten werden soll, adjektivisch mit ἀρσενικός, wie auch ἄρσεν in Gal 3,28 adjektivisch formuliert ist. Getauft hingegen werden männliche und weibliche Gemeindeglieder gleichermaßen, so dass die Taufe als Getting-in-Ritual nicht nur soteriologisch, sondern auch ekklesiologisch Gleichwertigkeit widerspiegelt – im Gegensatz zur Proselytenbeschneidung. Der Bezug von Gal 3,26–28 auf den Kontext der galatischen Proselytenbeschneidung verdeutlicht, dass Paulus die Auswirkung der Gleichwertigkeit durch die Taufe konkret gemeindepraktisch denkt und sie als positives ekklesiologisches Bild dem Mehrheitsproselytismus entgegensetzt. Paulus verhandelt nicht nur eschatologische Wirklichkeiten,10 sondern es geht ihm konkret um die Gestaltung

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Dunkel über die Frage, ob Frauen eigenständig zu Proselytinnen werden konnten. Traktat Yevamot 47a–b des babylonischen Talmud, der diesen Abschnitt ins 2. oder ins frühe 3. Jh. n. Chr. in Palästina ansiedelt, regelt die rituelle Abfolge der Konversion zum Judentum für Männer und Frauen. Für Frauen ist das Tauchbad als Konversionsritual vorgesehen. Während sie bis zum Hals im Wasser sitzen, werden sie von zwei Gelehrten über leichte und strenge Gebote instruiert. Zwar nehmen das Bad auch die Männer nach der Verheilung der Beschneidung – und sind laut Yevamot erst nach dem Bad vollgültig jüdisch –, doch macht diese Ritualregelung klar, dass Frauen zu dieser Zeit eigenständig konvertieren können. Auch wenn diese Regelung der früheste konkrete Hinweis auf ein Tauchbad als Konversionsritual für Frauen und Männer ist, ist es freilich möglich, dass es bereits vorher praktiziert wurde, zumal das Tauchbad zur Reinigung vielfältig eingesetzt wurde. So rapportiert MishnaPesahim 8.8, dass die Schulhäuser von Hillel und Shammai sich darin einig waren, dass ein Tauchbad zur Konversion gehörte; sie stritten lediglich darüber, wie genau vorgegangen werden müsse, wenn die Konversion auf den Abend des Pessach fällt. Auf diese Weise wäre eine Datierung der Tradition auch ins 1. Jh. n. Chr. möglich. Dennoch, dass das Tauchbad zu dieser Zeit bereits ein festes Konversionsritual speziell auch für Frauen war, bleibt unbezeugt. Siehe dazu näher Mader, Mehrheitsproselytismus (s. Anm. 4), 567–569. Siehe dazu auch die Argumentation Helmut Merkleins, Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie. Zur kurzen Geschichte der aktiven Beteiligung von Frauen in paulinischen Gemeinden, in: Martin Evang/Helmut Merklein/Michael Wolter (Hg.), Eschatologie und Schöpfung. Festschrift für Erich Gräßer zum siebzigsten Geburtstag, Berlin/New York 1997, 231–260, hier 244–245. Über das eschatologische

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HEIDRUN MADER des Gemeindelebens, das mit der Taufe als Getting-in-Ritual beginnt. Die Taufe legt damit den Grund für Gleichwertigkeiten in der Gemeindepraxis – etwa zentral bei der Tischgemeinschaft, die Paulus in Gal 2,11–14 leidenschaftlich verfechtet: Jüdische Gemeindeglieder sollen Gemeindeglieder paganen Hintergrunds nicht zur spezifisch jüdischen Lebensart drängen (Gal 2,14), da Christusgläubige – mit paganem Hintergrund und somit unbeschnitten – Beschnittenen erwählungstheologisch nicht nachstehen (Gal 5,6).

2 Argumentation für die ekklesiologische Gleichwertigkeit der dritten Kategorie männlich/weiblich Vielfach wurde beobachtet, dass in der Dreierliste der Kategorien jüdisch/pagan, versklavt/frei, männlich/weiblich die erste Kategorie die Intention des Briefes voll aufnehme, während die beiden weiteren Kategorien über das Ziel hinausgingen. Aus diesem Grunde wurden sie als traditionell befunden. Damit sei gleichzeitig begründet, warum die Kategorie männlich/weiblich in Parallelstellen (1 Kor 12,13 und Kol 3,11) fehle.11 In Anbetracht des oben aufgezeigten Kontextes meine ich dagegen, dass die Kategorie männlich/weiblich von Paulus aufgrund des drohenden Mehrheitsproselytismus bewusst gesetzt wurde (ob traditionell oder redaktionell spielt für unsere Argumentation keine Rolle). Dazu passt, dass das Proselytenbeschneidungsszenario weder in der korinthischen noch in der kolossischen Gemeinde drohte, so dass es in diesen Gemeindebriefen keinen akuten Anlass gab, die Genderkategorie in die Gleichwertigkeitsparänese einzubeziehen. Im Kontext der galatischen Gemeindesituation, in der die Gleichwertigkeit auch der

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Szenario für jüdische und pagane Gläubige denkt Paulus explizit im Römerbrief nach (Röm 11). Vgl. z. B. Merklein, Spannungsfeld (s. Anm. 10), 232–233. Es lässt sich freilich auch umgekehrt argumentieren, dass diese Parallelstellen dafür sprechen, dass „männlich/weiblich“ nicht zu einer Tradition gehört, sondern von Paulus redaktionell formuliert wurde, weil es ihm im Kontext von Gal 3 wichtig war.

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GAL 3,26–28 ALS FUNDAMENTAL EKKLESIOLOGISCHER TEXT Geschlechter durch die Proselytenbeschneidung drohte ins Ungleichgewicht zu geraten, musste Paulus diese als erwählungstheologisch und ekklesiologisch gleichwertig festhalten. Dass Paulus von der Gleichwertigkeit männlicher und weiblicher Gemeindeglieder nicht nur erwählungstheologisch, sondern in dieser Konsequenz auch ekklesiologisch ausging, zeigt sich deutlich in Röm 16 in der Grußliste:12 In Röm 16,7 lässt Paulus Junia und Andronikus grüßen. Seine Grußformulierung demonstriert in selbstverständlicher Weise, dass Frauen zu den ἀπόστολοι zählten: Junia 13 und (ihr Mann?) Andronikus bezeichnet er als „herausragend aus den Aposteln“. Gemeinsam mit ihm war sie als Apostelin besonders engagiert und riskierte selbst Gefängnishaft für ihren Dienst. Nach paulinischem Verständnis sind ἀπόστολοι bei Paulus neben den Zwölfen alle, die eine Ostervision empfingen und sich dadurch zur Evangeliumsverkündigung berufen fühlten.14

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Folgende Ausführungen siehe auch in Heidrun Mader, Frau in Amt und Autorität im Christentum. Zwischen theologischer Legitimation und ihrer Infragestellung, in: Christian Ströbele/Amir Dziri/Anja Middelbeck-Varwick/Armina Omerika (Hg.), Theologie – gendergerecht? Perspektiven für Islam und Christentum, Theologisches Forum Christentum – Islam, Regensburg 2021, 191–203. Seit dem Mittelalter wurde aus dem gut bezeugten antiken Frauennamen Junia ein männlicher, in der Antike nicht existenter Name Junias konstruiert, der sich im Folgenden in den Bibelübersetzungen durchsetzte. Peter Arzt-Grabner, Junia, die rehabilitierte Apostelin. Aus der Werkstatt der Exegeten. Ein textkritischer Beitrag, BiKi 4/10, 243–245, zeigt den textkritischen Verwandlungsprozess detailliert auf. Junia wurde erstmalig im 13. Jh. zu Junias verändert. Noch im 10. Jh. wurde Ἰουνίαν akzentuiert (und nicht Ἰουνιᾶν), so dass hier eindeutig der Akkusativ in femininer Form vorlag. Vgl. auch z. B. David Shaw, Is Junia Also among the Apostles? Romans 16:7 and Recent Debates, Churchman 127/2, 2013, 105–118, hier 108–111. Paulus wendet den Apostelbegriff (im Unterschied zu dem in der Apostelgeschichte verwendeten Begriff, der sich auf die Zwölf bezieht) auf solche Mitarbeitenden Christi an, die den Herrn gesehen haben (1 Kor 9,1; 1 Kor 15,7) und sich dadurch zur Mission berufen fühlten (z. B. Gal 1,11–12.16). Sich selbst zählt er aufgrund seiner Christusvision vor Damaskus auch zu dieser Gruppe (1 Kor 15,8–10). Vgl. Heidrun Mader, Vision. Neues Testament, WiBiLex 2021: http://www.bibelwissenschaft. de/stichwort/55971/.

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HEIDRUN MADER Junias Apostolat hängt an der Übersetzung der griechischen Wendung ἐπίσημος ἐν τοῖς ἀποστόλοις. Sie kann grammatisch als „berühmt bei den Aposteln“ oder „hervorragend unter/herausragend aus den Aposteln“ begriffen werden. Die zweite Möglichkeit, die Junia als Teil der Apostelgruppe begreift, ist die philologisch richtige, da sie dem griechischen Sprachgebrauch entspricht. Eine Suche im „Thesaurus Linguae Graecae“ (TLG) generiert insgesamt über acht Belege der Kombination ἐπίσημος ἐν mit Dativ, die mit „hervorragend unter/herausragend aus“ zu übersetzen sind. Das sind mehr, als Shaw15 aufführt.16 „Hervorragend aus/berühmt unter“ schließt die Personen oder Gegenstände, die hervorragen, in die mit ἐν eingeleiteten Dativ(pro)nomina ein (Inklusion). Nur ein einziges Beispiel der Exklusion lässt sich finden (s. u. Euripides). Pausanias „Graeciae descriptio“ 1.17.1.2 (οὐκ ἐς ἅπαντας ἐπίσημα) hingegen drückt Exklusion mit εἰς und nicht mit ἐν aus: „nicht für alle/bei allen hervorragend/berühmt“. In folgenden Belegen findet sich Inklusion: (a) Nach Ptolemaeus „Geographia“ 3.17.9.1 ( Ὄρη δέ ἐστιν ἐπίσημα ἐν τῇ Κρήτῃ) stellen die Berge in Kreta ein herausragendes Merkmal dar: Sie sind „herausragend in/aus Kreta“ und damit Teil der Insel. (b) Strabo 2.3.4.45–47 (πλοῖα, τοὺς δὲ πένητας μικρά, ἃ καλεῖν ἵππους ἀπὸ τῶν ἐν ταῖς πρῴραις ἐπισήμων) beschreibt kleine Schiffe, die „Pferde“ genannt werden „wegen der an/aus den Bugspitzen hervorragenden [Pferdefiguren]“, welche als Gallionsfiguren zu den Bugspitzen dazugehören. (c) Josephus „Bell.“ 2.418.5 nennt Gesandte, „unter denen hervorragend waren Saulus und Antipas und Kostobar“ (ἐν οἷς ἦσαν ἐπίσημοι Σαῦλός τε καὶ Ἀντίπας καὶ Κοστόβαρος).

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Shaw, Junia (s. Anm. 13), 111–118, stellt die Diskussion zu der Frage: „Are Andronicus and Junia ‘well-known to the apostles’ (ESV, known as the exclusive view) or ‘outstanding among the apostles’ (NIV, the inclusive view)?“ dar und argumentiert wie dieser Beitrag für das inklusive Verständnis. Für ein exklusives Verständnis haben vor allem Michael H. Burer/Daniel B. Wallace, Was Junia Really an Apostle? A Reexamination of Rom 16:7, in: NTS 47 (2001), 76–91, argumentiert, deren philologische Begründung nicht überzeugen kann (so auch Shaw, Junia [s. Anm. 13], 111– 118). Freundlicher Hinweis von Prof. Peter Lampe, Heidelberg.

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GAL 3,26–28 ALS FUNDAMENTAL EKKLESIOLOGISCHER TEXT (d) Lukian „De mercede“ 28.5 (ἐπίσημος ἔσῃ ἐν τοῖς ἐπαινοῦσι) rät einem Sklaven, beim Loben hervorragend unter seinesgleichen zu sein („herausragend unter den Lobenden“). (e) In LXX Esther 8,12u (ὑμεῖς ὀῦν ἐν ταῖς ἐπωνύμοις ὑμῶν ἑορταῖς ἐπίσημον ἡμέραν μετὰ πάσης εὐωχίας ἄγετε) befiehlt Artaxerxes seinen Statthaltern, am 13. Tag des Monats Adar „einen unter euren benannten Festtagen hervorgehobenen Tag“ zur Erinnerung an der Juden Rettung zu begehen. Dieser Festtag soll natürlich nicht „bei“ den anderen Festtagen, sondern „im Kreise“ (ἐν) dieser berühmt sein. (f) Lukian „Hermonides“ 1.17 (ἡ δόξα ἡ παρὰ τῶν πολλῶν καὶ τὸ ἐπίσημον εἶναι ἐν πλήθεσι καὶ δείκνυσθαι τῷ δακτύλῳ) mokiert sich über einen noch unbedeutenden Flötenschüler Harmonides aus der Zeit Alexanders des Großen, der mit seiner Flöte „berühmt in der Menge“ werden möchte, zu der er selbst als noch unbeschriebenes Blatt – und als Musiker sowieso17 – gehört. (g) Lukian „Dialogi meretricii“ 1.2.6 (τράχηλος λεπτὸς καὶ ἐπίσημοι ἐν αὐτῷ αἱ φλέβες) beschreibt eine Prostituierte: „dünner Hals und die Venen an ihm hervortretend“. Auch hier gehören die Venen natürlich zum Hals! (h) Philo „De fuga et inventione“ 10.5 (ἐπίσημον δὲ πάλιν καὶ ποικίλον ἐν μὲν τοῖς ὅλοις τὸ εἶδος) nennt die „äußere Gestalt“ „herausragend (= einen Unterschied machend) und vielfarbig/verschiedenartig im Universum“, was Inklusion impliziert. Exklusion von den mit ἐν Bezeichneten findet sich lediglich bei (i) Euripides „Hipp.“ 103 (σεμνή γε μέντοι κἀπίσημος ἐν βροτοῖς), wo Aphrodite „berühmt bei den Sterblichen“ ist, zu denen sie nicht selbst gehört. (j) Euripides „Hecuba“ 379 (δεινὸς χαρακτὴρ κἀπίσημος ἐν βροτοῖς ἐσθλῶν γενέσθαι) dagegen preist Herkunft von Guten/Edlen als „starkes und unter den Sterblichen hervorragendes Merkmal“, womit wieder Inklusion festgehalten ist: Unter sterblichen Menschen sticht eine Person edler Herkunft hervor.18 17

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Vgl. nur z. B. den unfreien Flötenspieler und Sklavenaufstand-Führer Salvius, Diod. Sic., „Bibl. Hist.“ 36.4.4 ff. Obwohl die Wortstellung eher dagegen spricht, ließe sich hier auch ein anderer, attributiver Bezug von ἐν βροτοῖς auf χαρακτήρ herstellen: Edle Herkunft ist eine „starke und hervorragende Prägung in Sterblichen“. Damit wäre die Stelle als Parallele zu

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HEIDRUN MADER Neben Junia als Apostelin liefert Röm 16 eine Reihe weiterer Namen von in der Gemeinde engagierten Frauen, die sich in ihren Aktivitäten nicht von Beschreibungen männlicher Gemeindeaktivitäten unterscheiden: Phöbe bezeichnet er als bevollmächtigte Abgesandte 19 der Gemeinde von Kenchrea 20 , als Patronin 21 (Röm 16,1–2). Priska leitet gemeinsam mit ihrem Mann Aquila eine Gemeinde in ihrem Haus, sie ist Verkünderin des Evangeliums unter den paganen Menschen und Lehrerin, da sie gemeinsam mit Aquila Apollos unterrichtet (Apg 18,1–3.18– 19.24–26; Röm 16,3–5). In der Regel wird sie im Neuen Testament vor ihrem Mann genannt (Apg 18,18.26; Röm 16,3; 2 Tim 4,19), was für antike Ohren ungewöhnlich war und auf ihre Aquila in den Schatten stellende Bedeutung für die Gemeindearbeit schließen lässt.22 Mit dem Verb κοπιάω bezeichnet Paulus Ma-

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Röm 16,7 ausgefallen. (k) In Diodorus Sic., „Bibl. Hist“ 37.2.4.3 (ἕτεραι πόλεις καὶ ἔθνη ἐν οἷς ἐπισημοτάτη καὶ μεγίστη καὶ κοινὴ πόλις ἄρτι συντετελεσμένη τοῖς Ἰταλιώταις τὸ Κορφίνιον ἦν) bezieht sich ἐν οἷς eher auf das Prädikat als auf ἐπισημοτάτη, so dass wahrscheinlich nicht mit „als unter ihnen hervorragendster … Stadt“ zu übersetzen ist. (l) Kaum in Frage als Parallele zu Röm 16,7 kommt auch Ps.Sal. 2,6: Nach der Eroberung Jerusalems durch Pompeius sind die versklavten „Söhne und Töchter in übler Gefangenschaft, ihr Genick mit einem Siegel, mit einem (Brand-)Mal unter den Völkern“ (ἐν ἐπισήμῳ ἐν τοῖς ἔθνεσιν). Alternativ, aber weniger wahrscheinlich läge eine Ellipse vor: „an einem unter den Völkern prominenten [Ort]“. Der im Gebiet der Völker herausgehobene Ort wäre dann am ehesten Rom, wohin durch Pompeius Versklavte verbracht wurden. Übersetzung von διάκονος nach Annette Merz, Phöbe von Kenchrea. Kollegin und Patronin des Paulus, BiKi 65 (2010), 228–232, hier: 230–232. Kenchrea war der am sardonischen Golf gelegene Hafen von Korinth. Er diente als Durchgangsstation für alle Reisenden, die per Schiff aus oder nach Kleinasien, Syrien und Palästina an- bzw. abreisten. Siehe a. a. O., 230. Paulus benutzt den Terminus Technicus für den antiken Patron: προστάτις. Vgl. Hans-Josef Klauck, Die Hausgemeinde als Lebensform im Urchristentum, MThZ 32, 1981/1, 1–15; Christoph Gregor Müller, Priska und Aquila. Der Weg eines Ehepaares und die paulinische Mission, MThZ 54, 2003/3, 195–210. Zu Prisca und Aquila ferner Peter Lampe, From Paul to Valentinus. Christians at Rome in the First Two Centuries, übersetzt von M. Steinhauser, Marshall D. Johnson (Hg.), London 2003, 187–195. Harnack schlägt 1900 vor, den Hebräerbrief dem Ehepaar Prisca und Aquila zuzuschreiben. Dabei ordnet er Prisca die wahrscheinlichere Autorenschaft

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GAL 3,26–28 ALS FUNDAMENTAL EKKLESIOLOGISCHER TEXT rias Engagement (Röm 16,6) sowie das von Tryphaena, Tryphosa und Persis in Röm 16,12 – alles nur Frauen: κοπιάω ist Terminus Technicus für die Verkündigungsarbeit; mit dem Verb bezeichnet Paulus auch seine eigene Verkündigungsarbeit als Apostel.23 Auch in der korinthischen Gemeinde waren Frauen selbstverständlich im Gemeindegottesdienst gleichwertig mit Männern aktiv wie 1 Kor 11,5 zeigt. Paulus macht sich hier nicht Gedanken über ihre gleichwertige Gottesdienstaktivität, hier das Prophezeien als Verkündigungsfunktion, die in 11,5 als selbstverständlich von Paulus vorausgesetzt wird, sondern über ihre Frisur oder Kopfbedeckung. Seine vielfältigen Argumente, hergeleitet aus der Schöpfungsordnung (1 Kor 11,7–9), der Angelologie (1 Kor 11,10), der Sitte (1 Kor 11,13) und der „Natur“ (1 Kor 11,14–15), zielen nicht auf eine Privilegierung der männlichen vor den weiblichen Gemeindegliedern innerhalb gottesdienstlicher Aktivität (1 Kor 11,11–12), sondern lediglich auf die Haartracht von Frauen im Gottesdienst.24 Letzteres Problem ist letztlich – wie der Apostel zum Schluss seiner mühsamen Argumentationsgänge einräumt – eine Frage der kulturellen Sitte (1 Kor 11,16).25 Dass das Schweigegebot in 1 Kor 14,33b–36 der Aussage in 1 Kor 11,5 widerspricht, seinen unmittelbaren Kontext unterbricht – V. 37 schließt nahtlos an V. 33a an – und auch aus anderen gewichtigen Gründen eine nachpaulinische Glosse sein muss, wurde bereits vielfach und solide argumentiert.26

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zu. Adolf Harnack, Probabilia über die Adresse und den Verfasser des Hebräerbriefs, ZNW 1 (1900), 16–41; hier 40–41. Gal 4,11; 1 Kor 15,10. Siehe Lampe, From Paul to Valentinus (s. Anm. 22), 165–166. Siehe z. B. Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther, EKK 7/2, Solothurn u. a. 1995, 487–525. Siehe auch Martina Böhm, 1 Kor 11,2–16: Beobachtungen zur paulinischen Schriftrezeption und Schriftargumentation im 1. Korintherbrief, ZNW 97 (2) (2006), 207–234. Vgl. z. B. Peter Lampe, Paulus und die erotischen Reize der Korintherinnen (1 Kor 11,2–16), in: Reiner Knieling/Andreas Ruffing/Walter Bühlmann (Hg.), Männerspezifische Bibelauslegung. Impulse für Forschung und Praxis, Biblisch-theologische Schwerpunkte 36, Göttingen 2012, 196–207 (http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/25278; http:// doi.org/10.11588/heidok.00025278). Siehe z. B. stichhaltig bei Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther, EKK 7/3, Zürich 1994–2001, 458.481–501.

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HEIDRUN MADER Im Philipperbrief kämpfen Evodia und Syntyche gemeinsam mit Klemens und weiteren Mitarbeitenden des Paulus mit ihm für das Evangelium (Phil 4,2–3). Wiederum wird ihr Engagement nicht von dem der Männer unterschieden. Somit ist festzuhalten, dass in den Protopaulinen kein Text darauf hinweist, dass der ekklesiologische Grundsatz von Gal 3,26–28 in den paulinischen Gemeinden nicht umgesetzt worden wäre. Der Frauen vielfältige gemeindliche Aufgaben und gottesdienstliche Aktivitäten werden nicht von denen männlicher Gemeindeglieder unterschieden. Sie sind als Apostelinnen, Lehrerinnen und Prophetinnen aktiv. Nur in den galatischen Gemeinden droht ein ekklesiologisches Ungleichgewicht zwischen den weiblichen und männlichen Gemeindegliedern zu entstehen, sollten die galatischen Gemeindeglieder die Proselytenbeschneidung einführen.

3 Bibeltheologischer Umgang mit dem exegetischen Befund Die Einreihung der Gleichwertigkeit von männlichen und weiblichen Gemeindegliedern in die Forderung nach Gleichwertigkeit von jüdischen und paganen Gemeindegliedern macht die Geschlechtergleichwertigkeit zu einem zentralen ekklesiologischen Anliegen. Die erwählungstheologische und ekklesiologische Gleichwertigkeit von jüdischen und paganen Menschen war Paulus’ Lebenswerk und Herzstück seiner Mission. Dass die Gleichwertigkeit von jüdischen und paganen Gemeindegliedern zum Ausgangpunkt unserer Kirche Jesu Christi wurde, wie sie heute existiert, ist evident. Wir sind heute eine Kirche aus den Völkern, in der sich kein Gemeindeglied, in welcher ekklesialen Funktion auch immer, dem Proselytismus unterzieht. In der Reihung von jüdisch/pagan sind die weiteren Kategorien, versklavt/frei sowie männlich/weiblich, zentrale erwählungstheologische und ekklesiologische Anliegen. Die Frage, ob Frauen hinter privilegierter männlicher Gemeindeaktivität zurückbleiben sollten, ist damit in den Protopaulinen nicht beliebig beantwortbar (je nach Gusto oder Sitte), sie ist also kein Adiaphoron. Steht die Gleichwertigkeit männlicher und weiblicher Gemeindeglieder in Gefahr wie in den galatischen

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GAL 3,26–28 ALS FUNDAMENTAL EKKLESIOLOGISCHER TEXT Gemeinden, mahnt Paulus sie mit Bezug auf die Taufe an, die Gleichheit in Christus wiederherzustellen. Betrachten wir die dritte Kategorie in den weltweiten Kirchen, so hat sich dieses zentrale ekklesiologische Anliegen des Apostels keineswegs durchgesetzt. Frauen sind in der Mehrheit der weltweiten Kirchen zu gemeinde- und kirchenleitenden Ämtern kirchenrechtlich nicht zugelassen.27 Wir müssen also eine Diskrepanz zwischen dem paulinischen Anliegen und dem empirischen ekklesialen Befund festhalten. Wie sich die zweite Kategorie in der Geschichte kirchlicher Praxis durchgesetzt hat, ist eine ebenso wichtige und interessante Frage, der wir in diesem Artikel leider nicht nachgehen können. Fragen wir nach Gründen der Diskrepanz. Sie liegen in der Rezeption anderer biblischer Texte begründet, deren Lesart die Bedeutung von Gal 3,28 überschattet hat. Einflussreich wurden neutestamentlich vor allem 1 Kor 14,33b–36 und 1 Tim 2,11–15. Ferner gilt als starkes Argument aus der kirchlichen Tradition, dass Jesus, selbst männlich, zwölf lediglich männliche Apostel berief.28 Nehmen wir diese Argumente in den Blick und fragen, wie sich diese unterschiedlichen Befunde theologisch gewichten lassen. Ich mache zur neutestamentlichen Gewichtung folgenden Vorschlag: 1. Paulus’ Aussage in Gal 3,28, dass männliche und weibliche Gemeindeglieder erwählungstheologisch und ekklesiologisch gleichwertig sind, widerspricht den Instruktionen der deuteropaulinischen Texte 1 Kor 14,33b–36 und 1 Tim 2,11– 27

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Reformatorische und anglikanische Kirchen liegen mit der Ordination von Frauen vorne. Doch auch sie agieren nicht einheitlich in dieser Frage. Beispielsweise ordinieren von 145 Kirchen, die dem Lutherischen Weltbund angehören, 119 Kirchen Frauen (https://de.lutheranworld.org/de/content/80-prozent-der-lwb-kirchen-ordinieren-frauen-21, Abruf 24.09.2021). Die vorreformatorischen Kirchen, d. h. die römisch-katholische, welche knapp 18% der Weltbevölkerung ausmacht (https:// www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2020-03/vatikan-statistik-paepstliches-jahrbuch-veroeffentlichung.html; Abruf 24.09.2020), und die orthodoxen Kirchen lehnen die Frauenordination weltweit grundsätzlich ab. Ausführlich in Mader, Amt (s. Anm. 12). Von den zahlreichen Argumenten, die sich im Laufe der kirchlichen Tradition angehäuft haben, greife ich diese beiden heraus, da sie sich besonders eignen, unmittelbar mit Gal 3,28 ins Gespräch gebracht zu werden.

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HEIDRUN MADER 15, in denen Frauen in der Gemeinde schweigen sollen. Hier kommt eine Privilegierung männlicher Gemeindeglieder zum Tragen, die den Aktionsraum weiblicher Gemeindeglieder einengt.29 Hinzu kommt für 1 Tim 2,11–15, dass weibliche Gemeindeglieder nicht nur ekklesiologisch, sondern auch erwählungstheologisch aus der Gleichwertigkeit herausgenommen werden: 1 Tim 2,15 scheint die weibliche Soteriologie auf das Kindergebären zuzuspitzen (σωθήσεται δὲ διὰ τῆς τεκνογονίας).30 Wie lassen sich die widersprechenden Aussagen gewichten? Gal 3,28 ist ein Tauftext, der Gemeinde konstituiert und damit als fundamentaltheologisch einzuordnen ist. 1 Kor 14,33b–36 und 1 Tim 2,11–15 sind situative polemische Be-

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Sowohl 1 Kor 14,33b–36 als auch 1 Tim 2,11–15 haben im Unterschied zu den bisher besprochenen Texten eine unmittelbar regulative, präskriptive Funktion, sie sind direkt handlungsanleitend. Verbote setzen Zustände voraus, die begrenzt werden sollen. Somit setzt die Aufforderung zum Schweigen (1 Kor 14,34) voraus, dass de facto geredet wurde. Die oben genannten Zeugnisse weisen dafür zahlreiche Beispiele auf. Dasselbe gilt für die Aufforderung, nicht zu lehren (1 Tim 2,12). Die Konfrontation dieser Texte mit den oben genannten Beispielen zeigt, dass Erleben und Verhalten im frühen Christentum differenziert zu betrachten sind, je abhängig von Situation, Region und Zeitraum. Die regulativen Texte beschreiben mithin keinen flächendeckend geltenden Anspruch, wurden jedoch seit dem Ende des 1. Jh. zahlreicher, vgl. z. B. 1 Clem 21,7; 1,3 (siehe dazu Ute E. Eisen, Frauen in leitenden Positionen im Neuen Testament und in der frühen Kirche, BiKi 65 [2010], 205–213, hier 208). Zu schnell und methodisch unzulässig wurde von den Schweigegeboten für die Frauen im Gottesdienst auf eine entsprechende generelle kirchliche Praxis geschlossen. (Siehe auch Ute E Eisen, Synoptische Sukzessionsnarrative und Gender, in: AlmutBarbara Renger/Markus Witte (Hg.), Sukzession in Religionen. Autorisierung, Legitimierung, Wissenstransfer, Berlin/Boston 2017, 231–249, hier 247). Frauen in kirchlichen Leitungsfunktionen und Regulative gegen Fraueneinfluss existierten in den ersten Jahrhunderten des Christentums zeitlich parallel. Ute E. Eisen, Amtsträgerinnen im frühen Christentum. Epigraphische und literarische Studien, Göttingen 1996, zeigt die vielfältige Wirksamkeit von Frauen in Ämtern bis in die ersten Jahrhunderte hinein auf. Siehe dazu auch Mader, Amt (s. Anm. 12). Siehe dazu ausführlich Merklein, Spannungsfeld (s. Anm. 10), 254–261.

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GAL 3,26–28 ALS FUNDAMENTAL EKKLESIOLOGISCHER TEXT stimmungen, die Verordnungen vor Ort erlassen möchten.31 Mein Votum fällt klar aus, Gal 3,28 theologisch deutlich mehr Gewicht zu geben. 2. Das Argument aus der kirchlichen Tradition, dass Jesus und seine Apostel männlich waren und daher gemeindeleitende Ämter in der Nachfolge Jesu und der Apostel männlich sein müssten, lässt sich mit Gal 3,28 prüfen. Paulus bestätigt diese Ableitung keineswegs, und zwar in keiner seiner Gleichwertigkeitskategorien von Gal 3,28. Leitete man von den Eigenschaften Jesu und der Apostel gemeindeleitende Ämter ab, so müssten alle weiteren Apostel nicht nur männlich sein, sondern an erster Stelle jüdischen Hintergrund aufweisen und beschnitten sein. Gal 3,28 hält Gegenteiliges fest, und auch das Gegenteil ist in den Kirchen heute der Fall: Der Großteil der Glieder der weltweiten Kirche ist paganen Hintergrunds, unbeschnitten, auch in gemeindeleitenden Ämtern.

31

Vgl. Merklein, Spannungsfeld (s. Anm. 10), 257–261.

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Über die Wachstumsnotizen in der Apostelgeschichte Niklas Brandt 1 Einleitung „Das Wort Gottes im Alten und Neuen Testament“ – so hieß die erste Veranstaltung, die ich bei dem Geehrten dieser Festschrift, Prof. Dr. Jorg Christian Salzmann, während meines Studiums belegt habe. Lange ist das mittlerweile her, umso mehr freut es mich, diesem Thema nun noch einmal im Rahmen dieser Festschrift nachgehen zu dürfen. Die Bibel ist nicht allein das Wort Gottes, sie redet auch über das Wort Gottes, und dies im Neuen Testament insbesondere – und das mag auf den ersten Blick überraschen – in der Apostelgeschichte. Wer einmal konkordantisch nach der Wortverbindung ὁ λόγος τοῦ θεοῦ im Neuen Testament sucht, der wird schnell die Entdeckung machen, dass es sich hierbei um eine Wendung handelt, die ganz besonders häufig bei Lukas (15x) und hier vor allem in der Apostelgeschichte begegnet (11x, in jeder anderen Schrift des NT max. 2x). Dieser Befund wird noch dadurch verstärkt, dass in der Apostelgeschichte insgesamt 22 weitere Belege für synonyme Wendungen zu ὁ λόγος τοῦ θεοῦ zu finden sind.1 So stellt sich die Apostelgeschichte ganz wesentlich als eine Geschichte des Wortes Gottes dar:

1

7x bzw. 8x ὁ λόγος τοῦ κυρίου, 2x ὁ λόγος τῆς χάριτος αὐτοῦ, je 1x ὁ λόγος τῆς σωτηρίας, ὁ λόγος τοῦ εὐαγγελίου, ὁ λόγος σου (in der Gebetsanrede), außerdem 9x ὁ λόγος absolut.

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ÜBER DIE WACHSTUMSNOTIZEN IN DER APOSTELGESCHICHTE Eine Geschichte von der Verkündigung, vom Hören und von der gläubigen Annahme dieses Wortes. Bei der genaueren Betrachtung fällt dabei ein Satz auf, dessen erster Halbsatz an drei verschiedenen Stellen nahezu unverändert begegnet, in Apg 6,7a, 12,25 und 19,20: Apg 6,7a: Apg 12,24: Apg 19,20:

Καὶ ὁ λόγος τοῦ θεοῦ ηὔξανεν καὶ ἐπληθύνετο ὁ ἀριθμὸς τῶν μαθητῶν ἐν Ἰερουσαλὴμ σφόδρα Ὁ δὲ λόγος τοῦ θεοῦ ηὔξανεν καὶ ἐπληθύνετο. Οὕτως κατὰ κράτος τοῦ κυρίου ὁ λόγος ηὔξανεν καὶ ἴσχυεν.

Der unterstrichene erste Teil wird dabei in den Übersetzungen in der Regel mit: „Das Wort Gottes / des HERRN wuchs“, wiedergegeben. Die Stellen werden deshalb in der Forschung unter dem Stichwort „Wachstumsnotizen“ zusammengefasst,2 wobei hierzu in der Regel auch noch weitere Verse gerechnet werden; eine Schwierigkeit, auf die weiter unten noch eingegangen wird. Dem geübten Bibelleser werden solche Redewendungen womöglich vertraut vorkommen und er wird sich in etwa vorstellen können, was damit wohl gemeint ist, aus sprachlicher Hinsicht aber lässt sich feststellen, dass diese Konstruktion sowohl für deutsche als auch griechische Ohren erst einmal außergewöhnlich ist, da hier zwei Begriffe aus den beiden semantisch nicht zusammengehörenden Kategorien der Sprache und der Pfanzenwelt3 in einem Bild miteinander verbunden werden. So ist sie dann womöglich auch eine lukanische Eigenkreation,4 denn

2

3

4

Vgl. zum Begriff u. a. Josef Zmijewski, Apostelgeschichte, RNT, Regensburg 1994, 24; Rudolf Pesch, Apostelgeschichte 1–12, EKK V/I, Zürich u. a. 1986, 37. Beide zählen jedoch wie andere noch 9,31 wegen des Wortes πληθύνω dazu, was jedoch wegen des Fehlens von Ὁ λόγος τοῦ θεοῦ ηὔξανεν eher allgemein zu den „Verbreitungsnotizen“ zu zählen ist; vgl. dagegen Jerome Kodell, „The Word of God grew“. The Ecclesial Tendency of Λόγος in Acts 6,7; 12,24; 19,20, Bib 55 (1974), 505. Vgl. Paul Zingg, Das Wachsen der Kirche. Beiträge zur Frage der lukanischen Redaktion und Theologie, OBO 3, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1974, 26. Vgl. ebd.

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NIKLAS BRANDT außer an diesen drei Stellen ist diese Konstruktion nur noch in Kolosser 1,5 belegt,5 außerbiblisch ist sie nicht belegt. Bereits diese ersten Beobachtungen zur Zentralität, Besonderheit und Einzigartigkeit dieses Halbsatzes, zusammen mit der Beobachtung des äußerst seltenen Falles, dass ὁ λόγος τοῦ θεοῦ syntaktisch hier als handelndes, aktives Subjekt begegnet, haben mich dazu veranlasst, diesen Satz in folgendem Aufsatz genauer hinsichtlich seiner Funktion, seiner Herkunft und seiner Bedeutung für die Apostelgeschichte zu untersuchen.

2 Die „Wachstumsnotizen“ und die Gliederung der Apostelgeschichte Wenn ein so ungewöhnlicher Satz innerhalb eines Buches an gleich drei unterschiedlichen Stellen in vollkommen unterschiedlichen Kontexten wie eine Art Refrain begegnet, und dieser Refrain zudem noch eines der zentralen Themen des Buches entfaltet, dann stellt sich die Frage, ob der Verfasser mit diesem Satz nicht womöglich ein erzählstrategisches Ziel verfolgt und deshalb diesen Satz ganz bewusst an diesen drei Stellen in den Erzählverlauf eingebaut hat. Sprich, es stellt sich die Frage nach seiner Rolle im Zusammenhang der Gliederung des ganzen Buches. Diese Frage ist nicht neu. Vielmehr hatte bereits 1898 C. H. Turner einen ähnlichen Gedanken zur Gliederung präsentiert. Turner rechnete diese drei Verse jedoch einer größeren Gruppe von sogenannten „Verbreitungsnotizen“ zu (neben Apg 6,7; 12,24 und 19,20 auch noch 9,31; 16,5 und 28,30f.), anhand derer er eine literarische Gliederung der Apostelgeschichte als einer Erzählung in „six panels“ (sechs Tafeln) vornahm. 6 Dies hat ihm jedoch in der Folge viel Kritik eingebracht, da sich in seiner Auswahl eine gewisse Willkür nicht verhehlen ließ. Denn 5

6

Durch die unübersichtliche Datierungsfrage beider Schriften (selbst bei einer konservativen Frühdatierung beider Schriften lägen beide sehr eng beieinander um 62 n. Chr.), führt auch die Frage einer eventuellen Abhängigkeit nicht weiter. C. H. Turner, Chronology of the New Testament, in: James Hastings et al. (eds.), Dictionary of the Bible, Volume I, New York 1898, 421.

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ÜBER DIE WACHSTUMSNOTIZEN IN DER APOSTELGESCHICHTE zum einen sind diese sechs Stellen in ihrer Form und ihrem Inhalt doch sehr unterschiedlich konstruiert, zum anderen ließen sich zu dieser Auswahl von „Verbreitungsnotizen“ noch einige weitere Stellen addieren.7 Fortan wurde die Bedeutung der Wachstumsnotizen für die Gliederung der Apostelgeschichte zwar von vielen Kommentatoren gesehen und gelegentlich auch mitberücksichtigt,8 wie etwa in dem bedeutsamen Kommentar von Pesch,9 im Großen und Ganzen setzte sich jedoch ein Gliederungsschema durch, dass weniger auf „literarischen“ als vielmehr auf „missionsgeographischen“10 Überlegungen beruht und sich an der Dreiteilung im programmatischen Auftrag Jesu in Apg 1,8 orientiert: „Ihr […] werdet meine Zeugen sein sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde“.11 Dabei wird jedoch diese geographische Dreiteilung in Apg 1,8 in der Gliederung meist um einen weiteren Abschnitt ergänzt, der häufig als „antiochenische Mission“ 12 bezeichnet wird und von der Gründung der Gemeinde in Antiochia bis zum Apostelkonzil und dem Überbringen der Beschlüsse nach Antiochia reicht, also in besonderer Weise auf die Rolle der antiochenischen Gemeinde in dieser Zeit fokussiert.

7

8

9

10 11

12

Vgl. zur Kritik Gerhard Schneider, Die Apostelgeschichte. Teil I, HThKNT V.1, Freiburg/Basel/Wien, 1980, 65 (Fußnote 1) und 67; Ingo Broer, Einleitung in das Neue Testament. Band I, Würzburg 2006, 150. Vgl. neben Pesch auch Petr Pokorný/Ulrich Heckel, Einleitung in das Neue Testament, UTB 2798, Tübingen 2007, 496, und Broer, Einleitung I (s. Anm. 7), 150. Pesch, Apg 1–12 (s. Anm. 2), 37.41, setzt sich intensiv mit der gliedernden Funktion der Wachstumsnotizen auseinander (allerdings inklusive 9,31) und berücksichtigt diese auch in seiner Gliederung (Ende der Abschnitte III, V und VII in seiner Gliederung), legt die Gliederung allerdings insgesamt zwölfteilig an und orientiert sich dabei stärker an einer Zweiteilung des Buches (2,1–15,33; 15,35–28,16). Jacob Jervell, Die Apostelgeschichte, KEK.NT III, Göttingen 171998, 53 (Fußnote 5). Vgl. Schneider, Apg I (s. Anm. 7), 66; Pesch, Apg 1–12 (s. Anm. 2), 38, kritisiert dagegen die einseitige Orientierung der Gliederung an Apg 1,8. (Hervorhebungen NB) Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, Göttingen 82013, 336.

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NIKLAS BRANDT Daraus ergibt sich die folgende Grobgliederung, die von ihrer Anlage her insgesamt in der Forschung breite Zustimmung finden konnte:13 1,1–8,3 8,4–11,18 11,19–15,35 15,36–28,31

Die erste Gemeinde in Jerusalem (inkl. des Martyriums des Stephanus) Die Mission in Samaria und Judäa Die Antiochenische Mission bis zum Apostelkonzil Die Mission des Paulus und sein Weg nach Rom (zum Teil mit einer weiteren Teilung nach 19,20 oder 21,25)

Dass sich ein solcher „missionsgeographischer“ Ansatz zunehmend durchgesetzt hat, überrascht nicht, besitzt er doch ohne Frage eine hohe Plausibilität. Gleichzeitig zeigt jedoch ein Blick auf die konkreten Gliederungen, dass hier im Detail noch deutliche Unterschiede bestehen, was insbesondere die weitere Unterteilung sowie die konkrete Abgrenzung der einzelnen Abschnitte betrifft. In den konkreten Gliederungen wird u. a. auch immer wieder die gliedernde Funktion der Wachstumsnotizen miteinbezogen, etwa bei der Unterteilung weiterer Unterabschnitte, hier und da jedoch auch zur Abgrenzung der Hauptteile. Dies bringt mich zurück zu Turners literarischer Gliederung. Denn so sehr die Kritik an Turners Auswahl der „Verbreitungsnotizen“ aufgrund der gewissen Willkür, die ihr innewohnt, berechtigt gewesen sein mag, ist es interessant, dass in der Folge, soweit mir bekannt, noch niemand den Versuch unternommen hat, seine Auswahl einmal zu reduzieren und eine Gliederung allein anhand der reinen „Wachstumsnotizen“ vorzunehmen. Diesen Versuch möchte ich in diesem Artikel unternehmen und dabei zeigen, dass eine solche Gliederung nicht notwendigerweise gegen das Grundprinzip einer „missionsgeographischen“ Gliederung stehen muss, sondern diese sogar literarisch unterstützen könnte. Die Gliederung, die sich daraus ergäbe, bestände ebenso wie die herkömmliche Grobgliederung aus vier Teilen, wobei die ersten drei Teile jeweils mit einer Wachstumsnotiz enden: 13

Vgl. für diese Gliederung insbesondere Schnelle, Einleitung (s. Anm. 12), 336; KarlWilhelm Niebuhr (Hg.), Grundinformation Neues Testament, UTB 2108, Göttingen 52020, 170; Zmijewski, Apg (s. Anm. 2), 24.

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ÜBER DIE WACHSTUMSNOTIZEN IN DER APOSTELGESCHICHTE 1,1–6,7 6,8–12,25 13,1–19,20 19,21–28,31

Die erste Gemeinde in Jerusalem (I) Die Verfolgung der Gemeinde, die Mission in Samaria, Judäa und Syrien sowie die Hinwendung zu den Heiden (II) Die „Missionsreisen“ des Paulus (III) Paulus auf dem Weg nach Jerusalem und Rom (IV)

Auf den ersten Blick scheint diese Gliederung nicht allzu viel mit der oben geschilderten Gliederung gemein zu haben. Einzig die letzte Abgrenzung vor 19,21 findet sich in gleicher Weise in manchen Gliederungen als ein zusätzlicher, separater Abschnitt,14 was weniger in der Wachstumsnotiz in 19,20 als vielmehr in der Hinwendung des Paulus nach Jerusalem und Rom in 19,21 begründet liegt, die den letzten Abschnitt der Apostelgeschichte einleitet: „Als das geschehen war, nahm sich Paulus im Geist vor, durch Mazedonien und Achaja zu ziehen und nach Jerusalem zu reisen, und sprach: Wenn ich dort gewesen bin, muss ich auch Rom sehen.“

Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass auch bei den ersten beiden Abgrenzungen der Unterschied kleiner ist, als er zunächst scheint. Die Differenzen liegen insbesondere in den Fragen, wie die Rede und das Martyrium des Stephanus einzuordnen sind und inwiefern sich ein separater „Antiochia“-Teil vom Text her nahelegt. Zwei Gründe sprechen dafür, das Auftreten des Stephanus und sein Martyrium noch im ersten Teil zu verorten: Zum einen, dass dieser Abschnitt sich noch in den Jerusalem abspielt und erst mit der Verfolgung ab 8,4 die Mission auch in Samaria und Judäa einsetzt.15 Zum anderen die Tatsache, dass dieser Abschnitt mit dem Abschnitt über die Witwenpfleger in 6,1–6 durch die Erwähnung des Stephanus und dem Auftreten der Hellenisten16 verbunden ist.

14 15 16

Vgl. die in Fußnote 13 genannten Gliederungen. Vgl. Broer, Einleitung I (s. Anm. 7), 150f.; Zmijewski, Apg (s. Anm. 2), 24. Vgl. Schnelle, Einleitung (s. Anm. 12), 336; auch Niebuhr, Grundinformation (s. Anm. 13), 173; die Rolle der Hellenisten hat Anlass zu Spekulationen über die Zeit der Vertreibung sowie der inneren Konflikte innerhalb der frühen Kirche. Hier ist zu

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NIKLAS BRANDT Dagegen spricht jedoch, dass in diesem Fall auch das Auftreten des Philippus noch mit zu diesem Teil zu rechnen wäre, da auch dieser unter den Witwenpflegern in 6,1–6 erwähnt wird.17 Dies ließe sich jedoch nicht mehr mit dem missionsgeographischen Muster in Einklang bringen. Zum anderen spielt sich das Auftreten des Stephanus und sein Martyrium zwar noch in Jerusalem ab, wird jedoch in 8,1 auf das Engste mit dem folgenden Teil verbunden: „Es erhob sich aber an diesem Tag eine große Verfolgung über die Gemeinde in Jerusalem“ (Hervorhebung NB), und die Auseinandersetzung des Stephanus wird als Grund für die Zerstreuung nach „Judäa und Samaria“ genannt. Demgegenüber ist die Berufung der Witwenpfleger noch ganz in die Geschehnisse der frühen Jerusalemer Gemeinde eingebettet.18 Auch wenn dieser Abschnitt so noch örtlich in Jerusalem spielt, ist er zeitlich und kausal doch stärker mit dem zweiten Teil verbunden. Dies lässt sich auch an der Person des Saulus/Paulus erkennen, die bereits im Zusammenhang des Martyriums erwähnt wird und dann im Zusammenhang der Verfolgung in 9,1 wieder begegnet.19 Gehen wir von dort weiter zur Abgrenzung des zweiten Abschnittes. Der Einschnitt vor der Gemeindegründung in Antiochia ist aus missionsgeographischer Sicht insofern durchaus plausibel, da Antiochia nicht mehr zu Samaria und Judäa gehört, sondern in Syrien liegt. Ebenso kommt Antiochia ohne Frage für die Ausbreitung des Evangeliums in der Apostelgeschichte eine gewichtige Rolle zu als

17

18

19

fragen, ob nicht die wenigen Notizen zu sehr überfrachtet werden und das Schema Judenchristen (hebräische Juden) – Hellenisten in Gänze womöglich zu simplizistisch gedacht ist. Vgl. so etwa die Gliederung bei Jervell, Apg (s. Anm. 10), 53f., der das Auftreten des Philippus noch zur Jerusalemer Mission rechnet; sie nimmt dabei aber eher eine Sonderstellung ein, da er seine Gliederung nicht an Apg 1,8 orientiert. Gegen Vorschläge von Jürgen Roloff, Die Apostelgeschichte, NTD 5, Göttingen 171981, 13, oder Schneider, Apg I, 66, bereits in 6,1 den zweiten Teil beginnen zu lassen, sei vermerkt, dass dieser Teil insbesondere durch die Rede der Apostel in 6,4 („Wir aber wollen am Gebet und am Dienst des Wortes bleiben“) eng verbunden und verklammert ist mit 1,14 und 2,42, und sich so deutlich als zum ersten Teil gehörend zu erkennen gibt. Vgl. Pesch, Apg 1–12, 38f., nachdem die Stephanuserzählung die „kompositorische Mitte“ von 1–12 einnimmt; ähnlich Roloff, Apg (s. Anm. 18), 13.

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ÜBER DIE WACHSTUMSNOTIZEN IN DER APOSTELGESCHICHTE einer Art Tor zur Welt. Dennoch stellt sich die Frage, ob sich dadurch die Abgrenzung eines eigenen „Antiochia“-Teils innerhalb der Gliederung wirklich nahelegt. Gehen wir zum Beginn der sog. „antiochenischen Mission“ mit der Ersterwähnung der Gemeinde Antiochias (11,19), so wird gerade an dieser Stelle noch einmal explizit der Bezug zur Zerstreuung „wegen Stephanus“ hergestellt und die Gründung der antiochenischen Gemeinde in deren direkten Zusammenhang gestellt.20 Auch zeigt sich noch ein deutlicher Zusammenhang mit der Gemeinde in Jerusalem: Barnabas, ein Glied der Jerusalemer Gemeinde, wird als Leiter zur Gemeinde in Antiochia gesandt, es kommen von dort Propheten nach Antiochia, was ebenfalls noch auf einen engen Kontakt hindeutet, und eine Gabe wird für Jerusalem gesammelt und überbracht. Auch das Argument, dass Antiochia ja gar nicht mehr in Samaria oder Judäa liege (vgl. Apg 1,8), sondern in Syrien, spricht in diesem Fall nicht zwangsläufig gegen die Zuordnung zu diesem Teil.21 Denn dies würde dann in ähnlicher Weise schon für das ebenfalls in Syrien gelegene Damaskus gelten, wohin die Christen bereits zuvor gekommen waren (9,2). So scheint die Perikope der Gemeindegründung von Antiochia eher noch in den zweiten Teil einzuordnen zu sein, wobei Syrien missionsgeographisch unter Samaria und Judäa subsumiert würde. Dieser durch die Verfolgung der Gemeinde bestimmte zweite Teil22 würde dann in Kapitel 12 wieder dort enden, wo er begonnen hat, in Jerusalem, und durch die beiden Martyrien des Stephanus und des Jakobus zudem eine stimmige Rahmung erfahren. Erst mit Kapitel 13 beginnt dann die eigentliche „antiochenische Mission“. Zwar verändert diese sich nach dem Apostelkonzil insofern, als dass Paulus keinen neuen, expliziten Auftrag von der Gemeinde in Antiochia erhält und statt von Barnabas von Silas begleitet wird, 23 gleichwohl bleibt Antiochia auch für die

20 21 22

23

Vgl. Pesch, Apg 1–12 (s. Anm. 19), 38. Vgl. Broer, Einleitung I (s. Anm. 7), 150 oder Roloff, Apg (s. Anm. 18), 13. Hierzu sei bemerkt, dass es auch in den Kapitel 4–5 bereits zur Verfolgung der Gemeinde kam, allerdings zu dieser Zeit lediglich eine Verfolgung der Apostel berichtet wird, während diese sich erst nach Stephanus auf die gesamte Gemeinde ausweitet. Eine weitere wesentliche Veränderung ist, dass Petrus nach dem Apostelkonzil nicht mehr in der Apostelgeschichte begegnet. Allerdings ist Petrus bereits in Apg 12 am

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NIKLAS BRANDT weiteren Missionsreisen sein Ausgangspunkt (18,22f.) Erst mit der Hinwendung nach Jerusalem und Rom in 19,21 verschwindet Antiochia von der Bildfläche,24 sodass auch ein Einschnitt nach dem Apostelkonzil nicht unbedingt zwingend erscheint. Vielmehr scheint das Apostelkonzil von Lukas bewusst ins Zentrum der Apostelgeschichte als Ganzer gestellt worden zu sein.25 Die herkömmliche, „missionsgeographische“ Gliederung hat mit der Hervorhebung der Rolle Antiochias einerseits26 und ihrem Fokus auf die Gruppe der Hellenisten in der Gemeinde andererseits27 ohne Frage ihre Stärken. Gleichwohl hat sich gezeigt, dass sich eine „literarische“ Gliederung anhand der Wachstumsnotizen ebenso wunderbar, ja womöglich sogar noch besser mit dem missionsgeographischen Ansatz vereinbaren lässt: „Ihr (…) werdet meine Zeugen sein in Jerusalem (1–6,7) und in ganz Judäa und Samarien (und Syrien, 6,8–12,25) und bis an das Ende der Erde (13,1–19,20 / 19,21–28,30f.)“. Auch in dieser Gliederung nähmen die Gruppen der Hellenisten und Antiochia wichtige Rollen ein, indem sie die Scharniere zwischen den Teilen I und II sowie II und III bilden würden. In einer solchen Gliederung kommt den Wachstumsnotizen eine herausragende Rolle zu. Sie dienen nicht allein als Abgrenzung der Teile voneinander, sondern verbinden als ein sich durchziehender Refrain das Geschehen in den ersten drei Teilen und bilden für dieses einen gemeinsamen Interpretationshorizont, den Zmijewski, auch wenn er seine Gliederung nicht in gleicher Weise an den „Wachstumsnotizen“ ausrichtet, in seinem Votum treffend zusammenfasst:

24

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Ende des zweiten Teiles abgetreten; im Zusammenhang des Apostelkonzils tritt er lediglich noch ein letztes Mal auf. Paulus reist von Caesarea kein letztes Mal nach Antiochia (vgl. 18,22), sondern direkt nach Jerusalem (21,15). Zu dieser Zentralstellung des Apostelkonzils bzw. des Apostelkonventes innerhalb der Apostelgeschichte vgl. Schnelle, Einleitung (s. Anm. 12), 336: „Der Apostelkonvent in Apg 15,1–35 kann als der kompositionelle und sachliche Mittelpunkt der Apostelgeschichte angesehen werden.“ Vgl. Niebuhr, Grundinformation (s. Anm. 13), 176: „Antiochia wird das eigentliche Zentrum der christlichen Mission.“ Vgl. Schneider, Apg I (s. Anm. 7), 66f., der sogar einen eigenen „hellenistischen“ Abschnitt in 6,1–15,35 erkennt.

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ÜBER DIE WACHSTUMSNOTIZEN IN DER APOSTELGESCHICHTE „Lukas hat die ‚Wachstumsnotizen‘ so planvoll in die Apg-Darstellung eingebaut, dass insgesamt der Eindruck eines steten und unaufhörlichen Wachsens des Wortes Gottes (und damit zugleich der Kirche) entsteht.“28

3 Der Hintergrund der Wachstumsnotizen und ihre Bedeutung in der Apostelgeschichte Die Frage nach dem Hintergrund und der genaueren Bedeutung dieses vermutlich von Lukas kreierten Sprachbildes wird so umso interessanter wie relevanter. Warum Lukas gerade diesem Sprachbild ein solches Gewicht einräumt, bleibt dabei natürlich in letzter Hinsicht immer auch ein Stück weit spekulativ. Über die verschiedenen verwendeten Begriffe lassen sich innerbiblisch jedoch im Wesentlichen drei in der Forschung diskutierte, potenzielle Hintergründe ermitteln, die für die Bedeutung dieses Sprachbildes relevant sind.29 Diese drei Hintergründe sollen im Folgenden vorgestellt und dabei ermittelt werden, inwieweit sie zu einem vertieften Verständnis der „Wachstumsnotizen“ und ihrer Bedeutung innerhalb der Apostelgeschichte beitragen könnten.

3.1 „Seid fruchtbar und mehret euch“ – Der Septuaginta-Hintergrund der Wortverknüpfung αὐξάνω καὶ πληθύνω Die Verbindung αὐξάνω καὶ πληθύνω innerhalb der ersten beiden Wachstumsnotizen führt zum ersten potentiellen Hintergrund, dem der Septuaginta (LXX). Dieser scheint sehr bewusst im Hintergrund der Wachstumsnotizen zu stehen. Dies zeigt ein Blick in Apg 7,17, die einzige weitere Stelle, an der diese 28 29

Zmijewski, Apg (s. Anm. 2), 474. Hier sei insbesondere auf Kodell, Word of God grew (s. Anm. 2); Zingg, Wachsen (s. Anm. 3); Wolfgang Reinhardt, Das Wachstum des Gottesvolkes. Biblische Theologie des Gemeindewachstums, Göttingen 1995; sowie auf den Exkurs in Zmijewski, Apg (s. Anm. 2), 474, hingewiesen.

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NIKLAS BRANDT Verbverbindung in der Apostelgeschichte und im lukanischen Doppelwerk begegnet, denn hierbei handelt es sich um eine paraphrasierte Wiedergabe des Berichtes aus Gen 47,17 und Ex 1,7 über das Wachsen und Zunehmen des Gottesvolkes in Ägypten.30 Insgesamt 14x begegnet die Verknüpfung αὐξάνω καὶ πληθύνω in der LXX als Wiedergabe des hebräischen ‫„( פּרה ורבה‬fruchtbar sein und sich mehren“), davon 10x in der Genesis. Während diese Formulierung in der Urgeschichte – im Paradies und zur Zeit Noahs – insgesamt 5x als grundlegender Auftrag an Mensch und Tier im Imperfekt ergeht: „Seid fruchtbar und mehret euch!“ (1,22.28; 8,17; 9,1.7), findet er sich innerhalb der Vätergeschichten 4x in Form einer Verheißung Gottes: „ich will dich/ihn wachsen lassen und dich/ihn mehren“ an Ismael (17,20) sowie an Jakob (28,3; 35,11 als Auftrag; 48,4), deren Erfüllung in Gen 47,27 und Ex 1,7 dann berichtet wird. Diese Verheißung ergeht dann in Lev 26,9 im Kontext der Gabe des sinaitischen Gesetzes am Ende des Heiligkeitsgesetzes erneut an Israel in Form einer bedingten Verheißung: „Werdet ihr in meinen Satzungen wandeln und meine Gebote halten und tun, so will ich … mich zu euch wenden und will euch fruchtbar machen und euch mehren (αὐξάνω καὶ πληθύνω) und will meinen Bund mit euch halten.“ (Lev 26,3.9),

die sich jedoch nicht erfüllt, weil Israel nicht in den Geboten Gottes und seinen Satzungen gewandelt ist (1 Kön 11,11; Jer 32,23), sondern die Israeliten werden in das Exil geführt. In dieser Situation ergeht diese Verheißung von neuem, diesmal als unbedingte Zusage durch den Propheten Jeremia: „Und ich will die Übriggebliebenen meiner Herde sammeln (…), und will sie wiederbringen (…), dass sie sollen wachsen und viel werden (αὐξάνω καὶ πληθύνω).“ (Jer 23,3, vgl. 3,16).

30

Vgl. zu diesem Hintergrund neben dem Exkurs bei Zmijewski, Apg (s. Anm. 2), 474f., und Zingg, Wachsen (s. Anm. 3), 25f., auch B. Kedar-Kopfstein, Art. „‫“פּרה‬, ThWAT VI (1989), 740–752, 748f.

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ÜBER DIE WACHSTUMSNOTIZEN IN DER APOSTELGESCHICHTE In der LXX begegnet diese Verbindung somit exklusiv in der Rede von der Fruchtbarkeit und der Vermehrung der Menschheit bzw. des Volkes. Diese Beobachtung hat manche Exegeten dazu veranlasst, die „Wachstumsnotizen“ in der Apostelgeschichte vor allen Dingen quantitativ zu verstehen, sie v. a. auf die zahlenmäßige Zunahme der Jüngerschaft bzw. der ἐκκλησία zu deuten und so ὁ λόγος weniger als Botschaft, sondern von einem Resultat der Botschaft, der Jüngerschaft her zu verstehen. So schreibt etwa Jervell in seinem Kommentar: „Der Sinn ist klar: die Zahl derer, die das Wort annehmen, wächst, was auch heissen kann: Das Wort wächst“,31 und: „Der Ausdruck vom Wachsen des Wortes heisst für Lukas, dass die Kirche neue Mitglieder bekommt.“32 Diese quantitative Dimension ist ohne Zweifel auch in den Wachstumsnotizen vorhanden. Indem Lukas diese Formel in seinen Wachstumsnotizen aufnimmt, stellt er gerade auch das durch das Wachstum des λόγος bedingte Wachstum der ἐκκλησία in den heilsgeschichtlichen Kontext als einer eschatologischen Erfüllung der Verheißungen des Alten Testament im neuen Gottesvolk der ἐκκλησία.33 Allerdings scheint diese quantitative Dimension eher durch den Zusatz ἐπληθύνετο ὁ ἀριθμὸς τῶν μαθητῶν (6,7) noch einmal eigens aufgegriffen worden zu sein. Demgegenüber ist etwa mit Zmijewski und Pesch festzuhalten, dass im ersten Teil stärker eine qualitative Dimension zum Ausdruck gebracht werden soll und unterscheiden ein Wachstum „nach innen“ im Gegenüber zu einem Wachstum „nach außen“.34 Ein solches Gegenüber ergibt sich bereits aus dem atl. Befund, der in der Folge noch etwas genauer untersucht werden soll. Denn gerade an den oben genannten Stellen, an denen αὐξάνω in Kombination mit πληθύνω begegnet und als 31 32

33 34

Jervell, Apg (s. Anm. 10), 220. Jervell, Apg (s. Anm. 10), 484; ähnlich auch Gerhard Delling, Art. „ὑπεραυξάνω/αὐξάνω“, ThWNT VIII (1969), 520; vgl. auch Kodell, Word of God grew (s. Anm. 2), 517f. Kodell erkennt zwar, dass Lukas hier bewusst λόγος statt ἐκκλησία oder λάος gebraucht, löst diese Spannung im Kontext der „Wachstumsnotizen“ letztlich dennoch zugunsten einer quantitativen, ekklesialen Interpretation von λόγος auf. Vgl. Zmijewski, Apg (s. Anm. 2), 475; Zingg, Wachsen (s. Anm. 3), 174. Vgl. Zmijewski, Apg (s. Anm. 2), 290; Pesch, Apg 1–12 (s. Anm. 19), 371; Roloff, Apg (s. Anm. 18), 192.

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NIKLAS BRANDT Wiedergabe für ‫ פּרה‬gebraucht wird, beinhaltet αὐξάνω nicht so sehr die quantitative Dimension des „Wachsens/Großwerdens“ wie die ihr vorausliegende qualitative Dimension der „Fruchtbarkeit“.35 Mit αὐξάνω wird so weniger das quantitative Wachstum beschrieben, sondern vielmehr die qualitative Voraussetzung dafür. Erst, wo die Qualität der Fruchtbarkeit gegeben ist, da kann und wird als ein Resultat (jedoch nicht notwendigerweise als zentrales und alleiniges Resultat) auch die Quantität des Wachstums gegeben werden.36 Von dieser Erkenntnis, dass αὐξάνω vom atl. Befund zuallererst der Aspekt der Fruchtbarkeit innewohnt, lässt sich zum einen nun der Zusammenhang der beiden Teile der Wachstumsnotizen wie folgt genauer verstehen: „Das Wort wuchs/war fruchtbar – und weil das Wort wuchs/fruchtbar war, nur deshalb nahm auch die Zahl der Jünger zu.“ Indem das zweite so die implizite Folge des ersten bildet, verschiebt sich auch die Betonung auf die erste Hälfte. Dass das Gewicht innerhalb der Wachstumsnotizen stärker auf dem ersten Teil liegt, würde auch die Veränderung der Wachstumsnotizen innerhalb der Apostelgeschichte erklären: Während die qualitative Formulierung ὁ λόγος τοῦ θεοῦ ηὔξανεν im Wesentlichen dauerhaft gleichbleibt, verliert der quantitative Teil stetig an Bedeutung und wird in der dritten Wachstumsnotiz in 19,20 sogar durch das eher qualitative ἰσχύω ersetzt.37 Im Lichte einer solchen aus dem LXX-Hintergrund stammenden, eher qualitativen Interpretation von αὐξάνω im Sinne von „Fruchtbarkeit“ ergäben sich nun für das inhaltliche Verständnis der „Wachstumsnotizen“ einige wichtige Aspekte. Denn mit der Rede von Fruchtbarkeit verbinden sich atl. drei Elemente, die auch für das Verständnis des „Wachstums“ oder der „Fruchtbarkeit“ des Wortes Gottes erhellend sind: 1.

Fruchtbarkeit stellt als Schöpfungsbegriff einen engen Rückbezug zu Gott als dem Schöpfer her. Fruchtbarkeit ist eine Qualität, die Menschen nicht

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Vgl. W. Günther, Art. „Wachsen“, ThBNT II/2, Wuppertal 1971, 1339. Vgl. Zmijewski, Apg (s. Anm. 2), 290: „Das Wachsen des Wortes ist dabei als die bewirkende innere Kraft dieses äußeren Wachstums gesehen.“ Vgl. Roloff, Apg (s. Anm. 18), 192.

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ÜBER DIE WACHSTUMSNOTIZEN IN DER APOSTELGESCHICHTE

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herstellen können, sondern die allein Gott verleihen kann.38 Indem Lukas gezielt von der Fruchtbarkeit und dem Wachstum anstelle einer einfachen Verbreitung des Wortes spricht, macht er ganz deutlich, dass dieses Wachstum des Wortes Gottes ganz allein Gott zum Urheber hat und haben kann. Der Begriff der „Fruchtbarkeit“ ordnet das „Wort Gottes“ in den Bereich der lebendigen Schöpfung ein. Auch Totes kann in gewisser Weise vermehrt werden, doch allein Lebewesen können fruchtbar sein. So ist an dem Votum von März und Haenchen festzuhalten: Das Wort „erscheint wie ein lebendiges Wesen: ‚Es wächst‘ wie das Kind, wie Pflanzen und Samen“.39 Gleichzeitig beschreibt das aus der Fruchtbarkeit resultierende „Wachsen“ einen natürlichen, andauernden (αὐξάνω im Imperfekt), aktiven Prozess40 des Lebewesens, die Entfaltung der ihm innewohnenden Fruchtbarkeit auf ein bereits in ihm selbst angelegtes qualitatives wie quantitatives Ziel hin, die Frucht.41 Zum dritten ist im Begriff der „Fruchtbarkeit“ als einer qualitativen Eigenschaft aber auch bereits das Element der potentiellen Gefährdung enthalten. Um seine Fruchtbarkeit tatsächlich entfalten zu können, braucht der Same auch die entsprechenden Rahmenbedingungen.42 Auch diese gibt oder verwehrt zwar nach atl. Zeugnis Gott selber (Ps 107,33–37),43 zerstörerisch wirken kann dabei jedoch auch der Mensch. Zudem bleibt das unauflösbare Mysterium zurück, dass selbst dort, wo alle Rahmenbedingungen stimmen, Vgl. Kedar-Kopfstein, Art. „‫( “פּרה‬s. Anm. 30), 745, der darauf hinweist, dass ‫ פּרה‬im Hif’il (fruchtbar machen) im Alten Testament nur mit Gott im Subjekt begegnet; vgl. dazu auch das wichtige Begleitthema der „Unfruchtbarkeit“ in der Genesis, das die Souveränität Gottes über Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit verdeutlicht. Vgl. Claus-Peter März, Das Wort Gottes bei Lukas. Die lukanische Worttheologie als Frage an die neuere Lukasforschung, EThSt 11, Leipzig 1974, 17; Ernst Haenchen, Die Apostelgeschichte, KEK NT III, Göttingen 151968, 217; vgl. auch Arthur Just, Luke 9:51–24:53, ConCom, St. Louis, MO, 1997, 545: „God built into his creation the miraculous power of a seed to grow.“ Vgl. Günther, Art. „Wachsen“, (s. Anm. 35), 1339. Vgl. Kedar-Kopfstein, Art. „‫( “פּרה‬s. Anm. 30), 742.746. Als atl. Paradigma für den Zusammenhang zwischen Pflanze, Land und Frucht kann etwa Ps 1,3 gesehen werden: „Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit.“ Vgl. Kedar-Kopfstein, Art. „‫( “פּרה‬s. Anm. 30), 749.

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NIKLAS BRANDT schlechte Früchte entstehen können (vgl. etwa das Klagelied über den Weinberg in Jes 5, ebenso Ez 17 und 19). Wenn Lukas so vom „Wachstum“ des Wortes spricht und dabei auszugehen ist, dass er an den alttestamentlichen, qualitativen Gebrauch von αὐξάνω im Sinne von Fruchtbarkeit anknüpft, so ist anzunehmen, dass dabei zwar auch das zahlenmäßige Wachstum der Gemeinde als des neuen Gottesvolkes im Blick ist, vielmehr aber das zunehmende, auf Frucht ausgerichtete Wirken des Wortes in den Menschen. Diese Fruchtbarkeit ist zwar im Wort als einer Art lebendiges Wesen selbst bereits angelegt und dringt aus ihm hervor, es braucht dafür aber auch dem Worte zuträgliche, von Gott gegebene Rahmenbedingungen, in denen das Wort wachsen kann. Gibt Gott diese nicht oder werden sie durch den Menschen zerstört, kann das Wort nicht wachsen oder wird zumindest in seinem Wachstum eingeschränkt. Doch auch da, wo offenbar alle Rahmenbedingungen zusammenkommen, ist daran zu denken, dass dieses Wachstum des Wortes ein den Menschen unverfügbares Mysterium bleibt.

3.2 Die lukanischen Gleichnisse vom Wachstum I – Das Gleichnis vom Senfkorn (Lk 13,18f.) Zwei weitere potentielle Hintergründe finden sich in den beiden Gleichnissen vom Wachsen im Lukasevangelium: Dem Gleichnis vom Sämann (Lk 8,4–15) sowie dem Gleichnis vom Senfkorn (Lk 13,18–19). Beide Gleichnisse sind zwar sowohl über die generelle Thematik des Wachsens als auch über konkrete Stichwortverknüpfungen (αὐξάνω im Gleichnis vom Senfkorn, ὁ λόγος τοῦ θεοῦ im Gleichnis vom vierfachen Acker) mit den Wachstumsnotizen verbunden, im Gleichnis vom Senfkorn geht es dabei jedoch nicht um das Wort Gottes, sondern vielmehr um das Reich Gottes. Dies hat dazu geführt, dass gerade dieses Gleichnis in der Forschung nicht immer als Verständnishintergrund mitberücksichtigt wurde. Dagegen haben verschiedene Ausleger darauf aufmerksam gemacht, dass das Reich Gottes bei Lukas aufs Engste mit dem Wort Gottes verbunden ist, insofern das Reich Gottes wesentlicher Gegenstand der Verkündigung und damit des

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ÜBER DIE WACHSTUMSNOTIZEN IN DER APOSTELGESCHICHTE Wortes Gottes ist.44 Diese Verbindung zeigt sich auch in der Apostelgeschichte, insofern Lukas bewusst von der Verkündigung des Reiches Gottes an deren Anfang (1,3) und an deren Ende (28,30) spricht und diese damit der Apostelgeschichte einen Rahmen verleiht. So deuten manche Ausleger das Senfkorn im Gleichnis sinngemäß auf das Wort Gottes aus, auch wenn davon nicht explizit die Rede ist.45 Von diesen Beobachtungen her scheint sich doch nahezulegen, dieses Gleichnis als einen Verständnishintergrund für die Wachstumsnotizen in Erwägung zu ziehen. Zusammen mit dem Gleichnis vom Sauerteig begegnet das Gleichnis vom Senfkorn als eine Einheit am Ende des 1. Abschnittes des sogenannten Reiseberichtes bei Lukas.46 Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie die einzigen beiden expliziten Reich-Gottes-Gleichnisse bei Lukas sind. 47 Mit diesem Stichwort rahmt Lukas zusammen mit den Worten im Abschnitt von der Nachfolge (9,57–62) einen Abschnitt (9,51–13,21), der ganz wesentlich die Nähe und das Kommen des Reiches Gottes und damit verbunden „Jüngerschaft und Mission“ zum Thema hat. 48 Nachdem zuvor verschiedentlich vom Reich Gottes die Rede war,49 wird dieser Abschnitt durch eine gleichnishafte Rede vom Reich Gottes beschlossen.50 Gegenüber den Parallelen fällt auf, dass Lukas mit der Frage in V. 18 eher der Version des Markus ähnelt, in V. 19 dagegen deutlich engere Parallelen zu Mat-

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Vgl. Zingg, Wachsen (s. Anm. 3), 102. François Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Lk 9,51–14,35), EKK III/2, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1996, 424, und Otto Michel, Art. κόκκος, ThWNT III (1938), 811. Schnelle, Einleitung (s. Anm. 12), 320. Vgl. Eckhard Rau, Reden in Vollmacht. Hintergrund, Form und Anliegen der Gleichnisse Jesu, Göttingen 1990, 111. Vgl. Schnelle, Einleitung, 320; Pokorný/Heckel, Einleitung (s. Anm. 8), 490; François Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Lk 1,1–9,50), EKK III/1, Zürich/NeukirchenVluyn 1989, 15. Im Zusammenhang mit Nachfolge (9,60.62), der Aussendung der 70/72 (10,9.11), des Vaterunser (11,2: „Dein Reich komme“), Jesu Rede über die bösen Geister (11,17– 20) sowie dem Abschnitt über das Sorgen (12,31f.). Im Folgenden konzentriere ich mich um der Stringenz und um des Platzes willen auf das Gleichnis vom Senfkorn.

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NIKLAS BRANDT thäus aufweist.51 Gleichwohl verändert Lukas gegenüber Matthäus diesen zweiten Teil in einigen wichtigen Details. Es fehlen gegenüber Matthäus (und Markus) die Vergleiche des Senfkorns und des daraus entstandenen Baumes zu anderen Gewächsen. Anders als bei Matthäus und Markus ist zudem das „Zelten“ in den Zweigen bzw. im Schatten der Zweige, was allgemein vom AT her auf die Hinzufügung der Heiden gedeutet wird, nicht extra als die beabsichtigte Folge hervorgehoben, sondern begegnet eher als eine Begleiterscheinung aus dem Wachstumsprozess.52 So liegt die Betonung bei Lukas auf dem gleichmäßigen, natürlichen, „unwiderstehlichen“53 und zugleich wundersamen54 und verborgenen55 Prozesses, dass ein Senfkorn, das auf die Erde geworfen wird, eben fruchtbar ist und wächst (αὐξάνω), zu einem Baum wird und die Vögel in den Zweigen Schutz finden. Lukas nimmt darüber hinaus eine ganz wesentliche Veränderung gegenüber seinen Parallelen vor: So spricht Lukas nicht vom Acker oder von der Erde, sondern vom „Garten“ (κῆπος), in den das Senfkorn fällt. Mit diesem seltenen Begriff wird gemeinsam mit dem Wort δένδρον („Baum“) statt λάχανον („Pflanze“) wie bereits oben der atl. Schöpfungshintergrund wachgerufen.56 Denn κῆπος steht in der LXX zumeist für den paradiesischen Garten Eden, jenen ‫גַּן‬, in dem Adam und Eva am Anfang der Schöpfung lebten (13x in Gen 2–3), und dessen Wiederkehr, zusammen mit dem neuen, eschatologischen Weltenbaum, in dem die

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In der Forschung wird das Doppelgleichnis der sog. Quelle „Q“ zugerechnet, wobei Lukas die ursprüngliche Q-Variante bewahrt habe. Zum atl. Hintergrund des „Zeltens“ der Vögel im „Weltenbaum“ und der Deutung auf die Völker bzw. auf das Gottesreich insgesamt vgl. Reinhardt, Wachstum (s. Anm. 30), 120–125; vgl. dazu auch im Kontext Lk 13,28f. Bovon, Lk 9,51–14,35 (s. Anm. 45), 415. Vgl. Wolfgang Wiefel, Das Evangelium nach Lukas, THNT III, Berlin 1988, 258. Vgl. Just, Luke 9:51–24:53 (s. Anm. 39), 545. Auch Bovon, Lk 9,51–14,35 (s. Anm. 45), 415–417, hält κῆπος für redaktionell, führt es jedoch stärker auf den hellenistisch-städtischen Hintergrund zurück, auch wenn er die Anspielung auf das Paradies ebenfalls sieht.

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ÜBER DIE WACHSTUMSNOTIZEN IN DER APOSTELGESCHICHTE Vögel nisten (vgl. insb. Ez 17 und 31), ein zentrales Motiv in den Heilsverkündigungen der Propheten.57 Damit hebt Lukas die für ein Senfkorn ungewöhnlich positiven Rahmenbedingungen des Wachstums58 hervor und steigert in dieser Weise die Gewissheit des Wachstums: Ist das Senfkorn als Wildpflanze schon auf schlechtem Boden fruchtbar, wieviel mehr wird es in dem angelegten und gepflegten Garten des Sämanns selbst („seinem Garten“) fruchtbar sein und gedeihen. So verwundert nicht, dass Lukas dann auch durch die Auslassung des von Mt und Mk wiedergegebenen, (zumindest zeitlich) einschränkenden ὅταν keinerlei Zweifel an der Zuverlässigkeit des Wachstums lässt.59 Im Blick auf das Wachstum des Reiches Gottes geht es auch hier nicht in erster Linie um den besonderen Kontrast hinsichtlich der Größe60 oder die besondere Schnelle des Wachstums des Reiches Gottes (wenn auch beides im Bild des Senfkorns enthalten ist), sondern um die Gewissheit seines Wachstums bei aller Unscheinbarkeit und Verborgenheit hin zu seiner eschatologischen Vollendung. Damit antwortet das Gleichnis auf das zögernde Verhalten der Nachfolger zu Beginn dieses Teils in 9,57–62 und begegnet gleichzeitig als Zusage der Erfüllung der zweiten Vaterunser-Bitte in 11,2.61

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Zions „Wüste wird wie der Garten des HERRN sein“ (Jes 51,3); „Israels Seele wie ein bewässerter Garten“ (Jer 31,12) und das „Land wie der Garten Eden“ (Joel 2,3; Ez 36,35); zu der Änderung von Zeder zum Senfkorn, vgl. Bovon, Lk 9,51–14,35 (s. Anm. 45), 416. Senf ist eine Wildpflanze, die in der Regel auf Feldern wächst, vgl. Bovon, Lk 9,51– 14,35 (s. Anm. 45), 414; nach Karl Heinrich Rengstorf, Das Evangelium nach Lukas, NTD III, Göttingen, 81958, 171, ist Senfanbau im Garten in Palästina sogar verboten. Vgl. Hans Klein, Das Lukasevangelium, KEK.NT I/3, Göttingen 102006, 483f.: „Der Gedanke ist: In dem kleinen Körnchen steckt bereits alles, was der späteren Entfaltung der Gottesherrschaft dient“, mit Verweis auf die Wachstumsnotizen der Apostelgeschichte! Gegen Joachim Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 81970, 147. Rau, Reden in Vollmacht (s. Anm. 47), 153: „Und so ist auch hier die Gottesgewißheit das Fundament, auf dem das Gleichnis ruht“, vgl. auch Wiefel, Lukas (s. Anm. 54), 258.

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NIKLAS BRANDT Wenn nun Grund zu der Annahme besteht, dass auch dieses Gleichnis als Verständnishintergrund der Wachstumsnotizen gelten kann, so scheint dies darauf hinzudeuten, dass Lukas in den Geschehnissen der Apostelgeschichte nicht allein die Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen über das neue Wachsen des Volkes Gottes sieht, sondern dass sich im Wachsen des Wortes bereits das vollzieht, was Jesus über das Reich Gottes verkündet hatte. Dabei wird durch den Hintergrund dieses Gleichnisses noch einmal zugespitzt wachgerufen, dass dieser Prozess sich mit der Apostelgeschichte bereits deshalb zu vollziehen beginnt, weil es bei aller Verkündigung durch die Menschen Gott selbst es ist, der nicht allein dem Wort seine schöpferische Kraft beilegt, sondern der auch selbst durch die Ausgießung des Geistes die idealen Rahmenbedingungen schafft, in denen das Wort Gottes wie ein Senfkorn fruchtbar sein kann. Auch wenn die Größe des Baumes und die Schnelligkeit des Wachstums im Senfkorn-Gleichnis zugunsten der festen Zuverlässigkeit, dass das Reich Gottes in der Verkündigung des Wortes gewiss kommt, zurücktreten, so erfüllt sich gerade in der Apostelgeschichte in dem raschen quantitativen Wachstum und der qualitativen Einheit und Gottesfurcht der Gemeinde in der ersten Zeit (Kapitel 1– 4) auch dieser Aspekt des Gleichnisses bereits punktuell sichtbar und zeigt, welche Kraft das Wort Gottes haben kann, wo er selbst in der Gabe seines Geistes die entsprechenden Rahmenbedingungen schafft. Das Gleichnis mahnt jedoch, dass sichtbare Größe, Schnelligkeit und Intensität immer sekundär und für den Menschen unverfügbar bleiben und ruft zum Vertrauen dazu auf, dass Gott selbst dann, wenn dieses nicht in gleicher Weise sichtbar ist wie in den ersten Kapiteln der Apostelgeschichte, gewiss sein Reich im Verborgenen baut, wo er durch Menschen sein Wort sät.

Der quantitative Impetus, den Reinhardt, Wachstum (s. Anm. 30), 128 in der „ursprünglichen Fassung des Senfkorngleichnisses beim historischen Jesus“ angelegt sieht, tritt dagegen in der Fassung im Lukasevangelium gerade zurück.

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ÜBER DIE WACHSTUMSNOTIZEN IN DER APOSTELGESCHICHTE

3.3 Die lukanischen Gleichnisse vom Wachstum II – Das Gleichnis vom vierfachen Acker (Lk 8,4–15) Als letzter potenzieller Verständnishintergrund für die Wachstumsnotizen soll noch das Gleichnis vom vierfachen Acker und insbesondere seine Auslegung betrachtet werden. Dieses Gleichnis besitzt in allen synoptischen Evangelien eine exponierte Stellung. Während es bei Markus und Matthäus den Auftakt in die Gleichnisrede bildet (Mk 4/Mt 13), steht es bei Lukas am Beginn eines Abschnittes, der das Wort Gottes zum zentralen Gegenstand hat (8,1–21).62 Dieser Abschnitt ist zudem eingefügt in einen größeren Zusammenhang von Heilungen, die über das Thema des rettenden Glaubens verbunden sind (bereits 7,1–10, vor allen Dingen aber 7,36–8,56). Seine exponierte Stellung verdankt sich zusätzlich der Tatsache, dass es das erste und bei Lk und Mk auch einzige Gleichnis ist, dem eine allegorische Auslegung beigefügt wird. Bei Markus wird es damit zum paradigmatischen Gleichnis: „Versteht ihr dies Gleichnis nicht, wie wollt ihr dann alle anderen verstehen?“ (Mk 4,9). Dieser Ausspruch Jesu findet sich bei Lukas zwar nicht. Doch auch bei ihm besitzt die Auslegung eine paradigmatische Funktion, wie Jesus in der Beantwortung der Frage, was das Gleichnis denn bedeute, als Einleitung zur Auslegung deutlich macht: „Euch ist es gegeben, die Geheimnisse (μυστήρια) des Reiches Gottes zu erkennen, den anderen aber in Gleichnissen.“ Die Auslegung führt die Jünger im Gegenüber zum Volk in die Bedeutung der prinzipiell unverständlichen Gleichnisse und damit in die Geheimnisse des Reiches Gottes ein. Beide Gleichnisse sind somit auch über die Thematik des Reiches Gottes miteinander verbunden. Während ersteres das Geheimnis des Reiches Gottes veranschaulicht und die Gewissheit seines Wachstums beschreibt, verdeutlicht letzteres, insbesondere durch seine Auslegung, wie dieses in der Fruchtbarkeit und im Wachstum des Wortes geschehen wird.63 Vielmehr als um die reine Fruchtbarkeit (αὐξάνω, was in diesem Gleichnis nicht begegnet), die implizit im Gleichnis mitgedacht ist, geht es hier ganz um die

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Vgl. Bovon, Lk 1,1–9,50 (s. Anm. 48), 403. Vgl. auch Wiefel, Lukas (s. Anm. 54), 159.

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NIKLAS BRANDT Frage, unter welchen äußeren Bedingungen der Same bzw. das Wort sein Ziel erreicht und Frucht bringt. 64 In der Qualität des Samens wird dabei keine Binnendifferenzierung vorgenommen wie bei Matthäus und Markus, sie ist überall dieselbe.65 Was die Frucht ist, die das Wort wirkt, wird durch den Zusatz in Lk 8,12 deutlich: „Danach kommt der Teufel und nimmt das Wort aus ihren Herzen, damit sie nicht glauben und gerettet werden.“ Die Frucht des Wirkens des Wortes ist somit der Glaube, aus dem – dies lässt sich auch in den umliegenden Perikopen erkennen – das Heil bzw. die Rettung resultiert. Diese Frucht wirkt das Wort da, wo es die entsprechenden Rahmenbedingungen vorfindet. Bevor jedoch diese Rahmenbedingungen beschrieben werden, werden zunächst drei Szenarien beschrieben, was mit dem Wort passiert, wenn diese Rahmenbedingungen nicht gegeben sind: Wie der Same, dort, wo er kein gutes Land vorfindet, sondern auf den Weg, auf den Fels oder in die Dornen fällt, zertreten wird bzw. die aufgehende Pflanze verdorrt oder erstickt und keine Frucht bringt, so werden auch drei Gefahren für das Wirken des Wortes genannt: Neben dem aktiven Handeln des Teufels, der das Wort wieder aus dem Herzen nimmt, sind es der Boden, die Umgebung des Samens, die keine entsprechende Verwurzelung im Wort zulässt und zum Abfall in Verfolgungszeit führt, sowie die Dominanz der Sorgen, des Reichtums und der Vergnügungen des irdischen Lebens, unter denen der Glaube untergeht. Diesen drei Szenarien steht als viertes nun als Kontrast das Szenario von denen gegenüber, die am Worte festhalten. Dabei rekurriert dieses vierte Szenario auf alle drei vorausgehenden: Dem Herzen, aus dem der Teufel das Wort nimmt, stellt es das gute und schöne Herz gegenüber, mit dem sie das Wort hören und daran im Glauben festhalten. Dem Abfall in der Verfolgungszeit steht die Beständigkeit oder Widerständigkeit gegenüber, die sich im lukanischen Zusatz „in Geduld“ (ὑπομονή) ausdrückt. Und der Fruchtlosigkeit der in den Dornen erstickten

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Statt αὐξάνω begegnet φύω („aufgehen“); damit wird der Fokus tatsächlich stärker auf den Wachstumsprozess als die Fruchtbarkeit gelenkt. Zur hundertfachen Frucht als wundersamer Ernte vgl. Bovon, Lk 1,1–9,50 (s. Anm. 48), 412.

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ÜBER DIE WACHSTUMSNOTIZEN IN DER APOSTELGESCHICHTE Pflanzen (οὐ τελεσφοροῦσιν) steht die beständige Frucht gegenüber, der rettende Glaube.66 Diese Allegorie knüpft damit an das an, was schon in den beiden vorherigen Abschnitten über das Wachsen gesagt wurde. Zwar ist alles im Samen, das heißt, dem Wort, schon angelegt, was es braucht, um hundertfältig Frucht zu bringen, d. h. zum Glauben und damit zur Rettung zu führen, doch entfaltet sich das Wort dort nicht, wo nicht auch die entsprechenden Rahmenbedingungen gegeben sind, sondern dort droht die Gefahr der Zerstörung: Es wird gefressen, zertrampelt, es vertrocknet oder erstickt. Betrachten wir nun die Bedeutung dieses Gleichnisses für das Verständnis der Wachstumsnotizen, so wird dieses Gleichnis als Verständnishintergrund bei einem großen Teil der Exegeten zwar genannt. Von Zingg und Reinhardt wird es auch ausführlich besprochen, allerdings unter der Fragestellung des „Wachsens der Kirche“ bzw. des „Gemeindewachstums“.67 Mir scheint jedoch, dass gerade in der Auslegung des Gleichnisses ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis nicht allein der Stellung und Bedeutung der Wachstumsnotizen, sondern der Anlage der Apostelgeschichte überhaupt liegt. Vergleicht man das Gleichnis mit der Anlage der Apostelgeschichte, wie diese eingangs anhand der Wachstumsnotizen dargestellt wurde, so zeigt sich nun nämlich eine interessante Parallele. Drei Wachstumsnotizen stehen den drei Szenarien der Auslegung des Gleichnisses gegenüber, in denen das Wachstum des Wortes durch den Teufel, Bedrängnisse und Verfolgungen sowie durch die Sorgen und den Reichtum des alltäglichen Lebens gefährdet sind. Vergleicht man nun diese drei Szenarien einmal mit den drei ersten, durch die Wachstumsnotizen gegliederten Teilen der Apostelgeschichte, dann lässt sich eine erstaunliche Entdeckung machen: In umgekehrter Reihenfolge lassen sich dort diese drei Themen als Herausforderungen für die Gemeinde wiederentdecken: So begegnen gegen Ende des ersten Teils der Umgang mit Reichtum und Besitz (Apg 4–5) sowie der Sorge für das irdische Leben (Apg 6) als Anfechtungen und Herausforderungen von innen heraus. Der zweite Teil (Apg 7–12) steht dann 66 67

Vgl. dazu Michael Wolter, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 310. Vgl. Zingg, Wachsen (s. Anm. 3), 76–100; Reinhardt, Wachstum (s. Anm. 30), 103– 116.

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NIKLAS BRANDT ganz im Zeichen der Verfolgung der Gemeinde von außen, die sich im ersten Teil schon angekündigt hatte und von den beiden Martyrien gerahmt wird.68 Nicht ganz so offensichtlich ist die Verbindung des letzten Teils zum ersten Teil der Auslegung des Gleichnisses, da der Teufel selbst hier nicht auftritt. Doch er ist präsent durch die Zauberer und die bösen Geister, die den Aposteln widerstehen und sich gegen das Wort Gottes stellen. Interessanterweise rahmen zwei solcher Begebenheiten diesen Abschnitt: Zum einen zu Beginn die Begebenheit mit Elymas in Apg 13, von dem Lukas schreibt, dass er versuchte, den Statthalter vom Glauben abzuhalten, was exakt dem entspricht, was durch die Wegnahme des Wortes aus dem Herzen der Menschen geschieht.69 So wird er dann von Paulus im Heiligen Geist als Sohn des Teufels angeredet, wodurch eine direkte Stichwortverknüpfung zur Gleichnisauslegung hergestellt wird.70 Zum anderen am Ende des Abschnittes die Begebenheiten in Ephesus, wo viele der Zauberei abschwörten, nachdem sie gläubig geworden waren (Apg 19). Auch dazwischen haben Paulus und seine Begleiter es immer wieder mit dem Wachstum des Wortes widerstreitenden Kräften von allen Seiten zu tun, die den Glauben bekämpfen. Dagegen steht im Zentrum dieses Abschnittes die Frage des Gefängniswärters von Philippi, die auf die in Lk 8,11 beschriebene Frucht des Wortes abzielt: „Was muss ich tun, dass ich gerettet werde?“, die Paulus und Silas beantworten: „Glaube an den HERRN Jesus, so wirst du und dein Haus gerettet!“ (Apg 16,31)71 So widerhallt die Auslegung des Gleichnisses vom vierfachen Acker durch die drei ersten Abschnitte der Apostelgeschichte, wobei dieser Zusammenhang durch die drei Wachstumsnotizen am Ende der Abschnitte jeweils wohl noch einmal ganz bewusst hergestellt wird. Es wäre sicherlich spannend, dem genauen Verhältnis zwischen dem Gleichnis und seiner Auslegung und dem Aufbau der Apostelgeschichte im Detail nachzugehen. Dies scheint mir jedoch eine Aufgabe für sich zu sein, für die hier nicht der Raum ist, sodass ich im Folgenden nur einige grundlegende Gedanken dazu 68 69 70

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Vgl. für den Bezug dieses Teils zu Lk 8 Pesch, Apg 1–12 (s. Anm. 19), 371. Vgl. dazu Zmijewski, Apg (s. Anm. 2), 491f. Der Begriff ὁ διάβολος begegnet bei Lukas außer an diesen beiden Stellen lediglich in einer Rede des Petrus (Apg 10,38) und bei der Versuchung (Lk 4,2–13). Vgl. Reinhardt, Wachstum (s. Anm. 30), 108.

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ÜBER DIE WACHSTUMSNOTIZEN IN DER APOSTELGESCHICHTE entfalten kann, die zum Verständnis der Wachstumsnotizen beitragen mögen und die dann im Rahmen einer genaueren Studie noch einmal eigens zu prüfen wären. In der Apostelgeschichte wird die Gemeinde nun also mit allen drei Umständen konfrontiert, bei denen das Wort nicht auf gutes Land fällt und keine Frucht wirkt. Die Gemeinde weist sich jedoch nach Lukas gerade dadurch als Gottes Gemeinde und als gutes Land aus, nicht, dass sie grundsätzlich immun gegen diese Anfechtungen ist, wie etwa das Beispiel von Hananias und Sapphira zeigt, sondern dass sie sich der Gefahr dieser Umstände für das Wirken des Wortes sehr bewusst sind und diese dementsprechend ernst nehmen. Paradigmatisch zeigt sich dies am Ende des ersten Teils in der Erzählung der Einsetzung der Witwenpfleger (Apg 6,1–6). Hier wird das Wachstum selbst zunächst das Problem (6,1), weil die sozialen Probleme, das heißt die Sorgen des täglichen Lebens „mitwachsen“ (ähnlich den Dornen im Gleichnis). Sie drohen, einen starken Einfluss auf das Wirken des Wortes zu nehmen, es zu „ersticken“, indem die Apostel über dem Sorgen für die Dinge des alltäglichen Lebens das Wort vernachlässigen müssten. Gleichzeitig wissen die Apostel aber auch vor dem Hintergrund des Gleichnisses, dass, solange die Probleme des alltäglichen Lebens bestehen bleiben, diese und der sich daraus ergebende Streit die Einheit der Gemeinde und das Wirken des Wortes ihrerseits behindern könnten.72 So kommen sie zu einer Lösung, die beides verhindert und so exemplarisch zeigt, wie die Gemeinde vom Geist geleitet den kritischen Umständen, vor denen Jesus sie gewarnt hatte, entgegentritt. Die Folge davon ist, dass das Wort Gottes wuchs. Dies bedeutet nun aber nicht, dass das Wachsen und Wirken des Wortes Gottes doch von Menschen abhängt. Vielmehr führt gerade dieses Wirken des Wortes im Heiligen Geist die Gemeinde nach Lukas dahin, dass sie auf die Warnungen ihres Herrn Jesus Christus hört und sich darum bemüht, diesem Wirken Gottes selbst keinen Schaden durch ihr eigenes Handeln zuzufügen.

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Vgl. Schneider, Apg I (s. Anm. 7), 425, wobei hinzuzufügen ist, dass die Wortverkündigung auch dort beeinträchtigt wäre, wo das Murren der Gemeinde weitergeht und der Konflikt nicht gelöst würde.

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NIKLAS BRANDT Ganz ähnlich verhält es sich dann auch mit dem zweiten und dritten Teil. Waren es im ersten Teil innere Streitigkeiten, so kommt im zweiten Teil die Bedrohung des Wortes Gottes in Form von Bedrängnis und Verfolgung von außen. Das Wort Gottes aber wuchs trotzdem, indem und weil die Gemeinde, geleitet vom Heiligen Geist die Verfolgung ertrug, am Wort Gottes festhielt und sich, wie das Beispiel des Hananias (Apg 9) oder des Petrus (Apg 10) zeigt, von Gott dahin führen lässt, wo sie nicht von sich aus hingegangen wäre. Die Verfolgung kann damit sogar der Verbreitung des Wortes Gottes dienlich sein, indem die Christen durch die Zerstreuung das Wort Gottes, von Gott geleitet, an neue Orte (Antiochia) und zu neuen Menschengruppen (Heiden) bringen.73 Die zweite Wachstumsnotiz nimmt dies auf, indem sie einen kleinen Kontrast zum Schicksal der Verfolger markiert: Die Verfolger sterben einmal, wie Herodes Agrippa (12,23), das Wort Gottes aber wächst weiter, weil es nicht das Werk der Menschen, sondern Gottes Wort ist. Auch die Wachstumsnotiz des dritten Teils ist leicht verändert, denn dort heißt es: „So wuchs das Wort des HERRN“ (19,20). In dieser wird nun noch einmal zurückgeschaut, wie das Wort des HERRN auf den Missionsreisen in der Verkündigung des Evangeliums Glaube und Rettung gegen alle Widerstände hervorbrachte und dazu führte, dass die Menschen sich von dem, was diesem Evangelium entgegenstand, trennten, um sich das Wort Gottes nicht wieder aus dem Herzen rauben zu lassen. Das Wort Gottes, die Botschaft des Evangeliums wächst so in der Apostelgeschichte durch alle inneren und äußeren, menschlichen wie dämonischen Anfechtungen hindurch, weckt Glaube und schafft Rettung, weil es das Wort Gottes ist und Gott selbst durch die Gabe seines Geistes (Apg 2) in den Menschen die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür schafft, dieses Wort in sich aufzunehmen, an ihm festzuhalten und Frucht zu bringen. Dies geschieht aber gerade eben auch darin, dass die Gemeinde, geleitet vom Heiligen Geist, sich darüber bewusst ist, dass sie zu diesem Wachstum nichts beitragen, ihm aber selbst durch ihr zerstörerisches Handeln im Weg stehen kann. Daher sehen wir, wie die

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Vgl. Jervell, Apg (s. Anm. 10), 337, der meines Erachtens allerdings etwas zu scharf formuliert, wenn er sagt: „Verfolgungen können der Gemeinde nur dienen“.

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ÜBER DIE WACHSTUMSNOTIZEN IN DER APOSTELGESCHICHTE Gemeinde darauf Acht gibt, die Mahnungen ihres Heilandes ernst zu nehmen, und sich ganz in den Dienst seines Wortes stellt.

4. Der Abschluss der Apostelgeschichte – ein unerwartetes Ende Drei Teile der Apostelgeschichte haben wir uns nun angeschaut und ihre Verbindungen zum Gleichnis in Lk 8,4–15 aufgezeigt. Doch was ist mit dem letzten Teil? Dieser Teil, der Weg des Paulus nach Rom ist anders, und er hört anders auf. Bei seiner Ankunft in Rom hören wir ihn noch einmal sprechen, nachdem er mit den Juden von Rom geredet hatte. Wir hören ihn sprechen mit einem Zitat aus Jesaja 6: „Mit Recht hat der Heilige Geist durch den Propheten Jesaja zu euren Vätern gesprochen: ‚Geh hin zu diesem Volk und sprich: Mit den Ohren werdet ihr’s hören und nicht verstehen; und mit den Augen werdet ihr’s sehen und nicht erkennen. Denn das Herz dieses Volkes ist verstockt und ihre Ohren hören schwer und ihre Augen sind geschlossen, damit sie nicht etwa mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren, und ich ihnen helfe.‘“ (Apg 28,25–27)

Es ist keine Wachstumsnotiz – und dennoch findet sich auch hier ein Bezug zum Gleichnis vom vierfachen Acker. Denn es handelt sich gerade um jene Worte, die bei Lukas bereits in dem Vers angespielt waren: „damit sie es nicht sehen, auch wenn sie es sehen, und nicht verstehen, auch wenn sie es hören.“ (Lk 8,10) So nimmt Lukas mit diesem Zitat noch einmal einen letzten Rückbezug zum Gleichnis vom vierfachen Acker. Bei diesem Zitat handelt es sich um den sogenannten Verstockungsauftrag aus dem Jesaja-Buch. Doch sowohl Lukas als auch Matthäus zitieren diesen in der LXX-Fassung. Damit kommt eine entscheidende Wendung hinein: Es wird von den Evangelisten hier lediglich festgestellt, dass

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NIKLAS BRANDT diese Verstockung besteht.74 Über den Urheber hören wir an dieser Stelle nichts. Die Verstockung wird weder auf das Volk noch auf Gott zurückgeführt. Vielmehr konstatiert Paulus hier das Offensichtliche, dass zumindest ein Teil der Juden das Evangelium nicht annimmt, 75 und erkennt darin die Erfüllung einer alttestamentlichen Prophezeiung.76 Während die Wachstumsnotizen zeigen, wie Gott das Wachstum seines Wortes durch den Heiligen Geistes ermöglicht, schützt und in seiner Kirche durch innere Nöte, äußere Verfolgung und gegen das Wirken des Teufels hindurch erhält und wachsen lässt, bleibt am Ende nun doch die Feststellung, dass auch dort, wo eigentlich alle Rahmenbedingungen gegeben sind für das Wirken des Wortes, immer noch Verstockung festzustellen ist und es nicht alle erreicht, selbst nicht unter den Juden, denen diese Verheißung als ersten gilt. Dies aber ist kein abschließendes Urteil, sondern eine Erkenntnis, die Paulus seinem eigenen Volk wie einen Spiegel vorhält. Es ist das Mysterium des Wortes Gottes, das wir im Blick auf die Fruchtbarkeit seines Wortes im Alten Testament bereits gesehen haben, dass selbst dort, wo scheinbar alles bereitsteht, um an dieses Wort zu glauben, doch keine Frucht begegnet, während an anderen Stellen, wo keine Frucht zu erwarten ist, Gott Früchte aus dem Nichts schaffen kann. Die Apostelgeschichte hört aber damit nicht auf. Vielmehr führt die Tatsache der Erkenntnis der Verstockung zu zwei maßgeblichen und befreienden Folgen: Zum einen hebt sie den Unterschied zwischen Juden und Heiden auf. Dieses Zitat ist nicht so zu verstehen, dass es hier zu einem Austausch kommt, insofern nur noch den Heiden das Wort gesagt wird und gilt und allein sie es hören und 74

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Daher ist mit Roloff, Apg (s. Anm. 18), 374, eher von einer „Verstockungsansage“ zu sprechen. Vgl. Volker Stolle, Der Zeuge als Angeklagter. Untersuchungen zum Paulus-Bild des Lukas, BWANT 102, Stuttgart 1973, 249, Fußnote 61: „Die Frage nach der heilsgeschichtlichen Kontinuität wird allein im Blick auf das Judentum gestellt, sofern es Jesu Botschaft ablehnt.“ Wichtig ist hierbei, dass diese Ansage eine Feststellung über die Verstocktheit Israels ist und nicht etwa ein Auschluss vom Heil. Israel verstockt sich selbst zwar mit dem Ziel, dass Gott es nicht heile, dies bedeutet jedoch nicht, dass Gottes Wort nicht dennoch an ihm wirken kann und das Wort durch ihr verfettetes Herz gehen kann (vgl. Apg 2).

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ÜBER DIE WACHSTUMSNOTIZEN IN DER APOSTELGESCHICHTE glauben werden.77 Vielmehr scheint mir die Aussage über die Verstockung der Juden bzw. eines Teils der Juden in diesem Kontext zu begründen, wieso Paulus sich auch an die Heiden wendet, weil eben dadurch signalisiert wird, dass die Juden im Blick auf die Heils- und Erlösungsbedürftigkeit sich von den Heiden nicht unterscheiden. So werden es nun „auch“78 die Heiden hören. Zum anderen aber bedeutet diese Feststellung: Die Arbeit ist nicht zu Ende. Die Konsequenz aus dieser Feststellung ist nicht etwa Verzweiflung, sondern findet sich nach Lukas gerade in den letzten beiden Versen: „Paulus aber blieb zwei volle Jahre in seiner eigenen Wohnung und nahm alle auf, die zu ihm kamen, predigte das Reich Gottes und lehrte von dem Herrn Jesus Christus mit allem Freimut ungehindert.“ (Apg 28,30–31, Hervorhebung NB)

Paulus verkündet das Evangelium weiterhin allen, Juden wie Heiden.79 Solange die Erde steht, wird es auch immer Verstockung geben, und solange wird die Notwendigkeit, weiter das Evangelium zu sagen, nicht aufhören. Bei allem notwendigen Bemühen der Kirche darum, das, was dem Wachstum des Wortes schaden will, auszuräumen und mit einem feinen und guten Herzen an seinem Wort in Geduld festzuhalten: Wo und wann es schließlich aufgeht und wächst, wird, und das hält Lukas hier noch einmal fest, für die Menschen ein Mysterium bleiben.80

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Diese Annahme besitzt zwar eine lange Wirkungsgeschichte und findet sich in abgeschwächter Form noch in vielen Kommentaren, die nur davon ausgehen, dass „einzelne“ Juden zum Glauben kommen können (vielleicht am schärfsten bei Jervell, Apg (s. Anm. 10), 629, in ähnlicher Form aber auch bei Schneider, Pesch oder Zmijewski). Dagegen mit Stolle, Zeuge (s. Anm. 75), 249, Fußnote 60. Die Nachstellung des καὶ in V. 28 legt nahe, hier eher im Sinne von: „Sie auch werden (es) hören“, zu übersetzen. Dass „alle“ bereits früh in diesem Sinne verstanden wurde, zeigt sich daran, dass einige westliche Textzeugen an dieser Stelle Ἰουδαίους τε καὶ Ἕλληνας ergänzen. Vgl. Arthur Just, Luke 1:1–9:50, ConCom, St. Louis, MO, 1996, 347.

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Die Heilige Schrift im Gottesdienst Eine exegetisch-hermeneutische Spurensuche1 Ulrich Heckel Der Geschichte des frühchristlichen Wortgottesdienstes galt die nach wie vor grundlegende Dissertation des Jubilars, den ich mit diesem Beitrag herzlich grüße.2 Zu den wesentlichen Bestandteilen des Wortgottesdienstes gehörte von Anfang an die Schriftlesung.3 Der Bedeutung der Heiligen Schrift im frühchristlichen Gottesdienst soll darum auch dieser Festschriftbeitrag gewidmet sein. Die Heilige Schrift der Christen ist die Bibel, die aus zwei Teilen besteht, dem Alten und dem Neuen Testament.4 1

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Dieser Beitrag dient zugleich als Einführung in die Stuttgarter Erklärungsbibel zur revidierten Fassung der Lutherbibel von 2017, wurde für diese Festschrift aber erweitert durch Belege und Literaturangaben. Jorg Christian Salzmann, Lehren und Ermahnen. Zur Geschichte des christlichen Wortgottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten, WUNT II/59, Tübingen 1994. Vgl. Salzmann, Lehren (s. Anm. 2), 534 s. v. Schriftlesung; Hans-Joachim Eckstein, Gottesdienst im Neuen Testament, in: ders./Ulrich Heckel/Birgit Weyel (Hg.), Kompendium Gottesdienst, UTB 3630, Tübingen 2011, 22–41, hier 24–27. Vgl. zum Ganzen Gunther Wanke/Eckhard Plümacher/Wilhelm Schneemelcher, Art. Bibel I–III, TRE VI, 1980, 1.9f.25–28; Petr Pokorný/Ulrich Heckel, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, UTB 2798, Tübingen 2007, 32ff.; Ingolf U. Dalferth, Wirkendes Wort. Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie, Leipzig 2018, 177–207.356–377; Ulrich Heckel, Das Buch der Bücher als Autorität und Gegenstand der Verehrung, MdKI 70, 2019, 30–37; Konrad Schmid, Theologie des Alten Testaments, NThG,

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DIE HEILIGE SCHRIFT IM GOTTESDIENST

1 Die Bezeichnungen Das deutsche Wort „Bibel“ ist von lat. „biblia“ abgeleitet, das seinerseits ein Lehnwort von griech. „ta bíblia“ ist (die Bücher; Joh 21,25). Das Wort bezeichnete ursprünglich den Bast der Papyrusstaude aus dem Nildelta in Ägypten, dann das daraus hergestellte Schreibmaterial und schließlich das Schriftstück, den Brief (z. B. den Scheidebrief Mk 10,4), das Buch. Im Neuen Testament wurden dem jüdischen Sprachgebrauch folgend für einzelne biblische Bücher die Worte „bíblos“5 oder die Verkleinerungsform „biblíon“6 gebraucht. Seit dem 2. Jh. v. Chr. wurde der Ausdruck für Bücher des späteren Alten Testaments verwendet (Dan 9,2; 1 Makk 12,9), seit dem Kirchenvater Johannes Chrysostomus (4. Jh.) auch für die zweiteilige christliche Bibel aus Altem und Neuem Testament. So umfasst die Bibel eine ganze Bibliothek von Büchern, die jeweils für sich entstanden sind, dann gesammelt wurden und später in den biblischen Kanon gelangten. Das Wort „Bibel“ ist daher zunächst einmal eine literarische Bezeichnung für das Buch der Bücher. Wird die Bibel „Heilige Schrift“ genannt, so handelt es sich um einen theologischen Begriff, der auf ihren Gebrauch als maßgebliche Autorität in der Kirche hinweist. Dieser Ausdruck findet sich im Neuen Testament nur zweimal (Röm 1,2; 2 Tim 3,15) und bezieht sich hier – wie im jüdischen Sprachgebrauch (1 Makk 12,9; Philo; Josephus) – auf die Schriften des Alten Testaments. Ab Mitte des 2. Jh.s wird er auch für neutestamentliche Schriften verwendet. Das Adjektiv „heilig“ bringt zum Ausdruck, dass in diesen Schriften Gott selbst zu Wort kommt. Gott tut dies durch Menschen, nämlich die Propheten.7 Deren Reden ist vermittelt durch den Heiligen Geist,8 der in der Schrift spricht (Hebr 3,7; 10,15) durch David 9 und durch die Propheten (Apg 28,25; 2 Petr 1,21). Nichts anderes ist

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Tübingen 2019, 53–79.382–398; Konrad Schmid/Jens Schröter, Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften, München 32020. Mt 1,1; Mk 12,26; Lk 3,4; 20,42; Apg 1,20; 7,42. Gal 3,10; Lk 4,17; Joh 20,30. 2 Sam 7; 12; Lk 1,70; Apg 3,18.21; Röm 1,2; 9,25; Hebr 1,1. 4 Mose 11,29; Jes 42,1; 48,16; 61,1; Sach 7,12. Apg 1,16; 4,25; vgl. Mk 12,36; 2 Sam 23,2.

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ULRICH HECKEL gemeint, wenn diese Schriften von Gott eingegeben sind (2 Tim 3,16). Sie haben eine besondere Autorität, weil darin Gottes Wille zur Sprache kommt. Deshalb werden sie nach dem babylonischen Exil seit Esra (um 400 v. Chr.) als Schriftlesung im Gottesdienst verwendet.10 Jüdische Ausdrucksweise übernehmend wird im Neuen Testament auf die „Schrift(en)“ insgesamt,11 auf Schriftteile (Mt 26,56) oder auf einzelne Schriftstellen verwiesen (Mk 12,10; Lk 4,21; Joh 19,37), das Ganze zusammenfassend aber auch einfach „die Schrift“ genannt.12 Die Bezeichnungen „Altes“ und „Neues Testament“ für die beiden Teile der Bibel sind christliche Wortprägungen aus der Zeit der Alten Kirche, die auf die lateinische Übersetzung für den „alten“ und den „neuen Bund“ in 2 Kor 3,6.14 zurückgehen.13 Dort sind jedoch weder der „alte Bund“ (Bundesschluss vom Sinai) noch das heutige „Alte Testament“ gemeint, sondern die fünf Bücher Mose (1–5 Mose), die im jüdischen Synagogengottesdienst als Schriftlesung verwendet werden. Auch mit dem „neuen Bund“ ist nicht die Schriftensammlung des Neuen Testaments gemeint, die es bei der Abfassung des 2. Korintherbriefs noch gar nicht gab, sondern eine neue, heilvolle Setzung bzw. Verfügung Gottes – so erstmals in Jer 31,31–34.14 Erst Bischof Melito von Sardes (um 160/180 n. Chr.) erwähnt „die Bücher des Alten Testaments“. Gegen Ende des 2. Jh.s sind „Altes“ und „Neues Testament“ als neue, zugleich verbindende wie unterscheidende Bezeichnungen für die beiden Teile der christlichen Bibel weit verbreitet (Clemens von Alexandrien; Origenes; Tertullian). Dabei klingt die rechtstechnische Bedeutung „Testament“ als einer schriftlich niedergelegten letztwilligen Verfügung an, die das griechische Wort für den Bund (diathḗkē) schon im biblischen Sprachgebrauch einschloss (Gal 3,15–18; Hebr 9,16–17). Das Adjektiv „neu“ soll das Alte Testament nicht als veraltet abwerten, sondern nimmt die prophetische Ankündigung eines neuen Bundes auf (Jer 31,31–34) und bekräftigt die endgültige, endzeitlich 10 11 12 13

14

5 Mose 31,10–13; Neh 8,1–8; Lk 4,16–21; Apg 13,15; 15,21; 2 Kor 3,14–15. Mk 12,24; Lk 24,27.32.45; Joh 5,39; Röm 15,4; 1 Kor 15,3.4 u. ö. Joh 2,22; Röm 4,3; Gal 3,8.22; 1 Tim 5,18 u. ö. Vgl. Ulrich Heckel, Alter und neuer Bund. Zur Bedeutung dieses Gegensatzes in der biblischen Überlieferung, in: Christine Axt-Piscalar/Andreas Ohlemacher (Hg.), Die lutherischen Duale. Gesetz und Evangelium, Glaube und Werke, Alter und Neuer Bund, Verheißung und Erfüllung, Leipzig 2021, 151–232. Vgl. Lk 22,20; 1 Kor 11,25; Hebr 8,6–13; 9,15; 12,24.

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DIE HEILIGE SCHRIFT IM GOTTESDIENST entscheidende Erneuerung der göttlichen Heilssetzung im Christuszeugnis des Neuen Testaments.

2 Das Alte Testament Das Alte Testament15 besteht beim selben Textumfang nach jüdischer Zählung aus 24 oder 22 Büchern, nach unserer heutigen Zählung aus 39 Schriften,16 die sich in drei Teile gliedern: das Gesetz im jüdischen Sinne der Tora (Weisung), d. h. die fünf Bücher Mose, die Propheten und die übrigen Schriften (Vorrede zu Jesus Sirach V. 1–2.8–10). Der Prozess der Kanonbildung erstreckte sich über mehrere Jahrhunderte. Begonnen haben könnte er etwa ab 700 v. Chr. mit der Abfassung des Deuteronomiums (5 Mose 4,2; 31,9). Abgeschlossen wurde die Kanonisierung der fünf Bücher Mose (Neh 8,1) zur Zeit Esras um 400 v. Chr., der zweite Kanonteil mit den Propheten etwa um 200 v. Chr. und der dritte Teil mit den übrigen Schriften am Ende des 1. Jh.s n. Chr., nach neueren Forschungen frühestens Mitte, eher Ende des 2. Jh.s n. Chr. Als viele Juden in Ägypten den hebräischen Text nicht mehr in der Originalsprache verstanden, wurden die Schriften der Hebräischen Bibel ins Griechische übertragen, die damalige Weltsprache. Die Septuaginta ist das größte Übersetzungswerk der Antike. Sie erfolgte in Alexandria, der Hauptstadt Ägyptens, einem Zentrum griechischer Kultur. Dort lebte eine große jüdische Gemeinde. Die Übersetzung ist im Wesentlichen im 3.–1. Jh. v. Chr. entstanden, zog sich teilweise aber bis ins 1. Jh. n. Chr. hin. Sie begann zunächst mit dem Gesetz (1–5 Mose), erst ab etwa 200 v. Chr. folgten die Propheten und die übrigen Bücher. Sie enthält den Grundbestand der Hebräischen Bibel, außerdem weitere ursprünglich hebräische oder aramäische Schriften, die nicht in die Hebräische Bibel auf15

16

Vgl. Jan Christian Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament, Göttingen 32009; Walter Dietrich, Die Entstehung des Alten Testaments, Stuttgart 2014; Erich Zenger, Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 92016. In der jüdischen Zählweise werden die zwölf kleinen Propheten als ein einziges Buch gezählt, außerdem werden jeweils die Samuel-, Könige- und Chronikbücher zusammengefasst und schließlich Esra und Nehemia. So ergeben sich 24 Bücher. Wenn man darüber hinaus Klagelieder zu Jeremia und Rut zu Richter zählt, sind es 22.

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ULRICH HECKEL genommen wurden (Tob; 1 Makk; Geb Man; Sir), sowie weitere Schriften, die von vornherein auf Griechisch abgefasst waren (Jdt; 2–4 Makk; Weish; Bar; St zu Est; St zu Dan). Die Septuaginta wurde zur Heiligen Schrift der griechisch sprechenden Christen, so dass das Christentum in der Regel von der Heiligen Schrift des Judentums in ihrer griechischen Übersetzung geprägt ist.17 Als die Septuaginta zur Bibel der Christen geworden war, verlor sie im Judentum an Bedeutung und wurde durch andere griechische Übersetzungen verdrängt.

3 Jesus Christus und das Alte Testament Für Jesus und seine Jünger war die jüdische Bibel, das heutige Alte Testament, – ebenso wie für Juden – ihre Heilige Schrift.18 Aus ihr wurden am Sabbat im jüdischen Synagogengottesdienst Abschnitte aus dem Gesetz und den Propheten als Schriftlesung vorgetragen (Lk 4,16–21; Apg 13,15; 15,21; 2 Kor 3,14–15), die fünf Bücher Mose gepredigt (Apg 15,21) und Prophetenabschnitte gedeutet (Lk 4,16– 21). Auch für die ersten Christen besteht die Schrift aus dem Gesetz als Tora (Weisung), d. h. den fünf Büchern Mose, den Propheten und den Psalmen (Lk 24,44), die hier stellvertretend für die übrigen Schriften stehen (Vorrede zu Jesus Sirach V. 1–2.8–10). Der Umfang des alttestamentlichen Kanons stand in neutestamentlicher Zeit im Wesentlichen fest, war an den Rändern aber noch nicht abgeschlossen. So begegnen im Neuen Testament zum einen Zitate aus Schriften, die nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurden (Henoch in Jud 14), zum anderen Schriftzitate, die keiner Schriftstelle zugeordnet werden können 17

18

Vgl. Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hg. v. Wolfgang Kraus/Martin Karrer, Stuttgart 2009, IX–XIII. Zur neueren Diskussion vgl. Karl-Wilhelm Niebuhr, Schriftauslegung in der Begegnung mit dem Evangelium, in: Friederike Nüssel (Hg.), Schriftauslegung, UTB 3991/TdT 8, Tübingen 2014, 43–103, hier 54–69; Manfred Oeming, Der Kampf um das Alte Testament, in: Markus Witte/Jan Christian Gertz (Hg.), Hermeneutik das Alten Testaments, VWGTh 47, Leipzig 2017, 1–40 und im selben Band Oda Wischmeyer, Paulus als Hermeneut der Graphē, a. a. O., 71–94; Schmid/Schröter, Entstehung (s. Anm. 4), 252–286.

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DIE HEILIGE SCHRIFT IM GOTTESDIENST (Joh 7,38; 1 Kor 2,9?; Jak 4,5). Zitiert wird das Alte Testament in der Regel nach der Septuaginta. Jesus zieht die Schrift als unbestritten anerkannte Autorität heran, um ein theologisches Argument einzuführen.19 Auf die Frage „Was soll ich tun?“ (Mk 10, 17) erinnert er an das Bekenntnis zu dem einen Gott (5 Mose 6,4)20 und die Zehn Gebote (2 Mose 20,12–16).21 Auf die Frage nach dem höchsten Gebot (Mk 12,28– 34) zitiert er das Gebot der Gottesliebe aus dem „Höre Israel“ (5 Mose 6,4–5) und das Gebot der Nächstenliebe (3 Mose 19,18) als Zusammenfassung des göttlichen Willens. 22 Schon zu Lebzeiten erscheint Jesus als vollmächtiger Ausleger der Schrift mit einem eigenen autoritativen Anspruch: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: … Ich aber sage euch: …“ (Mt 5,21–48; 7,29). Für die ersten Christen galt das heutige Alte Testament als „Heilige Schrift“ (Röm 1,2; 2 Tim 3,15), die ihnen – wie gesagt – aus dem jüdischen Synagogengottesdienst vertraut war. Da die meisten neutestamentlichen Autoren jüdischer Herkunft oder zumindest judenchristlich beeinflusst sind, verwenden sie die Schrift mit großer Selbstverständlichkeit (Mt; Mk; Lk; Joh), argumentieren mit ihr als Autorität (Röm; Gal; 1–2 Kor; Hebr; 1–2 Petr; Jak) und arbeiten mit vielen Anspielungen (Offb). Haben sie die Schrift als Ganzes im Sinn, verweisen sie auf „die Schrift(en)“, ohne diese einzugrenzen (s. o.). Als umfassenden Oberbegriff können sie auch einzelne Kanonteile nennen: „das Gesetz“ (Mt 5,18; Joh 12,34; Röm 3,19.31) oder „das Gesetz und die Propheten“23 bzw. „Mose und die Propheten“.24 Doch erwähnen sie vor allem „die Propheten“25 und zitieren vielfach aus ihnen,26 da Gott durch sie in der Heiligen Schrift gesprochen hat (s. o.). Diese Hervorhebung der Propheten hat einen tieferen Grund:

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Mt 5,17–48; 12,41–42; Mk 2,25–26; 7,6–7; 10,2–9.19; 12,10–11.24–27.29–31.35–37; Lk 14,3–5. Vgl. 1 Kor 8,4.6; Eph 4,5–6; 1 Tim 2,5; Jak 2,19. Vgl. Mt 5,21.27.28; Mk 7,10; 10,17–19; Röm 7,7; 13,9; Eph 6,2–3; Jak 2,11. Mk 12,28–34; Röm 13,10; Gal 5,6; 1 Tim 1,5. Mt 5,17; 7,12; Lk 16,16; Joh 1,45; Röm 3,21. Lk 16,29.31; 24,27; Apg 26,22; 28,23. Mt 26,56; Lk 18,31; Apg 2,29–36; 3,18–24; 13,27–41. Mt 1,22–23; Mk 1,2–3; Lk 4,17–18; Apg 8,28–32; Röm 9,25–29; 15,12 u. ö.

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ULRICH HECKEL Was die Christen im Alten Testament gesucht haben, waren vor allem Hinweise auf Jesus Christus, den Messias, den Heilsbringer Israels, der von den Schriften sagt: „Sie sind’s, die von mir zeugen“ (Joh 5,39).27 Am pointiertesten formuliert es der Auferstandene in Lk 24,44: „Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose und in den Propheten und Psalmen.“ Immer wieder wird gesagt, dass in Jesu Auftreten und Wirken sich die Schrift „erfüllt“.28 Programmatisch sind die Erfüllungs- bzw. Reflexionszitate im Matthäusevangelium.29 Selbst Mose erscheint nicht nur als Gesetzgeber,30 sondern wird in einem Atemzug mit den Propheten genannt, die das Christusgeschehen angesagt haben.31 So haben die ersten Christen die Schrift ihrer jüdischen Herkunft entsprechend zwar auch als Gesetz aufgefasst, das nach wie vor geistlich, heilig, gerecht und gut ist (Röm 7,12.14), darin aber vor allem nach endzeitlichen und messianischen Ankündigungen geforscht. Am häufigsten angeführt haben sie Worte aus den Psalmen 32 und aus dem Jesajabuch. 33 Auch David galt als vom Heiligen Geist inspirierter Psalmensänger, der das Christusgeschehen vorausgesagt hat.34 Diese Schriftworte haben sie als prophetische Weissagung35 oder Voraussage36 auf Christus gedeutet (Röm 1,2; Gal 3,8.16). Paulus verwendet dafür den Begriff der „Verheißung“. Inhaltlich bezieht er sich vor allem auf die Verheißung an Abraham, die er in Christus verwirklicht sieht (Gal 3,8–4,31).37 Mit Christus sind Gottes Verheißungen aber nicht hinfällig geworden, nicht überholt und erledigt,

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Vgl. Joh 1,45; 20,9; Lk 24,25–27.44–46; Apg 8,28–35; 10,43; 17,2–3.11; 18,28; Röm 1,2; 1 Kor 15,3.4; 1 Petr 1,10–12. Mt 26,54.56; Mk 14,49; Lk 4,21; Joh 13,18; 15,25; 17,12; 19,24.28.36; Apg 1,16; 3,18; 13,32–33. Mt 1,22–23; 2,15.17–18.23; 4,14–16; 8,17; 12,17–21; 13,35; 21,4–5; 27,9. Joh 1,17; Apg 15,5; 2 Kor 3,15 u. ö. Lk 24,27; Joh 1,45; Apg 3,22–23; 7,37 (Zitat 5 Mose 18,15); 26,22–23. Ps 2,7; 110,1; vgl. noch Mk 14,34; 15,24.29.34.36. Jes 7,14; 9,1–6; 11,1–10; 53; 61,1–2. Mk 12,36–37; Apg 1,16; 4,25. Mt 11,13; 26,56; 1 Petr 1,10–11. Röm 9,29; Apg 1,16; 3,18; 7,52; 26,22. Vgl. Röm 1,2; 4,13–21; 15,8; 2 Kor 1,20.

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DIE HEILIGE SCHRIFT IM GOTTESDIENST sondern sie bleiben Ausdruck der Treue Gottes zur Erwählung Israels.38 Die Gabe der Verheißungen kann Gott nicht gereuen (Röm 11,29), vielmehr hat Christus die Verheißungen bestätigt, die den Vätern, konkret Abraham (Gal 3,18; Röm 4,13–21), gegeben sind (Röm 15,8). Sie werden nach dem Zeugnis der Schrift zur Vollendung gelangen, wenn Christus bei seiner endzeitlichen Wiederkunft als Erlöser aus Zion kommen39 und den verheißenen neuen Bund der Vergebung vollenden wird.40 Deshalb kann Paulus mit einer frühen urchristlichen Bekenntnisüberlieferung allgemein ohne Stellenangabe sagen, dass Christus gestorben und auferstanden ist „nach der Schrift“ (1 Kor 15,3.4; vgl. Röm 1,2). Die Schriftgemäßheit des Evangeliums von Jesus Christus nachzuweisen, war ein wesentliches Anliegen der neutestamentlichen Autoren bei der Lektüre des Alten Testaments.41 Damit erscheint das Christusgeschehen als Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen. Mit dem Begriffspaar „Verheißung und Erfüllung“42 werden bis heute nicht nur Bezüge zwischen einzelnen Schriftstellen schon innerhalb des Alten Testaments,43 sondern auch das Verhältnis von Altem und Neuem Testament insgesamt beschrieben. Dabei ist bemerkenswert, dass die Verbindung dieser beiden Begriffe in der Bibel so nicht vorkommt, sondern das Ergebnis späterer geschichtstheologischer Systematisierungen ist (Johann Christian Konrad von Hofmann; 1810–1877). 44 Matthäus spricht bei seinen Erfüllungszitaten nicht von Verheißungen, sondern von dem, was durch die Propheten gesagt ist, die dann 38 39 40

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Röm 9,4.6–13; 11,5.28; vgl. Eph 2,12. Röm 11,26 (Zitat Jes 59,20; Jer 31,33); 1 Thess 1,10; Phil 3,20. Jer 31,31–34; 1 Kor 11,24–25; 2 Kor 3,6; Röm 11,27; zu Röm 9 – 11 vgl. Heckel, Bund (s. Anm. 13), 195–210. Vgl. Hans-Joachim Eckstein, Das Evangelium Jesu Christi. Die implizite Kanonhermeneutik des Neuen Testaments, in: ders., Kyrios Jesus. Perspektiven einer christologischen Theologie, Neukirchen-Vluyn 2010, 51–55. Vgl. Uwe Becker, Verheißung und Erfüllung. Zu einem Grundmodell der christlichen Rezeption der jüdischen Bibel, in: Axt-Piscalar/Ohlemacher (Hg.), Duale (s. Anm. 13), 233–254. Vgl. 1 Mose 12,1–3 mit 18,9–15; 21,1–7 oder Jes 7,14 mit 36–39 und 9,1–6; 11,1–9. Vgl. Johann Christian Konrad von Hofmann, Weissagung und Erfüllung im Alten und Neuen Testamente, Bd. 1–2, Nördlingen 1841–1844.

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ULRICH HECKEL zitiert werden (s. Anm. 29). Und für Paulus hat Christus die Verheißungen an die Väter nicht erfüllt, sondern bestätigt, bekräftigt, als fest und zuverlässig erwiesen,45 um sie bei seiner endzeitlichen Wiederkunft zur Vollendung zu bringen (Röm 11,26–27). Vor allem aber gilt es bei diesen Hinweisen auf die Schrift zu beachten, dass sie aus einer christlichen Perspektive erfolgen. Sie ergeben sich nicht von vornherein zwingend unmittelbar aus den Schriften des Alten Testaments. Vielmehr sind sie erst später, im Rückblick formuliert, nämlich historisch gesehen nach dem Auftreten Jesu und theologisch betrachtet von einem christlichen Standpunkt aus. Von hier schauen die ersten Christen auf die Überlieferungen des Alten Testaments zurück und durchforschen die Schrift von Christus herkommend nach Aussagen, die sie als Weissagungen auf Christus hin interpretieren können (Joh 5,39; Apg 17,11). Ihr Ausgangspunkt ist immer das Christusgeschehen. Es gibt keine einfache Fortsetzung, keine direkte Kontinuität des Neuen Testaments zum Alten, das ein eigenständiges Gegenüber bleibt (Mt 5,21–48; Lk 16,16; Röm 10,4). Und doch wird gerade aus christlicher Sicht erklärt, dass dieses unerhört Neue eine endgültige, die für die Endzeit gültige und entscheidende Offenbarung des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs ist, den das Alte Testament bezeugt (2 Mose 3,6; Mk 12,26; Apg 3,13; 7,32). Gerade diese wechselseitige Beziehung von Verheißung und Erfüllung macht deutlich, dass es derselbe Gott ist, von dessen Reden und Handeln Altes und Neues Testament als Ganzes Zeugnis geben. Anknüpfung und Widerspruch bleiben unlöslich aneinander gebunden. Deshalb ist festzuhalten, dass sich der eigentliche Verheißungscharakter der alttestamentlichen Texte in seiner tieferen Bedeutung als Weissagung auf Christus erst aus der Rückschau, also im Lichte der Erfüllung erschließt. Nun hat die neuzeitliche Bibelauslegung seit der Aufklärung historisch herausgearbeitet, dass das Alte Testament nicht nur vom Neuen Testament her gedeutet werden darf, sondern als solches einen Eigen-Sinn hat, d. h. zunächst einmal in seinem ursprünglichen Sinn und historischen Kontext der Geschichte Israels zu verstehen ist. Nach der Shoa (Holocaust, Auschwitz) hat der jüdisch-christliche Dialog zudem das Problembewusstsein weiter geschärft, dass das Alte Testament die Heilige Schrift der Juden ist, die in ihrem Eigenwert gewürdigt werden muss. 45

Röm 15,8; vgl. 4,16; 2 Petr 1,19–21.

116

DIE HEILIGE SCHRIFT IM GOTTESDIENST Deshalb gilt es stets zu bedenken, dass das heutige Alte Testament in Gestalt der Hebräischen Bibel – nicht der von Christen benutzten Septuaginta – eine eigenständige jüdische Auslegungstradition besitzt und im Judentum bis heute eine eigene Wirkungsgeschichte entfaltet. Daraus folgt für die heutige Auslegung des Alten Testaments: Sowohl für Juden als auch für Christen ist die jüdische Bibel, das christliche Alte Testament, die gemeinsame Heilige Schrift. Dies gilt trotz mancher Unterschiede zwischen der Hebräischen Bibel und der Septuaginta in Schriftenanordnung (v. a. Propheten), Textumfang (z. B. im Jeremiabuch), Kapitelzählung (Esr–Neh; Ps; Jer) und Wortbedeutung (Jes 7,14). Dennoch hat sie als Heilige Schrift für beide Seiten nicht die gleiche Bedeutung. Es ist weitgehend derselbe Text, aber er steht für beide in einem unterschiedlichen Kontext. Für Juden ist diese Schriftensammlung als solche bis heute ihre Heilige Schrift. Für Christen steht sie im Kontext des Kanons in einem unauflöslichen Zusammenhang mit dem Evangelium von Jesus Christus. Hier ist sie Teil der christlichen Bibel, in der Altes und Neues Testament durch diese beiden Bezeichnungen ebenso unterschieden wie verklammert sind. Für die christliche Bibelauslegung bedeutet dies, dass das Alte Testament zunächst in seinem ursprünglichen Textsinn zu erfassen, in seinem historischen Kontext wahrzunehmen und in seiner jüdischen Auslegungs- und Wirkungsgeschichte zu respektieren ist. In einem zweiten Schritt will es dann aber auch gemäß der christlichen Auslegungstradition im Horizont der Christusbotschaft vom Neuen Testament her in seiner Bedeutung für das Christusgeschehen bedacht sein.46 Die neutestamentlichen Verfasser kamen nicht vom Alten Testament her auf Christus zu sprechen, sondern fanden in der Schrift Worte, die ihnen halfen, sachgemäß zu erschließen, was Jesus als Christus für sie bedeutet. Zugleich machten sie die Erfahrung, dass ihre Heilige Schrift, das heutige Alte Testament, im Licht Jesu Christi ganz neu zu reden begann. Für sie ist Jesus

46

Vgl. Reinhard Feldmeier/Hermann Spieckermann, Menschwerdung, TOBITH 2, Tübingen 2018.

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ULRICH HECKEL Christus die Mitte der Schrift,47 die freilich nicht ohne Bezug zu Israel und seinem Gott zur Sprache kommen kann.48 Im christlichen Gottesdienst (Apg 2,42-47; 1 Kor 11; 14), der vom jüdischen Synagogengottesdienst – einem reinen Wortgottesdienst ohne kultische Opfer – geprägt ist,49 erhalten die alttestamentlichen Schriftlesungen und Psalmgebete von Anfang an neben ihrem ursprünglichen Eigen-Sinn einen weiteren GebrauchsSinn. Nun werden sie gehört im Zusammenspiel mit den neutestamentlichen Lesungen (Mk 13,14; 1 Thess 5,27; Kol 4,16) und der Evangeliumsverkündigung (Mk 1,1; Röm 1,1–2; 1 Kor 15,1–5), mit Lobgesängen (Lk 1,46–55; 1,68–79; 2,29– 32), Christusliedern (Phil 2,6–11; Kol 1,15–20 u. ö.) und trinitarischen Formulierungen (Mt 28,19; Joh 14,16f.; 1 Kor 12,3–6; 2 Kor 13,13; Eph 4,4–6). Dieses intertextuelle Hören wird noch verstärkt durch die spätere Ausgestaltung des Kirchenjahrs mit seinen Höhepunkten und Festzeiten.50

47 48

49

50

Vgl. Joh 14,6; Apg 4,12; 1 Kor 3,11; Kol 2,2–3. Vgl. Hans-Jürgen Hermisson, Jesus Christus als externe Mitte des Alten Testaments. Ein unzeitgemäßes Votum zur Theologie des Alten Testaments, in: Jesus Christus als Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums, BZNW 86, hg. v. Christof Landmesser/Hans-Joachim Eckstein/Hermann Lichtenberger, Berlin u. a. 1997, 199–233, hier 227–233; Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments II, Göttingen 1999, 287–349; Ferdinand Hahn, Theologie des Neuen Testaments II, Tübingen 2002, 38–142; Ulrich Wilckens, Theologie des Neuen Testaments. Band II: Die Theologie des Neuen Testaments als Grundlage kirchlicher Lehre. Teilband 1: Das Fundament, Neukirchen-Vluyn 2007, 15–25; Eckstein, Evangelium (s. Anm. 41), 48–51; Hans Weder, Biblische Theologie. Konturen und Anforderungen aus hermeneutischer Perspektive, in: Wie biblisch ist die Theologie?, JBTh 25 (2010), hg. v. Martin Ebner u. a., Neukirchen-Vluyn 2011, 19–40, hier 32–33; Nüssel, Schriftauslegung (s. Anm. 18), 251–253 mit den Beiträgen von Karl-Wilhelm Niebuhr zum NT (87–89) und Albrecht Beutel zu Luther (156–160); Dalferth, Wirkendes Wort (s. Anm. 4), 293–320; Schmid, Theologie (s. Anm. 4), 382–388. Vgl. Salzmann, Lehren (s. Anm. 2), 450–459; Eckstein, Gottesdienst (s. Anm. 3), 24– 25. Vgl. Volker Henning Drecoll, Das Alte Testament in der Alten Kirche, in: Witte/Gertz (Hg.), Hermeneutik (s. Anm. 18), 95–110, hier 104–105.

118

DIE HEILIGE SCHRIFT IM GOTTESDIENST

4 Von Jesus zum Neuen Testament Das Neue Testament ist keine Fortsetzung des Alten, sondern ein komplementäres Gegenüber. Es deutet nicht nur die Schriften des Alten Testaments, sondern verkündigt vor allem das Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes (Mk 1,1; Röm 1,1–4; Hebr 1,1–2). Er ist das Wort Gottes, in dem Gott selber Fleisch, d. h. Mensch geworden ist (Joh 1,1.14). Jesus predigte das Evangelium vom Reich Gottes und rief zum Glauben (Mk 1,14–15). Aber er hat seine Botschaft nicht aufgeschrieben. Um möglichst viele Menschen für diesen Glauben zu gewinnen und die Rückbindung an die Person Jesu zu gewährleisten, war es notwendig, seine Geschichte festzuhalten, immer wieder in Erinnerung zu rufen und neu zu vergegenwärtigen.51 Deshalb wurden seine Worte und Taten von Augenzeugen und Dienern des Wortes zunächst mündlich überliefert und schließlich in den Evangelien aufgeschrieben (Lk 1,1–4; Apg 1,1–2). Das Evangelium, das Jesus vom Reich Gottes verkündigte (Mk 1,14–15), wurde zum Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes (Mk 1,1), das Markus rund vierzig Jahre nach dem Wirken Jesu um 70 n. Chr. erstmals in einen fortlaufenden Erzählzusammenhang gebracht hat. Matthäus, Lukas und Johannes haben dessen Text aufgenommen und weitere Stoffe ergänzt, um von Jesus Zeugnis zu geben.52 Auch Paulus zitiert Worte Jesu (1 Thess 4,15; 1 Kor 7,10; 9,14), die Abendmahlsüberlieferung (1 Kor 11,23–26; vgl. die Lehre bei der Taufe Röm 6,3–4.17) sowie alte Bekenntnisformeln,53 Hymnen (Phil 2,6–11) und Glaubenssätze über Jesu Tod und Auferstehung (1 Kor 15,3–5; 1 Thess 4,14). So argumentiert bereits Paulus nicht nur mit der – Juden und Christen vertrauten – Heiligen Schrift (Röm 1,2), d. h. dem heutigen Alten Testament, sondern auch mit Jesusüberlieferungen und dem gemeinsamen urchristlichen Bekenntnis (1 Kor 15,11).54 Die ältesten schriftlichen Quellen sind die Paulusbriefe, die in den fünfziger Jahren des 1. Jh.s geschrieben wurden. Es folgt das Markusevangelium, dann bis zur 51 52 53 54

Joh 14,26; 16,13–15; vgl. 2,22; 12,16. Lk 24,48; Apg 1,8.22; Joh 19,35; 21,24; 1 Joh 1,1–4. Röm 1,3–4; 4,24.25; 10,9; 2 Kor 4,14; Gal 1,1.4; 1 Thess 1,10. Vgl. Eckstein, Evangelium (s. Anm. 41), 54–55.

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ULRICH HECKEL Jahrhundertwende die anderen Evangelien. Die Evangelien waren für das Vorlesen im Gottesdienst bestimmt (Mk 13,14), ebenso die Briefe des Paulus (1 Thess 5,27; Kol 4,16). Denn der Glaube kommt aus der Predigt, d. h. aus dem Hören auf das Wort Christi (Röm 10,17), welches in der gottesdienstlichen Versammlung geschieht (1 Kor 11,17–34; 14,26) – noch nicht durch private Lektüre der Glaubenden (Apg 8,28–35), die in einem größeren Umfang erst im 18. Jh. durch preiswerte Bibeldrucke möglich wurde. Darum wird selig gepriesen, „der da (vor-)liest und die da hören die Worte“ aus der Johannesoffenbarung im Gottesdienst der Gemeinde (Offb 1,3). Hier haben diese Schriften ihren ursprünglichen Sitz im Leben in der Gemeinschaft der Gläubigen als einer Vorlese- und Hörgemeinschaft. Darum gehören bereits in neutestamentlicher Zeit zur Lesung aus der „Schrift“ nicht nur das Alte Testament, sondern auch schon schriftlich vorliegende Jesusüberlieferungen (1 Tim 5,18 Zitate 5 Mose 24,4; Lk 10,7). Bis zum Anfang des 2. Jh.s wurden die übrigen der insgesamt 27 Schriften des Neuen Testaments abgefasst, zuletzt der 2. Petrusbrief. Damit lagen die einzelnen Schriften vor, aber was noch fehlte, war ihre Zusammenstellung in einem einzigen Buch, d. h. die Entstehung der christlichen Bibel als eines Kanons heiliger Schriften für die Kirche.

5 Die Entstehung der zweiteiligen christlichen Bibel Von der endgültigen Festlegung des biblischen Kanons im 4. Jh. ist die Geschichte der Kanonisierung zu unterscheiden, d. h. der Prozess der Kanonbildung, in dem die einzelnen Bücher gesammelt wurden und sich in der Kirche durchgesetzt haben.55 Mit großer Selbstverständlichkeit haben die ersten Christen das Alte Testament als Heilige Schrift Israels übernommen, doch dabei konnte es nach der Offenbarung Gottes in Jesus Christus nicht bleiben. Schon sehr bald wurden die Paulusbriefe gesammelt (2 Kor 10,10; 2 Petr 3,16: „alle“) und zwischen Gemein-

55

Vgl. Christoph Markschies, Haupteinleitung, in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung I.2, hg. v. Christoph Markschies/Jens Schröter, Tübingen 2012, 1–180.

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DIE HEILIGE SCHRIFT IM GOTTESDIENST den ausgetauscht (Kol 4,16). Die Pastoralbriefe bringen mit dem 2. Timotheusbrief als Testament des Apostels Paulus die Sammlung seiner Briefe zum Abschluss. Bis zur Mitte des 2. Jh.s bei Justin, dem christlichem Philosophen und Märtyrer, bildete sich ein weitgehender Konsens über den Kernbestand einer christlichen Heiligen Schrift heraus, der die vier Evangelien und die Paulusbriefe umfasste. Bei dem Kirchenvater Irenäus, Bischof von Lyon (um 180 n. Chr.), war für die Schriftlesungen im Gottesdienst und für die theologische Argumentation bereits ein normierter Umfang einer autoritativen Sammlung heiliger Schriften anerkannt. Dazu gehörten das Alte Testament in Gestalt des Septuaginta-Kanons, die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, dreizehn Paulusbriefe, der 1. Petrusund der 1. Johannesbrief, während bei den übrigen Briefen noch lange Unsicherheit bestand (Jak; 2 Petr; 2/3 Joh; Jud). Noch bis ins 4. Jh. wurde die Johannesoffenbarung im Osten abgelehnt, der Hebräerbrief im Westen. Maßgebliches Auswahlkriterium war der apostolische Charakter, durch den eine Schrift als authentisch galt. Gemeint ist damit ihre Ursprungsnähe und Ursprungsgemäßheit, d. h. zum einen historisch die zeitliche Nähe zum Kreis der Jünger und Apostel Jesu, zum anderen theologisch die Übereinstimmung mit der Lehre der Apostel (Apg 2,42) in der gemeinsamen Glaubensüberlieferung, der Wahrheit des Evangeliums (Röm 12,6; 1 Kor 15,1–11; Gal 2,5.14). Die endgültige förmliche Festlegung des Kanons erfolgte im 4. Jh. Das Wort „Kanon“ ist ein griechischer Ausdruck, der „Schilfrohr“ bedeutet, aus dem Semitischen abgeleitet ist und dort schon im Sinne von Messrohr, Messrute, Maßstab verwendet wurde (Hes 40,3 u. ö.). Bereits Paulus gebraucht das Wort nicht einfach in der Bedeutung „Richtschnur, Maßstab“, sondern beschreibt damit den unaufgebbaren Kern des Evangeliums als grundlegende Norm (Gal 6,16). Seit dem 4. Jh. bezeichnet der Begriff den normierten Umfang der Sammlung der Schriften des Alten und Neuen Testaments, die als ursprünglich und maßgeblich anerkannt waren. Die Provinzialsynode von Laodizea legte um 370 n. Chr. fest, dass beim Gottesdienst in der Kirche keine nichtkanonischen Bücher vorgelesen werden dürfen, sondern „allein die kanonischen Bücher Alten und Neuen Testaments“, die in einer später hinzugefügten Liste aufgeführt werden. Die erste vollständige Aufzählung der Schriften des heutigen Kanons bietet der 39. Osterfestbrief des Bischofs Athanasius von Alexandrien (367 n. Chr.), der die 22 Bücher des (hebräischen) Alten Testaments (ohne das Buch Ester; die 39 Schriften sind

121

ULRICH HECKEL hier nur anders gezählt) und die 27 Bücher des Neuen Testaments als „Quellen des Heils“ bezeichnet. Außerdem nennt er noch andere Bücher, die zwar nicht kanonisiert wurden, aber von den Vätern als Lektüre bestimmt worden sind für die Unterweisung in der Lehre der Frömmigkeit (aus der Septuaginta Weish; Sir; Est; Jdt; Tob, zudem die frühchristlichen Schriften Didache; Hirte des Hermas). Die kirchlichen Autoritäten haben den Umfang des Kanons also nicht durch die willkürliche Setzung irgendeines Gremiums vorgegeben, sondern am Ende eines längeren Prozesses erst formell festgestellt, welche Schriften sich durch ihren faktischen Gebrauch bei der Schriftlesung im Gottesdienst der Gemeinden selbst legitimiert und als normativ durchgesetzt hatten. Aus der Sicht der heutigen Forschung hat die Alte Kirche mit ihrer Auswahl historisch und theologisch insgesamt ein gutes Gespür und Urteilsvermögen bewiesen. Damit hat die Alte Kirche die Bibel als die eine zweiteilige Heilige Schrift der Christen festgelegt, indem sie einerseits an der Heiligen Schrift Israels im Alten Testament festhielt, andererseits die neutestamentlichen Schriften mit dem Evangelium von Jesus Christus für die Schriftlesung im Gottesdienst anerkannte. Dadurch erklärte sie beide gemeinsam zur verbindlichen Grundlage, Quelle und Norm aller christlichen Verkündigung und Lehre. Die Zitate aus der Schrift sollten die Evangeliumsverkündigung als Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen legitimieren, doch die theologisch entscheidende Autorität blieb der auferstandene und lebendige Herr. Was aus dem Alten Testament über die Schöpfung56 und das Menschenbild (Röm 5,12–21; 1 Kor 15,35–49), die Geschichte Israels57 und die Zehn Gebote (s. o.) geläufig war, brauchten die neutestamentlichen Autoren nur bei Gelegenheit in Erinnerung zu rufen, ausführlicher entfalten mussten sie aber das Neue, die Botschaft vom Heil, das Christus der Welt gebracht hat. Diese Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität kommt durch die Zweiteilung der christlichen Bibel zum Ausdruck. Doch werden beide Teile durch die Bezeichnungen „Altes“ und „Neues Testament“ nicht nur begrifflich unterschieden, sondern zugleich dauerhaft miteinander verbunden. Alt, aber nicht veraltet sind die Schriften, mit denen schon Jesus selber lebte, neu die Schriften der 56 57

Mt 6,30–33; Mk 10,6–7; Apg 17,24–28; Röm 1,20; 4,17. Mt 1,1–17; Apg 7; 13,17–25; Röm 4; 9–11; 1 Kor 10,1–13; 2 Kor 3; Gal 3–4; 1 Petr 2,1–10; Hebr 11; Jak 2,23.

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DIE HEILIGE SCHRIFT IM GOTTESDIENST Christen, die die Geschichte Jesu Christi im Licht des Alten Testaments zu verstehen versuchten. Christen können nicht vom Alten Testament reden, ohne auf das Neue Testament einzugehen, und auch nicht vom Neuen Testament, ohne auf das Alte Bezug zu nehmen. So bezeugt die spannungsvolle Einheit der einen zweigeteilten christlichen Bibel aus Altem und Neuem Testament, dass es ein und derselbe, der eine Gott ist, der Schöpfer, der in der Geschichte Israels ebenso gehandelt hat wie im Tod und der Auferstehung Jesu Christi und der die ganze Welt erneuern und vollenden wird.58

6 Bibel und Wort Gottes Nach der Entstehungsgeschichte kommen wir nun zu Fragen, die das Verständnis der Bibel betreffen. Von besonderem Gewicht ist die Frage, wie Bibel und Wort Gottes sich zueinander verhalten. Die Bücher der Bibel sind von Menschen geschrieben (Jes 1,1; Jer 1,1; Lk 1,1–4; 1 Kor 1,1; 16,21; 1 Petr 1,1 u. ö.). Aber sie beanspruchen eine göttliche Autorität. Schon die biblischen Autoren unterscheiden zwischen dem Wort Gottes und ihren eigenen Worten. Im Alten Testament erzählen die fünf Bücher Mose von Anfang an von dem, was Gott gesprochen hat (1 Mose 1,3 u. ö.; 12,1–3; 2 Mose 3,4–10; 20,1–17 u. ö.). Die Propheten berichten, was Gott ihnen bei ihrer Berufung gesagt hat (Jes 6; Jer 1,3–19; Hes 1–3; Offb 1,11), als er ihnen seine Worte in den Mund legte (Jer 1,9; Hes 2,8–3,11; Offb 10,9–11). Gottesworte machen sie kenntlich durch Boten- und andere Zitationsformeln: „So spricht der Herr …“ (Am 1,3 u. ö.). Im Neuen Testament wird die Schrift als göttliche Autorität angeführt, weil Gott durch die Propheten in der Heiligen Schrift geredet hat (s. Anm. 7f.). Damit werden die Verfasser der biblischen (alttestamentlichen) Schriften ebenso wie im zeitgenössischen Judentum (Philo; Josephus) als vom Geist Gottes erfüllte Propheten angesehen (Apg 2,29–30). Dass die Schrift von Gott durch den Heiligen Geist eingegeben (wörtlich: inspiriert, eingehaucht) wurde (2 Tim 3,16), ist daher im Sinne einer Personalinspiration zu verstehen. Denn keine prophetische 58

Vgl. Reinhard Feldmeier/Hermann Spieckermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, TOBITH 1, Tübingen 32020.

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ULRICH HECKEL Weissagung der Schrift ist aus menschlichem Willen entstanden, sondern „getrieben vom Heiligen Geist haben Menschen in Gottes Auftrag geredet“ (2 Petr 1,20– 21). Dass die ganze Bibel einschließlich des Neuen Testaments in ihrem wortwörtlichen Bestand so vom Heiligen Geist eingegeben sei (Verbalinspiration), ist hingegen eine Lehre, die erst sehr viel später in der altprotestantischen Orthodoxie (17. Jh.) entwickelt wurde. Sie entspricht weder biblischem Schriftgebrauch (s. Anm. 7ff.) noch reformatorischem Schriftverständnis (s. u.), aber auch nicht dem Selbstverständnis der neutestamentlichen Autoren. Paulus 59 unterscheidet zwischen dem Wort Gottes und seiner menschlichen Verkündigung (1 Thess 2,13). Aber er besteht darauf, dass er das Evangelium, das er predigt, nicht von einem Menschen empfangen oder gelernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi erhalten hat (Gal 1,11–16). Damit begründet er seinen Autoritätsanspruch als Apostel Jesu Christi.60 Sein Evangelium (1 Kor 15,1; Gal 1,11), seine Predigt (Röm 10,16–17), seine Verkündigung (1 Kor 1,21; 2,4–5) ist nicht von menschlicher Art (Gal 1,1.11), sondern das Evangelium Gottes, 61 d. h. in Wahrheit Gottes Wort (1 Thess 2,13). Dieses Evangelium von der Gerechtigkeit Gottes (Röm 1,16–17) wurde Abraham zuvor verkündigt (Gal 3,6–8; Röm 4), durch die Propheten in der Heiligen Schrift zuvor verheißen (Röm 1,1–2) und bezeugt durch das Gesetz und die Propheten (Röm 3,21). Es ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt (Röm 1,16; 1 Kor 1,18). Solch Heil bringender Glaube entsteht nicht durch die Überzeugungskraft der Predigt, sondern bleibt eine unverfügbare Gabe des Heiligen Geistes (1 Kor 12,3.8–9; 13,13). Denn die Glauben schaffende Wirkung des Wortes beruht nicht auf menschlicher Überredungskunst, sondern stellt einen Beweis des Geistes und der Kraft Gottes dar.62 Der eigentliche Inhalt des Evangeliums ist für Paulus nicht einfach die Mitteilung alter Glaubensbekenntnisse (1 Kor 15,1–5), sondern die Person Jesu Christi, der Sohn Gottes,63 der gekreuzigte64 und auferstandene Herr selbst.65 Doch bei aller apo59 60 61 62 63 64 65

Vgl. Eckstein, Evangelium (s. Anm. 41), 39.44–55. Röm 1,1; 1 Kor 9,1; 15,8. Röm 1,1; 15,16; 2 Kor 11,7; 1 Thess 2,2.8–9. 1 Kor 2,4–5; Röm 15,18–19; 1 Thess 1,5–6. Röm 1,1.9; Gal 1,11–12.15–16. 1 Kor 1,23; 2,2; Gal 3,1. Röm 10,9–10; 1 Kor 12,3; 2 Kor 4,5; Phil 2,9–11.

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DIE HEILIGE SCHRIFT IM GOTTESDIENST stolischen Autorität als Botschafter an Christi statt (2 Kor 5,20) unterscheidet Paulus sorgfältig zwischen dem Gebot des Herrn und seiner eigenen Meinung, so sehr er darin Gottes Geist zu haben beansprucht (1 Kor 7,10.12.25.40). In den Evangelien gibt Lukas einen „Bericht“ von all dem, was Jesus zu tun und zu lehren begonnen hat und von Augenzeugen und Dienern des Wortes überliefert wurde (Lk 1,1–4; Apg 1,1–2). Das Johannesevangelium stellt ein „Zeugnis“ dar, das von einem Jünger aufgeschrieben wurde, aber wahr ist (Joh 21,24; vgl. 20,30–31). Doch besteht der zentrale Inhalt der Evangelien nicht in einzelnen Erzählungen, sondern im Bekenntnis zu Jesus Christus. Schon Markus bietet in seinem Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes (Mk 1,1), nicht nur eine Zusammenstellung seiner Worte und Taten, sondern stellt das Bekenntnis des Petrus: „Du bist der Christus!“ (Mk 8,29) als Wendepunkt auf dem Weg Jesu dar und konzentriert alles auf das Bekenntnis des römischen Hauptmanns: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ (Mk 15,39). Für Johannes ist Jesus sogar das Wort Gottes in Person, in dem Gott selber Mensch geworden ist (Joh 1,1.14). Das Wort Gottes ist keine zeitlose Wahrheit, sondern hat in Jesus Christus eine konkrete Gestalt angenommen, hat seinen Ort zwischen Galiläa (1,43ff.) und Jerusalem (12,12) und seine Zeit in der Geschichte der Welt (Lk 2,1). Diese ist von Gott erschaffen (Joh 1,3) und zu deren Rettung wurde Jesus gesandt als Heiland der Welt (Joh 4,42; Lk 2,11; Phil 3,20). Er ist der einziggeborene Sohn Gottes, der Gott verkündigt, d. h. hier wörtlich: bekannt gemacht, erklärt und ausgelegt hat (Joh 1,14.18; vgl. Mt 11,27). Mit dem gleichen Gedanken beginnt auch der Hebräerbrief: „Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn“ (Hebr 1,1–2). Damit bringt der Hebräerbrief für eine müde und wankelmütig gewordene Gemeinde das lebendige Wort Gottes „heute“ zur Sprache (Hebr 3,7.13.15; 4,7). Deshalb ist das Christentum keine Buchreligion, vielmehr lebt es vom mündlich ausgerichteten Wort Gottes, das in Jesus Christus nicht Buch, sondern Fleisch geworden ist (Joh 1,1.14).66 In ihm hat Gott zu uns gesprochen. Von ihm gibt die Bibel Zeugnis, deren Entstehungs- und Kanonisierungsprozess bereits dargestellt wurde.

66

Vgl. Dalferth, Wirkendes Wort (s. Anm.4), 122.286f.

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ULRICH HECKEL Damit können wir festhalten: Die Bibel ist nicht das Wort Gottes, aber in ihr begegnet uns Gottes Wort. Oder anders ausgedrückt: Die Bibel ist insofern Gottes Wort, als Gott uns in ihr und durch sie auf einzigartige Weise anspricht. Sie enthält und bezeugt das Evangelium von Jesus Christus, dem Wort Gottes, in dem Gott selber Mensch geworden ist und durch den er zu uns geredet hat. Im Sohn hat Gott sich selber offenbart, sein Wesen mitgeteilt. Was es von der Offenbarung Gottes zu berichten gibt, wurde in den Texten der Bibel schriftlich festgehalten und in den christlichen Kanon aufgenommen. Seinem Wesen nach bleibt das Wort Gottes aber Ruf und Anrede für die Gegenwart. Man könnte auch sagen: Gott hat sich in die Worte dieser Texte begeben und will mit ihnen durch den Heiligen Geist heute wirken. Von Gottes Selbstmitteilung gibt die Bibel hier und jetzt Zeugnis. Sie ist für uns die Urkunde vom Heil, unersetzliche Quelle und Norm für den christlichen Glauben.

7 Was gilt in der Kirche? Wenn Gott durch das biblische Zeugnis von Jesus Christus auch heute zu uns spricht, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von zeitbedingten Aussagen und heutiger Verbindlichkeit. Alle biblischen Bücher sind von unterschiedlichen Verfassern über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten jeweils zu einem konkreten Anlass, in einer historisch einmaligen Lage für einen bestimmten Adressatenkreis aufgeschrieben worden. Durch diese sehr unterschiedlichen Situationen ergibt sich eine Vielfalt von recht verschiedenen, teilweise sogar widersprüchlichen Stimmen. Schon innerhalb der Bibel lässt sich an vielen Stellen beobachten, wie in einer veränderten Situation biblische Texte wiederaufgenommen, weiter fortgeschrieben, anders ausgelegt und neu interpretiert werden konnten (vgl. z. B. im Jesajabuch oder den Deuteropaulinen). 67 Deshalb ist es für das Verständnis unerlässlich, zunächst 67

Vgl. z. B. Ulrich Heckel, Der alte und der neue Mensch bei Paulus, im Kolosser- und Epheserbrief. Grundzüge paulinischer Anthropologie, in: ders., Wozu Kirche gut ist. Beiträge aus neutestamentlicher und kirchenleitender Sicht. Mit einem Geleitwort von Wolfgang Huber, Göttingen 2017, 41–66; Ulrich Heckel, Die sieben Kennzeichen

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DIE HEILIGE SCHRIFT IM GOTTESDIENST den Eigen-Sinn der Texte ernst zu nehmen und die ursprüngliche Absicht ihrer Autoren zu erfassen, sich die Abfassungsverhältnisse im Zusammenhang der jeweiligen Schrift zu vergegenwärtigen und nach der Bedeutung im Kontext des Kanons zu fragen. Aber die biblischen Bücher wurden gesammelt und Teil des Kanons, weil sie eine Botschaft von Gott enthalten, die über ihre ursprüngliche Abfassungssituation hinaus für den Glauben bedeutsam ist und auch heute etwas zu sagen hat. Nun leben wir heute in vielerlei Hinsicht in völlig anderen Verhältnissen. Deshalb bedürfen die biblischen Texte der Auslegung und Übertragung in die jeweils aktuelle Situation im jetzigen Lebenszusammenhang. Daraus erwächst die Frage, welche Vorstellungen der Bibel als einem historischen Dokument aus der Antike eine zeitbedingte Bedeutung haben, die heute möglicherweise überholt ist, und welche Aussagen darüber hinaus bis in die Gegenwart eine bleibende Gültigkeit und Relevanz für die Gläubigen besitzen. Deshalb ist es hilfreich, bei der Bibelauslegung zu unterscheiden zwischen der historischen Erklärung, die den ursprünglichen Textsinn in seiner konkreten Entstehungssituation zu rekonstruieren versucht, und dem Verstehen, das nach der Bedeutung des Textes beim Hören und Lesen im heutigen Lebenskontext fragt. Dabei sind nicht nur die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte zu bedenken, sondern auch die eigenen Voraussetzungen, von denen her jemand einen Text versteht oder auslegt.68 Die historische Auslegung führt zunächst in die Ferne, lässt den zeitlichen und räumlichen Abstand bewusstwerden und den Text fremder erscheinen. Ein tieferes Eindringen hilft jedoch, die Entstehungssituation, die Ausgangsfragestellung und die Absicht des Verfassers besser zu verstehen. Dieses historische Verständnis lässt über die Jahrhunderte hinweg aber nicht nur Unterschiede sichtbar werden, sondern auch Gemeinsamkeiten,

68

für die Einheit der Kirche. Exegetische Impulse zu einer ökumenischen Theologie der Einheit nach Eph 4,1–6, MdKI 71 (2020), 62–70; Ulrich Heckel, Heiden, Völker und Nationen. Paulinische Einsichten und heutige Perspektiven, ThBeitr 51 (2020), 407– 423. Vgl. Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, NeukirchenVluyn 2014, 1–28.517–558.

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ULRICH HECKEL Berührungspunkte und Parallelen mit der Gegenwart im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe. Es sind die Grundfragen christlicher, ja menschlicher Existenz überhaupt. Dazu gehören die Beziehung zum dreieinigen Gott, Gottesdienst und Gemeinde, Taufe und Abendmahl, Lob und Klage, Angst und Zuversicht, Gottvertrauen und Lebensführung, Tun und Lassen, die Beziehung zu anderen Menschen, das Verhalten in einer nicht-christlichen Gesellschaft, die christliche Identität in einer multikulturellen, multireligiösen Umgebung, die Gemeinschaft in der weltweiten Ökumene, der Umgang mit der Schöpfung, die Fragen nach Freud und Leid, Ohnmacht und Stärke, Liebe und Hass, Gerechtigkeit und Friede, Schuld und Vergebung, Wachsen und Vergehen, Tod und Leben, Vollendung der Welt. Doch es gibt auch Fragen, die zur Abfassungszeit der biblischen Schriften so noch nicht am Horizont waren, heute aber durch die medizinischen Möglichkeiten am Anfang und Ende des Lebens, durch Industrialisierung und Digitalisierung sowie die Folgen der Umweltzerstörung in neuer Weise aufgeworfen sind. Deshalb gilt es nicht damalige Lebensverhältnisse festzuschreiben wie z. B. die Ermahnungen für die Sklaven (Eph 6,5–9; Kol 3,22–25; 1 Petr 2,18–25), sondern das Glauben weckende und Heil schaffende Evangelium von Jesus Christus als Sohn Gottes, seinem Tod und seiner Auferstehung, seiner Vergebung und dem ewigen Leben in seiner existenziellen, kirchlich-ökumenischen und gesellschaftlichen Relevanz für Menschen heute zur Sprache zu bringen. In diesem Sinne hat Johann Albrecht Bengel in der Vorrede zur Handausgabe des Griechischen Neuen Testaments (1734) zum persönlichen Bibelstudium ermutigt: „Wende dich ganz dem Text zu: die ganze Sache wende auf dich an!“69 Besonders intensiv um die Kriterien der Gültigkeit gerungen hat Martin Luther.

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Johann Albrecht Bengel, Vorrede zur Handausgabe des Griechischen Neuen Testaments 1734: Te totum applica ad textum: rem totam applica ad te (zitiert nach: Ernst Nestle/Kurt u. Barbara Aland, Novum Testamentum Graece. Griechisch-Deutsch, 28. Aufl., Stuttgart 2017, 53*).

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DIE HEILIGE SCHRIFT IM GOTTESDIENST

8 Luthers Schriftverständnis Mit dem Motto „allein die Schrift“ wandte Luther sich gegen das damals üblichePrinzip „Schrift und Tradition“. Dadurch wollte er mancherlei kirchliche Lehrbildungen seiner Zeit als Fehlentwicklungen entlarven und allen anderen Autoritäten gegenüber eine neue Rückbesinnung auf die Schrift erreichen. Denn diese ist nach Luther die maßgebliche, allein ausschlaggebende Autorität.70 Der Grundsatz „allein die Schrift“ darf sich als Schriftprinzip jedoch nicht verselbstständigen, nicht isoliert, nicht absolut gesetzt werden. Vielmehr gehört er für Luther in einen unauflöslichen Zusammenhang mit der inhaltlichen Bestimmung „Christus allein“. Beide bedingen sich gegenseitig. Luthers Schriftprinzip meint nicht den Einzelbuchstaben, sondern Jesus Christus als zentralen Inhalt und theologische Mitte der Schrift: „Nimm Christus aus den Schriften – was wirst du noch in ihnen finden?“71 Deren entscheidender Inhalt ist das Evangelium von Jesus Christus im Sinne der Rechtfertigungslehre, wie sie vor allem im Römerbrief dargelegt wird. Darum sollten auch Zitate von einzelnen Bibelworten in ihrem Aussagegehalt nicht isoliert, sondern sowohl literarisch in ihrem jeweiligen

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Vgl. Albrecht Beutel, Die Formierung neuzeitlicher Schriftauslegung und ihre Bedeutung für die Kirchengeschichte, in: Nüssel (Hg.), Schriftauslegung (s. Anm. 18), 141– 177, hier 154–163; Christof Landmesser/Hartmut Zweigle, Allein die Schrift!? Die Bedeutung der Bibel für Theologie und Pfarramt, Neukirchen-Vluyn 2013; Reinhard Schwarz, Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2015, 27–62; Albrecht Beutel, Luther Handbuch, Tübingen 32017, 408–417.493–503; Christoph Schwöbel, Sola Scriptura – Schriftprinzip und Schriftgebrauch, in: Ulrich Heckel u. a. (Hg.), Luther heute. Ausstrahlungen der Wittenberger Reformation, UTB 4792, Tübingen 2017, 1–27; Dalferth, Wirkendes Wort (s. Anm. 4), 125–134.334–365; Peter Wick/Malte Cramer (Hg.), Allein die Schrift? Neue Perspektiven auf eine Hermeneutik für Kirche und Gesellschaft, Stuttgart 2019; Claritas scripturae? Schrifthermeneutik aus evangelischer Perspektive. Im Auftrag der VELKD hg. v. Christina Costanza/Martin Keßler/Andreas Ohlemacher, Leipzig 2020; Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen. Ein Grundlagentext des Rates der EKD, Leipzig 2021, 29–50. Martin Luther, De servo arbitrio, WA 18, 606,29; LDStA 1, 237,1f.

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ULRICH HECKEL Kontext bedacht als auch theologisch im Sinne dieses Schriftverständnisses von Christus her ausgelegt werden.72 Dieser kritische Maßstab gilt nicht zuletzt für die theologische Beurteilung einzelner biblischer Bücher durch Luther selbst. Im Ringen um das rechte Verständnis der Rechtfertigungslehre ist es nach seiner Vorrede auf den Jakobusbrief (1522) „der rechte Prüfstein“ für die apostolische Autorität aller heiligen Bücher, „ob sie Christum treiben oder nicht“,73 d. h. das heilbringende Zeugnis von dessen Leiden und Auferstehung zur Geltung bringen. Diese Frage nach der Heilsbedeutung ist das theologisch entscheidende Kriterium für die Autorität einer biblischen Aussage. Den Prüfstein allein auf das Gebot der Nächstenliebe reduzieren zu wollen, wäre eine unsachgemäße Verkürzung, die Luthers theologisch kritisches Anliegen verfehlt. Die Schrift erschließt sich für Luther nicht durch die Tradition der Kirche oder irgendeine andere Instanz, sondern sie ist „ihr eigener Ausleger“.74 Dabei geht Luther von einer doppelten Klarheit der Schrift aus,75 nämlich einer äußeren Klarheit im Wortlaut des Textes und einer inneren Klarheit in den Herzen der Gläubigen. Die äußere Klarheit der Schrift führt zur inneren Gewissheit, die freilich allein der Heilige Geist zu geben vermag. Auch wenn einzelne Bibelstellen sprachlich dunkel sein mögen, ist die Botschaft der Schrift von der Rechtfertigung des Gottlosen allein aus göttlicher Gnade klar und eindeutig. Im Sinne dieser theologischen Klarheit sind auch dunkle Stellen auszulegen. Ist diese Botschaft äußerlich klar, kann der Heilige Geist durch das Evangelium auch die innere Klarheit des Gottvertrauens und der Glaubensgewissheit schenken. Solcher Glaube lässt sich nicht argumentativ durch Beweise herbeiführen oder gar erzwingen, sondern ist und bleibt eine unverfügbare Gabe des Heiligen Geistes.

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Zur Benutzung isolierter Bibelzitate in den sog. Kernstellen der Lutherbibel, den Herrnhuter Losungen, Denksprüchen und ökumenischen Konsensdokumenten vgl. Heckel, Buch der Bücher (s. Anm. 4), 36. WA DB 7, 384; Luthers Vorreden zur Bibel, hg. v. Heinrich Bornkamm, Bielefeld 31989, 216. Martin Luther, Assertio omnium articulorum, WA 7, 97,23f.: „sui ipsius interpres“. Martin Luther, De servo arbitrio, WA 18, 606–609.655–656.

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DIE HEILIGE SCHRIFT IM GOTTESDIENST Als Wort Gottes erweist sich die Schrift für Luther erst durch die Anrede an uns. Dies muss immer wieder neu geschehen in zwei Schritten: Zum einen muss jemand die Texte auf sich selber beziehen, sie als Anrede Gottes an sich verstehen und sich von Gott angeredet wissen. Zum anderen gilt es theologisch zu unterscheiden, was Luther „Gesetz“ und „Evangelium“ nennt. 76 Ohne zu erkennen, dass man selbst betroffen ist, gibt es keinen Umgang mit der Schrift als Wort Gottes. Und ohne Gottes Aufforderungen und Zusagen auf sich selbst zu beziehen, keine Möglichkeit, zwischen Gesetz und Evangelium am Wort Gottes, zwischen Gottes Anspruch und Zuspruch zu unterscheiden. Mit Gesetz und Evangelium sind bei Luther nicht einzelne Textabschnitte, Textsammlungen oder Textgattungen gemeint, sondern die Wirkungsweise des Wortes Gottes, wie Menschen sich von Gott angeredet und berührt erfahren. Was Luther mit „Gesetz“ meint, darf nicht mit der jüdischen Tora, den fünf Büchern Mose, gleichgesetzt werden. Auch das Alte Testament enthält Evangelium, auch das Neue Testament enthält Gesetz. Selbst ein und derselbe Text kann sowohl als Gesetz als auch als Evangelium verstanden werden, als Kritik und als Befreiung, wie Luther am ersten Gebot verdeutlicht (2 Mose 20,2–3). Das Gesetz ist Gottes Aufforderung, es sagt nicht nur „Du sollst“, es schreibt nicht nur vor, was zu tun oder zu unterlassen ist. Es zeigt auch, worin die Verfehlung besteht, d. h. es deckt die Sünde auf. Das Evangelium überwindet die Sünde, die von Gott trennt, durch die Gabe des Glaubens. Es sagt: „Du bist, was du bist, von Gott und durch Gott.“ Es ist Gottes Zusage, es spricht zu, was jemand vor Gott ist, nämlich gerechtfertigt allein aus Gnade. Gemeinschaft mit Gott, Vergebung und ewiges Leben empfängt der Mensch allein durch den Glauben an das Evangelium von Jesus Christus. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist nach Luther „die höchste Kunst in der Christenheit“77 76

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Vgl. Reiner Preul, „Du sollst Evangelium predigen“ / „nihil nisi Christus praedicandus“ – Gesetz und Evangelium in der Predigt, in: Heckel u. a. (Hg.), Luther heute (s. Anm. 70), 211–229; Wolf-Friedrich Schäufele, Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Ihre Bedeutung für das Verständnis des Alten Testaments nach seinen Bibelvorreden, in: Axt-Piscalar/Ohlemacher (Hg.), Duale (s. Anm. 13), 49–71; Christine Axt-Piscalar, Gesetz und Evangelium. Thesen zur Bedeutung der lutherischen Unterscheidung, a. a. O., 15–48. Martin Luther, Predigt über Gal 3 (1532), WA 36, 25,5f.; vgl. die Vorlesung zu Gal 2,14, WA 40/I, 207,17f.

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ULRICH HECKEL und darum Maßstab guter Theologie.78 Worin diese Herausforderung besteht, wird nachvollziehbar bei der Lektüre der alttestamentlichen Prophetenbücher mit ihren so unterschiedlichen Gerichtsansagen, Trostworten und Heilsverheißungen (Jes; Jer; Hes; Am; Mi; Zef u. a.) sowie insbesondere im Römerbrief (Röm 1– 8). Damit leistet die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium einen wesentlichen Beitrag, um die Vielfalt der biblischen Texte in der Einheit von Altem und Neuem Testament ebenso zur Geltung zu bringen wie die frohe Botschaft von Jesus Christus als Mitte der Schrift.

9 Die Bibel, die Kirche und die Ökumene Kommen wir auf die Bedeutung der Bibel für den Glauben und die Kirche zurück, so hat sie ihren ursprünglichen Sitz im Leben von Anfang an im christlichen Gottesdienst, d. h. als gesprochenes Wort. Wie im jüdischen Synagogengottesdienst dienen auch hier die Schriften des Alten Testaments als Schriftlesung (Lk 4,16– 21; Apg 13,15; 15,21; 2 Kor 3,14–15). Daneben wird aus den Evangelien (Mk 13,14) und den Paulusbriefen (1 Thess 5,27; Kol 4,16) vorgelesen (1 Tim 4,13; 5,18) und die Lehre der Apostel verkündigt (Apg 2,42; 1 Kor 4,17), nämlich das Evangelium von Jesus Christus (Mk 1,1; Röm 1,1–4; 1 Kor 15,1–11).79 Weil die Bibel das Evangelium von Jesus Christus bezeugt, wird sie im Gottesdienst als Heilige Schrift verwendet. Durch Vorlesen und Auslegen wird die Schrift wieder zur mündlichen Anrede, zum lebendig verkündigten Wort Gottes heute (Hebr 3,7.13.15; 4,7). Durch die Predigt des Evangeliums schenkt der Heilige Geist den Glauben, der aus dem Hören auf das Wort Christi kommt (Röm 10,17). Darum blieb die Jerusalemer Urgemeinde beständig in der Lehre der Apostel, in der Gemeinschaft, im Brotbrechen beim Abendmahl und im Gebet (Apg 2,42). Deshalb soll nach Luther im Gottesdienst nichts anderes geschehen, 78

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Vgl. Dalferth, Wirkendes Wort (s. Anm. 4), 130–133.343.356.363f.; Ulrich H. J. Körtner, Luthers Provokation für die Gegenwart. Christsein – Bibel – Politik, Leipzig 2018, 58–80, hier 64.79; Axt-Piscalar, Gesetz und Evangelium (s. Anm. 76), 29f. Vgl. Salzmann, Lehren (s. Anm. 2), 131–132; 473–476; Eckstein, Gottesdienst (s. Anm. 3), 24–27.32–35.

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DIE HEILIGE SCHRIFT IM GOTTESDIENST „als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.“80 Dadurch sind in neutestamentlicher Zeit christliche Gemeinden entstanden. Davon lebt die Kirche Jesu Christi als Gemeinschaft der Gläubigen weltweit bis heute. Neben der persönlichen oder gemeinsamen Bibellektüre ist die Feier des Gottesdienstes der zentrale Ort des Schriftgebrauchs mit dem Wahrheitsanspruch des Redens von Gott und zu Gott. Deshalb ist es von großer symbolischer Aussagekraft, dass in evangelischen Kirchen eine Bibel auf dem Altar aufgeschlagen liegt und so im Zentrum des Gottesdienstes steht. Hier wird das gedruckte Wort wieder zur lebendigen Anrede. Hier wird ein Raum für persönliche Zueignung und Aneignung eröffnet. Hier erfahren sich Gemeinden als Erzähl-, Gebetsund Bekenntnisgemeinschaft, wird Kirche lebendig als Lese- und Hör-, Interpretations- und Auslegungs-, Gesprächs- und Lebensgemeinschaft.81 So bildet der biblische Kanon die gemeinsame Grundlage, die alle Konfessionen und Gläubigen in der weltweiten Ökumene miteinander verbindet.82

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Martin Luther, Predigt zur Einweihung der Torgauer Schlosskirche, WA 49, 588,12– 18; DDStA 2, 855. Vgl. Luz, Hermeneutik (s. Anm. 68), 555–558. Vgl. Heckel, Kennzeichen (s. Anm. 67); ders., Heiden (s. Anm. 67); ders., Dass sie alle eins seien (Joh 17,21). Ephesus als Ort der „Ökumene“ und die Einheit der Kirche im Johannesevangelium (KuD 68 [2022], 6–42).

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Eva, Adam und die Schlange Grundfragen zur Macht des Bösen Ekkehard Mühlenberg 1 Gemeindevortrag 1.1 Der biblische Text: Die Sündenfallgeschichte 1. Mose 2,4b–3,241 In Petit ist gesetzt, was für den Ablauf der Erzählung weniger wichtig ist.

Gottes Schöpfung 24b Als Gott der Herr Erde und Himmel machte 5 und es alles Gesträuch des Feldes noch nicht gab auf Erden und alles Kraut des Feldes noch nicht sprosste, weil Gott der Herr noch nicht hatte regnen lassen auf die Erde, und als es noch keinen Menschen gab, den Erdboden zu bebauen 6 und noch ein Quell aus der Erde emporstieg und das ganze Land tränkte, 7 da bildete Gott der Herr den Menschen aus Staub von der Erde und blies

den Odem des Lebens in seine Nase; so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. 8 Dann pflanzte Gott der Herr einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. 9 Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der 1

Es handelt sich um einen Lesetext, der eine Eigenproduktion aus verschiedenen Elementen darstellt. Anklänge an die Lutherbibel sind beabsichtigt.

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EVA, ADAM UND DIE SCHLANGE Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. 10

Und es geht aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilt sich von da an

in vier Hauptarme. 11 Der erste heißt Pischon, der fließt um das ganze Land Hawila und dort findet man Gold; 12 und das Gold des Landes ist kostbar. Auch findet man da Bedolachharz und den Edelstein Schoham. 13 Der zweite Strom heißt heißt Gibon, der fließt um das ganze Land Kusch. 14 Der dritte Strom heißt Tigris, der fließt östlich von Assyrien. Der vierte Strom ist der Euphrat.

Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. 16 Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, 17 aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben. 18 Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. 19 Und Gott der Herr machte aus Erde alle 15

die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier benennen würde, so sollte es heißen. 20 Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen wurde keine Hilfe gefunden, die ihm entsprach. 21 Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. 22 Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.

Da sprach der Mensch: Die ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist. 24 Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch. 25 Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht. 23

Der Sündenfall 31 Und die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte, und sprach zu der Frau: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht

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EKKEHARD MÜHLENBERG essen von allen Bäumen im Garten? 2 Da sprach die Frau zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; 3 aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet! 4 Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, 5 sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. 6 Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß. 7 Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. 8 Und sie hörten Gott den Herrn, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Gottes des Herrn zwischen den Bäumen im Garten. 9 Und Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? 10 Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. 11 Und er sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen? 12 Da sprach Adam: Die Frau, die du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum und ich aß. 13 Da sprach Gott der Herr zur Frau: Warum hast du das getan? Die Frau sprach: Die Schlange betrog mich, so dass ich aß. 14 Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht vor allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Staub fressen dein Leben lang. 15 Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen. 16 Und zur Frau sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein. 17 Und zum Mann sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deiner Frau und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen ─, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. 18 Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst

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EVA, ADAM UND DIE SCHLANGE das Kraut auf dem Felde essen. 19 Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist. Denn Staub bist du und zum Staube kehrst du zurück. 20 Und Adam nannte seine Frau Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben. 21 Und Gott der Herr machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an. 22 Und Gott der Herr sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und nehme auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! 23 Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war. 24 Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.

1.2 Eva, Adam und die Schlange. Grundfragen zur Macht des Bösen 1.2.1 Einleitung Das Böse – wenn es sich ereignet, sind wir erschrocken. Was Leben zerstört, darf nicht sein. Wir lehnen uns auf und fragen, woher das Böse kommt. Denn es ist kaum vorstellbar, dass ein Mensch das Zerstören des Lebens beabsichtigt. So will Rache Gerechtigkeit wieder herstellen, Hass Feinde ausrotten. Uns ist solches Tun böse. Wie kann es sein, dass das Böse Menschen ergreift? Ich habe nicht vor, einen systematisch aufgebauten Vortrag über das Böse zu halten. Sondern ich möchte die Sündenfallgeschichte nacherzählen – deuten. Am Anfang unserer Bibel steht die Geschichte vom Sündenfall: 1. Mose Kapitel 3. Sie hat in Kapitel 2 einen Vorspann (ab V. 4b). Diese Erzählung ist so einzigartig, ja faszinierend, dass sie in der Christenheit und weit darüber hinaus immer wieder begeistert hat. In der Neuzeit dagegen hat sie heftigen Widerspruch erfahren, weil es nicht wahr sein darf, was da zu lesen ist. Ich nenne zwei Bücher: Kurt Flasch, Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos, München 2004 (2017); und

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EKKEHARD MÜHLENBERG Stephen Greenblatt, Die Geschichte von Adam und Eva. Der mächtigste Mythos der Menschheit, München 2018. Es gibt viel mehr Bücher, und kaum jemand schreibt über den Menschen und das Böse, ohne sich zur biblischen Sündenfallgeschichte zu äußern. Ich habe meinen Titel halb gestohlen, wenn man so sagen darf. Eine amerikanische Kollegin veröffentlichte 1988: Adam, Eve, and the Serpent (Elaine Pagels). Sie schreibt über die Herabsetzung der Frau und welche desaströsen Folgen für die Kirchengeschichte und für die Kulturgeschichte und für die Menschheitsgeschichte das hatte, wenn Eva die Verführerin ist. Mein Untertitel: „Grundfragen zur Macht des Bösen“ ist mein eigener Beitrag. Mein Habilitationsvortrag 1968 befasste sich mit der Macht des Bösen. Damit bin ich in die Universitätslaufbahn eingetreten. Mein Grundgedanke besagt: Das Böse hat eine solche Macht über den Menschen, dass nur Gott davon erlösen kann. Ganz entsprechend der Bitte im Vaterunser-Gebet: Erlöse uns von dem Bösen. Meine Frage also: Was ist das Böse in der Sündenfallgeschichte? Und: Warum ist das Böse so mächtig, dass Eva und Adam ihm erliegen, d. h. alle Menschen ihm immer wieder erliegen?

1.2.2 Die biblische Geschichte Die Geschichte vom Sündenfall ist eine eigene Erzählung. Sie beginnt ganz neu in 1 Mose 2,4b und reicht bis Kapitel 3 Ende. Es ist nichts zu der vorausgehenden Schöpfung in sieben Tagen und der Erschaffung des Menschen nach dem Bilde Gottes gesagt. Deswegen nimmt man an, dass es sich um zwei verschiedene Verfasser handeln muss. Die endgültige Zusammenstellung des Kapitels 1 mit den Kapiteln 2 und 3 bleibt ein Rätsel, und keine Spekulation hat es bisher gelöst. Der Erzähler, dessen Text in Kapitel 2 V. 4b einsetzt, wird in der Forschung Jahwist genannt. Dieser Name leitet sich aus der Bezeichnung für Gott ab, die er im Unterschied zu Kapitel 1 und auch weiterhin im 1. Mosebuch benutzt. Sein Gott heißt Jahwe, gewöhnlich „das Tetragramm“ genannt, das sind vier Buchstaben JHWH – die Juden sprechen den Namen Gottes nicht aus, sondern sagen ADONAJ = Herr, so ins Griechische übersetzt mit ὁ κύριος und im Deutschen: „der Herr“.

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EVA, ADAM UND DIE SCHLANGE Die Sündenfallerzählung hat zwei Teile, erst die Konstellation = Ort, Akteure und Zustand; das ist Kapitel 2. Dann folgt die Handlung plus Folgen. Viele Forscher bevorzugen für den ganzen Abschnitt den Titel: die Paradiesgeschichte. Denn, so behaupten sie, die Geschichte solle erklären, warum das Paradies verloren ist und jetzt der mühselige Zustand der Ackerbaumenschen bestehe. Aber der Sündenfall hat grundlegend eine andere Dimension: Beschrieben wird das Handeln Gottes und dann des Menschen Verhältnis zu Gott. Der Einsatz ist ein einziger langer Satz von V. 4b bis V. 7: „Als Gott der Herr Erde und Himmel machte und es alles Gesträuch des Feldes noch nicht gab auf Erden und alles Kraut des Feldes noch nicht sprosste, weil Gott der Herr noch nicht hatte regnen lassen auf die Erde, und als es noch keine Menschen gab, den Erdboden zu bebauen und als noch ein Strom aufstieg aus der Erde und das ganze Land tränkte, da bildete Gott der Herr den Menschen aus Staub von der Erde und blies den Odem des Lebens in seine Nase; so wurde der Mensch ein lebendes Wesen.“

Gott handelt. Gott bildet den Menschen. Die körperliche Materialität des Menschen ist Erde, der Odem des Lebens ist von Gott, so dass Gott dem Menschen den Lebensodem auch wieder wegnehmen kann. Für der Mensch steht im Hebräischen ʼādām, und der Mensch ist genommen aus ʼādāmā. – Sie hören den Zusammenhang. Die Erdoberfläche war alles das, was das bebaute Ackerland nicht ist, alles Verneinungen: noch nicht. Dann kommt die zweite Tat Gottes: Gott erschafft einen Garten in Eden, eine Obstbaumplantage. Der Garten bietet vorzügliche Nahrung. Mitten im Garten stehen zwei besondere Bäume: Der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Der Text der Erzählung ist in V. 9 nicht ganz ausgeglichen. Im Folgenden werden diese beiden Bäume gebraucht; deswegen sind sie hier beide genannt. Aber wichtig ist vorläufig nur der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Es schließt sich in V. 10–14 eine Geografie von Eden an: Wo ist Eden auf der Landkarte zu verorten? Irgendein Wissen über „östlich von Palästina“ nimmt der Erzähler auf, als hätte er es in einem Lexikon nachgeschlagen. Der Garten in Eden ist für den Menschen geschaffen. Dort kann der Mensch leben

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EKKEHARD MÜHLENBERG und sich mühelos ernähren. Es gibt keine weitere Beschreibung des Lebens im Paradies; das interessiert den Erzähler nicht. Vielmehr interessiert den Erzähler nur eins: Die göttliche Ordnung für den Menschen. Ein Baum soll dem Menschen unzugänglich bleiben, nämlich die Früchte vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du, Mensch, nicht essen! Sonst musst du sterben, lautet die Strafe für den Genuss von diesem Baum (V. 16–17). Was ist Gut und Böse? Wir erfahren es aus dem Text. Denn Gott entscheidet, was für das Leben des Menschen gut ist, also für das Leben des Menschen förderlich ist. Gott schafft es, Gott stellt es bereit. Im Gottesspruch heißt es dann V. 18: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. Gott hat festgelegt, dass der Mensch Gemeinschaft braucht. Die Tiere werden geschaffen – dadurch wird der Kontrast umso deutlicher. Der Mensch ordnet die Tiere ein. Aber für den Menschen wurde keine Hilfe gefunden, die ihm entsprach (V. 20). Dies Urteil steht neutral und gilt für Gott und für den Menschen. Die wirklich lebensförderliche Gemeinschaft ist also nicht ein Tier – der armselige Opa, wenn er nur noch seinen Hund hat. Die Frau – ein großartiges Bild, das jede neugierige Frage abschneidet: aus einer Rippe des Menschen, Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch, urteilt der Mensch. Der Mensch erkennt also, dass die Frau die Andere seiner selber ist, dass sie für sein Leben gut ist, d. h. unbedingt förderlich ist. Und ihre Gemeinschaft ist unbedingt: sie werden ein Fleisch sein (V. 24), sie werden eine Gemeinschaft sein, die allen anderen Gemeinschaften vorausliegt. Und es ist eine vorbehaltlose Gemeinschaft zwischen Mann und Frau: Und sie waren beide nackt, der Mann und seine Frau, und schämten sich nicht (V. 25). Ich sage ganz deutlich: die Sexualität ist eingeschlossen, aber nicht der Grund für die abschließende Feststellung. Vielmehr ist es die Gemeinschaft, die durch nichts gestört ist, unschuldig wie bei Kindern in der Vertrautheit miteinander. Der Erzähler schließt damit der Schöpfung Gottes ab. Er tut es durch ein anschauliches Bild. Vergleichen Sie den Abschluss der ersten Schöpfungsgeschichte. Da heißt es am Schluss: Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte; und siehe, es war sehr gut (Gen. 1,31). Ein theologisches Urteil wird formuliert. Unser Erzähler bleibt auf der bildlichen Ebene und lässt die Augen sprechen: und schämten sich nicht! Die Gemeinschaft, die Gottes Schöpfung hervorgebracht hatte, ist eine gelungene Gemeinsamkeit. Es gibt keine

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EVA, ADAM UND DIE SCHLANGE Scham, weil der Mensch und die Frau nichts voreinander verbergen müssen, aber auch nicht vor Gott verbergen müssen, so dass die Vollkommenheit der Gemeinschaft mit Gott und die Vollkommenheit der Gemeinschaft zwischen dem Menschen und seiner Frau die gelungene Schöpfung Gottes feststellt. Wir sind an diesem Punkt nicht am Ende des ersten Teils einer Paradiesgeschichte angelangt, sondern hier endet die Vorgeschichte, die Vorgegebenheit zum Sündenfall. Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht. Man muss den folgenden Vers (3,1) auf Hebräisch hören, um zu verstehen, dass hier ein Anschluss gemeint ist: ʽarummīm = nackt (Plural); ʽārūm = klug. Es ist ein Wortgleichklang, wie auch in unserer westlichen Kultur dem „malum“ (böse) der „Apfel“ entspricht, den Eva dem Adam gab – nichts als ein Wortgleichklang, aber dadurch einen Anschluss markierend: Und die Schlange war klüger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott gemacht hatte […] klug = listig, wie auch in der griechischen Bibelübersetzung φρονιμώτατος. Klugheit, die hat auch der Verbrecher, wenn er seine Untat plant. Warum der Erzähler die Schlange einführt, darüber gibt es Spekulationen. Aber sie helfen nicht weiter. Um diesem Tier Listigkeit zuzuschreiben, dessen bedarf es keiner mythischen Erklärung. Die einfache Naturbeobachtung, besonders den Menschen betreffend, lehrt, wie hinterhältig sich die Schlange verbirgt, um ihre Beute zu schnappen. Wichtiger als die Frage nach der Herkunft des Motivs „Schlange“ ist die Tatsache, dass die Schlange ein Geschöpf Gottes ist. Das Böse, zu dem die Schlange verlockt, ist also keine außerirdische Macht neben Gott, sondern das Böse entsteht innerhalb der von Gott gemachten Welt. Kein Dualismus – um es mit einem Schlagwort zu sagen. Die Verführung richtet sich an die Frau – ich lasse mich hier auf Feminismus nicht ein. Und die Verführung beginnt damit, dass Zweifel hervorgerufen wird: Ja, sollte Gott gesagt haben? Die Frau weiß, was Gott gesagt hat; sie wiederholt es und intensiviert es durch den Zusatz: rühret die Frucht von diesem Baum nicht an! (V. 3). Das Gebot für die Schöpfung ist deutlich bekannt. Dann verschiebt die Schlange den Akzent. Die Schlange unterspielt die Strafandrohung des Todes und führt aus, was das Essen von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen bewirkt: Die Augen werden geöffnet und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Es ist ein Versprechen: „Ihr werdet sein wie Gott, wissend, was gut und böse ist.“ Schauen wir genau auf den Text: Erstens, dass es Gott zukommt,

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EKKEHARD MÜHLENBERG gut und böse zu erkennen; es ist eine Gott eignende Macht. Zweitens ist die Tat des Essens von der Frucht dieses Baumes gegen Gottes Gebot; Gott will verhindern, dass sich der Mensch diese Macht aneignet und damit die Gemeinschaft mit Gott aufbricht und verneint. Drittens ist die Tat an sich das Aneignen. Nun die Frau: kurz, aber prägnant, sagen wir: in den Sinnen der Frau der Vorgang, der zur Handlung führt. Die Schlange hatte gesagt, Gott wisse, was das Essen von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen bewirke. Daraufhin öffnet sich etwas. Der besagte Baum erscheint in einem neuen Blick. Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre. Das gut zu essen changiert in eine Lust für die Augen, und nun ist der nächste Takt das verlockend, wozu das Ziel der Anziehungskraft namhaft gemacht wird: weil er klug macht. V. 6: Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß. Die Folge schließt sich an den abschließenden Satz der Vorgeschichte an. Dort hieß es: Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht. Jetzt dagegen: Da wurden ihnen die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze (V. 7). Die Scham tritt auf. Die Scham dokumentiert, dass ihre Gemeinschaft gestört ist. Aber auch die Gemeinschaft mit Gott ist gestört, denn vor Gott versteckt sich Adam, weil er nackt ist. Dass der Mensch, Adam, das Gottesgebot übertreten hat, weiß er; es befällt ihn ja die Scham. Eine Schuld für die Tat auf sich zu nehmen, ist der Mensch nicht bereit. Gott, sein Schöpfer, fordert das Schuldgeständnis. Stattdessen kommt die Ent-schuldigung, das Abschieben der Schuld (uns ja sehr geläufig). V. 11–13: „Und Gott sprach zu Adam: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen? Da sprach Adam: Die Frau, die du mit zugeteilt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß. Da sprach Gott der Herr zur Frau: Warum hast du das getan? Die Frau sprach: Die Schlange betrog mich, so dass ich aß.“

Das Strafurteil Gottes – betreffs der Schlange interessiert nur, insofern eine Gemeinschaft zwischen Mensch und Tier (nur diesem Tier?) in Feindschaft gewan-

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EVA, ADAM UND DIE SCHLANGE delt ist. Betreffs der Frau: Die Mühsal des Gebärens ist die Strafe. Und die Veränderung des Verhältnisses zwischen Mann und Frau: Herrschaft und Unterordnung statt Gleichheit. Betreffs des Mannes: die Mühsal der Besorgung des Lebensunterhaltes; in der Erzählung ist es die Mühsal der Ackerarbeit. Betreffs des Mannes wird die ursprüngliche Strafandrohung Gottes wieder aufgenommen, aber abgewandelt: kein sofortiger Tod, sondern die Sterblichkeit: […] bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist. Denn Staub bis du und zum Staube kehrst du zurück (V. 19). Diejenigen, welche die Erzählung vom Sündenfall nicht mögen, weil sie Falsches über den Grundzustand der Menschen suggeriere, weisen auf die Inkonsequenz Gottes hin; sterben sollte doch der Mensch sofort, hatte Gott geboten. Aber weiterblickende Ausleger sehen, dass Gott in der ganzen Urgeschichte inkonsequent handelt. Gott gewährt Bewahrung in der Sterblichkeit des Menschen; schon die Fellkleider, die Röcke aus Fell! Es ist derselbe Erzähler, der über den Brudermörder Kain berichtet, dass er nicht erschlagen werden dürfe (Gen 4,15). Wegen der Bosheit der Menschen kommt die Sintflut; aber nach der Sintflut spricht Gott: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten der menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf […] Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht (Gen 8,21–22). Und beim Turmbau zu Babel werden nicht die Erbauer mit dem Tode bestraft, sondern ihr Werk wird von Gott unmöglich gemacht (Gen 11,7–8). Der sündige Mensch verdankt also Gottes Gnade, dass sein Leben, obwohl sterblich, bewahrt ist. Zur Vertreibung aus dem Paradies bemerke ich nur, dass der Grund angegeben ist: Damit die Menschen sich nicht an dem Baum des Lebens vergreifen und ewiglich leben (V. 22), d. h. unsterblich werden. Ewig-Sein bleibt Gott vorbehalten. Das Paradies ist für den Menschen verloren. Das sagt die alttestamentliche Sündenfallerzählung.

1.2.3 Einsprüche Ich bin zu diesem Vortrag gekommen, weil mich die Frage bewegte: Warum das eine Gebot, nicht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen? Warum

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EKKEHARD MÜHLENBERG soll gerade die Erkenntnis von Gut und Böse dem Menschen verboten sein? Die christliche Theologie ist dieser Frage ausgewichen, von den Anfängen bis heute, mit ganz wenigen Ausnahmen. Christliche Theologen sahen in der Sündenfallerzählung Gottes Gebot, und sie sahen, dass Gottes Gebot übertreten wurde. Das Fazit aus solcher Sicht überrascht niemanden: Sünde hat der Mensch begangen, weil er Gott ungehorsam wurde. Die Religionsgeschichte fasst den Sachverhalt in folgende Einsicht: Der mythologische Gott sichert sich seine Herrschaft über den Menschen durch ein Verbot. Das ist eine formale und ganz abstrakte Einsicht, und die Luft ist raus aus der Sündenfallerzählung. Wo denn doch der Inhalt des Verbotes betrachtet wurde, da kriselt es – da ist die Zündschnur zu einem Brandsatz angezündet. Im frühen Christentum gab es eine theologische Bewegung, die fanden in dem Verbot der Erkenntnis von Gut und Böse einen Beweis dafür, dass der alttestamentliche Gott ein eifersüchtiger Gott ist, ein schlechter Gott, ein Gesetzesgott, der schlechte Schöpfer dieser schlechten Welt. Häresie war das für die kirchlichen Theologen (Gnostische Theologen; vgl. z. B. Pagels). In der Neuzeit wurde der Griff nach der Frucht, die Erkenntnis von Gut und Böse bewirkt, gepriesen als die Urtat moralischer Selbstbestimmung. Friedrich Schiller sagte: „das erste Wagstück menschlicher Vernunft“, „die glücklichste Tat und größte Begenheit der Menschheit“. (Friedrich Schiller, Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde, Thalia 1790, Heft 11). Soll es nun keine Häresie mehr sein?

1.2.4 Die Sündenfallerzählung in systematischer Betrachtung: Sechs Punkte Erstens ist die Aneignung, die Beanspruchung der Erkenntnis dessen, was dem Menschen lebensfördernd und was dem Menschen lebensschädlich ist, eine Usurpation, ein eigensüchtiger Raub. Es ist das Verlangen nach eigennütziger Lebensmöglichkeit. Der Ursprung ist der Zweifel an Gottes Gutsein, an Gottes guter Fürsorge.

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EVA, ADAM UND DIE SCHLANGE Zweitens ergibt sich aus der Sündenfallerzählung, dass die Tat das gute Handeln Gottes faktisch verneint. Das Gebot wird übertreten. Es wird Nein gesagt zu diesem Gebot Gottes und damit Nein zu Gott. Punkt 1und 2 sind enthalten in dem Satz: Ihr werdet sein wie Gott – fortgeführt in: Ihr wisst und urteilt selber, was lebensförderlich und was lebensschädlich ist. Ich greife das in Punkt 5 wieder auf. Drittens: Die Entscheidung und die Tat, das eine Gebot Gottes zu übertreten, sind frei vom Menschen ausgeführt. Verlockend, begehrenswert – das Begehren entspricht dem, was der Apostel Paulus im Römerbrief, Kapitel 7, sagt: Die Sünde ist das Begehren. Erkennbar als Böses wird das Begehren durch das Gesetz = Gottes Gebot, übertreten wird das Gebot. Die Schlange der Sündenfallerzählung ist nicht eine Macht neben Gott, sondern der irrationale Ursprung von Zweifel an Gottes Gutsein und das Begehren des Ich, sich selber an die Stelle Gottes zu setzen, die Freiheit des Anders-Sein-Könnens. Viertens: Die Sündenfallerzählung benennt nicht die bösen Folgen der Verneinung Gottes. Die bösen Folgen kommen erst in den Folgegeschichten zur Sprache: Kains Brudermord, die Bosheit und der Frevel vor der Sintflut, der Turmbau zu Babel, wo noch einmal zusammengefasst ist: Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf (Gen 8,21; vgl. 6,5). Es gipfelt in dem Sein-Wollen wie Gott (Turmbau). Eine Umwendung des Herzens aus eigener Kraft des Herzens ist nicht erreichbar. Der Mensch kann also nicht von sich aus das Böse auslöschen. Und doch ist das Erschrecken über das manifeste Böse der Anknüpfungspunkt für das Evangelium von der Vergebung und Gottes Liebe. Fünftens: Der Erzählung des Sündenfalls geht die Paradiesgeschichte voran. Man sagt insbesondere von der Paradiesgeschichte, dass sie ein Mythos sei, ein Produkt der Phantasie, geboren aus der Sehnsucht der Menschen nach Frieden und unverstörtem Gutsein, wo alle Beeinträchtigungen des menschlichen Lebens fortfallen. Ich sehe das anders: Die Paradiesgeschichte ist nicht einfach ein Urstand, der dem Fall vorausgeht und verloren ist, sondern die Paradiesgeschichte ist die Beschreibung von Gottes Gutsein, dem Schöpfer des Lebens und dem Erhalter des Lebens. Gott schafft das Leben, Gott schafft die Lebensmöglichkeit, er macht den Menschen zu einem lebendigen Wesen, er baut den Garten in Eden; Gott stiftet Gemeinschaft in Liebe – der Mensch und seine Frau.

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EKKEHARD MÜHLENBERG Der Mensch findet sich immer schon lebend vor; der Mensch findet sich auch vor als in Gemeinschaft lebend, weil es die anderen Menschen sind, die ihm seine Lebensmöglichkeit gegeben haben. Ein Mensch kann diese Voraussetzung anerkennen – ein Christ könnte dann singen: „Nun danket all und bringet Ehr, ihr Menschen in der Welt“ (EG 322). Es könnte auch sein, dass jemand darauf vertraut, mehr Lebensmöglichkeit würde sich ihm eröffnen – ein Christ könnte dann singen: „Befiehl du deine Wege“ (EG 361). Die Paradiesgeschichte ist in dem Sinne notwendig, dass Gott als der Geber alles Guten gezeigt wird, dem individuellen Ich schon vorgegeben – woraus das individuelle Ich immer schon lebt. Die Sündenfallerzählung hält diese Voraussetzung auch über den Sündenfall hinaus fest durch Leben zu können trotz des Bruchs der Gemeinschaft mit Gott – dafür gibt Gott die Fellkleider. Leben zu können trotz der Vertreibung aus dem Baumgarten in Eden – dafür bleibt der Acker, wenn auch mit Mühsal. Leben zu können trotz des Bruches der Gemeinschaft des Menschen mit der Frau – die Frau wird Leben gebären, wenn auch mit Schmerz, und die Frau bleibt Hilfe für den Menschen, wenn auch in gestörter Zuordnung. Im Blick auf das Neue Testament, also vom christlichen Glauben her, wären einige Aussagen zu modifizieren, etwa in diesem Sinne nach dem genannten Lied, „Nun danket all“ V. 4: „der, ob wir ihn gleich hoch betrübt, doch bleibet guten Muts, die Straf erlässt, die Schuld vergibt und tut uns alles Guts.“ Sechstens. Abschließend eine steile These: Das Böse hat seine Macht aus der Verneinung Gottes. Diese Freiheit, Gott zu verneinen, hat der Mensch. Aber das Böse kann die Gegenwärtigkeit Gottes nicht beseitigen. Das Böse wirkt eben durch die Pervertierung des Guten (nicht negatio boni und nicht privatio boni / Mangel an Gutem, vielmehr perversio boni). Das funktioniert nicht ohne Täuschung. Täuschung gehört zum Wesen des Bösen. In der biblischen Sündenfallerzählung sagt die Frau, als Gott sie konfrontiert: Die Schlange betrog mich, so dass ich aß. Das Böse entsteht durch eine Pervertierung des Guten und erlangt seine Macht dadurch, dass es sich als das Gute ausgibt. Und sich als eine Macht etabliert, als ein Reich des Bösen (vgl. Immanuel Kant). Der Trug kann gering und kann groß sein; immer präsentiert sich das Böse als das Lebensschädliche/Lebensbehindernde, als ob es unbedingt lebensfördernd sei.

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EVA, ADAM UND DIE SCHLANGE Vgl. ein literarisches Beispiel: Jonathan Little, Die Wohlgesinnten/Les bienveillantes (2006) über einen SS-Offizier (Prix Goncourt). Vgl. auch bei Paulus Römer 7,7–13, wo V. 11 zu erklären ist. Deswegen kann alles, was über das Böse zu sagen ist, in dem Satz zusammengefasst werden, wie es Jesus am Kreuz sagte: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun. (Lk 23,24).

2 Nachlese Der vorangehende Text ist die schriftliche Vorlage eines Vortrags, den ich am 9. August 2018 im evangelischen Gemeindehaus auf der Nordseeinsel Juist gehalten habe. Es liegt eine Lektüre ausgewählter exegetischer Beiträge und einiger Werke patristischer Quellentexte zugrunde. Die Form eines Gemeindevortrags habe ich beibehalten und deswegen keine Anmerkungen hinzugefügt. Hinweise zu meinen Präferenzen und zu meinen Beobachtungen lasse ich hier folgen.

2.1 Alttestamentliche Exegese 2.1.1 Hermann Gunkel Ich bin hauptsächlich der Frage nachgegangen, worin der Sündenfall besteht. Ich bin kein Alttestamentler; meine Literaturauswahl ist sehr begrenzt und kann nur Verweischarakter haben. Es ist naheliegend, mit Hermann Gunkel2 zu beginnen. Bei ihm ist die „Paradieserzählung“ in der vorliegenden Form Gen 2,4b–3,24 vom Jahwisten aus zwei Quellen verfasst, hat aber ein paar literarische Unebenheiten (25–28). Jedoch interpretiert er alle Verse gleichmäßig als „Paradieserzählung“ und macht mehrere interessante Beobachtungen. Der „Urstand“ (Gen 2,25) sei dargestellt an „einem anschaulichen Beispiel, dem der Kinder, die Vernunft“ noch 2

Hermann Gunkel, Genesis, HK I,1 (5. unveränderte Auflage der 3. Auflage 1910), Göttingen 1922.

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EKKEHARD MÜHLENBERG nicht erreicht hätten und also gar nicht wüssten, dass sie nackt sind (14). Die „Übertretung“ der Frau wird beschrieben: „Die Sünde, die [die Frau und der Mann] begehen, und die Erkenntnis, die sie erlangen, ist hier also nicht unmittelbar psychologisch mit einander verbunden; dennoch darf man sagen, daß dem Erzähler eine Idee schon undeutlich vorschwebt, wenn er sie in seiner Darstellung freilich auch noch nicht erreicht, nämlich diese, daß Aufklärung, die Reife nur durch Sünde hindurch erlangt wird: man denke an die Art, wie halbwüchsigen Kindern die erste Kunde von den geschlechtlichen Dingen zukommt.“3

„Objektiv gesehen“ aber sei festgestellt: „das Erwachen zur Mündigkeit ist durch eine Sünde wider Jahve geschehen: der Mensch hat sie sich geraubt, wider Jahves Willen, der ihm den Baum ausdrücklich verboten hat; Gott aber hat diesen Frevel bestraft, indem er durch seinen Fluch das Elend auf die Menschen herabrief.“4

Gunkel stellt den biblischen „Mythos“ ausdrücklich einer Tragödie entgegen: „der Mensch hat nicht mit vollem Bewußtsein von der Bedeutung der Sache einen entsetzlichen Frevel begangen; sondern er ist verführt worden, er hat eine Kindessünde getan, naschhaft, harmlos; er ahnte nicht die furchtbaren Folgen seiner Tat. Das ist keine Tragödie, welche den Menschen erhebt, wenn sie den Menschen zermalmt; sondern das sind die jammervollen Folgen eines törichten Kinderstreichs […] des Menschen Sünde ist nicht Hochmut, sondern kindlicher Ungehorsam.“5

Betreffs der „religiösen Stimmung der Erzählung“, „Frömmigkeit“ anbelangend, urteilt Gunkel: 3 4 5

A. a. O., 18. A. a. O., 31. A. a. O., 32.

148

EVA, ADAM UND DIE SCHLANGE „Diejenige Eigenschaft Gottes, die für den Mythos in erster Linie in Betracht kommt, ist die, daß er die Schranke zwischen Gottheit und Menschheit aufrecht erhält.“6

Die Eigenschaft könne verschieden aufgefasst werden. Es könnte z. B. der Gottheit ein Neid, eine Missgunst zugeschrieben werden, gegen die sich der Mensch auflehne. Es könne aber auch dem Gott ein Machtwille zugeschrieben werden, der den hochmütigen ihm gleich sein Wollenden „in den Staub zurückwirft“. Dagegen im Mythos der „Paradieserzählung“: „Es wird ausdrücklich versichert, daß der Mensch mit Recht verflucht worden ist. Die Sünde, die der Mensch getan hat, wird zwar, wo ihre psychologische Entstehung geschildert wird, als eine Kindersünde dargestellt; aber bei der Verfluchung heißt es doch mit großem Ernste, daß es eine Übertretung gewesen ist: ich hatte dir verboten, von dem Baume zu essen! Der Mensch wußte, daß er gegen Gottes Gebot handelte; und Gott hatte den Tod darauf gesetzt. Ja Gott hat noch Gnade walten lassen und seine urspüngliche Drohung nicht einmal vollzogen, dem liebenden Vater gleich, der das Kind nicht so schwer bestraft, wie er ihm zuvor angedroht hat.“7

Gunkel überdeckt seine Beobachtungen am Text jedoch durch seine Gattungsbestimmung der „Sage“. Die Sage ist ätiologisch. Deswegen sei es falsch, „diese Erzählung den ‚Sündenfall‘ zu nennen“. „Aber diese zentrale Stellung hat der Sündenfall in der alten Erzählung keineswegs. Die Hauptsache steht vielmehr, wie in den alten Erzählungen stets, am Ende; und diese Hauptsache ist also die Austreibung aus dem Paradies […] Die begangene Sünde ist demnach ein sekundärer Zug, der

6 7

Ebd. Ebd.

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EKKEHARD MÜHLENBERG erklären soll, wie es gekommen ist, daß der Mensch zwar die Erkenntnis besitzt, aber das Paradies verloren hat.“8

Gunkel legt zwar dem Erzähler der Paradiesgeschichte die Perspektive eines Kindes, das naiv und spielerisch ist, bei. Sein Hauptbeleg dafür ist Genesis 2,25; dort sieht Gunkel die noch fehlende Geschlechtsreife ausgesprochen. Für den Erzähler sei es das eindrückliche Beispiel, das über eine Schilderung der Seelenzustände hinweghelfe. Deswegen müsste Gunkel Gen 2,24: „und sie werden ein Leib sein“ als unpassend streichen. Das tut er auch, wenn er aus V. 25 im Vergleich mit 3,7 behauptet, der Mann und die Frau hätten im Paradies noch keinen Geschlechtsverkehr gehabt. Folglich wird Gen 2,24 zu einem ätiologischen Fazit, und die sexuelle Dimension überschattet die Erkenntnis von Gut und Böse.

1.1.2 Walther Zimmerli Gegen Gunkel spricht, dass sich Liebende nicht voreinander im Nacktsein schämen. So kann W. Zimmerli die Auslegung von Genesis 2,25 in die Worte zusammenfassen: „Das Nacktgehen ohne ein Empfinden der Scham ist der Zustand der vollen Unbefangenheit, den wir noch beim Kinde kennen. Es ist der Zustand der vollen, vertrauenden Aufgeschlossenheit Gott und Menschen gegenüber, der hier gezeichnet werden soll, jener Zustand, auf den Jesus hinweist, wenn er sagt: ‚Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Reich der Himmel kommen‘ (Mat. 18,3). Der Jahwist bezeugt: Der Mensch, von dem bisher die Rede war, lebte in dieser seligen Kindschaft vor Gott.“9

8

9

A. a. O., 33. Walther Zimmerli, Die Urgeschichte 1. Mose 1–11, Zürich 21957, 147.

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EVA, ADAM UND DIE SCHLANGE Aber an anderer Stelle stimmt Zimmerli mit der Auslegung von Gunkel überein. Zu dem Verbot, von dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, hatte Gunkel über das „Speisegebot“ gesagt: „Jedenfalls werden dem Menschen die Gründe nicht mitgeteilt: er soll ohne Grund gehorchen; ebenso Abraham beim Auszug und bei Isaaks Opferung: kindlicher Gehorsam.“10

Zimmerli unterdrückt bei Genesis 2,17 die Kennzeichnung des Baumes und meint, es sei nur der „Baum in der Mitte des Gartens“ genannt worden. Und der Sinn sei dieser: „Es ist scheinbar ein ganz nebensächliches Gebot. So gar nicht zu verstehen von einem allgemeinen Gesetz der Moral oder Frömmigkeit her. Was hat denn das Essen der Frucht von diesem Baum mit Moral oder Frömmigkeit zu tun?“11

Ein Grund für das Gebot werde nicht gegeben: „Nur die eine Möglichkeit wird angedeutet: Ungehorsam wäre der Tod. Das soll genügen. Der Wille dessen, der das Gebot gab, soll angeschaut werden. So wie das Kind, dem der Vater etwas verwehrt, das Verwehrte unterläßt – nicht weil es begriffe, warum der Vater es ihm verwehrt, und weil es von einem höheren Verständnis her dem Vater nachrechnen könnte: Ja, du hast am Ende recht mit deinem Gebot, sondern einzig daraus, weil es der Vater geboten hat und weil das Kind beim Vater bleiben will, so soll der Mensch das Verbotene unterlassen.“12

10 11 12

Gunkel, Genesis (s. Anm. 2), 10. Zimmerli, Urgeschichte (s. Anm. 9), 133. Ebd.

151

EKKEHARD MÜHLENBERG Unausgeglichen, aber behutsam bringt Zimmerli Gehorsam und Ungehorsam mit der Erkenntnis von Gut und Böse zusammen. Das „Wissen um Gut und Böse“ erlangt der Mensch durch das Essen vom verbotenen Baum. „Aber gerade dieses ‚Selber-Wissen‘ ist die unheimliche Bestätigung der Gottesferne. Vorher wussten die Menschen nur aus dem Munde Gottes, was sie zu tun hatten. Jetzt wissen sie, ohne Gott zu befragen, was sie tun haben. Sie machen sich Schurze.“13

Einen Weg zum Verstehen, zum Vernehmen der Botschaft des Erzählers deuten folgende Formulierungen an: „[Der Mensch] weiss jetzt selber, was Gut und Böse ist. Zwischen Gott und den Menschen ist unversehens etwas Neues getreten. Das Gesetz, würde Paulus sagen. Jenes seltsam neutrale Wissen um Gut und Böse, das uns das Gesicht Gottes verhüllt. Es ist nicht mehr der Vater, der uns im Gesetz anschaut, sondern eine unheimlich drohende Macht, die in Knechtschaft und Angst treibt.“14

Zimmerli unterscheidet in Gen 2,4b–3,24 zwei Zeugen. Entsprechend weist er in der Auslegung gesondert auf den zweiten Zeugen. Genesis 3,22 und 24 sollen noch Bruchstücke vom zweiten Zeugen sein und noch Umrisse einer älteren Gestalt der Paradiesgeschichte erkennbar machen, noch mythologischer und außerisraelitischem Mythos verwandt. Nach dem zweiten Zeugen habe der Urmensch dem Gotte das Wissen geraubt. Der erste Zeuge dagegen vernachlässige den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse und führe so zu einem tieferen Verständnis des Sündenfalls. „Nicht der Baum verleiht den Menschen Erkenntnis, sondern ihr Ungehorsam lässt das Wissen um Gut und Böse in ihnen aufbrechen. Mit erschütternder Deutlichkeit ist gezeichnet, wie der Erwerb des Wissens in 13 14

A. a. O., 158–159. A. a. O., 159.

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EVA, ADAM UND DIE SCHLANGE Wirklichkeit kein Erwerb sondern ein Verlust ist. Nicht Aufstieg zur Gottnähe, sondern Absturz in die Gottferne. Muss, wer in Gottnähe gestiegen ist, sich unter den Büschen vor Gott verkriechen, wenn er naht?“15

2.1.3 Odil Hannes Steck Odil Hannes Steck hat 1970 ein neues Verständnis der „Paradieserzählung“ (Gen 2.4b–3,24) vorgelegt.16 Ihm bin ich meist gefolgt. Da er, wie ich meine, überzeugend gezeigt hat, dass der Teil über das Paradies (Gen 2,4b–25) nur so viel vom Paradies erzählt, wie von Versuchung und Fall in Gen 3 vorausgesetzt werden muss, habe ich die ganze Erzählung Sündenfallgeschichte genannt. Der überlieferte Text sei als eine Einheit zu verstehen, und literarkritische sowie überlieferungsgeschichtliche Ansätze sollen die Einheit nicht zerstückeln, sondern es könnten nur Stoffe erkennbar werden, die der Erzähler benutzt und einbezogen habe. Deswegen habe die Auslegung vom Ganzen auszugehen. Stecks Gesamtanschauung beruht auf dem Verständnis von Gut und Böse, welches zu nehmen sei als „lebensförderlich“ und „lebensabträglich“. Das Wissen darum ist Gottes Wissen. Deswegen sei Genesis 2,16–17 so zu verstehen: „Dieses Gebot zielt somit nicht auf Gehorsam des Menschen als eines selbständigen Partners, sondern auf die in lauter Erweise göttlicher Wohltat am Menschen eingebettete Haltung selbstverständlicher Geborgenheit bei ihm, der als Schöpfer des Menschen weiß, was dem Geschöpf gut ist; an der Stelle des widerspruchlos gehorchenden steht hier noch der fraglos sich Jahwe anvertrauende Mensch, für den der wohltätige und der wollende Gott noch ununterscheidbar ein und derselbe ist.“17

15 16

17

A. a. O., 183–184. Odil Hannes Steck, Die Paradieserzählung. Eine Auslegung von Genesis 2,4b–3,24, in: ders., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament. Gesammelte Studien, TB 70, München 1982, 9–116 (Erstveröffentlichung: Neukirchen-Vluyn 1970 [BSt 60]). A. a. O., 78–79.

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EKKEHARD MÜHLENBERG In der Versuchungsgeschichte Genesis 3 sei die Verfehlung nicht ein Ungehorsam gegen ein Gottesgebot an sich, sondern ein ganz bestimmtes Gebot sei gemeint. „Die elementare Verfehlung von Gen 3 ist deshalb über die Übertretung eines Gebotes hinaus prinzipiell näherhin als das beim ersten Mal von der Schlange hervorgerufene, sich von Jahwe emanzipierende Bestreben des Menschen zu sehen, autonom sein Leben zu bestimmen; dieses Bestreben ist es, das konsequent zur Übertretung eben des Gebotes, nicht vom Erkenntnisbaum zu essen, führen muß […]“ „[…] daß der Mensch dieses Vermögen begehrt und erstrebt, sich von der göttlichen Förderung seines Lebens zu lösen, und wähnen kann, in Selbstorientierung das Gute seines Lebens in der Gewalt zu haben […]“18

2.1.4 Rainer Albertz Gegen die Deutung von Versuchung und Fall durch Steck erhob sich Widerstand. Rainer Albertz19 versuchte zu zeigen, dass die Erkenntnis von Gut und Böse in Genesis 2–3 keineswegs als Sünde abqualifiziert werde. Vielmehr sei Weisheit im altorientalischen und alttestamentlichen Sinne gemeint. Daraus ergebe sich, dass in Genesis kein Sündenfall erzählt wird. Das funktioniert nur, weil mit den Altersstufen von Kind und Erwachsensein gearbeitet, also mit einer Art von Entwicklungsgeschichte der Menschheit. „[Die Weisheit] wurde nach [des Erzählers] Ansicht dem Menschen – anders als in einem Teil der sumerisch-babylonischen Urzeittradition – von

18 19

A. a. O., 93–94. Rainer Albertz, „Ihr werdet sein wie Gott“. Gen 3,1–7 auf dem Hintergrund des alttestamentlichen und des sumerisch-babylonischen Menschenbildes, in: ders., Geschichte und Theologie. Studien zur Exegese des Alten Testaments und zur Religionsgeschichte Israels, BZAW 326, Berlin 2003, 23–47. (Erstveröffentlichung 1993 in: WO 24 [1993] 89–111).

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EVA, ADAM UND DIE SCHLANGE Gott nicht eingeschaffen, sondern von dem aus seiner Unmündigkeit erwachenden Menschen selber ergriffen. Sie ist und bleibt für ihn eine zutiefst menschliche Fähigkeit. Dabei will er nun aber die Weisheit keineswegs als Sünde abqualifizieren; er läßt durch seine Begriffswahl in Gen 3,2– 7, wie wir gesehen haben, ohne jeden Zweifel, daß er in der Weisheit eine positive Möglichkeit des Menschen sieht, die sein Dasein ungeahnt steigert und durchaus Erfolge zeitigt.“20

Ist es so, dass die Schlange die Menschheit aus dem Schlaf der Primitivität erweckt? Was der biblische Erzähler beabsichtige, sei der Hinweis auf die Begrenztheit und Ambivalenz der Weisheit des zur Mündigkeit erwachten Menschen. Aber damit sei eine theologische Botschaft verbunden: Der Mensch sei „ein verantwortlicher Partner Gottes“ geworden. Die Sprache von Ambivalenz soll den Ausdruck „Sünde“ ersetzen.21 So kann Jan Christian Gertz betonen, dass in Genesis 2–3 kein „Sündenfall“ vorliege. Und so wird jeder Anstoß aufgefangen in der zusammenfassenden Formulierung: „Dem weisheitlichen Erzähler stellt sich die Ambivalenz menschlichen Daseins und Vernunftgebrauchs als Folge einer selbstverantworteten Gebotsübertretung dar, dem durch Aufklärung geprägten Leser hingegen als notwendige Begleiterscheinung des selbsttätigen Gebrauchs der Vernunft.“22

20 21

22

A. a. O., 44. In dieser Hinsicht führt nicht weiter, eher rückwärts: Konrad Schmid, Die Unteilbarkeit der Weisheit. Überlegungen zur sogenannten Paradieserzählung Gen 2f. und ihrer theologischen Tendenz, ZAW 114 (2002) 21–39. Jan Christian Gertz, Das erste Buch Mose Genesis. Die Urgeschichte Gen 1–11. Übersetzt und erklärt, ATD 1, Göttingen 22021, 135f. Von der Vorstellung Kind und Erwachsensein kommt er nicht los, außerdem eliminiert er aus der Verführung das ‚Sein wie Gott‘.

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EKKEHARD MÜHLENBERG

2.2 Altchristliche Auslegungen Zur altchristlichen Auslegung der Sündenfallgeschichte gibt Monique Alexandre viele Hinweise und anregende Zitate.23 Den Christen ist Philo von Alexandrien mehr oder weniger bekannt. An Genesiskommentaren ist verloren der Kommentar des Origenes. Erhalten sind der Kommentar des Didymus, die Homilien und Sermones des Johannes Chrysostomus und die Kommentierung des Theodoret. Außerdem gibt es Auslegungen der Versuchungsgeschichte in gnostischer Literatur, bei Irenäus, Basilius von Caesarea, Gregor von Nyssa und Ambrosius. Augustin hat sich mit der Genesis abgemüht. Ich gebe ein paar Hinweise, die die Auslegung der Sündenfallgeschichte betreffen.

2.2.1 Der griechische Text Die Christen lasen wie schon Philo von Alexandrien die Septuaginta, die griechische Übersetzung des hebräischen Textes. Dabei ist der griechische Wortlaut an folgenden Stellen zu beachten: Gen 2,9 τὸ ξύλον τοῦ εἰδέναι γνωστὸν καλοῦ καὶ πονηροῦ Die umständliche Formulierung hat Gregor Nyssa zu erkären versucht.24 Gen 2,17 τὸ ξύλον τοῦ γινώσκειν καλὸν καὶ πονηρόν = Gutes und Böses zu erkennen Gen 3,5 ἔσεσθε ὡς θεοί = ihr werdet sein wie Götter (Plural!) Gen 3,6 der Baum […] weil er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte: ὅτι ἀρεστὸν τοῖς ὀφθαλμοῖς ἰδεῖν καὶ ὡραῖόν ἐστιν τοῦ 23

24

Monique Alexandre, Le commencement du livre Genèse I–V. La version grecque de la Septante et sa réception, CAnt 3, Paris 1988, 225–339. De hominis opificio, cap. 20.

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EVA, ADAM UND DIE SCHLANGE κατανοῆσαι = […] schön zum Verstehen. Der Genetiv gibt den Zweck an. Philo, Opif. 156 versteht es in diesem Sinne, ebenso Augustins Bibeltext in Gen.litt. XI, i,1: decorum est cognoscere.25 Es könnte aber auch verstanden als „schön zu betrachten“.

2.2.2 Das Grundproblem Die Deutung, dass der Gott in Genesis 2–3 dem Menschen die Erkenntnis von Gut und Böse vorenthalten wollte, wie die Schlange es suggerierte, kam früh auf. Es war der gnostische Vorwurf gegen den Schöpfergott, dass dieser Gott dem Menschen Erkenntnis (γνῶσις) aus Neid verweigere, und damit wird die Schlange zu einer Heilbringerin.26 Dieser Auslegung der Versuchungsgeschichte stellten sich die nachgnostischen Theologen entgegen. Dazu gab es zwei Antworten, um das Problem, das auch die antichristlichen Philosophen 27 aufgriffen, zu lösen. Entweder legten sie dar, dass das Verbot, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, sinnvoll gewesen sei, oder sie versuchten zu beweisen, dass der geschaffene Mensch diese Erkenntnis schon vor dem Essen der Frucht dieses Baumes gehabt habe, und hatten dann das Problem zu erklären, was das Essen denn an Erkenntniszuwachs gebracht habe. In einigen Zügen ähneln Tendenzen der alttestamentlichen Exegeten diesen altchristlichen Überlieferungen.

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Vgl. Alexandre, Le commencement (s. Anm. 23), 302. Vgl. Klaus Koschorke, Die Polemik der Gnostiker gegen das kirchliche Christentum. Unter besonderer Berücksichtigung der Nag-Hammadi-Traktate „Apokalypse des Petrus“, NHC VII,3, und „Testimonium Veritatis“, NHC IX,3, NHS 12, Leiden 1978, 148–151; Christoph Riedweg, Das Verbot, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen (Gen 2,17): Zeichen eines missgünstigen Gottes? Kaiser Julian und Kyrill von Alexandrien in einer virtuellen Debatte, in: Konrad Schmid/Christoph Riedweg (Hg.), Beyond Eden. The Biblical Story of Paradise (Genesis 2–3) and Its Reception History, FAT 2. Reihe 34, Tübingen 2008, 187–208, hier 191f. mit Anmerkungen. Siehe Riedweg, Das Verbot (s. Anm. 26). Die Zitate von Julian Apostata und Kyrill von Alexandrien Replik stehen in: Kyrill von Alexandrien, Gegen Julian, Teil 1: GCS Neue Folge Band 20, Berlin 2016, Buch 3; dort auch viele Quellenangaben.

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2.2.2.1 Eine pädagogische Lösung? Die einfachste Lösung war die Behauptung, dass der geschaffene Mensch im Paradies sich im Kindesalter befand und die Mündigkeit eines Erwachsenen noch nicht erreicht hatte. Gott habe den kindlichen Menschen möglichst lange von der Kenntnis des Bösen fernhalten und ihnen kindliche Unschuld einüben wollen. Der Ungehorsam und Fall beständen also darin, dass sich der geschaffene Mensch die Mündigkeit des Erwachsenseins vorzeitig angeeignet habe. Diese Auslegung findet sich bei Theophilus von Antiochien und Irenäus.28 Tiefer ist Ambrosius in das Problem eingedrungen. Er sieht deutlich, dass der geschaffene Mensch zu schwach sei, das Urteilen über Gut und Böse in die eigene Hand zu nehmen, und Gott habe ihn davor bewahren wollen. Auf Stellen im Neuen Testament über das Richten kann er verweisen.29

2.2.2.2 Johannes Chrysostomus Die Ansicht, dass dem geschaffenen Menschen die Erkenntnis von Gut und Böse erst durch das Essen zugekommen sei, nimmt Johannes Chrysostomus ganz ernst. Er nennt keinen Namen, aber er weiß, dass aufgrund einer solchen Ansicht „die Sünde dem Menschen zur Lehrerin der Weisheit geworden ist und – schlimmer noch – die Schlange nicht mehr als die Betrügerin, sondern als Ratgeberin von Nützlichem hingestellt ist, da sie aus einem Tier einen Menschen gemacht hat“.30 Es ist deutlich, dass die Erkenntnis von Gut und Böse den Menschen als Menschen vor dem Tier auszeichnet. Aber die Erkenntnis von Gut und Böse besitzt Adam, weil Gott ihn als Mensch geschaffen hat. Um die schädliche Ansicht zu widerlegen, breitet Johannes Chrysostomus aus, wie im Text über das Paradies 28

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Vgl. Theophilus von Antiochien, Autol. II 25; deutlicher bei Irenäus, haer. IV 38,439,1. Vgl. Ambrosius, De paradiso 11,52 – 12,64. Johannes Chrysostomus, Sermo 6,122–127 in Gen. (Brottier): […] καὶ ὁ ὄφις οὐκέτι ἀπατεών, ἀλλὰ σύμβουλος τῶν συμφερόντων κατέστη, ἐκ θηρίου ποιήσας αὐτὸν ἄνθρωπον. Vgl. Hom. 16 in Gen.

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EVA, ADAM UND DIE SCHLANGE (Gen 2) Adam die Erkenntnis von Gut und Böse ausübt. Ganz wichtig ist das Gebot Gottes (Gen 2,17), weil Gott das Gebot nur geben konnte, wenn Adam Gut und Böse zu unterscheiden weiß. Die Folge solcher Argumentation hat Johannes Chrysostomus voll ausgezogen. Er erklärt nämlich, dass gut ist der Gehorsam und böse der Ungehorsam. Und er stellt die Frage, warum Gott dieses Gebot gegeben habe. Nun, nicht von diesem einen Baum zu essen sei doch bei der Fülle der herrlichen Bäume im Paradies sozusagen peanuts gewesen, gar nicht mit besonderem Inhalt aufgeladen. Aber ein, wenn auch kleines, Zeichen habe Gott doch setzen müssen, damit klar bliebe, wer der Schöpfer aller Güter sei und der Mensch ihm dankbar bliebe, indem er durch Gehorsam den Herrn der Schöpfung anerkennt.31 Die Versuchung ist entsprechend ausgelegt.32 Die Schlange gaukelte der Frau die Gottgleicheit vor, wenn sie die Frucht dieses einen verbotenen Baumes nehme und sie esse. Die Hoffnung, durch Essen gottgleich zu werden, macht sie lüstern nach dieser Frucht, und sie begeht den Ungehorsam. Von einem Verlangen nach bisher verschlossener Erkenntnis sagt Johannes hier nichts; dieser Aspekt ist ausgeblendet. „Sie aßen, und ihre Augen wurden geöffnet“ (Gen 3,7). Für Johannes ist es Gott, der die Augen öffnet, und es ist Gott, der die Strafe verhängt. Die Frucht vom verbotenen Baum hat keine wundersame Kraft in sich, die sich durch das Essen auswirken könnte, sondern die Gebotsübertretung ist der Akt, den die Öffnung der Augen wahrnehmbar macht. Denn sei es durch die Strafe sei es durch die Scham, es erweitert sich die Erkenntnis von Gut und Böse über Wissen hinaus durch die Erfahrung des Bösen, dem die Erfahrung vom Verlust des Guten entspreche. Die Erfahrung macht das Wissen „genauer“ und „klarer“.33 In dem Gotteswort: „Siehe, Adam ist geworden wie einer von uns“ (Gen 3,22) sieht Johannes Chrysostomus eine Feststellung, nämlich dass Adam gottgleich werden wollte, aber den Verluststatus erreicht hat.34

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Johannes Chrysostomus, Hom. 16 in Gen.; vgl. Hom. 18. Johannes Chrysostomus, Hom. 16 in Gen. Vgl. Johannes Chrysostomus, Hom. 16 in Gen.; Sermo 7,177–185 in Gen. (Brottier). Johannes Chrysostomus, Hom. 18 in Gen.

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2.2.2.3 Didymus der Blinde Didymus will verstehen, wie der Sündenfall sich durch die Erkenntnis von Gut und Böse ereignet.35 Die Schlange täuscht die Frau. Die Schlange verdreht die Aktivität des Selbst, d. h. das menschliche Kraft des Klugseins. Didymus bezieht sich offensichtlich auf eine Einsicht Platos,36 versucht aber das Klugsein des Menschen neutraler als Plato zu beschreiben: ἡ ἐντρέχεια, was nur schwer zu übersetzen ist.37 Jedenfalls soll sich die Klugheit auf das Böse richten. Wie geschieht das? Es geschieht dadurch, dass die Schlange die Augen, die sich zum Bösen neigen, öffnen will. Solche Augen, die sich zum Bösen hin neigen, bleiben geschlossen, solange die Tugend (ἀρετή) wirksam ist. Von der Tugend umfangen sind die Augen des „inneren Menschen“, platonisch das (reine) Auge der Seele. Aber die Augen, die zum Bösen neigen, sind die körperlichen Sinne, gelöst von der beurteilenden Vernunft. Ihre Grundrichtung ist von Lust anstelle des Guten bestimmt.

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Siehe den Kommentar zur Genesis, den Pierre Nautin aus den Tura-Papyri ediert hat unter dem Titel: Sur la Genèse, SChr 233 u. 244, Paris 1976/1978. Die Seiten 77–80 sind unauffindbar geblieben; es fehlt der Kommentar zu Gen 2,4–3,4 und Seite 81 setzt mitten in der Auslegung von Gen. 3,5 ein. Gezählt und zitiert wird nach den Papyrus-Seiten und deren Zeilen. Auf Papyrus-Seite 117 befindet sich das Lemma Gen 4,1–2. – Es ist zu vermuten, dass Didymus die Genesisauslegung des Origenes kennt, aber was er von dort übernimmt und wo er eigenständig weiterdenkt, ist kaum auszumachen. Vgl. hierzu Plato, resp. 518e – 519a: Die Denkkraft (τὸ φρονῆσαι) sei etwas Göttliches und verliere niemals ihre Kraft. Sie ist aber „ambivalent“; denn je nach Richtung, in die sie gelenkt wird, ist sie nützlich und förderlich oder unnützlich und schädlich. „Die sog. Bösen, aber klugen“ haben einen scharfen Blick auf das Schlechte, und je schärfer der Blick des Seelenvermögens ist, desto größere Übel werden vollbracht. – Der Seelenblick muss also auf die Erkenntnis des Guten gerichtet sein, des wahren Guten, das erkannt und ergriffen werden soll. Die Schlange „erwirkt also einen Betrug, die ‚Gewandtheit‘ (habilité, Nautin) zu verdrehen nicht auf das Gute hin […] Die Schlange will sie (scil. den Menschen und seine Frau) für das Böse klug machen. Ὅμως ὁ ὄφις δὲ καιρῶς ποιεῖται τὴν ἀπάτην, τὴν ἐντρέχειαν μόνον ἀναπείθων αὐτοὺς ἔχειν οὐκ ἐπ’ ἀγαθῷ […] Ὁ δὲ ὄφις θέλων αὐτοὺς εἶναι σοφοὺς εἰς τὸ κακὸν […].

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EVA, ADAM UND DIE SCHLANGE „Die Weisen verbergen die Sinneswahrnehmung.“38 Didymus belegt seine Erklärung, indem er auf Gen 3,6 verweist: Nahrung, die Frucht des verbotenen Baumes, wird irrsinnigerweise nach ihrem Aussehen beurteilt; sie ist gut, weil sie schön aussieht. Das Urteilsvermögen der Frau ist also pervertiert.39 Wie gelingt es der Schlange, das Urteilsvermögen zu pervertieren? Durch Betrug (ἀπάτη). Sie gibt der Frau den Gedanken ein, dass sie einen Neid, eine Missgunst Gottes denken solle.40 Denn Gott enthalte ihr vor, „wie Götter zu werden, indem sie das Gute und Böse erkennen“. Geködert wird die Frau also durch eine großartige Aussicht. Die Frau schluckt den Köder, wird lüstern nach der Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse; sie öffnet also das Auge der sinnlichen Wahrnehmung, das auf Lust reagiert und nur auf Lust. Und sie isst.41 Die Auslegung des Didymus setzt voraus, dass das Gebot Gottes, nicht von dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, in sich sinnvoll ist und Schaden vom Menschen abwenden will. Didymus erklärt entsprechend: Das Gebot beziehe sich darauf, dass nicht allein und für sich von diesem Baum gegessen werden darf. Das heißt, dass das Klugsein für sich allein zum Bösen und damit zur Strafe des Todes führt. Es sei notwendig, das Klugsein nicht zu isolieren, sondern mit den übrigen Paradiesbäumen zusammen zu essen, und so ist zu ergänzen, mit den Tugenden zusammen zu nehmen42 oder nur die Augen „des inneren Menschen“ zu gebrauchen.43 In Gen 3,22: „Siehe, Adam ist durch das Erkennen von Gut und Böse geworden wie einer von uns“44 sieht Didymus seine Auslegung des Gottesgebots, der Versuchung und des Falls bestätigt. Denn gegen ein ironisches Verständnis dieses

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Σοφοὶ κρύψουσιν αἴσθησιν (Prov. 10,14) = p. 81,31. Τὰ τῆς ἀπάτης τοῦ ὄφου κρατήσαντα ἀντίστροφον αὐτῇ (scil. τῇ γυναικὶ) τὴν δοκιμασίαν ἐνεποίει (p. 82,23–24). φθόνον εἰσάγει θεοῦ ἐννοεῖν αὐτήν (p. 82,13–14). Wie der Teufel, der durch die Schlange spricht, den Betrug bewerkstelligt, hat Didymus noch einmal eigens zusammengefasst: p. 83,8–25. Siehe dazu p. 92,22–93,4. Allein und isoliert für sich: μόνος (p. 81,7). Das „allein“ hat Didymus in Gen. 3,12 gesehen. Ἰδοὺ Ἀδὰμ γέγονεν ὡς εἷς ἐξ ἡμῶν τοῦ γινώσκειν καλὸν καὶ πονηρόν.

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EKKEHARD MÜHLENBERG Gottesspruches interpretiert er das „wie einer von uns“ durch „wie einer, der von uns abgefallen ist“.45 Am Schluss vermerke ich noch, dass Gregor von Nyssa sich um ein Verstehen von dem, was Gut und Böse als Erkenntnisobjekt enthält, bemüht und „Erkennen“ (γνῶσις) genauer definieren will. 46 Augustin dagegen vernachlässigt die „Erkenntnis von Gut und Böse“ zugunsten eines reinen Testes von Gehorsam.47

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Οὐκ εἶπεν οὖν τῷ Ἀδάμ· Ἰδοῦ γέγονας ὡς εἷς ἡμῶν, ἀλλ’ ὡς εἷς ἐξ ἡμῶν· ἐκ γὰρ τῶν οὐρανίων ὁ εἷς οὗτος ἐξέπεσεν […] (p. p. 109,7–9): siehe den Abschnitt p. 108,16– 109,22. Gregor von Nyssa, De hominis opificio cap. 20: Τί οὖν ἐκεῖνό ἐστιν ὃ καλοῦ τε καὶ κακοῦ συγκεκραμένην ἔχει τὴν γνῶσιν ταῖς δι’ αἰσθήσεως ἡδοναῖς ἐπηθισμένον; Zusätzliche Literaturangaben: Traugott Koch, Das Böse als theologisches Problem, in: KuD 24 (1978) 285–320. Ekkehard Mühlenberg, Das Verständnis des Bösen in neuplatonischer und frühchristlicher Sicht, in: KuD 15 (1969) 226–238. Elaine Pagels, Adam, Eve, and the Serpent, New York 1988.

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Warum predigt Meister Eckhart? Gedanken zu Beweggrund und Ziel des Predigens von Meister Eckhart Stefanie Frost „Wort hânt ouch grôze kraft; man möhte wunder tuon mit worten. Alliu wort hânt kraft von dem êrsten worte.“ (Pr. 18) Worte haben auch große Kraft. Man könnte Wunder tun mit Worten. Alle Worte haben ihre Kraft von dem ersten Wort. „Daz wir alsô in dem êwigen worte widersprechende werden, des helfe uns got.“ (Pr. 18) Dass wir ebenso dahin gelangen, in dem ewigen Worte zu antworten, dazu helfe uns Gott.

Meister Eckhart hat verschiedene Charakterisierungen zugeschrieben bekommen: So sei er Lehr- und Lebemeister, Mystiker, Prediger, Dominikanermönch, Theologe und bzw. oder Philosoph. In seinen Texten 1 – sowohl Predigten als 1

Bei den Texten Eckharts wird stets der Text der Stuttgarter Ausgabe präsentiert: Meister Eckhart, die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft (abgekürzt mit DW und LW), Stuttgart 1936ff.

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STEFANIE FROST auch Traktaten – hat er genug Leerstellen gelassen, um eigenes spekulatives Denken anzuregen. Die Tiefe und Radikalität seiner Gedanken fasziniert damals wie heute, nach Tauler (Pr. 15) „sprach [er] aus der Ewigkeit“. Durch seine spekulative Theologie und besonders durch seine auf eigenen geistigen Mitvollzug angelegten Predigten und Traktate ist es sehr verführerisch und leicht, mit einer einmal aufgesetzten ‚Eckhart-Brille‘ Belege für eine Position zu finden, ohne korrigierende oder in andere Richtungen verweisende Aspekte zu berücksichtigen. Mit dieser Situation muss sich auch der vorliegende Artikel auseinandersetzen, denn der Untersuchungsgegenstand ist etwas nicht unbedingt Greifbares. Basierend auf der Annahme, dass Eckhart in seinen Predigten die Zuhörer*innen 2 dahin führen will, das Wort in sich selbst lebendig werden zu

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Außerdem wird auf die Ausgabe von Niklaus Largier verwiesen: Meister Eckhart, Werke I: Predigten, Texte und Übersetzungen von Josef Quint, hg. und kommentiert von Niklaus Largier. Werke II: Predigten, Traktate, lateinische Werke, Text und Übersetzungen von Ernst Benz u. a., hg. und kommentiert von Niklaus Largier, Frankfurt am Main 1993 (abgekürzt mit Werke I und Werke II). Die Übersetzung der deutschen Predigten folgt in der Regel der Übersetzung von Quint. Das Gendersternchen an diese Stelle zu setzen, könnte fast als Positionierung in einer Forschungsfrage angesehen werden. Denn die Frage, ob und inwiefern Meister Eckhart – insbesondere im Rahmen der so genannten ‚cura monialium‘ – seine Predigten vorrangig vor Nonnen hielt, gehört zu den viel diskutierten Fragen betreffs der Adressaten der Predigten Eckharts. Nachdem lange – angestoßen durch Denifle – davon ausgegangen wurde, dass Eckhart eben vielfach vor Nonnen und Beginen gepredigt hat, hat sich dagegen mit breiter Zustimmung zunächst Sturlese positioniert (zugunsten der Kirchen des eigenen, städtischen Konvents); vgl. Loris Sturlese, Meister Eckhart und die cura monialium, in: Andrés Quero-Sánchez/Georg Steer (Hg.), Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt, Stuttgart 2008, 1–16. Aus der Rechtfertigungsschrift greift Sturlese S. 15 heraus, dass Eckhart ‚beim Volk‘ Ansehen habe, was sich „offensichtlich“ auf die Predigttätigkeit rückführen ließe. Es soll aber die Frage, inwiefern ‚die Frauen‘ Publikum von Eckhart waren, gar nicht gestellt werden, und sie ist dankenswerterweise für die hier verhandelte Frage auch nicht wesentlich. Sicherlich würde sich die Ausgangsperspektive verschieben, wenn man ein klares Publikum historisch benennen könnte – da sich diesbezüglich aber keine eindeutigen Aussagen machen lassen, wird das historische Publikum nicht als Schlüssel mit herangezogen, sondern es wird von den Texten selbst ausgegangen. Das Gendersternchen an dieser Stelle soll nicht mehr und nicht weniger als darauf hinweisen, dass sowohl Frauen als

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WARUM PREDIGT MEISTER ECKHART? lassen,3 möchte der Artikel an dieser Stelle nachhaken und fragen: Was genau ist für Eckhart das Ziel seines Predigens und wie präzise lässt sich dieses beschreiben? Wie genau und mit welchen Methoden kann man seine Intention fassen? Wollte er Einsicht erreichen und bzw. oder Glauben wecken? Wollte er zur Buße rufen und ermahnen, wollte er ‚moralisch bessere‘ oder gehorsame Mitmenschen? Oder hat er einfach ‚seinen Job‘ gemacht? Was treibt ihn an? Was hat ihn dazu gebracht,

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auch Männer Meister Eckhart zugehört oder ihn gelesen haben. Und wenn auch das historische Publikum für die wenigsten Predigten konkret nachzuweisen ist, so kann davon ausgegangen werden, dass nach Meister Eckharts Selbstverständnis seine Gedanken für Männer und Frauen gleichermaßen galten. Auf diese Textdynamik bei Meister Eckhart zu achten habe ich nicht zuletzt durch Ekkehard Mühlenberg, den gemeinsamen akademischen Lehrer von Jorg Salzmann und mir, kennengelernt. Diese Überlegung in den Texten präzise aufzuzeigen ist dankenswerterweise ein zentrales Ziel von Ramona Raab, Transformationen des dû im Text. Predigten Meister Eckharts und ihr impliziter Adressat, Tübingen 2018. Sie schreibt S. 19 zu ihrem Vorhaben: „Die Predigttexte erörtern nicht nur ihre jeweiligen Themen diskursiv, deuten sie um und transformieren sie auf diese Weise, sondern streben auf einer anderen Ebene grundsätzlich das Überformtwerden durch Gott im Sinn einer umfassenden transformatio des Menschen an. Dabei involvieren und dynamisieren sie ihren impliziten Adressaten so, dass sie die transformatio an ihm selbst vollziehen. Dies […] sichtbar werden zu lassen, ist das Ziel dieser Arbeit.“ Durch detaillierte Textanalysen und dem damit einhergehenden Sichtbarmachen der in den Texten angelegten Wirkkraft beschreibt sie die Dynamik der Predigten, die den impliziten Adressaten Teil des Geschehens, über das die Predigt spricht, werden lassen. Vgl. auch Burkhard Hasebrink, mitewürker gotes. Zur Performativität der Umdeutung in den deutschen Schriften Eckharts, in: Peter Strohschneider (Hg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, Berlin/New York 2009, 62–68, 66: „Diese Predigten besitzen ihre eigene Kommunikationssituation […], indem sie den Rezipienten in die innicheit hineinführen, aus der sie gesprochen sind.“ Ebd., 66f.: „Diese Predigten theoretisieren dieses Ziel nicht nur, sondern ziehen den Rezipienten mit in ihren Argumentationsgang hinein, indem sie sich performativ in den aktuellen Prozess der Gottesgeburt im Augenblick ihres Vollzugs stellen.“

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STEFANIE FROST in nicht nur ungebrochener, sondern in sich sogar zuspitzender Radikalität vor sein Publikum zu treten, um zu predigen?4 4

Auch wenn sich über die Themen Eckharts und seine gedankliche Radikalität sowohl in der Volkspredigt als auch in der Predigt in lateinischer Sprache und an der Universität immer wieder Äußerungen in der Literatur finden, so gibt es wenig Abhandlungen, die dezidiert nach Eckharts Intention beim Predigen fragen. Exemplarisch sei für die ältere Literatur verwiesen auf zwei Standardwerke: Nix Öchslin (Hg.), Meister Eckhart der Prediger. Festschrift zum Eckhart-Gedenkjahr, Freiburg/Basel/Wien 1960. Kurt Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, EA München 1985. Ruhs Perspektive auf Eckhart als Prediger ist primär eine inhaltliche – was sind die Themen Eckharts, die er predigt und in welcher „Nähe“ stehen sie zu dem Prozess gegen Eckhart bzw. wie weit berühren sie sich inhaltlich mit den im Prozess inkriminierten Stellen. Schon 1982 hat Alois M. Haas, Meister Eckharts geistliches Predigtprogramm, Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 29 (1982), 189–210, sich grundlegend und wegweisend mit Eckhart als Prediger auseinandergesetzt. Er zeichnet zentrale Themen und Denkfiguren Eckharts nach. Auch Gerhard Wehr, Meister Eckhart. Textauswahl und Kommentar, EA Wiesbaden 2010, geht primär auf den Inhalt der Predigten ein und streift nur die “Stellung des Predigers“ (42), dem das Wort „anvertraut, auch zugetraut, eher noch zugemutet“ (42) sei und dessen Auftrag „in der Tat eine unerhörte Zumutung [darstelle]: ein Sollen und letztlich gar nicht Können.“ (42) In den Meister-Eckhart-Jahrbüchern (hg. im Auftrag der Meister-Eckhart-Gesellschaft) gehen die Beiträge, die dezidiert Meister Eckhart als Prediger gewidmet sind, hauptsächlich anderen Fragestellungen als der in diesem Artikel verhandelten nach. Ich nenne in chronologischer Reihenfolge diejenigen, die weiterführend und aufschlussreich für die Fragestellung des vorliegenden Artikels sind. Loris Sturlese, Meister Eckhart und die cura monialium, in: Andrés Quero-Sánchez/Georg Steer (Hg.), Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt, Stuttgart 2008, 1–16; Freimut Löser, Was sind Eckharts deutsche Straßburger Predigten?, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 2008, 37–63. Löser betont die Relevanz der Liturgie für das Verstehen der Predigten und hebt erneut hervor, dass Eckhart statt affektiver Mystik auf rationale Erkenntnis abziele. Karl Heinz Witte, Von Straßburg nach Köln. Die Entwicklung der Gottesgeburtslehre Eckharts in den Kölner Predigten, in: Meister-EckhartJahrbuch 2008, 65–94; Marie-Anne Vannier, Die Gottesgeburt in der Seele in Eckharts Straßburger Predigten, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 2008, 299–321; Freimut Löser, Eckhart, die Reden und die Predigt in Erfurt, in: Dagmar Gottschall/Diethmar Mieth (Hg.), Meister Eckharts Erfurter „Reden“ in ihrem Kontext, Stuttgart 2012, 65–

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WARUM PREDIGT MEISTER ECKHART?

96; Diethmar Mieth, „Die Meister sagen“ – die „Leute“ fragen. Eckharts rhetorische Brückenbildung zwischen Meister-Diskurs, persönlicher Gewissheit und Mystagogie, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 6 (2012), 325–346. Mieth kommt bzgl. der Frage, ob alle deutschen Predigten Eckharts Publikumspredigten sind zu dem Schluss: „Ja! In allen geht es m. E. um eine Vorverlegung des eschatologischen Zustandes, wenn man so will, des Himmels.“ (334). Nach ihm (334/335) sei das Ziel der Predigt das Sehen der eigenen istichkeit, nicht als Schauen sondern als intellektuelles Erfassen. Es sei eine in den Intellekt vorverlegte Schau. Dazu komme (336), dass die Rezipienten nach Eckhart die Wahrheit selbst in sich trügen. „Die Macht der Befreiung von innen“ sei kirchenkritisch politischer Sprengstoff. Zum Verhältnis Predigt/disputatio (339): „Kein Zweifel, er trägt die disputatio in die Predigt hinein. Aber er tut dies nur, weil er unterstellt, dass seine intellektuellen zugleich als existentielle Fragen eigentlich jeden angehen und interessieren müssten.“ Mieth betont, dass Eckhart in seinen Predigten inszeniert und dazu die Predigt als Kunstform benutzt (345). Georg Steer, Die Predigt Meister Eckharts, in: Freimut Löser/Diethmar Mieth (Hg.), Meister Eckhart im Original, Stuttgart 2013, 31–44. Steer kommt zu dem Schluss (42): „Im göttlichen Geist nach der Wahrheit der Bibel zu suchen, ist das oberste Prinzip der Hermeneutik Eckharts.“ Nach Eckhart machten drei Dinge den Prediger aus: Reinheit des Lebens, Lauterkeit der Absicht und Lieblichkeit des duftspendenden Rufes (43). Markus Vinzent, Eckharts Bildsprache in den lateinischen Predigten, in: Cora Dietl/Diethmar Mieth (Hg.), Sprachbilder und Bildersprache bei Meister Eckhart und seiner Zeit, Stuttgart 2015, 1–25; Dagmar Gottschall, Gleichnisse des Sehens in deutschen Predigten Meister Eckharts, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 9 (2015), 47–69; Andreas Speer, „Edel sei der Mensch…“ – Anthropologische und soteriologische Perspektiven in den Kölner Predigten Meister Eckharts, in: Freimut Löser/Regina D. Schiewer, Meister Eckhart in Köln, Stuttgart 2020, 35–67. Speer geht es vor allem darum zu zeigen, dass Eckhart in den Kölner Predigten Themen anthropologisch und soteriologisch zuspitzt in konsequent henologischer Perspektive. Vgl. auch die vier Bände von Lectura Eckhardi: Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, hg. v. Georg Steer und Loris Sturlese (Band I 1998; Band II 2003; Band III 2008; Band IV 2017). Freimut Löser, Predigt über Predigt – Meister Eckhart und Johannes Tauler, in: Volker Mertens/Hans-Jochen Schiewer/Regina D. Schiewer/Wolfram Schneider-Lastin (Hg.), Predigt im Kontext, Göttingen 2013, 155–180, will Eckharts eigenen Aussagen über das Predigen nachgehen und diese kontextualisieren. Er arbeitet heraus, dass Eckharts eigene Aussagen über sein Predigen hauptsächlich Verweise auf andere Predigten sind, weswegen Löser seine Überlegungen selbst als Konstrukt charakterisiert.

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STEFANIE FROST Es soll und kann mit diesem Artikel nicht erreicht werden, in das Spektrum der mittelalterlichen Predigten das Ziel von Eckhart – womöglich noch differenziert nach Lebensphasen – herauszuarbeiten. Zunächst ist die Predigtkultur im Mittelalter dazu ein viel zu komplexes Feld,5 aber auch Eckhart selbst gibt nicht so einfach Auskunft über seine Intention beim Predigen. Das Vorhaben dieses Artikels ist bescheidener. Aus verschiedenen Puzzleteilen – wen spricht er wie an, was nennt er selbst als sein Ziel und seine Motivation, was gehörte als Dominikaner und aufgrund seiner Position im Dominikanerorden zu seinen Aufgaben, Rückschlüssen aus seinen Äußerungen – soll versucht werden, Aspekte von Eckharts Intention beim Predigen zu erfassen. Dabei rücken manche der oben genannten Fragen mehr in den Fokus als andere. Die Überlieferungssituation inklusive der Frage nach der Echtheit mancher Traktate bzw. Predigten ist mittlerweile sehr gut erforscht, aber trotzdem nicht eindeutig.6 Für die hier verhandelte Frage scheint es angemessen, lateinische und deutsche Predigten oder Predigtskizzen gleichermaßen zu berücksichtigen.7 Die

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Nach ihm „steht Eckhart mit der Autorität seiner Persönlichkeit für seine „kühnen“ Äußerungen ein“ und „will immer auf den gemeinsamen Grund aller Aussagen hinaus“ (179). Zudem seien seine Predigten als Dialog angelegt. Ramona Raab, Transformationen des dû im Text (s. Anm. 3), will dezidiert von den Texten ausgehen und sie auf ihren impliziten Adressaten (und nicht nach dem historischen Publikum!) befragen. „Die Frage nach der historischen Performanz der Predigt verschiebt sich zu den performativen Potentialen der Predigttexte.“ (16) In diesen soziokulturellen Zusammenhang gehört auch die viel diskutierte Frage nach einem Predigtcorpus der deutschen Predigten Eckharts, aber auch das Spektrum mittelalterlicher ‚Predigttypen‘ im Allgemeinen bzw. im Besonderen der Predigten der Dominikaner. Die Datierung der Predigten ist natürlich wichtig, auch um verschiedene Phasen und Interessen Eckharts zu separieren. Die Bemühungen der letzten Jahrzehnte haben dabei viel erreicht, dennoch gibt es keine klare Chronologie der Predigten. Vgl. z. B. für die Debatte um die sogenannten Kölner Predigten, die nach Ruh nach Straßburg gehören, Freimut Löser, Was sind Eckharts deutsche Straßburger Predigten?, in: Andrés Quero-Sánchez/Georg Steer (Hg.), Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt, Stuttgart 2008, 37–63. Dazu Löser: „Eckhart betont also den Konnex zwischen lateinischen und deutschen Predigten; er greift Fragen des Publikums auf und behandelt sie neu. Hervorgehoben

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WARUM PREDIGT MEISTER ECKHART? deutschen Predigten erweisen sich dabei jedoch als ergiebiger. Zudem scheint man für Eckharts Intention beim Predigen auch nicht grundsätzlich zwischen einem ‚frühen‘ und ‚späten‘ Eckhart trennen zu müssen.8 Hervorzuheben ist sein Anspruch, seine Gedanken allen gleichermaßen zuzumuten. Dafür spricht z. B. sein in diese Richtung weisender Hinweis: „Ein vrâge

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wird die Einheit der Gedankenführung, gleichgültig ob lateinisch oder deutsch vorgetragen, gleichgültig auch, ab am selben oder an einem anderen Ort, ob vor kurzer (Dô ich nû predigete) oder vor langer Zeit (ich predigte einest). Daraus kann geschlossen werden, dass Eckhart in beiden Sprachen vor ein und demselben Publikum predigte (dass er auch vor seinen Mitbrüdern – z. B. vor einem Kreis im Erfurter Kloster, in dem auch Novizen waren, wie in den ‚Reden der underscheidunge‘ – die Volkssprache ebenso verwendete wie das Lateinische); oder, dass er auch das Publikum seiner deutschsprachigen Predigten bewusst in die Gedankenwelt seiner lateinischen Sermones einführt. Wie immer man diese Frage entscheiden wird – sicher ist, dass Eckhart selbst die Brücke zwischen Latein und Volkssprache schlägt und dass er als Prediger die Einheit einer ‚Medaille mit zwei Seiten‘ in den Vordergrund stellt.“ Freimut Löser, Predigt über Predigt (s. Anm. 4), 155–180, 158. F. Löser hebt in FN 16 auch hervor, dass andere Interpreten – er verweist auf G. Steer und B. Hasebrink – mit anderen Methoden zu ähnlichen Ergebnissen gelangen. Köbele, auf die Löser ebenfalls verweist, betont, dass „die Schriftlichkeit der volkssprachlichen Predigt mehr Mündlichkeit transportiert (oder fingiert?) und eine größere Dynamik des Redevollzugs spiegelt als die lateinische Schriftsprache.“ Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen/Basel 1993, 125. Vgl. auch Markus Vinzent, Lectura Eckhardi IV (2017), 215: „Obwohl in den vergangenen Jahren die grundsätzliche Nähe von lateinisch- und deutschsprachigem Werk Eckharts in mannigfaltigerweise [sic] herausgearbeitet worden ist, so dass zugleich auch die Differenzen nuancierter gesehen werden konnten, stellt doch der Sprachunterschied nach wie vor ein weiterhin noch nicht erschöpftes Thema dar.“ Auch wenn es natürlich inhaltliche Zuspitzungen oder Hervorhebungen bestimmter Gedanken in der einen oder anderen Lebensphase gibt. Vgl. Andreas Speer, Edel sei der Mensch (s. Anm. 4), der für den Kölner Predigtzyklus die Radikalisierung bzw. Zuspitzung eckhartscher Gedanken zeigt.

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STEFANIE FROST was gester in der schuole under grôzen pfaffen“,9 der an die Zisterzienserinnen von Mariengarten gerichtet ist. Hier und in ähnlichen Formulierungen an anderen Stellen zeigt er, dass er in der Universität und in volkssprachlicher Predigt10 durchaus gleiche Themen behandelt. So auch in Pr. 16b: „Diz enist niht gesprochen von den dingen, diu man sol reden in der schuole; sunder man mac sie wol gesprechen ûf dem stuole ze einer lêre.“11 Eckhart hat zuvor für sein Gedankengebäude zentrale und durchaus komplexe Überlegungen zum Verhältnis des Bildes zu seinem Urbild behandelt. In die gleiche Richtung, nämlich Eckharts Bildungsanspruch ‚für alle‘,12 weisen auch die Einleitungsworte der Verurteilungsbulle: „… dogmatizavit multa fidem veram in cordibus multorum obnubilantia, que docuit quam maxime coram vulgo simplici in suis predicationibus, que etiam

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Pr. 22, DW I, 381,3; Werke I, 258, 12. („Gestern ging’s in der Schule unter großen Theologen um eine Frage.“) Dieses ist eine der zwei (!) Predigten, die er nachweislich in Frauenklöstern gehalten hat. Vgl. Gottschall, cura monialium (s. Anm. 2), 95. Sei es in einer Predigt vor Nonnen oder allgemein ‚dem Volk‘. Auch über den Bildungsgrad der Nonnen kann man natürlich nichts Pauschalisierendes sagen. Pr. 16b, DW I, 270, 6–8; Werke I, 190, 28–30. („Ich habe hiermit nicht von Dingen gesprochen, die man in der Schule vortragen soll; man kann sie vielmehr recht wohl auch auf dem Predigtstuhl zur Belehrung vortragen.“) Eckhart hat zuvor stichwortartig ausgeführt, welche „vier oder mehr“ Kriterien ein Bild ausmachen. (Das seien: nicht aus sich selbst; nicht für sich selbst; es stammt von dem und gehört dem, dessen Bild es ist; nichts dem Bildgeber Fremdes gehört zum Bild und stammt auch nicht von diesem; es hat sein Sein unmittelbar von diesem; das Sein der beiden ist ein Sein.) Aufgrund des so schwer historisch zu fassenden Publikums Eckharts kann ich an dieser Stelle leider nicht präziser werden. Klar wird durch die Zitate, dass Eckhart einen durchaus großen Personenkreis im Blick hatte und klar scheint auch, dass er seine Lehre als allgemeingültig angesehen hat. Wen er allerdings wirklich als in der Lage ansah, seine Worte zu begreifen, kann ich zumindest leider nicht fassen.

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WARUM PREDIGT MEISTER ECKHART? redegit in scriptis“13 und der Schluss des Buches der göttlichen Tröstungen: „ensol man niht leren ungelêrte liute, sô enwirt niemer nieman gelêret, …“14 Aufgrund dieser Ausgangssituation wird in diesem Artikel zwar versucht, die verschiedenen Parameter von Zeit der Predigt, Publikum und Sprache mit zu berücksichtigen, dennoch wird davon ausgegangen, so etwas wie eine grundlegende Intention von Eckhart beim Predigen (unabhängig von Ort, Zeit, Publikum und Sprache) annehmen zu können. In der berühmten Predigt 86 über Maria und Martha entfaltet Eckhart in verschiedenen Anläufen, dass und inwiefern Maria zu dem Stand gelangen würde, den Martha hat. Maria sei auf dem – richtigen – Weg und würde auch da ankommen, wo Martha sei. Dieses ist eine der wenigen Stellen, in denen Eckhart über das Predigen selbst spricht.15 „Marîâ […] hôrte sîniu wort‘ und lernete, wan si allerêrst ze schuole was gesetzet und lernete leben. Aber dar nâch, dô si gelernete […], dô vienc si allerêrst ane ze dienenne und vuor über mer und predigete und lêrte und wart ein dienærinne und ein wescherinne der jünger.“16

Eckhart selbst führt gelegentlich an, dass es einen inhaltlichen Kern dessen gibt, was er sagen möchte, z. B. in Predigt 48:17 „Dô gedahte ich ein glîchnisse, und 13

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Acta Echardiana n. 65 (Bulle In agro dominico), LW V, 597, 15–17. („…hat er zahlreiche Lehrsätze vorgetragen, die den wahren Glauben in vielen Herzen vernebeln, die er hauptsächlich vor dem einfachen Volk in seinen Predigten lehrte und die er auch in Schriften niedergelegt hat.“) DW V, 60, 28f. („Soll man nicht ungelehrte Leute lehren, so wird niemals wer gelehrt, …“) Vgl. Löser, Predigt über Predigt (s. Anm. 4). Auch er konstatiert, dass Eckhart kaum über das Predigen selbst spricht. Pr. 86, DW III, 492, 7–11; Werke I, 228, 15–21. („Maria […] hörte seine Worte und lernte, denn sie war erst in die Schule gekommen und lernte leben. Aber späterhin, als sie gelernt hatte […], da erst fing sie an zu dienen und fuhr übers Meer und predigte und lehrte und ward eine Dienerin und Wäscherin der Jünger.“) Pr. 48, DW II, 416, 2–4; Werke I, 504, 32–506,1. („Da erdachte ich ein Gleichnis; könntet ihr das recht verstehen, so verstündet ihr den von mir gemeinten Sinn und den Grund meines ganzen Anliegens, über den ich seit je gepredigt habe.“) Vgl. auch

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STEFANIE FROST kündet ir daz wol verstân, sô verstüendet ir mînen sin und den grunt aller mîner meinunge, den ich ie gepredigete.“ Die Beziehung von Inhalt der Predigten und Intention beim Predigen wird im Weiteren in den Fokus rücken. Wenn es um Sinn und Intention von Eckharts Predigten geht, darf die seit Haas als Eckharts ‚Predigtprogramm‘ bezeichnete Passage aus Pr. 53 nicht fehlen: „Swenne ich predige, sô pflige ich ze sprechenne von abegescheidenheit und daz der mensche ledic werde sîn selbes und aller dinge. Ze dem andern mâle, daz man wider îngebildet werde in daz einvaltige guot, daz got ist. Ze dem dritten mâle, daz man gedenke der grôzen edelkeit, die got an die sêle hât geleget, daz der mensche dâ mite kome in ein wunder ze gote. Zu dem vierden mâle von götlîcher natûre lûterkeit – waz klârheit an götlîcher natûre sî, daz ist unsprechelich. Got ist ein wort, ein ungesprochen wort.“18

Versammelt sind hier die großen Eckhartthemen – Abgeschiedenheit oder Gelassenheit bzw. Befreiung vom Selbst und Rückkehr zu Gott, der Adel der Seele bzw. das Seelenfünklein, die göttliche Lauterkeit und immer wieder das Spiel mit dem Wort. Zwar gibt dieses Dictum eine Antwort auf die Frage, über was er predigen möchte; 19 aber was seine Intention ist – ob er intellektuell ‚aufklären‘ möchte oder ob er die Zuhörer*innen dazu führen möchte, das Gesagte in sich lebendig

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Pr. 9, DW I, 154,8f.; Werke I, 112, 26f.: „Diz ist, daz ich in allen mînen predigen meine.“ („Dies ist es, auf das ich‘s in allen meinen Predigten abgesehen habe.“) Pr. 53, DW II, 528,5–529, 2; Werke I, 564, 6–14. („Wenn ich predige, so pflege ich zu sprechen von Abgeschiedenheit und dass der Mensch ledig werden soll seiner selbst und aller Dinge. Zum zweiten, dass man wieder eingebildet werden soll in das einfaltige Gut, das Gott ist. Zum dritten, dass man des großen Adels gedenken soll, den Gott in die Seele gelegt hat, auf dass der Mensch damit auf wunderbare Weise zu Gott komme. Zum vierten von der Lauterkeit göttlicher Natur – welcher Glanz in göttlicher Natur sei, das ist unaussprechlich. Gott ist ein Wort, ein unausgesprochenes Wort.“) Diese Stelle wird immer wieder zitiert, hier sei nur genannt Alois M. Haas, Meister Eckharts geistliches Predigtprogramm (s. Anm. 4). Dazu Freimut Löser, Predigt über Predigt (s. Anm. 4), 164: „Künftige Analysen sollten allerdings bedenken, dass Eckhart hier keineswegs ein Gesamtprogramm aller seiner Predigten vorlegen will, sondern den Themenkatalog, in dem d i e s e Predigt (53) zu verorten ist.“

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WARUM PREDIGT MEISTER ECKHART? werden zu lassen – diese Frage lässt er selbst offen. Die Antwort kann wohl auch nur ein ‚sowohl – als auch‘ sein. Denn trotz der Hochachtung vor der Vernunft ist für Eckhart das eigentliche Ziel die Gottesgeburt in der Seele, die sich in Kräften oberhalb der Vernunft vollzieht (s. unten). Selbst wenn dabei auch der Aspekt, sich gegen zu ekstatische Nonnen oder allgemeiner sich gegen eine zu extreme Praxis der Frömmigkeit richten zu wollen,20 eine Rolle spielen mag: Seine Zuhörer*innen auf dem Weg zur Erkenntnis des Wortes und seiner (in heutigen Worten gesprochen) Kraft zu geistiger Befreiung und wahrer Identitätsfindung zu begleiten, scheint das zentrale Ziel Eckharts zu sein. Dabei kommt die Kraft aus dem Wort selbst, so dass es zwar Eckhart ist, der vor ‚dem Volk‘ bzw. ‚den Leuten‘21 predigt, das Eigentliche für ihn aber aus dem Wort selbst kommt. Meister Eckhart war Dominikaner und damit ein Mitglied des ‚ordo praedicatorum‘. Neben Armut und Gehorsam, die er auch in seinen Predigten häufig als geistige Armut und Gehorsam Gott gegenüber beschreibt, gehört die Predigt zu den genuinen Kernaufgaben der Dominikaner. Büchner22 beschreibt als Ziel der Dominikaner das Sich-Einlassen auf den Anderen, um die inkarnatorische Grundbewegung nachzuvollziehen. Das wirft in dieser Zuspitzung auch ein helles Licht auf das, was Eckhart zum Predigen antreibt: Es ist die Inkarnation selbst – die Fleischwerdung des Wortes, das ausgesprochene Wort –, die auch in ihm Gestalt gewinnen soll. Durch die Geburt des Wortes in ihm wird er selbst zum

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21 22

Zur Frage der ‚cura monialium‘ vgl. Sturlese, Meister Eckhart und die cura monialium (s. Anm. 4) oder Gottschall, cura monialium (s. Anm. 2). Die Sichtweise, dass sich Eckhart konstitutiv in seinen Predigten gegen eine zu ekstatische Frömmigkeit, wie sie z. B. von den Beginen praktiziert wurde, richtet, ist damit negiert. Vgl. Sturlese, Meister Eckhart und die cura monialium (s. Anm. 4), 15. Vgl. Christine Büchner, „Der gerechte Mensch dient weder Gott noch den Kreaturen, denn er ist frei.“ Überlegungen zur Einführung in das Thema: Meister Eckhart und die Freiheit, in: Christine Büchner/Freimut Löser (Hg.), Meister Eckhart und die Freiheit, Stuttgart 2018, 1–12. Zu dem Ziel des existentiellen Gehorsams formuliert Büchner als Ziel der Dominikaner: „den Nachvollzug der Inkarnation, im Bestreben, die Selbstzusage Gottes als äußerstes Sich-Einlassen auf die Menschen im eigenen Leben und damit unter den Menschen weiter wirksam werden zu lassen. Die inkarnatorische Bewegung, das Sich-Einlassen auf das Andere, soll zum Lebensprinzip werden.“ (1) Sie verweist auf eine Aussage des derzeitigen Ordensmeisters.

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STEFANIE FROST antwortenden Wort und insofern kann man sein Predigen als Gebären des Wortes Gottes beschreiben. Das klingt zunächst ungewöhnlich und irgendwo auch anmaßend, erhellt aber die Dynamik von Eckharts Predigt und soll als ein zentraler und grundlegender Aspekt festgehalten werden: Predigen – d. h. Verbreitung des Wortes Gottes – ist quasi als inkarnatorischer Akt, als Manifestation des Wortes zu begreifen. Denn auch Eckhart muss tätig werden, da das Wort als Wort eben weitergetragen werden muss, es kann sozusagen nicht untätig sein.23

Predigen als ‚Geburtshilfe‘ der Gottesgeburt in der Seele In einer Form, die die argumentative Struktur dieses Gedankens berücksichtigt, könnte man diese Überlegung auch so ausdrücken: Voraussetzung: Predigen ist Auslegen der Bibel als Gottes Wort und damit der Wahrheit. Folge 1: Wenn Eckhart dieses Wort ausspricht, spricht er Gottes Wort aus – damit wird seine Predigt zu Gottes Wort. Folge 2: Findet dieses wiederum Widerhall im Zuhörer, wird auch dort die Wahrheit lebendig. Diese ‚Folge 2‘ ist die Gottesgeburt in der Seele in anderer Akzentuierung. Zentral geht es jedoch darum, dass das Wort Gottes in der (eigenen) Seele lebendig wird. Vgl. Pr. 49:24

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Vgl. Pr. 5b, DW I, 88, 2–4; Werke I, 68, 12–16: „Al die wîle dû dîner persônen mêr guotes ganst dan dem menschen, den dû nie gesæhe, sô ist dir wærlîche unreht noch dû geluogtest nie in disen einvaltigen grunt einen ougenblik.“ („Solange Du Deiner Person mehr Gutes vergönnst, als dem Menschen, den Du nie gesehen hast, so steht es wahrlich unrecht mit Dir, und Du hast noch nie nur einen Moment in diesen einfaltigen Grund gelugt.“) Diese Stelle macht deutlich, dass es eben nicht damit ‚getan ist‘, die Gottesgeburt des Wortes in sich zu erleben, sondern dass diese Geburt Folgen hat. Pr. 49, DW II, 428, 1–7; Werke I, 510, 9–18. („Seliger ist der Mensch, der mein Wort hört und es behält, als der Leib, der mich trug und die Brüste, die ich gesogen habe.

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WARUM PREDIGT MEISTER ECKHART? „sæliger ist der mensche, der mîn wort hœret und ez beheltet, dan der lîp, der mich truoc, und die brüste, di ich gesogen hân. Hæte ích diz gesprochen und wære ez mîn eigen wort, daz der mensche sæliger wære, der daz wort gotes hœret und ez beheltet, dan Marîâ sî von der geburt, daz si Kristî muoter lîplîche ist, […] die liute möhte ez wundern. Nû hât ez Kristus selber gesprochen. Dar umbe muoz man ez im glouben als der wârheit, wan Kristus ist diu wârheit.“

In dieser Predigt entfaltet Eckhart weiter, wie der Mensch beschaffen sein soll, der das Wort Gottes hört. Aufschluss für die Frage nach Eckharts Motivation zum Predigen mag dabei seine Überlegung liefern, nach der dieser Mensch freigiebig materielles und geistiges Gut geben solle. Zum letzteren führt Eckhart aus: „Und alsô sol er ouch geben geistlich guot, […] sîn leben dar ane ze bezzerne durch got, und sol noch dankes noch lônes begern von dem menschen noch keines vorteiles noch ensol ouch keines lônes von gote begern durch des dienstes willen, mêr: aleine, daz got gelobet werde.“25

Kern und letztlich Zentrum der diesem Artikel zu Grunde liegenden Überlegungen ist die Feststellung, dass ‚das Wort‘ für Eckhart verschiedene zentrale Bedeutungen hat, die eigentlich nur in ihrer Ausprägung verschieden sind, in ihrem

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Hätte ich dies gesagt und wäre es mein eigenes Wort, dass der Mensch seliger wäre, der das Wort Gottes hört und es behält, als Maria durch die Geburt ist, durch die sie die leibliche Mutter Christi ist, […] die Leute würde es verwundern. Nun hat es Christus selbst gesagt. Darum muss man es ihm als der Wahrheit glauben, denn Christus ist die Wahrheit.“) Pr. 49, DW II, 431, 4–8; Werke I, 512, 21–27. („So soll er auch geistiges Gut geben, […] um sein Leben damit um Gottes Willen zu bessern, und er soll weder Dank noch Lohn von dem Menschen begehren noch irgendeinen Vorteil und soll auch keinen Lohn von Gott begehren um des Dienstes willen, sondern nur danach begehren, dass Gott gelobt werde.“) Vgl. auch Sermo XV, 2, LW IV, 154, 1f.; Werke II, 594, 10f.: „Ambulemus etiam proximum attrahendo, aedificando, lucificando, lucrifaciendo, …” (Wir sollen auch wandeln, indem wir den Nächsten anziehen, ihn erbauen, ihn erleuchten, ihn gewinnen, …)

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STEFANIE FROST Inhalt jedoch zusammenlaufen bzw. von dem einen Wort kommen.26 Drei Wortbedeutungen sollen hier hervorgehoben werden: Erstens ist das Wort für Meister Eckhart der Logos, der prominent zu Beginn des Johannesevangeliums steht und mit dem er sich nicht nur in der lateinischen Auslegung des Johannesevangeliums intensiv auseinandersetzt. Zweitens ist das Wort die Bibel, die auch das Wort Gottes ist – aber anders als der lebendige Sohn, der in der Zeit Fleisch wurde, ist es das lebendige Wort, das aus der Ewigkeit verschriftlicht zu den Menschen kam. Drittens steht auch das menschliche Wort in Abhängigkeit vom ersten Wort.27 Wenn Eckhart nun predigend über das Wort das Wort an die Menschen richtet, wird auch er Träger und mehr noch Ausbreiter dieses Wortes. Er wird über den zunächst passiven Hörer des Wortes hinaus selbst zum aktiven Verbreiter des Wortes, das damit letztlich erst zu seiner wahren Wort-Bestimmung kommt – nämlich ausgesprochen zu werden.28 Inhaltlich korrespondiert damit die Beobachtung, dass die Geburt des Sohnes sich nur dann in der Seele vollzieht, wenn die Seele antwortet und den Sohn 26

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Zur Bedeutung des Wortes bei Eckhart gibt es aufgrund der zentralen Bedeutung, die es für ihn besitzt, eine reiche Sekundärliteratur. Hier sei lediglich verwiesen auf Werke II von Niklaus Largier, Anmerkung zu S. 512,7 (S. 859–861). „Wort hânt ouch grôze kraft; man möhte wunder tuon mit worten. Alliu wort hânt kraft von dem êrsten worte.“ Pr. 18, DW I, 306, 5–7; Werke I, 212, 1f. („Worte haben auch große Kraft. Man könnte Wunder tun mit Worten. Alle Worte haben ihre Kraft von dem ersten Wort.“) Vgl. Dagmar Gottschall, „Man möhte wunder tuon mit worten“ (Predigt 18). Zum Umgang Meister Eckharts mit Wörtern in seinen deutschen Predigten, in: Andreas Speer/ Lydia Wegener (Hg.), Meister Eckhart in Erfurt, Berlin [u. a.], 2005, 427–449. Gottschall beginnt (427f.) mit der auch in der Eckhart-Forschung vertretenen negativen Sicht Eckharts auf die Sprache, um dann Eckharts „Hochschätzung des gesprochenen oder geschriebenen Wortes“ (446) aufzuzeigen, insbesondere indem sie die Vorstellung nachzeichnet, dass Eckhart „Steine, Kräuter und Wörter als gleichwertige Objekte und Träger höherer Einflüsse betrachtet“ (436). Besonders anschaulich in Pr. 109, DW IV,2, 774, 69f.: „Swer dise predige hât verstanden, dem gan ich ir wol. Enwære hie nieman gewesen, ich müeste sie disem stocke geprediget hân.“ („Wer diese Predigt verstanden hat, dem vergönne ich sie wohl. Wäre niemand hier gewesen, ich hätte sie diesem Opferstock predigen müssen.“)

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WARUM PREDIGT MEISTER ECKHART? zurückgebärt. Auch wenn auf der menschlichen Seite Demut gefordert wird, damit sich die Gottesgeburt ereignet, ist diese dennoch absolut kein passives Geschehen, sondern höchste Aktivität. Der eben ausgeführte Gedanke bedarf jedoch einer Schärfung, auf die prominent Haug29 hingewiesen hat: Eckhart ist sich sehr wohl bewusst, dass sein Wort als menschliches Wort in keiner Weise die Kraft hat, die Brücke zum Wort Gottes zu schlagen. Denn in Auseinandersetzung mit den neuplatonischen Konzepten betont Eckhart den radikalen Bruch zwischen der Sphäre des weltlichen bzw. kreatürlichen Seins (von ihm auch bezeichnet als esse hoc et hoc) und des Seins selbst (von ihm später bezeichnet als esse absolute). Eckharts Wort ist nicht als menschliche Rede in der Lage, zu Gott zu führen. Aber da das Gotteswort in der Bibel den Menschen zugänglich ist, hat Eckhart überhaupt die Möglichkeit, auch mit menschlicher Rede Wahrheit formulieren zu können. Dass er selbst davon überzeugt ist, wahr zu sprechen bzw. Wahrheit zu sprechen, bestätigt er selbst: „Möhtet ir gemerken mit mînem herzen, ir verstüendet wol, waz ich spriche, wan ez ist wâr und diu wârheit sprichet ez selbe.“30 Wenn auch die Predigt als Predigt und damit menschliche Rede letztlich nicht vermitteln kann, so ist doch dem Wort als Wort die Kraft inhärent, ausgespro29

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Vgl. Walter Haug, Das Wort und die Sprache bei Meister Eckhart (1983), hier in: Walter Haug, Brechungen auf dem Weg zur Individualität, Tübingen 1995, 579–591, 589: „Das heißt aber mit anderen Worten in klarer Konsequenz des Eckhartschen Ansatzes, dass auch die Predigt nicht vermittelt; sie kann es nicht und sie soll es nicht.“ Er kommt auf diese Weise dann aber zu dem Schluss, dass Eckhart einen „geschlossenen Zuhörerkreis voraus[setzt], der schon in jener Wahrheit steht, aus der heraus er spricht.“ (ebd.) Pr. 2, DW I, 41, 5–7; Werke I, 34, 12–14. („Könntet Ihr mit meinem Herzen erkennen, so verstündet Ihr wohl, was ich sage; denn es ist wahr und die Wahrheit sagt es selbst.“) In diesem Sinn auch aus der Armutspredigt Pr. 52, DW II, 506, 1–3; Werke I, 563, 23–27: „Wer dise rede niht enverstât, der enbekümber sîn herze niht dâ mite. Wan als lange der mensche niht glîch enist dirre wârheit, als lange ensol er diese rede niht verstân; wan diz ist ein unbedahtiu wârheit, diu dâ komen ist ûz dem herzen gotes âne mittel.“ („Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn, solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, solange wird er diese Rede nicht verstehen; denn dies ist eine unverhüllte Wahrheit, die da gekommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar.“)

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STEFANIE FROST chen zu werden und damit Gestalt zu gewinnen. Und auch menschlicher Rede, die das Wort Gottes ausspricht, liegt diese Kraft inne; nicht als menschlicher Rede an sich, sondern indem sie im Vollzug der Predigt eins wird mit dem Wort der Bibel, dem sie in der Predigt ‚Raum verschafft‘. Auch wenn es sich mit der Predigt insofern verhält wie mit dem Auge, das nach Eckhart zwar das Holz sieht, aber nie das Holz werden kann, so wird die Predigt doch im Aussprechen des Wortes eins mit dem Wort, so wie das Auge im Vollzug des Sehens mit dem Holz verschmilzt – so das Gleichnis von Eckhart aus Pr. 4831 hier etwas kühn auf den Gegenstand der Predigt bezogen. Eckhart selbst nennt explizit Kraft und Grund der Kraft der Worte in Pr. 18: „Wort hânt ouch grôze kraft, man möhte wunder tuon mit worten. Alliu wort hânt kraft von dem êrsten worte.“32 Aber, und auch das gehört wesentlich zu Eckharts Anliegen, das gepredigte Wort und die sich darauf beziehende intellektuelle Erkenntnis sind nicht konstitutiv notwendig für das Erreichen des von Eckhart angestrebten Zieles. Es zählt allein, frei zu werden und Gott in sich lebendig werden zu lassen, auf welchem Weg auch immer.33 Obwohl er der Vernunft in der Seele des Menschen einen großen Stellenwert zuspricht und an zahlreichen Stellen dessen Höherwertigkeit gegenüber der Kraft des Willens betont 34 – getreu seiner Herkunft aus dem 31 32

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Vgl. Pr. 48, DW II, 416, 2–417,1; Werke I, 504, 32–506, 15. Pr. 18, DW I, 306, 5–7; Werke I, 212, 1f. („Worte haben auch große Kraft. Man könnte Wunder tun mit Worten. Alle Worte haben ihre Kraft von dem ersten Wort.“) Vgl. z. B. Pr. 66, DW III, 119, 2–5; Werke II, 18, 15–19: „Sehet, diz mac der gröbeste und der minste von iu allen empfâhen von gote, ê er tâlanc uz dirre kirchen kome, jâ, ê daz ich tâlanc gepredige, mit guoter wârheit als wærlîche, als got lebet und ich mensche bin.“ („Seht, dies kann der Grobsinnigste und der Geringste unter Euch allen von Gott empfangen, noch ehe er heute aus der Kirche kommt, ja, noch ehe ich heute zu Ende predige, in voller Wahrheit und so gewiß, wie Gott lebt und ich Mensch bin.“) Z. B. Pr. 43, DW II, 322, 7–323, 3; Werke I, 460, 29–462,2: „Diu sêle enhât niht, dâ got în gesprechen müge, dan vernünfticheit. Etlîche krefte sint sô snœde, daz er niht dar în gesprechen enmac. Er sprichet wol, sie enhœrent sîn aber niht. Wille enpfæhet niht, als er wille ist, deheine wîs niht.“ („Die Seele hat nichts, worein Gott sprechen könnte, als die Vernunft. Gewisse Kräfte sind so geringwertig, dass Gott nicht in sie sprechen kann. Wohl spricht er, aber sie hören es nicht. Auch der Wille als Wille nimmt nichts auf, in keiner Weise.“)

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WARUM PREDIGT MEISTER ECKHART? Dominikanerorden –, passiert ‚das Wesentliche‘ für Eckhart dann doch eben ‚noch höher‘.35 Dieses wird bekanntermaßen von Eckhart auch als Bürglein der Seele, Licht oder als Seelengrund bezeichnet.

Meister Eckhart – ein Mitarbeiter Gottes Im Moment des Predigens wird der Prediger zum ‚mitewürker gotes‘36. Dieser Gedanke soll in seiner Bedeutung für Eckharts Beweggrund und Ziel beim Predigen nun entfaltet werden, ausgehend von drei von Eckhart selbst gesetzten Prämissen. Prämisse 1: Wer sich selbst gelassen hat, in den kommt Gott hinein.37 35

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Pr. 43, DW II, 325, 12–326, 1; Werke I, 462, 29–464,1: „Dar umbe sprichet ein meister: ez ist neizwaz gar heimlîches, daz dar über ist, daz ist daz houbet der sele. Dâ geschihet diu rehte einunge zwischen gote und der sêle.“ („Deshalb sagt ein Meister: Es ist irgend etwas gar Heimliches, das darüber ist, das ist das Haupt der Seele. Dort geschieht die rechte Einigung zwischen Gott und der Seele.)“ Als Gewährsmann verweist er gern auf Augustinus. Vgl. zum Ganzen Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit, 173–180. Eine schöne Stelle zum Adel der Seele und dem Begreifen davon bei anderen: Pr. 28, DW II, 66, 2–6; Werke I, 322, 9–15: „Ez ist etwaz, daz über daz geschaffen wesen der sêle ist, daz kein geschaffenheit enrüeret, daz niht ist; […] Ez ist ein sippeschaft götlîcher art, ez ist in im selben ein, ez enhât mit nihte niht gemeine. Hie hinkent manige grôze pfaffen ane.“ („Es gibt etwas, das über dem geschaffenen Sein der Seele ist und an das kein Geschaffensein, das nichts ist, rührt, […] Es ist göttlicher Art verwandt, es ist in sich selbst eins, es hat mit nichts etwas gemein. Hierüber geraten manche große Pfaffen ins Hinken.“) Vgl. Pr. 81, DW III, 398, 13; Werke I, 170, 16f.: „Als ich gotes wort spriche, sô bin ich ein mitewürker gotes“ („Wenn ich Gottes Wort spreche, bin ich ein Mitwirker Gottes“). Z. B. Pr. 5b, DW I, 93, 2f., Werke I, 72, 9f.: „Rehte dâ daz bilde îngât, dâ muoz got wîchen und alliu sîn gotheit. Aber dâ daz bilde ûzgât, dâ gât got în.“ („Eben da, wo dieses Bild eingeht, da muss Gott weichen und seine ganze Gottheit. Wo aber das Bild ausgeht, da geht Gott ein.“) Auch sehr anschaulich ist die Vorstellung der ‚Verschmutzung‘ mit Kreatürlichem in Pr. 22, DW I, 387, 3–6; Werke I, 262, 16– 20: „Got gebirt sînen eingebornen sun in dir, ez sî dir liep oder leit, dû slâfest oder wachest, er tuot daz sîne. Ich sprach niuwelîche, wes schult daz wære, daz der mensch

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STEFANIE FROST Prämisse 2: Gott tut das aus eigener Notwendigkeit.38 Zu Grunde liegt der Gedanke, dass der Mensch leer werden muss – und in dieses ‚Vakuum‘ muss Gott dann zwangsläufig hinein. Die physikalische Vorstellung des Vakuums verdeutlicht dieses ‚Muss aus Notwendigkeit‘. Da, wo nichts Kreatürliches mehr ist, muss notwendig das reine Sein einziehen.39 Die ersten beiden Prämissen werden auch sehr deutlich in Pr. 22: „Ich gedâhte underwîlen, dô ich her gienc, daz der mensche in der zît dar zuo komen mac, daz er got mac twingen. […] Swenne sich der mensche dêmüetiget, sô enmac sich got niht enthalten von sîner eigenen güete, er enmüeze sich senken und giezen in den dêmüetigen menschen.“40

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des niht ensmecket und sprach, ez wære des schult, daz sîn zunge belîmet wære mit anderm unvlâte, daz ist mit den crêatûren.“ („Gott gebiert seinen eingeborenen Sohn in dir, es sei dir lieb oder leid, ob du schläfst oder wachst; er tut das Seine. Ich sagte neulich, was schuld daran sei, dass der Mensch es nicht empfindet, und sagte: schuld daran sei dies, dass seine Zunge mit anderem Schmutz, d.h. mit den Kreaturen, beklebt sei.“) Vgl. auch Pr. 40, DW II, 272, 5–273, 1; Werke I, 428, 8–13. Vgl. auch z. B. Pr. 48, DW II, 415, 1–3; Werke I, 504, 18–22: „Ze glîcher wîs alsô spriche ich von dem menschen, der sich selben vernihtet hât in im selben und in gote und in allen crêatûren: der mensche hât die niderste stat besezzen, und in den menschen muoz sich got alzemâle ergiezen, oder er enist niht got.“ („Ebenso sage ich von dem Menschen, der sich selbst zunichte gemacht hat in sich selbst, in Gott und in allen Kreaturen: Dieser Mensch hat die unterste Stätte bezogen, und in diesen Menschen muss sich Gott ganz und gar ergießen, oder – er ist nicht Gott.“) Eckhart arbeitet auch mit dieser Vorstellung, z. B. Pr. 31, DW II, 124, 4; Werke I, 352, 24f.: „wære ich îtel und hæte ein inviuric minne und glîcheit, ich züge got alzemâle in mich.“ („Wäre ich leer und hätte eine inbrünstige Liebe und Gleichheit, so zöge ich Gott völlig in mich hinein.“) Im Kommentar zu „wan sîn natûre swebet dar an, daz er grôziu dinc gebe“ („denn seine Natur hängt daran, dass er große Dinge gebe) aus Predigt 4 (DW I, 65, 7; Werke I, 50, 1f.) hat Largier viele Stellen versammelt, die dieses „Muss“ betonen; vgl. Werke I, 783–785. Pr. 22, DW I, 385, 4–9; Werke I, 260, 19–25. („Mir kam bisweilen, wenn ich hierher kam, der Gedanke, dass der Mensch in der Zeitlichkeit dahin zu kommen vermag, Gott zwingen zu können.[…] Wenn sich der Mensch demütigt, kann Gott sich in seiner ihm eigenen Güte nicht enthalten, sich in den demütigen Menschen zu senken

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WARUM PREDIGT MEISTER ECKHART? Prämisse 3: Eckhart muss predigen.41 Eckhart benutzt häufig das Bild des Feuers. Auch wenn er es selbst nicht auf seine Predigttätigkeit bezieht, soll der Vergleich hier angestellt werden. Denn wenn Eckhart so viel von der Natur des Feuers und seinem Drang, sich zu vermitteln spricht – so erscheint es als passend, dieses auch von Eckhart annehmen zu können. Wenn er die Schrift liest, dann muss er sie weitertragen – so ergibt es sich fast als eine logische Konsequenz.42 Conclusio 1: Eckhart ist Lehr- und Lebemeister in einer Person. Das heißt, dass sein Anspruch in Lehre und Predigt letztlich ist, die Hörer*innen bzw. Leser*innen zur Geburt Gottes in der Seele zu führen und damit mitzuarbeiten an Gottes Werk der ewigen Geburt seines Sohnes. Conclusio 2: Dazu greift er auf Gottes Wort selbst zurück – und lässt es weiter fließen. Dabei formuliert er die Wahrheit, wie sie sich ihm erschlossen hat, auf verschiedenen Ebenen; letztlich um die Leute dort zu erreichen, wo sie sind: In Universität oder Kloster oder im ‚normalen Leben‘.

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und zu gießen.“) Vgl. auch z. B. Pr. 48, DW II, 415, 1–3; Werke I, 504, 18–22: „Ze glicher wîs alsô spriche ich von dem menschen, der sich selben vernihtet hât in im selben und in gote und in allen crêatûren: der mensche hât die niderste stat besezzen, und in den menschen muoz sich got alzemâle ergiezen, oder er enist niht got.“ („Ebenso sage ich von dem Menschen, der sich selbst zunichte gemacht hat in sich selbst, in Gott und in allen Kreaturen: Dieser Mensch hat die unterste Stätte bezogen und in diesen Menschen muss sich Gott ganz und gar ergießen, oder – er ist nicht Gott.“) Klassischer, schon oben zitierter Beleg hierfür ist Pr. 109, DW IV,2, 774, 69f.: „Swer dise predige hât verstanden, dem gan ich ir wol. Enwære hie nieman gewesen, ich müeste sie disem stocke geprediget hân.“ Z. B. Pr. 44, DW II, 341, 11–342, 3; Werke I, 470, 20–26: „Ez sprechent unser meister: daz viur, swie kreftic ez sî, ez engebrante niemer, enhoffete ez niht einer geburt. […] Des begert daz viur, daz ez geborn werde in dem holze und daz ez werde al ein viur und daz ez enthalten werde und blîbe.“ („Es sagen unsere Meister: Das Feuer, so kraftvoll es auch sein möge, würde niemals in Brand setzen, wenn es nicht auf eine Geburt hoffte. […] Danach verlangt das Feuer, dass es in dem Holze geboren und dass es alles ein einziges Feuer werde und dass es erhalten werde und bleibe.“)

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STEFANIE FROST Wenn Eckhart predigt, dann gibt er Gott die Ehre. Das sagt er so nicht direkt. Aber viele Stellen zeugen davon, dass es nicht darum geht, das Eigene zu suchen, sondern ganz den Willen Gottes zu leben. Dazu z. B. Pr. 25:43 „wan in dem, dô Moyses gotes êre suochte an dem volke, dô wiste er wol, daz er gote næher was, dan ob er gotes êre hæte gelâzen an dem volke und gesuochet hæte sîne eigene sælicheit. Alsus muoz ein guot mensche sîn, daz er in allen sînen werken des sînen niht ensuoche, aleine gotes êre.“

Explizit den Prediger spricht er an in In Eccli n. 4:44 „Sic praedicator verbi dei, quod est ‚dei virtus et dei sapientia‘, non debet sibi esse aut vivere, sed Christo quem praedicat.“ Mit diesen Überlegungen erscheint es auch plausibel, warum Eckhart eigentlich nie über seine Motivation zum Predigen spricht – denn damit würde er seine eigenen Interessen in den Vordergrund rücken, und das würde seinem immer wieder formulierten Anliegen, Eigenwillen und Ich-Bezug aufzugeben, zuwiderlaufen.45 An den Stellen, an denen Eckhart über sein Predigen spricht, verweist er auf Orte (wie das Kloster Mariengarten) bzw. Themen, die er schon einmal behandelt hat, oder er betont, um was es in seinen Predigten geht. Aber warum Meister Eckhart als Meister Eckhart predigt; darüber gibt er – leider oder konsequenterweise, das kann man sich nun aussuchen – keine explizite Auskunft.

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Pr. 25, DW II, 12, 4–7; Werke I, 288, 20–25. („Denn Moses wusste wohl, dass, wenn er Gottes Ehre an dem Volk suchte, er damit Gott näher war, als wenn er Gottes Ehre an dem Volk preisgegeben und seine eigene Seligkeit gesucht hätte. So muss ein guter Mensch sein, dass er in allen Werken nicht das Seine sucht, sondern einzig Gottes Ehre.“) Vgl. Pr. 49, DW II, 431, 4–8; Werke I, 512, 22–27. In Eccli. n. 4, LW II, 233, 3f. („So soll der Prediger des Wortes Gottes, das ‚Gottes Kraft und Weisheit‘ ist, nicht für sich sein oder leben, sondern für Christus, den er predigt.“) Z. B. Pr. 39, DW II, 253, 4f.; Werke I, 420, 18f.: „Der gerehte ensuochet niht in sînen werken; wan die iht suochent in irn werken, die sint knehte und mietlinge.“ („Der Gerechte sucht nichts mit seinen Werken; denn diejenigen, die mit ihren Werken irgendetwas suchen, […] die sind Knechte und Mietlinge.“)

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WARUM PREDIGT MEISTER ECKHART? Um das Wort Gottes in den Zuhörer*innen lebendig werden zu lassen, ist die Predigt aber das Mittel der Wahl. In ihr kann Meister Eckhart es angehen, dem Wort Gehör zu verschaffen. Dazu Pr. 19:46 „Der himelische vater sprichet ein wort und sprichet daz êwiclîche, und in dem worte verzert er alle sîne maht und sprichet sîne götlîche natûre alzemâle in dem worte und alle crêatûren. Daz wort liget in der sêle verborgenlîche, daz man ez niht enweiz noch niht enhœret, im enwerde denn gerûmet in dem grunde des hœrennes, ê enwirt ez niht gehœret.“

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DW I, 312, 3–8; Werke I, 214, 4–10. („Der himmlische Vater spricht ein Wort und spricht es ewiglich, und in diesem Wort verzehrt er all seine Macht, und er spricht in diesem Wort seine ganze göttliche Natur und alle Kreaturen aus. Das Wort liegt in der Seele verborgen, so dass man es nicht weiß noch hört, dafern ihm nicht in der Tiefe Gehör verschafft wird; vorher wird es nicht gehört.“)

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Dogmatik im Gedicht Johannes Schilling I. Gedichte sind nicht gerade diejenige literarische Gattung, in der man dogmatische Aussagen sucht. Aber vielleicht sind sie diejenige Gattung, in der sich, jedenfalls in den früheren Jahrhunderten, mehr an christlicher Lehre vermittelt hat, als das in umfangreichen Summen oder Lehrbüchern geschah. Es gibt in der Geschichte der lateinischen und deutschen und gewiss auch in anderen Literaturen hervorragende Zeugnisse für die Vermittlung christlicher Lehre, aus denen Kundige und Unkundige entnehmen konnten und können, wie es um den einen oder anderen Lehrartikel – oder vielleicht besser: um das jeweilige Glaubensgut – bestellt ist, Leser und Hörer, die wohl niemals zu einer Dogmatik gegriffen haben oder greifen würden. Wenn die Dichtertheologen gut sind, gelingt es ihnen, in ihren Texten zu literarischem und theologischem Ausdruck zu bringen, worum es ihnen in der Vermittlung des christlichen Glaubens geht. Die folgenden Seiten haben ein sehr bescheidenes Ziel. Ich möchte einige wenige, mir besonders gelungen erscheinende Texte vorstellen, einen lateinischen und ein paar deutschsprachige. In allen finde ich eine poetische Dogmatik präsent; es handelt sich jeweils um ein Gedicht aus intellektuell verantwortetem Glauben, theologisch präzise, orthodox (auch das ist eine Tugend) oder fragend, und in schöner Gestalt statt in einem trockenen Lehrbuch.

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DOGMATIK IM GEDICHT

II. Thomas von Aquin gehört gewiss zu den bedeutendsten Theologen der Christenheit. Dass er auch als Dichter bemerkenswert ist, können nur noch die Lateinkundigen ermessen. In seiner Sequenz „Lauda Sion Salvatorem“ hat er die neue römische Abendmahlslehre nach der Dogmatisierung der Transsubstantiationslehre auf dem Vierten Laterankonzil von 1215 unter Verwendung von Argumenten der Tradition und in, wie ich finde, unvergleichlich vollkommener Form bedichtet.1

1

1. Lauda, Sion, salvatorem, Lauda ducem et pastorem In hymnis et canticis.

2. Quantum potes, tantum aude, Quia maior omni laude, Nec laudare sufficis.

3. Laudis thema specialis, Panis vivus et vitalis Hodie proponitur,

4. Quem in sacrae mensa cenae Turbae fratrum duodenae Datum non ambigitur.

5. Sit laus plena, sit sonora, Sit iucunda, sit decora Mentis iubilatio; Dies enim solennis agitur, In qua mensae prima recolitur Huius institutio.

6. In hac mensa novi regis Novum pascha novae legis Phase vetus terminat; Vetustatem novitas, Umbram fugat veritas, Noctem lux eluminat.

7. Quod in cena Christus gessit, Faciendum hoc expressit In sui memoriam,

8. Docti sacris institutis Panem, vinum in salutis Consecramus hostiam.

Der Text ist allgegenwärtig; zuverlässige Ausgabe (zitiert): Ein Jahrtausend lateinischer Hymnendichtung … Erster Teil. Hymnen bekannter Verfasser, Leipzig 1909, 356f. (Nachdruck aus Analecta Hymnica 50, 584).

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JOHANNES SCHILLING

9. Dogma datur christianis, Quod in carnem transit panis Et vinum in sanguinem;

10. Quod non capis, quod non vides, Animosa firmat fides Praeter rerum ordinem.

11. Sub diversis speciebus, Signis tantum et non rebus, Latent res eximiae,

12. Caro cibus, sanguis potus, Manet tamen Christus totus Sub utraque specie.

13. A sumente non concisus, Non confractus, non divisus Integer accipitur;

14. Sumit unus, sumunt mille, Quantum isti, tantum ille, Nec sumptus consumitur.

15. Sumunt boni, sumunt mali, Sorte tamen inaequali Vitae vel interitus;

16. Mors est malis, vita bonis, Vide paris sumptionis Quam sit dispar exitus.

17. Fracto demum sacramento Ne vacilles, sed memento Tantum esse sub fragmento, Quantum toto tegitur.

18. Nulla rei fit scissura, Signi tantum fit fractura, Qua nec status nec statura Signati minuitur.

19. Ecce, panis angelorum, Factus cibus viatorum, Vere panis filiorum, Non mittendus canibus.

20. In figuris praesignatur, Cum Isaac immolatur, Agnus Paschae deputatur, Datur manna patribus.

21. Bone pastor, panis vere, Jesu nostri miserere, Tu nos pasce, nos tuere, Tu nos bona fac videre In terra viventium.

22. Tu, qui cuncta scis et vales, Qui nos pascis hic mortales, Tu nos ibi commensales, Coheredes et sodales Fac sanctorum civium.

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DOGMATIK IM GEDICHT Ein ausführlicher Kommentar ist an diesem Ort nicht möglich – und auch nicht nötig. Es soll ja darum gehen zu zeigen, wie schön man orthodoxe Dogmatik poetisch fassen kann. Hält man etwa den Text des Konzilsdokuments2 dagegen, so wird man bemerken, dass nicht nur alle seine Elemente in die Sequenz Eingang gefunden haben, sondern die poetische Fassung theologische und geistliche Räume eröffnet, die der Konzilstext als solcher nicht zu erschließen vermag.3

III. Das Barockzeitalter ist eine Hochzeit der protestantischen christlichen Dichtung. Die Lieder Paul Gerhardts sind in dieser Generation den Christenmenschen noch im Ohr (und auch im Herzen), aber die Kenntnis schwindet – es scheint erforderlich, die religiöse Sprachfähigkeit, die durch die Begegnung mit der Tradition entsteht, neu zu entwickeln und zu stärken. August Buchner, Wittenberger Professor der Beredsamkeit und Lehrer vieler guter Dichter, nicht nur Paul Gerhardts, veröffentlichte 1628 ein Gedicht über das

2

3

Vgl. [Heinrich] Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping hg. von Peter Hünermann, Freiburg i. Br. u. a. 452017 (auch online), Nr. 800–802, bes. 802: „Una vero est fidelium universalis Ecclesia, extra quam nullus omnino salvatur, in qua idem ipse sacerdos est sacrificium Iesus Christus, cuius corpus et sanguis in sacramento altaris sub speciebus panis et vini veraciter continentur, transsubstantiatis pane in corpus, et vino in sanguinem potestate divina: ut ad perficiendum mysterium unitatis accipiamus ipsi de suo, quod accepit ipse de nostro. Et hoc utique sacramentum nemo potest conficere, nisi sacerdos, qui rite fuerit ordinatus, secundum claves Ecclesiae, quas ipse concessit Apostolis eorumque successoribus Iesus Christus.“ Zu der zahlreichen Literatur vgl. nur Wolfgang Urban, Das eucharistische Brot in den Fronleichnamshymnen des Thomas von Aquin, in: Panis angelorum. Kulturgeschichte der Hostie, Ostfildern 2004, 99–107. – Vgl. auch Franz Viktor Spechtler, ‚Lauda Sion salvatorem‘ (deutsch), in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Berlin u. a. 21985, Sp. 613f.

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JOHANNES SCHILLING Abendmahl.4 Es ist ein gut lutherischer Text, geprägt von der seinerzeit in Wittenberg herrschenden Orthodoxie:5 Nachtmal des HErrn 1 JHr /derer Glaub nicht weiter geh’t Als wo das Aug vnd Finger jhn hin leitet / Beyseit / beyseit / zuruecke steh’t / Fuer dir ist nichts / du schnoeder Hauff / bereitet: 2 Last anderswo spitzfuendig seyn / Vnd die Vernunfft vnd scharffen Sinne spielen / Hier ist nicht nur schlecht Brod vnd Wein / Wier niessen mehr / als was wir seh’n vnd fuehlen. 3 Es gehet nicht nein in den Mund / Was seine Kost dem Leibe nur mag’ geben: Der Tisch macht vnsern Geist gesund / Durch dieses Mahl der inn’re Mensch mus leben. 4

5

Augusti Buchneri Nachtmal des HErrn. Nebenst etlichen andern Christlichen Getichten. [Wittenberg 1628]. – Einen ersten Hinweis auf Buchner verdanke ich Wulf Segebrechts Artikel über dessen Gedicht „Der Christen Schiffart“ in der Silvesterausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 31. Dezember 2020. – Eine vorbildliche Edition der Gedichte: Augustus Buchner, Deutsche Gedichte. Hg. von Gerd Hergen Lübben u. Wulf Segebrecht, Bamberg 2020 (Fußnoten zur Literatur, Heft 58). Zu beziehen bei: Verlag der Fußnoten, Ezzostraße 2, 96049 Bamberg. – Vgl. Johannes Schilling, August Buchners Gedichte auf die Hochzeit Herzog Friedrichs III. von Schleswig-Holstein-Gottorf und Maria Elisabeths von Sachsen aus dem Jahre 1630, in: Zeitschrift für Schleswig-Holsteinische Geschichte 147 (2022), 222–235. Augusti Buchneri Nachtmal des HErnn. Nebenst etlichen andern Christlichen Getichten. Wittenberg [1628]. 4 Blätter. Hannover: Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Bu 1889. – VD17 35:719243Z. – Edition: Buchner, Deutsche Gedichte (s. Anm. 4), 45f. und Anmerkungen, 122. Die Zählung der Strophen habe ich ergänzt. Im Originaldruck über a, o und u gestellte e werden im Folgenden als ae, oe und ue wiedergegeben.

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DOGMATIK IM GEDICHT 4 Das Brod in seinem Wesen bleibt / Der Wein ist Wein / wie er in Kelch geflossen / Geheimbter art wird einverleibt Das Fleisch und Blut / das Gott fuer uns vergossen. 5 Die fromme Torheit gehet hin / Vnd maestet sich bey der so edlen Weide: Jn ihr entsteht ein newer Sinn / Sie weiß nichts / als von lauter Himmelsfrewde. 6 Sie ziehet jhren Meister an Was Welt nur heißt’ / zun Fuessen sie jhr leget / Vnd klimmet biß zum Himmel nan / Der in jhr wohn’t / von dem wird sie gereget. 7 Auff meine Seel / vnd guerte dich / Vnd steh gerecht / du solst dein Pascha essen / Dem grimmen boesen Wueterich / Dem bist du nun / wann du selbst willst / entsessen. 8 Deß Glaubens Stab faß in die hand / Jetzt solst du aus Egyptens Kaercker gehen: Brich auff / laß das verfluchte Land Mit seiner Lust / jhm selbst zum Vrtheil stehen. 9 Wer ferner drinne bleiben kan / Mag nicht mit vns des Osterlambs geniessen: Wir gehen hin in Canaan / Da lauter Milch vnd Honigbaeche fliessen. 10 Da bawen wir ein newes Reich / Vnd eine Stadt / die kein Feind wird bezwingen: Die Zeit selbst nicht: vnd wann auch gleich All Hoellen macht auff sie nein wolte dringen.

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JOHANNES SCHILLING 11 Von Jaspis jhre Mawren seyn / Die Thuerne drauff von lauteren Topassen / Deß fein’sten Goldes reicher Schein Leucht vberall durch die Saphir’ne Gassen. 12 In klare Perlen sind die Thor’ / Vnd zwoelfe zwar / gantz meisterlich gehawen: Man siehet keine Riegel vor / Auch keine Wacht / den Feinden auffzuschawen. 13 Es ist dajmmer Fried und Ruh / Vnd stete Wonn / vnd ewiges Wolleben: Man sing’t vnd jauchzet jmmerzu / Dem / der vns Heil / vnd Sieg / vnd Krafft gegeben. 14 Da geh’t die außerwehl’te Schar / Vnd hat das Haubt mit Kraentzen rings vmbleget / Gott selbst ist Tempel vnd Altar / Zu welchem man die keuschen Opffer traeget. 15 Da ist kein Morgen vnd kein Heut / Vnd Jahr vnd Tag die das Gestirn regieret: Ein’ vnerschoepffet’ Ewigkeit Aus seiner Schoß / Gott vnser Liecht / gebuehret. 16 Geitz / Ehbruch / Mordt sind außgejagt / List vnd Betrug darff sich nicht sehen lassen: Der Neid / der sich am meisten plagt / Jst auch verbann’t / vnd die stets muessen nassen. 17 Fromm / still / gerecht vnd nuechtern seyn / Daß ists das vns zu Buergern da kan machen: Wer sein Faß hier behalten rein / Der koemmet dorten zu groß vnd hohen Sachen.

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DOGMATIK IM GEDICHT 18 Darumb wer da will kommen hin / Muß aus der Welt vnd seinem Fleische springen / Vnd Gott’ ergeben seinen Sinn. Der Will ist da: HErr gieb du das Vollbringen. Buchners Gedicht, eine Gelegenheitsdichtung, einem Verwandten zugeeignet, erfuhr als solche keine sehr große Verbreitung. Immerhin wurde es in Gesangbüchern nachgedruckt, so in einem Danziger Gesangbuch von 1719, das 1725 eine zweite Auflage erfuhr.6 Das Abendmahl wird im Kontext von Glauben und Vernunft behandelt; der Glaube schmeckt und sieht, was die Vernunft nicht erkennen kann.

IV. Auch Paul Fleming, dem wir das Lied „In allen meinen Taten“ verdanken, das im Evangelischen Gesangbuch steht7 und seinen Platz in einem folgenden Gesang6

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Vgl. Dantziger Gesang-Buch, Welches, auff E. Hoch-Edlen Raths daselbst Verordnung, zur Beforderung der Kirchen und Hauss Andacht, aus Lutheri und anderer bewehrten Autorum geistreichen Liedern zusammen getragen und eingefuehret worden. Dantzig: Auff Verlag der Frey-Schulen gedruckt, 1719. – Ein Exemplar in Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Slg. Wernigerode HB 2422; ein Exemplar der 2. Auflage 1725 ebd., Slg. Wernigerode Hb 2423. – Dazu eine freundliche Mitteilung von Gerd Hergen Lübben: „Im Zuge der Buchner-Recherchen fand ich die … Version im „Dantziger Gesang=Buch, Welches, auff E. Hoch= Edlen Raths daselbst Verordnung/ zur Beforderung der Kirchen= und Hauß=Andacht […] 1719“. Diese Scan-Collage fußt auf einem Exemplar der Danziger Bibliothek „Digitalizacja: PAN Biblioteka Gdańska / Lokalizacja źródła: PAN Biblioteka Gdańska“, URL:https://www.pbc.gda.pl/dlibra/publication/35419/edition/29751/ content. „Digitalizacja: PAN Biblioteka Gdańska / Lokalizacja źródła: PAN Biblioteka Gdańska“, URL: sowie VD18 14467933-001 (ein Film in der Bayerischen Staatsbibliothek München, Film R 2001.281, BG-2320). EG 368. Vgl. Johannes Schilling, 362 In allen meinen Taten, in: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Heft 29 (im Druck).

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JOHANNES SCHILLING buch gewiss behalten wird, hat ein Gedicht auf das Abendmahl Christi gemacht. Es zeigt, wie tief der Dichter in die lutherische Theologie eingedrungen ist, und welche Möglichkeiten die deutsche Sprache bereithält, das Geheimnis des Sakraments in Worte zu fassen.8 Auff das Nachtmahl des HERREN. DAs hohe Wunder-mahl / da selbst der Wirth wird gessen/ Diß Brodt; der Wein; nicht so; der Leib / diß Blut. das so viel an gesunden Krancken thut; das Todte Lebender fuer Tod zum Leben essen; Das Neue Testament / der letzte Wille dessen / der menschlich starb / nun goettlich lebt / und hut fuer diese haelt / so heissen Gottes Gut; Und was? wie kan ein Mensch die Goettligkeit ermessen. Hinweg / Vernunfft / du kluge Thoerinn du. Weg weiser Wahn / halt Ohr- und Augen zu. Die ungelehrten sind hier die gelehrten Koepfe. Pfand meines Heils / Ich komme mit Begier / zu deiner Kost und naehme sie zu mir / daß mein Todt in dir sterb’ / vnd ich dein Leben schoepfe.

V. Grundlage für die Feier der Messe wie des Abendmahls ist die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth. Unter den zahlreichen religiösen Gedichten des Andreas Gryphius findet sich auch ein Weihnachtsgedicht, das die Inkarnation in vollendeter Weise theologisch und dichterisch zu fassen sucht. Anders als Buch-

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Paul Fleming, Teütsche Poemata, Hildesheim 1969 (Nachdruck der Ausgabe Lübeck [1642]) (VD17 23:296100X), 547.

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DOGMATIK IM GEDICHT ners Gelegenheitsgedicht ist gehört Gryphius’ Sonett zu dessen verbreitetsten und berühmtesten Dichtungen.9 Vber die Geburt Jesu. NAcht mehr den lichte nacht! nacht lichter als der tag / Nacht heller als die Sonn’ / in der das licht gebohren / Das Gott / der licht / in licht wohnhafftig / ihmb erkohren: O nacht / die alle naecht’ vnd tage trotzen mag. O frewdenreiche nacht / in welcher ach vnd klag / Vnd fuensternueß vnd was sich auff die welt verschworen Vnd furcht vnd hellen angst vnd schrecken ward verlohren. Der himmel bricht! doch felt nuh mehr kein donnerschlag. Der zeitt vnd naechte schuff ist diese nacht ankommen! Vnd hatt das recht der zeitt / vnd fleisch an sich genommen! Vnd unser fleisch vnd zeitt der ewikeitt vermacht. Der jammer truebe nacht die schwartze nacht der suenden Des grabes dunckelheit / mus durch die nacht verschwinden. Nacht lichter als der tag; nacht mehr den lichte nacht!10 Vom Johannesprolog über die Zweinaturenlehre und die Lehre von der communicatio idiomatum ist die ganze Heilsgeschichte in diesem Text beschlossen – das Gedicht ist poetische Dogmatik in nuce.11 9 10

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Ein ausführlicher Artikel dazu in Wikipedia. Erstdruck: ANDREAE GRYPHII SONNETE. Das erste Buch (Leyden 1643). Ausgabe: Andreas Gryphius, Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. von Marian Szyrocki u. Hugh Powell. Band 1: Sonette. Hg. von Marian Szyrocki, Tübingen 1963 (Neudrucke deutscher Literaturwerke. Neue Folge 9), 30 (auch online). Vgl. dazu Marian Szyrocki, Der junge Gryphius, Berlin 1959; Erich Trunz, Andreas Gryphius. Über die Geburt Jesu, in: Benno von Wiese, Die deutsche Lyrik. 1. Vom Mittelalter bis zur Frühromantik, Düsseldorf 1961, 133–138; Wolfram Mauser, Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert, München 1976; Walter Jens, „Das Schwert in einen Pflug verkehrt“, in: Walter Jens/Hans Küng, Dichtung und Religion …, München 1985, 62–79; Jörg Baur, Die lutherische Christologie im Kontext

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JOHANNES SCHILLING

VI. Christliche Lyrik ist nach der Aufklärung und mehr noch durch die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts zum Problem geworden. Nur wenige Dichter haben es im 20. Jahrhundert vermocht, christliche Dichtungen hervorzubringen, am theologisch und literarisch eindrucksvollsten Jochen Klepper. Im gegenwärtigen 21. Jahrhundert scheint die Möglichkeit christlicher Dichtung noch schwieriger geworden zu sein als je zuvor. Geht das (noch) – die Gegenwart Gottes in Jesus Christus im Gedicht aufscheinen zu lassen? Mit dem Assertorisch-Konfessorischen scheint es vorbei zu sein. Aber aus der Erfahrung der Gottesferne konnte und kann man doch noch immer das Wort an ihn richten. So wie es jener Inhaftierte des Konzentrationslagers Buchenwald tat, dessen Verse aus dem Lager entkamen. JA, WÄRST DU NICHT MEIN GOTT, wie könnt die Qualen der armen Schöpfung ich Dir je verzeihn? Ja, wärst Du nicht mein Gott, ich wollte speien und Not und Hass und Schmerz mit Bosheit zahlen. Da wir uns Deinem Schutze anbefahlen, gabst du uns preis, und da wir aufwärts schreien, bleibst Du uns taub, und da wir uns kasteien, verbirgst Du Dich in ungewissen Strahlen. Ja, wärst Du nicht mein Gott! wärst Herr von Knechten, wärst Kirchenbild und Spielzeug für die Dummen, ich wäre mir zu gut nur Dein zu denken.

der Gestaltwerdung lutherischen Christentums, in: ders., Luther und seine klassischen Erben. Theologische Aufsätze und Forschungen, Tübingen 1993, 164–203, zu Gryphius 189–192; Hermann Kurzke, Nacht lichter als der Tag, in: Frankfurter Anthologie 30, Frankfurt am Main 2007, (27) 28–31.

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DOGMATIK IM GEDICHT Du bist mein Gott! und darum muss ich rechten, und darum zweifeln, spotten und Dich kränken, und darum an Dich glauben und verstummen.12 Schwierig ist das Dichten geworden, aber es ist möglich. So wie es Theologie und Kirche aufgegeben ist, die Frage nach Gott offenzuhalten, so kann das auch der Dichter tun. In einer Fortschreibung des Angelus Silesius in seiner Gedichtsammlung „Cherubinischer Staub“ dichtet Christian Lehnert, der in diesem Band auch sonst die barocke Dichtungstradition aufgreift, freilich eher den Cherubinischen Wandersmann und Jakob Böhme als die Orthodoxen, Wo ist GOtt? Das Undeutliche, GOtt, kann dies und jenes sein. Wo immer du IHn suchst, schließt ER dich in sich ein.13

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Ich fand das Gedicht zuerst in: Das deutsche Sonett. Dichtungen . Gattungspoetik . Dokumente. Ausgewählt und hg. von Jörg-Ulrich Fechner, München 1969, dort 254. – „Der anonyme Verfasser, ein Inhaftierter des Konzentrationslagers Buchenwald, steckte es [das Sonett] 1938 dem Leiter der Frankfurter Quäkergemeinde bei dessen seelsorgerischem Besuch in einem zerknüllten Papier zu. Frau H. Roubiczek, Cambridge, nahm davon 1938 eine Abschrift, nach der das Sonett hier erstmals im Druck erscheint“ (Fechner S. 407). – Das Gedicht ist inzwischen auch in Ausgaben des Evangelischen Gesangbuchs aufgenommen worden, so in die Ausgabe für die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel 1994, Nr. 929, und in die Ausgabe für die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche, Hamburg und Kiel 21995, Nr. 928. Es ist auch im Internet präsent und mehrfach in Musik gesetzt worden. – Von einer vergleichbaren Frömmigkeit bestimmt ist Zvi Kolitz, Jossel Rakovers Wendung zu Gott. Jiddisch-Deutsch. Hg. von Paul Badde. Mit Zeichnungen von Tomi Ungerer. Zürich 2004. Eine frühere Ausgabe: Zvi Kolitz, Jossel Rackower spricht zu Gott, Neu Isenburg: Edition Tiessen 1985. Christian Lehnert, Cherubinischer Staub. Gedichte, Berlin 2018, 25.

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JOHANNES SCHILLING Das ist nichts weniger als eine poetische Fassung der Rede von Gott als der alles bestimmenden Wirklichkeit, der sein Wort an die Menschen richtet und das Fragen ermöglicht. Ich bin, der ich bin (2. Mose 3,14) „Wer weiß denn, wer ich bin?“ Sein Atem sucht den Ort, wo er begann und geht. So wird der GOtt ein Wort.14 * Gott ist gegenwärtig, nicht nur bei Gerhard Tersteegen, nicht nur in Brot und Wein, sondern auch und vor allem in seinem Wort – und damit eben auch im Dichterwort.

14

A. a. O., 33.

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The Reformer as Reader Luther’s Habitus of Reading Robert Kolb “Luther’s reading becomes his writing,” states English literature scholar Brian Cummings, calling attention to the significance of how Luther read and what he read for the Reformation.1 Despite living in a semi-literate culture, Luther’s reading was not exceptional, for Christianity has lived from the book, above all, from reading and hearing the Bible. Christian theology has practiced the repetition of what thinkers had read, for purposes of refutation or reinforcement, throughout its history. Martin Luther is celebrated as a writer of books and a translator of the Book. Had he not read and heard others reading, he would not have written or translated himself. What Luther read became what he wrote, preached, and lectured to the students who carried his thinking across German-speaking lands and beyond. By the 1530s and 1540s, Luther had read a huge quantity of material both as an avid learner and as a lecturer called to exposit the biblical text. He read a wide variety of authors to gain insights from them, and he read some to criticize their false ideas and to deconstruct their appeal to his contemporaries. This essay examines his reading as revealed especially in his Galatians and Genesis commentaries, which reflect the mature reading habits from the latter years of his life, to determine which authors he read and how he processed their writings as he conveyed the biblical message himself.

1

Brian Cummings, The Literary Culture of the Reformation. Grammar and Grace, Oxford 2002, 88.

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ROBERT KOLB

1 Reading as an Integral Part of Luther’s Life In the cloister Luther experienced the reading of texts as an integral part of daily routine. He read and was read to in the exercise of the lectio, the daily practice of reading Scripture or other pious literature during mealtime. A prominent feature of the latter were narratives of the feats of the saints, often from the mid-thirteenth century Golden Legend—the “priceless collection of things that had to be read.” These stories remained in Luther’s memory so that he could revisit them as he was reading other texts years later.2 At the time he entered the cloister, some Augustinian Hermits were accentuating the study of Paul’s epistles, and some were touting the new “humanist” approaches to biblical studies.3 In the cloister what was read to all the brothers at mealtime and the personal reading of each brother became conversation topics after the personal silence of the meal had ended. Reading or discussing his reading in community never ended for Luther, as demonstrated, for instance, by his “Table Talks” and by his working together with the team of colleagues in Wittenberg who joined him in his translation efforts after his return from the Wartburg.4 Medieval theological education consisted of engagement with texts, with comments from earlier readers of Scripture on its texts, which had been gathered into Peter Lombard’s collection of the Sententiae of the Fathers’ readings of the Bible. Finding Lombard and his commentators less than satisfying, young Brother Martin quickly came to prefer whatever texts from the Bible he could find. At least one superior thought reading the Bible superfluous if not dangerous, but Luther defied his admonition and continued to delve into the prophets and apostles alongside the reading of the Fathers and the Moderns. Luther even snuck into the cloister library if he had to in order to read Holy Scripture.5 2 3

4 5

E.g. WA 40,1:258,22–34, 315,19–32. See also David Gutiérrez, Geschichte des Augustinerordens, 1,2, Würzburg 1981, 116–154; Adalbero Kunzelmann, Geschichte der Deutschen Augustiner-Eremiten 5, Würzburg 1974, 4–104. See the protocols, WA.DB 3 and 4. Johannes Mathesius, Historien, Von des … Manns Gottes/ Doctoris Martini Luthers anfang, lehr, leben vnd sterben …, Nürnberg 1566, 3b.

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THE REFORMER AS READER Students engaged the text with their ears as they heard the professor lecture. Luther’s own hearing and reading as student and frater seem to have made him sensitive to the challenges of those hearing his own lectures and reading the texts he composed or edited. Lectures are called “lectures” because they provided a common “reading” of a text, led by a “doctor” or teacher. He provided “cursory” readings, with brief observations on what was being “read” together, and “ordinary” readings, with fuller expositions of the text. By the later fifteenth century many students also had the written text before them, at first in manuscript form. Copyists in monasteries provided texts written out with generous margins and space between lines in order to permit students to record the instructor’s interpretations and insights. By Luther’s time, printers were producing these texts in print, again with copious margins for notations of the instructor’s comments in the form of brief glosses explaining a word or phrase, scholia that treated the subject of a passage in relatively brief form, and corollaria, which treated topics in more detail. Even then, however, the students primarily engaged the text through the voice of the instructor. The instructor drew his elaborations on the text from what he had been reading, above all from earlier commentators on the text.6 Preparing for lectures, Luther jotted down on his printed text what he wanted to dictate to the students.7 When in 1519 Luther fashioned his first printed “commentary,” based on his lectures on Galatians of 1516–1517, he informed readers that they should not expect a commentary as they understood the term—a book consisting of glosses, scholia, and corollaria—but “a testimony of my faith.”8 He cast his scholarly analysis of the grammar, syntax, definitions of words, and historical context in the form of a running narrative with occasional homiletical touches. 6 7

8

Cummings, Literary Culture (as footnote 1), 70. See plates 1–3 in Meilensteine der Reformation. Schlüsseldokumente der frühen Wirksamkeit Martin Luthers, ed. Irene Dingel and Henning P. Jürgens, Gütersloh 2014, and the articles by Christopher Spehr, Luthers Psalmen-Vorlesung (1513–1515) – Historische und theologische Aspekte, 18–27, and by Ernst Koch, Aufzeichnungen zu Luthers Auslegung des Römerbriefs – Die Handschrift in Dessau, 56–59. WA 2:449,16–19. Cf. Kenneth Hagen, What Did the Term Commentarius mean to sixteenth-century Theologians, in Théorie et pratique de l’exégèse, Actes du troisième colloque international sur l’histoire de l’exégèse biblique au XVIe siècle, ed. Irena Backus and Francis Higman, Geneva 1990, 25–28, 31–32.

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ROBERT KOLB Luther’s lectures in the 1520s reflected in part the medieval style of glosses and scholia that he had actually utilized with his students in his exposition of Galatians in 1516–1517,9 but by the publication of his later Galatians lectures in 1535 and the issuance of his Genesis commentary in four volumes, 1544–1554, his style had turned to the narrative, somewhat homiletical mode of the Galatians commentary published in 1519. This introduced a different kind of challenge for those who were hearing him lecture, as seen in their notes. What his students read of his lectures certainly stood in contrast with what previous commentaries had offered. Luther learned his theology, as did all others, in dialogue with the tradition of textual interpretation, engagement with texts from Moses through Paul into Augustine and late medieval contemporaries, including the latest commentators on Lombard. His instructors trained his reading eyes to comprehend what he was reading within the context of presuppositions largely taken from William of Ockham and from monastic ways of absorbing the biblical text. Along with his Augustinian superiors and through the daily common reading of the text in the cloister Luther learned to see himself in a “communion of (divine and human) writers with (past and present) readers, and a sense of continuity between all religious writers and readers. This attitude assumed a continuity of meaning that extended subjectively and inter-subjectively outside the Bible.” This understanding of a relationship to the text developed in the reader “a conviction of profound similarity, an aesthetic similarity of literatures, a shared biblical poetic,” that is, a common basis of understanding Scripture, with the authors he was reading.10 However, this experience as it evolved in the medieval monastic tradition did not offer him “a literary method for handling the narrative construction of the Bible as a whole.”11 He constructed such a scaffolding for himself as he strove to approach the biblical text with “a humble heart, one that regards God’s word with respect, love, and esteem, that remains with it alone and holds fast to it.”12 His scaffolding distinguished God’s word of law and his word of gospel in the direct address of 9 10

11 12

WA 57/3:97–238. Christopher Ocker. Biblical Poetics before Humanism and Reformation, Cambridge 2002, 216. A. a. O., 21–22, 211. WA.TR 4:617, Nr. 5017.

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THE REFORMER AS READER the text to readers and hearers as it incorporated them into the narrative that runs out of Eden through Israel’s history to Christ’s cross and empty tomb and into villages of electoral Saxony and the streets of Wittenberg.13 In this monastic environment the Augustinian brother and young professor was inevitably drawn into the revolution of grammar in which Desiderius Erasmus took a leading role14 and into the revolutions in rhetoric and dialectic in which his colleague Philip Melanchthon played an essential part.15 The biblical humanists, including Johannes Reuchlin, Desiderius Erasmus, and Jacques Lefévre d’Étaples, provided him with the basis for his new way of reading Scripture. He steeped himself in the study of the biblical languages that these three provided. Particularly Reuchlin’s Hebrew dictionary and grammar that was published in 1506 and Erasmus’s Paraphrases of New Testament books, available since 1517, cultivated his feel for the languages and the texts. Erasmus’s Novum Instrumentum of 1516 and its revision of 1519 supplied Luther with the Greek text as well.16 Erasmus’s Annotationes and his Paraphrases of the New Testament aided him in his commentary on Galatians of 1519.17 However, by 1531 Luther frequently called attention to the Dutch humanist’s errors in interpreting specific passages.18 Luther read with sensitivity to both the language and the historical context of the passages he was reading. He did not hesitate to admit that mysteries remained

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17 18

Gerhard Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung: Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, München 1942; Erik H. Herrmann, Quid Igitur Lex? Salvation History and the Law in Martin Luther Early Interpretation of Paul, Göttingen, forthcoming. Cummings, Literary Culture (as footnote 1), 102–143. William P. Weaver, Volume Introduction, in Philipp Melanchthon. Schriften zur Dialektik und Rhetorik/Principal Writings on Dialectic and Rhetoric. Principal Writings on Rhetoric, ed. William P. Weaver et al., in: Philipp Melanchthon. Opera Omnia. Opera Philosophica 2/2, Berlin 2017, XXXIII–LIV. Helmar Junghans, Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985; Robert Rosin, Humanism, Luther, and the Wittenberg Reformation, in: The Oxford Handbook of Martin Luther’s Theology, ed. Robert Kolb, Irene Dingel and Lubomir Batka, Oxford 2014, 91–104. E.g., WA 2:463,6–11, 601,33–35, 610,26–28. E.g., WA 40,1:259,30–260,7, 302,21–22.

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ROBERT KOLB for him, however, as he read. Commenting on Genesis 30, for example, he noted that the chapter contained difficulties in both grammatical usage and historical detail.19 Luther’s own apprehension of the presence of God in the text and the manner of speaking that the patriarchs and prophets had employed introduced him to a theological grammar that went beyond philology, grammar, and syntax. Luther’s own way of reading Scripture “rests on the specific tradition of the Bible’s language. It intends to capture biblical usage, translate it into given ‘vernaculars,’ and display it anew in proclamation.”20 As he read and meditated upon the biblical text, he became ever more convinced that “the human spirit is to cling firmly to this form of language in order to focus one’s thoughts and submit to the discipline of the Holy Spirit’s school.” Thus, he strove to yield “to what the Holy Spirit had dictated. Since it clings to the written letters, it lets the author speak again and again and lets the word work on it—to its innermost parts.”21

2 How Did Luther Read? The medieval practice of reading all texts aloud, perhaps softly but with lips moving, involved the body in the absorption of the words and thoughts. Luther’s actual processing of the texts took place as he read aloud to himself, as he had been taught. In a letter from Coburg castle to Melanchthon, Veit Dietrich reported that Luther read aloud as he meditated on Scripture and prayed. 22 Luther himself commented that readers of Scripture must reflect on its words and mull them over as their lips utter them aloud, contemplating their significance in the context of daily experience. He compared letters from princes, which should, it is said, be read three times, to “the letters of God, as Gregory [the Great] called Scripture.” They should be read “seven times, yes, seventy times seven, or, I would say, count-

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21 22

WA 43:650,39–651,1. Johannes von Lüpke, Luther’s Use of Language, in: Oxford Handbook (as footnote 16), 144. Cf. Luther’s comments on theological and common sense governing the use of grammatical rules in any given passage, WA 42:272,13–273,2. von Lüpke, Luther’s Use (as footnote 20), 146. CR 2:159, a letter of June 30, 1530.

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THE REFORMER AS READER less times because they are divine wisdom, which cannot be immediately grasped at first glance.”23 He addressed readers of Scripture: “You should meditate, that is, it is not to be done in the heart alone, but with the body, by repeating aloud and comparing the sound of the words and the words on the page, reading and rereading them, paying close attention and reflecting on them, so that you can ascertain what the Holy Spirit has in mind. Be careful not to become tired or think that it is sufficient to read, hear, and speak the words once or twice and think that you then have mastered what they mean.”24

He joined this kind of meditation to prayer and placed the biblical expressions regarding God and human life in the context of the trials and tribulations of each day, the “Anfechtungen” that come from Satan, the world, and the sinful desires of the person, even sometimes from God.25 The apprehension of the text through ear as well as eye enabled Luther to notice elements in the Hebrew text, for instance, that the patriarchs and prophets were using to communicate to those who heard what they were writing in order to strengthen the content of the text. Old Testament scholar Gary Rendsburg notes that many Old Testament authors used alliteration, repetition and rhyme of various sorts, timbre, and other play with sounds in order to lift the spoken words to a more intense level on which they can take possession of the reader. Even the character of particular consonants can set the tone for absorbing the message.26 Luther’s reading with the aural/oral force of the biblical writers’ use of language in mind shaped his translation of Scripture. For example, his ear for the story as set down in the Hebrew text caught what Rendsburg calls purposely “confused language.” He finds one instance in the awkward reply of Boaz’s servants to their master’s question concerning Ruth’s identity (2:7). They state that Ruth “came and stood from the morning on to now and remained a little in the house.” 23 24 25 26

WA 42:630,3–6. WA 50:659,22–29. WA 50:660,1–16. Gary A. Rendsburg, How the Bible Is written, Peabody MA, 2019.

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ROBERT KOLB Rendsburg suggests that what is often attributed to scribal error or authorial confusion makes sense as the report of a conversation in which the servants were trying to conceal the fact that they had permitted Ruth to remain in the hut reserved for Boaz’s own workers. Luther’s translation captures this same attempt to obscure what had actually happened.27 When the biblical authors used a hapax legomenon for emphasis and combined it with an alliteration, Luther occasionally also chose a rare word, for example, “zuhieben,” for ‫ שסף‬in 2 Samuel 15:33 (“Also zuhieb Samuel den Agag zu Stu[e]cken”).28 The original text bound Luther, of course, in ways in which the original authors were not bound, so they could freely construct their alliteration, but Luther nonetheless renders passages with a sensitivity to how his words would convey meaning when heard. Moreover, the physical form of the early prints and the available manuscripts influenced the way they could be read, standing at a library stand or one’s own “desk,” for instance. At the beginning of Luther’s career, he largely read volumes in folio or quarto formats; the latter could be held comfortably in the hands to be read, but folio volumes—probably about half of books available before 1520— posed more challenges for any longer reading without resting them on some kind of stand. William P. Weaver suggests that Philip Melanchthon’s Elementa rhetorices served as a “rhetoric for readers.”29 Long before it appeared in 1529, Luther was reading with the habits of interpretation in the brain, formed by instruction in grammar, dialectic, rhetoric, and metaphysics in secondary education and at the university arts faculty. Aristotle’s, Cicero’s, and Quintilian’s principles shaped his apprehension of what was being handed down to him, as did the practices of noting with underlinings, marginal glosses, and annotations.30 To what extent Luther “took notes” on his reading is unclear, but evidence shows that he annotated the books that he owned, both as aids for lecturing on texts and as reminders of

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A. a. O., 132–133. A. a. O., 198–199. William P. Weaver, Melanchthon’s Rhetorics and the Order of Learning: A Case Study in Library Database Research,” Reformation 22 (2017): 139–140; URL: https://doi.org/a0.1080/13574175.2017.1387969. Cummings, Literary Culture (as footnote 1), 60.

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THE REFORMER AS READER what the text had done to him at a particular reading.31 Jun Matsuura has edited the reformer’s marginal notes from the years 1509–1511 as he was lecturing in Erfurt and Wittenberg on works by Anselm, Bonaventura, and Augustine as well as on Thomas Aquinas’s comment on Peter Lombard’s Sententiae, William of Ockham, and Giorgio Valla’s survey of the liberal arts. Matsuura’s thorough presentation of these marginalia reveals that Luther was absorbing their texts within the biblical framework he was constructing at the time. Both red and black inks aided him in his highlighting of passages or phrases of particular importance. He occasionally noted in the margins a Bible passage that connected with the argument of these scholars. Fairly frequently he supplemented the text with expansions or explanation of what he was reading, sometimes critical rejoinders. Cross references to other works—by Augustine, Jerome, or Gregory, for instance—indicate that he had the larger corpus of these fathers’ writings also in mind as he read. His eyes and mind were engaging the text; he was conversing with the authors. Only occasionally did he indicate with punctuation (“/”) the rhythm of what the sentence was conveying; these instances suggest, however, that he was listening to the text. These habits continued, as the edition of his annotations to the works of Jerome from some ten years later suggests. Martin Brecht and Albrecht Peters observe that Luther’s annotations and markings in these volumes reveal his own psychic engagement with the text. His slashes and parentheses, his underlinings, his corrections of the wording of Bible passages alongside his marginal comments help the modern reader listen in on his musings and mutterings.32

3 Whom and What did Luther read? Reading presumes being able to obtain books: not all the books that early sixteenth-century readers wanted were accessible. Luther had the advantage of an ample collection that Frederick the Wise was building for his university through 31 32

Jun Matsuura (ed.), Martin Luther. Erfurter Annotationen 1509–1510/11, Köln 2009. Martin Brecht and Christian Peters (eds.), Martin Luther. Annotierungen zu den Werken des Hieronymus, Köln 2000, esp. p. 11.

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ROBERT KOLB the efforts of Georg Spalatin and others. Spalatin is thought to have organized and enlarged the collection that Frederick turned into a university “library” perhaps as early as 1514. A catalog from 1536 recorded some 1,600 titles, including versions of the Bible in several languages, ancient philosophers and poets, the early fathers of the church, medieval masters, and contemporary theologians, as well as books covering various aspects of the liberal arts, jurisprudence, and medicine. These volumes had been published by over sixty printers from across the European landscape of printers. Free access to these books in the manner of modern libraries did not exist, but Luther undoubtedly had the right to consult them.33 Above all, Luther read the Bible. Already as an Augustinian friar he had impressed brothers in the cloister with his command of Scripture.34 The Vulgate remained firmly lodged in Luther’s mind from years of reading He knew its text so precisely that he could detect instances that altered—in his opinion perverted— the meaning of the original text when he became able to read them in Hebrew and Greek. He counseled hatred for the translators that softened “the imagination of the human heart is evil” to “inclined to evil.”35 As a biblical humanist, Luther insisted on reading the ultimate sources, that is, the writings of the prophets and apostles in the original languages. That is why he reached out for the grammatical and lexicographical works of Reuchlin and Erasmus when they appeared on the market. That is why he quickly sought his own copies of the edited sources available: the Hebrew Bible edited by Gershom ben Moses and printed in Brescia 149436 and Erasmus’s initial edition of the Greek New Testament, the Novum Instrumentum.37 33

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Sachiko Kusukawa, A Wittenberg University Library Catalogue of 1536, Binghamton, New York, 1995; cf. Ernest Schwiebert, Luther and his times. The Reformation from a New Perspective, Saint Louis 1950, 244-253. WA.TR 4:433, § 4691. WA 2:347,27–34. On Luther’s continuing use of the Vulgate, cf. Heinz Bluhm, Martin Luther, Creative Translator, Saint Louis 1965, passim. Stephen G. Burnett, Luthers hebräische Bibel (Brescia, 1494) – Ihre Bedeutung für die Reformation, in: Meilensteine (as footnote 7), 62–69, and Christoph Mackert, Luthers Handexemplar der hebräischen Bibelausgabe von 1494 – Objektbezogene und besitzgeschichtliche Aspekte, in: Meilensteine (as footnote 7), 70–78. Cummings, Literary History (as footnote 1), 102–111.

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THE REFORMER AS READER Luther read the biblical texts with a sharp eye and ear for the grammar and syntax employed by the prophets and apostles. The theological significance of the pronoun “our” had become clear to him already by 1519.38 He paid attention to tense and form of verbs.39 His sensitivity to genre informed the way in which he led readers into reading the psalms; he told them to be aware that some psalms are psalms of comfort for believers, some psalms of praise to God, some prophecies of Christ, some simply prayers, some doctrinal instruction.40 He paid careful attention to figures of speech, such as metonymy,41 epiphonema,42 hyteron proteron or proteron hyteron,43 elliptica or reticentia;44 syndoche and tapinosis,45 hyperbole,46 and periphrasis.47 Luther recognized the special shades of meanings of certain Hebrew expressions and the Hebraisms that conveyed the mindset of the authors. His absorption of Reuchlin’s insights into how the Hebrew language functions shaped Luther’s scrutinizing and savoring of the words and expressions of the prophets and apostles as he prayed and meditated his way through the often treacherous field of Hebrew passives and actives and through the relatively more straightforward use of metaphors and of recollections of God’s past presence with his people. He was able to detect Paul’s Hebraic way of expressing himself already in his commentary on Galatians of 1519. 48 Furthermore, he made students aware of grammatical

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44 45 46 47 48

WA 2:458,20–28. WA 2:461,7–14. WA 8:8–69. WA 2:463,13–14. WA 13:446,5–6. WA 43:351,20–22; WA 43:661,17–18; WA 43:662,9–13; WA 43:665,27–38; WA 44:305,2–4. WA 44:690,12–14, 735,8–10. WA 25:33,29–30; 25:36,2–11. Cf. the antonomasia in Ps 2:12, WA 40,2:297,24–27. WA 13:392,27–38. WA 20:48,24–25. WA 2:453,27–35, 462,4–7, 481,33–35.

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ROBERT KOLB formulations and modes of expression reflecting Hebrew usage in his later Galatians lectures and his lectures on Genesis.49 Luther’s reading of the Hebrew and Greek of Scripture fed into the way in which he then spoke and wrote in German. According to Andrew Niggemann, Luther often blended Hebrew and German idioms while working on his translations. He thus created a “new German idiom [that] was a fusion of the German and Hebrew—neither fully literal, nor fully interpretative, nor an unadulterated German idiom rendering of the Hebrew.”50 Luther did not read only Scripture. His secondary education and his studies in the arts faculty had given him and his fellow students an impressive range of familiarity with ancient Greek and Roman literature. He read it to support and extend what he gained from the Bible and Christian authors. The ancient pagan writers accompanied him as reading material and as assistance in his own understanding and the communication of his thought.51 Luther knew the classical authors of ancient Greece and Rome on the basis of collections of tidbits of their wisdom as collected, for instance, by Erasmus52 and in the editions of their works that appeared in the late fifteenth and early sixteenth centuries. He reported that he took only Vergil and Plautus with him when he entered the cloister. 53 Although he criticized ancient authors for an emphasis on violence and sex,54 he cited many of them, often using only a familiar—more or less proverbial—line, sometimes longer passages that supported his argument. No evidence suggests 49

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Galatians: WA 40,1:139,24–29, 185,11–21, 243,26–27, 455,29–456,16; Genesis: WA 42:485,8–14, 43:436,39,12–17, 622,31–36. Andrew J. Niggemann, Martin Luther’s Use of Blended Hebrew and German Idioms in His Translation of the Hebrew Bible, Harvard Theological Review 113 (2020): 487. doi:10.1017/S0017816020000231. Reinhard Schwarz, Beobachtungen zu Luthers Bekanntschaft mit antiken Dichtern und Geschichtsschreibern, in: Lutherjahrbuch 54 (1987), 7–22; Carl P. E. Springer, Cicero in Heaven. The Roman Rhetor and Luther’s Reformation, Leiden/Boston 2018, 56–59. Adagia, in: Opera Omnia Desiderii Erasmi Roterodami, 6,1 and 2, Amsterdam 1993, 1998. WA.TR 1:44,23, Nr. 166. WA 5:409,25–410,9.

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THE REFORMER AS READER that he continued to read the ancient poets or historians regularly, but his secondary and university education had provided him with a familiarity that provided him with narratives and arguments that he could insert into his reading of and reporting on the theological texts he was engaging. Luther had heard common German proverbs and fables from the time before he could read; he also loved to insert the wisdom of a proverb or weave the lesson of a fable into lectures, sermons, and treatises. His command of Aesop enabled him to begin to prepare his own collection of astute observations of life attributed to the Greek sage.55 In general Luther had more Latin authors than Greek at his disposal. However, because Aristotle had been bred into his way of thinking, he could not avoid dealing with him. Despite his critique of the Stagarite, Luther often placed what he read from other authors, including the prophets and apostles, into Aristotelian categories for the sake of clear explanation.56 Aristotle’s explanations of natural phenomena won both his appreciation and his critique.57 He corrected misinterpretations of Aristotle’s dicta.58 He lauded Aristotle’s and Cicero’s sense of virtue and their wisdom regarding civic life59 but also rejected fundamental elements of the former’s ethical system and his understanding of creation because his thinking did not have a place for God in it.60 Cicero’s most vital help to Luther was his apt rhetorical theory.61 What Cicero could say about the profound questions of human life, such as the free will, in Luther’s reading revealed the severe limitations of human reasoning.62 Nevertheless, Aristotle may have been superior to Cicero in terms of intellectual ability, but Cicero exceeded Aristotle in discernment.63 Plato furnished far fewer worthy citations, although Luther both appreciated and critiqued his insights.64 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64

Carl P. E. Springer, Luther’s Aesop, Kirksville, MO, 2011. WA 43:505,28–33. WA 42:21,9–14, 39,1–4, 93,25–94,2, 95, 3–96,4, 364,25–365,14. WA 42:349,36–350,8, 351,1–9. WA 42:92,17–26, 474,27–36, 505,21–23; cf. WA 2:489,24–36. WA 40,1:457,16–29; WA 42:9,5–14. Springer, Cicero (as footnote 51). WA 42:482,10–16, cf. WA 42:486,16–30. WA42:408,34–40; cf. WA 40,1:30–31, 42:478,23–24. WA 42:4,16–19.

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ROBERT KOLB The poets also provided Luther with material, suggesting that in addition to those proverbial lines that he had learned as a schoolboy, he continued to do some reading in Horace, 65 Terence, 66 and Ovid. 67 Stories from Juvenal, 68 Vergil, 69 Suetonius,70 Livy,71 Plutarch,72 and Sallust73 informed him of the course of history, as did Josephus.74 But in the end all the pagan instruction even on morality does not attain the level of Moses’s instruction.75 Luther’s appraisal of the ancient theologians depended quite totally on how their interpretation of Scripture corresponded to his own. His instructors had instilled in him deep respect for the Fathers, but he mined their thought judiciously and did not hesitate to identify places where reading them could possibly deceive his own readers. Indeed, Luther helped “deparentify” the Fathers, as Scott Hendrix notes,76 but he hung onto them as conversation partners. They did not retain for him the force of what later generations of Lutherans called “norma normata,” but he did not cease reading them and engaging their interpretation of Scripture and their formulation of theology as new editions of their works appeared during his lifetime. Much of his patristic knowledge came from reading snippets of their writings selected by the editors of great works, such as Lombard or the Glossa ordinaria that gathered brief citations from the most prominent interpreters of the past. Some Fathers Luther knew only through florilegia, the collections of passages relevant to a topic, assembled by earlier theologians. Irenaeus and Tertullian

65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

WA 42:597,17–20, 43:113, 32–33. WA 43:92,20. WA 42:5,28–29, 416,39–417,1. WA 42:344,26–28. WA 2:505,25–26; 42:513,40–514,1. WA 40,1:316,14–16. WA 42:207,4–6. WA 42:474,10–14. WA 42:422,12–15. WA 42:338, 39–41. WA 42:98,7–19, 373,34–374,5. Scott H. Hendrix, Deparentifying the Fathers: The Reformers and Patristic Authority, in Auctoritas Patrum. Zur Rezeption der Kirchenväter im 15. und 16. Jahrhundert, ed. Leif Grane, Alfred Schindler, Markus Wriedt, Mainz 1993, 55–68.

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THE REFORMER AS READER are examples of this. Significantly, however, the appearance of editions of the works of the ancient Fathers in his own lifetime, beginning around 1500, enriched Luther’s understanding of their thought. Luther favored Augustine, but he also recognized some critical differences, particularly in the understanding of justification by faith, between his own views and those of the bishop of Hippo.77 Cummings illustrates the importance of his reading of Augustine for Luther’s thinking by giving a detailed account of Luther’s wrestling with Paul’s quotation of Psalm 32:1 and 51:4 in Romans 3 and 4. Insights from Augustine, especially his interpretation of the psalmists’ use of the active and passive voices, moved Luther toward his mature understanding of the righteousness of God and human righteousness.78 He also cited Jerome frequently, gaining from him key insights for his own exegesis,79 but he also rejected Jerome’s interpretations if he found them to be false. His commentary on Galatians composed in 1519 shows that Luther was reading both Jerome’s and Augustine’s treatments of the epistle to prepare his lectures. He cited both favorably for the most part but at times felt free to contradict their construal of Paul’s statements.80 They provided him both general interpretation of the sense of a passage and specific linguistic detail. Other writings by Augustine had also made their mark on the professor and provided comment for the students.81 His citation of other Fathers reveals the same mixture of appreciation and critique: for example, Hilary, 82

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78 79

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81

82

WA.Br 6:100,22–25, Nr. 1818; WA.TR 2:138, Nr. 1572; cf. Wolfgang Bienert, ‘Im Zweifel näher bei Augustin?’ Zum patristischen Hintergrund der Theologie Luthers, in Oecumenica et Patristica, ed. Damaskinos Papandreou et al., Stuttgart 1989, 281– 294. Cummings, Literary Culture (as footnote 1), 60–68, 79–101. His commentaries are filled with references to Jerome’s interpretation of the passages on which he was working, e.g. WA 42:395,27–36. Among many examples see from Jerome, WA 2:454,3–11, 456,15–28, 472,11–473,19, 475,35–476,4, 484,11–14, 521,19–37, 522,15–16, 542,16–25, 545,34–546,4; from Augustine, WA 2:484,25–30, 499,28–33, 530,27–531,2, 539,28–36, 542,26–28, 592,4–6. E.g. Enchiridion, WA 2:382,27–34; De Trinitate, WA 2:501,34–502,10; De Spiritu et Littera and De nuptiis et concupiscentiis, WA 2:468,32–469,12–15. WA 42:4,26–27, 17,8–14, 17,31–32, 205,36–38, 592,11–12.

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ROBERT KOLB Eusebius,83 Gregory.84 The fact that Luther cites Origen in tandem with Jerome suggests that he did not have access to Origen’s writings but learned of his interpretation of passages through Jerome’s quoting him.85 Among the medieval theologians Bernhard of Clairvaux most influenced Luther; he had immersed himself in Bernhard’s sermons and found there confirmation of his understanding of Christ’s saving work.86 The late medieval commentators Nicholas of Lyra (1270–1349) and Paul of Burgensis (1351–1435) also offered widely-known interpretations, and Luther used both, sometimes comparing their interpretations of a verse, 87 sometimes agreeing, sometimes disagreeing with their interpretations. 88 From two Basel professors, Sebastian Münster (1488–1552) and the Dominican Santes Pagninus (1470–1541),89 and from Lyra90 Luther gained much of his knowledge of Jewish interpretation of the Old Testament, with which he sharply disagreed on passages that he viewed as Trinitarian or Christological. He both highly appreciated Münster’s scholarship and criticized his permitting some Jewish interpretation that contradicted Christian belief to stand without comment. 91 Beyond these me83 84 85 86

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90 91

WA 2:473,20–22. WA 2:602, 34–35. E.g. WA 40,1:216,18–217,16, 302,18–26, 430,19–26. WA 2:602,5–11; WA 40,1:687,19–29, 43:83,30–84,4, 581,11–35, 582,17; cf. Theo Bell, Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften. Mainz 1993. WA 42:312,20–24, 427,25–33. Lyra, WA 42:378,31–42; Paul of Burgensis, WA 2:573,19–21; WA 42:528,5–11. WA 42:271,30–34, 272,5–36; 43:660,25–36; 43:669,26–27. Cf. Stephen G. Burnett, What Luther Could Have Known of Judaism, in: Juden, Christen und Muslime im Zeitalter der Reformation. ed. Matthias Pohlig, Gütersloh 2020, 133–146; Stephen G. Burnett, Reassessing the Basel-Wittenberg Conflict: Dimensions of the ReformationEra Discussion of Hebrew Scholarship, in Hebraica Veritas? Christian Hebraists and the Study of Judaism in Early Modern Europe. ed. Allison P. Coudert and Jeffrey S. Shoulsen, Philadelphia 2004, 181–201. E.g. WA 42:599,12–14. Stephen G. Burnett, Sebastian Münster and Jewish Interpretation of Genesis in his Hebraica Biblia (1534–35): Selection and Mediation of Jewish Insight for Christian Purposes, in Auslegung und Hermeneutik der Bibel in der Reformationszeit. ed. Christine Christ von Wedel and Sven Grosse, Berlin 2017, 393–403, and Andrew J.

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THE REFORMER AS READER diating sources his reading of rabbinical exegesis seems very limited, but his mastery of the fundamental tools for comprehending the Hebrew enabled him to become quite facile in conveying the Old Testament text to readers and hearers of his lectures, sermons, and translation.92 Luther also read accounts of Judaic faith and life by contemporaries, for the most part converts to Christianity from Judaism such as Antonius Margaritha (1490–1542) and took Margaritha’s polemic against his past at face value.93 Reading Peter Lombard’s Sententiae laid the foundation for Luther’s theological training; this reading depended on more recent commentators and their citations of the Fathers. He refers to these commentators as a group, seldom by their own names, most often by grouping them with Aquinas, Scotus, or Ockham in his lectures, highlighting particularly false conclusions drawn on the basis of false definitions of biblical terms. The mention of these three does not necessarily indicate direct reading of their texts, although through the works of Gabriel Biel (1420– 1495), he had read extensively in Ockham.94 Both Thomas Aquinas and Duns Scotus were so often cited by their disciples and critics that they had become ciphers for the schools that their followers constituted.95 Luther’s reading found little to cite or to critique in the most recent scholastic theologians, apart from Biel; Jean Gerson (1363–1429), chancellor of the University of Paris;96 and Pierre d’Ailly (1351–1420), chancellor of the Sorbonne and bishop of Cambrai. 97 Luther had read works by Jan Hus (1369–1415) and accounts of his life and martyrdom.98 He was familiar not only with scholastic argu-

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Niggemann, Martin Luther’s Hebrew in Mid Career. The Minor Prophets Translation, Tübingen 2020, 14–97. WA 42:271,30–34, 272,5–36; 43:660,25–36; 43:669,26–27. Burnett, What Luther (as footnote 89), 137–138. Heiko A. Oberman, The Harvest of Medieval Theology, Gabriel Biel and Late Medieval Nominalism, Cambridge, MA, 1963. WA 40,1:226,20–23; 459, 33–460,18, 461,19–22; Denis R. Janz, Luther on Thomas Aquinas. The Angelic Doctor in the Thought of the Reformer, Stuttgart 1989. WA 42:504,13–14. WA 43:293,25–31. Cf. Philip N. Haberkern, Patron Saint and Prophet: Jan Hus in the Bohemian and German Reformations, Oxford 2016, 166–170, 199–217.

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ROBERT KOLB ment but also with texts from the authors involved in the monastic-mystical tradition of the past two centuries. However, citations from Johann Tauler or Heinrich Suso, as well as the Deutsche Theologie that he had edited in 1516, all but disappear from his writing even though some of their ideas had given him vital insights in the course of his theological development.99 Luther was familiar with at least one fictional work of his own time, the Theuerdank attributed to Emperor Maximilian.100 He had some familiarity with publications of contemporary jurists, such as the Leipzig professor, Georg von Breitenbach (ca. 1485–1540/41). 101 He did read, usually with special care, the works of his opponents and carried on duels in print with some. Perhaps most famous are his exchanges with Jacob Latomus, professor in Leuven, in which he reasserted key ideas in his understanding of Scripture by reviewing point by point Latomus’s critique of his teaching,102 and Erasmus on the bondage of the will. Luther followed his critic’s lead in adopting the style of a formal university disputation in his reply to Erasmus’s Diatribe on the Freedom of the Will; he responded further to his careful reading of Erasmus’s views in the form of biblical commentary, his commentary on Ecclesiastes, after Erasmus attacked his De servo arbitrio in his two-volume Hyperaspistes.103 Luther’s sparring with several other opponents reveal more personal animosity alongside his critique of content. These clashes placed him in opposition to two

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On how Luther critically appropriated and then revised certain concepts from this “monastic-mystical” tradition, see Volker Leppin, Luther’s Roots in Monastic-Mystical Piety, in: Oxford Handbook (as footnote 16), 49–61. WA 31,2:587, 35–39. WA 42:596,1–2. WA8:43–128.; cf. Anna Vind, Latomus and Luther. The Debate: Is every Good Deed a Sin?, Göttingen 2019, 169–312. Desiderius Erasmus, De libero arbitrio, in Desiderii Erasmi Roterodami Opera Omnia …, ed. J. Clericus, 10 vols., Leiden 1703–1706, 9:1215–1248; Hyperaspistes Diatribae Aduersus Seruum Arbitrium Martini Lutheri …, Köln 1526, and Hyperaspistae liber secundus aduersus librum Martini Lutheri, cui titulem fecit, Seruum arbitrium, Nürnberg 1527; Luther, De servo arbitrio, WA 18:600–787, Ecclesiastes Salomonis, WA 20:7–203. Cf. Robert Kolb, Bound Choice, Election, and Wittenberg Theological Method: From Martin Luther to the Formula of Concord, Grand Rapids 2005, 1–66.

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THE REFORMER AS READER princely critics, King Henry VIII of England 104 and Duke Georg of Saxony, 105 both of whom, with some justification, had personal pretensions of theological acumen. He also read and responded to several of Duke Georg’s coterie of theologians whom he had assembled to combat the Wittenberg heresy.106 In similar fashion, Luther’s reading of the attacks on his understanding of the true presence of Christ in the Lord’s Supper and the power of the gospel promise in sacramental form reveals a careful tracing of the arguments of opponents whose works appeared in print as well as his more general critique of others who were preaching sacramental doctrines that undercut both the power of God’s Word and the presence of Christ’s body and blood in the bread and wine of the Lord’s Supper.107 His careful refutations of the specific arguments of Andreas Bodenstein von Karlstadt, Ulrich Zwingli, and Johannes Oecolampadius108 reveal his close attention to the line of argument his opponents pursued and to the presuppositions that guided—or in his opinion misguided—their reasoning.

Conclusion Martin Luther’s voice resounds around the globe today because of what he wrote. He wrote and translated only because he had read. Like his contemporaries, his reading grasped his entire body, and therefore, like them, he read with eyes and ears. Schooling in Mansfeld, Magdeburg, and Eisenach had prepared him for 104 105

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WA 10,2:180–222. Christoph Volkmar, Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488–1525, Tübingen, 2008, 446–481. Especially Augustine Alveld (WA 6:285–324), Hieronymus Emser (WA 2:658–679, 7:262–265, 7:271–283, 7:621–688, 8:247–254), and Johannes Cochlaeus (WA 11:295– 306). Amy Nelson Burnett, Debating the Sacraments, Print and Authority in the Early Reformation, Oxford/New York 2019, traces in detail the course of Luther’s responses to the many critiques and attacks of Karlstadt, Zwingli, Oecolampadius, and others. Luther traces the arguments of these three and responds in his On the Lord’s Supper, Confession, of 1528, WA 26:261–509, cf. several other published critiques of his opponents’ arguments in Amy Burnett, Debating the Sacraments (as footnote 107).

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ROBERT KOLB reading at the level of the university and absorbing texts in the cloister with eyes and ears. His reading comprehended a spectrum of sources, most importantly Holy Scripture but also pagan, patristic, medieval, and contemporary authors. The author and translator Martin Luther arose out of the reader Martin Luther.

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August Vilmar (1800–1868) und das Kirchenlied Gilberto da Silva 1 Einleitung Der Gesang, der bereits ein Grundelement des Synagogengottesdienstes war, erfährt im christlichen Wortgottesdienst der Alten Kirche eine „stärkere Betonung“.1 Er durchläuft eine Klerikalisierung im Mittelalter2 und erreicht schließlich einen Höhepunkt in der Reformationszeit.3 Als „Grundelement“ des Gottesdienstes ist das Kirchenlied in der Wahrnehmung der zum Gottesdienst versammelten Gemeinde etwas Selbstverständliches. Ein evangelischer Gottesdienst oder eine römisch-katholische Messe ohne Kirchengesang wäre in diesem Sinne unvorstellbar. Doch während dieser Beitrag in den Computer eigetippt wird, erleben die christlichen Kirchen eine in Deutschland noch nie dagewesene Einschränkung ihrer Gottesdienste ob der Coronavirus-Pandemie. Die kirchlichen Veranstaltungen müssen suspendiert werden oder nur noch online stattfinden. Wenn Gottesdienste doch präsentisch gefeiert 1

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Jorg Christian Salzmann, Lehren und Ermahnen. Zur Geschichte des christlichen Wortgottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten, Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament – 2. Reihe 59, Göttingen 1994, 469. Vgl. Christoph Krummacher, Kirchenmusik, Neue Theologische Grundrisse, Tübingen 2020, 63ff. Hier ist auch eine aktuelle Geschichte des Kirchenlieds zu finden. Für diesen Literaturhinweis danke ich meinem Kollegen Christoph Barnbrock. Vgl. Krummacher, Kirchenmusik (s. Anm. 2), 73ff.

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GILBERTO DA SILVA werden, dann ausschließlich unter strenger Beachtung hygienischer Maßnahmen wie z. B. Abstandshaltung, Tragen von Mund-Nasen-Schutz und Händedesinfektion. Eine von vielen Gemeindegliedern als sehr schmerzlich empfundene weitere Einschränkung ist die des Singverbots im Gottesdienst. Die Kirchenlieder werden entweder nur instrumental abgespielt und lautlos mitgelesen oder als normale Texte rezitiert. Jenseits vom persönlichen negativen Ästhetikempfinden und möglicher individueller Befremdung in solchen eingeschränkten Gottesdiensten führt uns diese Situation zur grundsätzlichen Frage nach der Bedeutung des Kirchenlieds im christlichen Gottesdienst bzw. zur Frage nach der Relevanz dieses „Grundelements“ für den christlichen Gottesdienst. Freilich geht es mir hier nicht primär um eine systematisch-theologische Untersuchung eben dieser Bedeutung oder Relevanz, sondern um historisch-theologische Überlegungen, die eventuell einen kleinen Beitrag zu einer differenzierten Betrachtung der Rolle des Kirchenlieds im Gottesdienst, besonders in der gegenwärtigen Einschränkungszeit, leisten können. Bei der Betrachtung dieser Frage lohnt sich ein Blick auf einen Text eines Kirchenvaters selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen zu werfen. Nicht weil darin die letztgültigen Antworten zu finden wären, sondern weil darin zum einen interessante Überlegungen zum Thema zu finden und zum anderen die unvermeidliche historische Bedingtheit theologischer Ausführungen auszumachen sind. Der große geistige Vater der Hessischen Renitenz, August Vilmar (1800–1868), las in seiner Zeit als Professor in Marburg (ab 1855 und bis zu seinem Tod) u. a. in der Exegese Alten und Neuen Testaments, in der Kirchengeschichte seit der Reformation, in der Literaturgeschichte des 16. Jahrhunderts sowie in der Geschichte des Konfessionsstandes der evangelischen Kirche in Hessen. 4 Von

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Vgl. Wilhelm Maurer, August Vilmar (1800–1868). Theologe, Politiker, Germanist, Schulmann, in: Kirche und Geschichte. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2: Beiträge zu Grundsatzfragen und zur Frömmigkeitsgeschichte, Göttingen 1970, 146–160, hier 158.

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AUGUST VILMAR (1800–1868) UND DAS KIRCHENLIED großer Bedeutung ist auch seine Pastoraltheologie.5 Wenig bekannt ist allerdings seine Geschichte des evangelischen Kirchenlieds, die 1862 in komprimierter Form im Artikel „Kirchenlied“ des „Staats- und Gesellschafts-Lexikon“ von Herrmann Wagener erschienen ist.6 In diesem Artikel definiert A. Vilmar das Kirchenlied als „Bekenntnis“ und skizziert dessen Geschichte im Rahmen seiner eigenen Geschichtstheologie. In diesem Beitrag werde ich seine Ausführungen in beiden Bereichen darstellen und am Ende versuchen, einige Implikationen seiner Ideen für Kirche und Gottesdienst, besonders in der aktuellen pandemischen Lage, zu eruieren.

2 Das Kirchenlied als Bekenntnis A. Vilmar definiert das Kirchenlied als „einen Theil des Cultus, und zwar im Allgemeinen denjenigen Theil, welcher in einem gesungenen Bekenntniß der Gemeinde besteht, mit dem sie der Verkündigung des göttlichen Wortes theils entgegenkommt, theils dem verkündigten Gottesworte antwortet“.7 Um das Thema „Bekenntnis“ bei A. Vilmar zu behandeln, muss zunächst berücksichtigt werden, dass „Bekenntnis“ bzw. „Bekenntnisbindung“ bei ihm nicht nur rechtlich-formal zu deuten ist, sondern sich „dabei zuerst und zuletzt um die Bindung an den lebendigen Herrn Christus geht – im lebensvollen, konkreten 5

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August F. C. Vilmar, Lehrbuch der Pastoraltheologie, hg. v. Karl W. Piderit, Gütersloh 1872. August F. C. Vilmar, Art. „Kirchenlied“, in: Staats- und Gesellschafts-Lexikon, Bd. 11, hg. von Herrmann Wagener, Berlin 1862, 318–324. Der Artikel ist zweimal nachgedruckt worden: in August F. C. Vilmar, Luther, Melanchthon, Zwingli, nebst einem Anhang: das evangelische Kirchenlied, hg. von Karl W. Piderit, Frankfurt a.M. 1869, 117–131 und August F. C. Vilmar, Theologisch-kirchliche Aufsätze, hg. von Karl Ramge, München 1938, 131–142. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 318. Dabei unterscheidet A. Vilmar streng zwischen dem Kirchenlied mit „zusammenhängender Darstellung, […] Strophen, Zeilen und Reimen“ von anderen gesungenen Stücken des Gottesdienstes wie z. B. dem Kyrieeleison, dem Halleluja, dem Amen, dem Gloria (Vilmar, Kirchenlied [s. Anm. 6], 318).

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GILBERTO DA SILVA und aktualisierten Bekennen, daß dieser Christus – so gewiß er mitten unter uns gegenwärtig ist – heute der Herr ist in seiner Kirche und in der Welt“.8 Diese Bindung an Christus als den Herrn der Kirche – und das ist das entscheidende Moment in A. Vilmars Definition – ist allerdings nicht personal-individualistisch, sondern kirchlich bzw. gemeindlich zu verstehen: Das Kirchenlied ist Bekenntnis der ganzen Gemeinde in gesungener Form, d. h. als Bekenntnis ist das Kirchenlied Antwort des Glaubens der Gemeinde auf das Wort Gottes. Dies führt z. B. zur Einschränkung, dass die sog. „Hymnen“, d. h. Musikstücke, die nicht von der ganzen Gemeinde, sondern von Gruppen wie z. B. Singchören im Gottesdienst gesungen werden, nicht als Kirchenlieder zu betrachten seien. Das gelte umso mehr, wenn die sog. „Hymnen“ auf Latein gesungen werden, „da der Gemeindegesang den Gebrauch der Sprache des Volkes wesentlich voraussetzt“.9 Die Verankerung des Kirchenlieds in der Erfahrung des Volkes zeige sich auch in der inhaltlichen Parallelität zwischen dem Volksgesang bzw. der Volkslyrik und dem Kirchenlied. Wie die Volkslyrik um die beiden Pole „Leid“ und „Freude“ kreise, so trete diese inhaltliche Bestimmung im Kirchenlied „in höchster Vollendung hervor“, denn „Sündenleid und Erlösungsfreude seien die beiden Pole, um welche sich das evangelische Kirchenlied bewege, wie sich um dieselben Pole der Glaube der evangelischen Kirche überhaupt bewegt.“10 Dementsprechend würden im evangelischen Kirchenlied die „Erlebnisse und Erfahrungen“ der „Thaten Gottes“ und „der Aneignung dieser Thaten Gottes von Seiten des Menschen, beides ungetrennt, unauflöslich mit einander verbunden“,11 besungen. Diesbezüglich meint A. Vilmar einen weiteren Unterschied zwischen dem Kirchenlied und dem sog. „Hymnus“ ausmachen zu können, denn dieser „hat nur die Thaten Gottes, nur das Lob Gottes zum Object, und betont gar nicht, oder doch nur in untergeordneter Weise, die Erfahrung von der Barmherzigkeit

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Friedrich Wilhelm Hopf, Wege zum Bekenntnis der Kirche bei August Vilmar, Lutherische Blätter 35 (1982–83), 41–90, hier 70. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 318. Zur Definition von Hymnus vgl. Krummacher, Kirchenmusik (s. Anm. 2), 67ff. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 319. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 319; vgl. Vilmar, Pastoraltheologie (s. Anm. 5), 85.

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AUGUST VILMAR (1800–1868) UND DAS KIRCHENLIED Gottes gegen den Sünder“.12 Die Unterscheidung auf der anderen Seite vollzieht A. Vilmar in Bezug auf das sog. „geistliche Lied“, das „lediglich oder doch hauptsächlich die Darstellung von Seelenzuständen, von besonderen Erfahrungen des Einzelnen in besonderen Lagen und Verhältnissen, oder auch von Empfindungen und Stimmungen“13 spreche. „Das geistliche Lied spricht Erfahrungen des Einzelnen und besondere religiöse Stimmungen aus; es ist für das Bedürfnis des Einzelnen bestimmt.“14 Diese Einschränkung ist nur konsequent, denn – wie gesagt – es geht A. Vilmar beim evangelischen Lied nicht um ein personal-individualistisches, sondern um ein kirchliches bzw. gemeindliches Bekenntnis. Schließlich dürfe das Kirchenlied auch nicht mit einem sog. „Lehrlied“ verwechselt werden, denn dieses formuliere lehrhaft die „Thatsache der Offenbarung […] ohne Darstellung eines Erlebnisses, […] ohne Theilnahme, […] ohne Freud und Leid“,15 d. h. ohne (kirchliche) Erfahrung. Wir fassen zusammen: Das „Kirchenlied“ ist für A. Vilmar als Antwort der Gemeinde auf das Wort Gottes ihr (Glaubens-)Bekenntnis, das aus ihrer Erfahrung mit der Offenbarung bzw. den Taten Gottes entsteht.16 Es ist weder mit (dogmatischer) Lehre in Form des „Lehrlieds“, in dem nur die Taten Gottes beschrieben werden, noch mit dem Bekenntnis des Einzelnen in Form des „geistlichen Lieds“, in dem sich nur die individuelle Erfahrung niederschlägt, zu verwechseln. Somit

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Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 319, Hervorhebungen: GdS. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 319. Vilmar, Pastoraltheologie (s. Anm. 5), 85, Hervorhebungen im Original. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 319; vgl. Roland Ziegler, August Vilmar und der Gottesdienst, LuThK 26 (2002), 156–174, hier 163. Die Kirche ist für A. Vilmar allerdings keine „Bekenntniskirche“, denn es ist „unzweifelhaft, daß wir keine Kirche bekennen, welche von der Beschaffenheit ihrer Mitglieder zur Existenz gebracht wird und von derselben abhängig ist, sondern eine Kirche, welche von Christi Wirksamkeit im Wort und Sacrament, von Christi Gegenwart, constituiert wird und abhängt. Wir haben keine Bekenntniskirche“ (August F. C. Vilmar, Dogmatik. Akademische Vorlesungen, 2 Bde., hg. von Karl W. Piderit, Gütersloh 1874, II, 201, Hervorhebungen im Original); vgl. Hopf, Wege (s. Anm. 8), 17; Jörg Dierken, Kirche: Heilige Communio oder Institut Christi? Aspekte der Ekklesiologie A. F. C. Vilmars und A. Ritschls, Texte und Materialien der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft B/12, Heidelberg 1989, 22.

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GILBERTO DA SILVA haben wir in A. Vilmars Definition des Kirchenlieds zwei in dialektischem Verhältnis stehende, entscheidende Momente seiner Theologie: die Taten oder Tatsachen Gottes und die Erfahrung der Kirche.

3 Bekenntnis als Erfahrung Obwohl ein theologischer Einzelgänger, gilt A. Vilmar mentalitätengeschichtlich als einer der Vertreter des sog. Neuluthertums.17 Diese Theologiebewegung des 19. Jahrhunderts stand im Unterschied zu Pietismus, Erweckung und Rationalismus in einem positiven Verhältnis zum kirchlichen Bekenntnis, das sich im Laufe der Kirchengeschichte allerdings organisch entwickele, indem es sich dem menschlichen Bewusstsein sukzessiv fortschreitend erschließe.18 Das Bekenntnis – im Sinne des Neuluthertums – entstehe also aus der (kirchlichen) Erfahrung. Die Tatsachen bzw. Taten Gottes als Offenbarung und die Erfahrung der Kirche werden in ihrer gegenseitig-dialektischen Unterscheidbarkeit und Zugehörigkeit in A. Vilmars programmatischer Schrift „Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik“19 deutlich herausgearbeitet. Entstanden mitten im Konflikt um die Katechismus- und Bekenntnisfrage in der Hessischen Kirche, enthält das Büchlein A. Vilmars Abrechnung mit der gesamten zeitgenössischen wissenschaftlichen Theologie. In der Exegese sieht er eine Bibelkritik, die sich um Wörter und nicht um den Inhalt kümmere; in der Historischen Theologie prangert er ein Objektivitätsstreben, das die Wahrheitsfrage außer Acht lasse; in der Dogmatik macht er ein Interesse am menschlichen Bewusstsein aus, das die göttliche Offenbarung auflöse.20 All dies nennt A. Vilmar eine „Theologie der Rhetorik“, eine

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18 19

20

Vgl. Friedrich Wilhelm Kantzenbach/Joachim Mehlhausen, Art. Neuluthertum, in: TRE, Bd. 24 (1994), 327–341, hier 335. Vgl. Kantzenbach/Mehlhausen, Neuluthertum (s. Anm. 17), 332. August F. C. Vilmar, Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik. Bekenntnis und Abwehr, Darmstadt 51968. Vgl. Maurer, A. Vilmar (s. Anm. 4), 159.

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AUGUST VILMAR (1800–1868) UND DAS KIRCHENLIED Theologie, die er in den theologischen Fakultäten betrieben sieht und für ihn keinesfalls das Ziel habe, „Pastoren zu erziehen“.21 Die „Thatsache“ oder das Faktum ist für A. Vilmar allerdings nicht statisch, sondern dynamisch als die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen. Die „Thatsache“ existiere nicht nur als etwas Vergangenes, sondern greife in die Gegenwart hinein, sodass sie eben erfahren werden könne. Darüber hinaus definiert A. Vilmar „Thatsachen“ als etwas exklusiv göttliches, denn menschliche Taten seien nicht „Thatsachen“ in seinem Sinne. „Thatsachen“ seien ausschließlich göttliche Taten.22 In diesem Sinne wendet sich A. Vilmar gegen die Anwendung des Begriffs „Wissenschaft“ auf die Theologie, wenn Wissenschaft so, wie zu seiner Zeit verstanden werde: „Dieses klare, unzweifelhafte Erkennen der Thatsachen im Einzelnen und diese Methode des Erforschens der Einzelheiten, um daraus zu Theilen, wenn es sein kann zu Gliedern, wo möglich zu einem Ganzen der Erkenntnis zu gelangen, nennt man im modernen Sinne Wißenschaft.“23 Die Theologie dagegen gehe vom „Ganzen, Vollen, Gewissen, von der vollen Persönlichkeit des lebendigen Gottes, und geht hin […] in das Ganze, in die volle Persönlichkeit des Menschen“.24 Bei den „Thatsachen“ Gottes gehe es also um das Ganze seiner Offenbarung, die den ganzen Menschen treffe (Erfahrung), dies allerdings nicht individuell-partikularistisch, sondern gemeinschaftlich, kirchlich.25 Als solche ist die kirchliche Offenbarungserfahrung aber auch geschichtlich bedingt, denn A. Vilmar nimmt eine progressive Offenbarungserfahrung in der Geschichte an, die er anhand des apokalyptischen Bilds eines „Buchs mit den sieben Siegeln“ (Offb 5,1) illustriert. Die Kirchengeschichte bestehe also in „dieser Führung der Menschheit, in dieser allmählichen und stufenweise erfolgenden, aber ununterbrochenen Zubereitung der christlichen Menschenwelt auf den 21

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Vilmar, Tatsachen (s. Anm. 19), 6, Hervorhebungen im Original; vgl. Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 31960, 573. Vgl. James Ambrose Lee II, August Vilmar (1800–1868) against German Theological Wissenschaft, Lutheran Quaterly 34 (2020), 171–193, hier 184f. Vilmar, Tatsachen (s. Anm. 19), 13. Vilmar, Tatsachen (s. Anm. 19), 11. Vgl. Ziegler, Gottesdienst (s. Anm. 15), 163.

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GILBERTO DA SILVA Zeitpunkt der Wiederkunft Christi durch das stille aber allmächtige Wirken des Parakleten, in diesem successiven, in bestimmter Ordnung erfolgenden Ausschöpfen, Nacherleben und Durcherleben des Inhalts der christlichen Offenbarung des neuen Bundes“.26 Diese Progression geschieht in dialektischer Form, denn die aufeinanderfolgenden Siegel bzw. „Thatsachen“ ereigneten sich immer im Vollzug von Auseinandersetzungen mit der heidnischen Zwei-, Viel- und Abgötterei, den Gnostikern, den Arianern, den Nestorianern, den Miaphysiten; d. h. mit dem „Heidentum“ insgesamt.27 Für A. Vilmar ist der Heilige Geist der Vermittler, der bei jeder Offenbarungserfahrungsstufe die Offenbarung zum Erlebnis und Erfahrung werden lasse. Wichtig sei die Tatsache, dass die Offenbarungserfahrungsstufen aufeinander aufbauen, d. h. jede Stufe ergänze die vorangehende, widerspreche ihr nicht, und keine Stufe könne ausgelassen werden. 28 In der Heiligen Schrift sei zwar schon alles geoffenbart worden, was zur Seligkeit notwendig sei, „aber die Einführung der einzelnen Heilswahrheiten in das Erleben der Kirche geschehe doch in der Zeit, vollziehe sich historisch“.29 Es handelt sich bei A. Vilmar also im Sinne

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August F. C. Vilmar, Die Augsburgische Confession, hg. von Karl W. Piderit, Gütersloh 1870, 4; vgl. Kantzenbach/Mehlhausen, Neuluthertum (s. Anm. 17), 334. August F. C. Vilmar, Die Zukunft des Christentums, Der Hessische Volksfreund 41– 44 (1850), 169–182, hier 173f. Wir können hier durchaus Berührungspunkte mit der Dogmengeschichteeinteilung von Theodor Kliefoth (1810–1895) (vgl. Theodor Kliefoth, Einleitung in die Dogmengeschichte, Hinstorff 1839, 65ff; Kantzenbach/Mehlhausen, Neuluthertum [s. Anm. 17], 331) ausmachen. Beider Modelle Verwandtschaft mit oder Abhängigkeit von der dialektischen Geschichtstheorie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) (vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke 12, Frankfurt a. M. 1970, 11ff; Bernhard Lohse, Kirche und Offenbarung bei A. F. C. Vilmar, EvTh 17 [1957], 445–467, hier 455, Anm. 73), liegt auf der Hand. Vgl. Ruth Conrad, Kirchenbild und Predigtziel. Eine problemgeschichtliche Studie zu ekklesiologischen Dimensionen der Homiletik, Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 11, Tübingen 2012, 262. Diese „Offenbarungsdynamik“ gilt allerdings auch für die Heilige Schrift selbst (vgl. Wilhelm Hopf [Hg.], Hessische Blätter, Melsungen 1889, 1580). Hopf, HeBl (s. Anm. 28), 1908, 3478.

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AUGUST VILMAR (1800–1868) UND DAS KIRCHENLIED eines positiven Historismus und eines romantischen Erlebensmotivs um eine fortschreitende Entwicklung der Wahrheitswahrnehmung bzw. -rezeption.30 Selbstverständlich spielt die Reformation in dieser dialektischen Konstruktion eine wichtige Rolle, aber sie ist für A. Vilmar „nicht in erster Linie Reinigung, nicht neue Kirche, nicht eigentümliche Gestaltung der Kirche; die bestehende Kirche sollte erfüllt werden mit dieser Erfarung“31 [sic]. Die Reformation habe die Rechtfertigungslehre nicht wiederentdeckt, sondern aufgrund der gemachten Erfahrung aus der Offenbarung etwas Neues aufgestellt: „Die Reformation hat ihr Wesen in der kräftigen, entschiedenen und durchgreifenden Aufstellung eines neuen, bis dahin noch nicht durchgekämpften, noch weniger zu allgemeiner Anerkennung gediehen gewesenen Princips: der Lehre von der Rechtfertigung des sündigen Menschen durch den Glauben allein“.32 Wichtig dabei ist, dass es sich für A. Vilmar nicht um eine neue Lehre, sondern um eine neue Erfahrung der Lehre handele. Mit anderen Worten: „Nicht die Offenbarung entwickelt sich, sondern das menschliche Bewußtsein von dem Inhalt der Offenbarung.“33 Was Luther und die Reformation jedoch nicht erlebt hätten, sei die Lehre von der Kirche. Diese Offenbarungserfahrungsstufe ist nach A. Vilmar für das sechste Zeitalter der Kirchengeschichte,34 das dem letzten Zeitalter, dem Eschaton, vo30 31 32

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Gegen Dierken, Kirche (s. Anm. 16), 12. Vilmar, Aug. Confession (s. Anm. 26), 7. August F. C. Vilmar, Zur neuesten Culturgeschichte Deutschlands, Bd. 3: Vermischtes, Frankfurt a. M. 1867, 298 (Hervorhebungen im Original); vgl. Wilhelm Hopf, August Vilmar. Ein Lebens- und Zeitbild, 2 Bde., Erlangen 1912f., II, 420f. Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Gestalten und Typen des Neuluthertums. Beiträge zur Erforschung des Neokonfessionalismus im 19. Jahrhundert, Gütersloh 1968, 136. Die sieben aufeinander folgenden Stufen bzw. „Thatsachen“ der Offenbarung nach A. Vilmar beinhalten die Lehren: (1) von Gott, dem Vater, dem Allmächtigen, dem Schöpfer des Himmels und der Erde; (2) von dem Sohn in seiner Gottheit; (3) von dem Heiligen Geist; (4) von dem Sohn in seiner Menschheit; (5) von der Natur der Sünde und der Erlösung sowie der Ordnung des Heils in Christus; (6) von der einen, heiligen und seligmachenden Kirche und (7) von den letzten Dingen, von der Wiederkunft des Herrn zum Gericht und vom ewigen Leben (vgl. August F. C. Vilmar, Schulreden über Fragen der Zeit, Marburg 21852, 288; Vilmar, Zukunft [s. Anm. 27], 171; Vilmar, Aug. Confession [s. Anm. 26], 4ff.; vgl. Hopf, A. Vilmar [s. Anm. 32], I, 420ff; Conrad, Kirchenbild [s. Anm. 28], 260ff.).

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GILBERTO DA SILVA rangehe, reserviert,35 aber bereits in seiner eigenen Lebenszeit, dem 19. Jahrhundert, angebrochen. Dies sei erfahrbar durch eine „rein weltliche Betrachtung der Dinge, daß eine andere, praktische, Zeit mit andern Interessen, eine Zeit der kirchlichen Fragen bereits eingetreten sei und in höherem Grade noch bevorstehe, um eine abgestorbene Zeit der theoretischen und weltlichen Interessen vielleicht auf ein Menschenalter hinaus abzulösen“.36 A. Vilmar sieht einen höheren Zusammenhang zwischen den (kirchlichen) Bewegungen seinerzeit wie Unionen, Verfassungsfragen, Symbolstreite, Missionsvereine, Lichtfreunde, Deutschkatholiken usw., denn sie seien Zeichen einer beginnenden neuen Epoche, einer neuen Erfahrungsstufe37 der Kirche. Diese Erfahrung, die in der rechten Erkenntnis des geistlichen Amtes bestehe,38 ist die größte Herausforderung, die A. Vilmar der Kirche seinerzeit gestellt sieht. Wir fassen zusammen: Erfahrungen sind für A. Vilmar also die geschichtlichsubjektiven Verarbeitungen der geschichtlich-objektiven Heilstatsachen.39 Oder mit anderen Worten: Erfahrung heißt „sich von dem Geiste Gottes, welcher wie ein Sturmwind durch die Welt wehet, anwehen, erfüllen, lehren und in die Schule führen laßen“. 40 In diesem Sinne drückt sich das erweckende Moment seiner Theologie in dem Wunsch aus, „daß der seligmachende Glaube innerstes Eigentum eines jeden Gliedes der Kirche werde […], daß dieser Glaube, welcher rechtfertigt, nicht allein gepredigt, sondern auch von den Personen unseres Lehramts persönlich erfaren [sic] sei“.41

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Vgl. Conrad, Kirchenbild (s. Anm. 28), 261. Vilmar, Schulreden (s. Anm. 34), 284. Vgl. Vilmar, Schulreden (s. Anm. 34), 286f. Vgl. Karl Wicke, Die hessische Renitenz: ihre Geschichte und ihr Sinn, Kassel 1930, 36. Vgl. Lohse, Kirche (s. Anm. 27), 454. Vilmar, Tatsachen (s. Anm. 19), 52; vgl. Lohse, Kirche (s. Anm. 27), 454. Vilmar, Dogmatik (s. Anm. 16), I, 54; vgl. Lohse, Kirche (s. Anm. 27), 457.

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AUGUST VILMAR (1800–1868) UND DAS KIRCHENLIED Eine gewisse Nähe zu Schleiermachers Definition von Religion als „Anschauung und Gefühl“42 bzw. „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“43 ist nicht zu übersehen.44 Doch während Schleiermacher behauptet: „Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen wird“,45 und somit auf der Seite des „Angeschauten“ (passiv, aus der Perspektive des „Anschauenden“ aus gesehen) unpräzise bleibt und das Gewicht der Dialektik eher auf den „Anschauenden“ setzt, steht bei A. Vilmar die „Erfahrung“ immer in Korrelation mit der „Tatsache“, die historisch präzise und performativ vorgegeben sei. „Erfahrung“ ist bei A. Vilmar nicht einfach Überzeugung, Empfindung oder Sentimentalität, 46 sondern „Aneignung“ oder „Rezeption“ 47 der „Tatsache“, vermittelt durch die Kirche und in dieser durch das geistliche Amt.48 Diese Erfahrung drücke das Kirchenlied in seinem Bekenntnischarakter aus. Das tue das Kirchenlied aber immer in der Geschichte.

4 Das (evangelische) Kirchenlied in der Geschichte Im Rahmen seiner Geschichtstheologie meint A. Vilmar in einer unmittelbar voreschatologischen Zeit zu leben. Diese Feststellung ist wichtig, um seine ganze wissenschaftlich-theologische Produktion verstehen zu können. Dementsprechend 42

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Friedrich Daniel Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: Günter Meckenstock (Hg.), Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Kritische Gesamtausgabe I.2, Berlin/New York 1984, 187–326, hier 211, 33. Schleiermacher, Religion (s. Anm. 42), 212, 32. Vgl. Barth, Theologie (s. Anm. 21), 578. Schleiermacher, Religion (s. Anm. 42), 213, 38 – 214, 1. Vgl. Conrad, Kirchenbild (s. Anm. 28), 264f. Vilmar, Dogmatik (s. Anm. 16), I, 22. Vgl. Lohse, Kirche (s. Anm. 27), 460f; Conrad, Kirchenbild (s. Anm. 28), 267.

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GILBERTO DA SILVA ist auch seine geschichtliche Darstellung des Kirchenlieds von dieser Mentalität geprägt. Für A. Vilmar entfaltet das Kirchenlied seine vollständige Bestimmung nur im Kontext, d. h. im „Wesen“ der evangelischen Kirche,49 allerdings mit einem geschichtlichen Vorlauf. Bis ins 12. Jahrhundert solle sich das Gemeindesingen „in Deutschland wie im Occident“ auf das Singen des Refrains der Litanei, des Kyrieeleison, beschränkt haben. Diese Lage beginne sich im 13. Jahrhundert mit dem Lied des Franziskaners Berthold „Nun bitten wir den heiligen Geist“50 zu ändern und entfalte sich im 15. Jahrhundert mit dem Erscheinen „volksmäßig[er] religiös[er]“ Lieder „in größerer Zahl“. Diese Lieder seien „die unmittelbaren Vorläufer des evangelischen Kirchenliedes“,51 dessen „Heimath […] die eigentliche Reformationskirche, […] Luther mit seiner Glaubenserfahrung“52 sei. Mit der Reformation als Ausgangspunkt teilt A. Vilmar die Geschichte des evangelischen Kirchenlieds in sechs Perioden: (1) von den Anfängen der Reformation bis etwa 1570; (2) von 1570 bis etwa 1620; (3) von 1620 bis etwa 1670; (4) von 1670 bis etwa 1740; (5) von 1740 bis 1820 und (6) ab 1820. Allerdings sind für ihn nur die ersten vier Perioden produktiv gewesen, sodass eine Geschichte des Kirchenlieds sich eigentlich auf sie beschränken sollte.53 Die erste Periode (etwa 1517–1570) charakterisiert A. Vilmar als eine Periode der „Glaubensunmittelbarkeit“. Dies zeige sich in der Objektivität, mit der „die Erfahrungen von der Sünde und von der göttlichen Gnade“ ausgesprochen würden. Dadurch habe das evangelische Lied dieser Periode einen noch größeren 49

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„Eigentliche Kirchenlieder sind die des 16. Jahrhunderts, besonders die Lieder Luthers. Ueber das 17. Jahrhundert hinaus gibt es keine Kirchenlieder mehr“ (Vilmar, Pastoraltheologie [s. Anm. 5], 85). Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 318. Es handelt sich wohl um Berthold von Regensburg, gest. 1272, einen der bekanntesten Prediger des Mittelalters (vgl. Eberhard Weismann et alii [Hg.], Liederkunde. Erster Teil: Lied 1 bis 175, Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch III/1, Göttingen 1970, 390). Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 318f, Hervorhebungen im Original. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 320. Zur Entstehung von Luthers Lieder aus seiner Lebens- und Glaubenserfahrung vgl. Johannes Schilling, Luthers Lieder – eine Summe seiner Theologie, LuThK 42 (2018), 133–154. Vgl. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 320.

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AUGUST VILMAR (1800–1868) UND DAS KIRCHENLIED Beitrag zur Kenntnis, zum Verständnis und zur „freudigen Annahme“ des evangelischen Glaubens unter der Bevölkerung als „Predigt, Literatur und wissenschaftliche Doctrin“ geleistet.54 Die zweite Periode (etwa 1570–1620) hält für A. Vilmar „das Objective“ immer noch fest, aber es machten sich externe Einflüsse schon bemerkbar. Er nennt sie „eine häufige Bezugnahme auf zeitliche Zustände“, besonders die Sterbelieder und den kräftigen „Volkston“. In dieser Zeit wachse die Zahl der Lieder und es komme zu – von A. Vilmar kritisch betrachteten – Wiederholungen. Hierin gehöre auch die „Bearbeitung der Psalmen in Reimen“, die A. Vilmar als eine reformierte Tradition betrachtet und als „eine knechtische, der deutschen Sprache die äußerste Gewalt anthuende“ scharf kritisiert. 55 Die konfessionelle Polemik ist

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Vgl. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 320f. A. Vilmar hebt besonders Luthers Lieder hervor: „Nun freut euch lieben Christen gmein“ (1523), „Ach Gott vom Himmel sieh darein“, „Aus tiefer Noth schrei ich zu Dir“, „Es woll uns Gott gnädig sein“ (1523– 1524), „Mit Fried und Freud ich fahr dahin“ (1525), „Wär Gott nicht mit uns diese Zeit“ (1525), „Ein feste Burg ist unser Gott“ (1529), „Vom Himmel hoch da komm ich her“ (1535) und „Erhalt uns Herr bei deinem Wort“ (1542). Für J. Schilling sind Luthers Lieder „poetischer Ausdruck seiner Theologie, Zeugnis seiner Frömmigkeit, verdichtete Formulierung evangelischer, lutherischer Spiritualität“ (Schilling, Lieder [s. Anm. 52], 135). Zu Luthers Liedern fügt A. Vilmar folgende Lieder hinzu: „Es ist das Heil uns kommen her“ (Paul Speratus, 1523), „Herr Christ der einig Gottes Sohn“ (Elisabeth Cruciger, 1525), „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ (Nicolaus Decius), „Nun lob mein Seel den Herren“ (Johann Graumann), „In dich hab ich gehoffet, Herr“ (Adam Reusner), „Mag ich Unglück nicht widerstahn“, „Allein zu Dir Herr Jesu Christ“. Die Angaben zum Autor und Jahr sind von A. Vilmar. Bis auf das vorletzte sind alle Lieder im „Evangelisch-Lutherischen Kirchengesangbuch“ (ELKG) enthalten. In der zweiten Auflage des „Evangelisch-Lutherischen Kirchengesangbuchs“ (ELKG²) sind sowohl „Mag ich Unglück nicht widerstahn“ als auch „Ach Gott vom Himmel sieh darein“ und „Wär Gott nicht mit uns diese Zeit“ nicht enthalten. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 321. A. Vilmar nennt als Beispiele die Lieder „Herzlich lieb hab ich dich“ (Martin Schalling), „Von Gott will ich nicht lassen“ (Ludwig Helmbold), „Ich hab mein Sach Gott heimgestellt“ (Joh. Leon), „Valet will ich Dir geben“ (Valerius Herberger), „Herzlich thut mich verlangen“ (Christoph Knoll) sowie „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ und „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (Philipp Nicolai). Hier verzichtet A. Vilmar auf Jahresangaben. Alle hier erwähnten

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GILBERTO DA SILVA hier unübersehbar und berücksichtigt nicht die Tatsache, dass die Psalmenvertonung auch zu einem der ersten musikalischen Anliegen Luthers gehörte.56 Die dritte Periode (etwa 1620–1670) läuft für A. Vilmar parallel zur sog. „ersten schlesischen Schule“ 57 und nehme von dieser bestimmte Charakteristiken auf, unterscheide sich aber von ihr bezüglich der „Wahrheit des Inhalts und die Unmittelbarkeit des Ausdruckes dieses Glaubensinhalts“. Doch finde sich viel „Ungeschmack“ unter den Kirchenliedern dieser Periode. Freilich sei Paul Gerhardt die „eigentliche Säule des Kirchenliedes in dieser Periode“, wobei nicht alle seiner Lieder gleich gut seien. Unter ihnen gehörten aber dreißig „zu den edelsten Erzeugnissen der Kirchenliederdichtung überhaupt“. 58 Darüber hinaus urteilt A. Vilmar, dass die die ersten beiden Perioden kennzeichnende Objektivität in diesem dritten Zeitraum nicht mehr vorhanden sei, denn „die Dichter desselben haben in ihrer großen Mehrzahl, Paul Gerhard [sic] mit eingeschlossen, vorzüglich die Gabe entwickelt, die einzelnen Zustände des Menschenlebens durch die Tiefe einer wahrhaften Glaubenserfahrung mit der Glorie des ewigen Lebens zu verklären“.59 Die vierte Periode (etwa 1670–1740) bezeichnet A. Vilmar als eine Zeit des Verfalls. Es werde auch in dieser Zeit zwar viel produziert, „aber des Guten, des wirklich Kirchlichen, ist in der überwältigenden Masse der Lieder nur äußerst wenig anzutreffen“. Die „Unmittelbarkeit der Glaubenserfahrung“, die die Lieder bis

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Lieder sind im ELKG enthalten; das ELKG² verzichtet auf „Herzlich thut mich verlangen“. Vgl. Schilling, Lieder (s. Anm. 52), hier 137ff. Vgl. Ruth Schildhauer-Ott, Der schlesische Dichterkreis des Barock und seine Bedeutung für das evangelische Kirchenlied, Aachen 2004. Vgl. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 321f. A. Vilmar verweist in diesem Zusammenhang noch auf die Lieder „Die Herrlichkeit der Erden“ (Andreas Gryphius), „In allen meinen Thaten“ (Paul Fleming), „Ach bleib mit deiner Gnade“ (Josua Stegmann), „Nun danket alle Gott“ (Martin Rinkart), „Jesu meine Freude“ und „Schmücke dich, o liebe Seele“ (Johann Franck). Diese Autoren bezeichnet er als „die hauptsächlichen Träger des evangelischen Kirchenliedes in dieser Periode“ (Vilmar, Kirchenlied [s. Anm. 6], 321). Alle hier aufgelisteten Lieder sind im ELKG enthalten; das ELKG² verzichtet auf „Die Herrlichkeit der Erden“. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 322.

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AUGUST VILMAR (1800–1868) UND DAS KIRCHENLIED jetzt gekennzeichnet habe, höre fast gänzlich auf. An deren Stelle träten Empfindungen und Stimmungen, sogar ein Sichversetzen „in nicht erlebte Glaubenszustände“. Bilder, Gleichnisse, Schilderungen, Ausmalungen seien jetzt die Regel, und sogar „das trockene Betrachtungslied“, d. h. das Lehrlied, mache sich breit. Die besseren Lieder dieser Periode seien die älteren,60 während die späteren im Zusammenhang mit der sog. „zweiten schlesischen Schule“ stünden und zum Teil pietistischen Charakter hätten.61 Die fünfte Periode (etwa 1740–1820), von der „Gottsched-Gellert’schen Dichtungsart“ 62 eingeleitet, hat für A. Vilmar im Rahmen der Aufklärung und des 60

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A. Vilmar erwähnt hier die Autoren [Johann Georg] Albinus [eigentlich Johann Rosenmüller] („Alle Menschen müssen sterben“), [Samuel] Rodigast („Was Gott thut, das ist wohlgethan“), [Ernst Christoph] Homburg („Kommst du, kommst du, Licht der Heiden“), [Michael] Schirmer („O heil’ger Geist kehr bei uns ein“), [Johann Jakob] Schütz („Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“), [Cyriakus] Günther („Halt im Gedächtnis Jesum Christ“), [Lorenz Lorenzen/Laurentius] Laurenti („Wach auf mein Herz, die Nacht ist hin“), [Johann Burchard] Freistein [sic] („Mache dich mein Geist bereit“) und Joachim Neander („Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren“) (Vilmar, Kirchenlied [s. Anm. 6], 322). Bis auf das Lied „Kommst du, kommst du, Licht der Heiden“ sind alle genannten im ELKG und ELKG² enthalten. Hier nennt A. Vilmar die Autoren „außer Zusammenhang mit dem Pietismus“: Deßler, [Johann] Mentzer, [Friedrich Adolf] Lampe, [Heinrich Theobald] Schenk, Benjamin Schmolke; sowie „theils im Zusammenhang mit dem Pietismus“: [Gottfried] Arnold, [Johann Anastasius] Freylinghausen, [Christian Friedrich] Richter, [Johann Heinrich] Schröder, [Johann Ludwig Konrad] Allendorf, [Johann Daniel] Herrnschmidt, Lange, Greding, [Johann Georg] E[b]eling, [Johann Andreas] Rothe. Eine dritte Gruppe bildet „die trockne, dürftige Dichtungsweise der Weisischen Schule“: [Heinrich Georg] Neuß, Winkler, [Johann Gottfried] Her[r]mann, [Johann Adam?] Hiller, Schlosser, [Heinrich Cornelius] Hecker, Zimmermann (Vilmar, Kirchenlied [s. Anm. 6], 322). Gemeint sind die Liederdichter Johann Christoph Gottsched (1700–1766) und Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769), die der Aufklärung zuzurechnen sind. Vom letzteren sind sieben Lieder im ELKG enthalten: „Dies ist der Tag, den Gott gemacht“, „Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken“, „Jesus lebt, mit ihm auch ich!“, „Mein erst Gefühl sei Preis und Dank“, „Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht“, „So jemand spricht: ‚Ich liebe Gott‘“, „Wie groß ist des Allmächtigen Güte!“. Das ELKG² enthält nur noch vier Lieder von Gellert: „Dies ist der Tag, den Gott gemacht“, „Herr, stärke

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GILBERTO DA SILVA späteren „plumpen Rationalismus“ das Kirchenlied „zerstört und beherrscht“. Besonders gegen Gellert geht A. Vilmar hart ins Gericht. Seine Lieder seien zwar gutgemeint, gingen aber „gleich der Wolfischen [sic] Philosophie,63 auf ‚deutliche Begriffe‘ hinaus und haben es mit Beweisen und Zweifeln zu thun, […] machen Abstracta zum Gegenstand der Reimereien, bewegen sich in guten Vorsätzen und Entschlüssen, in der Befriedigung durch ein ‚gutes Gewissen‘ und vor allem in Contemplationen und Ermahnungen“.64 Die Spätphase dieser Periode am Anfang des 19. Jahrhunderts sei in der Liederdichtung einfach monströs und kirchenschänderisch, „so daß man oft in Zweifel ist, ob der Unglaube, welcher in diesen Liedern sein schamloses Wesen treibt, oder die Albernheit, von welcher sie eingegeben werden, größer sei.“ Die Kirchenund Glaubenslieder seien in dieser Phase gänzlich verschwunden, man finde darin nur „Unsinn“ und „alten Aberglauben“.65 Doch auch die „Sentimentalität“, die A. Vilmar in der Liederdichtung von Friedrich Gottlieb Klopstock (1724– 1803) auszumachen meint, wird scharf kritisiert. A. Vilmars Urteil über diese Epoche ist vernichtend: „Es hat niemals ein Gebiet der Poesie gegeben, welches einen so armseligen Anblick gewährt hätte, wie das evangelische Kirchenlied von 1765 bis 1824.“66 Schließlich sieht A. Vilmar ab etwa 1824 den Versuch, zurück zum Kirchenlied zu kommen, was allerdings bis zur Mitte des Jahrhunderts noch nicht gänzlich gelungen sei, aber eine Rückkehr zu der „Plattheit“ der vorigen Epoche scheint für ihn nicht mehr möglich. Die neue Ära der Kirche zeige sich schon am Horizont. A. Vilmar schreibt in der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass die Welt einhundertundfünfzig Jahre lang nur die Wissenschaft und die Künste gehört habe. Die

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mich, dein Leiden zu bedenken“, „Jesus lebt, mit ihm auch ich!“ und „So jemand spricht: ‚Ich liebe Gott‘“. Gemeint dürfte der deutsche Aufklärer Christian Wolff (1679–1764) sein, der die rationalistische Richtung der deutschen Aufklärung prägte und eine Breitenwirkung anhand der Übertragung philosophischer Terminologie in die deutsche Sprache erzielte (vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2: Reformation und Neuzeit, Gütersloh 22001, 467). Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 323. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 323. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 324.

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AUGUST VILMAR (1800–1868) UND DAS KIRCHENLIED Theologie stand im Abseits und wurde noch von der rationalistischen Theologie kümmerlich vertreten. Aber diese Zeiten seien vorbei, jetzt sei die Zeit der theologisch-kirchlichen Fragen, die Zeit der Kirche67 gekommen. Wir sehen also, dass A. Vilmars Geschichte des evangelischen Kirchenlieds dem Muster seiner Geschichtstheologie, die in biblischer Anlehnung sieben Epochen aufweist, folgt.68 Die Epochen (1) bis (4) finden in der Zeit der Alten Kirche statt. Epoche (5) beginnt nach Augustinus, streckt sich über das gesamte europäische Mittelalter, erreicht ihren Höhepunkt in der Reformation und endet im 19. Jahrhundert, als die für ihn noch unvollendete (6) Epoche der Kirche beginnt. Epoche (7) ist das Eschaton. Die „Antithese“ von Aufklärung und Rationalismus, die gegen Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts überhandnahm, wird nach A. Vilmars Überzeugung in seiner Lebenszeit allmählich von der „These“ von Theologie und Kirche verdrängt.69 Diese Bewegung zeigt auch die Entwicklung des Kirchenlieds: während es in der Reformationszeit und danach aus der Erfahrung der Kirche mit der Offenbarung Gottes hervorwuchs und zum Bekenntnis wurde, verlor es diesen Charakter in den Zeiten von Aufklärung und Rationalismus und wurde zu einer Art „Antibekenntnis“ bzw. Verleugnung der Taten Gottes, seiner Offenbarung. Diese unerträgliche Lage beginne sich in der aufkommenden Epoche der Kirche zu ändern. Eine neue Erfahrung der Kirche stehe am Horizont, sodass das evangelische Lied wieder zu seinem ursprünglichen Wesen, zum Bekenntnissein, kommen werde. Danach käme nur das Ende der Geschichte.

5 Fazit und Ausblick Wir haben gesehen, dass A. Vilmar seine Geschichte des evangelischen Kirchenlieds an seine eigene dialektische geschichtstheologische Konstruktion anpasst:

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Vgl. Vilmar, Schulreden (s. Anm. 34), 283f. Vgl. Gilberto da Silva, Die Hessische Renitenz und ihre Geschichtstheologie – reformatio, restitutio oder progressio?, Freikirchenforschung 26 (2017), 143–158. Vgl. Vilmar, Zukunft (s. Anm. 27), 171f; Vilmar, Schulreden (s. Anm. 34), 288; Vilmar, Aug. Confession (s. Anm. 26), 4ff; Hopf, A. Vilmar (s. Anm. 32), I, 420ff.; Conrad, Kirchenbild (s. Anm. 28), 260ff.

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GILBERTO DA SILVA Ursprung und Höhepunkt in der Reformationszeit, Untergang in der Neuzeit, Ansätze einer Wiedergeburt im 19. Jahrhundert. Dabei fällt allerdings auf, dass diese Darstellung äußerst konfessionell-polemisch ist. Denn die Verwurzelung des evangelischen Kirchenlieds der Reformationszeit im mittelalterlichen Liedgut mit seinen unterschiedlichen Formen ist einfach größer und breiter als von ihm angenommen.70 Ebenfalls ist seine einseitige Rückführung der Psalmliedertradition auf den „reformirten Cultus“ nicht haltbar.71 Auch seine Kritik an einzelnen Autoren wie z. B. an Nikolaus Selnecker (1530–1592),72 ohne dessen harte Lebensumstände73 zu berücksichtigen, klingt lieblos und arrogant, ist aber für A. Vilmar nicht untypisch. Unter solchen Vorbehalten dürfen aber seine Beobachtungen über die entscheidende Rolle der Reformation für das Wesen und die Bedeutung des Kirchenlieds als sehr treffend betrachtet werden.74 Schließlich ist die Betrachtung seiner eigenen Epoche, der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als der Zeit der Wiederkehr des wahren Kirchenlieds im Kontrast zur vorangehenden Epoche insofern zutreffend, als man sich auf Ernst Moritz Arndts (1769–1860) Plädoyer für die Abschaffung der Aufklärungsauswüchse und Rückkehr zum alten, deutschen Kirchenlied, konzentriert und dessen Folgen berücksichtigt. Auch der sog. „Eisenacher Entwurf“ eines einheitlichen evangelischen Gesangbuchs mit 150 „Kernliedern“, die fast gänzlich aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammten,

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Vgl. Krummacher, Kirchenmusik (s. Anm. 2), 64–73. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 321. Freilich geht es A. Vilmar hier eher um die Genfer Tradition der Psalmdichtung (vgl. Krummacher, Kirchenmusik [s. Anm. 6], 88), aber das Problem liegt – wie so oft bei ihm – an der pauschalen und undifferenzierten Kritik. Denn „Luther hat als Erfinder des Psalmliedes zu gelten, einer Liedgattung, die es vorher nicht gab, auch nicht in Ansätzen oder Vorstufen, die aber sofort eine gewaltige Breitenwirkung entfaltete“ (M. Jenny, zit. nach Krummacher, Kirchenmusik [s. Anm. 2], 77; vgl. Schilling, Lieder [s. Anm. 52], 138). Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 321. Vgl. Krummacher, Kirchenmusik (s. Anm. 2), 95f. Vgl. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), 318f; Krummacher, Kirchenmusik (s. Anm. 2), 74.93; Schilling, Lieder (s. Anm. 52).

234

AUGUST VILMAR (1800–1868) UND DAS KIRCHENLIED dürfte A. Vilmars Hoffnungen auf eine neue, restaurative Ära beflügelt haben.75 Darin ist auch der Einfluss des Neuluthertums unverkennbar.76 A. Vilmars Definition des (evangelischen) Kirchenlieds als Bekenntnis, d. h. als aus der kirchlichen Erfahrung mit den Taten Gottes entstandene Antwort des Glaubens der Gemeinde, ist zwar naheliegend, lässt aber besonders in unserem heutigen Kontext einige Fragen offen. Denn wir können m.E. zu Recht fragen, ob es sich nach wie vor um ein (Glaubens-)Bekenntnis handelt, wenn ein Kirchenlied z. B. im Rahmen eines nicht kirchlichen Konzerts gesungen wird.77 Wenn wir den Bekenntnisbegriff enger fassen und ihn in konfessioneller Hinsicht verstehen, wovon bei A. Vilmar im Hinblick auf seine Ausführungen im Lexikonartikel auszugehen ist, können wir weiterhin fragen, wie es sich mit dem Bekenntnis verhält, wenn z. B. ein evangelisches Kirchenlied in einer römisch-katholischen Messe oder ein römisch-katholisches Kirchenlied 78 in einem evangelischen Gottesdienst gesungen wird.79 Ähnlich lässt sich auch fragen, welche Implikationen das

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A. Vilmar meint: „Nur wenige Lieder sind nötig, 150 sind mehr als genug. Die dicken Gesangbücher sind unpraktisch. Im Gemeindegesang müßen einige Lieder ganz geläufig werden, wie es zur Reformationszeit war, damit die Gemeinde in einem ihr zu Gebote stehenden Liederschatz die Erfahrungen ihrer Kirche stets präsent habe“ (Vilmar, Pastoraltheologie [s. Anm. 5], 85). Die Zahl „150“ in beiden Projekten und die Anspielung auf die Psalmenzahl dürfen kein Zufall sein. Vgl. Krummacher, Kirchenmusik (s. Anm. 2), 132–138. A. Vilmar meint kompromisslos: „Die Orgel soll nur den Gesang begleiten[,] aber nicht beherschen [sic]. […] Die Zwischenspiele zwischen den einzelnen Versen sind oft sehr störend. Ausgangsspiele sind erlaubt: nur müßen sie selbstverständlich eine würdige Haltung bewahren (keine Tanz- oder Marschmusik). Musikaufführungen, geistliche Concerte, Oratorien soll man in der Kirche nicht dulden; die Kirche dient dem Cultus, aber nicht dem Musikgenuß“ (Vilmar, Pastoraltheologie [s. Anm. 5], 88). Ein solches gibt es für A. Vilmar allerdings nicht: „Die katholische Kirche besitzt in dem Sinne, wie die evangelische, kein Kirchenlied; was sie als Analogon desselben hat, besteht in Nachahmungen des evangelischen Kirchenlieds oder in hymnischen Gesängen und geistlichen Liedern“ (Vilmar, Kirchenlied [s. Anm. 6], 324). Vgl. dazu Krummacher, Kirchenmusik (s. Anm. 2), 18f.

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GILBERTO DA SILVA Vorhandensein von Liedtexten reformierter Autoren 80 in evangelisch-lutherischen Gesangbüchern (oder andersherum) – und natürlich auch deren Singen im Gottesdienst – im Sinne der kirchlichen Erfahrung der Taten Gottes haben kann. Auch ist die Frage nach Kirchenliedern interessant, die in einem für die lutherische Kirche bekenntniswidrigen Kontext entstanden sind, aber durch Umdichtung ihren Platz im lutherischen Gottesdienst haben finden können.81 Oder ist diese Form des Bekenntnisses doch – und gegen A. Vilmar – als allgemein christlich bzw. nicht- oder gar transkonfessionell zu betrachten? Schließlich scheint mir eine vertiefende Reflexion über den Bekenntnischarakter „schlechter“ Lieder, sowohl in inhaltlichem als auch in formal-ästhetischem Sinne, zu fehlen, zumal die Liederdichtung nach A. Vilmars Tod weiter gegangen ist. Denn es geht in A. Vilmars Lexikonartikel von 1862, der das evangelische Lied als gemeindliches Bekenntnis definiert, nicht nur um den Inhalt des Kirchenlieds, sondern auch deutlich um dessen Ästhetik.82 Nicht nur die Texte, sondern auch die Melodien, das Zusammenwirken beider sowie die Singbarkeit spielen in seinen Ausführungen eine wichtige Rolle. In diesem Sinne müssen wir davon ausgehen, dass seine Definition des Kirchenlieds als Bekenntnis auch die außertextlichen Aspekte miteinschließt. Denn in der Tat dürfen wir A. Vilmar darin zustimmen, dass das Kirchenlied nicht nur Bekenntnis(-Text), sondern in „einem gesungenen Bekenntnis der Gemeinde“83 besteht. Eine uns zeitgenössische Definition von Kirchenmusik84 lautet: „Von Kirchenmusik können wir dort sprechen, wo sich christlicher Glaube musikalisch aus80

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Vgl. dazu Christoph Barnbrock, Geliebt und verachtet. Die Rezeption Gerhard Tersteegens im konfessionellen Luthertum, Freikirchenforschung 29 (2020), 95–105. Ein Beispiel hierfür ist das Kirchenlied „Gott sei gelobet und gebenedeiet“ (ELKG 163; ELKG2 250), das seinen „Sitz im Leben“ in der mittelalterlichen Fronleichnamsprozession hatte. Erst durch Luthers Umarbeitung ist es „evangelisch“ geworden (vgl. Weismann, Liederkunde 1 [s. Anm. 50], 539ff; Krummacher, Kirchenmusik [s. Anm. 2], 71). Vgl. Vilmar, Pastoraltheologie (s. Anm. 5), 86; dazu auch Krummacher, Kirchenmusik (s. Anm. 2), 16ff. Vilmar, Kirchenlied (s. Anm. 6), Hervorhebung: GdS. Mir ist die Unschärfe in der Begriffsunterscheidung zwischen Kirchenlied, Kirchenmusik, Hymnologie, Choralkunde usw. durchaus bewusst (vgl. Krummacher,

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AUGUST VILMAR (1800–1868) UND DAS KIRCHENLIED drückt in der Absicht, diesen Glauben darzustellen“. 85 Diese Formulierung ist absichtlich offen und will weder musikalisch-stilistisch (sie gilt z. B. sowohl für den gregorianischen Gesang als auch für das Kirchenlied), noch institutionell (sie gilt nicht nur in der verfassten Kirche), noch funktional (sie gilt nicht nur für den Gottesdienst), noch lokal (sie gilt nicht nur für den Kirchenraum) eingrenzen.86 Man kann die Kirchenmusik in diesem Sinne schlicht als „Kommunikation des Evangeliums“87 definieren. A. Vilmars Definition des Kirchenlieds als (gesungenes) Bekenntnis widerspricht dessen Definition als „Kommunikation des Evangeliums“ freilich nicht, kann aber durchaus eine Spezifizierung und Vertiefung leisten. Denn in der Definition als „Bekenntnis“ steckt eine kirchliche Verantwortung, die in der Definition als „Kommunikation“ bewusst offengelassen wird. Die Kommunikations-Definition ist in unserer globalisierten, pluralistischen, hochtechnisierten und ökumenischen Gesellschaft zeitgemäß und unverzichtbar. Doch A. Vilmar macht uns darauf aufmerksam, dass die Kirche das Evangelium nicht nur kommuniziert, sondern es in erster Linie bekennt, und sie tut das bezüglich des Kirchenlieds bzw. der Kirchenmusik sowohl inhaltlich als auch formal bzw. ästhetisch. Außerdem bekennt jede verfasste Kirche das universale Evangelium unweigerlich konfessionell-bedingt, gleich ob sie das selbst wahrnimmt bzw. wahrnehmen will oder nicht. Unter den oben beschriebenen Bedingungen bzw. Einschränkungen der christlichen Gottesdienste während der Coronavirus-Pandemie ab dem Jahr 2020 ist m. E. die Frage berechtigt, ob die Kirchengemeinde, die in ihren Gottesdiensten Kirchlieder nicht singen darf, im Sinne A. Vilmars um einen wichtigen Aspekt ihres Glaubensbekenntnisses gebracht werde. Eine Antwort auf diese Frage muss allerdings eine differenzierte sein. Zunächst müsste berücksichtigt werden, dass es sich bei dem Kirchenlied um ein Glaubensbekenntnis unter anderen handelt. Denn auch andere Teile des

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Kirchenmusik [s. Anm. 2], 63f). Da es sich aber bei diesem Beitrag weder um eine musikwissenschaftliche noch um eine praktisch-theologische Arbeit handelt, sei mir in diesem Zusammenhang eine gewisse Begrifflichkeitsunschärfe erlaubt. Krummacher, Kirchenmusik (s. Anm. 2), 19. Vgl. Krummacher, Kirchenmusik (s. Anm. 2), 19. Krummacher, Kirchenmusik (s. Anm. 2), 22ff.

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GILBERTO DA SILVA Gottesdienstes wie z. B. das gemeinsame Vortragen des Credo oder die Predigt – um mit A. Vilmar zu sprechen – die Erfahrung des gemeindlichen Glaubens zur Sprache bringen. Darüber hinaus ist ebenfalls zu berücksichtigen, dass selbst beim Nicht-Singen-Dürfen das Glaubensbekenntnis der Kirchengemeinde nicht gänzlich verstummt, wenn die Kirchenlieder vorgetragen bzw. laut mitgelesen werden. Allerdings, wenn bei den Kirchenliedern nur die Melodie instrumental abgespielt und/oder der Text von den Anwesenden lautlos mitverfolgt wird, verliert das Kirchenlied durchaus seine Eigenart als gesungenes Glaubensbekenntnis. Oder im Sinne A. Vilmars überspitzt weitergedacht: wenn das Kirchenlied gesungenes (Glaubens-)Bekenntnis der Gemeinde ist, dann findet kein Bekenntnis mehr statt, wenn es nicht gesungen oder zumindest sein Text hörbar erklingt.88 J. Schilling formuliert es drastischer: „So wie Gott und Mensch in Christus verbunden sind, so sind es Wort und Ton in den Liedern. Erst im Singen erweisen sie ihre eigentliche Natur und ihre Kraft.“89 Das nicht gesungene bzw. nur gelesene Lied erfüllt allerdings eine nicht zu unterschätzende Meditationsfunktion, die sehr wichtig ist, aber von A. Vilmar nicht berücksichtigt wird90 und uns hier nicht weiter beschäftigen soll. Als „Grundelement“91 des christlichen Gottesdienstes ist das Kirchenlied unverzichtbar. Mit A. Vilmar gedacht besteht diese Unverzichtbarkeit darin, dass das Kirchenlied kultisches Bekenntnis des Gemeindeglaubens ist. Dieser

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A. Vilmar schreibt auch: „Gesang ist die Form der gemeinschaftlich laut werdenden Anbetung (zumal der Anbetung des Lobes) und ein notwendiges Stück des Cultus. Nur durch den Gemeinde-Gesang ist es möglich, die volle Harmonie der Gemeinde zum Ausdruck zu bringen. Der Chorgesang ist eine Unterstützung des Gemeindegesanges, nicht des Cultus an sich. Dieser Gemeinde-Gesang wird hergestellt durch das evangelische Kirchenlied“ (Vilmar, Pastoraltheologie [s. Anm. 5], 84). Schilling, Lieder (s. Anm. 52), 152. Mir geht es in diesem Beitrag keinesfalls darum, irgendeine Form von Kritik an den staatlichen Verordnungen, die dem Schutz der Bevölkerung vor Infektionen zurzeit der Coronaviren-Pandemie dien(t)en, zu üben. Auch das Nicht-Singen-Dürfen in den Gottesdiensten ist aus infektiologischen Gründen eine sinnvolle Maßnahme. Mir geht es nur darum, zusammen mit A. Vilmar über das Wesen des Kirchenlieds als gesungenes Glaubensbekenntnis im Gottesdienst zu reflektieren. Vgl. Salzmann, Lehren (s. Anm. 1), 469.

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AUGUST VILMAR (1800–1868) UND DAS KIRCHENLIED Bekenntnischarakter verlangt eine Betrachtung der Rolle des Kirchenlieds im christlichen Gottesdienst, die sowohl inhaltliche als auch formal-ästhetische Gesichtspunkte berücksichtigen muss. Vielleicht kann es als ein „positiver“ Beitrag der pandemiebedingten gottesdienstlichen Einschränkungen die Tatsache betrachtet werden, dass das Kirchenlied, weil es fehlte oder verstümmelt wurde, tatsächlich als „Grundelement“ des christlichen Gottesdienstes und als solches Glaubensbekenntnis der Gemeinde (wieder) wahrgenommen wird.

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Nietzsches Ringen mit dem Tod Jesu Christi am Kreuz und um die Erlösung des Menschen Henry Kerger Die vorliegende Darstellung konzentriert sich auf die Behandlung der zentralen Thesen Nietzsches, worin er die Grundlagen der christlichen Lehre und des Glaubens in Frage stellt, negiert und zu widerlegen sucht. Der Verfasser verfolgt hierbei (als Nicht-Theologe, praktizierender Christ und langjähriger Nietzsche-Forscher) einen eigenständigen Ansatz, der sich nicht an der zu Nietzsches „Antichrist“ vorhandenen umfangreichen Sekundärliteratur orientiert. 1 Dafür sind zwei Gründe ausschlaggebend. Erstens würde eine umfassende Würdigung der kaum noch übersehbaren Fülle an Literatur zu Nietzsches Antichrist den Rahmen eines Beitrages sprengen. Zweitens sind die wesentlichen Äußerungen Nietzsches zum Christentum über sein gesamtes Werk weit verstreut, weshalb hier der Versuch unternommen werden soll, bislang vernachlässigte Zusammenhänge aufzudecken. Nietzsches Thesen und seine Genealogie der Moral, des Rechts und der Religion richten sich gegen das Christentum insgesamt und von Grund auf. Gegenstand seiner analytischen Betrachtung sind die philosophischen Grundlagen, Wertungen, kulturellen Erscheinungen sowie sozialpsychologischen Wirkungen, Folgen des Christentums. Dabei stehen die Begriffe Gut und Böse sowie ein 1

Statt aller sei hier beispielhaft erwähnt: Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte, Göttingen ²2010.

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ umfassender Schuldbegriff im moralischen, rechtlichen, religiösen und psychologischen Sinne im Vordergrund.

1 Schuldgefühl und Ressentiment Im Mittelpunkt der Kritik Nietzsches am Christentum steht die Frage nach der Erlösung von aller Schuld. Den christlichen Schuldbegriff sieht Nietzsche nicht als gegeben an, sondern erst im Wege der Auslegung geschaffen. Demnach brachte erst „das asketische Ideal“ und seine Auslegung „alles Leiden unter den Begriff der Schuld“ (Zur Genealogie der Moral).2 Prägend für den christlichen Schuldbegriff ist nach Nietzsche eine Umwertung der Werte anhand der Begriffe „gut und schlecht“ einerseits sowie „gut und böse“ andererseits. Die Wertung „gut und schlecht“ werte von sich selbst aus, es sei die (römisch-aristokratische) Wertung der herrschenden Klasse, der Vornehmen und Wohlgeratenen. Dagegen entspräche die Wertung „gut und böse“ der Perspektive der „Schlechtweggekommenen“, der (an sich selbst) Leidenden, der reaktiven Affekte der Schwachen gegen die Herrschenden. Die Schwachen, Leidenden, Schlechtweggekommenen erstreben durch die reaktive Umwertung der Begriffe „gut und schlecht“ in „gut und böse“ eine imaginäre Rache: „Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selbst heranwächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein nein zu einem ‚Ausserhalb‘, zu einem ‚Anders‘, zu einem ‚Nicht-selbst‘: und dies Nein ist ihre schöpferische That. Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks – diese nothwendige Richtung nach Außen statt zurück zu sich selber – gehört eben zum Ressentiment […] Die ‚Wohlgeborenen‘ fühlten sich eben als die ‚Glücklichen‘; sie hatten ihr Glück nicht erst durch einen Blick

2

Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (GM) III 28, KSA 5, 411. Die Schriften Friedrich Nietzsches werden im Folgenden zitiert nach: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1988.

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HENRY KERGER auf ihre Feinde künstlich zu construieren […] (wie alle Menschen des Ressentiment zu tun pflegen)“.3

In Nietzsches Ablehnung einer an Gut und Böse orientierten Moral – in seinen Worten: der „Sklaven-Moral“ – liegt bereits die Ablehnung der christlichen Lehre und Moral. Nietzsches umfangreiche Moralkritik kann hier nicht erschöpfend dargestellt werden.4 Gegen eine an den Begriffen Gut und Böse orientierte Moral spricht aus Nietzsches genealogischer Sicht ihre Relativität und Abhägigkeit von bestimmten Existenzbedingungen: „Alle guten Dinge waren ehemals schlimme Dinge: aus jeder Erbsünde ist eine Erbtugend geworden“.5 Die Abhängigkeit und Prägung durch bestimmte Daseinsbedingungen der Sozietät sowie der jeweils Herrschenden offenbart, dass „all das, was moralisch gelobt wird, wesensgleich mit allem Unmoralischen ist.“6 Deshalb verbietet die Moral unmoralische Handlungen nur in bestimmter „Richtung und Nutzanwendung […] während wir dieselben Handlungen, vorausgesetzt, daß sie sich auf unsere Gegner […] beziehn, nicht genug zu ehren wissen.“7 Eine am Nutzen orientierte (utilitaristische) Moral kann daher nicht Grundlage für die Beurteilung eines Menschen sein: „Ist nicht der Ursprung aller Moral in den abscheulichen kleinen Schlüssen zu suchen: was mir schadet, das ist etwas Böses (an sich Schädigendes); was mir nützt, das ist etwas Gutes (an sich Wohltuendes und Nutzbringendes).“8

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GM I 10, KSA 5, 272. Henry Kerger, Moral, in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch, Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2000, 284–286; ders., Autorität und Recht im Denken Nietzsches, Schriften zur Rechtstheorie, Heft 127, Berlin 1988, 45f., 67f., ders., Personalität versus Moralität als Basis der Gerechtigkeit in der Philosophie von Hannah Arendt und Friedrich Nietzsche, Rechtstheorie 49 (2018), 407f., 415–427, 441–454. GM III 9, KSA 5, 358. Nachlass 1887, 10[54], KSA 12, 542. Nachlass 1888, 18[8], KSA 13, 534. M 102, KSA 3, 90.

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ Nietzsche wendet sich prinzipiell gegen eine Moralisierung des Schuldbegriffs sowie vor allem gegen eine von ihm konstatierte „Umwertung der Werte“ der zur Zeit der Entstehung des Christentums herrschenden römischen Auffassung des Menschen hin zu einer „Sklaven-Moral“ der Unterdrückten, Leidenden, Schlechtweggekommenen, welche er dem in Rom sich ausbreitenden Christentum anlastet und die in seine umfassende Kritik einer christlich geprägten abendländischen Kultur mündet: „Die Römer waren ja die Starken und Vornehmen […] Die Juden umgekehrt waren jenes priesterliche Volk des Ressentiment par excellence, dem eine volkstümlich-moralische Genialität sondergleichen innewohnte: man vergleiche nur die verwandt-begabten Völker, etwa die Chinesen oder die Deutschen, mit den Juden, um nachzufühlen, was ersten und was fünften Ranges ist. Wer von ihnen einstweilen gesiegt hat, Rom oder Judäa? […] Rom ist ohne allen Zweifel unterlegen. Allerdings gab es in der Renaissance ein glanzvoll-unheimliches Wiederaufwachen des klassischen Ideals, der vornehmen Wertungsweise aller Dinge: Rom selber bewegte sich […] unter dem Druck des neuen, darüber gebauten judaisirten Rom, das den Aspekt einer ökumenischen Synagoge darbot und ‚Kirche‘ hiess: aber sofort triumphirte wieder Judäa dank jener gründlich pöbelhaften (deutschen und englischen) Ressentiments-Bewegung, welche man Reformation nennt, […].“9

Aus dieser Äußerung ist bereits deutlich zu entnehmen, dass Nietzsches antichristliche Haltung vorrangig auf einer Werte- und Kulturkritik beruht, welche die christliche Lehre und Moral allgemein als Einheit behandelt, zumal es ihm darum geht, Moral und Christentum psychologisch zu deuten und genealogisch zu analysieren, denn das Christentum müsse zuletzt auch noch als Moral zugrunde gehen, denn es sei „im Grunde ja nur der moralische Gott überwunden“.10 In der im Jahr 1887 erschienenen Schrift „Zur Genealogie der Moral“ – welche als 9 10

GM I 16, KSA 5, 286 f. GM III 27, KSA 5, 410; Eugen Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums?, Darmstadt 2002, 57, 128, 130, 147.

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HENRY KERGER Einführung die „Hauptvoraussetzungen“ für die (nach Nietzsches eigenen Worten schwer zugängliche) Schrift „Jenseits von Gut und Böse“ gedacht ist – analysiert Nietzsche die Entstehung des Schuldgefühls und des schlechten Gewissens als psychologisch erklärbare Phänomene. Daraus entwickelt er eine umfassende Kulturkritik des Abendlands, wie sie von Sigmund Freud später aufgegriffen wird; Nietzsches analytische Genealogie enthält bereits wesentliche Einsichten der Psychoanalyse Freuds und bereitet den Boden dafür.11 Schuldgefühl, Schuldvorstellung und schlechtes Gewissen sieht Nietzsche im Zuge einer radikalen „Verinnerlichung des Menschen“ entstanden, als der Mensch gewaltsam mit Hilfe der „Sittlichkeit der Sitte und der sozialen Zwangsjacke“ berechenbar gemacht wurde, 12 um „ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf“. Im Kampf gegen die Vergesslichkeit wird dem Menschen-Tier „ein Gedächtniss des Willens“ gemacht („nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtniss“). Das Menschen-Tier lernt durch härteste Züchtigung während eines langen Zeitraums endlich, berechenbar zu werden und erwirbt das „Privilegium der Verantwortlichkeit“ in einem lang andauernden Prozess der „Einverseelung“ sein Gewissen.13 Neben grausamer körperlicher Züchtigung sieht Nietzsche in „asketischen Prozeduren“ ein Mittel, dem Menschen ein Gewissen einzupflanzen, „zum Zweck der Hypnotisirung des ganzen nervösen und intellektuellen Systems durch diese ‚fixen Ideen‘“, zu denen Nietzsche religiöse Opferkulte und insbesondere die Erstlingsopfer zählt.14 Den Preis für den langen schmerzvollen Prozess, in dem der

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Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (VII u. VIII), in: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, Studienausgabe, Band IX, Frankfurt a. M. 1989, 253f. 260f.; Henry Kerger, Wille als Sprechakt und Entscheidung. Die psycho-physischen Grundlagen des Handelns bei Nietzsche, Würzburg 2004, 157f., 214f.; ders., Die sozialen Grundlagen einer Personalität des Handelns bei Nietzsche, in: Christian Benne/Enrico Müller (Hg.), Ohnmacht des Subjekts – Macht der Persönlichkeit, Basel 2014, 109f., 116f., 127–130. GM II 2–3, KSA 5, 293, 294. GM II 1– 2, KSA 5, 291, 292. GM II 3, KSA 5, 296f.: „Mit Hülfe solcher Bilder und Vorgänge behält man endlich fünf, sechs ‚ich will nicht‘ im Gedächtnisse, in Bezug auf welche man sein Versprechen

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ Tiermensch berechenbar gemacht wird, ein „Gedächtnis des Willens“ und ein Gewissen erwirbt, erkennt Nietzsche in einer Rückwendung der an ihrer Entladung nach außen gehemmten (stammesgeschichtlich-)tiermenschlichen Instinkte, als sich der Mensch „endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand“. Die an ihrer Entladung nach außen gehemmten Instinkte „wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine ‚Seele‘ nennt“.15 Die Verinnerlichung des Menschen bedeutet, dass sich die tiermenschlichen Instinkte „rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten“ und ihn zum Erfinder des schlechten Gewissens werden lassen:16„Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung – Alles das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend: das ist der Ursprung des ‚schlechten Gewissens‘.“ Mit dem schlechten Gewissen sieht Nietzsche „die größte und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen, an sich.“17 In dem Leiden des Menschen an sich aufgrund einer „gegen sich selbst Partei nehmenden Tierseele“ ist andererseits etwas „so Unerhörtes, Räthselhaftes, Widerspruchsvolles und Zukunftsvolles“ entstanden (ein originäres Kulturphänomen), so dass es offenbar „göttlicher Zuschauer“ bedurfte, um dieses Schauspiel zu würdigen: – denn nicht das Leiden an sich empört, sondern die Sinnlosigkeit des Leidens:

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gegeben hat […] mit Hilfe dieser Art von Gedächtnis kam man endlich ‚zur Vernunft‘!“ GM II 16, KSA 5, 322. GM II 16, KSA 5, 323: „Der Mensch, der sich, aus Mangel an äusseren Feinden und Widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmässigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerriss, verfolgte, annagte, aufstörte, misshandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wund stossende Thier, das man ‚zähmen‘ will […] – dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangne wurde der Erfinder des ‚schlechten Gewissens‘.“ GM II 16, KSA 5, 322f.

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HENRY KERGER „aber weder für den Christen, der in das Leiden eine ganze geheime HeilsMaschinerie hineininterpretirt hat, noch für den naiven Menschen älterer Zeiten, der alles Leiden sich in Hinsicht auf Zuschauer oder auf LeidenMacher auszulegen verstand, gab es überhaupt ein solches sinnloses Leiden […] Die Götter als Freunde grausamer Schauspiele gedacht – oh wie weit ragt diese uralte Vorstellung selbst noch in unsere europäische Vermenschlichung hinein! Man mag hierüber etwa mit Calvin und Luther zu Rate gehen.“18

Die Genealogie des Strafens erweist zudem den festlichen Charakter öffentlicher Hinrichtungen, weshalb die moralische Vorstellung einer „Ideen-Verhäkelung ‚Schuld und Leid‘“ Fragen aufwirft: „inwieweit kann Leiden eine Ausgleichung von ‚Schulden‘ sein? […] wie kann Leiden-Machen eine Genugtuung sein?“ 19 Der Grund für das Bedürfnis des Menschen, sich schuldig zu fühlen, liegt wohl darin, dass „wir ein System der Selbstbestrafung dem weiteren Aufenthalt im Dunkeln vorziehen“, wenn uns ein Unglück trifft, wie Susan Neiman im Anschluss an Nietzsche und Freud (der Nietzsche darin folgt), formuliert.20 Das schlechte Gewissen bei der Parteinahme des Menschen gegen sich selbst, gegen seine alten tiermenschlichen Instinkte und eine damit kulturell verbundene „Vergeistigung und ‚Vergöttlichung‘ der Grausamkeit“21 begründet nach Nietzsche eine Verknüpfung von Schuld und Leid: es entsteht ein „Gefühl der Schuld“,

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GM II 7, KSA 5, 304; unter Bezugnahme darauf: Susan Neiman, Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, Frankfurt a. M. 2004 (Titel der Originalausgabe: Evil in Modern Thought, Princeton 2002), Kap. 3, Ewige Entscheidungen: Nietzsche über Erlösung, 322. GM II 6, KSA 5, 300f. Neiman, Das Böse denken (s. Anm. 18), Kap. 3, Trostgründe: Freud gegen die Vorsehung, 339. GM II 6, KSA 5, 301: „habe ich mit vorsichtigem Finger auf die immer wachsende Vergeistigung und ‚Vergöttlichung‘ der Grausamkeit hingezeigt, welche sich durch die ganze Geschichte der höheren Cultur hindurchzieht (und, in einem bedeutenden Sinne genommen, sie sogar ausmacht).“

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ im rechtlichen-sittlichen und im religiösen Sinne sowie schließlich moralischpsychologisch.22 Gemäß dieser Analyse sucht sich das schlechte Gewissen des Menschen wegen einem gegen sich selbst gerichteten „Gefühl der Schuld“ gewissermaßen einen Gläubiger, an den Oh es seine Schuld abzahlen kann. Das Schuldgefühl findet genealogisch-kulturgeschichtlich seinen Ausdruck in dem Verhältnis der Lebenden zu ihren Vorfahren und insbesondere zu dem Begründer eines Geschlechts. Ansehen und Macht eines Geschlechts bestimmen nach dieser Genealogie die Schuld gegenüber dem Begründer eines Geschlechts. Dabei handelt es sich in frühen Zeiten der Menschheit durchaus um „eine juristische Verpflichtung“ und „keineswegs eine bloße Gefühls-Verbindlichkeit“, zumal das Geschlecht „nur durch Opfer und Leistungen der Vorfahren besteht“, die man ihnen seinerseits durch Opfer und Leistungen zurückzuzahlen hat.23 Die Schuld wächst nach diesen frühzeitlichen Vorstellungen mit der Machtzunahme eines Geschlechts, da die Ahnen „als mächtige Geister nicht aufhören, dem Geschlechte neue Vorteile zu geben“. Schließlich wächst die Schuld gegenüber dem Ahnherrn „ins Ungeheure“ und begründet eine Furcht vor dessen Macht-Gegenwart, die auf eine „göttliche Unheimlichkeit und Unvorstellbarkeit“ schließen lässt: „der Ahnherr wird zuletzt notwendig in einen Gott transfiguriert.“ Nach dieser genealogischen Hypothese „hat die Heraufkunft des christlichen Gottes, als des Maximal-Gottes, der bisher erreicht worden ist, deshalb auch das Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Erscheinung gebracht.“24 Wie Nietzsche folglich vermutet, wäre „aus dem unaufhaltsamen Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott […] auch schon ein erheblicher Niedergang des menschlichen Schuldbewusstseins“ abzuleiten. Nach Nietzsches psychologischer Hypothese wird die Vorstellung einer Schuld gegen Gott dem „innerlich gemachten, in sich selbst zurückgescheuchten Thiermenschen“ zum Folterwerkzeug:

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GM II 8, 19–21, KSA 5, 305ff.; Kerger, Wille als Sprechakt und Entscheidung (s. Anm. 11), 214f. GM II 19, KSA 5, 327. GM II 20, KSA 5, 330.

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HENRY KERGER „Er ergreift in ‚Gott‘ die letzten Gegensätze, die er zu seinen eigentlichen und unablöslichen Thier-Instinkten zu finden vermag, er deutet diese Thier-Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott (als Feindschaft, Auflehnung, Aufruhr gegen den ‚Herrn‘, den ‚Vater‘, den Urahn und Anfang der Welt) […] er wirft alles Nein, das er zu sich selbst, zur Natur, Natürlichkeit, Tatsächlichkeit seines Wesens sagt, aus sich heraus als ein Ja, als seiend, leibhaft, wirklich, als Gott […] als Jenseits, als Ewigkeit, als Marter ohne Ende […], als Unausmessbarkeit von Strafe und von Schuld.“25

Diese Sätze bilden gewissermaßen einen Höhepunkt innerhalb der psychologischen Betrachtung des Christentums durch Nietzsche. Die Rückwendung der tiermenschlichen (An-)Triebe, Instinkte gegen den Menschen selbst lassen mit dem Gefühl der Schuld nicht nur eine rechtliche Verpflichtung gegenüber dem Anfang, dem Schöpfer entstehen, sondern eine Moralisierung des Schuldbegriffs im sittlich-religiösen Sinne. Die Moralisierung der Begriffe Schuld und Pflicht bedeutet demnach eine Rückwendung, „Zurückschiebung derselben ins Gewissen“, d. h. „die Verwicklung des schlechten Gewissens mit dem Gottesbegriffe.“26 Die Begriffe Schuld und Pflicht lösen sich damit von einer (bloß rechtlich-)abzahlbaren Schuld gegen den Gläubiger und wenden sich „gegen den ‚Schuldner‘“, in dem sich nun das schlechte Gewissen dermaßen ausbreitet und vertieft, „bis endlich mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Buße, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der ‚ewigen Strafe‘) konzipiert ist.“ Damit hat sich der Gottesbegriff gewandelt, so dass von da an anstatt naturgesetzmäßiger Kausalität „alles Glück nunmehr als Lohn, alles Unglück als Strafe für Ungehorsam“ und Sünde erschien.27

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GM II 22, KSA 5, 332; zur Bildung religiöser Zeremonien, zeremoniöser Handlungen aus Furcht vor Bestrafung: Sigmund Freud, Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, in: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, 256f., 321. GM II 21, KSA 5, 330. Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 114.

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2 Zur Genealogie des „asketischen Ideals“ Der an dem Gefühl der Schuld „Erkrankte“ findet nach Nietzsches psychologischer Deutung in dem „asketischen Priester“ als Träger einer christlich-religiösen Praxis (einer „Psychologie des Christentums“) einen „Arzt“ und „Heilkünstler“, der dem Schuldgefühl eine neue Richtung zu geben versteht, nämlich gegen den daran Erkrankten und Leidenden selbst.28 Der asketische Priester legt dem Leidenden sein Befinden aus: erst die Auslegung bringt „alles Leiden unter die Perspektive der Schuld.“29 In der Moralisierung des christlichen Schuldbegriffs sieht Nietzsche einen Grund für dessen Selbstauflösung, indem sich die christliche Lehre sowie das Verständnis von Wahrheit und Moral gegen das Christentum selbst wenden: „Versteht man mich? … Die Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz – das bedeutet in meinem Mund der Name Zarathustra“ (Ecce homo 3).30 Das Leiden am schlechten Gewissen zu sich selbst, an den rückwärtsgewandten unbewussten Trieben begründet ein physiologisches „Hemmungsgefühl“, seelische Verstimmung: der „Kampf mit dem Unlustgefühl“ eröffnet daher ein Betätigungsfeld für einen Arzt der Seele, worin Nietzsche zu allererst die Funktion des asketischen Priesters sieht. Der asketische Priester errät das Leiden am Menschen, an sich selbst (den „seelischen Schmerz“), das erst durch seine „religiöse Interpretation“ zu Schuld und „Sündhaftigkeit“ wird. 31 Vermöge dieser Interpretation wendet sich das Unlustgefühl gegen den Leidenden selbst, ihm wird eine neue Richtung gewiesen: der Leidende soll die Ursache seines Leidens „in sich suchen, in einer Schuld, in einem Stück Vergangenheit, er soll sein Leiden selbst als einen Strafzustand verstehn […]“32 So wird aus dem Leidenden, dem Kranken „der Sünder“. Dadurch erlangt das An-sich-selbst-Leiden seelisch noch einmal „Tiefe und Breite“. 33 Ist aus dem Kranken erst ein Sünder gemacht, so bedarf es der 28 29 30 31 32 33

GM III 16, KSA 5, 375. GM III 28, KSA 5, 411. Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 99, 147. GM III 16 u. 20, KSA 5, 376, 389. GM III 20, KSA 5, 389. GM III 21, KSA 5, 391.

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HENRY KERGER „priesterlichen Medikation“, einer umfassenden Therapie in Form eines „Bußund Erlösungstrainings“, scheinbar Zeichen einer „religiösen Neurose“.34 In dem asketischen Priester sieht Nietzsche ein Kulturphänomen des Christentums, deren (antihellenistische) Erscheinungsformen sich in christlicher Literatur usw. zeigen und bekennt freimütig: „Ich liebe das ‚neue Testament‘ nicht, […] es beunruhigt mich beinahe, […] dermaassen allein zu stehn (der Geschmack zweier Jahrtausende ist gegen mich): aber was hilft es! […] Das alte Testament – ja das ist ganz etwas Anderes: alle Achtung vor dem alten Testament. In ihm finde ich grosse Menschen, eine heroische Landschaft […], die unvergleichliche Naivität des starken Herzens.“35

Hieraus spricht wiederum, dass es sich bei Nietzsches Ablehnung des Christentums zu einem wesentlichen Teil um eine Kulturkritik handelt (zumal nach seiner Auffassung das Dasein nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen ist). Als Erscheinungen schlechten (christlichen) Geschmacks sieht er an: „Leidenschaftlichkeit, keine Leidenschaft; peinliches Gebärdenspiel […]: das käut sein Persönlichstes, seine Dummheiten, Traurigkeiten und Eckensteher-Sorgen vor, als ob das An-sich-der-Dinge verpflichtet sei, sich darum zu kümmern; das wird nicht müde, Gott selber in den kleinsten Jammer hinein zu wickeln, in dem sie stecken. Und dieses beständige Aufdu-und-du mit Gott des schlechten Geschmacks!“36 34 35 36

GM III 21, KSA 5, 392; Freud, Totem und Tabu (s. Anm. 25), 70f. (74). GM III 22, KSA 5, 393 sowie AC 46, KSA 6, 148. GM II 22, KSA 5, 394f.: Dieser Vorwurf richtet sich vor allem gegen Luther, den „unbescheidensten Bauern, den Deutschland gehabt hat […] Luthers Widerstand gegen die Mittler-Heiligen der Kirche (insbesondere gegen ‚des Teuffels Saw den Bapst‘) […] der Widerstand eines Rüpels, den die gute Etiquette der Kirche verdross, jene Ehrfurchts-Etiquette des hieratischen Geschmacks, welche nur die Geweihten […] in das Allerheiligste einlässt […] aber Luther, der Bauer, wollte es schlechterdings anders, so war es ihm nicht deutsch genug: er wollte vor allem direkt reden, selber reden, ‚ungeniert‘ mit seinem Gott reden […]“

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ Nietzsche wirft dem Neuen Testament, der christlichen Lehre also nicht weniger vor als die Suche nach dem persönlichen Verhältnis, der Nähe zu Gott! Darauf ist im weiteren noch näher einzugehen. In dem „asketischen Ideal“, nach dem der Mensch gegen sich selbst antritt, sieht Nietzsche vor allem ein Machtinstrument, einen unbedingten Willen zur Erreichung Eines Zieles, weshalb es keine andere Auslegung duldet: „es unterwirft sich keiner Macht, es glaubt vielmehr an sein Vorrecht vor jeder Macht.“37 Das asketische Ideal erscheint somit als ein „geschlossene[s] System von Wille, Ziel und Interpretation“, so dass sich die Frage stellt: „Wo ist das andre ‚Eine Ziel‘?“ Die Wissenschaft ist für Nietzsche nicht das gegnerische Ideal, weder in Form der „Wirklichkeits-Trompeter“ noch der „Hektiker des Geistes“ oder als Mittel zur Selbstbetäubung für genügsame wissenschaftliche Arbeiter:38 „sie ist die Unruhe der Ideallosigkeit selbst, das Leiden am Mangel der grossen Liebe, das Ungenügen an einer unfreiwilligen Genügsamkeit.“39 Nietzsches größter Vorwurf gegen die moderne Wissenschaft wendet sich jedoch gegen die Tendenz, „dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich selbst auszureden“, denn seit Kopernikus rollt der Mensch „immer schneller nunmehr aus seinem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts? ins ‚durchbohrende Gefühl seines Nichts‘?“40 – Sucht er schließlich deshalb, (dank moderner Technik) an der Oberfläche zu bleiben? Das asketische Ideal, das alles Leiden unter die Perspektive der Schuld bringt, verleiht demnach auch weiterhin dem Dasein des Menschen seinen Sinn, ist die Antwort auf den Schrei des Wozu des Leidens.41

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GM III 23, KSA 5, 396; Freud, Totem und Tabu (s. Anm. 25), 74. Oder einer Verwissenschaftlichung des Alltags, so dass „die Gänse anfangen, wissenschaftlich zu schnattern“. GM III 23, KSA 5, 397. GM III 25, KSA 5, 404. GM III 28, KSA 5, 411: „Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Tier, verneint an sich nicht das Leiden; er will es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, dass man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens.“

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3 Schuld und Leid Da Nietzsche Schuldgefühl und schlechtes Gewissen als psychologische Phänomene deutet42 und „die Verwicklung des schlechten Gewissens mit dem Gottesbegriffe“ für ihn auf einer christlichen Moralisierung des Schuldbegriffs beruht, wendet er sich mit Nachdruck43 gegen den christlichen Gedanken der Erlösung von aller Schuld und der Vergebung der Sünden. Nietzsche argumentiert gegen den christlichen Gedanken der Erlösung rechtlich, genealogisch, psychologisch sowie im Rahmen seiner umfassenden Kulturkritik. Der Gedanke einer Erlösung des Menschen durch den Tod Jesu Christi am Kreuz erscheint rein schuldrechtlich betrachtet widersinnig: „Gott selbst sich für die Schuld des Menschen opfernd, Gott selbst sich an sich selbst bezahlt machend, Gott als der Einzige, der vom Menschen ablösen kann, was für den Menschen selbst unablösbar geworden ist – der Gläubiger sich für seinen Schuldner opfernd, aus Liebe (sollte man’s glauben? –), aus Liebe zu seinem Schuldner! […]“44

Diese schuldrechtliche Argumentation hat den Anschein der Plausibilität, vermag jedoch nach Nietzsches eigenen rechtlichen Einsichten nicht zu verfangen. Wenn es sich bei der Erlösung durch Vergebung der Sünden um ein rechtlich-rechnendes Schuldverhältnis handeln würde (etwa mit Tilgung der Schuld durch AblassZahlungen), so wäre sie nach weltlich-rechtlichen Maßgaben messbar und abzahlbar entsprechend dem Grundsatz: „jedes Ding hat seinen Preis: Alles kann abgezahlt werden – dem ältesten und naivsten Moral-Kanon der Gerechtigkeit.“45 Mit der Abzahlung der Strafe wäre auch die Schuld getilgt (die Strafe könnte den

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Im Sinne der späteren Psychoanalyse Sigmund Freuds, der seine Einsichten übernimmt und daran anknüpft. Und mit allen Mitteln, auch im Widerspruch zu seinen eigenen Thesen, wie noch zu zeigen ist. GM II 21, KSA 5, 331. GM II 8, KSA 5, 306.

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ Täter von seiner Tat reinigen). Folglich fordert Nietzsche: „So erfindet mir doch die Liebe, welche nicht nur alle Strafe, sondern auch alle Schuld trägt!“46 Jesus Christus leidet und stirbt als Mensch am Kreuz, weil er die Strafe für die Sünden der Welt auf sich nimmt, nicht jedoch die Schuld. Würde Christus neben der Strafe auch die Schuld der Menschen auf sich nehmen, bedürfte es keiner Erlösung mehr. Zu demselben Ergebnis gelangt man, wenn man es rein rechtlich betrachtet, denn bei der Übernahme der Schuld für einen anderen geht dessen Schuld auf den Schuldübernehmer über und erlischt beim Schuldner. Hätte Christus durch seinen Tod am Kreuz auch die Schuld auf sich genommen, wäre zudem der Mensch nicht nur einer konkreten Schuld, sondern praktisch jeder Verantwortung für sein Handeln enthoben. Das ist nicht Sinn und Zweck der Erlösung. Jesus Christus durchbricht vielmehr das vertragliche Schuldrechtsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, das weltliche Synallagma sowie das moralisch-strafrechtliche Verhältnis von Schuld und Strafe.47 Indem Christus Mensch geworden ist, „hat er abgetan das Gesetz mit seinen Geboten und Satzungen, damit er in sich selbst aus zweien einen neuen Menschen schaffe und Frieden mache und die beiden versöhne mit Gott in einem Leib durch das Kreuz, indem er die Feindschaft töte in sich selbst“ (Eph 2,15). Die Überwindung des Gesetzes im alttestamentarischen Sinne sowie erst recht der weltlich-menschlichen Gesetzgebung bedeutet, „die weltliche Gerechtigkeit aus den Angeln zu heben“,48 zumal sie auch in Form des Gnadenakts an das weltliche Recht gebunden bleibt.49 Darin liegt die Aufhebung des weltlich-rechtlichen Schuldverhältnisses, des Tauschverhältnisses von Schuld und Strafe – nicht jedoch die Aufhebung menschlicher Schuld. Jesus Christus hat am Kreuz die menschlich-weltliche Ordnung (Gesetzgebung und Gerechtigkeit) durch die Gerechtigkeit Gottes aufgehoben, denn Gott „hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt“ (2 Kor 5,19). Dies wäre undenkbar, hätte Jesus am Kreuz den Menschen 46 47 48 49

Z I, Vom Biss der Natter, KSA 4, 88. Kerger, Personalität versus Moralität (s. Anm. 4), 426f., 447f., 452. MA II, WS 81, KSA 2, 588. Kerger, Personalität versus Moralität (s. Anm. 4), 452.

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HENRY KERGER nicht nur die Strafe für ihre Sünden, sondern auch ihre Schuld abgenommen: dann gäbe es in Christus nichts mehr zu vereinen und zu versöhnen. Daher trifft Nietzsches These, Jesus habe „den Begriff ‚Schuld‘ selbst abgeschafft“,50 nicht zu. Dass Gott Mensch geworden ist, bedeutet weiterhin nicht, dass Jesus „jede Kluft zwischen Gott und Mensch geleugnet hat“ – denn dazu war er nicht von seinem Vater ermächtigt und das hat Jesus weder irgendwo geäußert noch beabsichtigt. Daraus folgt weiterhin, dass Jesu Tod am Kreuz etwas anderes und mehr ist als ein heidnisches Blutopfer aus der Mitte des Volkes, der Menge, d. h. es geht um die Frage: starb Jesus Christus am Kreuz als (Einzel-)Person oder vertrat er dabei als Individuum das Volk? Nietzsche polemisiert emphatisch gegen „die unverschämte Lehre von der Personal-Unsterblichkeit.“ 51 Für ihn ist Jesus lediglich der Anführer eines „Aufstands gegen die jüdische Kirche“, gegen die herrschende Ordnung und PriesterKaste sowie gegen „‚die Guten und Gerechten‘“,52 worunter Nietzsche allgemein die Vertreter der herrschenden Moral versteht.53 Jesus starb demnach als „politischer Verbrecher“ wegen Störung, Verletzung der öffentlichen Ordnung: „Er starb für seine Schuld, – es fehlt jeder Grund dafür […] dass er für die Schuld anderer starb.“ 54 Dieser provokanten These, in der Nietzsches Angriff auf das Christentum vielleicht ihren Höhepunkt findet, gilt es weiter nachzugehen.

4 „Verewigung der Person“ und Institutionalisierung des Glaubens Nietzsches Absicht zielt darauf, Jesu weltlich-menschliches Dasein gegen das Christentum, seine Lehre und Kirche zu wenden: „Es ist ein Mißbrauch ohnegleichen, wenn […] die ‚christliche Kirche‘, ‚christlicher Glaube‘ und ‚christliches 50 51 52 53

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AC 41, KSA 6, 215. AC 41, KSA 6, 215. AC 27, KSA 6, 198. Z I, Vom Biss der Natter, KSA 4, 87: „Den Vernichter der Moral heißen mich die Guten und Gerechten: meine Geschichte ist unmoralisch.“ AC 27, KSA 6, 198.

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ Leben‘ […] sich mit jenem heiligen Namen abzeichnen. Was hat Christus verneint? – Alles, was heute christlich heißt.“55 Diese Kritik richtet sich gegen die christlichen Institutionen, gegen „Formeln, Riten, Dogmen statt der Praxis des Lebens“, denn christlich sei „die vollkommene Gleichgültigkeit gegen Dogmen, Kultus, Priester, Kirche, Theologie.“56 Daraus, dass Jesus Christus sich über formale Gebote hinwegsetzt – indem er etwa am Sabbath Kranke heilt und das „Ährenraufen“ seiner Jünger zulässt (Mt 12) – , sich aus „groben Formeln im Verkehr mit Gott [nichts macht]“, schließt Nietzsche, Jesus lehne „die ganze Buß- und Versöhnungslehre“ kategorisch ab.57 Vielmehr habe Jesus gezeigt, „wie man leben muß, um sich als ‚vergöttlicht‘ zu fühlen.“ Zu diesem Wohlgefühl der eigenen Vergöttlichung passe nicht Buße sowie die Vorstellung („Zerknirschung“), dass Sünden der Vergebung bedürfen, denn Jesus liege nichts an der Sünde: „Sünde, Buße, Vergebung – das gehört alles nicht her […]“58 Das würde bedeuten, dass Jesus (und die frühe christliche Gemeinde) sich vom Alten Testament losgesagt hätte(n), wofür keinerlei Anzeichen ersichtlich sind. Sünde, Buße und Vergebung der Sünden seien für Jesus angeblich ohne Bedeutung und erst durch Paulus in die christliche Lehre eingeführt worden, somit in Wahrheit unchristlich. Darum stehe auch die auf die Person Jesus bezogene Lehre von der Auferstehung einem bescheidenen subjektiven Wohlgefühl eigener Vergöttlichung entgegen – zumal Nietzsche im Christentum „einen naiven Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung“ sieht.59 Der christliche Glaube ist keine narzisstische oder buddhistische WohlfühlTherapie für ein Individuum und dessen Auflösung in einem Nirwana, sondern wendet sich an den Einzelnen als Person. Gott spricht den und die Menschen mit 55

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Nachlass 1887–88, 11 [365], KSA 13, 162: „Das gerade, was im kirchlichen Sinn das Christliche ist, ist das Antichristliche von Vornherein.“ Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 90, sieht darin den schärfsten Vorwurf, wonach das einzig wahre Christentum mit dem Tod Jesu Christi am Kreuz zu seinem Ende gelangt sei. Nachlass 1887–88, 11 [365], KSA 13, 162. Nachlass 1887–88, 11 [356], KSA 13, 157. Nachlass 1887–88, 11 [356], KSA 13, 157. Nachlass 1887–88, 11 [282], KSA 13, 108. Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 90.

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HENRY KERGER Namen an: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe deinen Namen gerufen, du bist mein (Jes 43). Gott verweist im Gespräch mit Mose auf sich als Person: Ex 3,14.60 Zur Begründung seiner These, wonach sich das Christentum von Jesus Christus, seinem Leben und seiner Lehre entfernt und sie konterkariert habe, trägt Nietzsche vor, erst Paulus habe das Christentum in eine heidnische Mysterienlehre verfälscht und in sein Gegenteil verkehrt. Dadurch habe das Christentum eine staatliche Verfassung und Organisation angenommen: „Paulus hat gerade Das im großen Stile wieder aufgerichtet, was Christus durch sein Leben annulliert hatte. Endlich, als die Kirche fertig ist, nimmt sie sogar das Staats-Dasein unter ihre Sanktion“, indem sie „Kriege führt, verurtheilt, foltert, schwört, haßt.“61

Paulus habe das heidnische Mysterien-Bedürfnis nach Opfern bedient, nach „blutiger Phantasmagorie, die den Kampf aushält mit den Bildern der Geheimkulte: Gott am Kreuze, das Bluttrinken, die unio mystica mit dem ‚Opfer‘.“ Erst Paulus betreibe einen Personenkult, um durch eine Verewigung der Person Christi die „Auferstehung in Kausalverbindung mit jenem Opfer zu bringen“. Dadurch sei die von Jesus abgelehnte „übermäßige Wichtigtuerei der ‚Person‘ in den Glauben an die ‚ewige Person‘“ gemündet, „in die paradoxe Übertreibung des PersonalEgoismus.“ – Hat Jesus sich gegen „den plumpen Unsinn eines ‚verewigten

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Joseph Ratzinger, Jesus von Nazareth, 1. Teil, 3. Aufl., Freiburg i. Br. 2007, 232 sowie 172; ders., Einführung in das Christentum, 8. Aufl., München 2009, 169f.; dazu Kerger, Die sozialen Grundlagen einer Personalität des Handelns bei Nietzsche (s. Anm. 11), 109f. (124); ders., Personalität versus Moralität als Basis der Gerechtigkeit, 417. Nachlass 1887–88, 11 [282], KSA 13, 108: Paulus habe „aus den Tathsachen vom Leben und Tode Christi eine vollkommen willkürliche Auswahl gemacht, alles neu accentuiert,[…], er hat principiell das ursprüngliche Christentum annulliert.“ Dazu sehr instruktiv Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 98: die philosophische Interpretation führe demnach in der Nachfolge von Paulus „des Weiteren im Gegensatz zu Jesu allumfassendem Heilsangebot zu der auf das Sündenproblem eingeengten Erlösungslehre.“

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ Petrus‘, einer ewigen Personal-Fortdauer“ 62 gewandt, als er zu Petrus sprach: „auf diesen Fels will ich meine Kirche bauen“ (Mt 16,18)? Soweit sich Nietzsche hier gegen eine „Wichtigtuerei der Person“ wendet und die Person allgemein in Frage stellt, steht dies in krassem Gegensatz zu seiner wiederholt geäußerten Wertschätzung der Person, die etwa ihren Ausdruck in der Aufforderung findet, aus sich „eine ganze Person zu machen.“63 Zu keiner anderen Gelegenheit äußert sich Nietzsche derart ablehnend gegen die Person des Menschen, woraus zu entnehmen ist, dass es ihm hier vor allem darum geht, alles nur Denkbare antichristlich umzudeuten. Das gilt auch insoweit, als er sich gegen „das Ceremoniell von Gebet“ und Anbetung allgemein wendet,64 denn im Gebet sucht der Gläubige die persönliche Nähe zu Gott und erfährt in dieser Art der Kommunikation Gottes Willen: „der Geist, der die Herzen erforscht, weiß um das Gebet und tritt im Sinne Gottes für uns ein.“ (Röm 8,26ff.)65 Sofern Nietzsche sich gegen die unmittelbare Anbetung Gottes durch jeden einzelnen, gegen ein persönliches Verhältnis zu Gott im Gebet ausspricht sowie in dem Gebet ein eher äußerliches Zeremoniell sieht, widerspricht dies dem Sinn des Gebets. Weiterhin ist der Interpretation Nietzsches das Gebot Jesu entgegenzuhalten, sich beim Beten nicht wie die Heuchler in der Öffentlichkeit zu präsentieren, sondern im Stillen hinter verschlossener Tür zum Vater zu beten, „der im Verborgenen ist“ (Mt 6,5f.). Das Beten eröffnet ein sehr persönliches, intimes Verhältnis zu Gott, dem sich der betende Mensch vollkommen anvertraut (Mt 7,7), wie es ein Pater treffend formuliert: „Gott, der Adressat des Gebets, hat uns von dem Zwang entpflichtet, unter Erfolgsdruck beten zu müssen, indem er das Gebet aus unseren Händen in die seinen nimmt. Dies bedeutet Glück und Last zugleich. Glück, weil unser Gebet in seinen Händen liegt. Last, weil sich daraus die Grundschwie62 63

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Nachlass 1887–88, 11 [279], KSA 13, 106. Kerger, Die sozialen Grundlagen einer Personalität des Handelns bei Nietzsche (s. Anm. 11), 123, sowie zu seinem „aus persönlichen Gründen und mit vollem Einsatz der Person“ geführten Kampf gegen das Christentum, Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 107. Nachlass 1887–88, 11 [275], KSA 13, 104. Hans-Ulrich Willms, Beten ist nicht schwer. Bei Gott einhängen, Stuttgart 1987, 38.

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HENRY KERGER rigkeit des Gebets ergibt. Nämlich, uns tatsächlich der Hand Gottes anzuvertrauen. Uns ganz und gar auf Ihn zu verlassen […] Wir möchten nicht auf Gnade angewiesen und abhängig sein […] Immer dann jedoch, wenn wir Ich sagen und dieses Ich Endstation bleibt […] bleiben wir zwangsläufig kleinkariert und auf uns selbst zurückgeworfen.“66

Darum bleibt Zarathustras Konzept einer performativen Selbsterlösung ein untauglicher Versuch, worauf unten noch einzugehen ist. Zudem erscheint es paradox, wenn Nietzsche sich einerseits gegen „das Ceremoniell von Gebeten“ wendet und andererseits Luther dessen Widerstand, Ressentiment gegen „die gute Etiquette“ der römisch-katholischen Kirche vorwirft, gegen „jene EhrfurchtsEtiquette des hieratischen Geschmacks, welche nur den Geweihteren“ direkten Zugang zu Gott gewährt.67

5 Die Person Jesu Christi War Jesus ein Anstifter zum Aufruhr, zu einem Volksaufstand? Starb Jesus als Individuum stellvertretend für die Menge, als einer aus dem Volke?68 Hat sich Jesus mit seiner Lehre gegen die römische Staatsmacht gewandt oder gegen die Institutionen der jüdischen Kirche? Jesus Christus ist den römischen Tod am Kreuz gestorben – zum Verdruss Nietzsches, der wegen seiner These, Jesus ginge es bloß um „Aufruhr gegen die Ordnung“, meint: „Bis dahin fehlte dieser kriegerische, dieser neinsagende, neinthuende Zug in seinem Bilde; mehr noch, er war dessen Widerspruch“ 69 – Stimmt das? Jesus hat sich ohne Scheu vor allen Bedrohungen und Gefahren sowohl der (jüdischen) Kirche als auch der römischen Staatsmacht gestellt und bedingungslos

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A. a. O., 38 f. GM II 22, KSA 5, 394. Zur Unterscheidung von Person und Individuum nach Nietzsches Kriterien: Kerger, Personalität versus Moralität (s. Anm. 4), 413f. AC 40, KSA 6, 213.

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ ausgeliefert. Bei seiner Gefangennahme verlassen ihn all’ seine Jünger (Mt 26,56), so dass er seinem Tod allein entgegen geht. Wäre es Jesus bloß um „Aufruhr gegen die Ordnung“ gegangen (wie Nietzsche scheinbar glaubt), so wäre er wahrscheinlich durch die Menge, das jüdische Volk gesteinigt worden, wie das in solchen Fällen zu geschehen pflegte. An einen derartigen Tod Christi als Individuum, stellvertretend für die Gesamtheit des Volkes, hatte offenbar zunächst der Hohepriester Kaiphas gedacht, als er äußerte, es sei besser, „dass einer aus dem Volk stirbt, als dass das ganze Volk Schaden nimmt.“ (Joh 11,50) Die Hohepriester hatten jedoch Aufruhr unter dem Volk gefürchtet, wenn sie öffentlich Hand an Jesus legten. (Mt 26,5; Joh 11,50; Mk 14,2). Jesus Christus starb den römischen Tod: er wurde als einzelner, als Person gekreuzigt, nicht als Anführer einer Menge und stellvertretend für sie. Ein von der Menge gesteinigter Christus könnte wohl schwerlich als Mensch gewordener Sohn Gottes personifiziert das Bild Gottes auf Dauer prägen. Als „Beweis“ dafür, dass Jesus wegen Aufruhr gegen die Ordnung „für seine Schuld“ den Tod am Kreuz gefunden habe, dient Nietzsche die Aufschrift des Kreuzes:70 „König der Juden.“ Diese Worte schrieb Pilatus, der Statthalter Roms, der in Jesus keinen Anführer eines Aufstands oder Aufruhrs erkennen konnte, weder gegenüber der Staatsmacht Rom noch innerhalb des jüdischen Volkes, gegen die tragenden religiösen Institutionen gerichtet. Jesus hat in keiner Weise zu einem Aufstand gegen Personen oder Institutionen der (jüdischen) Kirche angestiftet. Das behaupten nicht einmal die Hohepriester, die Jesus dem Statthalter Roms übergeben. Daran ändern auch nichts Ankündigungen wie: „sie werden euch aus der Synagoge ausstoßen“ (Joh 16,2) oder: „Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und den Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.“ (Mk 8,31f.) Jesus predigt jeden Tag im Tempel (Mt 26,55) und seine Reinigung des Tempels von Tätigkeiten, die in keinem Bezug zur Religionsausübung stehen, wird man kaum als Widerstand gegen die Kirche ansehen können. (Mt 21,12f.) Leistet Jesus dadurch Widerstand, dass er der Frage der Hohepriester nach seiner Vollmacht mit einer Gegenfrage begegnet, die sie ratlos macht? (Mt 21,23f.) – oder die Pharisäer 70

AC 40, KSA 6, 213.

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HENRY KERGER sprachlos bei der Frage nach dem Davidssohn? (Mt 22,41f.) Auch wenn Jesus am Sabbath Kranke heilt oder seine Jünger Ähren vom Boden aufheben lässt, wird man das kaum als einen Affront gegen die Institution Kirche interpretieren können – wenn auch der „Tempelprotest“ seine Gegner herausgefordert haben mag, die um ihren „religiösen Besitzstand“ besorgt waren.71 Es geht nicht um einen Aufstand, sondern darum, dass die Schrift durch den Tod Jesu Christi am Kreuz erfüllt werde (Mk 8,31f.). Der einzige Vorwurf, der Jesus ans Kreuz bringt, ist sein Bekenntnis, Gottes Sohn zu sein72 (Mt 26,64f.) und die Wiederholung dieses Bekenntnisses vor dem römischen Statthalter (Mt 27,11). Jesus bekennt sich zu seinem Menschsein als (Einzel-)Person, nicht als ein Individuum, als einer aus dem Volk, auch nicht als Vertreter der Kirche – denn er selbst ist gelebte Kirche, solange er als Mensch predigt, Kranke heilt und erlöst. Die Frage des Hohepriesters, ob Jesus der Christus sei, der Sohn Gottes (Mt 26,63), bedeutet die Frage nach dem Wer-Sein der Person.73 Im Sprechen und Handeln, Predigen und Heilen enthüllt Jesus seine Person, dass er der Christus ist, erschienen, damit die Schrift erfüllt werde. Auf die Enthüllung der Person Christi, der sich den Menschen ausliefert, beziehen sich wohl die Worte des Pilatus: „seht, welch’ ein Mensch!“ – mit Dornenkrone im Purpurmantel, ins Gesicht geschlagen, öffentlich verhöhnt, gedemütigt (Joh 19,5) – Ecce homo. Welch’ ein Mensch, der am Menschen leidet, der die im Menschen tief verankerte Lust und Bereitschaft zur Grausamkeit, einen anderen ungestraft misshandeln zu dürfen, erfährt: die Festfreude an der Grausamkeit, der öffentlichen Demütigung in der Bestrafung, an die Nietzsche die Fragen richtet: „in wiefern kann Leiden eine Ausgleichung von ‚Schulden‘ sein? Insofern Leiden-machen im höchsten Grade wohlthat […].(Rache selbst führt ja eben auf das Problem zurück: ‚wie kann Leiden-machen eine Genugtuung sein?‘)“74 Darin liegt die Frage nach

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Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 151. Joseph Ratzinger, Jesus von Nazareth, Erster Teil (s. Anm. 60), 350, 351, 370, 397f. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 8. Aufl., München 1996, 223f.; Kerger, Die sozialen Grundlagen einer Personalität des Handelns (s. Anm. 11), 124. GM II 6, KSA 5, 301.

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ dem letzten Grund, dem Wesen des Menschen, dessen ungezähmte Grausamkeit (die allenfalls sublimiert ist) immer noch auf das leidende Tier in ihm hindeutet.75 Diese Fragen sind stets Bestandteil einer umfassenden Kulturkritik Nietzsches, welche genealogisch Religion, Recht, Sitte und Moral mit starkem Bezug zur (seinerzeit als selbständige Disziplin erst in ihrer Entstehung begriffenen) Psychologie als Einheit untersucht. Aus diesem genealogischen Ansatz heraus weist Nietzsche auf die „immer wachsende Vergeistigung und ‚Vergöttlichung‘ der Grausamkeit […], welche sich durch die ganze Geschichte der höheren Cultur hindurchzieht (und, in einem bedeutenden Sinne genommen, sie sogar ausmacht).“76 Nietzsches genealogische Einsichten lassen ihn – soweit erkennbar – als ersten und einzigen die Gefahr eines Holocaust, der Shoah in einem seinerzeit einseitig nationalistisch geprägten Deutschland erkennen: „Beiläufig: das ganze Problem der Juden ist nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden, insofern hier überall ihre Thatkräftigkeit und höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht angehäuftes Geist- und Willens-Capital in einem neid- und hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kommen muss, so dass die litterarische Unart in fast allen jetzigen Nationen überhand nimmt – und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden –, die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen.“77

Der Jude Jesus Christus ist das Sinnbild des in seiner Passion verhöhnten Menschen (Lk 23,11), dessen Demütigung durch dumpfe Lust an der Verletzung, Quälerei eines Ausgestoßenen die Menge („Herrenmenschen“) endlich auch 75 76 77

GM II 16, KSA 5, 323. GM II 6, KSA 5, 301. Menschliches, Allzumenschliches (MA) I 475, KSA 2, 309f. Dort fordert Nietzsche dazu auf, man solle sich gegenüber dem Nationalismus „ungescheut als guten Europäer ausgeben“ und weist den Deutschen die Aufgabe zu, „durch ihre alte bewährte Eigenschaft, Dolmetscher und Vermittler der Völker zu sein“, daran mitzuwirken (ebd.); weiterhin ist auf Nietzsches Warnung vor einem „Hornvieh-Nationalismus“ hinzuweisen, „jetzt, wo alles auf größere und gemeinsame Interessen hinweist“ und „die geistige Unselbständigkeit und Entnationalisierung in die Augen springt“.

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HENRY KERGER einmal zu dem erhebenden Gefühl gelangen lässt, „ein Wesen als ein ‚Unter-sich‘ verachten und misshandeln zu dürfen.“ 78 In der Bestrafung eines aus der Gemeinschaft Ausgestoßenen, Andersartigen, Fremden liegt eine Kriegserklärung.79 Dass sich Jesus Christus der Willkür des Menschen ausliefert – entgegen der „Weisheit der Welt“ (Jes 29,14; 1 Kor 1,18f.) – offenbart insoweit eine kriegerische Haltung, wie Nietzsche zurecht feststellt.80 Pilatus kann nach seiner Untersuchung keine Schuld im weltlichen Sinne bei Jesus feststellen und fordert die Juden auf: „Nehmt ihn hin und kreuzigt ihn“ (Joh 18,38; 19,6) – aber sie haben Angst vor dem Mensch gewordenen Sohn Gottes. Die Aufschrift auf dem Kreuz, die Jesus aus der Hand von Pilatus als König der Juden ausweist, bedeutet also keine Anklage des römischen Statthalters, sondern die nach seiner Überzeugung zutreffende Bezeichnung für Jesus. Pilatus erkennt damit Jesus nach römischem Verständnis als Person an und wendet sich an das Volk: „Seht, das ist euer König!“ (Joh 19,14) Die Aufschrift bedeutet keine Verhöhnung oder Verurteilung eines Aufständischen oder Aufrührers. Diese personale Sichtweise steht im Einklang mit der römisch-christlichen Auffassung: „Die Person Jesu ist seine Lehre, und seine Lehre ist er selbst.“81 Jesus Christus war als Mensch und ist als Sohn Gottes Kirche – ohne eines Aufstandes gegen weltliche Ordnung zu bedürfen. Dass Jesus frei war von jedem Ressentiment, räumt sogar Nietzsche ein. 82 Der personalen Auffassung bedient sich Nietzsche auf seine Weise, indem er Jesus „zur personifizierten Negation des Christentums stilisiert.“83 Die Aufschrift auf dem Kreuz weist auf den Glauben an „Jesus als den Christus“. Christlicher Glaube bedeutet „das Annehmen dieser Person, die ihr Wort ist; des Wortes als Person und der Person als Wort.“84 Sofern Nietzsche dem christlichen 78 79

80 81 82 83 84

GM II 5, KSA 5, 300. GM II 13, KSA 5, 318. Kerger, Nietzsches normativ-institutionalistisches Postulat personaler Gerechtigkeit auf der Basis der Vollpositivität allen Rechts, Rechtstheorie 47 (2016), 443f., 456f. AC 40, KSA 6, 213. Ratzinger, Einführung in das Christentum (s. Anm. 60), 192. AC 40, KSA 6, 213. Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 98f. Ratzinger, Einführung in das Christentum (s. Anm. 60), 192.

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ Glauben entgegenhält, er sei „durch Paulus zu einer heidnischen Mysterienlehre“ verfälscht worden,85 ist darauf hinzuweisen, dass die frühe Christenheit sich „für den Gott der Philosophen […] für den Logos gegen jede Art Mythos, die definitive Entmythologisierung der Welt und der Religion“ entschieden hat.86 Der Erhöhung zur Rechten Gottes geht die Erniedrigung durch den Menschen voraus – zur Versinnbildlichung des Satzes: „wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht.“ (Mt 23,12; Lk 14,11; 18,14) – Darum ist der Entwurf Nietzsches einer (performativen) Selbsterhöhung durch Selbstüberwindung des Menschen im „Übermenschen“ zum Scheitern verurteilt. Zarathustra wartet umsonst auf die erhoffte Selbsterhöhung durch einen selbst konzipierten Untergang.87 Nietzsches Sichtweise, wonach das Erscheinen und Wirken von Jesus Christus vor allem einen Bruch mit der bisherigen religiösen Ordnung und Lehre darstellt, verkennt oder vernachlässigt, dass „das stellvertretende Leiden und die Herrlichkeit des Knechtes Gottes“ bereits mehrfach im Alten Testament angekündigt wird – bei Jesaja, Kap. 53 sowie im 5. Buch Mose, wenn Gott ankündigt: „Ich will ihm meine Worte in den Mund legen, und er wird ihnen alles sagen, was ich ihnen auftrage (Dtn 18,18). Jesus Christus ist nicht gekommen, „das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (Mt 5,17).88

6 Rom: Ursprung der weltlichen Macht des Christentums Die „kriegerische“ Haltung von Jesus Christus, dem gewissen Tod nicht auszuweichen, „das Vorbildliche in dieser Art zu sterben“89 und sich zu seinem Wer85 86

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Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 100. Ratzinger, Einführung in das Christentum (s. Anm. 60), 127; zur christlichen Mystik „der Begegnung mit dem Geist Gottes in dem uns vorausgehenden Wort“: ders., Jesus von Nazareth, Erster Teil (s. Anm. 60), 165. Z III, Von der Seligkeit wider Willen, KSA 4, 297. Ratzinger, Jesus von Nazareth, Erster Teil (s. Anm. 60), 309. AC 40, KSA 6, 213.

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HENRY KERGER Sein zu bekennen, könnte ein Grund dafür gewesen sein, dass der römische Kaiser Flavius Valerius Constantinus vor einer entscheidenden Schlacht im Jahr 312 das Christentum buchstäblich auf den Schild gehoben hat. Wie aus verschiedenen Quellen berichtet wird, hat Konstantin vor der Schlacht gegen seinen Rivalen Maxentius an der Milvischen Brücke vor Rom das christliche Symbol des Kreuzes auf die Schilde seiner Soldaten malen lassen, nachdem Gott ihm im Traum erschienen sei und verkündet habe, dass er mit dem christlichen Symbol siegreich sein werde. Konstantin siegte, nicht nur gegen Maxentius, sondern in allen weiteren Schlachten, denen er sich im Zeichen des Christentums stellte (auch dann, wenn sein Heer dem seiner Gegner zahlenmäßig unterlegen war). Konstantin der Große beließ es nicht bei der äußerlichen Verwendung des christlichen Symbols auf den Schilden seiner Soldaten, sondern bekannte sich öffentlich zum christlichen Glauben. Ab dem Jahr 312 setzt die „konstantinische Wende“ in der römischen Religionspolitik ein: damit wird das Christentum, der christliche Glaube zur römischen Staatsreligion, es ist der Beginn der römischkatholischen Kirche. Es ist hier nicht der Ort, auf die römische Kirchengeschichte des Christentums näher einzugehen und würde den vorgegebenen Rahmen bei weitem sprengen. Erwähnt sei hier nur, dass Konstantin im Jahr 325 das Erste Konzil von Nicäa einberufen hat 90 und damit die Idee eines weltlichen Statthalters Gottes, eines „Allerchristlichsten Kaisers“ – Imperator Christianissimus – begründet hat. Das Verschmelzen des Christentums mit der römischen Kultur fand auch äußerlich seinen Ausdruck z. B. darin, dass die Form der römischen Versammlungshalle, der Basilika, die Architektur der christlichen Kirchen bis heute prägt. Ein siegreicher römischer Kaiser hat also dem Christentum in Rom zum Durchbruch verholfen – nicht jedoch ein Sklavenaufstand, nicht das Ressentiment der sog. „Schlechtweggekommenen“, wie Nietzsche behauptet.91 Jesus fordert nicht zum Sturz des römischen Kaisers Augustus auf: „so gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21). Die christliche Lehre ist keine „Sklaven-Moral“ (so Nietzsche), die zu einem Aufstand gegen Rom anstiftet! Rom ist auch nicht wegen der Übernahme des Christentums in die eigene 90 91

Ratzinger, Jesus von Nazareth, Erster Teil (s. Anm. 60), 369. GM I 16, KSA 5, 285 f.

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ Kultur dem Christentum „unterlegen“, wie Nietzsche scheinbar genealogisch nachzuweisen vorgibt. Im Gegenteil: das Verschmelzen mit dem Christentum sichert seit dem Untergang des Imperium Romanum bis in die Gegenwart den Fortbestand der römischen Kultur – nicht zuletzt auch in Frankreich. Ohne das Verschmelzen der römischen Kultur mit dem Christentum wäre das Aufblühen Roms in der Renaissance undenkbar. Nietzsche findet es „merkwürdig“, dass trotz der von ihm konstatierten „Unterlegenheit“ Roms gegenüber der jüdischchristlichen Religion ein Aufblühen der römischen Kultur in der Renaissance möglich war,92 weil er von falschen Annahmen ausgeht. Es geht hier vielmehr um ein sehr erfolgreiches Verschmelzen der Kulturen. Person und Wirkungsgeschichte des römischen Kaisers Konstantin sind geeignet, Nietzsches Deutung der Geschichte Roms sowie sein eiferndes antichristliches Ressentiment zu erschüttern, wonach das Christentum angeblich für den Niedergang Roms verantwortlich sein soll. Aus diesem Grunde kann es nicht verwundern, dass Nietzsche in seinem gesamten Werk den römischen Kaiser Konstantin mit keinem einzigen Wort erwähnt. Nietzsches antichristliche Deutungsweise mit genealogischem Anspruch sei an einem weiteren Beispiel veranschaulicht. Dass sich die frühchristliche Kirche seit dem Bekenntnis von Nicäa im Jahr 325 unter der Leitung Konstantins – wonach der Logos Jesu aus dem Wesen Gottvaters entstanden ist – „für den Gott der Philosophen“93 entschieden hat, versucht Nietzsche dahingehend umzudeuten, Gott werde dadurch „zum Widerspruch des Lebens“,94 zum bloßen Begriff, zum Ideal, zum „reinen Geist“ und Ding an sich, d. h. zum Objekt der Metaphysiker, der „Begriffs-Albinos“. 95 Dazu steht es in einem gewissen Widerspruch, wenn Nietzsche sich umgekehrt gegen eine angebliche „principielle Verachtung […] der Vernunft, der Philosophie und Weisheit“ seitens des Christentums empört.96 Sofern Nietzsche dem Christentum eine „übermäßige Wichtigtuerei der Person“ sowie den „Glauben an die ‚ewige Person‘“ als Einwand entgegenhält, 92 93 94 95 96

GM I 16, KSA 5, 287. Ratzinger, Einführung in das Christentum (s. Anm. 60), 127. AC 18, KSA 6, 185. AC 17, KSA 6, 184. Nachlass 1887, 10[184], KSA 12, 566.

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HENRY KERGER wendet er sich gegen die römische Auffassung und seine eigenen Äußerungen zur Person im rechtlich-sozialen Sinne.97 Er geht so weit, das personale Gottesverständnis als „kirchliche Kruditität“ anzuprangern. 98 Darin liegt der Versuch Nietzsches, die römische Auffassung der Person in Frage zu stellen, soweit sie für das Christentum und einen damit verbundenen Fortbestand der römischen Kultur tragend ist.99 Wenn Nietzsche der römisch-christlichen Kirche vorhält, sie bestehe eher aus formalen Prozeduren („Formeln, Riten, Dogmen statt einer Praxis des Lebens“) – während christlich die „vollkommene Gleichgültigkeit gegen Dogmen, Kultus, Priester, Kirche, Theologie“ bedeute – so ist zu fragen, wie eine „kleine aufständische Bewegung“ ohne institutionalisierte Praxis des Glaubens und Schaffung dauerhafter Institutionen anders hätte überleben können. Sollte die kleine frühchristliche Gemeinde als permanente Widerstandsbewegung fortbestehen? – getragen etwa durch ein gegen Rom gerichtetes „Ressentiment“, wie es Nietzsche dem Christentum vorhält und wie es nie bestanden hat? – Vielmehr wendet sich Christus gegen den „Hass der Welt“ (Joh 15,18), d. h. gegen jede Form von Ressentiment.

7 Gerechtigkeit durch Vergeben der Schuld Nietzsches Ringen mit dem Tod Jesu Christi am Kreuz betrifft nicht nur die Frage(n) nach der Schuld des Menschen und ihre personale Zurechnung. Darüber hinaus wendet sich Nietzsche mit Nachdruck gegen den christlichen Gedanken und Glauben an die Erlösung des Menschen – sowie dessen Auferstehung.

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Kerger, Die sozialen Grundlagen einer Personalität des Handelns (s. Anm. 11), 109f.; ders., Personalität versus Moralität als Basis der Gerechtigkeit (s. Anm. 60), 412f . Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 123, 136 m. w. Nachw. zu Antichrist 43. Zur Widersprüchlichkeit der gegen das Christentum gewandten Äußerungen Nietzsches: Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 85.

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ Da Nietzsche jedwede moralische Schuld und Sünde leugnet, erscheinen ihm Mitleid, Barmherzigkeit und auch Vergebung verzichtbar.100 Er scheut auch hierbei in seinem antichristlichen Ressentiment nicht davor zurück, seinen eigenen Einsichten zu widersprechen, wonach Rache niemals Basis der Gerechtigkeit sein kann.101 Auch der christliche Gedanke der Erlösung bezieht sich auf die Person des Menschen, denn menschliche Schuld ist stets auf die Person bezogen – ebenso wie sich die Vergebung „auf die Person und niemals auf die Sache bezieht.“102 Weil der Mensch nur von seiner persönlichen, personenbezogenen Schuld und seinem personalen Dasein erlöst werden kann, bedeutet Erlösung „Verewigung der Person“ – im Unterscheid zu einer „ewigen Wiederkehr des Gleichen“, wonach der Mensch stets auf sich zurückgeworfen ist. Darauf ist noch näher einzugehen. Für Nietzsche bedarf es scheinbar keiner Vergebung der Schuld, ebenso wenig wie der Barmherzigkeit und Gnade, zumal Unrecht scheinbar moralisch irrelevant ist. 103 „Eure kalte Gerechtigkeit“ ist ihm zuwider und Nietzsches erklärte Gegner sind „die Guten und Gerechten“, denn „sie kreuzigen die, welche sich ihre eigene Tugend erfinden.“104 Demnach soll der Mensch sich selber sein Böses und Gutes geben, seinen Willen wie ein Gesetz über sich aufhängen, sein eigener Richter und Rächer sein. Schuld reduziert sich damit auf eine willkürliche Selbstverpflichtung und erbarmungslose Selbstbestrafung auf Grund einer Selbstgesetzgebung: – „Furchtbar ist das Alleinsein mit dem Richter und Rächer des eigenen Gesetzes. Also wird ein Stern hinausgeworfen in den öden Raum und in den eisigen Atem des Alleinseins.“105

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Etwa Z I, Vom Biss der Natter, KSA 3, 88: „Eine kleine Rache ist menschlicher als gar keine Rache.“ Zur Mitleidslosigkeit des Übermenschen: Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 104 m. w. Nachw. GM II 11, KSA 5, 310. Kerger, Personalität versus Moralität (s. Anm. 60), 410. Arendt, Vita activa (s. Anm. 73), 308; Kerger, Personalität versus Moralität (s. Anm. 60), 422. Z I, Vom Biss der Natter, KSA 3, 88: „Der soll das Unrecht auf sich nehmen, der es tragen kann.“ Z I, Vom Wege des Schaffenden, KSA 4, 82. Z I, Vom Wege des Schaffenden, KSA 4, 81.

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HENRY KERGER Ist dieses erbarmungslose, eisige Richten nach eigenem Gesetz menschlicher als „eure kalte Gerechtigkeit“? Wer erlöst den Menschen von den Folgen seiner Tat, wenn es Vergebung, Barmherzigkeit, Gnade nicht gibt? Scheinbar bedarf es für Nietzsche nicht der Erlösung von weltlicher Ungerechtigkeit, persönlich erlittenem Unrecht und seelischen Verletzungen. Er besteht auf „vornehmer“ menschlicher Distanz des Schaffenden in seiner Einsamkeit und Scham vor dem Menschen und seiner Natur – etwa aus Gründen der Ästhetik? Darum mag er sie nicht, „die Barmherzigen, die selig sind in ihrem Mitleiden: zu sehr gebricht es ihnen an Scham.“106 Nietzsche wendet sich mit Nachdruck gegen jede Form des Mitleidens als Ausdruck christlicher Moral. Leid scheint für Nietzsche eher ein Problem der Erkenntnis zu sein. Im Leid sieht Nietzsche für den Erkennenden ein Mittel, „mit Verachtung […] der gemütlichen warmen Nebelwelt“ zu entsagen und „der Seele so das bitterste Leid zu machen.“107 Er geht so weit, in den letzten Worten des leidenden Christus am Kreuz – Eli, Eli lama asabtani? (Mt 27,46) – ein Zeichen „allgemeiner Enttäuschung und Aufklärung über sein Leben“ sehen zu wollen.108 Dies gelte ebenso für die letzten Worte Don Quixotes,109 worin dieser sich betend an Gott in der Hoffnung und Gewissheit wendet, dass sein Leben und Handeln sich mit Gottes Hilfe noch zum Guten wenden lässt. Das Leiden im Sterben sei Chance und Verführung zu einer „schauerlichen Hellsichtigkeit“, zu „tyrannischer Willkür“ gegen sich selbst im Dienste unbarmherziger Erkenntnis: „sei einmal dein eigener Ankläger und Henker, nimm’ einmal dein Leiden als die von dir über dich verhängte Strafe! Geniesse deine Überlegenheit als Richter; mehr noch: 106 107 108

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Z II, Von den Mitleidigen, KSA 4, 113. Morgenröthe (M) II 114, KSA 3, 105. M II 114, KSA 3, 105; Neiman, Das Böse denken, Nietzsche über Erlösung (s. Anm. 18), 318, formuliert im Sinne Nietzsches die Unmöglichkeit, aus christlicher Sicht anstelle einer dem Ideal entsprechenden Welt die Wirklichkeit zu bejahen: „Könnte man ein solches Leben wollen – oder wäre es wirklich gottverlassen? […] Wenn hingegen Christen sich von ihrem Gott vorstellen, daß er herabgekommen ist, um unter ihnen zu leben, wird das einzige Leben, das sie zu bieten haben, den selbstlosesten Menschen veranlassen, sich nach einer anderen Welt zu verzehren.“ Miguel de Cervantes Saavedra, Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha, übers. von Ludwig Tieck, Zürich 1987, 1006.

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ geniesse dein Belieben, deine tyrannische Willkür! Erhebe dich über dein Leben wie über dein Leiden, sieh’ hinab in die Gründe und die Grausamkeit!“110 Dabei ist Nietzsche jedoch bewusst, dass eine Selbstüberhebung über das Leben, das Leid und den Schmerz nach Demut vor der Schöpfung, vor dem Leben verlangt gemäß dem Grundsatz: wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht (Mt 23,12; Lk 14,11; 18,14). So erniedrigt sich Zarathustra, der Verkünder des Übermenschen, vor der Menge auf dem Marktplatz, nachdem der Seiltänzer von einem „Possenreißer“ (als Allegorie des Übermenschen) auf dem Seil übersprungen wurde, abgestürzt ist und von Zarathustra im letzten Augenblick seines Lebens Zuwendung erfährt. Das kommentiert der unfreiwillige Darsteller des Übermenschen mit den an Zarathustra gerichteten Worten: „Dein Glück war es, dass du dich dem todten Hund geselltest; als du dich so erniedrigtest, hast du dich selber für heute errettet.“111 Bei der Selbsterniedrigung muss sich Nietzsche allerdings erneut gedanklich verrenken, indem er wiederum mit antichristlicher Attitüde gegen die Person und Persönlichkeit des Menschen Stellung bezieht: „Wir demüthigen ohne Dankbarkeit den allmächtigen Stolz, durch den wir eben Schmerz ertrugen, und verlangen heftig nach einem Gegengift des Stolzes: wir alle wollen uns entfremdet und entpersönlicht werden, nachdem der Schmerz uns zu gewaltsam und zu lange persönlich gemacht hatte.“112

Diese Äußerung Nietzsches steht in krassem Widerspruch zu anderen von ihm selbst.113 Wenn er schließlich dazu auffordert, im Dienste hellsichtiger Erkennt110

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M II 114, KSA 3, 105; Neiman, Das Böse denken, Nietzsche über Erlösung (s. Anm. 18), 334, erkennt treffend darin den erkenntnistheoretischen und ästhetischen Ansatz bei Nietzsche, denn „einen einzigen Augenblick zu wollen, heißt, diesen zu bejahen, ohne nach seinem Sinn zu fragen.“ Wäre man dazu imstande, wäre es möglich, die Welt als ganzes zu bejahen. Somit ist die Bejahung des eigenen Leidens „eine ganz und gar ästhetische Angelegenheit“. Z, Vorrede 8, KSA 4, 23. M 114, KSA 3, 105. Kerger, Die sozialen Grundlagen einer Personalität des Handelns (s. Anm. 11), 123;

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HENRY KERGER nis das Leiden als die vom Leidenden, Kranken über sich selbst verhängte Strafe anzunehmen, so entspricht diese Haltung vollkommen dem von Nietzsche selbst so nachdrücklich abgelehnten asketischen Ideal, „alles Leiden unter die Perspektive der Schuld“114 zu bringen sowie der von ihm ebenso nachdrücklich abgelehnten „Ideen-Verhäkelung ‚Schuld und Leid‘“,115 der Annahme eines entsprechenden Äquivalenzverhältnisses. Susan Neiman weist sehr treffend darauf hin, dass sich darin „eben jener instrumentalisierende Theodizeeansatz“ zeigt, den Nietzsche sonst ablehnt.116 Nietzsches Äußerungen zur Frage nach dem Sinn des Leidens sind zudem ein prägnantes Beispiel dafür, dass er sich in seinem Denken an christlichen Leitvorstellungen orientiert.117 Daraus spricht auch die Utopie/Vision einer Selbsterlösung durch Selbsterhöhung des Menschen über sein Leben im „Übermenschen“. Auf diese Weise glaubt Nietzsche, dem „Leben gegen den Tyrannen“, den Schmerz zum Recht und zum Sieg verhelfen zu können – was wiederum instrumentalistisch anmutet.118 Die Willkür, eine schonungslose Unbarmherzigkeit und Kälte eines distanziert „übermenschlichen“ Erkennens (das bisweilen materialistisch-anorganisch erscheint) richtet Nietzsche nicht zuletzt auch gegen sich selbst, der er sich nach Erlösung vom und durch das Leiden im Menschsein, dem Ecce homo sehnt. In dieser erbarmungslosen, gegen sich selbst gerichteten Willkür liegt m. E. ein Grund für seinen persönlichen Zusammenbruch, der als Akt eines inszenierten Untergangs interpretiert werden könnte, um in sich selbst (scheinbar Jesus

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zu den Widersprüchen bei Nietzsche: Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 85. GM III 28, KSA 5, 411. GM II 6, KSA 5, 300. Neiman, Das Böse denken, Nietzsche über Erlösung (s. Anm. 18), 331: „Dieses Leiden soll man nun begrüßen, weil es die Bedingung für Seelengröße sei. Ist das aber nicht eben jener instrumentalisierende Theodizeeansatz, den Nietzsche sonst kritisiert? Hätte das Leiden nur als Mittel zu höheren Zwecken Sinn?“ A. a. O., 332: „Das sind Bilder, mit denen Nietzsches christlichen Vorstellungen, welche das Leiden heiligen, dermaßen nahe kommt, daß beides kaum noch auseinanderzuhalten ist.“ A. a. O. 333: „Zu sagen, es bedürfe des Leidens, um an ihm seelisch zu wachsen, verleiht ihm immer noch dadurch Sinn, daß aus ihm etwas anderes gemacht wird.“

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ folgend) eine „Selbstauflösung“ des Christentums zu vollziehen: „In mir überwindet sich das Christentum“ (Antichrist 34).119 Eine rückbezügliche Anwendung des Gedankens der Selbstauflösung sieht Eugen Biser in einer „Aufhebung der Verneinung in dem Verneinten“, wenn Nietzsche sich mit Jesus Christus identifiziert, als der Gekreuzigte (worauf unten noch näher einzugehen ist). Nietzsches auf Christus bezogene Worte „Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, die ihm Böses tun“, sind demnach auf ihn selbst anwendbar.120 Am Ende stellt sich die Frage nach Gerechtigkeit und Erlösung des Menschen von den Folgen seines Handelns, wenn allgemein geltende Maßstäbe fehlen und der Mensch sein eigener Richter sein soll: „Aber wie wollte ich gerecht sein von Grund aus! Wie kann ich jedem das Seine geben! Dies sei mir genug: ich gebe Jedem das Meine.“121 Das bedeutet nicht, dass Gerechtigkeit nach Nietzsche an individuelle Subjektivität gebunden ist, wenn er fordert: „Sagt, wo findet sich die Gerechtigkeit, welche Liebe mit sehenden Augen ist? […] So erfindet mir doch die Gerechtigkeit, die jeden freispricht, ausgenommen den Richtenden!“122 Diese Forderung steht vollkommen im Einklang mit dem christlichen Gebot: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden: und nach welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden“ (Mt 7). Nach christlichem Verständnis ist jedermann ein Sünder und die Schuldigen sollen nicht Richter ihresgleichen sein. Für Jesus Christus waren also „alle Richter der weltlichen Gerechtigkeit […] so schuldig wie die von ihm Verurteilten, und ihre Miene der Schuldlosigkeit schien ihm heuchlerisch und pharisäerhaft.“123 Im Unterschied zur christlichen Lehre, wonach Gerechtigkeit dadurch entsteht, dass Jesus Christus die Strafe für die Sünden der Welt auf sich nimmt – so etwa in Jesaja 53,5 –, fordert Nietzsche, wie oben bereits ausgeführt, eine Gerechtigkeit, welche zudem von aller Schuld befreit. Der christlichen Vorstellung der Erbsünde des Menschen setzt Nietzsche offenbar die

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Zu dieser „kalkulierten Doppelstrategie“: Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 91. Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 111f. Z I, Vom Biss der Natter; KSA 5, 88. Ebd. Ebd.

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HENRY KERGER Schuldlosigkeit des Daseins entgegen, auch als grundlegenden Einwand gegen die (christliche) Moral. Das Problem des Bösen im Sinne der christlichen Moral sieht Nietzsche in dem Verlangen, dass „unserem menschlichen Wohlbefinden die Einrichtung der Welt entspricht“,124 d. h. in der Verurteilung und Negation der realen Welt durch eine Fiktion ihres Idealzustandes. Das prägnante Beispiel, Symbol für die mit einer fiktionalen Idealisierung verbundenen Verachtung der realen Welt ist nach Überzeugung Nietzsches das Christentum, „für das die natürliche Welt der Ort allen Übels ist: das Elend, unter dem wir unablässig leiden, als Strafe für das Böse, das wir unablässig zufügen.“125 Wenn eine „übernatürliche Welt“ die Negation der bestehenden bedeutet, so stellt sich allerdings die Frage, ob das nicht auch für die Vision eines Übermenschen sowie die „Lehre von der ewigen Wiederkehr“ gilt – zumal Nietzsche die Metaphysik überwinden will. Die christlich-moralische Vorstellung des Bösen bestimmt weiterhin die Bewertung einer Handlung nach den Folgen, welche später unabhängig davon auf die Handlung selbst angewendet wird, als ob die Eigenschaft „gut“ oder „böse“ ihr selbst angehört, also Wirkung als Ursache genommen wird: „Sodann legt man das Gut- oder Böse-sein in die Motive hinein […]. Man geht weiter und giebt das Prädicat gut oder böse […] dem ganzen Wesen eines Menschen […]. So macht man der Reihe nach den Menschen für seine Wirkungen, dann für seine Handlungen, dann für seine Motive und endlich für sein Wesen verantwortlich.“126

Das Wesen des Menschen ist demnach notwendige Folge aus „den Elementen“ sowie den Einflüssen seiner Umwelt. Somit ist der Mensch „für nichts verantwortlich zu machen, weder für sein Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen, noch seine Wirkungen“. Vielmehr beruht die Lehre von der Verantwortlichkeit des Menschen auf der Annahme einer Freiheit des Willens gemäß metaphysischen Kausalvorstellungen sowie einer daraus folgenden Abtrennung des 124 125 126

Nachlass 1886–87, 5[100], KSA 12, 227. Neiman, Das Böse denken, Nietzsche über Erlösung (s. Anm. 18), 316. MA I 39, KSA 2, 62 f.

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ Täters von seiner Tat. Das Dasein unter all seinen Bedingungen ist dem Täter nicht vorwerfbar, denn es ist „ungereimt, die Natur und die Notwendigkeit zu tadeln“ – darum drängt sich die Hypothese auf, „daß auch unser Wollen in jedem Falle ein Müssen sei“.127 Die Unergründlichkeit einer Handlung,128 deren bewusst werdende und von der Handlung getrennte Absicht Begleiterscheinungen, nicht aber Ursache des Handelns sind, führen Nietzsche zur Einsicht in die Unverantwortlichkeit des Menschen und die Unabwertbarkeit seines Daseins. Für menschliches Handeln gelten die Worte Jesu Christi am Kreuz: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ 129 Darum gehört das Vergeben untrennbar zur Gerechtigkeit, denn „könnten wir einander nicht vergeben, d. h. uns gegenseitig von den Folgen unserer Taten wieder entbinden, so beschränkte sich unsere Fähigkeit zu handeln gewissermaßen auf eine einzige Tat, deren Folgen uns bis an unser Lebensende im wahrsten Sinne des Wortes verfolgen würden“130 – der Mensch sähe sich also „immer […] als Einer That Thäter“, wie der „bleiche Verbrecher“.131 Die Einsicht in die „völlige Unverantwortlichkeit und Unschuld jedermanns“ ist geeignet, die weltliche Gerechtigkeit aus den Angeln zu heben und scheint in ihrer Zielrichtung mit der christlichen Lehre übereinzustimmen – allerdings gerade aus dem umgekehrten Ansatz, der eine „völlige Verantwortlichkeit und Verschuldung Jedermanns“ ausschließt. 132 Nietzsche stimmt mit der christlichen Lehre insoweit überein, als es um die Aufhebung der weltlichen Gerechtigkeit aufgrund menschlicher Schuldzuweisung geht, also darum, „das Richten und Strafen aus der Welt [zu] schaffen“ (ebd.) – also für die Vergebung und gegen die Vergeltung (Nemesis) aller Schuld. Das menschliche Maß der Schuldzurechnung nach Gut und Böse verweist vielmehr auf den Menschen selbst: „Kannst du dir selber dein Böses und Gutes geben

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Nachlass 1883–84, 24[15], KSA 10, 652. Kerger, Die sozialen Grundlagen einer Personalität des Handelns bei Nietzsche (s. Anm. 11), 125. Arendt, Vita activa (s. Anm. 73), 305. A. a. O., 302. Z I, Vom bleichen Verbrecher, KSA 4, 46 MA II, WS 81, KSA 2, 588.

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HENRY KERGER und deinen Willen über dich aufhängen wie eine Gesetz? Kannst du dir selber Richter sein und Rächer deines Gesetzes?“133 Bleibt die weltliche Gerechtigkeit im Denken Nietzsches an das Gesetz, an die Positivität des Rechts gebunden, so verweist sie damit auf die Personalität des Menschen, auf sein Gutes und Böses, wie es in seinem Handeln offenbar wird.134 Darum ist die Hoffnung auf Erlösung des Menschen durch die „dualistische Fiktion eines guten und bösen Gottes“ nach menschlichen Vorstellungen von Gut und Böse untauglich und müßig.135 Ist der Gott in der Gestalt von Jesus Christus eine Fiktion nach menschlichem Gut und Böse? Der Mensch erfindet sich Ungeheuer wie Moloch und Baal (oder die launisch-vermenschlichten griechisch-römischen Götter), vor denen er sich fürchten, in denen er sich wiedererkennen kann. Jesus Christus widerspricht viel zu sehr menschlichen Erwartungen und Wunschvorstellungen. Was Jesus Christus lebt und predigt, ist viel zu gut und „übermenschlich“, als dass es menschlicher Geist ersonnen haben könnte: es wäre unpopulär und ließe sich schlecht verkaufen – entsprechend der populistisch-antichristlichen Attitüde Nietzsches: „Was läge an einem Gott, der nicht Zorn, Rache, Neid, Hohn, List, Gewalttat kennte“ (Z IV, Außer Dienst). Ein solcher, vom Menschen geschaffener Gott wäre eher unterhaltsam. Zu den Gefahren eines sich vom tradierten Verständnis und vom II. Vatikanischen Konzil abwendenden, populistisch „historisierenden“ Gottesverständnisses in der Gegenwartstheologie sei auf die instruktiven Äußerungen von Eugen Biser hierzu verwiesen.136

8 Erlösung des menschlichen Daseins Die weltlich-menschliche Gerechtigkeit kann daher nicht die Schuld wegen der Versündigung am Dasein eines Menschen in seiner Unabwertbarkeit vor Gott vergeben, wofür Jesus Christus am Kreuz gestorben ist. Die Aufgabe, dem

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Z I, Vom Wege des Schaffenden, KSA 4, 81. Kerger, Die sozialen Grundlagen einer Personalität des Handelns bei Nietzsche (s. Anm. 11), 109f., 112. Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 93. A. a. .O., 143.

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ menschlichen Dasein in Ansehung aller Schuld und seiner Unabwertbarkeit vor Gott gerecht zu werden, kann nicht durch menschliches Recht und Gesetz gelöst werden. Die Lösung dieser Aufgabe ist auf Erlösung des Daseins angewiesen, wie Gott sie in der Gestalt seines Sohnes durch Übernahme aller Schuld und den Tod am Kreuz gewährt (2 Kor 5,21): „Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt“.

Um dem Dasein gerecht werden zu können, ist der Mensch demnach auf das Geschenk der Erlösung angewiesen, das er durch eigenes Handeln nicht erreichen kann. Nietzsche scheint dem zunächst den Entwurf einer Selbsterlösung des Menschen von seinem Dasein in Gestalt seiner „ewigen Wiederkehr […] zu diesem gleichen und selbigen Leben“137 entgegen zu stellen, durch die der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen wird.138 Die Erlösung des Menschen von seiner Vergangenheit beruht dann – gemäß dem Gedanken der ewigen Wiederkehr – darauf, „alles ‚Es war‘ umzuschaffen in ein ‚So wollte ich es!‘“139 Hierbei könnte es sich jedoch um eine „bloß geistige Übung“ handeln, 140 wodurch nicht der 137

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Z III, Der Genesende 2, KSA 4, 277 f.: „oh Zarathustra, […]: siehe, du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft – das ist nun dein Schicksal! […] Die Stunde kam nun, dass der Untergehende sich selber segnet. Also – endet Zarathustras Untergang“. Zum gedanklichen Zusammenhang zwischen der ewigen Wiederkunft und der Freiheit von Schuld und Verantwortung bei Nietzsche: Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, Das Denken. Das Wollen. 7. Aufl., hg. von Mary McCarthy, München 2014, 398. Vgl. dazu Z III, Vom Gesicht und Rätsel 1, KSA 4, 198: „Verurtheilt zu dir selber und zur eignen Steinigung: oh Zarathustra, weit warfst du ja den Stein – aber auf dich wird er zurückfallen!“ – zu der Frage aus philologischer Sicht, inwieweit Nietzsche mit derartigen Äußerungen gerade im Zarathustra eine „Parodie seiner selbst“ zum Zweck einer „Neubegründung des Tragischen“ betreibt: Christian Benne, Incipit parodia – noch einmal, in: Gabriella Pelloni/Isolde Schiffmüller (Hg.), Pathos, Parodie, Kryptomnesie: Das Gedächtnis der Literatur in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, Heidelberg 2015, 49ff. Z II, Von der Erlösung, KSA 4, 179. Arendt, Vom Leben des Geistes, 397.; Nietzsche spricht davon, dass der in der Zeit

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HENRY KERGER Mensch, sondern allenfalls sein Wollen erlöst werden kann – vorausgesetzt, dass sich der Wille des Menschen kraft seines Wollens von dem in der Vergangenheit so nicht Gewollten selbst erlösen kann. Erlösung ist noch „etwas anderes als Wiedergutmachung.“141 Bedeutet Erlösung, dass der Wille, soweit er durch sein Gewolltes an die Vergangenheit, das Geschehene gebunden ist, von seiner Vergangenheit befreit werden muss? Bedarf es dazu des Übermenschen? Ist die Konzeption der Selbstüberwindung durch ewige Wiederkehr des Gleichen, Vergangenen (des in der Vergangenheit Gewollten) „unmittelbar seelenrettend“?142 Wenn es darum geht, die Vergangenheit zu erschaffen, um auf die reale Gegenwart Einfluss zu nehmen, d. h. „um das eigene Schicksal in seiner Gänze so zu wollen“, so bedeutet dies, den Gegensatz von Gut und Böse aufzuheben. Dann hätte man „nun das Böse selber zu wollen, und zwar sowohl das, was wir tun, als auch das, was wir erleiden.“143 Wie Susan Neiman zutreffend feststellt, gibt es bei Nietzsche zahlreiche Äußerungen über den Wert des Leidens. Wenn die „Zucht des Leidens, des großen Leidens“ der Grund für allen menschlichen Fortschritt ist und im Menschen Geschöpf und Schöpfer vereint sind, so liegt es nahe, das Leiden ebenfalls als Grund für Erlösung zu nehmen, was auf die christliche Lehre hindeutet.144

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gefangene Wille, der nicht zurück wollen kann, sich „närrisch erlöst“, indem er Rache nimmt und seine widerwillige Ohnmacht gegen die (vergangene) Zeit als Strafe deutet. Ein abgewandelter Versuch närrischer Erlösung zeigt sich in einer fragwürdigen metaphysisch-existentialistischen Deutung des Willens bei Nietzsche, wonach „der Wille das Sein ist“ und „die ewige Wiederkehr des Gleichen der höchste Triumph der Metaphysik des Willens“. Erlösung ist demnach auf Erlösung des Willens „von der Rache“ des Widerwillens im Willen selbst gerichtet, so Martin Heidegger, Was heißt Denken?, 4. Aufl., Tübingen 1984, 37f., 43. Dagegen stellt Nietzsche fest: „Der Wille zur Macht ist nicht ein Sein“; hierzu Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), 31 u. 44; ders., Das Willenswesen und der Übermensch. Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretationen, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), 132f., 147. Neiman, Das Böse denken, Nietzsche über Erlösung (s. Anm. 18), 325. Wie Neiman, a. a. O., 326, annimmt. A. a. O., 327f. A. a. O., 328 f.

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ Nietzsches Konzeption einer Selbsterlösung durch eine Selbstüberwindung des Menschen nach eigenen, selbstgegebenen Geboten (Z III, Von alten und neuen Tafeln) könnte die Offenbarung des Johannes als Vorbild oder Anregung gedient haben: die Selbstüberwindung des Menschen durch Einhaltung der Gebote Gottes und Erhaltung seiner Werke (Offb 2,26; 3,5.21; 15).145 Wie kann sich jedoch der Mensch nach eigenen, selbstgeschaffenen Geboten, durch Selbstgesetzgebung überwinden? Vom Menschen sich selbst auferlegte Gebote sind Ergebnis seines Gut und Böse, von dem er sich gerade zu erlösen hofft. Darum ist Nietzsches Konzeption einer Selbsterlösung durch Selbstüberwindung – wie er sie durch Zarathustra verkünden lässt146 – nach selbstgeschaffenen menschlichen Regeln vergeblich. Zarathustra flieht vor den Menschen zu den Tieren,147 lässt sich auf das Leben unter Menschen nicht ein und wartet zuletzt vergeblich auf „sein“ erlösendes Schicksal.148 Das Schicksal Zarathustras ist die Ereignislosigkeit, er ist am Geschehen nicht beteiligt, sondern geht nur vorüber. Darum ist sehr zweifelhaft, ob hier „Willensfreiheit und Fatum einander zuwachsen“, wie Karl Löwith annimmt149 – dies gilt umso mehr, als es nach Nietzsche einen freien Willen nicht geben kann. Nietzsches Konzeption einer Selbsterlösung durch eine „Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen“ soll offenbar einen Gegenentwurf zur christlichen Lehre der Wiederauferstehung von den Toten darstellen. Der Gedanke einer „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ bedeutet letztlich ebenfalls den Entwurf einer 145

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Dafür könnte sprechen, dass Nietzsches Ablehnung der behaglichen Mittelmäßigkeit (Z, Vorrede 3, KSA 4, 19 f.) in der Offenbarung des Johannes einen Vorläufer findet, wenn Christus spricht: „Ich kenne deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder warm wärst! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Mund.“ (3,5). Z II, Von den Taranteln, KSA 4, 130: „dass das Leben sich immer wieder selbst überwinden muss!“ Die ihn allein als „Lehrer der ewigen Wiederkunft“ anerkennen, wie Eugen Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 43, zutreffend bemerkt. Z IV, Das Honigopfer, KSA 4, 295–299. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Hamburg 1986, 131.

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HENRY KERGER „Personal-Unsterblichkeit“, wie Nietzsche sie dem Christentum als angebliche Verfälschung durch Paulus vorwirft. Allerdings verkündet nicht erst Paulus die „Lehre vom Gericht und von der Wiederkunft“, 150 sondern Jesus selbst: „Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“ (Joh 5,24). Das ist die wahre Lehre der „ewigen Wiederkunft“, die nicht um sich selbst kreist als ein sich ewig gleiches und sich nur wiederholen kann. Es geht nicht darum, „das Vergangene“, das zeitgebundene Wollen zu erlösen, sondern den Menschen. Erlösung im Denken Nietzsches kann jedoch letztendlich – wie Hannah Arendt sehr überzeugend darlegt – nicht an ein wollendes Ich gebunden sein, zumal Nietzsche gerade den hergebrachten, metaphysisch verstandenen Willensbegriff verwirft. 151 Nietzsches Vorstellung von der Erlösung ist vielmehr – ausgehend von einer ewigen Wiederkehr des Geschehens und einem sich daraus ergebenden zyklischen Zeitbegriff – der oben bereits behandelten Einsicht zu entnehmen, dass eine Handlung ebenso wie das Dasein, d. h. das Werden insgesamt unabwertbar ist: „Der Gesammtwerth der Welt ist unabwerthbar […]“.152 Darin sieht Hannah Arendt „Nietzsches letztes Wort“.153 Die Unabwertbarkeit der Welt ist unabhängig vom menschlichen Willen und dem in der Vergangenheit Gewollten gegeben. Nietzsche hat sein Leben lang mit seinem Antichrist-Sein gerungen.154 Er hat seine Autobiographie unter dem Titel „Ecce homo“ veröffentlicht. Sein Zarathustra („Also sprach Zarathustra“) ist „im Stil der Evangelien abgefasst“ 155 und kann als Gegenentwurf zum Neuen Testament aufgefasst werden. Die Bezugnahmen auf das Neue Testament im Zarathustra drängen sich geradezu auf, wenn es dort etwa heißt:

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AC 41, KSA 6, 215. Arendt, Vom Leben des Geistes (s. Anm. 137), 399f. Nachlass 1887–88, 11[72], KSA 13, 36. Arendt, Vom Leben des Geistes (s. Anm. 137), 399f. Zu Nietzsches „nicht-fertig-werden mit dem Christentum“: Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 77f. (86) Neiman, Das Böse denken (s. Anm. 18), 324.

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NIETZSCHES RINGEN MIT DEM TOD JESU CHRISTI AM KREUZ „Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren. Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder, werde ich mir dann meine Verlorenen suchen; mit einer andern Liebe werde ich euch dann lieben. Und einst noch sollt ihr mir Freunde geworden sein und Kinder Einer Hoffnung: dann will ich zum dritten Male bei euch sein, dass ich den großen Mittag mit euch feiere.“156

Darin liegt eine deutliche Bezugnahme auf das „Petrusbekenntnis“, die Frage nach der Nachfolge Jesu und den „Weg des Sich-Verlierens, ohne den es dem Menschen nicht möglich ist, sich zu finden“, wie Joseph Ratzinger ausführt (Mk 8,11–9, 1; Mt 16,21–28; Lk 9, 22–27).157 Analog zu den Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt 5, 3–10) sind gewissermaßen die „Liebesbekenntnisse“ Zarathustras formuliert, z. B.: „Ich liebe Den, welcher die Zukünftigen rechtfertigt und die Vergangenen erlöst: denn er will an den Gegenwärtigen zu Grunde gehen“ usw. 158 Weiterhin erinnert die Hypothese Nietzsches, wonach die Funktionen des menschlichen Leibes „einem ungeheuer viel höheren und überschauenden Intellekt zuzuschreiben wären als der uns bewußte ist“, daran, dass es sich bei der Evolution des Menschen um eine „Entwicklung des Geistes um den Leib“ handeln könnte und dass der Mensch überwunden werden solle, an die Metapher der Menschheit als „Leib Christi“, wie sie von Paulus im Römerbrief entworfen wird. (Röm 12,5) Es ließen sich noch viele Beispiele dafür aufzählen, dass Nietzsche Texte aus dem Neuen Testament als Vorlage für seinen Gegenentwurf dazu dienen. Am Ende unterzeichnet Nietzsche die letzten von ihm beschriebenen losen Blätter und Zettel mit den Worten „Der Gekreuzigte“. Darin könnte die Identitätssuche des Denkers gesehen werden, der den „Mörder Gottes“ beschrieben und den Tod Gottes verkündet hat – wenn man mit Charles Taylor annimmt, dass der

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Z I, Von der schenkenden Tugend 3, KSA 4, 101 f. Joseph Ratzinger, Jesus von Nazareth, Erster Teil (s. Anm. 60), 334; Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 37. Z I, Vorrede 4, KSA 4, 18.

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HENRY KERGER Verlust des Glaubens und der religiösen Bindung die Sehnsucht nach Identität ständig wachsen lässt.159 Nietzsches persönliches und philosophisches Verhältnis zu Jesus Christus ist sehr ambivalent. Manche seiner Äußerungen lässt Raum für Interpretationen, wonach er eine fortdauernde Existenz Jesu (in der Gegenwart) annimmt. Zur Identifikation mit Jesus passt, dass Nietzsche das von ihm bejahte „ursprüngliche Christentum“ immer noch möglich hält und dass es für gewisse Menschen sogar notwendig“ sei. (Ecce homo 7).160 In Nietzsches Beschreibung von Jesus Christus -- den er mal als kriegerischen Anstifter zum Aufruhr darstellt, dann wiederum als den, der widerstandslos jede Erniedrigung und Marter erduldet – äußert sich eine „Hassliebe“ und zumindest ansatzweise der Versuch, „die Gestalt Jesu gegen seine Stiftung auszuspielen“, 161 d. h. gegen die Institution Kirche. Nietzsches „Identifikation mit dem Gegener“ Christus könnte als „Ausdruck einer im Widerspruch bewahrten Verbundenheit“ angesehen werden. Dabei bleibt jedoch offen, ob auf diesem Weg nicht das christliche Mysterium der Erlösung des Menschen am Kreuz durch eine falsche, heimtückische menschliche Annäherung Nietzsches zu Fall gebracht werden soll. Nietzsches menschlich-allzumenschlichen Einwendungen gegen die Erlösung des Menschen durch den Tod Jesu Christi am Kreuz sind die an Petrus aus denselben Gründen gerichteten Worte von Christus entgegenzuhalten: „Geh’ weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.“ (Mk 8,33).

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Zur „personalen Perspektive“ sowie der Frage nach Identität: Biser, Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums? (s. Anm. 10), 21, 51–53, 83–86. A. a. O., 22, 87,100. Eugen Biser, Gottsucher oder Antichrist? Nietzsches provokative Kritik des Christentums, Salzburg 1980, 82.

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Gesetz und Evangelium, Gesetz und Recht Lutherisches Erbe im Recht Folker Siegert Im Kontext der hier vorgelegten Freundesgabe darf ich unter dem Schutz persönlichen Bekanntseins einen biographischen Zugang wagen, der meinen Weg ins Luthertum darstellt. Getauft bin ich im lutherischen Sachsen, aufgewachsen jedoch im unierten Kirchentum Badens, wo es – unter anderen Dingen – wichtig war, beim Abendmahl, wo man es denn hielt, keine Oblaten zu verwenden, sondern Weißbrot. In dem „heißen“ Jahr 1968, als ich Theologie zu studieren begann, geriet ich aus zunächst ganz praktischen Gründen in das Haus des Martin-Luther-Bunds in Erlangen, Fahrstraße 15. Für eine freundlich-niedrige Miete war man dort versorgt und fand sogar Gesellschaft. Die „Bekenntnisstunden“, die Wilhelm Maurer, der Ephorus des Heimes, jeden Mittwochmittag abhielt, habe ich zunächst als etwas eher Museales empfunden und willig meine wohlerworbenen Lateinkenntnisse an der Confessio Augustana erprobt (es gibt schwerere Texte). Ganz gelesen habe ich die CA überhaupt erst im Ruhestand,1 im Interesse des hier noch zu nennenden Forschungsprojekts, das eine klare systematisch-theologische Basis brauchte.

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Dazu dann auch mehrere Kommentare. Als der bemerkenswerteste, wenigstens als Zeitdokument, erscheint mir der von Hans Asmussen, jenem, der i. J. 1934 die Barmer Theologische Erklärung eingebracht und sie damit auch der lutherischen Seite

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FOLKER SIEGERT Lebendiger wirkten auf mich die täglichen Morgengebete und weniger täglichen, aber durch andere Liturgie gleichfalls attraktiven Vesper- und Kompletandachten, stets gesungen, in denen ich meine vernachlässigte Stimme für künftige Aufgaben vorbereiten konnte – damals noch unabsichtlich, aber der Körper und nicht nur der Geist ist es, der Gottesdienst leistet. Das habe ich in Abgrenzung gegen pietistische, aber auch barthianisch-reformierte Engführungen damals zu begreifen begonnen. In jenem Jahr gab es noch – wie mein Zimmergenosse im Theologenheim des Martin-Luther-Bundes in Erlangen mir stolz zeigte – in Westdeutschland nicht weniger als vier lutherische Freikirchen. Die diesbezügliche Landkarte, die bei ihm an der Wand hing, habe ich mir selber beschafft und als Curiosum bis heute aufgehoben. Wenig später entstand dann in Form einer innerlutherischen Union die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK). Was mich aber in jener Theologengesellschaft ansprach, war die fröhliche Weltzugewandtheit, die gerade unter denjenen Liturgikern herrschte, die dort als Ephorus und Studienleiter wirkten. Sowohl in meiner ursprünglichen Heimatkirche, wo ich als grenzüberschreitender Gast gar manchen Gottesdienst miterlebt habe, wie auch in der bayrischen Kirche war damals die Agende I, wonach das Abendmahl integrierender Teil des Gottesdienstes sein sollte, bloße Theorie; in den Ortsgemeinden feierte man das Abendmahl weithin nur „im Anhang“. Dort konnte es mir passieren, dass ich, nur von einem Banknachbarn unterstützt, gerade mal unter zweien zum Altar vorging. Ich wunderte mich, wie es zu einer solchen Verarmung habe kommen können. Inzwischen aber, nachdem ich ein Berufsleben in diversen reformierten Gemeinden (das ist wiederum biographischer Zufall)2 und als Neutestamentler an einer staatlichen (also EKD-affinen) Universität hinter mich gebracht, in

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empfohlen hatte: Warum noch lutherische Kirche? Ein Gespräch mit dem Augsburger Bekenntnis, Stuttgart 1949 (Darmstadt 1969). Nämlich in einem Kirchspiel bei Eschwege sowie als Neutestamentler in Neuchâtel (Schweiz), die jeweils offiziell reformiert waren. Es hat aber niemand Anstoß daran genommen, dass ich das Abendmahl lutherisch erklärte und, was Liturgie betrifft, das Hochgebet sang.

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GESETZ UND EVANGELIUM, GESETZ UND RECHT Münsters kirchlichem Angebot aber auch einen Ort mit lutherischer Messe jeden Sonntag gefunden habe, 3 kann ich an dieser Stelle einem alten Freund meine Wertschätzung sagen für das Luthertum, wie es auch in der EKD ein Heimatrecht behalten hat. Es ist das Luthertum der Confessio Augustana.

1 Erinnerung an Werner Elert Durch das Geschenk eines Nachbarn, eines emeritierten Pastors, stieß ich auf Werner Elerts Dogmatik,4 ein eigentümliches Werk, das sich mir ab S. 111 („Der Grund des christlichen Kerygmas“) allmählich erschloss. Dessen Lektüre (Karl Barths KD wie auch ihr Echo, die damals meistempfohlene Dogmatik von Otto Weber, waren mir stets zu plerophor erschienen, zu rhetorisch), hat mich durch „bultmannsche“ Nüchternheit überzeugt;5 sie hat mich versöhnt mit dem allzu phrasenlastigen Fach „Systematische Theologie“, das ich bis dahin gemieden hatte. Zugleich entdeckte ich die Stärke des lutherischen Ansatzes bei der ZweiReiche-Lehre und bei einem Evangelium, das nicht zugleich Gesetz sein musste und auch nicht umgekehrt. Mochte die Bekennende Kirche zu ihrer Zeit mit Karl Barths Theologie, die den Widerstand gegen die Staatsgewalt sehr wohl kannte, besser gefahren sein als mit derjenigen des politisch kompromittierten Werner Elert,6 so war doch in nun3

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Nämlich in der (durchaus landeskirchlichen) Johannes-Kapelle nahe der Universitätskirche. Dort hatte das Wirken Wilhelm Stählins seine Spuren hinterlassen. Werner Elert, Der christliche Glaube. Grundlinien der lutherischen Dogmatik, Berlin 1940 (1941); 2. Aufl. 1956 (u. ö.). Eine engl. Übers. erschien 1974 u. d. T. The Christian Faith. An Outline of Lutheran Dogmatics. Tatsächlich nennt und empfiehlt er Bultmann in seiner Dogmatik nicht selten (wenngleich er das Streitwort „Entmythologisierung“ sorgfältig vermeidet, nicht ohne dem Anliegen stattzugeben). Ich weiß aus Dr. Wilhelm Gerholds mündlichem Bericht über seinen Schwiegervater, dass dieser es sich nicht nehmen ließ, Rudolf Bultmann anlässlich eines Besuchs in Erlangen, um mit dortigen Studierenden zu diskutieren, persönlich am Bahnhof abzuholen. Zusammen mit seinem Erlanger Kollegen Paul Althaus hatte er im sog. „Ansbacher Ratschlag“ (auch als „Ansbacher Fehlschlag“ bekannt) von 1934 den Rückzug aller

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FOLKER SIEGERT mehr erlebten Friedenszeiten, wo die Christenheit wieder zu konstruktiver Mitarbeit an der erneut gegründeten Republik aufgerufen war, mit solcher Theologie – wie ich fand – sehr viel mehr anzufangen. In Elerts „Morphologie des Luthertums II,“7 deren Anliegen mir vorher fremd gewesen war, fand ich damals unter der unauffälligen Überschrift „Der Staat“ 8 einen Abriss christlicher Jurisprudenz, der mir hochaktuell schien, da er kein Gottesrecht zu erzeugen oder zu verfechten vorgab, wie römisch-katholische und auf andere Art auch reformierte Theologie, sondern einzig dem Alltagsgeschäft der in weltlichen Dingen autonomen (sic!) Vernunft zu dienen beabsichtigte in christlicher Freiheit und frei von allem Zwang zu Dingen wie Sühne oder Rache. Erst dort wurde ich darauf aufmerksam, dass es eine jahrhundertelange Tradition spezifisch-lutherischen Rechtsdenkens gegeben hatte, die der menschlichen Vernunft im Bereich des Regiments „zur Linken“ auf biblischer und v. a. neutestamentlicher Grundlage zuarbeitete. Dazu noch ein biographischer Splitter: Kirchenrat i. R. Dr. Wilhelm Gerhold, Elerts Schwiegersohn, hat mir, als ich ihn in seinem letzten, hundertsten Lebensjahr (2014) besuchte, berichtet, dass Elert von sich aus hätte Jurist werden wollen; erst auf Drängen seiner Mutter sei er Theologe geworden. Das wird man aus theologischer Warte keineswegs bedauern wollen, sondern sich umso mehr daran erfreuen, wie klar und meistens sogar unmetaphorisch sein Gebrauch der Begriffe in der systematischen Theologie ist. Zudem hatte er in seinen Jahren als Kirchengeschichtler (deren Ernte die „Morphologie“ wurde) eine historische Gründlichkeit erlernt, wie sie insbesondere Neutstamentlern nur vorbildlich sein kann.

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kirchlichen Amtsträger und Angestellten, die dem NS-Regime als Juden galten, aus ihren Ämtern gefordert. Werner Elert, Morphologie des Luthertums, Bd. 2: Soziallehren und Sozialwirkungen des Luthertums, München 1932 (2. Aufl. 1952). A. a. O., 291–395.

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GESETZ UND EVANGELIUM, GESETZ UND RECHT

2 Tora und römisches Recht im Neuen Testament Aus diesen Anregungen hat sich mir als Neutestamentler mit Schwerpunkt im christlich-jüdischen Gespräch ein Forschungs- und Publikationsvorhaben ergeben, welches an gebührender Stelle nunmehr angekündigt ist als „Rechtsgeschichtlicher Kommentar zum Neuen Testament“. Dieser wird kaum kürzer werden können als der seit nunmehr hundert Jahren dienende von Paul Billerbeck in Grenzfragen zwischen Neuem Testament und Judentum. Der scheinbare Mangel an neuen Fragen, woran die neutestamentliche Wissenschaft so sichtlich leidet, hätte schon lange mit einem Schlag behoben sein können, wenn man sich so schlichte und elementare Fragen stellte wie diese: Wie kommen wir dazu, von einem Neuen Testament zu reden, wo doch in der judäischen Gesellschaft, als deren Glied man Jesus von Nazareth heute sieht, es keine Testamente gab? Kann Jesus „in der Nacht, da er verraten ward“, von einem „Testament“ gesprochen haben? Das mosaische Recht kennt nur eine gesetzliche Erbfolge vom Vater auf den ältesten Sohn (ersatzweise die Tochter). Die sog. Testierfreiheit (also das Recht zu bestimmen, wer was aus der zu erwartenden Erbmasse erhalten soll) hingegen ist griechischem und römischem Recht eigen. Der Vorschlag, diathēkē mit „Bund“ zu übersetzen im Rückgriff auf die Wiedergabe von hebr. berît in der Septuaginta, beantwortet diese Frage nicht, denn einen Bund schließt man nicht, indem man stirbt. Gemeint ist in 1 Kor 11,25 durchaus, was wir im Sinne des römischen (und heutigen) Rechts ein „Testament“ nennen, nämlich eine Verfügung von Todes wegen, d. h. die gültig wird mit dem Tod dessen, der sie gibt. Die Hebräische Bibel kennt nichts dergleichen. Wie dann, nicht ohne Zutun der ersten griechischsprachigen Christenheit, die uns vertrauten Abendmahlsworte zustande kamen und wie sehr dieses im Gewande einer bis dahin nicht biblischen Sprache – Griechisch – die Botschaft prägte, aus der die Kirche wurde, das wird in dem angekündigten Kommentar in aller Breite darzulegen sein, flankiert von Überlegungen, wie mit den vielen anderen Rechtsbegriffen des Neuen Testaments –„Freikauf“ (Lösung, Erlösung) etwa, „Kauf“ überhaupt, „Tausch“, „Verdienst“, „Lohn“, „Pfand“, „Vertretung“,

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FOLKER SIEGERT „Sendung“ und vielen anderen. Auch wo derlei Ausdrücke nur metaphorisch verwendet sind, vermag nähere Kenntnis des damaligen Rechtslebens in Judäa zunächst, dann auch im Wirkungskreis eines Paulus oder Lukas den mit der Zeit verblassenden Texten viel Anschauung zu geben. Oder noch ein Beispiel, das bis weit in die Systematik reicht: „Herr“ ist in den Sprachen der Bibel der Eigentümer einer Sache, aber nicht der Befehlshaber derer, die sie gebrauchen. In antiken wie heutigen Rechten ist „dominus“ nicht „imperator“. Der Eigentümer einer Wohnung – so auch heute – hat seinen Mietern nichts zu befehlen; er hat nur das letzte Recht über sein Haus. So viel sei ganz skizzenhaft angedeutet zu den viel missbrauchten Formeln „Herr der Welt“ und „Herr der Kirche“.

3 Luther 1530 und Luthertum 1580: CA vs. Konkordienbuch Dieses Forschungsvorhaben, dessen erste Früchte in Bälde zu sehen sein werden,9 war nicht zu leisten – und ist jedenfalls faktisch nicht geleistet worden – im Rückgriff auf die „Rechtstheologie“ der Nachkriegsjahre, die von einer reformierten Herrschafts-Christologie ausgegangen war. Deren Forderung nach „Christokratie“ auf allen Gebieten, die z. B. die älteren Auflagen des „Evangelischen Staatslexikons“ durchzieht, hat sich, so sehr sie auch biblisch zu sein versuchte, nie konkretisieren lassen. Was ich stattdessen entdeckte, ist jene spezifisch lutherische Tradition des Rechtsdenkens, die, von Hugo Grotius, einem Anhänger der ZweiReiche-Lehre,10 ausgehend, v. a. über Samuel Pufendorf und Christian Wolff – Jurist der eine, Philosoph der andere – eine durchaus bibelkundige Rechtsliteratur erzeugt hat, die ihre Wirkung jedoch im Jahrhundert der Romantik verlor und heute kaum mehr gelesen wird, weil sie lateinisch ist. Was ich dort lernte, war: 9

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Ein Vorläufer, Teil des künftigen Bd. IV, ist von Johann Maier, Hebräisch-aramäisches Glossar zum jüdischen Recht in der Antike, Berlin 2019. Innerhalb des niederländischen Calvinismus war er Arminianer, also Gegner einiger Sonderlehren Calvins, was ihm, dem genialen Juristen und Bibelausleger, in seinem beruflichen Fortkommen unsägliche Schwierigkeiten eingetragen hat.

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GESETZ UND EVANGELIUM, GESETZ UND RECHT Die Frage des Verhältnisses der Theologie zum Recht – sowohl zum theoretischidealen Naturrecht wie zum „positiven“ Recht, unter dem Christen in ihren jeweiligen Gesellschaften leben – ist systematisch sauber nur zu beantworten im Rückgriff auf – Luthers Zwei-Reiche-Lehre, wie sie Bekenntnisinhalt geworden ist in CA 16 und CA 28; und – unter der Ablehnung eines „tertius usus legis“, so wie Melanchthon in seinem Bestreben, die Schüler Zwinglis und Calvins mit denen Luthers zu vereinigen, sie vortrug und wie sie danach in die Konkordienformel eingedrungen ist.11 Diese war, wie gerade Werner Elert herausgefunden und in der von Hans Joachim Schoeps herausgegebenen Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 1948 nachgewiesen hat,12 nie Luthers Lehre gewesen; man findet sie in keiner echten Schrift von ihm. Das Evangelium – und damit die Gottesbeziehung der Christen – ist weder an Bedingungen noch an Leistungen gebunden. Hier rühre ich nun aber an einen Punkt, dessentwegen ich doch lieber Glied der EKD geblieben bin, als einer lutherischen Bekenntniskirche (wie mein Vorgänger am „Institutum Judaicum Delitzschianum“ in Münster, Karl Heinrich Rengstorf) beizutreten.13 Für Werner Elert – der sich von seinem Kollegen Hermann Sasse 11

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Solida Declaratio 6 (nachdem 5,24 nur vom „primus usus“ gesprochen hatte). Bezeichnenderweise wird dann (6,5) 1 Tim 1,9 („Dem Gerechten gilt kein Gesetz“) zwar zitiert, aber eingeschränkt. Der Satz ist aber uneingeschränkt richtig, wo es um das Gottesverhältnis geht. Wenn SD 6,5 im Weiteren in Anspielung an Röm 2,15 auf das allen Menschen „ins Herz geschriebene“ Naturrecht abhebt, lenkt es ab von dem Problem der Gültigkeit der Tora für die Christen „aus den Völkern“, das aus der Sicht der neutestamentlichen Wissenschaft hier zunächst zu klären wäre. „Das Gesetz“ in Worten Jesu (z. B. Lk 16,16) ist noch immer die Tora; so auch noch bei Paulus. Sie kommt einer studentischen Nachschrift der Antinomer-Disputation vom 12.1. 1538, die in diesem Punkte von einer der „mittleren“ Fassungen von Melanchthons „Loci“ abhängt. Werner Elert, Eine theologische Fälschung zur Lehre vom tertius usus legis, ZRGG 1, 1948, 168–170. Vgl. seine Morphologie II (s. Anm. 7), S. V sowie 27 und, als Ergebnis, sein „Ethos“ (Werner Elert, Das christliche Ethos, Tübingen 1949 [u. ö.]: „Zweifacher Brauch des Gesetzes“ [91–99]). Er ist sogar der Bekannteste unter den Gründern der freikirchlichen Evangelisch-Lutherischen Gemeinde Münsters, welche i. J. 2010 ihr 50-jähriges Bestehen feierte.

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FOLKER SIEGERT darin durchaus unterschied, ebenso aber auch von der Missouri-Synode in den USA – war es wichtig, an keiner Stelle Evangelium und Gesetz sich überlappen und das eine zugleich das andere sein zu lassen. Diese Herkunfts- und Zugehörigkeitsfrage ist nicht nur von akademischem Interesse; hier unterscheiden sich ganze Kirchen. Elerts schon in der „Morphologie“ die Basis bildender Rückgang auf Luthers klassische Schriften von 1520–1530 und die diese resümierende CA ist einem auf den Stand von 1580 festgelegten Konkordienluthertum nicht genehm. Andere Dinge wie die Ablehnung der Frauenordination wirken gleichenfalls kirchentrennend,14 und dass Elert das angeblich urprotestantische Dogma von der Verbalinspiration für „Irrlehre“ erklärte,15 wissen heute sicherlich die wenigsten, die Luthertum mit Strenge und Erstarrung verbinden.

4 Die Tora im Neuen Testament, Rechtsbegründung im Neuen Testament Dass die Bundesbedingungen vom Sinai und die Mosegesetze überhaupt uns Christen als solche nicht mehr angehen, ist Luthers klare Botschaft gewesen angesichts des Gebote brauchenden Katholizismus und auch angesichts derjenigen Reformation, die darauf bestand, „die ganze Bibel“ zu Lebensregeln für die Kirche zu nehmen und daraufhin u. a. einen Gottesdienst einrichtete, reformiert nach dem Gesetz des Mose. Die Zehn Gebote, wie Luther sie in seinen Katechismen lehrt, dort sogar jeweils am Anfang, sind eine stark verchristlichte, um das Bilderverbot gekürzte, vom Sabbat auf den „Feiertag“ (Sonntag) umgestellte und von den Verboten auf Gebote umgepolte Version ihrer alttestamentlichen Vorgabe, in der viel an christlicher Freiheit steckt. Die wörtliche Fassung, zum Gesetz gemacht, steht nur in reformierten Katechismen, und wo man sich dennoch von diesem frei macht und z. B. am Samstag einkauft, behilft man sich mit Metaphorisierungen. Dem Beschneidungsgebot wird dann mit einer „Beschneidung des

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Elert, Glaube (s. Anm. 4), 416f., erklärt „Frauenlehre“ für theologisch unbedenklich. A. a. O., 171.

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GESETZ UND EVANGELIUM, GESETZ UND RECHT Herzens“ gehorcht, die naturgemäß erst dem erwachsenden, selbstverantwortlichen Menschen abverlangt werden kann (Karl Barths KD IV/4). Als gewissenhafter Exeget des Neuen Testaments gebraucht man heute die Tora zwar durchaus (insofern „usus“), aber man beruft sich nicht auf sie; sie ist nicht „lex“. Natürlich bemühen sich Christen um Legalität (= Gottes Reich „zur Linken“), doch bedarf diese keiner Ableitung aus der Tora und keiner Anleihen bei dem, was Gottes Reich „zur Rechten“ angehört. Dessen Autorität ist die des Verzeihens und Versöhnens, und solche Befreiung von allem Hemmenden aus der Vergangenheit ist die Voraussetzung der christlichen Freiheit. Für diese aber gilt: „Die Anordnungen Christi sind keine Gesetzgebung.“16 Gerade als Exeget merkt man ja, wie situationsgebunden auch imperativische Äußerungen der Propheten sind und eben auch die Logien Jesu; nicht ohne Grund bietet sie der Evangelientext stets mit einer situativen Rahmung.17 Auf rechtlichem Gebiet aber bekam ich bei Elert wie bei den genannten Barockjuristen zu lernen: Als „ius divinum“ gilt im Luthertum lediglich die Ausübung des Amtes der Verkündigung des Evangeliums und der Darreichung der Sakramente. Verhaltensregeln aufzustellen, ist nicht Sache der Kirche. Dass auch Christen Gesetze brauchen für ihr Zusammenleben, ist von Luther nie bestritten worden, es bedarf aber bei ihm keines Rückgangs auf Mose. In 16 17

Elert, Glaube (s. Anm. 4), 416. Vgl. Elert, Ethos (s. Anm. 12), § 38 („Gehorsam und Glaube“), 329: „Der Gehorsam wird ja gewöhnlich als ein Zwang verstanden, und zwar von vielen als ein willkommener Zwang, der ihnen das Gefühl, in einem stärkeren Willen geborgen zu sein, verleiht, indem er sie der leidigen Pflicht, selbst Entscheidungen treffen zu müssen, überhebt. […] Was werden wir essen? Womit werden wir uns kleiden? – Haltet euch damit, erwidert der Meister, an das Vorbild der Vögel unter dem Himmel (Mtth. 6,25f). Das ist leider nicht die präzise Antwort, die wir haben möchten. Wo finde ich ein Dach über dem Kopf? – Ich habe selber keins, sagt er (8,20). Auskunft in Rechtssachen? – Ich bin doch kein Erbschlichter (Luk. 12,14). Beratung in Steuersachen? – Alles zahlen, was verlangt wird (Mtth. 22,21). Ich muß an einer Beerdigung teilnehmen. – Vollkommen überflüssig, meint er (Mtth. 8,22). Sollen wir uns dadurch gesellschaftlich unmöglich machen?“ Dieses ganze Ethik-Buch sagt nicht, was wir tun sollen, um unser Dasein zu rechtfertigen, sondern was die Motive sind, etwas zu tun, wenn wir es denn tun, und v. a., was ein Handeln ist, das aus Rechtfertigung und christlicher Freiheit entspringt.

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FOLKER SIEGERT seinen Disputationen gegen die Antinomer in Wittenberg 1537 hat er das nochmals klargelegt. Positiv aber gilt: „Meister allen Rechtes bleibe die Vernunft“.18 Die Legalität bis hin zu dem sie stützenden Gewaltmonopol des Staates liegt in der Zwei-Reiche-Lehre im Bereich „zur Linken“, im Nichtgöttlichen und Nichtsakralen. Das Missliche an der Lehre von einem „Gebrauch“ der Tora gegenüber Christen liegt ja darin, dass sie weder jüdisch ist (eine Auswahl-Tora ist keine Tora mehr im jüdischen Sinne),19 noch ist sie christlich, da sie das souveräne Urteil des „geistlichen“ Menschen (1 Kor 2,10–16), des Gerechtfertigten, aufhebt zugunsten kirchlicher Bevormundung. Demgegenüber hat Elert den für die PaulusExegese wichtigen Nachweis erbracht, dass der sog. „tertius usus Legis“ (um letzteres Wort hier der Deutlichkeit halber groß zu schreiben) eine kirchliche Entscheidung war, die Luther gerade nicht teilt. Wenn man, wie Paulus es in Röm 6,18f. ausdrückt, „seine Glieder der Gerechtigkeit zur Verfügung stellt“ oder gar „unterwirft/versklavt“, so geschieht das, Luther wie Elert zufolge, nicht als Gehorsamsleistung gegenüber der Tora, sondern eis hagiasmon, „zur Heiligung“, als freiwillige Leistung also, die der bereits empfangenen Rechtfertigung folgt und der Gottesbeziehung nichts hinzufügt und nichts nimmt. Diese Rechtsauffassung schließt Loyalität gegenüber Gottes Reich „zur Linken“ ein, mit der einzigen Grenze der „clausula Petri“ (Apg 5,29), die Elert zwar durchaus nennt (in „Ethos“ immerhin viermal), für deren Anwendung er jedoch nicht bekannt ist. 20 Für das Leben des Christenmenschen ergibt sich hier jene Ver-

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WA 11, 272, 15. Paulus wiederholt es gegenüber seinen Gemeinden in Galatien: Beschnittenheit verpflichtet zur ganzen Tora (Gal 5,3). Doch kann ich auch hierzu eine Anekdote weitergeben aus mündlicher Überlieferung durch seinen letzten Habilitanden, nachmals Professors für Religions- und Missionswissenschaft in Erlangen, Niels-Peter Moritzen. Bei Elerts Einsetzung zum Dekan der Theologischen Fakultät 1935 „nach dem Führerprinzip“ hat sich folgende Szene abgespielt: Der NS-Rektor stellte ihn seinen künftigen Kollegen aus den übrigen Fakultäten vor als „Professor Elert, Professor für systematische Theologie – sowas gibt’s noch“, worauf er antwortete: „Uns wird’s auch noch geben, wenn’s euch nicht mehr gibt.“ – Das Gerede der Parteibonzen auf den Sitzungen (er selbst blieb

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GESETZ UND EVANGELIUM, GESETZ UND RECHT bindung von Rechtfertigung und Heiligung, wie sie mir seit Erlanger Tagen im Ohr blieb als Alternative zum Gesetz „im“ Evangelium und Evangelium „im“ Gesetz. Hier hat die Konkordienformel, CA 6 präzisierend, Bedenkenswertes geleistet (Solida Declaratio 3), und hierin komme ich mit jeder Art von Christentum, gleich welcher Konfession, gern überein.

parteilos) hat er sich erspart, indem er so viel wie möglich im Umlaufverfahren erledigte.

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Radikales Vertrauen – unbeirrbare Hoffnung Zum Verhältnis von Hoffen und Handeln Christian Neddens

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„Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist“ (1 Petr 3,15).

1 ‚Hoffnungslose Fälle‘ unbeirrbaren Hoffens „Der Mensch und die Hoffnung sind eins. Wenn es keine Hoffnung mehr gibt, kann der Mensch nicht seiner Bestimmung innewerden, und die Menschen, die keine Hoffnung mehr haben, hören auf, Menschen zu sein.“2 Hoffnung haben – eine Definition von Menschsein? Ja, die Definition von Menschsein schlechthin? Was Hans Joachim Iwand (1899–1960), führende Stimme der Lutherrenaissance und der Bekennenden Kirche, systematischer Theologe und Prediger der Umkehr und Erneuerung nach den Irrwegen der nationalsozialistischen Entmensch1

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Der Aufsatz, der hier Jorg Salzmann gewidmet ist, geht auf Gedanken eines Vortrags im Juni 2021 anlässlich einer Tagung der European Lutheran Conference zurück. Hans Joachim Iwand, Wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung. Fünf Predigten, Sondernummer von Die Hilfe 1950, Heft 2, 48.

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RADIKALES VERTRAUEN – UNBEIRRBARE HOFFNUNG lichung – was Iwand da zu Ostern 1950 predigt, klingt fünf Jahre nach der Verwüstung Europas durch den Zweiten Weltkrieg und mitten im sich zuspitzenden Ost-West-Konflikt wie das Wort eines naiven Illusionisten. Kann man wirklich noch hoffen, wenn man so in die Abgründe der menschlichen Seele geschaut hat wie der Mensch des 20. Jahrhunderts, der – wie Iwand – nicht nur zwei Weltkriege erfahren, sondern auch den Holocaust geahnt und schließlich durch erschütternde Zeugenberichte in seiner Entmenschlichung nacherlebt hat – wenn er denn bereit war, sich diesen Zeugnissen zu stellen?3 Und doch: „Der Mensch und die Hoffnung sind eins.“ Menschen sind ‚hoffnungslose Fälle‘ unbeirrbaren Hoffens. Nicht nur Christen hoffen. Hoffen ist menschlich. Ob Christen oder Nicht-Christen – wo Menschen hoffen, da geht es einerseits um sehr Handfestes: Hungrige hoffen auf Brot, Gefangene auf Freiheit, Kranke auf Heilung, Flüchtlinge auf Heimat, Fremde auf Respekt, Heranwachsende auf Anerkennung und einen Platz in der Gesellschaft.4 Und dann ist da der Tod, dieser Widerspruch gegen das Leben, der stets zur falschen Zeit kommt. Und viele Menschen hoffen irgendwie gegen den Tod, nach wie vor.5 Die Hoffnung zielt über das Vorhandene hinaus – auf ein Übersteigendes, eine Transzendenz, so unbestimmt sie auch sein mag.6 Im Folgenden soll es um die christliche Hoffnung gehen: um ihre Verwandtschaft zu den vielerlei Hoffnungen unseres menschlichen Lebens – und um ihre Eigenart, die sie von diesen Hoffnungen unterscheidet. Damit geht es auch um

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Hans Joachim Iwand, Ecce homo. Leseeindrücke zu Eugen Kogons Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, in: DIE ZEIT, Nr. 33, 14. August 1947, 5. Bodo Flaig/James Edwards/Marc Calmbach/Heide Möller-Slawinski/Inga Borchard/ Christoph Schleer, SINUS-Jugendstudie 2020. Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, hg. v. der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2020, 226–235. „Eschatologische Gedanken entstehen überall in der Menschheit. Es ist die Wirklichkeit des Menschen und der Welt selber, die sie hervortreibt.“ (Paul Althaus, Die letzten Dinge. Lehrbuch der Eschatologie, Gütersloh 51949, 6). Vgl. hierzu die inzwischen klassische Unterscheidung zwischen kleinen, mittleren und großen Transzendenzen bei Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 1991, 168f.

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CHRISTIAN NEDDENS die Ethik – um den Raum des Handelns, der sich aus dieser Spannung zwischen Verwandtschaft und Eigenart ergibt.

2 Die Offenheit des Reiches Gottes für unser menschliches Hoffen Die christliche Hoffnung steht den menschlich-allzumenschlichen Hoffnungen nicht ungerührt gegenüber. Es sind die Worte und Taten Jesu selbst, die Anlass zur Hoffnung geben, dass Gottes kommendes Reich in Beziehung steht und sich einlässt auf die Fragen und Sehnsüchte menschlichen Hoffens. Der stärkste Hinweis darauf sind die Gleichnisse und Wunder Jesu selbst. Exemplarisch sei etwa an die Heilung eines Blinden vor Jericho erinnert. Jesus spricht zu dem Mann, der ihn anruft: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ Der Blinde erwidert: „Herr, dass ich sehen kann.“ Und Jesus antwortet: „Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen“ (nach Lk 18,39–43). Jesus sieht den Menschen und fragt ihn nach seiner Not, das heißt: er gibt dem Elenden eine Stimme. Und er nimmt die Hoffnung dieses Menschen ernst: sehend zu werden! Zugleich geht dieses Wunder weit über eine bloß innerweltliche Hoffnungsgeschichte hinaus. Jesus öffnet die Situation für die göttliche Wirklichkeit: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Und der Blinde begreift, dass hier Gott mit ihm handelt. Sein Gotteslob am Ende der Geschichte macht ihn zum Zeichen der Hoffnung für die Vielen, die in das Lob einstimmen: „Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.“ Die Wunder Jesu erzählen, wie die Hoffnungen der Menschen einerseits gestillt und andererseits gerade unermesslich geweitet werden: Alles wird anders werden, weil Gottes anbrechendes Reich Wirklichkeit ist! Sie erzählen, wie Gottes Reich in unseren Alltag hineinragt und unsere Lebenswelt öffnet für das Unbeschreibliche, Andere, Wunderbare. Ebenso ist es auch in den Gleichnissen Jesu. Auch hier „reicht das Gottesreich mitten hinein in das Leben und Treiben der Menschen auf dem Markte und in ihren Häusern, da, wo sie wirklich zuhause sind, wo sie lachen und weinen, wo

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RADIKALES VERTRAUEN – UNBEIRRBARE HOFFNUNG sie lieben und hassen“.7 Hans Joachim Iwand hat immer wieder betont, wie gerade die Kondeszendenz Gottes in den Wundern und Gleichnissen erfahrbar wird: seine tief ins Irdische, Menschlich-Allzumenschliche hineinreichende Gegenwart, in der zugleich das Größere und Unbegreifliche des Gottesreiches spürbar wird.8 Die Wunder und Gleichnisse Jesu haben ihren Ort dabei mitten in den Schuldgeschichten der Menschen. So wie in den Heilungsgeschichten mit der wunderbaren Gegenwart Gottes zugleich auch die menschliche Schuld zum Thema wird (z. B. Mk 2,5), so geschieht dies auch in den Gleichnissen: die Nähe des Reiches Gottes mitten unter uns offenbart zugleich unsere Ferne von ihm. „Gleichnisse sind das schmerzliche Zeichen dafür, daß wir draußen sind, also nicht da sind, wo man das im Gleichnis Angezeigte hat. Trotz aller Gleichnisse bleibt das Gottesreich das in seiner Realität Unvergleichliche“.9 So wie die Wunder die Negativität des zu Überwindenden schon als Voraussetzung in sich tragen, so ist es auch in den Gleichnissen: als Verheißung des Kommenden sind sie zugleich Gerichtspredigt, unter die alle menschliche Gesellschaft zu stehen kommt, wenn man es nur verstünde: „Die Vögel, die Gottes Loblied singen, offenbaren eben damit das Gericht über unser Sorgen, und die Lilien auf dem Felde könnten den Menschen beschämen, wenn er nur die Sprache verstünde, die sie reden“.10 Was soll damit gesagt sein? Mit Hans Joachim Iwand meine ich, dass wir nicht erst eine Brücke bauen müssen zwischen der christlichen Hoffnung und den 7

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9 10

Hans Joachim Iwand, Kirche und Gesellschaft. Nachgelassene Werke, Neue Folge Bd. 1, bearb., komm. und mit einem Nachw. vers. von Ekkehard Börsch, Gütersloh 1998, 56. Iwand nimmt Gedanken Karl Barths auf und setzt sich zugleich von dessen Betonung der Diastase von Diesseits und Jenseits ab. Vgl. Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft. Eine Tambacher Rede [1919], abgedruckt in: Anfänge der dialektischen Theologie I, hg. v. Jürgen Moltmann, ThB 17, München 51985, 3–37. Vgl. Ekkehard Börsch, Karl Barths „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ und Hans J. Iwands „Kirche und Gesellschaft“ – eine vergleichende theologische Skizze, in: Martin Hoffmann (Hg.), Die Provokation des Kreuzes. Entdeckungen in der Theologie Hans Joachim Iwands (1999), Waltrop 1999, 251–288. Iwand, Kirche und Gesellschaft (s. Anm. 7), 53. Iwand, Kirche und Gesellschaft (s. Anm. 7), 256.

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CHRISTIAN NEDDENS menschlichen Hoffnungen und Ängsten. Gottes Wort, Christus selbst, ist diese Brücke. Sein Wort ist Kritik unserer kurzsichtigen Hoffnungen und Ängste und zugleich Eröffnung von Hoffnung, die jeder verstehen kann: dass es das geben kann, ja, dass es das gibt: einen Vater, der den verlorenen Sohn wieder als Erben in die Arme schließt, einen Richter, der sich der Not der Witwe annimmt, oder einen König, der zu seiner Hochzeit die Lahmen und Krüppel einlädt. Im Glauben an Jesus Christus beginnen die Dinge des Lebens eine neue Sprache zu sprechen, können alltägliche Ereignisse zu Zeugnissen der größeren Hoffnung des Reiches Gottes werden.

3 Die Offenheit unseres menschlichen Hoffens für das Reich Gottes Aber nicht nur das Reich Gottes ist offen für unser menschliches Hoffen, auch die Gesellschaften, in denen wir leben und hoffen, sind auf eine verborgene Weise offen für die Frage nach Gottes Reich. Solche ‚offenen Stellen‘ finden sich etwa dort, wo Menschen nach Gerechtigkeit, nach Heimat und Menschlichkeit dürsten. Sie finden sich dort, wo Menschen Klimagerechtigkeit für kommende Generationen erstreben oder für das Lebensrecht von Ungeborenen eintreten. Die gesellschaftlichen Gruppen, von denen hierbei die Rede ist, können sehr unterschiedlich sein. Aber in ihren Sehnsüchten und Wünschen ist doch etwas Gemeinsames zu finden: die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Lebensrecht für alle Menschen. „Die Gerechtigkeit ist die Gottesfrage in der Gesellschaft.“11 So hat Hans Joachim Iwand es angesichts des Weltanschauungskonflikts zwischen Ost und West auf den Punkt gebracht. Ist das zu zugespitzt formuliert? Ist der Gedanke zu verwegen, dass es wirklich so etwas gibt, wie die Gottesfrage in der Gesellschaft? Dass die Hoffnung ein Ziel und einen Namen hat, der in und hinter all dem ist, was wir erhoffen, erstreiten und erbitten? Iwand zumindest ist davon überzeugt: in unseren Sehnsüchten und Erwartungen artikuliert sich auf eine verborgene Weise die Offenheit der Gesellschaft für das Reich Gottes, artikuliert sich, 11

Iwand, Kirche und Gesellschaft (s. Anm. 7), 61.

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RADIKALES VERTRAUEN – UNBEIRRBARE HOFFNUNG dass die Gesellschaft nicht zur Ruhe kommen, sondern über das Erreichte hinausstreben wird, weil sie weiß, dass die Erfüllung aussteht. Und das gilt, meine ich, auch für unser individuelles Hoffen: Eine der prägenden Erfahrungen, die mich zum Theologiestudium motiviert haben, war die Begegnung mit etlichen mir fremden Menschen beim ‚Trampen‘ durch Europa. Immer wieder hatte ich den Eindruck, dass meine zufälligen Gesprächspartner an einen Punkt kamen, wo sie sich und ihre Lebensentscheidungen vor ihrem jungen Gast im Wagen rechtfertigen zu müssen meinten und sich nach Anerkennung sehnten. Auch in der Sehnsucht nach Anerkennung und Rechtfertigung (im verborgenen Wissen nämlich um die eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten)12 begegnet uns eine heimliche Offenheit der Gesellschaft für das Reich Gottes. Menschen leben in einer Unsicherheit über sich selbst, als stünden sie in der Erwartung, dass offenbar werden möge, wer sie selbst eigentlich sind – was für ein Urteil über sie fallen wird. Die gegenwärtige Soziologie und Psychologie weiß viel über das verunsicherte und überforderte, sich selbst optimierende, nach Anerkennung und Rechtfertigung strebende Ich zu sagen, das den Bezug zum Himmel verloren hat, aber dennoch nach der umfassenderen Anerkennung und tieferen Erfüllung strebt.13

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13

Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Mit einem neuen Nachwort, Frankfurt a. M. 102018, 95: Zur zwischenmenschlichen Hoffnung auf Anerkennung gehöre „ein Element der emotionalen Anteilnahme“, in dem das Leben des Anderen als „riskanter“, und deshalb auch mit Erfahrungen des Scheiterns und der Schuld behafteter, „Versuch der individuellen Selbstverwirklichung“ anerkannt und gewürdigt werde – und so eine entlastende Gesamtbilanz gezogen werden könne. Vgl. etwa Harald Welzer, Mentale Infrastrukturen. Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam, hg. von der Heinrich Böll Stiftung, Berlin 2011; Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt a. M. 2017; Wolfgang Ulrich, Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur?, Frankfurt am Main 2006; ders., Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust, Berlin 2016.

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CHRISTIAN NEDDENS

4 Konkrete Hoffnung: Fürbitte und Fürsorge Die Christus-Verkündigung spricht die Gesellschaft und den Einzelnen auf diese ‚offenen Stellen‘ an und weitet kritisch die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Anerkennung zugleich auf die größere Hoffnung hin, auf das umfassende Vertrauen in den Schöpfer und Erlöser unseres Lebens. Die biblischen Texte, die Gottes Kommen schildern, lassen – bei aller Andersheit des Kommenden – eine Kontinuität zu unseren irdischen Hoffnungen und Nöten erkennen: „… er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein“ (Offb 21,3f.). In den Wundern und Gleichnissen nimmt sich Jesus der sehr basalen Hoffnungen von Menschen an: nach Augenlicht, nach gesunden Beinen und Heilung von der Lepra – und weitet diese Hoffnungen immer zugleich auf die größere Hoffnung auf Gott hin, auf das Reich der Vergebung und des Lebens hin. In dieser Doppelbewegung war es auch für die Reformatoren selbstverständlich, dass die christliche Hoffnung sich konkretisiert, nämlich in der Fürsorge und Fürbitte für Anbefohlene und Bedürftige. In seiner Vorrede zur „Leisniger Kastenordnung“ betont Luther, wie die Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes auch eine entsprechende soziale Fürsorge impliziert.14 Dem entsprechend nennt Johannes Bugenhagen in der Braunschweiger Kirchenordnung als Hauptanliegen

14

Vgl. Martin Luther, Vorrede zu: Ordnung einer Gemeindekasse. Ratschlag, wie die geistlichen Güter zu behandeln seien (1523), in: Deutsch-deutsche Studienausgabe, Bd. 2: Wort und Sakrament, hg. v. Dietrich Korsch u. Johannes Schilling, Leipzig 2015, 403–416, 406: „Nachdem euch, liebe Herren und Brüder, der Vater aller Barmherzigkeit zusammen mit anderen in die Gemeinschaft des Evangeliums berufen hat und seinen Sohn Jesus Christus in euer Herz hat scheinen lassen und dieser Reichtum der Erkenntnis Christi bei euch so kräftig und wirksam ist, dass ihr eine neue Gottesdienstordnung und Gütergemeinschaft nach dem Beispiel der Apostel vorgenommen habt, habe ich diese Ordnung für gut angesehen und sie soll im Druck erscheinen.“

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RADIKALES VERTRAUEN – UNBEIRRBARE HOFFNUNG seiner Reformen die evangelische Predigt, die Unterweisung der Kinder und die Fürsorge für die Armen durch Einrichtung eines „Gemeinen Kastens“.15 Gottes Fürsorge für die geschöpfliche Welt und die Hoffnung auf sein ganz anderes, kommendes Reich widersprechen sich nicht, sondern gehören zusammen. Christus, der Kommende, trägt das Antlitz der geschöpflichen Welt, das menschliche Antlitz. Dietrich Bonhoeffer hat diesen Gedanken 1937 in „Nachfolge“ ausgeführt, indem er auf das biblische Zeugnis von der ‚Schöpfungsmittlerschaft‘ Christi nach Joh 1,3; 1 Kor 8,6 und Hebr 1,2 zurückgreift. Die Schöpfung ist hingeordnet auf die Neuschöpfung und steht unter der Verheißung der Erlösung: „Es gibt seit Christus kein unmittelbares Verhältnis des Menschen mehr, weder zu Gott noch zur Welt; Christus will der Mittler sein.“16 Und er führt aus: „In der Menschwerdung erkennen wir die Liebe Gottes zu seiner Kreatur, in der Kreuzigung das Gericht Gottes über alles Fleisch, in der Auferstehung den Willen Gottes zu einer neuen Welt. Nichts wäre nun verkehrter, als diese drei Stücke auseinanderzureißen; denn in jedem von ihnen ist das Ganze enthalten.“17 Aus dem Vertrauen in Gottes Fürsorge erwächst die Fürsorge für die Anbefohlenen.18 Was zu tun ist, ergibt sich unmittelbar aus der Not, die vor den Füßen liegt.19 Christliche Hoffnung ist insofern durchaus auch Hoffnung für diese Welt 15

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Hans Lietzmann, Johannes Bugenhagens Braunschweiger Kirchenordnung 1528, Bonn 1912, 3. Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, in: Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 4, hg. v. Martin Kuske und Ilse Tödt, Gütersloh 22002, 89. Vgl. insgesamt Michael Trowitzsch, Die Freigabe der Welt. Der Gedanke der Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi bei Dietrich Bonhoeffer, in: ders., Über die Moderne hinaus. Theologie im Übergang, Tübingen 1999, 143–158. Dietrich Bonhoeffer, Ethik, in: Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 6, hg. v. Ernst Feil u. a., Gütersloh 21998, 148. So nennt Luther das Wechseln der Windeln als „gutes Werk“ der Väter (statt zu fasten und zu pilgern): „die Väter sind verpflichtet, vor allen Dingen ihre Kinder zu versorgen. Das ist der höchste Gottesdienst, den sie mit irdischem Gut tun können.“ (Martin Luther, Vorrede, DDSt 2 [s. Anm. 14], 410). Vgl. ders., Vom ehelichen Leben (1522); WA 10/2, 296f. Vgl. Martin Luther, Ob man vor dem Sterben fliehen möge (1527); WA 23, 338– 379.363–366.

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CHRISTIAN NEDDENS und konkretisiert sich in verantwortlichem Handeln füreinander und insbesondere für die kommende Generation, in der Weitergabe von Vertrauen und im Erhalt ihrer Lebensgrundlagen. Zur Fürsorge gehört die Fürbitte. In jedem Gottesdienst bitten Christen nicht nur für die Kirche oder für sich selbst, sondern für ihre Mitmenschen und für die Welt. In der Fürbitte kommt etwas zum Ausdruck, was ich „stellvertretende Hoffnung“ nennen möchte: die Mitmenschen und die Mitschöpfung in ihrer Not und auch in ihrer Gottvergessenheit werden vor Gott gebracht in der Hoffnung, dass Gott diese Not und Gottesferne wenden kann. Und auch wir Christen brauchen Menschen, die für uns hoffen und für uns bitten.20 Grundlegend gilt: Christliche Hoffnung ist nicht etwas Exklusives, sie beschränkt sich nicht auf den geschlossenen Kreis der Frommen, sondern richtet den Blick auch auf die Welt, wie der Apostel Paulus das so unnachahmlich schön in Röm 8,22f. fasst: „Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. Nicht allein aber sie, sondern wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes.“21

5 Hoffen und Erinnern Unsere Erfahrungen prägen unsere Hoffnungen – auch Erfahrungen versagter Nähe und zerbrochener Beziehungen, Erfahrungen des Ausgeschlossenseins und

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Vgl. Ingolf U. Dalferth, From the Grammar of ‚Hope‘ to the Practice of Hope, in: ders./Marlene A. Block (eds.), Hope. Claremont Studies in Philosophy of Religion, Conference 2014, Tübingen 2016, 1–9, 7: „… we need others to hope with us, for us and sometimes in our stead. Parents do it all the time for their kids. And believers who pray for others practice hope for those who are unable to do it themselves or who think they can do without it. Such a hope is motivated by love for the good for others – it is not solitary and self-related, but open to the needs of those for whom it hopes.“ Vgl. zum Aspekt der Weitung der Hoffnung bei Paulus Paula Fredriksen, Paul. The Pagans’ Apostle, New Haven/London 2017, 158–164.

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RADIKALES VERTRAUEN – UNBEIRRBARE HOFFNUNG der Missachtung, aber auch Erfahrungen von Wertschätzung und gelingender Gemeinschaft, erlebten Vertrauens, eröffneter Versöhnung. Ich bin überzeugt, dass das Zeugnis von der Hoffnung, die in uns ist, nur möglich ist, wo auch der Erinnerung an solche Erfahrungen Raum gegeben wird. Unsere Hoffnung können wir nur teilen, wo wir bereit sind auch unsere Erinnerung zu teilen – auch die Erinnerung, die zwischen uns steht. Schuld, die nicht erinnert wird, treibt immer neue Früchte, indem Lüge und Verstellung zu neuer Schuld und Verstrickung führen. Ein Beispiel mag das veranschaulichen: Acht Jahre haben wir im Saarland gelebt. Von unserem Haus aus waren die französische Grenze und die deutschen Bunkerlinien des Westwalls fußläufig zu erreichen. Wo einst die bestgesicherte Grenze der Welt verlief, da ist heute ein lebendiger Ort deutschfranzösischer Begegnung entstanden – mit zahllosen Projekten zwischen Schulen, Hochschulen und Gemeinden. Skulpturen, die ‚Steine an der Grenze‘,22 französisch ‚Menhirs de l’Europe‘, erinnern und ermahnen entlang der heute grünen Grenze, wie vermeintliche Erbfeinde miteinander leben und sich gegenseitig bereichern können.23 Der Weg dahin war steinig, er führte vor allem über das gemeinsame Erinnern der Vergangenheit und über viele Projekte, die Vertrauen zueinander wachsen ließen.24 Solche Akte geteilter Erinnerung sind schmerzvoll. Ihr Ergebnis kann unberechenbar und subversiv sein – weil sie uns dahin führen können, wo wir nicht sein wollen! Weil sie uns unsere Angst, unsere Gewalt, unsere Vertrauensbrüche vor Augen führen, weil sie uns die Menschen sichtbar werden lassen, an denen wir schuldig geworden sind. Geteilte Erinnerung kann das in Frage stellen, was für uns plausibel und selbstverständlich erscheint. Und sie stellt Machtstrukturen in

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Vgl. Alfred Diwersy, Steine an der Grenze. Die Skulpturenlandschaft des Saargaues, mit Fotos v. Martin-Peter Scherzinger u. Beiträgen v. Manfred Römbell u. Paul Schneider, Blieskastel 1996. Die ‚Steine an der Grenze‘ wollen als Teilstück einer viel weiträumigeren ‚Straße des Friedens‘ verstanden werden, die dem Andenken des Bildhauers Otto Freundlich (1878–1943) und seiner Idee einer europäischen Skulpturenstraße von Paris bis Moskau gewidmet ist. Vgl. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 32018.

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CHRISTIAN NEDDENS Frage, die auf einer bestimmten Lesart der Vergangenheit, mit der wir uns gut eingerichtet haben, aufbauen. In Umgang mit den Strukturen sexuellen Missbrauchs in der Kirche (insbesondere der römisch-katholischen, aber nicht nur in ihr) ist das bedrückend gegenwärtig. Klaus Mertes SJ, der als Rektor des Berliner Canisius-Kollegs sexuellen Missbrauch von Jugendlichen aufgedeckt und dessen Hintergründe analysiert hatte, benennt es so: „Nirgendwo […] tritt Macht mit größerem Anspruch auf, als wenn sie mit der Sphäre des Göttlichen verbunden wird.“25 Der Ort der größten Hoffnung kann auch der Ort der größten Verführung, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit werden. Der Missbrauch des Vertrauens von Minderjährigen und Schutzbefohlenen lässt das Zeugnis der Hoffnung fragwürdig erscheinen – vor allem dann, wenn Verantwortliche diese Geschehnisse vertuschen, um vermeintlich Schaden von der Kirche abzuwenden. Hoffnung hingegen gewinnt Raum, wo Menschen in ihrer Not, in ihren Verletzungen und ihren Fragen nicht übersehen und übergangen werden, wo ihrer Erinnerung ein Platz eingeräumt wird. Hoffnung ist nicht möglich an den Vergessenen, Übersehenen, Gescheiterten vorbei.26 Eine Hoffnungsgeschichte, die erzählt, wie die Erinnerung der Vergangenheit Zukunft eröffnet, ist die Geschichte von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Lother Kreyssig (1898–1986) hatte 1958 auf der gesamtdeutschen EKD-Synode in Spandau/Weißensee die Schuld an den Juden zum Thema gemacht und zu einer Aktion Sühnezeichen aufgefordert. Wichtig war ihm dabei, den Opfern des Nationalsozialismus nicht bloß Hilfe anzubieten, sondern darum zu bitten helfen zu dürfen. Ihm ging es darum sich auf den Anderen wirklich einzulassen, ihn nicht mehr zu bevormunden oder für das eigene gute Gewissen zu instrumentalisieren,

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26

Klaus Mertes, Hilfe, die Schaden anrichtet. Geistlicher Missbrauch in der katholischen Kirche, in: feinschwarz.net. Theologisches Feuilleton, 13. März 2017 (https://www.feinschwarz.net/hilfe-die-schaden-anrichtet-geistlicher-missbrauchin-der-katholischen-kirche, Stand: 22.12.2021). Davon erzählt meines Erachtens die Perikope von Christi Predigt des Evangeliums im ‚Gefängnis‘ (1 Petr 3,19f. und 4.6), die im Neuen Testament zwar nur an zwei Stellen erwähnt wird, aber doch für so bedeutsam angesehen wurde, dass sie ins Glaubensbekenntnis aufgenommen wurde.

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RADIKALES VERTRAUEN – UNBEIRRBARE HOFFNUNG sondern in einen Dialog zu treten, voneinander zu lernen und Vertrauen wachsen zu lassen.27

6 Hoffen und Mitarbeiten Christliche Hoffnung lässt sich ein auf die endliche, konkrete Mitarbeit an den ethischen Aufgaben der Gesellschaft. An welcher Stelle Christinnen und Christen mitarbeiten, kann unterschiedlich sein. Hier spielen ethische Abwägungsprozesse eine Rolle, Entscheidungen über Dringlichkeit und Wertigkeit von Handlungsalternativen, aber auch die Dynamiken gesellschaftlicher Entwicklungen. Christliche Hoffnung lässt sich davon affizieren – und bleibt dem gegenüber doch in eigentümlicher Freiheit. Der Kern christlicher Hoffnung lässt sich nicht in bestimmten ethischen Entscheidungen, die immer relativ und vorläufig sind, fixieren. Wollen wir uns wirklich einspannen lassen in gesellschaftliche Polaritäten von „konservativ“ und „liberal“, von „strukturbewahrend“ und „emanzipatorisch“? Glauben wir, dass wir uns in Lager aufteilen lassen müssen zwischen denen, die sich für Frauenrechte und denen, die sich für das Recht auf Leben einsetzen? Zwischen denen, die sich um den Schutz der Umwelt und denen, die sich um soziale Gerechtigkeit sorgen? Die Welt sollte darauf eingestellt sein, dass wir je und dann auf verschiedenen Seiten mitarbeiten, wo es um das Lebensdienliche, um den Frieden, um Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung geht – dass aber unsere christliche Hoffnung sich in diesen Zielen nicht erschöpft. Denn wir bleiben – mitten in der Gesellschaft – „Fremdlinge“ (Hebr 11,13).28 Für solche konkrete und – solange wir im Leben sind – sicherlich vorläufige und relative Mitarbeit, die damit aber zugleich Zeugnis ist für die „Hoffnung, die in uns ist“ (1 Petr 3,15), möchte ich beispielhaft an einige Glieder unserer kleinen 27

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Susanne Willems, Lothar Kreyssig – Vom eigenen verantwortlichen Handeln. Aktion Sühnezeichen / Friedensdienste, Berlin 1995; vgl. die Dokumentation der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte unter https://de.evangelischer-widerstand.de/#/menschen/Kreyssig/D1019 (Stand: 22.12.2021). Ich greife hier Gedanken Hans Joachim Iwands auf, der im Kalten Krieg die christliche Freiheit zur Mitarbeit festhielt – unbeeindruckt von den gesellschaftlichen Antagonismen. Vgl. ders., Kirche und Gesellschaft (s. Anm. 7), 72.

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CHRISTIAN NEDDENS Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche erinnern – nicht als ‚Leuchttürme‘, sondern zur ethischen Inspiration: Etwa an Annette Wagner aus unserer Wittener Gemeinde, die 2019 das Bundesverdienstkreuz für ihr Engagement in der ehrenamtlichen Trauerarbeit mit Kindern und Jugendlichen erhalten hat.29 Wagner initiierte das Kinder- und Jugendtrauerzentrum in Witten, leitet Trauergruppen, vor allem mit Grundschulkindern, und entwickelte dazu ein eigenes Programm zur Trauerbewältigung. Zu erinnern wäre auch an Ulli Thiel (1943 bis 2014) aus der Karlsruher Gemeinde unserer badischen Schwesterkirche. Thiel engagierte sich jahrzehntelang in der Friedensbewegung und beriet Tausende Kriegsdienstverweigerer.30 Er war Ideengeber und Motor der Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm am 22. Oktober 1983, der größten Aktion der Friedensbewegung in Deutschland mit 400.000 Menschen. Auf ihn geht auch das bekannte Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“ zurück. In völlig säkularen Reportagen über ihn finden sich Sätze wie dieser: „Seine pazifistische Gesinnung begründet sich auf seinem christlichen Glauben.“31 Seit 2019 gibt es übrigens einen Ulli-Thiel-Friedenspreis zur Förderung von Friedensengagement unter baden-württembergischen Schülerinnen und Schülern. Wem das politisch zu „links“ erscheint, erinnert sich vielleicht lieber an Reinhard Gnauck (*1935), Mitglied unserer Wiesbadener Gemeinde, Gründungsmitglied und langjährigen Vorsitzenden (1981–1995) der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, einer NGO, die Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion und in sozialistischen Ländern anprangerte und zum Beispiel die Solidarnosc in ihrem Freiheitskampf unterstützte.32 Und wem das alles zu wenig substanziell christlich ist, der findet vielleicht an SELK-Altbischof Diethardt Roth Anregung zum Handeln: 2013 erhielt auch Roth 29

30 31

32

Vgl. SELK-Mitglied Annette Wagner erhält Bundesverdienstkreuz, in: Idea 04.12.2019 (www.idea.de/Frei-/Kirchen/detail/selk-mitglied-annette-wagner-erhaelt-bundesverdienstkreuz-109566, Stand: 22.12.2021). Vgl. www.ulli-thiel-friedenspreis.de/ (Stand: 22.12.2021). KA-News, 3.4.2011 (https://www.ka-news.de/region/karlsruhe/Karlsruhe~/UlliThiel-Karlsruher-Friedensaktivist;art6066,572456, Stand: 22.12.2021). Vgl. https://www.igfm.de/ sowie: https://de.wikipedia.org/wiki/Reinhard_ Gnauck (jeweils Stand: 22.12.2021).

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RADIKALES VERTRAUEN – UNBEIRRBARE HOFFNUNG das Bundesverdienstkreuz, insbesondere für sein diakonisches Engagement, vor allem als Vorsitzender des Vereins „Humanitäre Hilfe Osteuropa e. V.“. „Mir geht es um Bekämpfung von Armut und um Hilfe zu einem menschenwürdigen Leben in der Gesellschaft“, so Roth.33 Neben seiner Tätigkeit als Gemeindepfarrer gab Roth auch über 25 Jahre Religionsunterricht am Gymnasium. Rund 40 seiner ehemaligen Schülerinnen und Schüler sind heute als Pfarrerinnen und Pfarrer tätig, wofür die Landeskirche Kurhessen-Waldeck ihn mit einer hohen Auszeichnung, der Martins-Medaille, ehrte. Was ich damit sagen möchte: Christliche Hoffnung konkretisiert sich in gelebter Hoffnungspraxis: „Christians are practitioners of hope, and what they believe and how they act embodies their hope.“34 Als „Praktiker der Hoffnung“ geben Christinnen und Christen Anteil an der Hoffnung, die sie motiviert – in Taten der Mitmenschlichkeit und im Zeugnis der Barmherzigkeit Gottes. Weil die Hoffnung sie verbindet, können Christen bzw. Kirchen Menschen in der Gesellschaft zusammenbringen, die aus völlig unterschiedlichen Kontexten und Werthaltungen kommen. Sie können eine wertvolle Rolle als Vermittlerin gesellschaftlicher Orientierung und des Dialogs spielen – sogar in nationalen und internationalen Konflikten, so wie Kirchen und kirchliche Gruppen das bereits häufig getan haben.35 Und ich frage mich: werden einmal unsere Kinder und Enkelkinder Hoffnungsgeschichten von uns erzählen können – Geschichten von unserem Mut, unserem Einfallsreichtum, von unserem Zeugnis der großen Hoffnung, die in uns ist?

33

34 35

Bundesverdienstkreuz am Bande für SELK Altbischof Dr. Diethardt Roth (https:// www.diakonie-portal.de/bundesverdienstkreuz-am-bande-f%C3%BCr-selk-altbischof-dr-diethardt-roth, Stand: 22.12.2021). Dalferth, Grammar (s. Anm. 20), 7. Vgl. zu zahlreichen Beispielen Markus A. Weingardt, Religion Macht Frieden. Das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten, Stuttgart 2007.

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CHRISTIAN NEDDENS

7 Radikale Hoffnung Nun war bisher viel von der Nähe christlicher Hoffnung zu den menschlichen Hoffnungen die Rede. Worin besteht aber die Eigentümlichkeit christlicher Hoffnung? Diese Eigentümlichkeit besteht darin, dass christliche Hoffnung sich ganz und gar im personalen Vertrauen erschließt: im Vertrauen auf Gott, der sich in Jesus erschlossen hat.36 Während die unterschiedlichen Güter, die wir erhoffen, wie Gesundheit, Freundschaft, Gerechtigkeit, ewiges Leben, im Bereich des menschlichen Strebens liegen, liegt diese Vertrauensbeziehung noch hinter all diesen Strebenszielen und geht in ihnen nicht auf. Entscheidend ist die Passivität solchen Hoffens: das Gute nicht nur von Gott her zu erwarten, sondern auch von ihm her bestimmen zu lassen, was ‚gut‘ ist. Christliche Hoffnung ist darum ‚radikale Hoffnung‘, also Hoffnung, die ihren Kern in der verborgenen Wurzel (‚radix‘) hat, die auch dann bleibt, wenn die ganze oberirdische Hoffnungspflanze abgeschnitten und verbrannt sein sollte. Christliche Hoffnung ist reine Beziehung. Sie macht sich in nichts als Gott allein fest, jenseits aller eigene Wünsche und Sehnsüchte. Sie liefert sich dem Geliebten aus, um die eigene Existenz ganz von ihm her zu empfangen. Darum lebt diese Hoffnung selbst dort weiter, wo alles Begehren und Wünschen sein Ende findet.37 Insofern wäre es verkehrt zu meinen, christliche und profane Hoffnung seien vergleichbar und „lediglich durch ihren jeweiligen Gegenstand“38 unterschieden. Christliche Hoffnung in ihrer ‚Wurzel‘-Gestalt ist aller menschlichen Wünsche entkleidet. Die ‚Urszene‘ solcher Hoffnung ist die Gethsemane-Perikope: Jesus gibt die eigenen Erwartungen und Wünsche auf, um sich ganz dem Willen Gottes auszuliefern – worin sich seine unbedingte Vertrauensbeziehung zum Vater 36

37

38

Vgl. zur Unterscheidung zwischen propositionalem und personalem Hoffen Ingolf U. Dalferth, Hoffnung, Berlin/Boston 2016, 160–170. Vgl. zur radikalen Hoffnung Werner G. Jeanrond, Reasons to Hope, London 2020, 16–22. Ausgesprochen anregend: Jonathan Lear, Radical Hope. Ethics in the Face of Cultural Devastation, London 2006, 94. Sabine Döring, Was darf ich hoffen? Zur epistemischen Rolle von Hoffnung, in: Roderich Barth/Christoph Zarnow (Hg.), Theologie der Gefühle, Berlin/Boston 2017, 61–75, 61.

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RADIKALES VERTRAUEN – UNBEIRRBARE HOFFNUNG realisiert (Mk 14,36). Martin Luther hat in seiner Psalmenvorlesung von der Seele, die sich an nichts mehr hält als an Christus (und zwar als den verborgen Kommenden), ganz ähnlich gesprochen: „Es scheint so, als ob die Seele zugrunde gehen müßte, wenn ihr alles entzogen wird, wovon sie lebte […]; sie berührt weder Himmel noch Erde, sie weiß nichts von sich noch von Gott. Meldet meinem Geliebten, sagt sie, daß ich vor Liebe verschmachte, gleich als ob sie sagen wollte: Ich bin wieder ins Nichts zurückgeworfen, und ich weiß von nichts, ich bin hineingeschritten in Finsternis und Dunkel und sehe nichts, allein in Glauben, Hoffnung und Liebe lebe ich und vergehe vor Schwachheit. […] Diesen Weg nennen die Mystiker ins Dunkel gehen, jenseits von Sein und Nichtsein emporsteigen. Aber ich weiß nicht, ob sie sich selbst recht verstehen, wenn sie das ihrer eigenen Übung zutrauen, während doch vielmehr damit die Leiden des Kreuzes, des Todes und der Hölle bezeichnet werden. Das KREUZ allein ist unsere Theologie.“39

Die Hoffnung, von der Luther hier spricht, ist nicht begehrende, sondern empfangende Hoffnung. Sie ist keine Tugend, die als solche immer noch in der Möglichkeit des Menschen stünde. Sondern sie ruht ganz in der gelebten, empfangenden Beziehung. Ihr ‚Gegenstand‘ ist Gott selbst, der erhofft wird – und der mit anderen Gegenständen nicht vergleichbar ist. Gerade in den Psalmen kommt diese Charakteristik der Hoffnung als Vertrauen in Gott häufig zur Sprache (Ps 4,6; 22,5; 28,7 u. ö.). Solch radikale Hoffnung ist letztlich nichts anderes als radikale Liebe, die nur selbst sein mag in der Hingabe an den Andern. Was Luther erst allmählich entdeckte und was für ihn doch so zentral wurde, war dabei die Einsicht, dass diese Hoffnung und Liebe, die aus Glauben entspringt, nur gegeben werden kann, nie gemacht ist. Der in solcher Weise Hoffende vertraut Gott seine Existenz an, Vergangenheit und Zukunft, ohne sichtbare Erweise der Hoffnung zu erwarten. Darum kann

39

WA 5,176, 22–33, zu Ps 5,12, übersetzt nach Hans Joachim Iwand, Glaubensgerechtigkeit. Gesammelte Aufsätze 2, hg. v. Gerhard Sauter, München 1980, 47f.

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CHRISTIAN NEDDENS solche Hoffnung im Extremfall ein Hoffen wider allen Augenschein sein. „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“ (Röm 8,28).40 In den Gefangenenbriefen und -gedichten Dietrich Bonhoeffers hat diese radikale Hoffnung ihre ganz eigene kraftvolle Sprache gefunden, wie im bekannten Neujahrslied: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, / erwarten wir getrost, was kommen mag. / Gott ist bei uns am Abend und am Morgen / und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“41

8 ‚Holzwege‘: Optimismus und Pessimismus im Diesseits Hoffnung auf Gott und auf Gottes Reich, so wie Jesus es verkündigt und gegenwärtig werden lässt, heißt: in allen Dingen auf Gott vertrauen: im Hier und im Dort, im Gegenwärtigen und im Kommenden. Ja, selbst das Vergangene soll unter Gottes gnädiger Zuwendung heilvoll verwandelt werden. Darum lässt sich christliche Hoffnung nicht reduzieren – weder auf das Diesseits noch auf das Jenseits, weder auf ein Heute noch ein Morgen. Unter der Spannung zwischen dem Schon-Anbrechenden und dem Noch-Nicht-Sichtbaren drohen wir immer wieder die lebendige Hoffnung zu verlieren, von der Paulus so eindringlich spricht (Röm 8,25). Zwei ‚Holzwege‘ der Hoffnung (also Wege, die in den ‚Wald‘ führen, aber nicht hindurch) tun sich zur Linken und zur Rechten auf: Da ist zum einen die Säkularisierung der Hoffnung in einen Fortschrittsoptimismus. Eine Hoffnung, die sich auf die Ausweitung unserer Erkenntnisse in 40

41

Vgl. Dalferth, Hoffnung (s. Anm. 36), 164: „Wer auf Gott hofft, wünscht, was er wünscht, und hofft, was er hofft, aber er überlässt Gott die Entscheidung, ob er das Richtige wünscht und erhofft.“ Dietrich Bonhoeffer, Von guten Mächten, in seinem Brief an Maria von Wedemeyer aus dem Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamts in Berlin, Prinz-AlbrechtStraße, 19. Dezember 1944; abgedruckt in: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, in: Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 8, hg. v. Christian Gremels, Gütersloh 1998, 607f.

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RADIKALES VERTRAUEN – UNBEIRRBARE HOFFNUNG Technik und Medizin und auf die Optimierung unserer individuellen und kollektiven Lebensverhältnisse beschränkt, missachtet das radikal Neue, das mit der Auferweckung Jesu Christi in unsere Wirklichkeit eingebrochen ist und unsere Perspektive unumkehrbar verändert hat. Der Osterglaube ist der Glaube an eine radikale Erneuerung, die jenseits unserer Denkmöglichkeiten liegt und die von Gott her uns zukommt: Hoffnung noch über den Tod hinaus auf ein unzerstörbares Leben mit Gott. „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn“ (Röm 8,39f.). Der andere ‚Holzweg‘, sozusagen spiegelverkehrt zum diesseitsoptimistischen Fortschrittsglauben, ist die diesseitspessimistische Hoffnung, die sich ganz und gar aufs Jenseits reduziert. Die ‚Welt‘ wird abgeschrieben und abgewertet, ihr sei nicht zu helfen. Hoffnung wird reduziert auf die kleine Schar der fürs Jenseits Vorgesehenen. Doch: so wie beim ersten ‚Holzweg‘ die Erlösung missachtet wird, Ostern missachtet wird, so wird beim zweiten ‚Holzweg‘ Gottes Schöpfungswerk und seine Liebe zu dieser Welt missachtet. „Denn“, so spricht Christus im Johannesevangelium, „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“ (Joh 3,17) Kirche und Welt, Diesseits und Jenseits, Schöpfung und Neuschöpfung – es liegt alles in Gottes Händen. Sein Reich, so verborgen es sein mag, erstreckt sich über unser ganzes Leben – hier und in Ewigkeit.

9 Die Möglichkeit und die Wirklichkeit des Guten Der Systematische Theologe Ingolf U. Dalferth (*1948) hat Hoffnung als unseren „Sinn für die Möglichkeit des Guten“42 bezeichnet. Zurecht macht er darauf aufmerksam, dass es bei Hoffnung nicht allein um Zukunft geht, sondern dass auch das Zukünftige ein Spezialfall des Möglichen ist, dass Hoffnung also nicht eine 42

Dalferth, Hoffnung (s. Anm. 36), 171.

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CHRISTIAN NEDDENS temporale, sondern eine modale Orientierungsweise ist, die auch Gegenwart und sogar Vergangenheit einschließt und durch ein neues Wahrnehmen von Möglichkeiten öffnet. Und doch möchte ich seiner Charakterisierung der Hoffnung als Sinn für Möglichkeit widersprechen – jedenfalls sofern es um christliche Hoffnung geht. Meines Erachtens besteht das Charakteristische der christlichen Hoffnung nämlich darin, dass sie sich nicht in Möglichkeiten, sondern in der von Gott zugesagten Wirklichkeit festmacht. Der Lutherforscher und Systematiker Oswald Bayer (*1939) hat die Theologie ganz und gar von dem neuschaffenden Wort Gottes, von der Verheißung (‚promissio‘) her entfaltet, die Wirklichkeit schafft, wie es in der Schöpfungsgeschichte erzählt oder in der Vergebungszusage geglaubt wird: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Die Bibel erzählt, wie Gottes befreiendes Wort Menschen herausruft in ein Neues: „Denn siehe, ich will ein Neues schaffen“ (Jes 43,19; 65,17; Offb 21,5). Dieses Neue hat – in Gestalt der Vergebungszusage – sogar die Kraft, die vermeintliche Faktizität der Vergangenheit zu wandeln. Die Differenz zwischen zugesagter Wirklichkeit und kreativer Erschließung von Möglichkeit lässt sich vielleicht besonders treffend als Differenz zwischen christlicher Hoffnung und der schöpferischen Kraft der Kunst beschreiben. Während die Kunst nämlich in kreativer Freiheit mit Möglichkeitsformen von Wirklichkeit experimentiert, lebt der Glaube hoffend von der zugesagten Wirklichkeit her, die sich als ‚Reich Gottes‘, als ‚Gottes Gegenwart‘ oder als ‚Hl. Geist‘ aussagen lässt. Glaube ist Vertrauen in jene Wirklichkeit, ist „feste Zuversicht“ und „Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“ (Hebr 11,1). Kunst und Glaube stellen insofern gegenläufige Bewegungen dar: während Kunst von der Endlichkeit aus die Frage nach deren Grenzen stellt und das Sichtbare auf das noch nicht gesehene Mögliche hin überschreitet, fragt der Glaube von der zugesagten Wirklichkeit Gottes her, wie das Endliche zu leben und zu gestalten ist. Die himmlische Bürgerschaft nach Phil 3,20 bedeutet deshalb nicht Entweltlichung, sondern Perspektivwechsel im Umgang mit der irdischen Bürgerschaft und ihrer vermeintlichen Normativität des Faktischen: ‚Auferstehung von den Toten‘ und ‚Rechtfertigung des Gottlosen‘ verändern die Wahrnehmung von Wirklichkeit, wie Hans Joachim Iwand ausführt: „Was heißt Friede dort und Friede hier, Gerechtigkeit dort und Gerechtigkeit hier, Freiheit dort und Freiheit hier? […] könnte nicht das Reich Gottes das

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RADIKALES VERTRAUEN – UNBEIRRBARE HOFFNUNG Jenseitige im Diesseits sein, das, was nicht von der Welt ist und doch in der Welt ist, müßte nicht unser öffentliches Leben von dieser Nähe – der bedrohlichen und doch beseligenden Nähe der Gottesherrschaft wenigstens berührt, erschüttert, getragen und bewegt, wirklich nach vorwärts bewegt sein?“43 Insofern müsste also gegenüber Dalferth betont werden: Christliche Hoffnung ist nicht Sinn für die Möglichkeit, sondern für die Wirklichkeit des von Gott ermöglichten Guten – wider allen Augenschein und alle Wahrscheinlichkeit. Der reformierte Erweckungsprediger Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803–1875) hat diese Gewissheit radikaler christlicher Hoffnung und ihren christologischpersonalen Sinn einmal auf wunderbare Weise so beschrieben: „Darum, wenn ich sterbe – ich sterbe aber nicht mehr –, und es findet jemand meinen Schädel, so predige es ihm dieser Schädel noch: Ich habe keine Augen, dennoch schau ich ihn; ich habe kein Gehirn noch Verstand, dennoch umfasse ich ihn; ich habe keine Lippen, dennoch küsse ich ihn; ich habe keine Zunge, dennoch lobsinge ich ihm mit euch allen, die ihr seinen Namen anruft. Ich bin ein harter Schädel, dennoch bin ich ganz erweicht und zerschmolzen in seiner Liebe; ich liege hier draußen auf dem Gottesacker, dennoch bin ich drinnen im Paradies! Alles Leiden ist vergessen! Das hat uns seine große Liebe getan, da er für uns sein Kreuz trug und hinausging nach Golgatha.“44

Schluss: Radikales Vertrauen – unbeirrbare Hoffnung Christliche Hoffnung ist radikales Vertrauen in Gott. Als solches lässt sie alle menschlichen Hoffnungen hinter sich und macht sich allein in Gottes Zusagen fest, lebt in Gottes Reich des Lebens und der Vergebung. Aber gerade als solch radikale Hoffnung ist sie dem Menschen zugewandt, wie Christus dem Menschen zugewandt ist. Sie übergeht nicht die basalen Hoffnungen, sie trauert mit den 43

44

Hans Joachim Iwand, Das Gewissen und das öffentliche Leben, in: Vorträge und Aufsätze. Nachgelassene Werke 2, hg. v. Dieter Schellong u. Karl Gerhard Steck, München 22000, 125–152, 132. Hermann Friedrich Kohlbrügge, Passionspredigten, Elberfeld 31913, 173f.

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CHRISTIAN NEDDENS Traurigen, schreit mit den Gefangenen, hofft mit den Ausgestoßenen. Nur in dieser doppelten Bewegung ist christliche Hoffnung, was sie ist. So bezeugt sie sich in unserer Generation – und auf neue Weise in einer jeden kommenden.

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Alltagsbezüge im Gottesdienst Erkundungen im Spannungsfeld von Ritualität und Aktualität Christoph Barnbrock 1 Vorüberlegungen Es ist in der praktisch-theologischen Diskussion unserer Zeit weitgehend unstrittig, dass es sich beim Gottesdienst zumindest auch um ein Ritual handelt. Mit Michael Meyer-Blanck lässt sich das so fassen: „Das Rituelle oder das Ritual eines Handelns ist eine individuelle oder kollektive Handlungsgewohnheit, die von Entscheidungen entlastet und damit für andere Dinge Aufmerksamkeiten freisetzt. Dabei verweist die Gewohnheit besonders auf die sinnliche Erfahrung und Wahrnehmung.“1

An dieser Stelle tritt das festgefügte, gleichbleibende Handeln in den Vordergrund, das von den Zeitläufen unabhängig ist. Allerdings ist evangelischer Gottesdienst nicht nur als Ritus zu verstehen, sondern in gewisser Weise ein „gebrochener“ Ritus. Das gilt in besonderer Weise mit Blick auf die Predigt. Auch dazu wieder Meyer-Blanck:

1

Michael Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre. Tübingen 2011, 41f.

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CHRISTOPH BARNBROCK „Die Predigt kann als Widerspruch zum Ritus im Kontext des Ritus verstanden werden. Die Predigt ist in dieser Sicht eine Art von regelrechter Regelverletzung des rituellen Handelns durch rhetorisches Handeln bzw. sie ist der Teil des gottesdienstlichen Handelns, der dieses deutet.“2

Denn in der Predigt geht der Blick ja gerade über das Rituelle hinaus und nimmt eben auch das Aktuelle in den Blick – paradigmatisch greifbar in der Reformationszeit in den Invokavit-Predigten Martin Luthers, mit denen er auf die reformatorischen Unruhen in Wittenberg reagiert. Meyer-Blanck folgert entsprechend: „Die Predigt ist ein Teil der Liturgie und zwar derjenige Teil, der ihre Regeln gerade durch die Ausnahme von den Regeln bekräftigt. Diese spannungsvolle Beziehung von Rituellem und Rhetorischem ist eine ständige Herausforderung für die gottesdienstliche Praxis und damit auch für deren theoretische Reflexion.“3

Entsprechend ergeben sich durch unterschiedliche Positionierungen im Rahmen der „spannungsvollen Beziehung“ durchaus unterschiedliche Konzepte für den evangelischen Gottesdienst. So konnte Ernst Lange in Absetzung von der Vorstellung einer „‚Überwirklichkeit‘“4 im Gottesdienst eine radikal alltagsbezogene gottesdienstliche Vision entwerfen: „Grund, Inhalt und Verheißung des christlichen Gottesdienstes wäre nicht die Sicherung eines sakralen Bereiches in der Profanität unseres Lebens, in die dann aus dem sakralen Geschehen heilende Kräfte einströmten, die aber als solche jedenfalls nicht verändert würde. Grund, Inhalt und Ver-

2 3 4

A. a. O., 2 (Hervorhebung im Original). A. a. O., 2. Ernst Lange, Chancen des Alltags. Überlegungen zur Funktion des christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart, Handbücherei der Christen in der Welt VIII, Stuttgart/Gelnhausen 1965, 24.

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ALLTAGSBEZÜGE IM GOTTESDIENST heißung des Gottesdienstes ist vielmehr, daß uns die Profanität um Jesu willen als voller Verheißung, voller Gegenwart Gottes immer aufs neue eröffnet, offengehalten und aufgetragen wird.“5

Eher am anderen Ende des Spektrums wären dann Überlegungen zum Gottesdienst von Reinhard Thöle einzuordnen, der in seiner Anfrage an den lutherischen Gottesdienst von der Liturgie der östlichen Orthodoxie her unter anderem formuliert: „1. Das Ziel des Gottesdienstes ist die mystische Gottesbegegnung. […] 3. Die Sprache des Gottesdienstes ist der Ritus, d. h. das Gesamte der gottesdienstlichen Überlieferung, die die Kirche bewahrt und die Anteil gibt an der Weitergabe der Glaubenserfahrung. Der Ritus ist kein beliebiges, sondern ein heiliges Gefäß und enthält einen inneren geistlichen Weg für Pastor und Gemeinde, den diese gehen sollen. Verliert, verändert oder verwässert die Kirche den Ritus, steht sie in der Gefahr, auch den Weg zur Gottesbegegnung zu beschädigen.“6

In seiner Dissertation hat Jorg Christian Salzmann herausgearbeitet, dass schon in der Alten Kirche „gerade der Wortteil des Gottesdienstes […] eine völlige Abgrenzung des Kultischen vom Alltag verhinderte“.7 Denn

5 6

7

A. a. O., 25. Reinhard Thöle, Der orthodoxe Gottesdienst als Anfrage an das gottesdienstliche Leben in den lutherischen Kirchen, Luth.Bei(B) 21 (2016), 139–152, dort 151. – Vgl. auch neuerdings ders., Geheiligt werde dein Name. Christliche Gottesdienste zwischen Anbetung und Anbiederung, Baden-Baden 2021. Jorg Christian Salzmann, Lehren und Ermahnen. Zur Geschichte des christlichen Wortgottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten, WUNT II 59, Tübingen 1994, 470.

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CHRISTOPH BARNBROCK „es [war] nötig, in den Predigten auf die vielfältigen Probleme des täglichen Lebens einzugehen, die sich den noch nicht durch eine geprägte christliche Erziehung gefestigten jungen Christen in den Weg stellten.“8

Christliche Kirchen waren also immer schon vor die Herausforderung gestellt, auf der einen Seite ihren Gottesdienst als rituelles Geschehen zu feiern, das gerade in seiner Andersartigkeit wirkt. Auf der anderen Seite ist und bleibt der Gottesdienst doch immer auch auf den Alltag bezogen. Er lässt sich von diesem nicht einfach ablösen. In diesem Beitrag will ich einige Erkundungen anstellen, wo und wie der lutherische Gottesdienst der Gegenwart Bezüge zum Alltag bietet und was für die Gestaltung der entsprechenden Elemente zu bedenken ist.

2 Der Weg in den Gottesdienst Ein Aspekt des Alltagsbezugs des Gottesdienstes lässt sich (in durchaus paradoxer Weise) bereits darin entdecken, dass es bis ins 20. Jahrhundert hinein völlig selbstverständlich war, dass sich Gottesdienst und Alltag unterscheiden und von daher der Wechsel zwischen beiden Bereichen nicht einfach so zu vollziehen ist, oder, um es mit Manfred Josuttis zu sagen: „Die Feier eines Gottesdienstes setzt bei allen Beteiligten Vorbereitung voraus.“9 Zu diesen Vorbereitungen konnte eine Praxis des Fastens gehören, die Präparation durch Gebete, die Beichte im Vorfeld des Gottesdienstes und/oder ein Rüstgebet zu Anfang der Feier. Und nicht zuletzt Formen der äußerlichen Vorbereitung sind hier zu nennen, wenn etwa das Sonntagsgewand angelegt wurde. In den letzten Jahrzehnten haben diese Vorbereitungshandlungen an Verbreitung verloren. Vielerorts stellt, wenn überhaupt, das Rüstgebet, das sowohl im

8 9

A. a. O., 474. Manfred Josuttis, Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, Gütersloh ²1993, 95.

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ALLTAGSBEZÜGE IM GOTTESDIENST Evangelischen Gottesdienstbuch10 als auch in der Evangelisch-Lutherischen Kirchenagende11 fakultativ vorgesehen ist, ein letztes Relikt einer solchen Präparation für den Gottesdienst dar. Und auch das Rüstgebet sieht sich in der derzeitigen Diskussion erheblicher Kritik ausgesetzt.12 An dieser Stelle seien nur – stellvertretend für andere – einige Anfragen von Michael Klessmann genannt: „1. Wenn das Benennen von Sünde und Schuld wie in der sog. ‚Offenen Schuld‘ im Gottesdienst allgemein und pauschal bleibt, keine konkreten Erfahrungszusammenhänge benennt, verpufft das Bekenntnis weitgehend wirkungslos. […] 3. Im Confiteor klingt es so, als ob der Mensch ausschließlich auf seine Sünde und Schuld festgelegt wird, als ob es nichts Anderes daneben gäbe. […] 4. Ein weiteres Problem sehe ich darin, dass auf jedes gottesdienstliche Schuldbekenntnis umgehend und quasi automatisch die Vergebungs- oder Gnadenzusage folgt: Schon das Schuldbekenntnis ‚kostet‘ mich nichts, es wird von einer anderen Person gesprochen und meistens mit Worten, in denen ich mich nicht selbst und meine konkrete Lebenssituation wirklich unterbringen kann.“13

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12

13

Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die Union Evangelischer Kirchen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (UEK) und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD). Nach der „Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder“ (2018) überarbeitete Fassung, Leipzig/Bielefeld 2020, 39 (die Texte selbst 583–597). Evangelisch-Lutherische Kirchenagende. Hg. v. d. Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Bd. 1, Freiburg u. a. 1997 [Handausgabe 2009], 252f. Für den Austausch und manche Anregung zu diesem Themenkomplex danke ich Pfarrer Klaus Bergmann und Superintendent Markus Nietzke. Michael Klessmann, „Ich armer, elender, sündiger Mensch…“. Das Christentum, die Schuld und die Scham – im Kontext der Gefängnisseelsorge, in: Isabelle Noth/Ralph

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CHRISTOPH BARNBROCK Letztlich stehen hinter all den hier genannten Kritikpunkten Fragen nach dem Alltagsbezug des Rüstgebets am Übergang in den Gottesdienst. Wie werden „Erfahrungszusammenhänge“ aufgenommen? Was ist der Mensch in seinem Leben über sein Sündersein hinaus? Wie lässt sich das Sündenbekenntnis auf eine „konkrete Lebenssituation“ beziehen? Dabei lässt sich die beschriebene und nicht ganz von der Hand zu weisende Problematik auf zweierlei Weise angehen: Die erste besteht darin, den vermissten Erfahrungs-, Alltags- und Lebensbezug stärker in das Rüstgebet aufzunehmen. Klessmann plädiert etwa dafür, auch Aspekte des Segens schon an dieser Stelle zu benennen, um dann eben auch das Schuldhafte zum Ausdruck bringen zu können. Auch die Möglichkeit, in der Stille konkret eigene Schuld und Sünde zu identifizieren, könnte seiner Meinung nach eine Hilfe sein.14 Einen anderen Ansatz wählt Konrad Müller, der im Anschluss an Überlegungen von Otto Dietz für ein rituelles Verständnis des Confiteor plädiert: „Im Sinn von Dietz ist daher das Confiteor nicht textuell, sondern rituell zu hören: Es soll nicht etwas aussagen und überzeugen, sondern will mit unterschiedlichen Worten die Glaubenden an die grundlegenden Wahrheiten des Evangeliums erinnern. Erinnerung aber ist subjektiv; in der Erinnerung gewinnt jede Aussage eine individuelle inhaltliche Prägung und Färbung.“15

Mit anderen Worten: Es geht beim Rüstgebet weniger um eine möglichst große Konkretion, die dann womöglich auch mit einer bestimmten Verhaltensänderung einherginge, sondern nicht zuletzt darum, Räume zu eröffnen:

14 15

Kunz (Hg.), Nachdenkliche Seelsorge – seelsorgliches Nachdenken. FS Christoph Morgenthaler, Göttingen 2012, 152–169, dort 161f. 164. Vgl. a. a. O., 165f. Konrad Müller, Das ‚Vorbereitungsgebet‘, in: Peter Bubmann/Alexander Deeg (Hg.), Der Sonntagsgottesdienst. Ein Gang durch die Liturgie, Göttingen 2018, 99–108, dort 107 (Hervorhebungen im Original).

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ALLTAGSBEZÜGE IM GOTTESDIENST „Am Confiteor zeigt sich, dass wir unsere liturgische Kriteriologie erweitern sollten: Es geht im Gottesdienst nicht nur um Aussagen, um Dogma oder Moral. Ebensowenig geht es nur um Gefühl. […] Es geht auch – und zwar zentral – darum, an welche inneren Orte wir die Menschen führen und welche Bewusstseinsräume wir ermöglichen, wenn wir mit ihnen den Gottesdienst feiern.“16

3 Die Predigt als „Widerspruch zum Ritus im Kontext des Ritus“ Wenn Michael Meyer-Blanck die Predigt „als Widerspruch zum Ritus im Kontext des Ritus“ bezeichnet, dann ist damit Wesentliches für das Verhältnis von Ritualität und Aktualität in wenigen Worten zusammengefasst. Insbesondere im evangelischen Gottesdienst kam der Predigt lange Zeit eine derart beherrschende Stellung zu, dass sie zum Synonym für den Gottesdienst schlechthin werden konnte,17 obwohl sie in ihrer immer neuen Auslegung eines biblischen Textes gerade das Muster des immer gleichen Ritus durchbricht. Weit über die Reformationszeit hinaus wurde dieser „Bruch“ im Gottesdienst auch an den liturgischen Gewändern erkennbar, wie Klaus Raschzok bemerkt: „Die Predigt vollzog sich noch im 17. Jahrhundert in Fortführung der spätmittelalterlichen Tradition in der Schaube, d. h. im gehobenen Alltagsge-

16 17

A a. O., 108 (Hervorhebungen im Original). Vgl. zum Beispiel Evangelisch-lutherische oder sogenannte Wittenberger Agende […]. Zum Druck befördert von der evangelisch-lutherischen Immanuel Südaustraliens als Festgabe zur Jubiläumsfeier des 50jährigen Bestehens der evangelisch-lutherischen Kirche Australiens 1838–1888, Breslau o. J. [1888], dort 1f.: „Frühpredigt“, „Amtspredigt“, „Mittagspredigt“ und „Passionspredigt“.

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CHRISTOPH BARNBROCK wand auf der Kanzel. Das Messgewand wurde dazu vor dem Gang auf die Kanzel abgelegt und nach Verlassen der Kanzel wieder angezogen.“18

Den Bruch, den die Predigt im Ritus erzeugt, hat der Schriftsteller Martin Mosebach einmal aus seinem eigenen subjektiven Erleben eindrucksvoll in Worte gefasst: „Mir geht es heute, wenn die Predigt beginnt, als verblasse die überzeitliche Welt, in die ich gerade erst hineingetreten bin. Ich finde mich ernüchtert in meiner Gegenwart wieder, mit all ihren geistfernen Schwächen und Halbheiten.“19

Bevor man die Überlegungen Mosebachs und seinen Verweis, „daß die orthodoxe Kirche keinen Raum für die Predigt während der Liturgie gewährt“,20 als „typisch katholisch“ oder eben „typisch östlich-orthodox“ abtut, lohnt es sich, sich daran zu erinnern, dass auch Martin Luther in seiner „Formula Missae“ noch seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, die Predigt möge besser vor dem Messgottesdienst ihren Platz finden.21 Wirkungsgeschichtlich bedeutsamer war aber offensichtlich die folgende aus demselben Jahr stammende Mahnung: „Nu diße mißbreuch abtzuthun, ist auffs erst tzu wissen, das die Christlich gemeyne nymer soll zu samen komen, es werde denn da selbs Gottis wort gepredigt und gebett, es sey auch auffs kurtzist. […] Darumb wo nicht

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Klaus Raschzok, Lutherische Liturgie vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, in: Jürgen Bärsch/Benedikt Kranemann (Hg.), Geschichte der Liturgie in den Kirchen des Westens, Bd. 1, Münster 2018, 575–646, dort 591. Martin Mosebach, Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, München 2007, 46. A. a. O., 47. S. Martin Luther, Formula Missae et Communionis pro Ecclesia Vuittembergensi (1523), WA 12, (197–204)205–220, dort 211,6–9.

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ALLTAGSBEZÜGE IM GOTTESDIENST gottis wort predigt wirt, ists besser, das man widder singe noch leße, noch zu samen kome.“22

Dabei stellt sich bei der Predigt nicht nur die Frage, ob mit ihr ein aktuelles Geschehen im Gottesdienst seinen Platz findet, sondern auch auf welche Weise. Eine kleine Stichprobenuntersuchung der vier dort veröffentlichten Predigten aus dem Monat September 2021 auf dem Predigtportal predigten.evangelisch.de zeigt,23 dass nur eine einzige dieser Predigten ohne einen unmittelbaren Bezug zur gegenwärtigen Lebenswelt auskommt.24 In allen anderen ist der Alltag der Gemeinde mit seinen Phänomenen präsent: „Testament“, „Armut [in Afrika]“, „Impfbereitschaft“, 25 „Klimakatastrophe“, „Plastikmüll“, „Konsum“, 26 „Influencer“, „Bundestagswahl“, „Fake-News“ oder „soziale[] Marktwirtschaft“. 27 Die Liste ließe sich noch fortsetzen.

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25 26 27

Martin Luther, Von ordenung gottis diensts ynn der gemeyne (1523), WA 12, (31– 34)35–37, 35,19–25. – Freilich ist zu fragen, ob Luther hier tatsächlich „Predigt“ in einem strengen Wortsinn verwendet oder ihm nicht die „praedicatio“, also die Verkündigung des Evangeliums im weiteren Sinne vorschwebt. Dörte Gebhard, Das erste Mal letzte Worte – Predigt zu 1. Thess 5,14–24, https://predigten.evangelisch.de/predigt/das-erste-mal-letzte-worte-predigt-zu-1-thess-51424-von-doerte-gebhard (Stand: 4.10.2021); Susanne Ehrhardt-Rein, Wenn ihr Glauben hättet… Predigt zu Lk 17,5–6, https://predigten.evangelisch.de/predigt/wennihr-glauben-haettet-predigt-zu-lk-175-6-von-susanne-ehrhardt-rein (Stand: 4.10. 2021); Matthias Storck, Gott aufheben. Dreimal - Predigt zu Klgl 3,22–26.31–32, https://predigten.evangelisch.de/predigt/gott-aufheben-dreimal-predigt-zu-klgl-322 -2631-32-von-matthias-storck (Stand: 4.10. 2021); Paul Geiß, Influencer im Auftrag Gottes: Mit dem Herzen glauben, mit dem Mund bekennen – Predigt zu Röm 10,9– 18, https://predigten.evangelisch.de/predigt/influencer-im-auftrag-gottes-mit-demherzen-glauben-mit-dem-mund-bekennen-predigt-zu-roem (Stand: 4.10.2021). Es handelt sich dabei um Storck, Aufheben (s. Anm. 23), der die Auslegung des Textes von dessen historischen Situation her (durchaus lebensnah) entwickelt und am Ende mit dem Leben und der Lehre Viktor Frankls in Verbindung bringt. So jeweils bei Gebhard, Das erste Mal (s. Anm. 23). So jeweils bei Erhardt-Rein, Glauben (s. Anm. 23). So jeweils bei Geiß, Influencer (s. Anm. 23).

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CHRISTOPH BARNBROCK Nun ist mit dieser Bestandaufnahme dieser Stichwortsammlung selbstverständlich noch nichts über die Qualität der betreffenden Predigten gesagt – weder positiv noch negativ. Aber es lässt sich womöglich besser verstehen, wie es zu Martin Mosebachs Wahrnehmung kommt: „Ich finde mich ernüchtert in meiner Gegenwart wieder, mit all ihren geistfernen Schwächen und Halbheiten.“ Durch Erinnerung an die entsprechenden Phänomene gewinnen diese im Gottesdienst und damit potenziell auch im Herzen der Hörerinnen und Hörer Raum. Dass eine solche „Spiegelung des Alltags“ durchaus Erwartungshaltungen einer bestimmten Gruppe von Predigthörerinnen und Predigthörern aufnimmt, haben Untersuchungen der letzten Jahre zeigen können.28 Allerdings ist eine solche Konzeption von Predigten auch keineswegs alternativlos. Bis ins 20. Jahrhundert waren vielerorts Bezugnahmen auf konkrete Alltagsphänomene in Predigten weniger verbreitet, auch wenn anthropologische Grundfragen natürlich verhandelt wurden und Predigten dann auch in einer bestimmten Weise soziologisch hilfreich gewirkt haben dürften.29 Manfred Josuttis sieht, was den Alltagsbezug der Predigt in ihrem gottesdienstlichen Kontext angeht, zwei Irrwege: „Sicher wird sie, wenn sie dem bisherigen Ablauf des Gottesdienstes gerecht werden will, nicht mehr in einer so oder so gearteten Zeitanalyse bestehen können. Wenn in den Gebeten die Herzen gereinigt und von Sorgen und Ängsten ein Stück weit befreit, wenn in den Lesungen die Heilstaten Gottes erinnert sind, dann kann die Predigt sich mit der Information über Elendsverhältnisse und mit dem Appell zu politischen oder pädagogischen oder sozialtherapeutischen Aktionen nicht zufrieden geben. Sie wird aber auch, zur anderen Seite hin, nicht einfach jenen frommen Optimismus 28

29

Zum Beispiel als Überblick über eine der Studien: Antonia Lüdtke/Uta Pohl-Patalong, „Eine Predigt ist keine Fastfood-Veranstaltung …“. Gottesdienst und Predigt erleben. Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Studie, in: Alexander Deeg (Hg.), Erlebnis Predigt, Leipzig 2014, 98–122, dort v. a. 119. Vgl. dazu meine Beobachtungen und Überlegungen in Christoph Barnbrock, Die Predigten C. F. W. Walthers im Kontext deutscher Auswanderergemeinden in den USA. Hintergründe – Analysen – Perspektiven, Schriften zur Praktischen Theologie 2, Hamburg 2003.

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ALLTAGSBEZÜGE IM GOTTESDIENST verbreiten, der aus der Verdrängung unerfreulicher Realitäten erwächst und in der Pflege einer getrösteten Innerlichkeit sein Ziel hat.“30

Stattdessen plädiert er für ein Predigtverständnis, bei dem die Verkündigung dazu dient, „daß die Enge des gegenwärtigen Alltagshorizonts durch eine Botschaft von außen aufgebrochen wird.“31 Der Alltagsbezug lässt sich demnach so fassen, dass sich der Alltag durch die biblische Botschaft anders darstellt: „Erleuchtung durch die Predigt bedeutet Horizonterweiterung – gegen die enge einer bedrückenden Gegenwart die Erinnerung an die Heilvolle Gottesgeschichte. […] Was die Erleuchtung durch das Wort in der Kraft des Geistes bewirkt, ist Öffnung, Öffnung zu einer Weltsicht und Lebenshaltung, die alles Irdische in einer neuen Perspektive wahrzunehmen vermag.“32

Demnach wäre die Frage des Alltagsbezugs der Predigt weniger die, ob bestimmte Phänomene des alltäglichen Lebens aufgegriffen werden sollen oder nicht, sondern vielmehr, wie genau dies geschieht, ob sie mehr oder weniger für sich stehen bleiben und mit den bedrängenden Aspekten Gewicht behalten oder ob sie konkret zu der horizonterweiternden und eröffnenden Botschaft des Evangeliums in Beziehung gesetzt werden. Dies kann in einer sehr alltagsnahen Predigt geschehen, wenn sie sich nicht in den Fragestellungen, Nöten und Dynamiken dieser Zeit und Welt verliert. Das kann aber auch so erfolgen, dass die Herrschaft Jesu Christi proklamiert wird und – unabhängig von konkreten Bezugnahmen – schon dadurch alle anderen Machtansprüche von Menschen, Mächten, Systemen und Gefühlen, die im Alltag Raum gewinnen, relativiert werden und ihren Schrecken verlieren.

30 31 32

Josuttis, Weg (s. Anm. 9), 243. A. a. O., 243f. A. a. O., 244.

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CHRISTOPH BARNBROCK

4 Abkündigungen und Fürbitten Die Abkündigungen stellen vielleicht eines der schillerndsten Gottesdienstelemente dar. In Standardwerken der Liturgik werden sie meistens eher am Rande erwähnt. Im gottesdienstlichen Ablauf können sie an unterschiedlichen Stellen ihren Platz einnehmen: (Selten) zu Beginn,33 vor dem Fürbittengebet (Allgemeinen Kirchengebet),34 am Ende vor35 oder nach36 dem Segen. Dass den Abkündigungen relativ wenig Aufmerksamkeit zuteilwird, überrascht aus einer historischen Perspektive durchaus, nahmen sie doch zum Teil erheblichen Raum im Gottesdienst ein. 37 Dies hat sich offensichtlich heute geändert, auch wenn in einigen Gemeinden die Abkündigungen immer noch ein erhebliches Zeitfenster beanspruchen. Auf der Hand liegt, dass die Abkündigungen eine Brücke zum Alltag schlagen – zu dem, was die Gemeinde außerhalb des Gottesdienstes bewegt und beschäftigt. Geburten und Todesfälle werden benannt, Informationen zum kirchlichen Leben werden weitergegeben. So lassen Sie sich durchaus als „Lebenszeichen einer Gemeinde“38 verstehen. Dabei ließe sich in Anknüpfung an die dargelegten Überlegungen Ernst Langes sagen, dass die Abkündigungen dazu beitragen, nicht dem Fehlschluss zu verfallen, als wären Sonntag und Alltag durch einen Graben voneinander getrennt. Sondern auch das alltägliche Leben der Gemeinde gehört zu dem, was sie bewegt 33

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38

So z. B. ein Alternativvorschlag von Gert Kelter, Gott ist gegenwärtig. Anregungen für die Feier des lutherischen Gottesdienstes. Ein Werkbuch. Völlig neu bearb. u. stark erw. Aufl., Berlin 2019, 124. So Kirchenagende (s. Anm. 11), 264, und Gottesdienstbuch (s. Anm. 10), 46. So Gottesdienstbuch (s. Anm. 10), 50. – So auch im römisch-katholischen Messordo (vgl. Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik, Berlin/New York 2004, 116). So ein weiterer Alternativvorschlag von Kelter, Gott (s. Anm. 33), 124. Vgl. Raschzok, Liturgie (s. Anm. 18), 594: „Hinzu trat eine Ausdehnung der Predigtlänge wie eine Zunahme des Umfanges der Kanzelabkündigungen, d.h. der amtlichen, von der Landesherrschaft verfügten Verordnungen. Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) als Student in Wittenberg sah während der Abkündigungen in seinem Betstübchen die angekommene Post durch […].“ So Kelter, Gott (s. Anm. 33), 121.

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ALLTAGSBEZÜGE IM GOTTESDIENST und was im Gottesdienst vor Gott gebracht wird, und sei es eine Frage wie die der von Gert Kelter benannten „Mitfahrgelegenheiten zur Kirchenbezirkssynode“.39 Unterschieden wird vielerorts zwischen Abkündigungen, die Personen oder besondere Ereignisse im kirchlichen Leben betreffen und die „in einem engen Zusammenhang mit dem Fürbittengebet“40 zu stehen kommen sollen, und solchen, „die sich auf Verabredungen, künftige Veranstaltungen oder Ähnliches beziehen“, die „ihren Platz im Rahmen des Sendungsteiles finden [können]“.41 Organisch münden so die Abkündigungen in die Fürbitten, indem die Personen und Anliegen, die in den Abkündigungen benannt worden waren, ihren Platz im Gebet finden. Kelter hat darauf hingewiesen, dass hier nicht krampfhaft eine Aufteilung zwischen „geistlichen“ und „weltlichen“ Anliegen anzustreben ist, sondern etwa auch die organisatorischen Hinweise zu einer anstehenden Gemeindefahrt im Gebet mit der Bitte um Gottes Schutz und Segen aufgenommen werden können und sich dieses als „geistliche Bereicherung“42 erleben lasse. Die Fürbitten selbst wiederum lassen sich im Rahmen des Gottesdienstes als „Tor zur Welt“43 verstehen. Michael Schätzel kann diesbezüglich formulieren: „Die gottesdienstliche Gemeinde wird in das weltlich-alltägliche Geschehen in der Nähe und in der Ferne verantwortlich involviert. ‚Fürbitte ist 39 40 41

42 43

A. a. O., 124. Gottesdienstbuch (s. Anm. 10), 650. Ebd. – In Kirchenagende (s. Anm. 11), 264f., werden ebenfalls beide Bereiche unterschieden, aber trotzdem jeweils vor dem Fürbittengebet angeordnet. Gestört wird der Zusammenhang zwischen Abkündigungen und Fürbitten allerdings durch den Einschub der Dankopfersammlung, die ihrerseits durch die Fürbitten von der Abendmahlsfeier getrennt wird. So werden gleich zwei Verknüpfungen nur noch schwer erkennbar, nämlich einerseits diejenige von Abkündigungen und Fürbittengebet und andererseits diejenige von Gabensammlung und Gabenbereitung (s. Punkt 5 dieses Aufsatzes). Kelter, Gott (s. Anm. 33), 124. Michael Schätzel, Von Lukas lernen. Gottesdienstliches Fürbittengebet als Gestaltungsaufgabe, in: Christoph Barnbrock/Werner Klän (Hg.), Gottes Wort in der Zeit: verstehen – verkündigen – verbreiten, FS Volker Stolle, Münster 2005, 511–530, dort 515.

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CHRISTOPH BARNBROCK Teilnehmen an Gottes Weltregiment‘. In ihr nimmt die Gemeinde in ihrer Proexistenz einen stellvertretenden Dienst wahr. Im Fürbittengebet engagiert sich die gottesdienstliche Gemeinde höchst aktiv und umfassend für die Welt – und damit auch für die, die von Gott nichts (mehr) wissen wollen.“44

5 Gaben Eher verdeckt ist in unseren Tagen der Zusammenhang zwischen Alltagsleben und Gottesdienst, zwischen dem, was Menschen geben und was sie von Gott empfangen, im Rahmen der Abendmahlsbereitung. Das hat nicht zuletzt mit dem in unserem Kulturkreis erfolgten Übergang von der Tausch- zur Geldwirtschaft zu tun.45 Das Geld, das gesammelt wird, ist doch eher ein „abstraktes Gebilde“.46 Ganz anders ist es bei den Gaben, die etwa zum Erntedankfest in ländlichen Regionen aus dem eigenen Garten oder von den eigenen Feldern vor den Altar gelegt werden.47 Hier wird das dargebracht, was die alltägliche Arbeit ein (halbes) Jahr lang auf dem Feld oder im Garten geprägt hat. Es sind die Gaben, um die sich einer womöglich angesichts von unerwartetem Frost Sorgen gemacht hat und um deren Überleben er angesichts von Schädlingsbefall gekämpft hat. Noch deutlicher wird der Zusammenhang, wenn man sich die Praxis im ersten Jahrtausend der christlichen Kirchen vor Augen hält: „Im Osten ist es üblich, dass die Gläubigen die von ihnen mitgebrachten Gaben vor dem Beginn des Gottesdienstes in einem vom Kirchenschiff getrennten Aufbewahrungsraum hinterlegen. Dort werden die für die Eucharistie benötigten Gaben ausgewählt und vor dem Gottesdienst […] vorbereitet. […]

44 45 46 47

Ebd. (Hervorhebungen im Original). Vgl. Josuttis, Weg (s. Anm. 9), 317f. A. a. O., 318. Nicht zufällig bemüht das Gottesdienstbuch (s. Anm. 10), 654, den „Erntedanktag“ als Paradigma an dieser Stelle.

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ALLTAGSBEZÜGE IM GOTTESDIENST Eine zweite Grundform scheint sich in Nordafrika und Mailand herausgebildet haben: Auch hier bringen die Gläubigen ihre Gaben zum Gottesdienst mit, hinterlegen sie aber nicht in der Sakristei, sondern tragen sie zu Beginn der Eucharistiefeier selber in Prozession zum Altar, wo sie von den Diakonen bzw. vom Bischof entgegengenommen werden. […] Eine dritte Grundform begegnet in der Schilderung des Ordo Romanus I: […] Die mitgebrachten Brote werden dabei in große Leinentücher gelegt, der in kleinen Fläschchen mitgebrachte Wein wird in einen Sammelkelch entleert.“48

Mit dieser Praxis werden Alltag und Gottesdienst unmittelbar verbunden. Vom zu Hause gebackenen Brot wird etwas für die Eucharistiefeier ausgesondert. Und die verschiedenen Weingaben, die aus den Häusern mitgebracht werden, ergeben zusammen den Wein, der dann in der Abendmahlsfeier konsekriert wird. Noch deutlicher wird der Zusammenhang von Gottesdienst und Alltag, wenn man bedenkt, dass die Gaben, die nicht für die Eucharistiefeier verwendet werden, den Armen zugutekommen. Mit Karl-Heinrich Bieritz lässt sich also formulieren: „Den christlichen Mahlfeiern eignet so unmittelbar und für jedermann erkennbar eine soziale Bedeutung: Mit dem liturgischen Handeln wird zugleich ein diakonischer Sinn erfüllt.“49 Der Gottesdienst ist so nicht eine fromme Sonderwelt. Sondern ein und dieselbe Gabe wird auf der einen Seite für die Eucharistiefeier verwendet und auf der anderen Seite für die Armenfürsorge. Beides wird durch die Elemente miteinander verschränkt. Die Tatsache, dass beide Traditionen (und mit ihnen ein Stück Alltagsbezug des Gottesdienstes) vielerorts verloren gegangen sind, sowohl die Sammlung der Gaben (eben auch für die Abendmahlsfeier) als auch ihre (ausschließliche) Verwendung für diakonische Aufgaben, ist zunächst einmal zu konstatieren.

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Bieritz, Liturgik (s. Anm. 35), 407, Hervorhebungen im Original. A. a. O., 311f.

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CHRISTOPH BARNBROCK Gleichwohl lohnt es sich, über Möglichkeiten der Wiedergewinnung nachzudenken. Gert Kelter etwa regt an, auch dort, wo Kollektensammlungen innerhalb der Gottesdienste (schon in Vor-Coronazeiten) außer Übung gekommen sind, „die Sammlungen, die für diakonische Zwecke außerhalb der eigenen Gemeinde gedacht sind, während des Gottesdienstes einsammeln zu lassen. Dadurch wird nämlich deutlich: Wir übernehmen jetzt gemeinsam als Gemeinde aus christlicher Liebe Mitverantwortung für andere Christen oder andere in Not geratene Menschen.“50

6 Schlussgedanken Die vorliegende Skizze hat gezeigt, dass Ritualität und Aktualität, liturgische Feier und Alltagsbezug keineswegs einander ausschließende Größen sind, sondern in vielerlei Hinsicht zusammengehören. Dabei wird es, wie etwa bei der Überlegung, wie ein Rüstgebet angemessen zu gestalten ist, darauf ankommen zu reflektieren, welche Funktion dieses liturgische Stück erfüllen soll: Hat es eher eine rituelle Aufgabe oder dient es dazu, den Alltag am Übergang zum Ritus präzise zu reflektieren? Mit Blick auf die Predigt wäre danach zu fragen, ob der Alltag bloß mehr oder weniger als Alltag Raum im Gottesdienst gewinnt bzw. umgekehrt einfach verdrängt wird oder ob es gelingt, das Evangelium als eine konkrete Botschaft anzusagen, die den Alltag in ein anderes Licht setzt, aufbricht und neue Perspektiven schafft. Der Zusammenhang von Abkündigungen und Fürbitten hat deutlich gemacht, dass das manchmal allzu Menschliche, das in Gemeinden geordnet werden will, doch auch seinen angemessenen Platz im Gottesdienst haben kann, indem eben auch das ins Gebet gefasst wird und der Zusammenhang sich als „geistliche Bereicherung“51 verstehen lässt.

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Kelter, Gott (s. Anm. 33), 126. A. a. O., 124.

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ALLTAGSBEZÜGE IM GOTTESDIENST Und schließlich hat die Praxis der Gabensammlung und Gabenbereitung verdeutlicht, wie eng Alltägliches und Allerheiligstes in der liturgischen Praxis zumindest in früheren Zeiten miteinander in Beziehung standen und wie wenig sich das Gottesdienstfeiern von dem alltagspraktischen Eintreten für die Armen und Notleidenden trennen lässt. So lässt sich abschließend festhalten, dass es gewiss die Gefahr gibt, durch eine zu große Alltagsorientierung „das gottesdienstliche Geschehen durch Surrogate zu ersetzen und das Evangelium durch ‚light‘-Versionen zu verfälschen.“52 Und doch kann der Gottesdienst nicht einfach eine Sonderwelt sein, in die sich die Christen am Sonntagmorgen (oder häufiger in der Woche) zurückziehen. Sondern er ist und bleibt in vielerlei Weise bezogen auf das, was die Christinnen und Christen an allen Tagen erleben und erleiden, tun und lassen. Im Gottesdienst wird das ganze Leben in das Licht des Evangeliums getaucht. Und im Gottesdienst öffnen sich wiederum „Tore zur Welt“.53

52 53

Thöle, Gottesdienst (s. Anm. 6), 151. Vgl. Schätzel, Lukas (s. Anm. 43), 515.

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Lehren als Dienst im Auftrag Gottes Diethardt Roth 1 Vorbemerkungen Zu den Aufgaben derer, die in Gottes Dienst stehen, gehört nach dem Auftrag Jesu Christi und der apostolischen Tradition an herausgehobener Stelle das Lehren.1 Das, was die Apostel gesehen und gehört haben, soll weitergetragen werden und die nachfolgenden Generationen erreichen. Diese wiederum haben die Botschaft der Evangelisten und Apostel ihrerseits weitergegeben an ihre Kinder und Kindeskinder bis in die Gegenwart. Deswegen gehört die Aufgabe des Lehrens auch zum Kern pastoraler Tätigkeit. Dieses Lehr- und Lerngeschehen stellt zugleich eine bleibende Herausforderung dar. Wolfgang Ellinghaus hat vor zehn Jahren in seinem Vorwort zu dem Buch „DIE BIBEL in heutiger Zeit – ein christliches Lesebuch“2 die Situation unserer Tage folgendermaßen beschrieben: „In der öffentlichen Diskussion werden gegenwärtig verschiedene gesellschaftliche Fehlentwicklungen besonders bei jüngeren Generationen beklagt, die zum Rückgang der für das Wohl der Gesellschaft wie des 1 2

Vgl. z. B. Mt 28,20 oder 1 Tim 4,13. DIE BIBEL in heutiger Zeit – ein christliches Lesebuch, hg. v. Lernen für die deutsche und europäische Zukunft e. V., o. O. 2011 (http://schulbuchpreis.de/mediapool/105/ 1055441/data/Christliches_Lesebuch/Christliches_Lesebuch.pdf, Stand: 17.12.2021)

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LEHREN ALS DIENST IM AUFTRAG GOTTES Einzelnen unerläßlichen Wertsetzungen geführt haben. Die Medien und weite Teile des gesellschaftlichen Umfeldes bieten Bilder, die bei vielen Menschen unreflektiert eine moralisch permissive und materialistische Lebensauffassung entstehen lassen, in der für Selbstdisziplin, für Nächstenliebe und für Würde kein Platz mehr ist. Es lohnt, dieses geistige Klima kritisch zu hinterfragen.“3

Wie kann in einem solchen gesellschaftlichen Zusammenhang die Vermittlung der biblischen Kernaussagen gelingen? In dem genannten Lesebuch haben verschiedene Autoren neue Zugänge zu den biblischen Texten entwickelt, indem sie diese eingeleitet und ausgelegt haben und ihnen „Spiegelungstexte“4 an die Seite gestellt haben, die eine weitere Perspektive auf den Text bieten. Ellinghaus fasst die Konzeption des Buches dementsprechend folgendermaßen: „Um den inneren Nachvollzug der bewußt herausgestellten Aussagen – z. B. der Zehn Gebote oder der Bergpredigt – emotional und rational gegenüber den vielfältigen verderblichen Umwelteinflüssen zu verstärken, sind diesen jeweils illustrierende oder erläuternde Texte aus modernerer Zeit zur Seite gestellt, die trotz hohen sprachlichen Niveaus für jedermann verständlich sein müssten. Dieses Forum möge Jugendliche und Erwachsene zum Nachdenken über grundlegende Fragen der eigenen Lebensgestaltung und der metaphysischen Orientierung anregen.“5

Als ein Beispiel für diesen Ansatz gebe ich meinen Beitrag aus diesem Band zum Themenkreis „Schuld, Buße und Versöhnung“, den ich anhand der Geschichte vom Verlorenen Sohn entwickelt habe, zum Wiederabdruck. Ich tue das als Zeichen der Verbundenheit und Dankbarkeit gegenüber dem Jubilar, der seinerseits als Exeget an der Lutherischen Theologischen Hochschule diese Aufgabe in 3 4 5

Wolfgang Ellinghaus, DIE BIBEL – Kerntexte für heute, in: DIE BIBEL (s. Anm. 2), 6. Ebd. A. a. O., 7.

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DIETHARDT ROTH Gottes Dienst übernommen hat, das Überkommene zu lehren und für die Gegenwart fruchtbar zu machen.

2 Die Heimkehr des Verlorenen Sohns6

Lucas van Leyden (ca. 1508), St. Luke The Metropolitan Museum of Art, New York, NY

6

Wiederabdruck von Diethardt Roth, DIE HEIMKEHR DES VERLORENEN SOHNES. Schuld, Buße und Versöhnung – zwischen Scheitern, Versagen und Neubeginn, in: DIE BIBEL (s. Anm. 2), 99–114. Der Dank gilt dem Verein „Lernen für die deutsche und europäische Zukunft e. V.“ für die freundliche Wiederabdruckgenehmigung. Der Text wurde für den Wiederabdruck redaktionell bearbeitet und an einer Stelle gekürzt.

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LEHREN ALS DIENST IM AUFTRAG GOTTES Wenn ein Kind erwachsen geworden ist oder meint, es sei erwachsen, verlässt es nicht selten in tiefem Unfrieden das Elternhaus. Die Eltern leiden daran, besonders dann, wenn eine völlige Trennung entsteht. Nimmt das Kind nach vielen Jahren, unglücklich geworden, die Verbindung zu den Eltern wieder auf oder kehrt vielleicht gar in das Haus zurück, ist meist die Freude der Eltern groß und alle Betrübnis vergessen. Geschwister, die treu zu den Eltern hielten, für sie sorgten und vielleicht eigene Belange zurückstellten, haben es nicht leicht, in die grenzenlose Freude einzustimmen. Eine solche Begebenheit berichtet die Bibel im häufig zitierten Gleichnis vom verlorenen Sohn.

2.1 Der Autor der Bibelstelle: Evangelist Lukas Wenig ist über diesen Evangelisten bekannt, da im Altertum die Autoren kaum über sich selbst schrieben. Dreimal wird er in der Heiligen Schrift genannt: im Philemonbrief des Paulus (24), im 2. Timotheusbrief (4,11) und im Kolosserbrief (4,14). Daraus können wir entnehmen, dass der Autor Arzt ist oder ärztlich gebildet, Heidenchrist, Begleiter des Apostels Paulus und aus Antiochien kommend. In der ambrosianischen Bibliothek in Mailand gibt es einen Text aus dem 2. Jahrhundert, in dem es heißt: „Dieser Lukas ist ein Arzt, den Paulus nach Christi Himmelfahrt als Reisegefährten mit sich genommen hat. Er hat das Evangelium in seinem Namen auf Grund des Gehörten verfasst, er hat den Herrn selbst gesehen, deswegen hat er geschrieben, was ihm an Quellen zugänglich war.“

Von ihm stammen das Evangelium und die sich daran anschließende Apostelgeschichte, die erste Kirchengeschichte (siehe Apostelgeschichte 1,1–2). Das Doppelwerk widmet er einem Theophilus, den er mit „hochverehrt“ anredet, also einer hochgestellten Persönlichkeit. Von daher erklärt sich die gewählte Sprache und der kunstvolle Stil, die Lukas als einem gebildeten Menschen des griechischen Kulturmilieus zugänglich waren. Er will sich einfühlsam ihrer Denkart und ihren Auffassungen zuwenden.

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DIETHARDT ROTH Wir dürfen nach den Forschungsergebnissen annehmen, dass das in den Jahren um 70 nach Christus geschehen ist, also noch in großer Nähe zu den Ereignissen und mit authentischen Zeugen, den Dienern am Wort, den Aposteln aus dem engsten Kreis um Jesus. Lukas bedient sich der verschiedenen Quellen. Forscher haben große Mühe darauf gewandt, diese Quellen zu identifizieren. Es sind Beziehungen zum Markusevangelium und zum Matthäusevangelium erkennbar (Synoptiker). Das eigentlich Besondere liegt aber in dem sogenannten Sondergut, „dem großen Reiseabschnitt 9,51–18,14, zu dem Matthäus und Markus etwas Entsprechendes nicht haben“7 auch wenn einzelne Geschichten parallel zu finden sind. In ihm wird vor allem deutlich, dass die Gemeinde Jesu Christi aus allen Völkern gesammelt wird, nicht nur aus dem jüdischen Volk. Dabei will Lukas den Sünderheiland für die Welt herausstellen. „Auf der Höhe der Erzählung bringt der Evangelist die drei Gleichnisse von den Verlorenen, die zur Freude des Himmels wiedergefunden werden“.8 Um 125 nach Christus war das Evangelium in Ägypten schon bekannt. Das Zeugnis und die Verkündigung des dritten Evangeliums werden von drei Begriffen geprägt: Heiland, Freude und Arme bzw. Ausgegrenzte. Jesus wird als der Heiland dargestellt, der Frieden für die ganze Welt bringt – einen Frieden, den der Kaiser in Rom nicht bringen kann. Er offenbart die Menschenliebe Gottes, die den Verlorenen gilt, den sozial Entrechteten, den Frauen, den Zöllnern und Sündern. Er bringt vollkommene Freude zu den Menschen und ruft sie in eine Kirche als eine Gemeinschaft von Menschen, die aus dem Judentum und aus dem Heidentum kommen. Es geht für alle Welt darum, neu die Gemeinschaft mit dem ewigen Gott und seiner Barmherzigkeit durch Jesus Christus zu finden und dadurch Freude und Hoffnung für die Zukunft und Kraft für die Mitgestaltung der jeweiligen Lebensverhältnisse zu empfangen.

7

8

Karl Heinrich Rengstorf, Das Evangelium nach Lukas, Das Neue Testament Deutsch, Bd. 3, Göttingen 1965, 9. A. a. O., 3.

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LEHREN ALS DIENST IM AUFTRAG GOTTES

2.2 Einführung in die Bibelstelle In den einleitenden Versen zum Evangelium macht Lukas dem Theophilus deutlich, was ihn bewogen hat, das Evangelium zu schreiben: „Da es nun schon viele unternommen haben, Bericht zu geben von den Geschichten, die sich unter uns erfüllt haben, wie uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Wortes gewesen sind, habe auch ich's für gut gehalten, nachdem ich alles von Anfang an sorgfältig erkundet habe, es für dich, hochgeehrter Theophilus, in guter Ordnung aufzuschreiben, auf dass du den sicheren Grund der Lehre erfährst, in der du unterrichtet bist.“ (Lukas 1,1–4)

Wir haben hier einen guten Einblick in die Entwicklung der ersten Christenheit. Es gibt eine Menge von Berichten über die Ereignisse, die die irdische Wirksamkeit Jesu und sein Leiden, Sterben und Auferstehen betreffen. Die mündliche und schriftliche Überlieferung der Augenzeugen hat Lukas gesichtet und sorgfältig erforscht. Es ging ihm darum, das Überlieferungsgut anschließend in einer guten Ordnung zusammenzustellen, damit Theophilus den sicheren Grund der Lehre erfährt, in der er unterrichtet worden ist. Wir müssen davon ausgehen, dass in der Anfangszeit auch manches Märchenhafte und Übertriebenes erzählt wurde. Lukas will eine nüchterne Betrachtungsweise anwenden, um allem Überschwang zu wehren und der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Dazu gehören auch die Gleichnisse von den Verlorenen. In ihnen redet Jesus sehr anschaulich, einfach, verständlich und zugleich emotional bewegend. In allen drei Fällen geht es um Umkehr/Buße und um Gottes überwältigende Gnade und Liebe. Jesus erzählt diese Gleichnisse in der Auseinandersetzung mit Kritikern, die es nicht akzeptieren wollen, dass er sich der Außenseiter seines Volkes, der, wie es heißt, „Zöllner und Sünder“ annimmt (Lukas 15,1–2). Seine die Grenzen überschreitende Liebe wird von denen, die genaue Grenzen anderen gegenüber zu ziehen wissen, in Frage gestellt. Beim Gleichnis vom verlorenen Sohn macht Jesus deutlich, wie ein Sünder zur Einsicht kommt und die Umkehr praktiziert.

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DIETHARDT ROTH Jeder Einzelzug des Gleichnisses ist von vielen Exeget(inn)en unter die Lupe genommen worden, so dass eine Fülle von (z. T. sich widersprechenden) Interpretationen vorhanden ist. Es ist deshalb unmöglich, eine Texterklärung zu liefern, die für sich in Anspruch nehmen kann, die in allen Einzelpunkten richtige zu sein. Das ist auch gar nicht erforderlich, denn verschiedene Deutungsmöglichkeiten schaffen einen Freiraum, eigene Überlegungen und Interpretationen einzubringen. Die Gesamtaussage des Gleichnisses bleibt davon unberührt und ist überhaupt nicht strittig. Das Gleichnis vom Verlorenen Sohn zeigt Lebenserfahrungen und Lebensentwicklungen von zwei Söhnen. Sie scheinen im Mittelpunkt zu stehen, sind es aber in Wahrheit nicht. Im Mittelpunkt steht der Vater mit seinem Verhalten. Er trägt und erträgt den Freiheitsdrang des jüngeren Sohnes, der ihm nicht weiter dienen und sich nach den väterlichen Anordnungen richten will. Er gibt ihm das Erbe, das ihm zusteht. Er lässt ihn seine eigenen Wege gehen. Der jüngere Sohn macht seine Lebenserfahrungen. Das Erbe gibt ihm Freiheit in der Gestaltung des Lebens. Er kann mit dieser Freiheit nicht umgehen. Freunde helfen ihm, das Geld auszugeben, indem sie sich gemeinsam den Freuden des Lebens hingeben. Das Ende dieses Treibens sind Armut und Einsamkeit. Freunde trennen sich von dem ins Elend Geratenen. Der Kampf ums Überleben führt ihn schließlich dazu, Schweine zu hüten, die nach seinem Glauben unrein sind. Nicht einmal von dem Schweinefutter, den Schoten des Johannisbrotbaumes, bekommt er etwas ab, eine ohnehin für Menschen schwerverdauliche Kost. Damit wird bitterste Armut angezeigt. Ein sozialer Abstieg hat sein Ende gefunden. In dieser Tiefe seines Daseins, ja, wir können sagen: am Nullpunkt des Scheiterns aller Hoffnungen kommen Bilder der Erinnerung, Erinnerungen an schöne, gute Zeiten. Der jüngere Sohn denkt an das verspielte Zuhause, an den Vater und seine Möglichkeiten, seinen Reichtum. Heimkehr, Umkehr ist die neue Perspektive. Sie ist verbunden mit der Erkenntnis, den falschen Weg gegangen zu sein, und mit dem Bewusstsein, dem Vater das Versagen einzugestehen. Der jüngere Sohn macht sich auf den Heimweg. Es läuft anders ab, als er gedacht hat. Bevor er dem Vater sein aufrichtiges Schuldbekenntnis offerieren kann, umarmt ihn der Vater, der auf den jüngeren Sohn voll Leidenschaft zugelaufen ist. Er wartet nicht, bis der Sohn bei ihm ankommt. Die Freude über die Heimkehr des Verlorenen lässt ihn den ersten Schritt tun. Er hört das Bekenntnis des

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LEHREN ALS DIENST IM AUFTRAG GOTTES Sohnes. Seine Antwort ist das große Fest, das er aus Freude über die Umkehr veranstaltet. Seine Antwort ist, dass er den Sohn wieder in seine Rechte einsetzt. Die Festvorbereitungen und die Klänge des Festes treffen auf die Ohren des älteren Bruders. Er ist entrüstet. Sein ganzes Leben hat er treu dem Vater gedient und seine Aufgaben erfüllt. Niemals hat der Vater ein solches Fest für ihn vorbereitet. Mit seiner Entrüstung verbindet sich der Neid auf den jüngeren Bruder. Mit ihm verbindet ihn nichts mehr, mit dem Taugenichts. Er weigert sich, in die Gemeinschaft des Festes einzutreten. Wie es weiter geht, bleibt offen. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn hat viele Künstler bewegt, es zu gestalten. Einer von ihnen ist Rembrandt, der z. B. die Heimkehr des verlorenen Sohnes darstellt. Das Bild stammt aus dem Jahr 1636.

Rembrandt van Rijn, Return of the Prodigal Son The Metropolitian Museum of Art, New York, NY

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DIETHARDT ROTH „Die Szene findet auf den Stufen vor dem väterlichen Haus statt. Der Sohn ist halbnackt und barfuß. Sein einziges Kleiderstück ist ein zerlumpter Schurz, an dem er ein Messer trägt. Den Wanderstock hat er fallen lassen. Er selbst hat sich vor dem Vater auf die Knie geworfen, die Hände streckt er dem Vater bittend entgegen (wie im Gebet gefaltet). Der Vater ist dem Sohn entgegengeeilt. Noch im Laufen beugt er sich über den Sohn. Die Hände des Vaters sind zum Sohn hin geöffnet. Seine rechte Hand legt er auf dessen Schulter, die linke stützt die bittenden Arme des Sohnes. Es scheint, als wolle der Vater den Sohn aufrichten. Ein Diener schaut interessiert durch das Fenster, zwei andere kommen die Stufen zum Ausgang hinunter und führen bereits den Befehl aus, den der Vater später geben wird: Der vordere trägt Schuhe und Gewand für den Heimgekehrten. Alle Diener sind gut gekleidet und geben einen Eindruck davon, wie gut es selbst die Angestellten in diesem Haus haben. Der 2. Teil des Gleichnisses ist nicht im Blick. Der ältere Bruder ist nicht dargestellt. Jedoch öffnet sich das Bild nach links. Man sieht Felder — das Arbeitsgebiet, auf dem der ältere Sohn zu tun hat — und eine Ortschaft auf dem Berg.“9

2.3 Die Bibelstelle: Lukas 15,11–32 Das Gleichnis vom verlorenen Sohn „11 Und Jesus sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne. 12 Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie. 13 Und nicht lange danach

9

Hans Peter Mahlke, Schuld und Vergebung. Unterrichtsmodell für den Konfirmandenunterricht – Vorbereitungshilfen und Kopiervorlagen – Erarbeitet im Auftrag und unter Mitwirkung der Kommission für Katechetische Unterweisung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Groß Oesingen 2001, 37.

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LEHREN ALS DIENST IM AUFTRAG GOTTES sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen. 14 Als er aber alles verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben 15 und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. 16 Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm. 17 Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! 18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. 19 Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich einem deiner Tagelöhner gleich! 20 Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn. 21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße. 22 Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße 23 und bringt das gemästete Kalb und schlachtet’s; lasst uns essen und fröhlich sein! 24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein. 25 Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen 26 und rief zu sich einen der Knechte und fragte, was das wäre. 27 Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat. 28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn. 29 Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. 30 Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. 31 Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. 32 Du solltest aber

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DIETHARDT ROTH fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.“

3.1 Der Autor des Spiegelungstextes: André Gide – Biographisches

André Gide (1869–1951) akg / Archivio Cameraphoto Epoche

André Gide war in einer reichen protestantisch-calvinistischen Familie geboren. Seine Erziehung war stark von moralischer Gesetzestreue geprägt. Gide selbst möchte auch einen katholischen Grundzug in seiner Familiengeschichte sehen,

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LEHREN ALS DIENST IM AUFTRAG GOTTES obwohl mütterliche und väterliche Familien schon über 100 Jahre protestantisch beeinflusst waren. Die ersten 40 Jahre seines Lebens sind von vielfältigen Spannungen durchzogen: Die Auseinandersetzung mit den ethischen Ansprüchen des christlichen Glaubens, vor allem im Zusammenhang mit den eigenen sexuellen Neigungen und Handlungen gegen die gesellschaftliche und kirchliche Ordnung; die Auseinandersetzung mit der eigenen psychischen und physischen Konstellation; die Auseinandersetzung mit der Gestaltung seiner Ehe, die wohl nicht vollzogen wird, mit seiner geliebten Cousine und Ehefrau Madeleine; die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Konventionen und den Regeln und Dogmen seiner Kirche; die Auseinandersetzung mit der damaligen Rückkehrbewegung in Frankreich in die katholische Kirche; die Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche und seinen Werken. Verbunden waren diese Auseinandersetzungen mit einer tiefen äußeren und inneren Unruhe. „Er empfand sich als Opfer eines physiologischen Verhängnisses und wurde zerrissen zwischen den bestehenden Maßstäben und seinen gebieterischen Begierden.“ (Berger). Unbeständigkeit und Unruhe bestimmten das Leben von André Gide. Herauskristallisierten sich in dieser Zeit seine drei fundamentalen Prinzipien: Kritik, Freiheit, Individualität. In dieser Zeit mit den vielen Anfechtungen, Fragen und der Auseinandersetzung mit sich selbst, mit anderen, mit dem Glauben und seinen ethischen Anforderungen schrieb Gide das kleine, aber doch beeindruckende Werk „La retour de l’enfant prodigue“ („Die Rückkehr des verlorenen Sohnes“). In ihm erkennen wir sein Lebensthema und seine Lebensauseinandersetzung, die er in Bezug auf Erziehung und Tradition leidenschaftlich führte.

3.2 Einführung in den Spiegelungstext Der französische Nobelpreisträger André Gide hat 1907 das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn mit seinem Werk „Die Rückkehr des verlorenen Sohnes“ („La retour de l’enfant prodigue“) kontrastiert, aus dem ein Auszug folgt. Gide setzt sich in diesem Werk mit seiner fast 40-jährigen Lebensgeschichte auseinander. Es ist eine spannungsvolle Geschichte im Horizont einer geordneten Zeit. Erst der Erste Weltkrieg zerstörte die vorgegebene Ordnungsstruktur.

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DIETHARDT ROTH Wolfgang Fenske hat in seiner Sammlung der Texte aus der Literatur den Text von Gide kurz zusammengefasst.10 Aus diesem Text von Fenske, in den Zitate von André Gide aus dessen Werk über den Verlorenen Sohn eingefügt sind, wird im Folgenden zitiert: „Sich zu befreien wissen, ist nichts; das Schwere ist, daß man frei zu sein weiß“ (Gide, Der Immoralist, 1902). Dieser Satz kann als Überschrift über das Werk über den Verlorenen Sohn von Gide stehen, das er 1907 geschrieben hat. Die Geschichte vom Verlorenen Sohn wird kurz verfremdet erzählt. So sieht der Heimkehrer seine Mutter und rennt auf sein Elternhaus zu. Aber der Vater ist es, der ihn erwartet hat und ihn aufnimmt. Vom ältesten Sohn aufgefordert, sollen die Eltern mit dem Heimgekehrten reden und ihn zur Raison rufen. Zunächst spricht der Vater mit dem Heimgekehrten, dann der Älteste selbst, es folgt die Mutter. Zuletzt spricht der Heimgekehrte mit seinem jüngeren Bruder. Dem Vater versichert der jüngere Sohn, dass er ihn noch immer liebe und dass er sich ihm immer nahe gefühlt habe. Er habe den Vater nicht wirklich verlassen können, da dieser überall bei ihm sei. Verlassen habe er das Haus – nicht den Vater – wegen der Enge. Zurückgekehrt ist er aus ‚Trägheit vielleicht‘ und ‚vielleicht auch Feigheit und Krankheit‘ Aber nicht, weil er den Vater geliebt hat – denn nirgends hat er ihn so geliebt, wie in der Zeit seiner Not. Dieser Dialog endet damit, dass der Vater sagt: ‚Ich, ich habe dich geschaffen; alles was in dir ist, ich weiß es. Ich weiß, was dich trieb auf deinen Wegen, und ich wartete auf dich an ihrem Ausgang.

10

Wolfgang Fenske, Ein Mensch hatte zwei Söhne. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn in Schule und Gemeinde, Theologie für Lehrerinnen und Lehrer – Thema, Göttingen 2003, 146ff.

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LEHREN ALS DIENST IM AUFTRAG GOTTES Hättest du mich gerufen — ich war da.‘ ‚Mein Vater, so hätte ich dich wiederhaben können, ohne umzukehren?‘ ‚Wenn du dich schwach gefühlt hast, so hast du gut getan, umzukehren.‘ Dem älteren Bruder erklärt er den Weggang mit der Enge im Elternhaus. Das, was der Heimgekehrte als Enge erfährt, sieht der Älteste als Ordnung an. Diese möchte der Ältere dem Heimgekehrten ‚vorschreiben‘. Damit ist eine Kritik am Vater verbunden: ‚Er drückt sich nicht sehr klar aus; man kann ihm in den Mund legen, was einem beliebt. Ich aber, ich kenne seine Gedanken wohl. Bei den Leuten hier bleibe ich immer der Einzige, der sie auszulegen weiß, und wer den Vater verstehen will, hat auf mich zu hören.‘ Die Mutter ist gegenüber dem Gleichnis Jesu neu eingeführt worden. Der Heimgekehrte beginnt zu weinen, und die Mutter spricht ausführlich von ihren Tränen und ihren Gebeten, die den Sohn zur Umkehr gebracht haben. Ihr gegenüber erklärt er seinen Weggang als Suche nach sich selbst. Die Erfahrung der Not hat seinen Stolz, seinen Drang nach Freiheit gebrochen. Nun wolle er sich wieder der Familie anpassen. Es wird ein Bruder eingeführt, der jüngste Bruder. Der Heimgekehrte sucht den Bruder in dessen Schlafkammer auf (vgl.: die ähnliche Szene in: A. Gide, Selbstzeugnis. Autobiographische Schriften, DVA, Stuttgart 1969, 157f.). Durch körperlichen Kontakt (‚Der Verlorene zieht den Bruder an sich und wiegt ihn leise‘) bricht er dessen Widerstand. Dieser Bruder hatte den Weggang des verlorenen Sohnes bewundert, weil er selbst den ältesten Bruder hasst. Er selbst träumt von der Freiheit. Die triste Heimkehr des Bruders lässt allerdings die Bewunderung umschlagen in Enttäuschung. Er ist enttäuscht, dass der verlorene Sohn die Freiheit nicht dem Leiden übergeordnet hat:

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DIETHARDT ROTH ‚Mit einem Wort, du hast darauf verzichtet, der zu sein, der du sein wolltest.‘ Der verlorene Sohn, von der Mutter beauftragt, den Jüngsten davon abzuhalten, dass auch er aus dem Haus geht, schildert ihm, dass die Sklaverei es war, die ihn zurückgeführt habe. Durch seinen Versuch, den Jüngsten zu überreden, möchte er den Jüngsten vor einer solchen Heimkehr bewahren. Doch der Jüngste lässt sich nicht mehr abhalten. Er weiß um die zu erwartende Härte. Und der heimgekehrte Sohn verabschiedet sich vom Jüngsten. Dieser möchte den Heimgekehrten mit in die Fremde nehmen. Doch antwortet dieser: ‚Lass mich, lass mich; ich will bleiben und unsere Mutter trösten. Ohne mich wirst du tapferer sein. Es ist Zeit jetzt. Der Himmel bleicht. Geh, ohne Lärm. Komm! Küss mich, mein junger Bruder. Du nimmst alle meine Hoffnungen mit dir. Sei stark. Vergiss uns, vergiss mich. Mögest du nicht wiederkommen … Steig leise hinab. Ich halte die Lampe.‘“

3.3 Spiegelungstext: „La retour de l’enfant prodigue“ (Auszug)11 Übersetzung von Rainer Maria Rilke „Die Heimkehr des verlorenen Sohnes“ Das Zwiegespräch mit dem jüngeren Bruder Es ist die Kammer neben der des Verlorenen, nicht gerade klein, mit leeren Wänden. Eine Lampe in der Hand, nähert sich der Verlorene dem Bett, wo sein jüngerer Bruder ruht, das Gesicht gegen die Wand gekehrt. Er beginnt mit leiser Stimme, um das Kind, wenn es schläft, nicht in seinem Schlummer zu stören. „Ich möchte mit dir sprechen, mein Bruder.“

11

André Gide, Die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Übertragen von Rainer Maria Rilke, Frankfurt/M. 1978, 48–64.

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LEHREN ALS DIENST IM AUFTRAG GOTTES „Was hindert dich daran?“ „Ich glaubte, du schliefst.“ „Man braucht nicht zu schlafen, um zu träumen.“ „Du träumtest; wovon denn?“ „Was kümmerts dich. Wenn schon ich meine Träume nicht versteh, so wirst du, glaub ich, kaum imstande sein, sie mir auszulegen.“ „Sie sind also sehr eigen. Wenn du sie mir erzählst, ich wills versuchen.“ „Kannst du dir deine Träume wählen? Die meinen sind, was ihnen einfällt, und haben mehr Freiheit als ich… Was willst du übrigens hier? Was störst du mich in meinem Schlaf?“ „Du schläfst nicht, und ich komme im Guten mit dir sprechen.“ „Was hast du mir zu sagen?“ „Nichts, wenn du diesen Ton anschlägst.“ „Dann leb wohl.“ Der Verlorene geht auf die Türe zu, aber er stellt nur die Lampe auf die Erde, die das Zimmer so nur noch schwach erleuchtet. Dann kommt er zurück, setzt sich auf den Bettrand, im Halbdunkel, und streichelt lange die abgewendete Stirn des Kindes. „Du antwortest mir schärfer, als ich je deinem Bruder geantwortet habe. Und ich war doch auch voller Widerspruch gegen ihn.“ Das trotzige Kind hat sich heftig aufgerichtet. „Sag: schickt dich unser Bruder?“ „Nein, mein Kleiner, nicht er, unsere Mutter.“ „Ah, von selbst wärst du nicht gekommen.“ „Aber ich komme dennoch als Freund.“ Halb aufgesetzt in seinem Bett, starrt das Kind den Verlorenen an. „Wie brächte es einer von den Meinigen zuwege, mein Freund zu sein?“ „Du irrst dich in unserem Bruder…“ „Sprich mir nicht von ihm. Ich hasse ihn… Von ganzem Herzen ist er mir

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DIETHARDT ROTH zuwider. Er ist der Grund, daß ich dir hart geantwortet habe.“ „Aber wie denn?“ „Du wirst das nicht begreifen.“ „Trotzdem, sprich …“ Der Verlorene zieht den Bruder an sich und wiegt ihn leise, und das halberwachsene Kind hält sich nicht länger zurück: „Am Abend, da du heimkehrtest, war es mir nicht möglich zu schlafen. Die ganze Nacht dachte ich: Ich hatte noch einen Bruder, und ich wußte es nicht. Deshalb hat mir das Herz so stark geklopft, als ich dich hereinkommen sah, in den Hof des Hauses, ruhmbedeckt.“ „Ach! bedeckt mit Lumpen, wie ich war.“ „Ja, ich habe dich gesehen, und doch schon ruhmvoll. Und ich habe gesehen, was unser Vater tat: er hat an deinen Finger einen Ring gesteckt, einen solchen, wie ihn unser Bruder nicht besitzt. Ich wollte niemanden über dich befragen. Ich wußte nur, daß du von sehr weit kamst, und dein Blick, bei Tisch.“ „Warst du denn dabei?“ „Oh, ich weiß wohl, daß du mich nicht gesehen hast. Während des ganzen Essens war dein Blick in der Ferne, ohne etwas zu sehen. Auch, daß du am zweiten Abend mit dem Vater gesprochen hast, war gut — aber am dritten …“ „Sprich …“ „Ach, wenn es nur ein liebes Wort gewesen wäre, du hättest wohl kommen können und es mir sagen.“ „Hast du mich denn erwartet?“ „Und wie! Glaubst du, ich würde unseren Bruder so hassen, wenn du nicht an jenem Abend so endlos mit ihm gesprochen hättest. Was könnt ihr euch denn zu sagen gehabt haben? Du weißt wohl, wenn du Ähnlichkeit mit mir hast, so kannst du mit ihm nichts gemein haben.“ „Ich hatte schweres Unrecht gegen ihn begangen.“ „Ist es möglich?“ „Wenigstens gegen unseren Vater und unsere Mutter. Du weißt, daß ich aus

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LEHREN ALS DIENST IM AUFTRAG GOTTES dem Haus geflohen war.“ „Ja, ich weiß. Es ist lange her, nicht wahr?“ „Ungefähr als ich so alt war wie du.“ „So. Und das nennst du dein Unrecht.“ „Ja, das war mein Unrecht, meine Sünde.“ „Als du weggingst, fühltest du da, daß du schlecht handeltest?“ „Nein; ich fühlte in mir etwas wie eine Verpflichtung, fortzugehen.“ „Und was ist denn seither geschehen, daß aus deiner Wahrheit von damals Irrtum wurde?“ „Ich habe gelitten.“ „Und deshalb sagst du: ich hatte unrecht?“ „Nein, nicht gerade deshalb; aber das hat mich zur Besinnung gebracht.“ „Früher also bist du nie zur Besinnung gekommen?“ „Doch, aber meine schwache Vernunft war nachgiebig gegen meine Begierden.“ „Wie später gegen das Leiden. So daß du heute zurückkehrst überwunden.“ „Nein, nicht eigentlich; – ergeben.“ „Mit einem Wort, du hast darauf verzichtet, der zu sein, der du sein wolltest.“ „Der, der ich, meinem Hochmut nach, zu sein glaubte.“ Das Kind verharrt eine Weile schweigend, dann schluchzt es auf und schreit: „Mein Bruder, ich bin der, der du warst, als du weggingst. Oh, sag: War alles Trug auf deinen Wegen? Meine Ahnung von dem da draußen, das anders ist als das hier, ist also nichts als Täuschung? Was ich Neues in mir fühle — Wahnsinn? Sprich: Was hast du denn so völlig Entmutigendes auf deinem Weg getroffen? Was war schuld, daß du umkehrtest?“ „Die Freiheit, die ich suchte, ging mir verloren; einmal in Gefangenschaft, mußte ich dienen.“ „Ich bin hier in Gefangenschaft.“ „Ja, aber schlimmen Herren dienen. Hier dienst du deinen Eltern.“ „Ach, dienen ist dienen; hat man nicht wenigstens die Freiheit, sich seine

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DIETHARDT ROTH Knechtschaft zu wählen?“ „Das hoffte ich. So weit meine Füße mich trugen, wanderte ich, auf der Suche nach meiner Sehnsucht, wie Saul auf der Suche nach seinen Eselinnen. Aber dort, wo ein Königreich auf ihn wartete, dort hab ich das Elend gefunden. Und dennoch…“ „Hast du auch nicht den Weg verfehlt?“ „Mein Ich ging vor mir her.“ „Bist du sicher? Und doch gibt es andere Königreiche und Länder ohne König, die noch zu entdecken sind.“ „Wer hat dir das gesagt?“ „Ich weiß es. Ich fühle es. Ich seh mich schon dort herrschen.“ „Hochmütiger!“ „Sieh, da ist das Wort, das dir unser Bruder gesagt hat. Wie kommst du jetzt dazu, es mir zu sagen? Hättest du dir nur diesen Hochmut bewahrt! Du wärst nicht zurückgekehrt.“ „Dann hätte ich dich nie gekannt.“ „Doch, doch, dort draußen, wohin ich dir nachgekommen wäre, dort würdest du mich schon erkannt haben als deinen Bruder. Ja, mir ist doch jetzt zumut, als wärs, um dich wiederzufinden, daß ich fortgehe.“ „Daß du fortgehst?“ „Hast du es nicht begriffen? Ermutigst du mich nicht selbst, fortzugehen?“ „Ich möchte dir die Rückkehr sparen … aber dadurch, daß ich dir den Aufbruch erspare.“ „Nein, nein, sag mir das nicht; nein, das willst du ja gar nicht sagen. Du bist doch auch – nicht wahr? – du bist wie ein Eroberer ausgezogen?“ „Darum empfand ich meine Knechtschaft nur um so härter.“ „Warum hast du dich dann unterworfen? Warst du schon müde?“ „Nein, noch nicht; aber ich war im Zweifel.“ „Was meinst du damit?“ „Im Zweifel an allem, an mir selbst. Ich wollte bleiben, mich irgendwo anschließen. Der Halt, den mir dieser Meister versprach, war eine Versuchung für mich. Ja, jetzt sehe ich es wohl ein: ich bin schwach gewesen.“

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LEHREN ALS DIENST IM AUFTRAG GOTTES Der Verlorene neigt das Haupt und verbirgt den Blick in seinen Händen. „Aber im Anfang?“ „Ich war lange gewandert über die große, noch ungebändigte Erde.“ „Die Wüste?“ „Nicht immer war es die Wüste.“ „Was hast du da gesucht?“ „Ich versteh es selber nicht mehr.“ „Steh auf von meinem Bett. Sieh auf den Tisch dort hinter meinem Kissen, bei dem altmodischen Buch.“ „Ich seh einen offenen Granatapfel.“ „Den hat mir der Schweinehirt gebracht neulich abends; drei Tage war er nicht nach Haus gekommen.“ „Ja, das ist ein wilder Granatapfel.“ „Ich weiß. Er ist von einer Bitterkeit, beinah furchtbar; und doch, ich fühle, wenn ich nur genügend Durst hätte, ich würde hineinbeißen.“ „Ah, so kann ich es dir jetzt sagen: Was ich suchte in der Wüste, war dieser Durst.“ „Ein Durst, den nur diese Frucht löscht, die ohne Süße ist.“ „Nein, aber man liebt diesen Durst um ihretwillen.“ „Weißt du, wo man sie holt?“ „Ein kleiner verlassener Garten ist da; man kommt gegen Abend hin. Keine Mauer schließt ihn mehr ab nach der Wüste. Ein Bach floß dort vorbei. Ein paar Früchte, halbreif, hingen an den Zweigen.“ „Was für Früchte?“ „Die gleichen, wie in unserm Garten, nur wild. Es war den ganzen Tag über sehr heiß gewesen.“ „Hör zu. Weißt du, warum ich dich heute abend erwartete? Eh die Nacht um ist, geh ich. Diese Nacht; diese Nacht, sowie sie anfängt zu verblassen. Mein Gürtel ist geschnallt, ich habe die Sandalen anbehalten.“ „Was! Du willst tun, was ich nicht konnte?“ „Du hast mir den Weg aufgetan. Der Gedanke an dich wird mir beistehn.“ „Ich kann dich nur bewundern. Du dagegen mußt mich vergessen. Was nimmst du mit?“

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DIETHARDT ROTH „Du weißt wohl, ich, als der Jüngere, habe keinen Anteil am Erbe. Ich gehe ohne alles.“ „Besser so.“ „Was siehst du denn nach dem Fenster?“ „Den Garten seh ich, wo unsere Toten ruhen.“ „Mein Bruder … (und das Kind, das vom Bett aufgestanden ist, schmiegt den Arm um den Hals des Verlorenen, und es legt dieselbe Zärtlichkeit in diese Gebärde und in seine Stimme)… komm mit mir!“ „Laß mich, laß mich; ich will bleiben und unsere Mutter trösten. Ohne mich wirst du tapferer sein. Es ist Zeit jetzt. Der Himmel bleicht. Geh, ohne Lärm. Komm! Küß mich, mein junger Bruder. Du nimmst alle meine Hoffnungen mit dir. Sei stark. Vergiß uns, vergiß mich. Mögst du nicht wiederkommen … Steig leise hinab. Ich halte die Lampe.“ „Gib mir wenigstens noch die Hand bis an die Tür.“ „Achtung bei den Stufen auf dem Vorplatz …“

4 Anmerkungen Schuld einzusehen und nicht zu verdrängen oder auf andere abzuwälzen, ist im heutigen Leben ein schwieriger Vorgang. Auf der anderen Seite fordern viele, wenn sie selbst Opfer geworden sind, Wiedergutmachung. Das eigene Schuldbewusstsein ist bei vielen gesunken. Das hängt einerseits mit dem Abbau von Ordnungen und Normen zusammen, die durch überkommene Lebensstrukturen, Traditionen und Sitten gewährleistet waren, andererseits mit dem Verlust der sogenannten Primärtugenden wie Treue, Ehrlichkeit und der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Das ist weithin sicherlich in der Egozentrik des Menschen begründet, verbunden mit einer Selbstüberschätzung des Menschen, der sich als „autonom“ betrachtet und niemanden über sich annehmen will und kann und sich gleichgültig gegenüber einem Bekenntnis zu Gott verhält. Diesen Weg zeichnet André Gide vor : Eine tiefe Auseinandersetzung spiegelt sich im „Verlorenen Sohn“ wider: die Nähe zu dem Vater, zu Gott, die Distanz zu der Ordnung, die der älteste Bruder errichtet. So ist der eigentliche Gegner der ältere Bruder. Ihm vermag der

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LEHREN ALS DIENST IM AUFTRAG GOTTES Heimgekehrte aus Müdigkeit nicht mehr zu widerstehen, was er der Mutter gegenüber auch äußert: „Nichts macht mich mehr müde, als das durchzusetzen, worin man anders ist. Diese Reise hat mich am Ende ganz erschöpft.“ Ein wichtiges Motiv des Dialogs mit dem Vater im „Verlorenen Sohn“ wird verständlich: Der Vater ist auch in der Fremde anwesend! Damit siedelt Gide seinen Gott außerhalb der Kirche an. Zu Hause, also in der Kirche, macht der Älteste die Gesetze. Aber: Gott ist überall, in der Ferne ist der Mensch Gott nah! Der Älteste hingegen maßt sich an, den Willen des Vaters zu kennen und durchzusetzen. Der heimgekehrte Sohn ist zu müde, um zu kämpfen. Die Hoffnung liegt nun auf dem jüngsten Sohn, die Reinheit des Kindlichen wird die Sklaverei überwinden. Das Elternhaus wird nicht mehr vom Vater geführt, sondern vom ältesten Sohn. Den Vater finden Menschen außerhalb des Vaterhauses. Der älteste Sohn hat nicht allein die Einladung angenommen, er hat das Vaterhaus, so Gide, usurpiert. Es bleibt denen, die die Freiheit suchen oder auch den nahen Vater, nun nichts anderes übrig, als auszuziehen.

5 Arbeitsvorschläge 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Was steht im Mittelpunkt des Gleichnisses? Wo geschieht etwas, was übliches Denken und Handeln durchbricht? Wo bewegt Sie diese Geschichte? Versuchen Sie zu erläutern warum. Das Menschenbild im Gleichnis und bei Gide Das Gottesverständnis im Gleichnis und bei Gide Versöhnung bei Gott und Selbstversöhnung Neuanfang bei Gide und beim „Verlorenen Sohn“

6 Literatur – –

Paul Charles Berger, André Gide, Mensch und Werk, Coburg 1949 Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel, revidiert 2017, Stuttgart 2016.

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Wolfgang Fenske, Ein Mensch hatte zwei Söhne. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn in Schule und Gemeinde, Theologie für Lehrerinnen und Lehrer – Thema, Göttingen 2003. André Gide, Die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Übertragen von Rainer Maria Rilke, Frankfurt/M. 1978. Claude Martin, André Gide — mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbek bei Hamburg 2001. Hans Peter Mahlke, Schuld und Vergebung. Unterrichtsmodell für den Konfirmandenunterricht – Vorbereitungshilfen und Kopiervorlagen – Erarbeitet im Auftrag und unter Mitwirkung der Kommission für Katechetische Unterweisung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Groß Oesingen 2001. Karl Heinrich Rengstorf, Das Evangelium nach Lukas, Das Neue Testament Deutsch, Bd. 3, Göttingen 1965.

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Gottesdienst zur Kirchweihe Agendarische Ordnungen und berichtetes Erleben in selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchen Michael Schätzel/Christoph Barnbrock 1 Vorbemerkungen Ein wesentlicher Tätigkeitsbereich von Jorg Christian Salzmann während seines Dienstes als Professor an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel (LThH) war seine Zuständigkeit für Gebäude und Grund in seiner Funktion als Vorsitzender des Grundstücksvereins der LThH. Die Renovierung des Wohnheims I und der Neubau eines neuen Hauptgebäudes der Hochschule sind realisierte Projekte, die über seinen Eintritt in den Ruhestand Bestand haben. Nun mag man danach fragen, wie sich solche bauliche Tätigkeiten zur Theologie verhalten. Ist das eine bloß das profane Tagesgeschäft und das andere die eigentliche Sache? Oder gibt es Verbindungsstücke, die beides zusammenhalten? Ein solches „Verbindungsstück“ sehen wir in den Momenten einer Kirchweihe gegeben. Hier ist ja einerseits architektonisch ein Gebäude nach den Regeln der Kunst errichtet worden. Und andererseits wird mit der Kirchweihe deutlich, dass es sich nicht einfach nur um ein beliebiges Gebäude handelt, sondern es zu Gott in Beziehung gesetzt wird. Bauhandwerk und Theologie kommen an diesem

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MICHAEL SCHÄTZEL/CHRISTOPH BARNBROCK Punkt zusammen – so, wie es in der Tätigkeit von Jorg Christian Salzmann auch der Fall war. Dabei wenden wir uns einerseits den agendarischen Formularen aus dem Bereich selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen zu und arbeiten unterschiedliche Prägungen und Akzentsetzungen heraus. Andererseits nehmen wir zeitgenössische Berichte von Kirchweihfeiern in den Blick, um wahrzunehmen, wie der Moment der Kirchweihe von denen, die ihn mitgefeiert haben, erlebt worden ist. Die Fokussierung auf die selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchen hat ihren Grund darin, dass Jorg Christian Salzmann, dem diese Festschrift gewidmet ist, selbst aus diesem Kontext stammt und in ihm gewirkt hat, und außerdem die Thematik für diesen Bereich noch gänzlich unbearbeitet ist.1

2 Agendarische Ordnungen 2.1 Die Agende Wilhelm Löhes (³1884) Streng genommen gehört die Agende Wilhelm Löhes nicht zu den Agenden der selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchen, war Löhe doch zeitlebens Pfarrer der bayrischen evangelisch-lutherischen Kirche. Doch zeigt schon die Widmung (in der zweiten Auflage) an, dass er seine Agende auf die Verhältnisse in den entstehenden selbstständigen lutherischen Kirchen in den USA, aber auch Preußen hin entworfen hat.2 1

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Dass das Thema Kirchweihe in der evangelischen Liturgik ohnehin bisher eher stiefmütterlich behandelt worden ist, lässt sich beispielhaft daran erkennen, dass sich dem knapp 800 Seiten fassenden Liturgik-Lehrbuch von Karl-Heinrich Bieritz (Liturgik, Berlin/New York 2004) gerade einmal drei Registereinträge zur Thematik finden, in dem knapp 1000 Seiten fassenden Handbuch der Liturgik (hg. v. Hans-Christoph Schmidt-Lauber/Michael Meyer-Blanck und Karl-Heinrich Bieritz, Göttingen ³2003) sogar nur zwei. Dabei geht es in vier von fünf Erwähnungen um sehr detaillierte Teilaspekte. Agende für christliche Gemeinden des lutherischen Bekenntnisses. Erster Theil. Von Wilhelm Löhe. Zweite, vermehrte Auflage, Nördlingen 1853, [III]: „Herrn Friedrich

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GOTTESDIENST ZUR KIRCHWEIHE Die Ordnung zur Kirchweihe3 sieht eine Prozession mit Gegenständen für das neue Gotteshaus zu dessen Portal vor. Nach einer Herbeirufung Gottes („Sei zugegen, Du einiger, allmächtiger Gott, Vater, Sohn und h. Geist!“)4 folgen ein Eingangsgebet und ein Wechselgebet aus Ps 24. Weiterhin vor der Tür wird Gen 28,16–29 verlesen, bevor die Gemeinde Verse aus dem Lied „Macht hoch die Tür“ singt. Der Baumeister übergibt den Schlüssel. Vor dem Einzug erfolgen ein Friedensgruß und ein weiteres Gebet („laß Dir auch wohlgefallen dies Haus“, „Nimm, o HErr, von Stund an Besitz von Deinem Eigentum“).5 Es schließt sich ein Psalmgebet (Ps 122) oder das Benedictus an. Noch an der Schwelle wird außerdem Lk 19,1–10 verlesen. Unter dem Gesang von „Komm heiliger Geist, Herre Gott etc.“ wird die Prozession in die Kirche fortgesetzt, wo sie vor dem Altar zum Stehen kommt. Während des Betretens des Altars (wohl: Altarraums) spricht der Liturg eine Kompilation aus Versteilen aus Ps 43,3f., bevor „der Altar als der heiligste Ort der Kirche und die Stätte der sakramentlichen Gegenwart des Herrn geweiht [wird].“6 Dies geschieht mit folgendem Gebet: „Abgesondert von gemeinem und unheiligem Gebrauch und geweiht zur Ehre des allmächtigen Gottes sei dieser Altar, zu sein ein Tisch der Gnaden und himmlischen Güter und eine Stätte, da die Gläubigen ihre Opfer des Gebets und die Gaben der Barmherzigkeit darbringen. Im Namen des + Vaters und des + Sohnes und des + h. Geistes. Amen.“7

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Wyneken, Pfarrer zu St. Louis, Präsidenten der lutherischen Synode von Missouri, Ohio u. aa. Staaten Nordamerikas, und Herrn Geheimerath, Doctor und Professor juris Eduard Huschke zu Breslau, Director des Oberkirchencollegiums der lutherischen Kirche im Königreich Preußen.“ Agende für christliche Gemeinden des lutherischen Bekenntnisses. Von Wilhelm Löhe. Dritte Auflage, besorgt von J. Deinzer […]. Zweiter Teil, Nördlingen 1884, 120– 123. A. a. O., 120. A. a. O., 121. A. a. O., 122. Ebd.

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MICHAEL SCHÄTZEL/CHRISTOPH BARNBROCK Es schließt sich der Gesang von Ps 51 an, bei dem der Altar gedeckt wird, bevor nach einer weiteren biblischen Lesung (1 Kön 8,1–13.22–30) ein umfangreiches Weihegebet gesprochen wird.8 Abgeschlossen wird die Weiheliturgie durch die eigentliche Weihehandlung: „Darauf spricht der Geistliche (indem er das Zeichen des h. Kreuzes nach den 4 Himmelsgegenden macht): Dieses Gotteshaus sei + geheiligt und geweiht im Namen Gottes + des Vaters, des+ Sohnes und des + heiligen Geistes. Amen.“9 8

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A. a. O., 122f.: „O Herr, allmächtiger Gott, den Himmel und Erde nicht fassen mögen, der Du aber dennoch willst ein Haus auf Erden haben, da Deine Ehre wohne und da Dein Name angerufen werde: wir bitten Dich, kehre auch zu diesem Hause ein, das wir anbetend Dir weihen zur Ehre Deines Namens. Erhöre uns, wenn wir beten und um Dein Erbarmen flehen. Sei mitten unter uns, wenn Deine Knechte in diesem Hause dienen und ihres Amtes warten, wenn sie Dein Wort verkündigen und Deine Sakramente handeln. Laß Deinen heiligen Geist herniedersteigen mit dem Reichtum siebenfältiger Gnaden, auf daß alle Gebete, mit welchen Dein heiliger Name in diesem Hause angerufen wird, bei Dir Erhörung finden. O selige und heilige Dreieinigkeit, die Du alles reinigst, läuterst und zierest – o selige Majestät des Herrn, die Du alles erfüllst, hältst und ordnest – o selige und heilige Hand des Herrn, die Du alles heiligst, segnest und reich machst – o allerheiligster Gott, wir rufen demütiglich Deine Güte an, daß Du dies Dein Haus, das wir in tiefster Niedrigkeit Dir weihen, durch Deine Gegenwart und Heimsuchung heiligen und segnen mögest. Hier bringe Dein priesterlich Volk Dir die Opfer des Lobes dar. Hier laß Deine Gläubigen fröhlich ihre Gelübde bezahlen. Hier entbinde die Sünder ihrer Lasten und die gefallenen Gläubigen richte wieder auf. Deines Geistes Gnade heile alle Kranken, stärke die Schwachen, mache die Lahmen gehend, die Blinden sehend, die Aussätzigen rein und treibe die Teufel aus. Welcherlei Gebrechen hierher gebracht werden, die nimm hinweg und löse die Banden aller Sünden, auf daß alle die Dich hier mit Ernst anrufen, Erhörung finden und Dein Erbarmen fröhlich rühmen mögen. Vor allem aber erhalte hier die ungefälschte Wahrheit Deines göttlichen Worts und den rechten Brauch der hochwürdigen Sakramente, auf daß Dein Volk nicht verführt werde durch Irrtum, noch abweiche zu falscher Lehre, sondern erhalten werde in Deinem Namen und geheiligt werde in Deiner Wahrheit und bewahrt werde zum ewigen Leben. Durch Jesum Christum etc.“ A. a. O., 123.

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GOTTESDIENST ZUR KIRCHWEIHE Es ist auffällig, wie stark Löhes Kirchweihliturgie vom Gedanken des Einzuges Gottes und der Besitznahme des Gebäudes durch ihn bestimmt ist. Dieser Logik entsprechen die Herbeirufung Gottes ganz am Beginn, das Wechselgebet aus Ps 24 (und die Psalmnachdichtung in „Macht hoch die Tür“). Am deutlichsten wird dieser Gedanke aber wohl im Gebet vor dem Einzug erkennbar, in dem formuliert wird, dass das Gebäude „von Stund an“ von Gott zum Eigentum genommen werden möge. Hier wird deutlich ein „Zustand vorher“ und ein „Zustand nachher“ markiert. Dieser Logik folgt auch das eigentliche Weihegebet, insbesondere mit seiner epikletischen Formulierung: „Lass deinen Geist herniedersteigen“. Die eigentliche Weihe wird dann mit der performativen Weiheformel10 vollzogen, die mit den Kreuzeszeichen, die in die vier Himmelsrichtungen gerichtet werden, einmal mehr den Gedanken der Besitznahme unterstreicht. Auch exorzistische Anklänge sind wahrzunehmen, wenn der Altar „von gemeinem und unheiligem Gebrauch [abgesondert]“ wird bzw. das siebenfache (!) Kreuzeszeichen in Analogie zur Taufliturgie eben auch als auch Geschehen eines Machtwechsels zu deuten ist.11 Die Eigenart der Agende Löhes wird umso deutlicher, wenn man sie mit denjenigen Agenden vergleicht, für deren Kontexte Löhe seine Agende (nicht zuletzt) entwickelt hat, nämlich für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen12 und die Evangelisch-Lutherische Synode von Missouri, Ohio und anderen Staaten.13 Es ist vorauszusetzen, dass diejenigen, die die beiden folgenden Ordnungen entworfen haben, die Kirchweihliturgie Löhes kannten und bewusst anders akzentuiert haben.

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Vgl. als kurzen Überblick zur Sprechakttheorie im Kontext der Liturgik Alexander Deeg/David Plüss, Liturgik, Lehrbuch Praktische Theologie 5, Gütersloh 2021, 494f. Vgl. zur Verwandtschaft von Tauf- und Kirchweihritus Christian Grethlein, Benediktionen und Krankensalbung, in: Schmidt-Lauber u. a., Handbuch (s. Anm. 1), 551– 574, dort 557. Im Folgenden: ELKP. Im Folgenden: Missouri-Synode.

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2.2 Agende für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen (1886)14 Auch die Agende der ELKP setzt mit einer Prozession an, die vom alten Kirchgebäude zum neuen führt (falls möglich). Im alten Kirchgebäude kann ggf. ein Gottesdienst gefeiert werden. Besonders betont wird, dass bei einem Abendmahlsgottesdienst eine Beichte vorgesehen werden mag. Am neuen Gebäude angekommen singt die Gemeinde. Als Liedvorschlag ist angegeben: „Tut mir auf die schöne Pforte“. Hier wird schon der Neuansatz der Ordnung deutlich: Ging es in Löhes Liturgie darum, dass in Worten von Ps 24 „der König der Ehre einziehe“, liegt der Akzent hier nun auf den Menschen („führt in Gottes Haus mich ein“).15 Dem entsprechen auch die Formulierungen in den nun folgenden Texten (Wechselgesang, Gebet, Schriftvotum und Votum zum Einzug). Immer geht es um den Einzug des Gottesvolkes und eben nicht um den Einzug Gottes.16 Die Gemeinde betritt nun die Kirche. Dabei erfolgen keine weiteren Präparationshandlungen. Sondern der Altar wird direkt geschmückt. Es folgen (z. B.) „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ und die „Weihrede“ und schließlich ein Gebet, auf das zwei Varianten für den eigentlichen Weiheakt folgen. In der ersten wird die Weihe für die ganze Kirche vorgenommen, im zweiten erfolgt explizit nacheinander die Weihe an Altar, Taufstein, Kanzel und weiteren Geräten. In beiden Varianten findet sich der auch bei Löhe dokumentierte Gedanke der Aussonderung (jeweils „dahinein[] nichts Unreines und Gemeines

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Agende für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen. Zweiter Teil. Die kirchlichen Handlungen, Cottbus 1886, dort 78–81. Evangelisch-Lutherisches Kirchengesangbuch², Stuttgart 2021, Nr. 109,1 (Hervorhebung MS/CB). „Herr, halte im Bau Deine Gemeinde, die Du Dir gepflanzt hast. / R. Und errette sie, die Du Dir festiglich erwählet hast. / Thue wohl an Zion nach Deiner Gnade / R. Baue die Mauern zu Jerusalem.“ (Agende ELKP [s. Anm. 14], 79); „[…] wir bitten Dich, Du wollest jetzt uns Arme gnädig ansehen und unsern Eingang in dieses Haus mit Deinem Segen krönen“ (ebd.); „Thut die Thore auf, daß hereingehe das gerechte Volk, das den Glauben bewahrt.“ (ebd.); „So kommt, laßt uns mit Freuden einziehen, denn es ist alles bereit.“ (ebd.).

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GOTTESDIENST ZUR KIRCHWEIHE kommen soll“).17 Auch der Gedanke, dass Gott nun in diesem Haus Wohnung nimmt, klingt im vorstehenden Gebet an,18 längst aber nicht so deutlich wie in Löhes Formular. Auch hier steht am Ende des Geschehens (jeweils) eine performative Weiheformel, die jeweils mit einem Kreuzeszeichen verbunden wird.19 So lassen sich Parallelen zum Entwurf Löhes entdecken – genauso aber auch die Tendenz, die bei ihm stark ausgeprägten Eigenarten (insgesamt siebenfaches Kreuzeszeichen, Hinwendung in alle Himmelsrichtungen im Sinne eines Herrschaftswechsels) zurücktreten zu lassen. Insgesamt fällt auf, dass die gottesdienstliche Gemeinde stärker in den Fokus rückt als der Gedanke des einziehenden Gottes. Die Feier ist schlichter gehalten (was sich bspw. allein an der Reduktion der biblischen Lesungen erkennen lässt). Und der Wechsel von Vorher zum Nachher wird weniger stark betont, was sich etwa daran zeigt, dass der Altar ohne weitere Präparationshandlungen einfach eingedeckt wird.

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A. a. O., 80 (dort mit fehlerhafter Interpunktion) und 80f. A. a. O., 80: „So nimm denn dieses Haus aus unseren Händen als Dein Eigentum, wohne darinnen und laß es Deiner Gnade und Ehre voll sein.“ „Nachdem wir GOtt ernstlich im Namen seines Sohnes angerufen haben, zweifeln wir nicht, Er werde uns geben, darum wir Ihn gebeten haben. In diesem Glauben JEsu Christi des Sohnes GOttes weihe ich denn dieses Haus [mit allen seinen heiligen Stätten und Geräten – so Variante 1, MS/CB] zu einem GOtteshause, das dem Herrn gehören, dahinein nichts Unreines noch Gemeines kommen soll und zu einem Bethause für diese evangelisch=lutherische Gemeinde, die durch das teure Blut JEsu Christi erlöset ist“ Hier folgt in Variante 1: „im Namen GOttes des Vaters und des Sohnes + und des Heiligen Geistes Amen.“ In Variante 2 folgt hier die Weihe der einzelnen Stätte und Geräte, bevor der Ritus schließt mit: „Gesegnet sei dies Haus und alle seine Fülle im Namen GOttes des Vaters und des Sohnes + und des Heiligen Geistes. Amen.“

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2.3 Kirchenagende für Ev.-Luth. Gemeinden ungeänderter Augsburgischer Konfession der Missouri-Synode (1922)20 Wirft man einen Blick auf die deutschsprachigen Agenden der nordamerikanischen Missouri-Synode,21 so fällt auf, dass in der Ausgabe von 1896 ein Formular für die Kirchweihe fehlt, während aber Festgebete für das Kirchweihgedenken enthalten sind.22 Dies ist allein deswegen überraschend, weil angesichts des großen Einwandererzustroms der Bau neuer Kirchen regelmäßig vorkam. Mindestens drei Erklärungsmodelle lassen sich dafür finden, dass ein Kirchweihformular zunächst in der Agende fehlt: 1. dass Kirchen nach altkirchlichem Brauch ohne festes Formular mit dem ersten Gottesdienst in Gebrauch genommen wurden,23 2. dass ein in der Synode geltendes Formular nicht aufgenommen worden ist, weil der Fall einer Kirchweihe aus der Perspekltive jeder einzelnen Kirchengemeinde relativ selten vorkam und dies deswegen nicht in der Agende dokumentiert worden ist, 3. dass man auf andernorts publizierte Ordnungen (z. B. Löhes) zurückgegriffen hat. Das Formular in der Agende von 1922 lässt dabei eine interessante Spannung erkennen. Einerseits sind die Abhängigkeiten von dem Kirchweihformular Löhes 20

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Kirchenagende für Evang.-Luth. Gemeinden ungeänderter Augsburgischer Konfession. Zusammengestellt aus den alten rechtgläubigen Sächsischen Kirchenagenden und in mehrfach veränderter Form herausgegeben von der Evangelisch=Lutherischen Synode von Missouri, Ohio und anderen Staaten, St. Louis, Mo. 1922, dort 185–189. Festzuhalten ist, dass die Agenden der nordamerikanischen Missouri-Synode auch in den Gemeinden der Evangelisch-Lutherischen Freikirche bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in Gebrauch waren. Kirchen=Agende für Evang.-Luth. Gemeinden ungeänderter Augsburgischer Confession. Zusammengestellt aus den alten rechtgläubigen Sächsischen Kirchen=Agenden und herausgegeben von der Allgemeinen deutschen Evangelisch=Lutherischen Synode von Missouri, Ohio und anderen Staaten, St. Louis, Mo. 1896, dort 224–226. Vgl. Grethlein, Benediktionen (s. Anm. 11), 557.

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GOTTESDIENST ZUR KIRCHWEIHE klar erkennbar: Auch in dieser Agende wird das Motiv des einziehenden Königs aus Ps 42 aufgenommen (wenn es auch hier sofort erweitert wird durch eine Kompilation aus anderen Psalmversen, die das Kommen Gottes mit dem Eintreten der Gemeinde verbinden). 24 Das Lied „Komm heiliger Geist, Herre Gott“ während der Prozession zum Altar, das hier im Sinne einer Epiklese zu verstehen ist, findet sich ebenfalls in dieser Agende.25 Und schließlich folgt dieses Kirchweihformular auch darin der Logik der Löhe’schen Ordnung, dass die Predigt ihren Platz erst nach der Weihehandlung hat26 (und nicht wie in der Agende der ELKP schon zuvor). Gerade weil aber an verschiedenen Stellen Kontinuitäten wahrnehmbar sind, fallen die Diskontinuitäten umso stärker ins Auge. Der stärkste Bruch zum Löhe’schen Formular (und auch der größte Unterschied zur Agende der ELKP) lässt sich darin entdecken, dass eine performative Weiheformel im engeren Sinn in dem Formular nicht vorgesehen ist. Dasselbe gilt für Kreuzeszeichen, die in dieser Ordnung nicht vorkommen. Wie die Weihe gedacht ist, lässt sich der Einleitung zur Schriftlesung entnehmen: „Weil nun zu solcher gnädigen Offenbarung Gottes im Wort und Sakrament dies Haus erbaut und zu solch seligem und alleinigem zweck jetzt von uns eröffnet ist, wir aber zum ersten Male hier in seinem Namen versammelt sind, so laßt uns erstlich das Wort des HErrn hören und danach in einmütigem Gebete diese Stätte ihm befehlen, sintemal nach des Apostels Wort alle Dinge geheiligt werden durch das Wort Gottes und durch das Gebet.“27

Darauf folgen nun Schriftlesung und ein Gebet, in dem für den Bau gedankt wird und um den göttlichen Beistand bei allem Geschehen in dieser Kirche gebeten wird. Das Gebet und mit ihr die Kirchweihhandlung, wenn man sie denn überhaupt so nennen möchte, endet mit einer klassischen Gebetsabschlussformulie24 25 26 27

Kirchenagende Missouri-Synode (s. Anm. 20), 186. Ebd. A. a. O., 189. A. a. O., 187.

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MICHAEL SCHÄTZEL/CHRISTOPH BARNBROCK rung: „Solches alles wollest du, o dreieiniger Gott, uns verleihen durch das Verdienst unsers einzigen Mittlers JEsu Christi, hochgelobt und geliebt in Ewigkeit. Amen.“28 Etwas pointiert ließe sich sagen: Die Kirchweihe erfolgt hier nicht durch einen Weiheakt, in dem die Kirche erst für den Gottesdienst vorbereitet wird, sondern durch die Feier des Gottesdienstes selbst wird die Kirche geweiht.

2.4 Zwischenfazit Thomas Melzl hat kürzlich in einem Beitrag darauf hingewiesen, dass die Terminologie in den gegenwärtigen evangelischen Agenden zu Realbenediktionen einige Ungereimtheiten aufweisen.29 Diese Unstimmigkeiten lassen sich wie ein Spiegelbild dessen wahrnehmen, was die Analyse der Agenden aus dem 19./20. Jahrhundert in diesem Aufsatz ans Licht gebracht hat, dass nämlich der Akt der Kirchweihe in diesem Fall ganz unterschiedlich interpretiert und vollzogen werden kann. Melzl plädiert in seinen Ausführungen dafür, den Weihe-Begriff ganz fallen zu lassen: „Eine Weihe kann nach protestantischem Verständnis daher nichts anderes sein als eine besondere Indienstnahme. Allerdings transportiert der Begriff ‚weihen‘ zusätzlich die Abgrenzung vom Profanum, die gerade vor dem Hintergrund der in der Reformation aufgegebenen Unterscheidung (im Sinne des Gebrauchs, wie er in der damaligen Zeit Praxis war) zwischen sakral und profan nicht unbedingt notwendig ist, so dass wohl allein die Formulierung ‚in den Dienst Gottes stellen‘ hinreichend ist, um dem besonderen Status der so in Dienst genommenen Realie Ausdruck zu verleihen. Gegenüber dem Begriff der ‚Weihe‘ muss vor dem neutestamentlichen Hintergrund sogar der Dienst-Begriff als der stärkere angesehen werden. Denn was kann von einer Realie höheres ausgesagt werden, als dass

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A. a. O., 189. Thomas Melzl, Weihen, einweihen, in Dienst stellen. Mehr als eine Frage der richtigen Formulierungen?, LuThK 45 (2021), 116–136.

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GOTTESDIENST ZUR KIRCHWEIHE sie von Gott in Dienst genommen wird? Zumindest käme es vor den oben angegebenen Ausführungen zu keinem Bedeutungsverlust, wenn der Begriff der ‚Weihe‘ aufgegeben würde, sondern könnte auch in diesem Fall zu einer Klärung beitragen.“30

Diese Überlegungen samt der Einschätzung des „protestantische[n] Verständnis[ses]“ bilden aber nur einen Teil der Liturgietradition evangelischer Kirchen ab. Das, was Melzl, vorschwebt, wäre gut kompatibel mit der Agendentradition der Missouri-Synode. Und hier ließe sich tatsächlich fragen, ob der Weihebegriff, der in der Agende der Missouri-Synode aufgenommen ist, nicht tatsächlich auch sachgemäßer ersetzt werden sollte. Nicht abgebildet wäre damit aber, so scheint uns, das relativ pointierte Weihehandeln, wie es in der Agende Wilhelm Löhes (und abgeschwächt auch in der Agende der ELKP) beschrieben und inszeniert wird. Hier haben wir es eben doch mit einem Akt zu tun, in dem die Kirche „vom Bereich des Profanen abgegrenzt [wird]“,31 wie Melzl den Weihe-Begriff füllt. Dieser steht den performativen Aspekten von Sprache offensichtlich eher kritisch gegenüber, wenn er etwa formuliert: „Kirche kann schlechterdings kein Gebäude oder Bauwerk in ‚kirchlicher‘ oder ‚nichtkirchlicher‘ Trägerschaft ‚unter den Schutz und Segen Gottes‘ stellen, sie kann aber sehr wohl um den Schutz und Segen bitten. Alles, was darüber hinausgeht, bleibt Gott vorbehalten.“32

Hier würde Löhe wohl dem Segen, in dem der Segnende ja auch nicht nur um Segen bittet, sondern ihn zuspricht, und dem Weihehandeln, in dem nicht einfach nur um Gottes Gegenwart gebeten wird, größeres Gewicht geben.

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A. a. O., 135. A. a. O., 128. A. a. O., 136.

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3 Das Erleben von Kirchweihen Agendarische Ordnungen spiegeln wider, wie eine Kirche ein bestimmtes gottesdienstliches Ereignis (zu einem bestimmten Zeitpunkt) versteht und gestaltet wissen möchte. Sie stellen also gewissermaßen die offizielle Lesart dar. Das Erleben der Weihe von Kirchen geht darin nicht auf, sondern darüber hinaus und kann auch davon differieren. Um diesem Erleben auf die Spur zu kommen, greifen wir auf die Berichte von Kirchweihen im Raum der selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchen aus dem Zeitraum von 1881 bis 1930 zurück. Berücksichtigt sind dabei Kirchweihen aus dem Raum der Hannoverschen evangelisch-lutherischen Freikirche, 33 der Evangelisch-Lutherischen Freikirche von Sachsen und anderen Staaten, 34 der Evangelisch-Lutherischen Kirche Altpreußens 35 und der Evangelisch-Lutherischen Immanuel-Synode.36 Die Auswahl kann keine Repräsentativität beanspruchen – weder für Kirchweihen im Allgemeinen noch für Kirchweihen in den Vorgängerkirchen der heutigen Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) noch notwendigerweise für die jeweilige selbstständige lutherische Kirche, in deren Kontext die Kirchweihe gefeiert wurde. Die Auswahl stellt stattdessen eine mehr oder weniger zufällige Strichprobe dar.

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N., Die Einweihung der Kirche zu Molzen am 15. December 1887, Unter dem Kreuze 13 (1888), 26–29; L. und B., Kirchweihe der St. Petrikapelle in Hannover, Unter dem Kreuze 27 (1902), 252–254; Kirchweihe in Farven, Unter dem Kreuze 35 (1910), 394– 396. H. Stallmann, Kirchweihe [in Allendorf=Kleinlinden], Die Evangelisch-Lutherische Freikirche 7 (1882), 159f.; P. Kern, Kirchweihe [in Chemnitz], Die Evangelisch-Lutherische Freikirche 8 (1883), 110f. R. Schulz, Einweihung der Kirche in Stettin, Kirchen-Blatt für die Evangelisch-lutherischen Gemeinden in Preußen 65 (1910), 609–613; J. W.-W., Kirchweih in BochumHamme, Kirchen-Blatt für die Evangelisch-lutherischen Gemeinden in Preußen 85 (1930), 126–128. Vollert, Kirchweih [in Mühlhausen/Thüringen], Immanuel. Volksblatt für evangelisch-lutherische Gemeinden 19 (1882), 15–18.

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GOTTESDIENST ZUR KIRCHWEIHE

3.1 Das Kirchgebäude und der Kirchweihgottesdienst Die (ein)geweihten Kirchgebäude werden im Rahmen der Berichte häufig ausführlich beschrieben. Dies gilt für die äußere Lage wie für die Größe und die Gestaltung innen und außen. Auffällig oft ist von der Beteiligung der Gemeinde nicht nur beim Bau, sondern auch bei der Ausstattung der Kirchen die Rede. Kunstwerke werden von Gemeindegliedern selbst gefertigt37 und einzelne Gegenstände der Kirche durch, wie wir heute sagen würden, Fundraisingaktionen finanziert.38 Dadurch werden die Kirchen zu einer besonderen Identifikationsgröße. Was das eigentliche Weihehandeln angeht, ist zunächst wahrzunehmen, dass das Ereignis in der überwiegenden Anzahl der berücksichtigten Berichte als „Kirchweih(e)“39 bezeichnet wird, nur in zwei Fällen als „Einweihung“, ein Begriff, der auch außerhalb der Kirche Verwendung findet.40 Eine eigenständige Formulierung findet sich in der Beschreibung der Kirchweihe in Molzen, in der explizit davon die Rede ist, daß nach der Weihe „P. Heicke […] die Christus=Kirche (so heißt die neue Kirche) der Gemeinde zum heilsamen Gebrauche des Wortes und der Sacramente [übergab].“41 Vergleicht man dies etwa mit der agendarischen Ordnung Löhes, so wird deutlich, dass hier

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Vgl. bspw. Kirchweih Mühlhausen (s. Anm. 36), 16f. Vgl. Einweihung Stettin [s. Anm. 35], 611: „Bei den Männern der Gemeinde fiel die Anregung, zu den Kosten der Orgel beizutragen, auf fruchtbaren Boden. Die Kinder haben mit großem Eifer für den Taufstein gesammelt. Die größte Aufgabe hatte sich der Nähverein gesetzt, nämlich den Turm mit zwei Glocken zu versehen.“ Beim Bericht über die Kirchweihe in Chemnitz noch ausgeführter: Es „sei hier mitgeteilt, daß wir am 5. Sonntag nach Trinitatis, den 24. Juni, unsere neuerbaute Dreieinigkeitskirche dem Dienste des dreieinigen Gottes feierlich geweiht haben.“ (Kirchweihe Chemnitz [s. Anm. 34], 110). Vgl. zur Unterscheidung von „Weihe“ und „Einweihung“, die zumindest in der Gegenwart in den agendarischen Formularen aber auch wieder unterlaufen wird, Melzl, Weihen (s. Anm. 29), dort v. a. 118–124. Einweihung Molzen (s. Anm. 33), 27. – Vgl. auch die Formulierung in einer der Predigten: „dieses Gotteshaus“ als „Gabe Gottes“ (a. a. O., 28).

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MICHAEL SCHÄTZEL/CHRISTOPH BARNBROCK weniger betont wird, dass Gott in die Kirche einzieht, als vielmehr, dass die Gemeinde sie als ihre Kirche wahrnimmt und bezieht. Erwähnt werden regelmäßig die Prozession von der alten zur neuen Kirche, einzelne Gesänge, das Öffnen der Türen, das „Weihegebet“ und die „Weiherede“ bzw. „Weihepredigt“ und die Tatsache, dass der Gottesdienst anschließend nach der gewohnten Ordnung fortgesetzt wird. Großes Gewicht erhält jeweils die Beschreibung des Momentes der Schlüsselübergabe und des Eintritts in die Kirche. Dieser Passageritus scheint im Erleben wesentlich eindrücklicher gewesen zu sein als das liturgische Weihehandeln. Über die agendarischen Bestimmungen hinaus wird an einer Stelle erwähnt, dass einzelne Pastoren Segensworte sprechen.42 Insgesamt fallen die Beschreibungen des liturgischen Aktes der Kirchweihe ausgesprochen kurz aus, während die Predigt(en) oftmals umfangreich referiert werden. Anderes vom Tag hat offensichtlich mehr Gewicht und beansprucht in den Berichten größeren Raum. Auffällig ist, dass das Kirchgebäude als solches in den Kirchweihpredigten, soweit von ihnen berichtet wird, keine Rolle spielt. Stattdessen tritt ganz das Geschehen in der Kirche in den Vordergrund.43

3.2 Kirchweihe als kleiner Kirchentag Die Kirchweihfeste fanden oft in größerem Rahmen statt. Weit verbreitet waren mehrere Gottesdienste, die am Kirchweihtag gehalten wurden. In den Gottes42 43

Vgl. Bochum Kirchweih (s. Anm. 35), 127. Vgl. pointiert in Kirchweih Mühlhausen (s. Anm. 36), 17f.: „[…] Pastor von Kienbusch predigte mit dem ihm eigenen tiefen Ernste und der aus tiefster Seele gebornen Überzeugungskraft über Lucas 19 v. 1 ff.: in welchem Sinn weihen wir diesen Raum zu einem Gotteshause? In dem Sinne: 1. daß wir nur solche einladen, welche Sehnsucht und Verlangen haben nach JEsu; 2. daß JEsus hier sich offenbare in der selben Weise wie er es immer thut durch Wort und Sakrament; 3. daß hier eine Gemeine sei, die sich JEsu ergiebt mit Leib und Seele als Eigenthum.“ – Ähnlich zu Lk 19 auch in Kirchweihe Allendorf (s. Anm. 34), 159, aber auch in fast allen benannten Predigten im Rahmen der untersuchten Kirchweihfeste.

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GOTTESDIENST ZUR KIRCHWEIHE diensten wirkten nicht nur andere Pfarrer mit, sondern auch Chöre aus Nachbargemeinden.44 Bisweilen wurde die Kirchweihe mit einer anderen Veranstaltung verbunden.45 Die Gelegenheit der Zusammenkunft wurde auch für weitere Gespräche genutzt.46 Und mehrere Programmpunkte konnten sich an die eigentlichen Kirchweihgottesdienste anschließen.47 So wird man sich die Nachfeier der Kirchweihe in Bochum durchaus als kleines kirchliches Volksfest vorstellen dürfen, wenn es im Bericht heißt: „Zur Nachfeier im Kruppschen Saalbau in Bochum-Hordel, 15 Minuten von der Kirche entfernt, versammeln sich, nachdem man dort gemeinsam Mittag gegessen, wieder über 1000 Menschen. Der Wittener Posaunenchor, der Bochum-Hammer und der Wittener Kirchenchor erfreuen durch ihre Darbietungen.“48

Dabei dienten Feste wie eine solche Kirchweihe auch dem gegenseitigen Kennenlernen und dem kirchlichen Zusammenwachsen.49

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Vgl. Kirchweihe Chemnitz (s. Anm. 34), 111. So zum Beispiel mit dem regelmäßig stattfindenden „Synodalsonntag“ im Fall der Weihe der Kirche in Allendorf (vgl. Kirchweihe Allendorf [s. Anm. 34]). So zum Beispiel in Hannover für Konsultationen zwischen den beiden unmittelbar betroffenen Kirchenvorständen (Kirchweihe Hannover [s. Anm. 33], 254). Vgl. Kirchweih Mühlhausen (s. Anm. 36), 18: „Ansprachen der Pastoren wechselten mit Gesängen des Jünglings= und Jungfrauenvereins; diese mit Deklamationen verschiedener Lieder, gedichtet von Gerok, Spitta und einzelnen Gemeindegliedern […]. Am Montag [! – MS/CB] Abend tönte das Fest aus, dessen Klänge uns den ganzen Tag über bewegt hatten.“ Bochum Kirchweih (s. Anm. 35), 127. Vgl. Bochum Kirchweih (s. Anm. 35), 128: „Damit die alten und neuen Lutheraner miteinander bekannt wurden, mußten jene alle gemeindeweise nacheinander einmal aufstehen: die Wittener, Essener und Bochumer ‚Nachbarn‘, dann die aus Radevormwald, Elberfeld und Barmen […].“

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3.3 Kirchweihe als ökumenisches und gesellschaftliches Ereignis Auffällig ist, dass die Kirchweihereignisse durchaus über die eigene Gemeinde und auch die unmittelbare regionale50 und gleichkonfessionelle kirchliche Nachbarschaft hinausgewirkt haben. Auch Christinnen und Christen sowie Geistliche aus anderen Kirchen51 nehmen an der Weihe von Kirchgemeinden selbstständiger lutherischer Gemeinden teil und werden explizit erwähnt, was darauf schließen lässt, dass ihre Anwesenheit durchaus eine Bedeutung für das Fest hatte.52 Ein besonderes Zeichen ökumenischer Verbundenheit wird von der Kirchweihe in Farven berichtet, dass nämlich auch landeskirchliche Familien ihre Türen öffneten, um von auswärts zur Kirchweihe angereiste Gäste aufzunehmen.53 Diese ökumenischen Aspekte fallen dabei besonders ins Auge, weil in der hier untersuchten Zeit die Unterscheidung von anderen Kirchen und Gemeinden und die Legitimität der eigenen gemeindlichen und kirchlichen Existenz in den Gemeinden der selbständigen lutherischen Kirchen eine besonders große Bedeutung hatte.

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Bei der Kirchweihe im hessischen Allendorf konnte etwa ein Superintendent aus Kopenhagen begrüßt werden (vgl. Kirchweihe Allendorf [s. Anm. 34], 159). So etwa bei der Kirchweihe in Stettin: „doch hatten sich 8 Geistliche unserer Kirche eingefunden und 2 Herren der evangelischen Stadtgeistlichkeit und der schwedische Seemannspastor.“ (Einweihung Stettin [s. Anm. 35], 609) Vgl. Kirchweih Mühlhausen (s. Anm. 36), 17 [im Folgenden die Beschreibung des Einzugs in die Kirche]: „Voran drei Pastoren: mit mir der liebe Pastor von Kienbusch, der auf besondern Wunsch der Gemeine gern über den Harz herübergekommen war, und der liebe Pastor Scholze, der eben seinen Kirchenkampf im Königreich Sachsen ausgekämpft hatte – mit uns die Gemeine und viele Fremde von nah und fern, aus der luth. Landeskirche, aus der unirten Kirche, aus der Breslauer Synode, auch Katholiken – so zogen wir ein in die neue Heimath.“ Vgl. Kirchweihe Farven (s. Anm. 33), 394.

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GOTTESDIENST ZUR KIRCHWEIHE Entsprechend kann die Kirchweihe gelegentlich auch als Akt der Abgrenzung und des Eintretens Gottes für die sich als unterdrückt wahrgenommene Gemeinde verstanden werden.54 Bisweilen mischt sich erkennbare Enttäuschung in die Nachricht, dass Ehrengäste aus Stadt, Land und Kirche nicht teilnehmen konnten.55 Andererseits wird etwa im Bericht der Bochumer Kirchweih voller Stolz erwähnt, dass die Altarbibel von Reichpräsident Paul von Hindenburg gestiftet worden ist.56 Dabei wird gerade am Kirchweihtag auch die Vernetzung der feiernden Gemeinde erkennbar, wenn etwa von Zuschüssen aus städtischen Mitteln und anderen Gemeinden und Kirchen die Rede ist.57 Eine Besonderheit bildet die Kirchweihe der St. Petrikapelle in Hannover, die als Gemeinschaftsprojekt zweier lutherischer Gemeinden gebaut worden ist.58

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Vgl. Kirchweihe Chemnitz (s. Anm. 34), 110: „Auch unsere Kirchweih ist ein Zeugnis, daß der HErr sich aufmacht, die verfallenen Mauern des lutherischen Zion wieder zu bauen und ihre Brüche wieder zu heilen, und weder Macht, noch List, noch Lüge und Verleumdung werden Ihn aufhalten, Sein Werk allmächtig auszuführen.“ – Vgl. auch ähnlich Kirchweihe Hannover (s. Anm. 33), 253. Vgl. Einweihung Stettin (s. Anm. 35), 609: „Von den geladenen Staatsbehörden war niemand erschienen, auch von der Stadtvertretung hatte keiner der Einladung folgen können. Der Oberbürgermeister mußte noch am Sonntage Morgen seine Zusage einer Reise wegen zurückziehen. Auch von unserer Kirchenbehörde, dem Ober=Kirchen=Kollegium, konnte niemand erscheinen […].“ – Vgl. auch Kirchweihe Hannover (s. Anm. 33), 254: „Pastor Beyreiß verlas […] auch die Entschuldigungsschreiben von den sog. ‚Spitzen‘ der Stadt Hannover, die zur Theilnahme an der Feier eingeladen worden waren. Sie erinnerten etwas an das bekannte ‚Ich bitte dich, entschuldige mich‘ – waren aber sonst in höflichem Tone gehalten.“ Vgl. Bochum Kirchweih (s. Anm. 35), 127. Vgl. Einweihung Stettin (s. Anm. 35), 611. – Vgl. auch zu Sachspenden anderer Gemeinden Bochum Kirchweih (s. Anm. 35), 127. Vgl. Kirchweihe Hannover (s. Anm. 33), 252f.: „Zunächst betheiligten sich am Fest die St. Petrigemeinde und die Gemeinde der Hannov. ev.=luth. Freikirche, deren gemeinsamen Gottesdiensten diese Kapelle dienen soll […].“

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4 Schlussgedanken Dieser Beitrag hat gezeigt, dass die Verständnisse von dem, was eine Kirchweihe ist und wie sie zu gestalten ist, im weiteren Raum der selbstständigen evangelischlutherischen Kirchen und Gemeinden ebenso divers war wie das Erleben. Unterschiedliche Akzente konnten betont werden: Die Kirche als Ort, an dem Gott Wohnung nimmt, aber auch die Kirche als Gabe Gottes an die Gemeinde. Das Weihehandeln konnte als performatives Geschehen betont werden, aber genauso die ganze Aufmerksamkeit auf das gottesdienstliche Geschehen in der Kirche als das Wesentliche gerichtet werden. Nicht zu übersehen ist bei den Kirchweihberichten, wie sehr die Kirche eine Identifikationsgröße darstellt. Hier finden sich Gegenstände, die selbst gefertigt oder gespendet wurden. Die Kirche kann Symbol der Abgrenzung sein. Aber das Kirchweihfest kann auch als Gelegenheit wahrgenommen werden, eine größere Öffentlichkeit einzuladen und Gemeinschaft über die eigenen Konfessionsgrenzen hinweg zu erleben. Die große Identifikationskraft der neuen Kirche erklärt dann auch den besonderen Schwerpunkt, den der Einzug in die Kirchen gegenüber dem Weihehandeln erhält. Dass die Gemeinde in ihre Kirche einzieht, ist im Erleben offensichtlich deutlich dominanter als die Vorstellung, dass die Kirche Gott als Haus, in dem er wohnt, zur Verfügung gestellt wird. Bemerkenswert ist weiterhin, dass die Kirchweihe nicht nur ein Fest rund um ein Kirchgebäude ist, sondern eben auch als Kirchenfest im Sinn der kirchlichen Gemeinschaft gefeiert wird. Man trifft sich, man unterstützt sich, man lernt sich kennen und wächst zusammen. Für die Gestaltung einer Kirchweihe in der Gegenwart würde es sich lohnen, diese ganz unterschiedlichen Aspekte, die mit einer Kirchweihe verbunden sein können, im Blick zu behalten und den Gottesdienst und den Tag entsprechend zu gestalten. Oft ist es eben nicht nur ein Aspekt, der ein Ereignis angemessen beschreibt, sondern ein ganzes Bündel von Motiven und Erlebnisweisen.

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Lk 8,4–15: Gesätes Wort Gottes Eine Predigt Peter Söllner Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Amen. Unser Predigtabschnitt steht im Lukasevangelium im 8. Kapitel: 4 Als nun eine große Menge beieinander war und sie aus den Städten zu Jesus eilten, redete dieser in einem Gleichnis: 5 Es ging ein Sämann aus zu säen seinen Samen. Und indem er säte, fiel einiges auf den Weg und wurde zertreten, und die Vögel unter dem Himmel fraßen’s auf. 6 Und einiges fiel auf den Fels; und als es aufging, verdorrte es, weil es keine Feuchtigkeit hatte. 7 Und einiges fiel mitten unter die Dornen; und die Dornen gingen mit auf und erstickten’s. 8 Und einiges fiel auf gutes Land; und es ging auf und trug hundertfach Frucht. Als er das sagte, rief er: Wer Ohren hat zu hören, der höre! 9 Es fragten ihn aber seine Jünger, was dies Gleichnis bedeute. 10 Er aber sprach: Euch ist’s gegeben, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu verstehen, den andern aber in Gleichnissen, damit sie es nicht sehen, auch wenn sie es sehen, und nicht verstehen, auch wenn sie es hören. 11 Das Gleichnis aber bedeutet dies: Der Same ist das Wort Gottes. 12 Die aber auf dem Weg, das sind die, die es hören; danach kommt der Teufel und nimmt das Wort aus ihrem Herzen, damit sie nicht glauben und selig werden. 13 Die aber auf dem Fels sind die: wenn sie es hören, nehmen sie das Wort mit Freuden an. Doch sie haben keine Wurzel; eine Zeit lang glauben sie und zu der Zeit der

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PETER SÖLLNER Anfechtung fallen sie ab. 14 Was aber unter die Dornen fiel, sind die, die es hören und gehen hin und ersticken unter den Sorgen, dem Reichtum und den Freuden des Lebens und bringen keine Frucht. 15 Das aber auf dem guten Land sind die, die das Wort hören und behalten in einem feinen, guten Herzen und bringen Frucht in Geduld. Lasst uns beten! Herr Gott, himmlischer Vater! Wir suchen nach deinem Wort, verborgen in menschlichen Worten. Wir brauchen deinen Geist, der uns immer wieder neu zu deiner göttlichen Wahrheit leitet. Wir bitten dich: Hilf uns, dass wir deine Stimme hören und annehmen, was du uns sagen willst durch Jesus Christus deinen Sohn. Amen. Liebe Gemeinde, das klingt doch erst einmal wie eine völlig banale Aufforderung, was Jesus da in unserem Predigtabschnitt sagt: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ Ja, wofür sind Ohren denn sonst da, als zum Hören, könnte man fragen. Dass sich in den Ohren auch die Gleichgewichtssteuerung mit Sacculus und Utriculus befindet, daran haben die Menschen damals in Palästina mit Sicherheit noch nicht gedacht. Also, was soll diese Aufforderung Jesu: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“? Der deutsche Essayist Ernst R. Hauschka hat einmal gesagt: „Wer einmal über’s Ohr gehauen wurde, der hört beim nächsten Mal besser.“ Dieser Satz passt zu unserem Predigtabschnitt. Denn Jesus geht es besonders darum, dass wir das „Wort Gottes hören und behalten“ (V. 15) sollen.

1 Das Gleichnis vom Sämann Dazu erzählt er ein Gleichnis: „Es ging ein Sämann aus zu säen seinen Samen.“ Eine ganz einfache Situation aus dem Alltag also. Jede Frau, jeder Mann wusste, was gemeint war. Und auch der weitere Verlauf enthält erst mal so gar keine

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LK 8,4–15: GESÄTES WORT GOTTES Überraschungen, wie wir das sonst aus den Gleichnissen Jesu kennen. Da streut der Sämann seinen Samen aus und dieser fällt auf vier verschiedene Untergründe: • Ein Teil fällt auf den Weg. Dort werden die Körner entweder zertreten oder von den Vögeln aufgepickt. − Umsonst gesät! • Ein weiterer Teil fällt auf den Felsen. Nicht etwa, weil der Sämann nicht aufpasst, zu verschwenderisch mit seiner Saat umgeht. Nein, die Böden der palästinischen Felder sind eben nun mal sehr unregelmäßig beschaffen. Auf Felsen stößt man immer wieder mitten auf den Feldern. Felsen können aber die Feuchtigkeit nicht halten, deshalb verdorrt der Same ganz schnell, der darauf fällt. − Umsonst gesät! • Ein dritter Teil des Samens fällt unter die Dornen. Das Dumme ist, dass die Dornen dem Boden viele Nähstoffe entziehen und intensiv mitwachsen. Ja, sie ersticken dann die Saat des Sämanns. − Umsonst gesät! • Doch der vierte Teil des Samens fällt „auf gutes Land“. Aber warum um Himmels Willen wird dieser Samen auf gutem Land nicht auch von den Vögeln aufgepickt? Aufgepickt, wie derjenige Samen, der auf den Weg gefallen ist? Waren die Vögel damals durchkommandierte Preußen, die nur dort pickten, wo es ihnen erlaubt war? Das ist natürlich Quatsch. Des Rätsels Lösung liegt in einer anderen Saattechnik. Verstanden habe ich das erst bei unseren palästinensischen Verwandten, die in der Westbank landwirtschaftlich tätig sind: Dort wird erst gesät und anschließend gepflügt. Das berühmte Lied von Matthias Claudius, „Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land“ muss also im Heiligen Land anders herum gesungen werden: „Wir streuen und wir pflügen“. Nun wird auch klar, dass diese Saat auf dem guten Land von den Vögeln nicht mehr aufgepickt werden konnte, weil in Palästina der gute Boden erst nach der Aussaht umgepflügt wurde und wird.1 Jetzt bringt der Samen „hundertfache Frucht“, wie es im Gleichnis heißt. − Also doch nicht alles umsonst gesät! Das wird an dieser Stelle schon mal deutlich.

1

Gustaf Dalman, Arbeit und Sitte in Palästina, Band II: Der Ackerbau, Gütersloh 1932, 196: „Dann ist auch verständlich, daß im Gleichnisse Jesu allein der auf den Weg gefallene Same von den Vögeln gefressen wird […], weil nämlich das Einpflügen hier wegfällt.“

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2 Die Frage der Jünger Doch die Frage bleibt: Was meint Jesus mit diesem Gleichnis. Nicht erst wir stellen diese Frage. Schon die Jünger fragten Jesus damals nach der tieferen Bedeutung seines Gleichnisses. Sie bekommen dann erst einmal eine sehr merkwürdige Antwort zu hören: „Euch ist’s gegeben, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu verstehen, den andern aber in Gleichnissen, damit sie es nicht sehen, auch wenn sie es sehen, und nicht verstehen, auch wenn sie es hören.“ Liebe Gemeinde, das Geheimnis vom Reich Gottes ist also nicht jedermanns Sache. Wenn Jesus seinen Jüngern hier aber sagt: „Euch ist’s gegeben“ − dann ist das ein Jubelruf! Jesus hat Menschen um sich, bei denen es gezündet hat! Das Unwahrscheinliche ist geschehen: Einige haben’s begriffen, haben gemerkt, was Gott vorhat. − Genauso ist das noch heute: Das Wort Gottes ist in unserem Land jedermann frei zugänglich. Noch nie konnte man sich für so wenig Geld eine Bibel kaufen wie in unserer Zeit. Dass wir in diesem Land uns jeden Sonntag in den Gottesdiensten ungestört mit dem Wort Gottes beschäftigen können, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Und doch, es bleibt dabei: Das Geheimnis vom Reich Gottes ist nicht jedermanns Sache.

3 Die Deutung des Gleichnisses Nach dieser merkwürdigen Antwort fängt Jesus dann an, seinen Jüngern das Gleichnis genau zu deuten. Der Same, den der Sämann ausstreut, ist das Wort Gottes. Jesus sagt nicht ausdrücklich, dass der Sämann Gott persönlich ist, aber das dürfen wir uns ruhig so denken. Wichtig ist nun, was aus dem ausgestreuten Wort Gottes denn so alles wird. Erinnern wir uns: Drei Teile des Samens waren umsonst gesät. Sie fielen auf den Weg, auf den Felsen und unter die Dornen. Sie haben keine Frucht gebracht. Liebe Gemeinde, man ist doch manchmal geschockt über die geringe Effektivität des Wortes Gottes. Wie schnell kommt dann das Ungetüm, das Ungeheuer auf. Nämlich der Frust. Dieser Frust macht bewegungslos – tot. Wenn der Frust überhandnimmt, dann ist man längst angekommen – in des Teufels Garage.

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LK 8,4–15: GESÄTES WORT GOTTES Allerdings: Wenn wir schon darüber geschockt sind, was musste dann Jesus selbst erst geschockt gewesen sein. Einen Glauben wie den des heidnischen Hauptmanns von Kapernaum hat er in Israel nicht gefunden (7,9). Die Städte am See Genezareth haben seine Botschaft schroff abgelehnt (10,13–15). Die Hauptstadt Jerusalem ist blind für seine Friedensbotschaft und steuert dadurch direkt in den Untergang (19,41–44). Sogar in seiner Heimatstadt Nazareth, ja hier erst recht (4,24), wird Jesus abgewiesen, um ein Haar sogar in den Abgrund gestürzt. Ein geplanter Mordanschlag war das. Der Prophet gilt nichts im eigenen Land. Und dann: Mit dem Kreuz auf dem Verbrecherhügel Golgotha endet es vorläufig. Eine wirklich deprimierende Bilanz! Zurück zu Jesu Gleichnis-Deutung. Er geht jetzt ins Detail, wie die Menschen − wie wir Menschen ganz verschieden auf das Wort Gottes reagieren. Über die erste Gruppe sagt er: „Die aber auf dem Weg, das sind die, die es hören; danach kommt der Teufel und nimmt das Wort aus ihrem Herzen, damit sie nicht glauben und selig werden.“ Das sind also durchaus gutgewillte Leute, von denen Jesus hier redet. Sie hören das Wort Gottes schon. Aber dann kommt der Teufel und verdirbt alles. Es bleibt vom Wort Gottes einfach nichts hängen. Eben mal gehört − gleich wieder vergessen. Liebe Gemeinde, dieses Wort vom Samen auf dem festgetretenen Weg dürfen wir durchaus als Warnung verstehen. Sind wir zu verkrustet? Lassen wir Gott nicht an uns heran? Hören wir sonntags gerne mal eine Predigt, aber am Montag wissen wir schon nicht mehr, worüber gepredigt wurde? Diese Fragen sollten wir alle, also auch der Pastor, uns immer wieder kritisch stellen. Mit der zweiten Gruppe sieht das dann wieder anders aus: „Die aber auf dem Fels sind die: wenn sie es hören, nehmen sie das Wort mit Freuden an. Doch sie haben keine Wurzel; eine Zeit lang glauben sie und zu der Zeit der Anfechtung fallen sie ab.“ Das ist eine extrem genaue Beschreibung von Menschen, die man heute an den Rändern der Kirchen findet. Sie sind anfangs von den Worten Jesu durchaus begeistert. Aber dann reicht die Begeisterung nicht aus. Schöne Ansätze − aber nichts dahinter. Nichts dahinter vor allem deshalb, weil das Wort Gottes keine Wurzeln schlagen konnte. Es wurde nicht gehegt und gepflegt, man hat sich nicht ernsthaft mit dem Wort beschäftigt. Und dann ist es auch kein Wunder, wenn das wurzellose, verdorrte Wort Gottes einem auch nicht durch Zeiten der Anfechtung, durch Tage des Zweifelns durchtragen kann.

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PETER SÖLLNER Ich hatte das große Glück im Leben, dass ich als Student in Jerusalem und in Heidelberg den aufrechten jüdischen Philosophen Jeshajahu Leibowitz kennenlernen durfte, der sich leidenschaftlich für die Rechte der unterdrückten Palästinenser einsetzte. Als ihm einmal jemand erzählte, er habe während des Holocaust aufgehört, an Gott zu glauben, erwiderte er, „Dann hast du auch vorher nicht an Gott geglaubt.“ Knallhart: Ein Glaube, der auf ein wurzelloses Wort gründet, kann keine Krisen überstehen. Er geht ganz schnell kaputt. Auch hierin steckt eine deutliche Warnung an uns Christen. Zurück zum Gleichnis. Jesus sagt über den Samen, der unter die Dornen fällt: „Was aber unter die Dornen fiel, sind die, die es hören und gehen hin und ersticken unter den Sorgen, dem Reichtum und den Freuden des Lebens und bringen keine Frucht.“ Es wächst also schon etwas, aber es wächst zu viel! Jede Menge Dornen wachsen mit auf. Christen achten deshalb sorgfältig darauf, was alles mit aufwächst. Sorgen, Freuden und Reichtum − das Zuviel-Haben kann genauso den Glauben hindern wie das Nicht-Besitzen. Paulus sagt aus diesem Grund: „Es soll mich nichts gefangen nehmen“ (1 Kor 6,12). Aufpassen also, dass wir uns nicht so elend ablenken lassen. Ablenken lassen von Dingen und Einflüssen, die in Wirklichkeit im Vergleich zum Reich Gottes geradezu lächerlich unwichtig sind. Doch mal ganz nüchtern auf den Punkt gebracht: Wie viele Stunden in der Woche sind wir vorm Fernseher oder im Internet?! Wie wenige Stunden in der Woche wird dagegen in der Bibel gelesen?! Hier liegt ein großer Teil des Jammers unserer sterbenden Kultur. Ja, auf die Konzentration auf das Wichtigste kommt es sehr wohl an. Wir alle haben uns das immer wieder, ein Leben lang bewusst zu machen. Liebe Gemeinde, noch einmal: Die erste Gruppe verliert ihr Gut sofort. Die zweite Gruppe wird nach einer „freudigen Flitterwoche“ plötzlich abtrünnig und untreu. Und die dritte Gruppe erliegt langsam den Versuchungen des Wohlstandes und der Ablenkungen. So ist es mit dem Evangelium: Viel geht verloren im Detail, in dem bekanntlich der Teufel steckt; viele gibt es, die umfallen, umschwenken, weil sie keine festen Wurzeln haben; viel erstickt, wenn die Luft im Alltag nicht mehr zum Atmen reicht. Jesus selbst leitet mit seinem Gleichnis zur absoluten Nüchternheit an: Bitte keine falschen Erfolgsaussichten in der Kirche!

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LK 8,4–15: GESÄTES WORT GOTTES

4 Der Ausweg: Treue zum Wort Gottes und Fruchtbringen Aber, liebe Gemeinde, es wäre nun wirklich total deprimierend, wenn das Gleichnis hier zu Ende wäre. Der allerwichtigste Satz steht am Schluss und der ist wirklich trostvoll. Jesus sagt: „Das aber auf dem guten Land sind die, die das Wort hören und behalten in einem feinen, guten Herzen und bringen Frucht in Geduld.“ Das also ist die „hundertfache Frucht“. Eine wunderbare Ernte ist gemeint. Es gibt sie also doch, die Christen, die das Wort Gottes „hören und behalten“. Die damit ernst machen und „Frucht in Geduld“ bringen. Geduld meint nun allerdings kein passives Abwarten, sondern vielmehr Standhaftigkeit. Eine Standhaftigkeit, die aus der Treue zum Wort Gottes und im Fruchtbringen besteht. Halten wir das also fest: Allem Misserfolg im Reiche Gottes zum Trotz: Die Königsherrschaft Gottes kommt. Liebe Gemeinde, wenn wir unsere Ohren wirklich dazu benutzen, das „Wort Gottes“ in seiner ganzen Tiefe „zu hören und zu behalten“, dann können wir auch sicher sein, nicht mehr von anderen über’s Ohr gehauen zu werden. Jesus hat recht mit seiner Aufforderung, die keineswegs banal ist: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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Autorinnen- und Autorenverzeichnis Christoph Barnbrock, Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel. Achim Behrens, Dr. theol., Professor für Altes Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel. Niklas Brandt, Doktorand am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg, von 2019–2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Lutherischen Theologischen Hochschule. Stefanie Frost, Dr. theol., Studienrätin für Mathematik und ev. Religion an der Kooperativen Gesamtschule Moringen. Ulrich Heckel, Dr. theol., Oberkirchenrat für Theologie, Gemeinde und weltweite Kirche der Ev. Landeskirche in Württemberg sowie apl. Professor für Neues Testament an der Ev.-theol. Fakultät in Tübingen. Henry Kerger, Dr., Beamter i. R., Münster. Robert Kolb, Ph.D., Professor em. für Systematische Theologie am Concordia Seminary, Saint Louis, USA. Heidrun E. Mader, PD Dr. theol., Privatdozentin für Neues Testament an der Universität Heidelberg, Vertr.-Prof. Neues Testament Universität Hamburg, Research Fellow an der Universität Stellenbosch.

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AUTORINNEN- UND AUTORENVERZEICHNIS Ekkehard Mühlenberg, Dr. theol. habil., Professor (em.) für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen Christian Neddens, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel. Diethardt Roth, Dr. theol., Altbischof der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Melsungen. Michael Schätzel, Pfarrer und Geschäftsführender Kirchenrat der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Hannover. Johannes Schilling, Dr. theol. Dr. phil. Dr. theol. h.c., Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Präsident der Luther-Gesellschaft. Folker Siegert, Dr. theol., Professor und Direktor i. R. des Institutum Judaicum Delitzschianum Münster. Gilberto da Silva, Dr. theol., Professor für Historische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel. Peter Söllner, Dr. theol., Pfarrer der Concordia-Gemeinde Celle und Lehrbeauftragter im Fach Neues Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel. Volker Stolle, Dr. theol., emeritierter Professor für Neues Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel. Hans-Jörg Voigt, D.D., Bischof der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Hannover.

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Prof. Dr. Christoph Barnbrock ist Professor für Praktische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel mit Forschungsschwerpunkten im Bereich Homiletik und Liturgik. Prof. Dr. Achim Behrens ist Professor für Altes Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel mit Forschungsschwerpunkten in den Bereichen Biblische Hermeneutik und Exegese der prophetischen Literatur des AT.

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www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27511-3

Barnbrock · Behrens Gottes Wort und Gottes Dienst

Die Begriffspaare „Gottes Wort und Gottes Dienst“ beschreiben den Raum, der durch diesen Sammelband eröffnet wird. Dabei ist das zweite Begriffspaar bewusst doppeldeutig gehalten. Es handelt sich um den Dienst, in welchen die Menschen von Gott gestellt werden, und hat gleichermaßen den Gottesdienst im Blick, in dem nicht zuletzt Gott selbst den Menschen dient. Diese Festschrift für Prof. i. R. Dr. Jorg Christian Salzmann setzt bei der Beschäftigung mit dem Wort Gottes an und führt über kirchengeschichtliche und systematisch-theologische Beiträge hin zu Reflexionen aus dem Bereich der Praktischen Theologie. Der rote Faden spiegelt sich im Titel dieses Bandes wider: Menschen kommen dem Wort Gottes auf die Spur, ringen gelegentlich auch mit ihm und entdecken konkrete Perspektiven für ihren Dienst als Kinder Gottes in Kirche und Welt.

Christoph Barnbrock Achim Behrens (Hg.)

Gottes Wort und Gottes Dienst Festschrift für Jorg Christian Salzmann