Die dunklen Seiten Gottes [1+2]

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German Pages 610 Year 1995, 1997

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Die dunklen Seiten Gottes [1+2]

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Walter Dietrich·

Christian

Link

Wie kann Gott so etwas tun oder zulassen? Diese Frage hat die Menschen

schon seit alters umgetrieben .

Angesichts

und Ängste richten

zahlloser

Schrecken

sich die

Blicke nach oben : Ist da einer, der dies alles in der Hand oder zu verantworten hat? Das Alte Testament

und

in seinem

Gefolge

die

jüdisch-

christliche Tradition haben sich nicht gescheut, Eifersucht, Zorn, Gewalt und Rache mit ihrem Gott in Verbindung Zerstörung

zu bringen.

und Untergang ganzer Völker werden auf Gott zu-

rückgeführt - ja Gott selbst wird in die Katastrophen der eigenen Geschichte verwickelt gesehen. Nach den Erfahrungen

zweier Weltkriege und dem Holocaust,

aber auch angesichts der Kriege am Golf und im ehemaligen Jugoslawien , angesichts der anwachsenden Flüchtlingsströme

und

nicht zuletzt angesichts der am Rande des ökologischen Zusammenbruchs

stehenden Erde fragen heute viele Menschen erneut:

Wo ist Gott? Was hat er zu tun mit dem Dunkel der Welt und dem Dunkel vieler Menschenschicksale?

Könnte er helfen?

Diesen Fragen stellen sich der Alttestamentler und der Systematiker Christian äußerst harten und befremdlichen

Walter Dietrich

Link. Sie bringen die teilweise Antworten der Bibel mit den

Auskünften der Philosophen und der Theologen ins Gespräch . Es geht ihnen darum, den Problemen , die auf der Menschheit und der menschlichen

Existenz lasten , nicht auszuweichen

biblischen Gottesbild standzuhalten .

und dem

neukirchener

Walter Dietrich / Christian Link

Die dunklen Seiten Gottes Willkür und Gewalt

N eukirchener

© 1995 - 2„ erg, Aufl. 1997 Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins GmbH, Neukirchen-Vluyn Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Hartmut Namislow Gesamtherstellung: Breklumer Druckerei Manfred Siegel KG Printed in Germany ISBN 3-7887-1524-3

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Dietrich, Walter: Die dunklen Seiten Gottes/ Walter Dietrich/Christian Link Neukirchen-Vluyn: Neukirchener NE: Link, Christian: Willkür und Gewalt. - 2„ rn ist verhorgen, claR kein ganzes Menschenleben, kaum einmal einen ganzen Tag lang eitel Sonnenschein und Wohlbefinden herrschen. Ein Schönwettergott wäre ungefähr das Kindischste, was man sich ausdenken könnte. Es gibt im Leben der einzelnen wie der Völker wie der Schöpfung schwere, harte, zerstörerische Augenblicke und Zeiten. Es gibt Phasen und Situationen, in denen der Glaube an die Güte Gottes sich kaum mehr durchhalten läßt. Das biblische Gottesbild bzw. die biblischen Bilder von Gott zeichnen sich dadurch aus, daß sie die oft düstere Realität des Lebens nicht aussparen, sondern einschließen. Selbst der so überaus vertrauensvolle Psalm 23 weiß vom "Wandern im finstern Tal". Jeder beliebige biblische Lebenslauf, sofern er nur einigermaßen deutlich nachgezeichnet ist, weist solche harten Zeiten auf. Josef, des Vaters liebster Sohn, erntet den Haß seiner Brüder und landet zuerst in einer Zisterne und dann in der Sklaverei (Gen 37). Mose, Gottes engster Vertrauter, muß ins Exil fliehen (Ex 2,11-15) und steht später immer wieder am Rand der Verzweiflung (z.B. Ex 5,19-23; 17,1-4; 32,15-19). Simson, der stärkste aller Recken Israels, beendet sein Lehen als Gehlendeter und Gefangener (Ri 16). König David, der größte König Israels, wird ins Ausland vertrieben (1 Sam 26{) und hal sdi.it:t u11t:tl!äglid1t: Schicksalsschläge zu ertragen (2 Sam 12, 15-23; 18f). Rut, eine der kraftvollsten Frauengestalten der Bibel, verliert Schwiegervater und Gatten und schließlich die Heimat, ehe sich ihr Geschick zum Dessereu weudel (Rul 1). Ezt:düd, dt:1 vielleicht kantigste und härteste der Propheten, ist ein von Krankheit und Leiden gezeichneter Mann (Ez 4,4-8; 12,1 /; 24,16t).

Doch an den schweren Erfahrungen, den schlimmen Widerfahrnissen muß der Glaube an Gottes Güte nicht zerbrechen: "Ich fürchte doch kein Unglück, dein Stecken und Stab trösten mich" (Ps 23,4). Wie läßt sich beides vereinbaren oder zusammenhalten: der Glaube an Gott und die zuweilen trostlose Wirklichkeit des Lebens? In der Bibel gibt es einige Passagen, welche an der Güte, fundamentaler: am Gut-Sein Gottes schwerste Zweifel wecken. Und das nicht deswegen, weil in ihnen harte Erfahrungen berichtet werden (die machen ja alle Menschen auf ihre Weise), auch nicht, weil diese Erfahrungen mit Gott in Beziehung gebracht werden (das werden alle gläubigen Menschen tun), sondern deswegen, weil Gott hier, statt auf der Seite der Leidenden zu stehen, die Leiden selber auslöst, sie willentlich über die Betroffenen verhängt. Begriffe wie Grausamkeit oder Gemeinheit drängen sich auf, unweigerlich verdüstert sich das Gottesbild. Oder soll man es andersherum sehen? Verlieren dadurch, daß Gott hier noch in schaurigen Tiefen und hinter furchterregenden Masken wahrgenommen wird, diese Tiefen und diese Masken etwas von ihrem Schrecken?

A

66 a

Der allmächtigeGott

Gott als Feind

(1) Über Jakob, einen der drei Erzväter Israels, wird uns in Gen 32,23-33 eine befremdliche Geschichte erzählt. 146 Als er im Begriff war, des Nachts das Flüßchen Jabbok an einer Furt zu überschreiten, "da rang ein Mann mit ihm bis zum Aufgang der Morgenröte. Als der sah, daß er ihn nicht zu überwältigen vermochte, berührte er sein Hüftgelenk, so daß sich Jakobs Hüftgelenk beim Ringen mit ihm verrenkte. Da sagte er [der Mann]: Laß mich los, denn aufgegangen ist die Morgenröte! Doch er antwortete: Ich lasse dich nicht los, es sei denn, du segnest mich" (Gen 32,25-27). Es ist nicht irgendein "Mann", ein Strauchdieb oder Raufbold, mit dem Jakob zu kämpfen hat, sondern ein ungemein Starker,147einer zudem, der Segen zu vergeben hat. Bald wird die Ahnung zur Gewißheit: Es ist Gott, mit dem Jakob kämpft. Gott als Ringkämpfer! Und zwar einer, der sich an keine Regeln der Fairness hält. Im Dunkeln, an einem schwer passierbaren Hindernis, lauert er seinem Opfer auf, fallt ohne Vorwarnung über es her, kämpft verbissen mit ihm, fügt ihm, als er nicht siegen kann, eme schwere, bleibende Verletzung zu 148- kein Wunder, daß so ein Gott das Tageslicht scheut! Martin Luther konstatiert in seiner Genesis-Vorlesung: "Dieser Text wird von Jedermann dafür gehalten, rGt>istJHWHs von Sm1lwkh 11nrlihn t>in böser Geist von JHWH her überfiel" (1 Sam 16,14).

Vor Sauls Herrschaft stand von vornherein etwas wie ein negatives Vorzeichen. Gewiß hatte Gott ihn fürs Königtum "erwählt" (1 Sam 10,24), doch waren damit bestimmte Erwartungen verbunden: Saul sollte bescheiden und solide seine Pflicht tun - und sich im übrigen der Führung Samuels anvertrauen. Statt dessen begann er, alles allein entscheiden zu wollen. Dafür aber besaß er nicht das Format. Er traf immer häufiger immer katastrophalere Entscheidungen. So scheiterte er - wohlgemerkt: immer der biblischen Darstellung zufolge - daran, daß er sich immer weniger an die Gesetze hielt, unter denen er angetreten war. Seine Herrschaft gereichte Israel nicht zum Heil, sondern zum Unheil. Am Ende ist man froh, daß Israel nicht mit Saul unterging, daß vielmehr an diesem vorbei längsL Davirllic:-ht:>rweise - erst recht mit guten theologischen Gründen - eben nicht sagen können, Gott lenke oder verursache die Geschichte, er benutze seine Macht auch nur, um sie von außen, durch dramatische Eingriffe, zu korrigieren. Das blieb immer den menschlichen Akteuren - David, den babylonischen Königen, ihren antiken und modernen Nachfolgern - überlassen. Die Geschichte vollzieht sich weitgehend gegen seinen Willen und gegen sein Gebot. Sie wird nicht wie ein ausgerollter Teppich vor uns ausgebreitet, den wir zum Heil oder zum Gericht - in ganzer Länge abzuschreiten hätten. Welche Ungeheuerlichkeiten müßten wir Gott zutrauen, wenn es anders wäre! Das entlastet uns von den verzweifelten V ersuchen, in Krieg und Vertreibungen, in Erdbeben oder Hungerkatastrophen noch einen heimlichen Sinn ausfindig zu machen. Indessen läßt die Bibel keinen Zweifel daran, daß Gott auch diese Geschichte mit seiner Präsenz begleitet und sie dadurch, wie Ritschl zu bedenken gibt, "verläßlich interpretiert" und "kritisiert". 345 Inte,pretiert, durchsichtig gemacht für das in ihr Zukunftsträchtige, zum Bleiben Bestimmte wird sie im Zeichen der Erwählung durch die Tora und durch das Auftreten Jesu in ihrer Mitte. Kritisiert,vorausschauend angeredet auf die Katastrophen, auf die sie sich hinbewegt, wird sie im Zeichen der 344H. Berkhof, Christian Faith, Grand Rapids 2 1986, 146. 345D. Ritschl (s. Anm. 327), 132; vgl. ders., Gottes Kritik an der Geschichte: Hausinterne FS für G. Theißen, Heidelberg 1993, 234-237.

262

B

Der ohnmächtigeGott

"Gedanken, die ich über euch hege" Ger 29,11) durch das Gerichtswort der Propheten. Und wer wollte bestreiten, daß ihr Gefalle dadurch bisweilen geändert, mitunter sogar erst eigens ausgelöst worden ist, daß also Gottes Interpretation und Kritik - zumindest partiell - auch Geschichte "gemacht" hat? Denn ihre weltgestaltende Kraft gewinnt diese Kritik daraus, daß sie sich nicht von Maßstäben leiten läßt, die wie unsere Ideale und Utopien jenseits der Realgeschichte liegen, sondern daß sie diese Geschichte gleichsam aufzubrechen vermag, weil sie, solidarisch mitleidend, die eigene Überlegenheit in ihr aufs Spiel setzend, sie begleitet. Wenn es von Christus in der Vorstellungswelt und Sprache der Tradition heißt, daß er "herrscht und regiert in Ewigkeit", so deshalb, weil er der gekreuzigte Messias bleibt, dessen Kraft "in der Schwachheit'' ihre Vollendung erreicht (2 Kor 12,9). Hier dürfte der Schlüssel liegen, das Geheimnis der Providenz zu verstehen. c

Im Schatten der Ohnmacht Gottes

Damit ist nun freilich auch der stärkste Einwand zur Stelle: Was ist mit diesen biblisch korrekten Aussagen gewonnen, wenn das wohl brennendste Problem der Providenz, das Rätsel des Bösen und des Leidens, in einer von Gott begleiteten \"lv'cltungrlöc1t :rnf rkr Strcrkc hkiht? \Vcnn der Schatten der Machtlosigkeit Gottes noch das freundlichste Bild der Vorsehung begleitet, was kann die Providenzgewißheit für eine Welt bedeuten, die an den unerträglichen Realitäten ihrer Geschichte leidet? Ist sie dem Protest eines Iwan Karamasow gewachsen, der sich genötigt sieht, dem Schöpfer das "Eintrittsbillet" in eine Welt zurückzugeben, in der Kinder gefoltert werden? Die Zumutung, die der Vorsehungsglaube dem modernen Bewußtsein abverlangt, hat ihren redlichsten Ausdruck in dem bekannten Satz Dorothee Sölles gefunden: "Wie man nach Auschwitz den Gott loben soll, der alles so herrlich regieret, das weiß ich auch nicht." 346 Brauchen wir diesen Gott, um unsere Welt zu verstehen? Können wir ihn überhaupt noch brauchen? Ist der V ersuch, mit seiner Hilfe das dunkle Rätsel der Geschichte zu lösen, nicht ein hoffnungsloses Unternehmen in einer Welt, die sich von der Arbeitshypothese "Gott" längst verabschiedet hat? Diese Fragen werden nicht erst seit heute gestellt. Sie sind ein spätes Echo auf jenes Ereignis, das Friedrich Nietzsche am Ende des letzten Jahrhunderts mit dem Satz: "Gott ist tot" ausgesprochen und als ein wirkliches Ereignis in unserer wirklichen Geschichte begriffen hat: "Wohin ist Gott? ... Ich werde es euch sagen! Wir haben ihn getötet- ihr

346

Kirchcntagsrcdc in Köln 1965, in: Deutscher Evangelischer Dokumente 1965. Dazu: H. Gollwitzer (s. Anm. 330), 142ff.

Kirchentag,

5

Ende der Vorsehung?

263

und ich! Wir alle sind seine Mörder!" 347 Es ist dies zugleich ihr größtes Ereignis, denn ersl seine unabsehbaren Fulgeu geben sPin (-;ntt, rle.r 414 415

K. Seybold, Der ProphetJeremia. Leben und Werk, Stuttgart 1993, 147. Das Jeremiabuch nahm wohl als erstes der groRen Prophetenbiir:her Gestalt an und diente den später entstehenden in manchem als Vorbild.

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Gottes Kraft in den Schwachen

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die schmerzhafte Ablehnung seines guten Willens ertrug und die daraufhin eintretenden schmerzhaften Erfahrungen seines Volkes mittrug.

c

Leidenund Siegenmit Gott

Der namenlose Prophet, den die Wissenschaft mit dem Kunstnamen Deuterojest:!/a belegt hat und auf den (im Kern) die Kapitel 40-55 des Jesajabuches zurückgehen, lebte im babylonischen Exil. In den Augen seiner Leidensgenossen hatte der Gott Israels abgedankt. Andere Götter - allen voran Marduk, der babylonische Staatsgott - hatten ihm den Rang abgelaufen (vgl. Jes 41,21f; 44,7). Israel hatte seine hohe Stellung in der Völkerwelt, versinnbildlicht im gottgewollten davidischen Königtum, eingebüßt (vgl. Jes 55,4). Zion, im Glauben Israels der Ort unverlierbarer göttlicher Realpräsenz, lag in Ruinen und blickte auf das zerstörte Umland wie eine Witwe, der man auch noch die Kinder genommen hat (vgl. Jes 54,1-3). JHWH hatte sein Volk im Stich gelassen wie ein Mann, der seiner Frau den Scheidebrief ausgestellt hat (vgl. Jes 50,1). So verzweifelt schätzte man im Exil die Lage ein. Deuterojesaja aber hatte eine völlig andere Sicht der Dinge. Er erklärte die fremden Götter für kraftlos, JHWH aber für ungebrochen kraftvoll; mitnichten habe Israel mit der Eigenstaatlichkeit seine Bedeutw1g verloren, vielmehr habe es Würde und Verheißung des davidischen Königtums selbst übernommen; 416 in Kürze schon werde Jerusalem wieder aufgebaut und Juda volkreich und glücklich sein; und wie man denn beweisen wolle, daß JHWH Israel abgeschrieben habe, wo denn, bitteschön, der Scheidebrief sei?!417 Das ist kühn und widerstreitet allem Augenschein. Doch keineswegs war Deuterojesajas "Frohbotschaft" 0es 52,7418) einfach aus der Luft gegriffen. So wie prophetische Verkündigung im alten Israel sich immer in Korrespondenz zu Bewegungen in der Weltgeschichte vollzog, so auch hier: Es hatte sich eine tiefgreifende "Änderung der 'Großwetterlage' in der damaligen Weltpolitik" ereignet. 419 Das neubabylonische Reich war nach dem Tod des großen Nebukadnezar im Jahr 562 v.Chr. in rapidem

Zur Tendenz der 'Demokratisierung' der Königsvorstellung im Alten Testament vgl. M. Dietrich/W. Dietrich, Zwischen Gott und Volk. Einführung des Königtums und Auswahl des Königs nach mesopotamischer und israelitischer Anschauung: FS 0. Loretz, Münster 1998 (AOAT 250), 215-264. 417 Man lese die im vorigen Absatz angegebenen Stellen und sehe, wie der Prophet den von seinen Leidensgenossen erhobenen (An-) Klagen entgegentritt. Zum Stil (nicht zur trailitionsgeschichtlichen Herleitung!) dieser un