Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter [1 ed.] 9783428475001, 9783428075003

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Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter [1 ed.]
 9783428475001, 9783428075003

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Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter

Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Reiner Schulze, Trier, Prof. Dr. Elmar Wadle, Saarbrücken, Prof. Dr. Reinhard Zimmermann, Regensburg

Band 6

Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter Von Gerhard Dilcher, Heiner Lück, Reiner Schulze, Elmar Wadle, Jürgen Weitzel, Udo Wolter

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter / von Gerhard Dilcher ... Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte ; Bd. 6) ISBN 3-428-07500-5 NE: Dilcher, Gerhard; GT

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübemahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin 49 Printed in Germany ISSN 0937-3365 ISBN 3-428-07500-5

Vorwort Der Dank arn Eingang dieses Bandes gilt den Rechtshistorikern der Universität Nijmwegen, den Herren Prof. O. Moorman van Kappen, P. L. Neve, E. C. Coppens, P. P. J. L. van Peteghem und A. J. de Groot. Als Veranstalter des 28. Deutschen Rechtshistorikertages bestimmten sie das Thema ,,Mittelalterliches Gewohnheitsrecht" zum Gegenstand einer Sektion. Der vorliegende Band ist aus der Arbeit dieser Sektion, deren Vorbereitung mir übertragen wurde, hervorgegangen. Er enthält die Einführung und die fünf Referate der Sektion in erweiterter Fassung; durch ihre Veröffentlichung möchte er einen Beitrag zur Fortführung des wissenschaftlichen Gesprächs leisten, das auf dem Rechtshistorikertag begonnen wurde. Trier im März 1992

Reiner Schulze

Inhaltsverzeichnis Reiner Schulze

"Gewohnheitsrecht" und ,,Rechtsgewohnheiten" im Mittelalter -

Einführung

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Gerhard Dilcher

Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als methodisch-theoretisches Problem

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Jürgen Weitzel

Gewohnheitsrecht und fränkisch-deutsches Gerichtsverfahren .......................

67

Udo Wolter

Die "consuetudo" im kanonischen Recht bis zum Ende des 13. Jahrhunderts ... ...

87

Elmar Wadle

Gewohnheitsrecht und Privileg - Allgemeine Fragen und ein Befund nach Königsurkunden des 12. Jahrhunderts ........................................................

117

Heiner Lück

Nach Herkommen und Gewohnheit. Beobachtungen zum Gewohnheitsrecht in der spätmittelalterlichen Gerichtsverfassung Kursachsens ................................

149

Autorenverzeichnis .....................................................................

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"Gewohnheitsrecht" und "Rechtsgewohnheiten" im Mittelalter - Einführung Von Reiner Schulze

I. "Gewohnheitsrecht" - ein vertrauter Forschungsgegenstand? 1. Das Thema dieses Bandes ist ein ebenso ,,klassischer" wie aktueller Gegenstand rechtshistorischer Forschung. 1 "Gewohnheitsrecht" in seinem Verhältnis zu Sitte, Brauch oder "Volksgeist", zu Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsprechung stellte für die Historische Rechtsschule im 19. Jahrhundert eine rechtsbegriffliche, rechtshistorische und rechtsdogmatische Herausforderung ersten Ranges dar. Georg Puchta widmete diesem Gegenstand ein großes Werk 2, das auf den Begriffsgebrauch in der Rechtswissenschaft erheblichen Einfluß ausübte. Die verschiedenen Arbeitsrichtungen der Historischen Rechtsschule Germanistik, Romanistik, Kanonistik - verwandten den Begriff trotz aller Unterschiede im einzelnen regelmäßig nicht nur für die eigene Zeit, sondern auch als historiographischen Begriff für frühere Epochen. Gerade in Hinblick auf das germanische Altertum und auf das Mittelalter schien sich der Großteil der normativen Ordnung mit dem Begriff des "Gewohnheitsrechts" kennzeichnen zu lassen. 3 Für die Deutsche Rechtsgeschichte bildete daher mittelalterliches "Gewohnheitsrecht" eine wesentliche Grundlage für die historische und dogmatische (Re-) Konstruktion des "gemeinen deutschen Privatrechts". Vor mehr als siebzig Jahren haben sodann die Thesen Fritz Kerns 4 die lebhaften Auseinandersetzungen um den Charakter, die Entwicklungsformen und die begriffliche Darstellung mittelalterlichen Rechts - wiederum vor allem des "Gewohnheitsrechts" - ausgelöst. In ihrem Mittelpunkt stehen - ohne daß sich bislang ganz überzeugende Lösungen abgezeichnet hätten - die Frage der Legitimation des Rechts durch Tradition und Alter ("gutes altes Recht") und die d~it verbundenen vielfältigen Probleme der Dauer und Vergänglichkeit, Invarianz 1 Ausführliche Übersichten über die Literatur in den weiteren Beiträgen dieses Bandes, insbes. bei Elmar Wadle in den ersten Anmerkungen. 2 Georg Friedrich Puchta, Das Gewohnheitsrecht, Teil 1 u. 2, Erlangen 1828, 1837 (Neudruck Darmstadt 1965). 3 Vgl. hierzu Siegfried Brie, Die Lehre vom Gewohnheitsrecht, 1. T.: Geschichtliche Grundlegung, Breslau 1899 (Neudruck Frankfurt a. M. 1968), insbes. S. 208 m. w. N. 4 Fritz Kern, Über die mittelalterliche Anschauung vom Recht, in: HZ 115 (1916), S. 496 ff.; ders., Recht und Verfassung im Mittelalter, in: HZ 120 (1919), S. 1 ff.

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und Disponibilität von Nonnen im mittelalterlichen Rechtsdenken s. Aus der Sicht der Gesetzgebungsgeschichte stellten sich die entsprechenden Fragen in Hinblick auf Grundlagen, Umfang und Grenzen von Gesetzgebung und Gesetzesrecht im Mittelalter, so daß einige neuere gesetzgebungsgeschichtliche Beiträge 6 zugleich die Diskussion um jenes "andere", überwiegende Recht des Mittelalters, das gemeinhin als "Gewohnheitsrecht" gilt, fortführten. In welchem Maße dieser rechtshistorische Arbeitsbereich derzeit die Aufmerksamkeit der Forschung im internationalen Rahmen auf sich zieht, zeigt beispielsweise die zeitlich und räumlich weit gespannte, nahezu universalhistorisch angelegte Darstellung ,,La Coutume"7, die ein internationaler Autorenkreis im Auftrag der Societe Jean Bodin erarbeitet. ,,La Coutume" - der Titel des Werkes und der gängige Tenninus der französischsprachigen Historiographie - deutet freilich bereits daraufuin, daß das im deutschsprachigen Raum gebräuchliche "Gewohnheitsrecht" keineswegs ein selbstverständlicher und international einheitlicher Forschungsbegriff ist.

Auch im Programm des 28. Deutschen Rechtshistorikertages fand die erneute Zuwendung zu der Thematik über die Sektion "Mittelalterliches Gewohnheitsrecht" hinaus Ausdruck. So setzte sich der Hauptvortrag von Peter Landau mit der Theorie des Gewohnheitsrechts im modemen Kirchenrecht auseinander 8 • In einer anderen Sektion widmete sich der Vortrag von Stefania Mertanova dem Gewohnheitsrecht in den königsfreien Städten Ungarns - zugleich ein weiterer Hinweis auf die europäische Dimension der Forschungen 9 und ihres Gegenstandes. \0 5 Vgl. Hermann Krause, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht, in: ZRG Germ. Abt. 75 (1958), S. 206 ff.; aus der weiteren Diskussion Karl Kroeschell, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, in: Vorträge und Forschungen 12 (1968), S. 309 ff.; Gerhard Köbler, Das Recht im frühen Mittelalter, Köln 1971; aus rechtssoziologischer Sicht Niclas Luhmann, Rechtssoziologie, 3. Aufl., Opladen 1987, insbes. S.217ff. 6 Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, Neudruck der 2. Aufl. (1958) hg. v. Friedrich Ebel, Göttingen 1988; Bernhard Diestelkamp, Das Verhältnis von Gesetz und Gewohnheitsrecht im 16. Jahrhundert, in: Rechtshistorische Studien (Festschrift für Hans Thieme), Wien 1977, S. 1 ff.; ders., Einige Beobachtungen zur Geschichte des Gesetzes in vorkonstitutioneller Zeit, in: ZfHF 1983, S. 383 ff.; Reiner Schulze, Geschichte der neueren vorkonstitutionellen Gesetzgebung, in: ZRG Germ. Abt. 98 (1981), S. 157 ff. m. w. N. 7 Vgl. zur Konzeption lohn Gilissen, La Coutume, Presentation du theme et note introductive, in: La Coutume / Custom, Bd. 1: Antiquite, Afrique noire, Recueils de la SocieteJean Bodin pour l'histoire comparative des Institutions 51, Brüsse11990, S. 15 ff.; ebenfalls nach der Sektionssitzung, auf der dieser Band beruht, erschienen: La Coutume Bd. 2: Europe occidentale medievale et modeme, Recueils 52, 1989; Bd. 4: Le monde contemporain, Recueils 54, 1989. 8 Inzwischen veröffentlicht: Peter Landau, Die Theorie des Gewohnheitsrechts im katholischen und evangelischen Kirchenrecht des 19. und 20. Jahrhunderts, ZRG Kan. Abt. 108 (1991), S. 156 ff. 9 Zur Veröffentlichung vorgesehen in den Materialien des 28. Deutschen Rechtshistorikertages, voraussichtl. 1992.

"Gewohnheitsrecht" und ,,Rechtsgewohnheiten" im Mittelalter

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2. Ein ,,klassisches" Thema rechtshistorischer Arbeit darf indes nicht zu der Annahme verleiten, die heutige Forschung könne sich ihm allein auf vertrauten Wegen über "sicheres" Gelände nähern. Einst grundlegende und lange Zeit der Arbeit über ,,mittelalterliches Gewohnheitsrecht" förderliche Konzepte - wie beispielsweise das Bemühen um die (Re-)Konstruktion des Deutschen Privatrechts und vielleicht auch das Erklärungsmodell des "guten alten Rechts" können im Fortgang der Entwicklung die Forschung einengen oder in "Sackgassen" führen. Im Wandel des Forschungsstandes sowie der Erkenntnisvoraussetzungen und -ziele gilt es für die rechtshistorische Forschung daher, sich neue Zugänge gerade zu scheinbar bekannten Gegenständen wie dem ,,mittelalterlichen Gewohnheitsrecht" zu erschließen - im Bewußtsein selbstverständlich der Zeitbedingtheit auch dieser Ansätze. Lediglich in wenigen Stichworten kann die vorliegende Einführung auf veränderte Ausgangspunkte für die heutige Forschung zum ,,mittelalterlichen Gewohnheitsrecht" hinweisen, ohne den Beiträgen im Meinungsspektrum der Sektion und dieses Bandes vorzugreifen. Einige dieser Ausgangspunkte sind zudem bereits in anderem Zusammenhang ausführlicher erörtert worden. So haben sich heute in der Deutschen Rechtsgeschichte unter dem Einfluß kritisch-analytischer Ansätze nicht nur die Methoden, sondern auch die Erkenntniserwartungen im Vergleich zur älteren rechtshistorischen Germanistik erheblich gewandelt. Beispielsweise mußte mit der Abkehr von Arbeitsweisen bei der Quelleninterpretation wie der Analogiebildung unter der Annahme zeit- und raumübergreifender "gemeingermanischer" Rechtsprinzipien vieles wieder ungewiß und zu einer offenen Forschungsfrage werden, was lange Zeit als gesichertes Wissen galt. 11 Dies betrifft nicht nur die begrifflichen und normativen Inhalte wichtiger Bereiche ,,mittelalterlichen Gewohnheitsrechts" - etwa "Haus und Herrschaft", ,,Ehe" und "Sippe", persönliche Freiheit und Stammeszugehörigkeit - sondern auch den Begriff des Rechts selbst, der im Terminus "mittelalterliches Gewohnheitsrecht' bereits vorausgesetzt ist. Darüber hinaus hat die Kritik "objektivistischer" Geschichtsforschung die Bindungen des Forschers an den eigenen Erfahrungshorizont als Erkenntnisschranke beim Verständnis des Rechts vergangener Kulturzustände deutlicher werden lassen 12. Zugleich hat sich im Bewußtsein der neueren historischen For10 Vgl. hierzu auch Reiner Schulze, Vom lus Commune bis zum Gemeinschaftsrecht - das Forschungsfeld der Europäischen Rechtsgeschichte, in: ders. (Hg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Berlin 1991, S. 3 ff., 10. 11 Vgl. hierzu und zum folgenden Karl Kroeschell, Germanisches Recht als Forschungsproblem, in: Festschrift für Hans Thieme, Sigmaringen 1986, S. 3 ff.: Reiner Schulze, Das Recht fremder Kulturen - Vom Nutzen der Rechtsethnologie für die Rechtsgeschichte, in: Historisches Jahrbuch 110 (1990), S. 446 ff.; insbes. S. 453 ff. 12 Vgl. für andere mehr Otto Gerhard Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, in: HZ 238 (1984), S. 17 ff.

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schung der kulturelle Abstand zwischen Gegenwart und Mittelalter im Vergleich etwa zur Sichtweise in der Nationalgeschichtsschreibung noch am Anfang unseres Jahrhunderts eher vergrößert - durch den Bedeutungsverlust etwa von Kontinuitätsaxiomen wie dem einer staatlichen oder "völkischen" germanisch-deutschen Identität vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart und nicht zuletzt durch Otto Brunners und Dietrich Gerhards Arbeiten über die andersartigen Strukturen der "alteuropäischen" Gesellschaft gegenüber der Moderne 13. In gesteigertem Maße gilt dies für die Epochen vom Zerfall der antiken römischen Kultur bis zur erneuten Ausbreitung von Urbanität und Literalität in größerem Umfang während des Hochmittelalters, insbesondere bis zur ,,Renaissance" antiker Schriftkultur durch die Zuwendung etwa zum römischen Recht und zum Aristotelismus seit dem 12. Jahrhundert. Es fragt sich sogar, inwieweit ein einheitlicher Begriff des ,,Mittelalters" der Verschiedenheit dieser frühen Zeit - mit ihren ebenfalls durchaus tiefgreifenden Wandlungen etwa auf Grund des nachlassenden Einflusses antiker Traditionen oder der Entwicklung von Grundherrschaft und Lehnswesen - gegenüber der vollen Ausbildung der "alteuropäischen" Hochkultur seit dem 12. Jahrhundert gerecht wird. Auch die Deutsche Rechtsgeschichte kann heute jedenfalls - anders als die rechtshistorische Germanistik noch am Anfang unseres Jahrhunderts - nicht mehr ihre Begrifflichkeit auf derartige Kontinuitätsannahmen oder gar die Vorstellung eines epochenübergreifenden "organischen" Zusammenhangs des deutschen Rechts stützen, sondern muß sich dem Mittelalter im Bewußsein der Auseinandersetzung mit uns "fremden" Kulturzuständen zuwenden 14. Auf diesem Hintergrund wird es freilich zweifelhaft, ob mit einem Begriff des "Gewohnheitsrechts" gleichermaßen eine Kulturerscheinung des frühen Mittelalters und eine - im nationalen Rahmen marginale, im Völkerrecht bedeutsamere - Erscheinungsform des modernen Rechts erfaßt werden kann. Wenn die identität des Begriffs nicht tatsächlich auf einer Identität des Gegenstandes beruhen sollte, wäre es problematisch, weiterhin von ,,mittelalterlichem Gewohnheitsrecht" zu sprechen; die Vorprägung des Begriffs durch die unmittelbare Erfahrung des modernen Rechts könnte das Verständnis der Eigenheit der geschichtlichen Erscheinung eher hindern als fördern. Sehr bedenkenswert erscheint daher Karl Kroeschells -leider bislang wenig beachteter - Vorschlag einer terminologischen Differenzierung: Die Bezeichnung ,,Rechtsgewohnheiten" sollte als eigene Bezeichnung für das Mittelalter neben das "Gewohnheitsrecht" treten IS. Ein derartiger spezifischer Terminus könnte allerdings zunächst lediglich auf die Andersartigkeit des historischen Gegenstands gegenüber dem Gewohnheitsrecht im unmittelbaren Erfahrungsbereich des modernen Juristen hinweisen. Wel13 Ouo Brunner, Land und Herrschaft (Wien 1939),6. Aufl., Darmstadt 1970; Dietrich Gerhard, Old Europe - A Study of Continuity, 1000- 1800, New York 1981. 14 Ausführlicher hierzu Schulze (Fn. 9). IS Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, 7. Aufl., Opladen 1989, S. 84 ff.

"Gewohnheitsrecht" und ,,Rechtsgewohnheiten" im Mittelalter

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ehe Charakteristika und Funktionsweisen die ,.Rechtsgewohnheiten" der vormodemen Rechtskultur vom modemen Gewohnheitsrecht unterscheiden, bliebe noch näher zu bestimmen, um den historischen Gegenstand nicht allein neu zu bezeichnen, sondern auch "auf den Begriff zu bringen". Im Unterschied zum Gewohnheitsrecht unserer Zeit müßte sich das Verständnis der ..Rechtsgewohnheiten" für den Großteil des Mittelalters dabei aus der Begrifflichkeit einer Rechtskultur lösen, die das Recht in erster Linie als ius scriptum erfährt und es zum System von ..Rechtsvorschriften" ausgestaltet hat. ,.Rechtsgewohnheiten" wären vielmehr als Bestandteile einer Kultur zu begreifen, in der Rechtsentwicklung und gerichtliche Streitentscheidung weithin noch nicht durch Gesetzgebung und Rechtswissenschaft vorgeprägt sind und nicht auf den damit verbundenen, schriftlichen Darstellungsweisen des Rechts als Gesetz, als Begriff und als System beruhen. Auch der Terminus "Rechtsgewohnheiten" kann allerdings dazu verführen, ein ausdifferenziertes Recht im modemen Verständnis und uns vertraute Vorstellungen über Normativität in den Untersuchungszeitraum zu projezieren. Demgegenüber bleibt festzuhalten, daß die Verwendung des Rechtsbegriffs für diesen Forschungsgegenstand lediglich instrumentalen Charakter haben kann: Er bezeichnet einen (aus unserem Verständnishorizont in der Gegenwart entwickelten) Aspekt, unter dem eine andersartige, aber vergleichbare (und zudem in einem genetischen Zusammenhang stehende) Kulturerscheinung der Vergangenheit unser Forschungsinteresse herausfordert. Freilich schließen sich ..Gewohnheitsrecht" und ,.Rechtsgewohnheiten" als historiographische Begriffe für das Mittelalter nicht wechselseitig aus. Sie ermöglichen vielmehr eine Differenzierung der Terminologie, die für die Beschreibung nicht nur von Veränderungen in der weitgespannten Untersuchungszeit ..Mittelalter", sondern auch des Zusammentreffens verschiedenartiger Ordnungsvorstellungen in einer Zeit zweckmäßig sein kann. Was die Kanonistik bereits im hohen Mittelalter mit ihrem Begriff der consuetudo als für das modeme Rechtsdenken wegbereitendes Verständnis hervorgebracht hat, braucht zu dieser Zeit und selbst am Beginn der Neuzeit noch nicht die Vorstellung im bäuerlichen Gericht bestimmt zu haben. Die tiefgreifenden Wandlungen der Rechtskultur durch die ..Verschriftlichung" und ..Verwissenschaftlichung" sowie durch das Vordringen autoritativer Rechtsgestaltung mit Hilfe der Gesetzgebung erfaßten vielmehr in Mittelalter und früher Neuzeit die ..alteuropäische Gesellschaft" erst nach und nach in einem langwährenden Prozeß mit vielen regionalen und sozialen Ungleichmäßigkeiten des Verlaufs. In diesem Prozeß wird man häufig Quellenbegriffe wie die consuetudo und ihre landessprachlichen Entsprechungen (wie coutume oder giwonaheit, gewoneheit 16) in beiderlei Hinsicht zu verstehen suchen müssen: mit Blick auf die ältere, vorschriftliehe Rechtskultur als deren Reflex in der vordringenden ..Schriftkultur" des Rechts und zugleich mit Blick auf die 16 Vgl. Gerhard Köhler, Zur Frührezeption der consuetudo in Deutschland, Historisches Jahrbuch 89 (1969), S. 337 ff.

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vordringende Schriftkultur als Versuch der begrifflichen Integration traditionaler Ordnungsmuster in das schriftliche Recht und als Ausgangspunkte für die Entwicklung der uns vertrauten Begrifflichkeit.

11. Mündlichkeit und Schriftlichkeit des Rechts im Mittelalter Die Frage nach Charakteristika und Funktionsweisen des "Gewohnheitsrechts" bzw. der "Rechtsgewohnheiten" des Mittelalters führt bereits in die Untersuchungsgebiete der einzelnen Beiträge der Sektion und des vorliegenden Bandes. Nur ein bereits angedeuteter, übergreifender Gesichtspunkt sei vorab vorgestellt: Im Unterschied zum Gewohnheitsrecht in modemen Rechtsordnungen gilt es das "Gewohnheitsrecht" oder die ,,Rechtsgewohnheiten" des Mittelalters als Bestandteil einer weithin schriftlosen Rechtskultur zu begreifen. Unsere Kenntnisse über diese Rechtskultur stützen sich zwar auf schriftliche Quellen (abgesehen von den gegenständlichen, insbesondere archäologischen Befunden) und beruhen insofern auf der Begegnung des schriftlosen Rechts mit der Schriftlichkeit, die das Mittelalter von der Antike übernahm und für deren Ausbreitung zunächst die Kirche sorgte. Diese Schriftlichkeit erstreckte sich bereits im frühen Mittelalter - beispielsweise mit den Kapitularien und den Aufzeichnungen von Stammesrechten (leges barbarorum) - auf Teilbereiche des Rechts und weitete sich - nach durchaus nicht gradliniger Entwicklung zwischen dem 8. und dem 11. Jahrhundert - seit dem hohen Mittelalter nicht nur mit dem "gelehrten" Recht der Juristen, sondern auch mit vielerlei landessprachlichen Rechtsaufzeichnungen in Land und Stadt aus. Doch überwog zumindest im Großteil des Mittelalters keineswegs die schriftliche Fixierung von Normen und die gerichtliche Entscheidung unter Bezug auf schriftlich fixierte Normen gegenüber der schriftlosen Rechtsüberlieferung, Rechtsentwicklung und Rechtsprechung. Bis zum Ausgang des Mittelalters - und noch in die Neuzeit hinein - läßt sich lediglich ein fortschreitender Prozeß der "Verschriftlichung" feststellen (verstärkt und überformt von der "Verwissenschaftlichung" in Folge der Rezeption des römischen Rechts), ohne daß der Übergang von einer wesentlich schriftlosen Rechtskultur zum modemen Recht mit seinen regelmäßig textlich gefaßten Normen und Entscheidungen bereits völlig abgeschlossen war. Den Charakteristika der Gesellschaften mit vornehmlich mündlicher Kommunikation ("orale Gesellschaften") und den Problemen des Übergangs in die Schriftlichkeit haben sich eine Reihe neuerer Untersuchungen aus Ethnologie und Geschichtswissenschaft unter mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Fragestellungen zugewandt. Nur beispielhaft sei für viele andere mehr aus der deutschen Geschichtswissenschaft auf Hanna Vollraths Studie über ,,Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften" 17 hingewiesen. Mit neuen geschichtstheoretischen

"Gewohnheitsrecht" und ,,Rechtsgewohnheiten" im Mittelalter

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und methodischen Ansätzen schließen diese Forschungen über "orale Gesellschaften" und den Übergang in die ,,Literalität" an eine Forschungstradition an, die sich aufkulturanthropologisch~evolutionistischer Grundlage im vorigen Jahrhundert ausgebildet hatte und sich in der angloamerikanischen und französischen Literatur weit mehr als in der deutschen bis zur Gegenwart fortentwickelt hat. Die Ergebnisse dieser Forschungen über die Denk- und Verhaltensmuster und den tiefgreifenden Wandel beim Übergang in die ,,Literalität" fordern die rechtshistorische Forschung zu der entsprechenden Analyse der "oralen" Rechtskultur des Mittelalters - und insbesondere der Rolle des "Gewohnheitsrechts" in ihr - sowie der Veränderungen auf dem Weg zur ,,Literalität" - und dabei namentlich des Beitrags der Aufzeichnungen vom "Gewohnheitsrecht" - geradezu heraus. Zu überdenken sind dabei beispielsweise die Unterschiede, die sich gegenüber dem modemen Verständnis von Norm und Normativität schon daraus ergeben, daß in einer "oralen" Rechtskultur die Rechtsinhalte mangels schriftlicher Fixierung kaum mit gleicher Stabilität und Autorität als für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen vorgegeben gedacht werden können wie im "verschriftlichten" Recht (unabhängig davon, ob diese Schriftlichkeit auf "privater" Aufzeichnung, Gesetzgebung oder beispielsweise gerichtlichem Präjudiz oder ,,Leitsatz" beruht). Damit wird es aber fragwürdig, etwa für das schriftlose Recht überhaupt von einer gleichartigen Normativität auszugehen, wie sie aus dem neueren Recht vertraut ist. Ob grundSätzlich die Entscheidungen für den Einzelfall in Rechtssätzen abstrakt-generell vorgegeben gedacht werden, ob die Rechtsnorm als Entscheidungsgrundlage und die Rechtsanwendung auf einen konkreten Sachverhalt einander gegenüber gestellt werden, ob mithin unsere juristischen Vorstellungen über Norm, Sachverhalt und Subsumtion auf die Rechtsvorstellungen in schriftlosen oder schriftarmen Kulturen übertragbar sind - all dies war schon herkömmlicherweise der rechtshistorischen Germanistik zweifelhaft und hat zu Begriffsbildungen wie "Rechtsfindung" und "Rechtsweisung" im Gericht geführt. Diese Zweifel an der Übertragbarkeit moderner Rechtsvorstellungen gilt es auf der Grundlage neuerer Erkenntnisse der Ethnologie über die Eigenheiten schriftloser Kulturen konsequent fortzudenken. In diesem Rahmen können sich traditionelle Forschungsansätze der Deutschen Rechtsgeschichte durchaus weiterhin als fruchtbar erweisen (wie die Auseinandersetzung mit Funktion und Bedeutungsgehalten von Rechtssymbolen oder der herausragenden Rolle verfahrensbezogener Regeln oder für Einzelgebiete beispielsweise dem andersartigen Verständnis des Beweises im älteren Recht gegenüber der spezifischen Rationalität des neueren Beweisrechts auf der Grundlage der Kanonistik sowie kirchlicher und städtischer Praxis).

17 Hanna Vollrath, Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften, in: HZ 233 (1981), S. 571; weitere Nachweise auch bei Schulze (Fn. 11).

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Ohne das Nonnverständnis der schriftlichen Rechtskultur muß - um dies besonders hervorzuheben - der gerichtliche Entscheidungsgang ganz anderen Kriterien und Ablaufmustern folgen als jedwede Rechtsprechung unseres modernen Erfahrungshorizontes. 18 Insofern mag die Gegenüberstellung von "oraler" und schriftlicher Rechtskultur auch dazu beitragen, neue Verständnisansätze in den zahlreichen bisher ungelösten oder jedenfalls heftig umstrittenen Fragen zum Gang des mittelalterlichen Gerichtsverfahrens und zum Charakter der ,,Rechtsfmdung" im Gericht zu entwickeln. Auch wird etwa der bereits erwähnte Erklärungsansatz des "guten alten Rechts" aus dieser Sicht nicht allein deshalb problematisch, weil das ,,Alter" des Rechts wie überhaupt das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, die Zeit und das Zeitmaß in einer "oralen" Kultur anders begriffen werden als in einer Kultur, die sich Vergangenes mit Hilfe der Schrift zu vergegenwärtigen und zugleich in seiner zeitlichen Distanz bewußt zu machen vennag. Fragwürdig ist es vielmehr auch, eine abstrakt- nonnative Bestimmtheit der Rangfolge von Nonnen anzunehmen, wie sie der "verschriftlichten" Rechtskultur vertraut ist (also einen nonnativ fixierten "Vorrang" des neueren oder des "guten alten" Rechts).

TII. Mittelalterliches Gewohnheitsrecht in der Europäischen Rechtsgeschichte Es mag überraschen, daß die Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen "Gewohnheitsrecht" als ein Beitrag zur Europäischen Rechtsgeschichte verstanden wird. Auf den ersten Blick erscheint dies vielleicht nur insoweit naheliegend, als die Lehren der Kanonistik (sowie daneben der Legistik) im Mittelalter auf diesem Gebiet in Betracht stehen; denn das kanonische Recht bildet gemeinsam mit dem römischen Recht als Ius commune zweifellos einen gemeineuropäischen Rechtsbestand. Auch insoweit bleibt freilich in Hinblick auf die neuere Entwicklung des rechtshistorischen Fächergefüges anzumerken, daß sich die Perspektive der Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte in Deutschland erst während der letzten Jahrzehnte entfaltet hat. 19 Das Verhältnis dieser neuen Forschungsperspektive zu den herkömmlichen rechtshistorischen Arbeitsgebieten und auch zur rechtswissenschaftlichen Dogmatik, zur Geschichtswissenschaft und zur Politischen Wissenschaft bedarf noch weiterer Klärung im Fortgang der wissenschaftlichen Diskussion. So stellt sich beispielsweise die Frage, inwieweit sich auf diesem Feld die rechtshistorische Forschung mit einer Teilhabe an der "applikativen" Tätigkeit der Rechtswissenschaft und der Politischen Wissenschaft in Hinblick auf die Fortentwicklung des europäischen Rechts und der europäischen Verfassungen der Gegenwart verbinden kann. 20 18 19

Vgl. im folgenden den Beitrag von Jürgen Weitzel. Übersicht bei Schulze (Fn. 10).

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Was die Gliederung innerhalb des Faches Rechtsgeschichte selbst anbelangt, ist bereits seit längerem ein Wandel im Gange: Nicht allein die Neuere Privatrechtsgeschichte hat die Trennungslinien zwischen den herkömmlichen Teilfächern der rechtshistorischen Gennanistik, Romanistik und Kanonistik durchbrochen (und Forschungsgegenstände aus allen drei Gebieten vereint, ohne freilich die Gegenstandsbereiche der herkömmlichen Teilfächer zeitlich oder sachlich im ganzen zu erfassen). Auch die Verfassungsgeschichte hat in weitem Maße Forschungstraditionen der Gennanistik (der "deutschen Staats- und Rechtsgeschichte"21) mit Fragestellungen anderer rechtshistorischer Teilgebiete verknüpft und darüberhinaus die Verbindung zum Öffentlichen Recht und zu den Fächern Geschichtswissenschaft und Politische Wissenschaft verstärkt. Gefördert auch durch die Arbeit von Sektionen des Deutschen Rechtshistorikertages entwickelten sich ebenfalls über hergebrachte Teilfächer-Grenzen hinweg - um nur zwei weitere Beispiele zu nennen - die Geschichte des Strafrechts und die Verwaltungs(rechts)geschichte als neue Schwerpunkte rechtshistorischer Arbeit. In den meisten dieser Forschungsrichtungen und -schwerpunkte sind nicht nur neue Arbeitszusammenhänge entstanden, sondern es setzt sich auch zunehmend die Berücksichtigung der europäischen und internationalen Zusammenhänge der Rechtsentwicklung durch. Die Neuere ~vatrechtsgeschichte hat so während der fünfziger Jahre durch die maßgeblichen Lehrbücher 22 und späterhin vor allem durch die Anstöße des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt a. M. eine europäische Ausrichtung erhalten. Für die Verwaltungs(rechts)geschichte entfalten sich gerade in den letzten Jahren entsprechende europäisch ausgerichtete Arbeitsansätze; und für die Verfassungsgeschichte ist unlängst die grundsätzliche Frage eines Methodenwandels für die Zuwendung zu einer europäischen Perspektive aufgeworfen worden. 23 Diese Veränderungen sowohl gegenüber dem herkömmlichen rechtshistorischen Fächergefüge als auch gegenüber nationalgeschichtlich geprägten Arbeitsperspektiven innerhalb der einzelnen Fachrichtungen berühren auch herkömmliche Forschungsgegenstände und -fragen der rechtshistorischen Gennanistik bzw. der Deutschen Rechtsgeschichte. Insbesondere werfen sie die Frage auf, inwieweit die Ausrichtung des Arbeitsinteresses auf die Gemeinsamkeiten Europäischer Rechtsgeschichte sich nicht nur auf die rechtshistorische Kanonistik und 20 Vgl. ebd., S. 32 ff.; Dietmar Willoweit, Probleme und Aufgaben einer europäischen Verfassungsgeschichte, in: Schulze (Fn. 10), S. 141 ff. 21 Vgl. schon Karl-Friedrich Eichhorn, Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, 2 Bde., Göttingen 1808. 22 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, Göttingen 1952 (2. Aufl. 1967); Gerhard Wesenberg, Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung, Lahr (Baden) 1954 (fortgeführt von Gunter Wesener, 4. Aufl., Wien 1985). 23 D. Willoweit (Fn. 20); Christo! Dipper, Sozialgeschichte und Verfassungsgeschichte. Zur Europäischen Verfassungsgeschichte aus der Sicht der Geschichtswissenschaft, in: R. Schulze (Fn. 10), S. 173 ff.; für die Verwaltungs(rechts)geschichte Gerhard Robbers, Europäische Verwaltungsgeschichte, in: Schulze (Fn. 10), S. 153 ff. 2 Schulze

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Romanistik:, sondern auch auf Beiträge der Germanistik bzw. Deutschen Rechtsgeschichte stützen und auf deren herkömmliche Arbeitsfelder erstrecken kann. Außer Zweifel steht, daß die Deutsche Rechtsgeschichte als ein spezifisches Gebiet rechtshistorischer Forschung auch bei weiterer europäischer Ausrichtung der Arbeitsinteressen eigener Bearbeitung und Darstellung bedarf. Dadurch ist aber keineswegs ausgeschlossen, daß Forschungsgebiete und Fragestellungen, die sich aus nationalgeschichtlicher Sicht spezifisch der deutschen Rechtsgeschichte zuordneten, für die Europäische Rechtsgeschichte neues Interesse als Bestandteile gemeineuropäischer Rechtsentwicklungen (oder zumindest in großen Teilen Europas verbreiteter Rechts- und Verfassungszustände ) gewinnen. Dies gilt ohnehin für Forschungsgegenstände wie die Stammesreiche und Stammesrechte der sog. fränkischen Zeit, deren historischer Kontext ebensowenig Anknüpfungspunkte für die spezifische Zuordnung zu einer "deutschen" wie zu einer "italienischen", "portugiesischen" oder "englischen" Rechtsgeschichte bietet. Aus der Perspektive Europäischer Rechts- und Verfassungsgeschichte verdienen sie Aufmerksamkeit bei dem Zusammentreffen römischer und christlichkirchlicher Tradition mit germanischen (und auch anderen "barbarischen") Sozialverbänden als Bestandteile der Rechts- und Verfassungsentwicklung in einer frühen Phase des Entstehungsprozesses europäischer Rechtskultur (oder zumindest in der "Vorgeschichte" der europäischen Rechtskultur, wenn man diesen Begriff enger fassen und ihm die kulturellen Wandlungen im 11. und 12. Jahrhundert voraussetzen will). Aber auch soweit bereits im Verlauf des Mittelalters Sprachentwicklung und zeitgenössisches Selbstverständnis Anknüpfungspunkte für ein spezifisches Bezugsfeld der Deutschen Rechtsgeschichte zu bieten beginnen, gilt es gegenüber älteren nationalgeschichtlichen Sichtweisen die europäischen Zusammenhänge in den Blick zu nehmen. Nicht allein auf dem Feld der Privatrechtsgeschichte lassen sich weithin herkömmliche Gegenstände Deutscher Rechtsgeschichte weniger aus einer isolierten deutschen Entwicklung als vielmehr aus europäischen Verlaufs- und Wirkungszusammenhängen heraus verstehen. 24 Vielmehr stehen auch andere traditionsreiche Forschungsgebiete der rechtshistorischen Germanistik: wie die Stadtrechtsgeschichte oder die Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches in einem europäischen Kontext, den auch die ältere Forschung keineswegs unbeachtet ließ, der aber bei weitem noch nicht hinreichend ausgeleuchtet ist und unter der Perspektive Europäischer Rechtsgeschichte verstärkte Aufmerksamkeit verlangt. Auch die ,,Rechtsgewohnheiten" und das "Gewohnheitsrecht" fordern zu einer Überwindung nationalgeschichtlicher Verengungen heraus. Denn Rechtsprechung und Rechtsentwicklung in mündlicher Form herrschte lange Zeit hindurch überall in Europa vor (nicht nur über die später deutschsprachigen, sondern auch 24 Vgl. F. Wieacker (Fn. 22),2. Aufl., S. 18: ,,Auch als Privatrechtsgeschichte ist die europäische Geschichte eine Einheit und die deutsche Entwicklung nur ein Sonderfall (für den deutschen Betrachter der wichtigste), der in allen wesentlichen Phasen nur aus den europäischen Zusammenhängen zu erklären ist."

"Gewohnheitsrecht" und ,,Rechtsgewohnheiten" im Mittelalter

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weit über die germanisch beherrschten Gebiete insgesamt hinaus); und ebenso stellt sich die"Verschriftlichung" des Rechts im Zusammentreffen mit den älteren Rechtsvorstellungen als ein vielschichtiger und langwährender, aber schließlich ganz Europa erfassender Prozeß dar. Seine Grundlage bildet überdies - trotz der Spaltung in einen lateinischen und einen griechisch-byzantinischen Traditionsbereich - fast durchweg die gemeinsame Tradition der (griechisch-) römischen Antike, die vornehmlich von der - selbst nach dem Schisma dem Anspruch nach - einen gemeinsamen christlichen Kirche fortgeführt und in mehreren ,,Renaissancen" für veränderte Verhältnisse und neue Kulturbereiche aufgenommen wird. ,,Rechtsgewohnheiten" und "Gewohnheitsrecht" sowie ihre Integration und allmähliche Zurückdrängung durch die schriftlich fixierte Normativität des neueren Rechts sind insofern Herausforderungen für die Forschung auch unter der Perspektive der Europäischen Rechtsgeschichte. Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, daß nicht nur Struktur und Funktion von ,,Rechtsgewohnheiten" und "Gewohnheitsrecht", sondern auch die materiellen Gehalte derartigen Rechts auf verschiedenen Sachgebieten für die Europäische Rechtsgeschichte von besonderem Interesse sind. Nicht allein die consuetudines des kirchlichen Bereiches mit überlokaler Bedeutung sind so Ausdruck gemeineuropäischer oder zumindestens weitverbreiteter okzidentaler Traditionen vor und selbst neben der Kanonisierung des Kirchenrechts; und für den weltlichen Bereich ist nicht nur an einzelne verfassungsgeschichtliche Bindungen namentlich zwischen dem deutschsprachigen und italienischen Raum durch des Heiligen Römischen Reiches herkommen zu denken. Auf höherer Abstraktionsstufe gilt vielmehr Entsprechendes beispielsweise für gemeinsame Grundzüge des adligen Standesrechts und vor allem des Lehnrechts. Die Libri feudorum auf Grundlage des langobardischen Rechts erlangten gerade deshalb neben dem kanonischen und dem römischen Recht gemeineuropäische Bedeutung als Teil des lus commune, weil sie eine spezifische Ausprägung von Rechtsinhalten waren, die - vom kanonischen und römischen Recht nicht erfaßt - in vielerlei anderen Ausprägungen weithin in Europa verbreitet waren. Hinter der Fülle der unzähligen verschiedenartigen Gestaltungen in den einzelnen Regionen und Lehnskurien beruhte die europäische Bedeutung des Lehnrechts auf der Ähnlichkeit (und teilweise auch der Verflechtung) der Herrschaftsorganisation und sonstiger personaler Bindungen, die regelmäßig mit Immobiliarrechten verbunden waren - also auf einer Ähnlichkeit der Rechtsstrukturen des ,,Lehnswesens" in weiten Teilen Europas, und zwar schon vor der Verschriftlichung und anschließenden "Verwissenschaftlichung" auf der Grundlage der Ubri feudorum.

IV. Themen des Bandes Schon diese wenigen einführenden Bemerkungen lassen erkennen, wie vielschichtig die Thematik der ,,Rechtsgewohnheiten" und des "Gewohnheitsrechts" 2*

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im Mittelalter ist und wie wenig der Sammelband mit den Referaten einer Sektion des Rechtshistorikertages beanspruchen kann, den Problemkreis auch nur annähernd vollständig zu erfassen. Das Anliegen des vorliegenden Bandes kann es vielmehr nur sein, im derzeitigen Wandel des Faches und der Forschungslage einige Fragestellungen und Thesen für den Fortgang der Auseinandersetzung mit jenem ,,klassischen" Gegenstand rechtshistorischer Forschung vorzulegen, dessen begriffliche Fassung als "Mittelalterliches Gewohnheitsrecht" - wie sie die deutsche Fachtradition und auf dem 28. Deutschen Rechtshistorikertag die Bezeichnung der Sektion durch die Veranstalter vorgaben - selbst zu einem Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion geworden ist. In diesem Anliegen setzen sich die Beiträge des Bandes mit dem Charakter und der Wirkungsweise von ,,Rechtsgewohnheiten" und "Gewohnheitsrecht" während des Mittelalters für unterschiedliche Lebensbereiche auseinander. Der Schwerpunkt liegt bei den traditionellen Strukturen der mittelalterlichen Rechtskultur, ihren Auswirkungen auf das Verständnis "verschriftlichten" Rechts und ihrer Anpassung an die zunehmende Schriftlichkeit. In dieser Hinsicht sind die methodischen Wege zur Erforschung ,,mittelalterlicher Rechtsgewohnheiten" und die historiographische Bedeutung dieses Begriffes zu erörtern (Gerhard Dilcher); und es ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten oraler Rechtskultur Aufschluß über Funktion und Verfahren des mittelalterlichen Gerichts und die damit verbundenen Rechtsvorstellungen zu suchen (Jürgen Weitzel). Diesen Beiträgen auf herkömmlich germanistischen Forschungsfeldern muß die Auseinandersetzung mit dem Sektor hochentwickelter schriftlicher, sogar bereits "professionalisierter" und "verwissenschaftlichter" Befassung mit dem Gewohnheitsrecht vor allem in der mittelalterlichen Kanonistik (daneben auch in der Legistik) zur Seite treten (dazu Udo Wolter) - einen Sektor, der eher einen das moderne Verständnis vorzeichnenden Begriff des Gewohnheitsrechts erwarten läßt und der deshalb den Bereichen traditioneller Rechtskultur gegenüberzustellen ist. Darüberhinaus ist den Berührungen und dem Verhältnis von Gewohnheitsrecht und herrschaftlich-autoritativer Regelung nachzugehen, wenn auch in dem hier gesteckten Rahmen lediglich für ein Teilgebiet, das für das Mittelalter freilich herausragende Bedeutung hatte: Gewohnheitsrecht und Privileg (Elmar Wadle). Die allgemeineren Betrachtungen bleiben schließlich mit der Analyse eines Beispielsbereichs - derspätmittelalterlichen Gerichtsverfassung Kursachsens auf der lokalen Ebene - zu konfrontieren und durch sie zu ergänzen (Heiner Lück).

Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als methodisch-theoretisches Problem 1 Von Gerhard Dilcher Dem Andenken an Hermann Krause

J. Das moderne Gewohnheitsrecht Beginnen wir mit einer Lesefrucht während der Vorbereitung dieses Vortrages, die mir wohl nur wegen des eigenartigen Unterschiedes zu dem, was Gegenstand meiner Überlegungen war, aufstieß: Eher nebenbei wurde in einem juristischen Zeitschriftenaufsatz das "gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtsinstitut der culpa in contrahendo"2 erwähnt. Der Verfasser befindet sich in bezug auf die Begründung der Geltung der genannten, normativen Rechtsfigur durchaus in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehre: "Das Institut der Haftung für schuldhaftes Verhalten bei den Vertragsverhandlungen ... gründet sich ... nicht so sehr auf das BGB, als auf eine durch die Lehre und die Rechtsprechung vorgenommene schöpferische Rechtsfortbildung. Infolge langjähriger Übung und Aufnahme in das allgemeine Rechtsbewußtsein hat es heute die Kraft eines Gewohnheitsrechts" 3• Als solches ist es wie das Gesetz Rechtsnorm, damit objektives Recht und steht in seiner Kraft dem Gesetz gleich. Voraussetzung von Gewohnheitsrecht ist der Rechtsgeltungswille der Rechtsgemeinschaft (opinio necessitatis) und die tatsächliche, nicht bloß vorübergehende Übung (USUS)4, wie es bei Larenz denn auch für die in Anspruch genommene gewohnheitsrechtliche Geltung der fraglichen Rechtsfigur festgestellt wird. Verfolgen wir den Weg der cu/pa in contrahendo zur gewohnheitsrechtlichen Geltung, so beruht allerdings der Rechtsgeltungswille der Rechtsgemeinschaft eher auf einer Fiktion. 1 Es handelt sich um die wesentlich erweiterte Fassung des Beitrages auf dem Rechtshistorikertag 1990 in Nijmwegen, folgt jedoch dessen Anlage. Die Anmerkungen wollen lediglich den Gedankengang so belegen, daß die wichtigsten Anstöße erkennbar und die Standpunkte für den Leser wissenschaftlich nachvollziehbar werden. 2 Martin Weber, Der Optionsvertrag, Juristische Schulung 1990, S.249. 3 Karl Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Band 1, Allgemeiner Teil § 9 I a (14. Aufl. S. 108). 4 Karl Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, I, § 1, 6. Aufl. München 1983, S. 7. Heinz Hübner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, Berlin - New York 1985, § 3 I, S. 19 f. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. m, Tübingen 1976, S. 699.

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Der erste Ansatz ist eine ,juristische Entdeckung" eines führenden Juristen der Pandektenwissenschaft, Rudolph von Jhering s. Innerhalb der immer stärker systematisierten Lehren der vertraglichen Haftung entdeckt Jhering eine Lücke, findet einige Stellen des noch in Geltung stehenden römischen Rechts, die auf eine Haftung außerhalb der vertraglichen deuten und entwickelt aus ihnen die lükkenfüllende Rechtsfigur, die noch heute jedem deutschen Juristen unter diesem von Jhering erfundenen lateinischen Namen geläufig ist. Die Redaktoren des BGB können sich zu einer Aufnahme dieser Figur in die Zivilrechtskodifikation nicht entschließen, doch nimmt das Reichsgericht in einer Reihe von Entscheidungen die Linie der wissenschaftlichen Lehre auf und begründet die Rechtsfigur zunächst vor allem mit Analogien zu Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches; daneben spielt der Gesichtspunkt des Schutzes von Vertrauen - im Grunde eine Generalklausel - eine Rolle. Was hier als Gewohnheitsrecht bezeichnet wird, ist also das Produkt eines Diskurses von Spitzenjuristen aus Wissenschaft und Rechtsprechung, das "allgemeine Rechtsbewußtsein" ist dazu nie befragt worden 6• Die Wissenschaft hat hier also eine Rechtsregel entwickelt, die wissenschaftlich ausgebildeten Richter der obersten Gerichte setzen sie - mit etwas wechselnder Begründung - in Entscheidungen um, die dann wiederum von der Wissenschaft zur gesetzesgleichen normativen Regelung formuliert und im Rechtsunterricht und Lehrbüchern tradiert wird. - Dieser tatsächliche Verlauf wird nun in den Lehren des Gewohnheitsrechts innerhalb der oben erwähnten Geltungsvoraussetzungen durchaus einbezogen; beim Rechtsgeltungswillen können nämlich, so lesen wir, anstelle der Gemeinschaft ihre Organe handeln, etwa die Gerichte. Das Gewohnheitsrecht entstehe darum in der Hauptsache durch Gerichtsgebrauch, also durch ständige Rechtsprechung. Allerdings müsse durch Nichtwiderspruch - etwa der Rechtswissenschaft - die allgemeine Anerkennung bezeugt sein, und auch ein Widerspruch gegen die guten Sitten und die Grundlagen der staatlichen Ordnung, gegen das Erfordernis der sog. Rationalität oder Rationabilität, dürfe nicht vorliegen. 7 - Der kurze Aufriß zeigt schon in der verwendeten Begrifflichkeit (Übung = usus, Rechtsgeltungswille der Gemeinschaft = opinio necessitatis, Rationabilität) wie in den Grundgedanken, daß es S Der bis heute als Zitat stets aufgeführte Aufsatz von 1860: Culpa in contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zur Perfektion gelangten Verträgen, Gesammelte Aufsätze Bd. 1, Jena 1881, S. 327-425. 6 So aber Larenz, Schuldrecht I (Fn. 3) ausdrücklich. 7 So die Darstellung in Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halbband, Tübingen 1959, hierzu bes. S. 267 f. Nipperdey bringt hier die klassische Lehre des 19. Jhdts. zu einem Abschluß und einer letzten Darstellung, wobei er unter dem Eindruck der NS-Katastrophe gewisse ältere Elemente (Rationabilität) wieder aufnimmt, die der rechtsstaatliche Positivismus von Enneccerus abgelehnt hatte. Die neuesten Darstellungen (etwa die zitierte von Larenz, die noch mit seiner Methodenlehre zusanunen zu sehen wäre) nehmen die Bedeutung richterlich gebildeten Gewohnheitsrechts angesichts der nunmehr anerkannten Auslegungsspielräume der Rechtsprechung stark zurück, ohne die klassische Lehre doch aufzugeben.

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sich hier um eine seit dem Aufkommen des gelehrten Rechts im 12. Jahrhundert durchgehende Diskussion handelt, die ihre deutsche Ausformung durch die Historische Schule (Organ der Volksüberzeugung) und durch den positivistischen Rechtsstaatsgedanken, der mit den Gerichten eine staatliche Institution für die normative Ingeltungsetzung gegenüber der Wissenschaft bevorzugt, erfahren hat. 8 Die Tatsache, daß Gewohnheitsrecht historisch älter ist als Gesetzesrecht, wird kurz erwähnt, doch spielt dieses Gewohnheitsrecht "im ursprünglichen Sinne so gut wie keine Rolle mehr". 9

11. Rechtsgewohnheit als tragendes Prinzip mittelalterlichen Rechts Um dieses "Gewohnheitsrecht im ursprünglichen Sinne" aber soll es hier gehen. Es stellt anerkanntermaßen die überwiegende Rechtsschicht zumindest des Ersten Mittelalters (ital. Alto Medioevo) dar, des Zeitalters vom Einbruch und den Reichsgründungen der germanischen Stämme auf dem Boden des Römischen Reiches bis zu jener ,,Revolution", die durch das Erringen der libertas der Kirche, durch die Entwicklung einer intellektuell-scholastischen Lehre (studium) in Theologie und Jurisprudenz und durch die Entstehung kommunal verfaßter, bürgerlicher Urbanität südlich wie nördlich der Alpen für unsere Zwecke hinreichend unter politischem, geistesgeschichtlichem und sozial- und verfassungsgeschichtlichem Aspekt gekennzeichnet ist. 10 - Die Errichtung von Reichen germanischer Eroberervölker unter der Führung ihrer Könige und ihres Adels auf römischem Reichsboden und über römischer (- keltischer etc.) Bevölkerung, verbunden mit der Christianisierung dieser Eroberer, stellt nicht nur den Ausgangspunkt der europäischen Staatsentwicklung, sondern auch der Rechtsgeschichte dar. Das Recht dieser Völker "war ein ungeschriebenes. Es ging fast 8 Die Verbindung der pandektistischen Diskussion des 19. Jhdts. zum heutigen Diskussionsstand läßt sich vor allem anhand des Lehrbuchs des Pandektenrechts von Bernhard Windscheid, etwa 1. Bd., 8. Aufl. bearb. v. Th. Kipp, Frankfurt / M. 1900, § 15, S. 63 ff., und Enneccerus / Kipp / Wolff, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, 1. Bd. Allg. Teil, bearb. v. H. C. Nipperdey, 1. Hlbbd., § 38 ff. ziehen. 9 So Hübner (pn. 4), S. 20. \0 Vgl. zur Betonung des starken Umbruchs mit dem 11. /12. Jhdt. vor allem: Eugen Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, zuerst 1931 u. Ö. Gerd TeIlenbach, Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreites, Stuttgart 1936. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 52 ff. Peter Weimar (Hg.), Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert, Zürich 1981. Johannes Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jhdt., 1981. Robert L. Benson / G. Constable (Hg.), Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, 1982. Neuestens: Harold J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, dt. Frankfurt / M 1991. Zum Verfassungsumbruch zur Stadtkommune: Gerhard Dilcher, Die Entstehung der lombardischen Stadtkommune, Aalen 1967.

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vollständig im Gewohnheitsrecht auf'II. Die eroberten Länder kannten aber das römische Recht, und es blieb, wenn auch in vereinfachter Form, teils als Gewohnheitsrecht, aber auch als schriftlich gefaßtes Recht wirksam, für die romanische Bevölkerung und die Kirche vor allem, aber doch auch als ein nützlich oder notwendig empfundenes Instrument der neuen Herrscher. Latein, und damit dessen Worte und Begrifflichkeiten, bleibt nicht nur bis ins 20. Jahrhundert die Sprache kirchlicher Liturgie, Theologie und kirchlichen Rechts im Bereich des römischen Katholizismus, es bleibt bis weit in die Neuzeit die führende europäische Rechtssprache. Es dauert, wenn wir vom insularen angelsächsischen Bereich absehen, von der ersten Aufzeichnung des Rechts germanischer Stämme bei Westgoten und Franken etwa ein Dreivierteljahrtausend, bis nach 1200 in Deutschland 12 - und ähnlich anderswo - mit dem Sachsenspiegel, stadtrechtlichen Quellen und einer beginnenden deutschsprachigen Beurkundungspraxis eine germanische Rechtssprache neben dem Latein Raum im Bereich der Schriftlichkeit gewinnt. Nun ist es aber keineswegs so, daß mit dem Latein als Sprache des schriftlichen Rechts das in seiner sprachlichen und intellektuellen Form sicher überlegene Recht des zerstörten Römischen Reiches auch inhaltlich zur Anwendung gekommen wäre. Zwar färbt es durch seine Terminologie die schriftlichen Rechtsquellen, auch soweit nichtrömisches, nämlich das Recht der neuen germanischen Bevölkerungen zur schriftlichen Festlegung gelangt. Diese gaben aber ihre grundlegenden sozialen und politischen Institutionen - und damit ihre Identität und ihr Recht - keineswegs auf, sondern bewahrten sie, paßten sie an und entwickelten sie in Verbindung mit den römischen und kirchlichen außerordentlich kreativ fort. Diese Institutionen waren vor allem der Familienverband, Vorstellungen von personalen Herrschaftsbeziehungen und darin wirkSaIilen Freiheiten, sowie Nutzungsrechten am Boden. Der Rechtsinhalt der Begriffe von Sippe, Treue, Munt, Freiheit, Gewere ist heute noch oder wieder wissenschaftlich umstritten, die grundlegende Bedeutung der sich hinter den Worten verbergenden Vorstellungen sozialer Ordnung für die mittelalterlichen Gesellschaften lassen sich kaum leugnen. Die Institution, die deren ständige Erneuerung ermöglichte, war das Ding, die Versammlung einer Rechtsgenossenschaft, die von der örtlichen Nachbarschaft bis zur Stammesgemeinschaft oder den Großen des Reiches reichen konnte 13. Hier wurden Regelungen und Entscheidungen in mündlicher Verhandlung in der Volkssprache getroffen. Das konnten für unsere Begriffe politische Entscheidungen, Rechtsfälle, Fragen der (etwa landwirtschaftlichen) Ordnung, aber auch Rechtsaufzeichnungen allgemeiner Art sein. Die ungeschriebene Grundlage der Konsensbildung in diesen Gremien ist es nun, was in der 11 So ausdrücklich Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, 1. Bd., 3. Aufl. 1961 (Nachdruck 2. Aufl. 1906), S. 152 für die (jedoch weiterwirkende) gennanische Zeit. 12 Peter Johanek, Rechtsschrifttum, in: Geschichte der deutschen Literatur, begr. v. H. de Boor und R. Newald (Hg.), 3. Bd. 2. T., München 1987, 8. Kap. 396 ff. 13 Jetzt grundlegend Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht, 2 Teilbände, Köln 1985.

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rechtshistorischen Wissenschaft meist mit dem modernen Begriff des Gewohnheitsrechts bezeichnet wird. Soweit das Ergebnis - wie wir sahen, über lange Zeit in lateinischer Sprache - verschriftlicht wird, hat die Wissenschaft ein Quellenzeugnis über seinen Inhalt. Die ältere rechtshistorische Forschung entwarf, meist ohne weitere methodisch-theoretische Reflexion, aus solchen Zeugnissen ein Bild des Rechts der fränkischen Zeit oder des hohen Mittelalters, von der Verfassung bis zu Privat- und Strafrecht und Verfahren. Dabei sind aber vor allem zwei theoretisch-methodische Probleme zu wenig beachtet worden. Das eine von ihnen, die methodische Problematik der sprachlichen Übertragung eines Aktes der Volkssprache in Latein hat zum erstenmal in etwas grundsätzlicherer Weise Philipp Heck unter dem Stichwort des "Übersetzungsproblems" in die Diskussion gebracht 14, freilich eher unter dem engeren Gesichtspunkt der Technik der Übertragung und ihrer Fehlerquellen. Das Problem der Übertragung volkssprachlicher Inhalte in lateinische Worte und umgekehrt, die Schaffung volkssprachlicher Worte, um lateinische übersetzen zu können (unter ihnen "giwonaheite"!) hat im Rechtsbereich materialreich Gerhard Köbler verfolgt 15. Das Verhältnis von mündlichem Akt zu schriftlichem, quellenmäßigem Niederschlag und umgekehrt die Umsetzung schriftlicher Normierungen oder Anordnungen, die auf Latein vorliegen, in konkrete gerichtliche oder obrigkeitliche Einzelentscheidungen, dies wieder in Versammlungen und in der Volkssprache, wird heute vor allem in bezug auf die Leges, also die sog. Volksrechte unter Stichworten wie Schriftlichkeit und Effizienz lebhaft und kontrovers und mit sehr offenem Ergebnis diskutiert 16. - Das zweite Problem betrifft die Frage, wieweit wir dem älteren Rechtsdenken und seinen überlieferten Quellenzeugnissen das Muster einer ,,Rechtsordnung" in unserem Sinne unterlegen können. Wie verzerrend die Projektion des modernen Gesetzesbegriffes auf anscheinend normativ gemeinte Rechtsaufzeichnungen der älteren Zeit ist, hat vor allem Wilhelm Ebel klargemacht 17, der uns an die Andersartigkeit grundlegender Denkfo~en der älteren Philipp Heck, Übersetzungsprobleme im frühen Mittelalter, Tübingen 1931. Gerhard Köbler, Das Recht im frühen Mittelalter, Köln 1971 sowie zahlreiche weitere Studien. Gerhard Köbler, Zur Frührezeption der consuetudo in Deutschland, Hist. JB. 89,1969, S. 336-371 gibt eine Wortgeschichte, entgegen dem Titel aber keine entsprechende Sachgeschichte. Zu seiner Methode kritisch Gerhard Vi/eher in ZRG (GA) 90, 1973, S. 267 ff.; Weitzel (Fn. 13) S. 1366 ff. u. passim; Hanna Vollrath, Herrschaft und Genossenschaft im Kontext frühmittelalterl. Rechtsbeziehungen, Hist. Jb. 102, 1982, S. 33 ff., bes. S. 52 ff., 58, 60. 16 Vgl. aus dem Band Recht und Schrift im Mittelalter, VuF XXIII, Sigmaringen 1977 vor allem den Beitrag von Hermann Nehlsen, Aktualität und Effektivität der ältesten germanischen Rechtsaufzeichnungen, S. 449 ff. Weiterhin Clausdieter Schott, Pactus, Lex und Recht, in: Die Alemannen in der Frühzeit hg. v. Wolfgang Hübener 1974, S. 135-168. Raymund Kottje, Die Lex Baiuwariorum - Das Recht der Baiern, in: Hubert Mordek (Hg.), Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters, Sigmaringen 1986. I7 Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, Göttingen 1958. Vers., Die Willkür, Eine Studie zu den Denkformen des älteren deutschen Rechts, Göttingen 1953. 14

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Zeit erinnert und dabei Weistum, Einung und Gebot unterscheidet - wobei vor allem beim Weistum die inhaltliche Begründung auf Herkommen und Gewohnheit beruht. Der Bezug auf einen Einzelfall und eine generelle Regelung (Norm, Gesetz) sind dabei im Wesen nicht unterscheidbar. - Die gesetzesähnlichsten Rechtsquellen des frühen Mittelalters schließlich, die Kapitularien, stellen uns nicht nur in bezug auf Beschlußfassung, Aufzeichnung, Verkündigung und Umsetzung zahlreiche ungeklärte Probleme, sondern sie greifen nach ihrem Selbstverständnis nicht oder nur sehr vorsichtig in den Bereich eigentlichen ,,Rechts", der Tradition der Dinggenossenschaft, ein; sie sind vielmehr eher Verwaltungsordnung, Gebotsrecht im Bereich unmittelbarer Zuständigkeit des Herrschers oder der ihm verbundenen Kirche, Vorläufer der späteren ,,Polizey" 18. - Die Untersuchung der umfangreichsten verschriftlichten Rechtssetzung durch die deutschen Könige zumindest bis in die Zeit der Staufer, der Königsdiplome mit meist privilegsrechtlichem Inhalt durch Hermann Krause hat ergeben 19, daß gerade hier im 10. -12. Jahrhundert Überlieferung, Herkommen, Gewohnheit eine ganz dominierende Rolle spielen. Die Könige nehmen hier Schenkungen an Land und Rechten vor oder schlichten Konflikte, zumeist zugunsten von Kirchen, und folgen dabei laut den Arengen dem Beispiel ihrer Vorgänger, bestätigen und erweitern alte Vergabungen. Dabei wird häufig der Schlichtung zukünftiger Konflikte in dem betreffenden Rechtskreis gedacht und in vielfältigen Wendungen erklärt, dies solle more maiorum, secundum usus, secundum antiquam consuetudinem geschehen - also als einzige normative Grundlage wiederum Gewohnheit und Herkommen in Bezug genommen, festzustellen zweifellos in dingförmlichem Verfahren. In diesem Bereich der Verschriftlichung stellt also der herrscherliehe, meist vom Konsens der Großen getragene Akt vor allem eine Zuordnung zu einem Herrschaftsbereich dar, keinesfalls aber eine normative Rechtsquelle was die rechtlichen Inhalte angeht, erfolgt vielmehr die Referenz auf die prozeßhaft zu ermittelnde Gewohnheitsordnung. Die erwähnte Darstellung Wilhelm Ebels 20 beruhte z. T. noch auf dem älteren Forschungsstand, hält aber schon die Vorstellung einer "vom Konkreten losgelösten, logisch in sich geschlossenen Ordnungswelt menschlicher Beziehungen und rechtlicher Begriffe" für das Bewußtsein der Frühzeit für unmöglich. Von dieser Fragestellung her ist eine neuere analytisch ausgerichtete Forschung zu Konturen eines neuen Bildes vom frühmittelalterlichen Rechtsverständnis gekommen. Danach ist es die Projektion einer modemen, aber auch in gewisser Weise dem römischen Recht eigenen Gedankenwelt, wenn man dem mittelalterlichen Denken 18 Vgl. zum neuesten Stand Reinhard Schneider, Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Bereich der Kapitularien, in: Recht und Schrift (Fn. 16) und Hubert Mordek, Karolingische Kapitularien, in: Mordek, Überlieferung (Fn. 16). 19 Hermann Krause, Königtum und Rechtsordnung in der Zeit der sächsischen und salischen Herrscher, ZRG (GA) 82, 1965, S. 1-98, zum Zusammenhang vor allem S. 52 ff., (54 ff.). 20 Ebel, Geschichte der Gesetzgebung (pn. 17), hier S. 14.

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vor dem Aufkommen und Durchdringen der Rechtswissenschaft die Vorstellung "einer Legalordnung, möge sie nun auf Gesetz oder Gewohnheitsrecht beruhen", unterstellt 21 • Vielmehr kannte die ältere Vorstellung nur den im Ding ergangenen Urteilsspruch, der vor allem die Beweisfrage betraf; außerdem durch Selbstunterwerfung geschaffene Regelungen mit entsprechender Rechtsfolge, also Verwillkörung, Wette, Gedinge. Hinter ihnen eine Rechtsordnung sehen zu wollen, wie es die spätmittelalterliche Parömie "Gedinge bricht Landrecht" darstellt, verzeichne aber die Vorstellungswelt des frühen deutschen Rechts 22 • Die berühmte erste große umfassende Verschriftlichung einer stammes- und landrechtlichen Ordnung, die Hauptquelle für die rechtshistorischen Darstellungen des spätmittelalterlichen deutschen Rechts, der Sachsenspiegel Eikes von Repchow, versteht sich selbst nach der vielzitierten Aussage der Vorrede als ein Spiegel, der das von den Vorfahren überlieferte Recht wiedergeben will 23 • Andererseits ist ihm, in kirchlich-augustinischer Tradition, das Recht auf Gott bezogen, und am Maßstabe biblischer Autorität kann er darum auch die landrechtliche überlieferte Unfreiheit von Menschen als unrechte Gewohnheit verwerfen 24 ohne daß allerdings für die bestehende Rechtsordnung daraus Folgerungen gezogen würden. Schon bei dem Rechtsspiegel Eikes hat die neuere Forschung deutlich gemacht, daß hier nicht einfach eine gewohnheitsrechtliche Ordnung - über die Zwischenstufe des Latein! - ins Schriftliche gebracht worden ist, sondern die Berührung mit der kirchlichen Schriftkultur und kirchlichem Rechtsdenken neben der Kenntnis der sächsischen Gerichtspraxis zum geistigen Rüstzeug zur Bewältigung dieser Aufgabe gehörte 25 • Auch im Rahmen des nun aufgezeichneten sächsischen Rechts meint Eikes Rechtsbegriff aber nicht jene gesetzesgleiche normative Ordnung, die die älteren Lehrbücher und Monographien der Rechtsgeschichte zu entwerfen versuchen, sondern gerade das Zustandekommen im dingförmlichen Verfahren - also modern gesprochen einen prozeßrechtlichen Aspekt, ein Verweis auf das im Konsens Festzustellende, damit zumeist auf Herkommen Begründete. Kroeschell, ,,Rechtsfindung" (wie folgende Fn.) S. 512. Dargestellt bei Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte Bd. 2, S. 84 ff. , auch ders., ,,Rechtsfmdung", in: FS f. Hermarm Heimpel, Bd. 3, Göttingen 1972, S. 498-517, bes. S. 512, unter Bezugnahme auf Wilhelm Ebel, Über die Formel "für mich und meine Erben", in: ZRG (GA) 84 (1967), S. 236-274. und Hans-Rudolf Hagemann, Gedinge bricht Landrecht, in ZRG (GA) 87, 1970, S. 114-189 sowie Köbler, Das Recht (Fn. 15). 23 Vgl. jetzt die eindringliche Studie von Alexander 19nor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow, Paderbom 1984. 24 Ldr. m 42. 25 Guido Kisch, Sachsenspiegel and Bible, Notre Dame, Indiana 1941, Gerhard Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium luris, Köln 1968, Rolf Lieberwirth, Eike von Repchow und der Sachsenspiegel (SB sächs. Akad. Leipzig) Berlin 1982, Peter Johanek, Rechtsschrifttum (Fn. 11). 21

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Zahlreiche angedeutete Ansätze der Forschung sind nun in einem umfassenden Entwurf von Jürgen Weitzel aufgenommen, das fränkisch-deutsche Recht des Mittelalters nach Selbstverständnis und Funktion von dem Aspekt des jeweiligen "Herstellens" im dinggenossenschaftlichen Verfahren - und nicht dem einer nichtschriftlichen gesetzesähnlichen nonnativen Ordnung - zu deuten 26. Das braucht hier nur erwähnt zu werden, weil es im Rahmen dieser Arbeitsgruppe des Rechtshistorikertages und in diesem Band von Weitzel selbst eingebracht wird. Festgehalten werden aber soll schon hier, wie sich aus dem Weiterleben des dinggenossenschaftlichen Modells auch innerhalb der vielschichtigeren Rechtswelt des Spätmittelalters, ja der Frühneuzeit auch ein Weiterwirken von "Gewohnheitsrecht" in seiner älteren Qualität ergibt. Schon die Rechtswelt des Ersten Mittelalters besteht aus vielfältigen Schichten, nicht nur aus einer gleichsam archaischen schriftlosen Gewohnheitsordnung. Mit der oben bezeichneten Revolution des 12. Jahrhunderts kommt neue Bewegung und weitere Vielfalt in das Recht. Das römische Recht des vollen Corpus iuris Justinians wird entdeckt, scholastisch erschlossen und gelehrt, das kirchliche Recht erfährt seine Sammlung durch Gratian und seine ungeheuer dynamische Weiterentwicklung durch die Papstkirche; daran schließt sich die Fonnulierung einer neuen Rechtstheorie und Gesetzgebungslehre und daran "a great wave of legislation" durch die Herrscher der Länder ganz Europas 27 • Dieses Recht nun ähnelt dem uns vertrauten sehr: Eine nonnative Ordnung, durch obrigkeitlichen Befehl in Kraft gesetzt, die Verletzung derselben mit Sanktion bedroht. Nicht nur die Tatsache, daß diese Herrscher über lange Zeit weder über das Monopol legitimer Gewaltanwendung, noch über einen durchorganisierten Gerichts- und Verwaltungsapparat zur Durchsetzung dieser Gesetzgebungen verfügte, sollte uns davon abhalten, hier den Rechtsbegriff der modemen KodifIkationsepoche vorauszusetzen 28 • Im weltlichen Recht, teilweise auch in der Kirche stellte das auf nichtschriftliches Herkommen begründete Recht einen so umfangreichen Bestandteil der Rechtsordnung dar, daß es nicht nur in der zu Anfang angesprochenen Weise einer Lückenfüllung diente. Auch hier ist nicht nur der Anwendungsbereich, sondern auch Sinn und Funktion des schriftlichen Rechts nur im Hinblick auf Herkommen und Gewohnheit zu erfassen. Nur erinnert werden soll hier daran, daß sich die Rezeption des römischen Rechts entgegen der Lotharischen Legende "gewohnheitsrechtlich" vollzog 29 , und auch daran, daß das aus dieser Periode stammende, nicht durch das Programm der Kodifikation geprägte angloWeitzel, Dinggenossenschaft und Recht (Fn. 13). Eindringlich und umfassend dargestellt von Sten Gagner, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Uppsala 1960, bes. S. 179 ff., 288 ff. (die Formulierung im Anschluß an Plucknett bei Gagner S. 313). 28 Dazu wiederum zuletzt Weitzel (Fn. 13). Die Bedeutung des Gewaltmonopols hat bekanntlich zuerst Max Weber scharf thematisiert. 29 Hermann Krause, Kaiserrecht und Rezeption, Heidelberg 1952, Wieacker (Fn. 9), bes. S. 97 ff. Zuerst wurde dies bekanntlich von Hermann Conring gesehen. 26

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amerikanische Common Law zwar nicht im strengen Sinne Gewohnheitsrecht ist, aber jedenfalls eine, von der anfangs zitierten bis heute gänzlich verschiedene Rechtstheorie entwickelt hat und nur durch sie theoretisch erfaßt werden kann 3O• Regelbildung, Nonn, Einzelentscheidung und geschichtliches Herkommen stehen hier jedenfalls in einem grundsätzlich anderen Verhältnis als in der kontinentalen Rechtstheorie. Aus diesem, notwendigerweise verkürzten Überblick soll folgendes für unsere weiteren Überlegungen festgehalten werden: Die europäische Rechtsgeschichte ist nicht nur von der Tradition des fachlich-intellektuell gefonnten römischen und des ihm verbundenen kirchlichen Rechts und der daran anknüpfenden Tradition obrigkeitlicher, nonnsetzender Gesetzgebung geprägt, sondern auch von den Traditionen der gennanischen Reichsgründungen, einer den sozialen Kreisen verbundenen nichtschriftlichen überlieferten Ordnung. Sie beherrscht jedenfalls bis ins 12. /13. Jahrhundert das Rechtsleben dieser europäischen Reiche. Sinn, Bedeutung und Funktion schriftlichen Rechts in dieser Zeit - und dies gilt sowohl für die Aufzeichnungen aus dem Bereich dieser Gewohnheitsordnung wie für herrscherliches Gebotsrecht und teilweise sogar für die tradierten Texte römischen und kirchlichen Rechts - lassen sich nur im Hinblick auf diese Ordnung des Herkommens und dessen dingfönnliche Feststellung bestimmen. Ihre Qualität ist grundsätzlich anderer Art als die der uns vertrauten, durch schriftliches Recht und insbesondere Gesetzesrecht geprägten Rechtsordnung, auch anderer Art als das in ihr enthaltene Gewohnheitsrecht. Wir bedürfen also anderer methodischer Zugänge zu diesem Recht. Das Axiom rechtshistorischer Henneneutik, daß der am geltenden Recht ausgebildete Jurist aufgrund seiner Erfahrung mit Recht ein schon geschultes Vorverständnis für den komplizierten Akt des Verstehens historischen Rechts besitzt, gilt für dieses Recht aufgrund seiner qualitativen Andersartigkeit nicht - oder jedenfalls weit weniger als gegenüber jeder Fonn eines Gesetzes-, Gelehrten- oder Juristenrechts. Ich möchte deshalb hier schon einen ersten Sprachgebrauch der Verfremdung einführen und, wie schon von Karl Kroeschell und anderen vorgeschlagen, von Rechtsgewohnheit statt von Gewohnheitsrecht sprechen 31 • Die Vertauschung der Genitivbeziehung weist darauf hin, daß wir hier allenfalls eine Ordnung aus 30 Übersicht bei Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. ll: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, Tübingen 1975. 31 Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2,1973 u. Ö., S. 86 zum Problem mittelalterliche Rechtsbildung: "Das mittelalterliche deutsche Recht kennt also Rechtsgewohnheiten, aber kein Gewohnheitsrecht". Ebenso mit weiteren Gesichtspunkten Weitzel, Dinggenossenschaft (Fn. 13) Bd. 2, S. 1344 ff.: "Gegen die Lehre vom Gewohnheitsrecht - schriftloses Recht (Rechtsgewohnheiten)". Hanna Vollrath, Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften, HZ 233,1981, S. 571 ff., S. 583: " ... durch fortdauernden Rechtsbrauch, eben als Rechtsgewohnheit ... " (ebda.) Fn. 32. aber auch zum anthropologisch begründeten Unterschied zwischen normfreiem Regelverhalten (wertfreier Sitte) und der mit einem Sollensgebot ausgestatteten Rechtsgewohnheit als der guten, rechtsverbindlichen Sitte.

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Tradition, Herkommen, Gewohnheit unter dem Aspekt des Rechts betrachten können, nicht aber Herkommen, welcher Art auch immer, in eine bestehende, schriftlich fixierte normative Ordnung einbeziehen. Anders gewendet: Es handelt sich nicht um eine juristische Geltungstheorie, wie wir sie hinter dem modemen Gewohnheitsrecht gefunden haben, sondern um eine Theorie für einen Problembereich empirischer Rechtssoziologie 32• Die Bezeichnung als Rechtsgewohnheit soll in der Tat einen Ausdruck der Verfremdung gegenüber "Gewohnheitsrecht" und gleichzeitig der Abgrenzung und Präzisierung der wissenschaftlichen Terminologie darstellen. Quellengemäß für die ältere Zeit ist beides nicht. Im lateinischen Sprachgebrauch der Quellen steht consuetudo und daneben mos, usus u. ä.; ius consuetudinarium ist weit seltener 33 . Das ist so bis heute; im kanonischen Recht ist der einschlägige Terminus nach wie vor consuetudo 34• Dem entspricht auch französisch coutume 35 ; die Gegenüberstellung zu pays de droit ecrit lautet bezeichnenderweise pays de coutume, coutumier (nicht droit coutumier) 36. Im deutschen (Rechts-)Sprachgebrauch kommt Gewohnheitsrecht statt des bis dahin üblichen Gewohnheit, Herkommen u. ä. erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf, zuvor werden eher recht und gewohnheit und anderes in Paar- und Mehrfachformeln zusammengestellt 37 . Noch um 1800 lautet der Titel einer Abhandlung ,,Rechtslehre von der Gewohnheit". Pütter schwankt, Thibaut und dann vor allem Puchta und nach ihm alle folgenden verwenden "Gewohnheitsrecht". Savigny noch nennt es einen ,,nicht ganz passenden Sprachgebrauch"38. Für sein Problembewußtsein und Sprachgefühl spricht es, daß er an der Stelle, wo er auf die Verschriftlichung des deutschen Rechts in den Rechtsspiegeln eingeht, plötzlich ,,Rechtsgewohnheit" verwendet 39. Es wird gleichzeitig vereinzelt auch von anderen Autoren 32 Der Gegensatz in Fragestellung und Methode wird klar definiert bei Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, bes. S. 415 f., auch in ders., Wirtschaft u. Gesellschaft, passim. Zur Methode der Rechtsgeschichte als Zweig der Geschichtswissenschaft jetzt Franz Wieacker, Methode der Rechtsgeschichte, HRG m Sp. 518 ff. und Dieter Simon, Rechtsgeschichte, in: Handlexikon zur Rechtswissenschaft, hg. v. Axel Görlitz, München 1972, S. 314 ff. 33 Vgl. bei Köbler, Recht im MA (pn. 15), S. 74. Grimm, Deutsches Wörterbuch 6, 6588 s. 'V. Gewohnheitsrecht. 34 Vgl. Landau, Die Theorie des Gewohnheitsrechts im katholischen und evangelischen Kirchenrecht des 19. und 20. Jhdts. ZRG (KA) 108, 1991, S. 156-196. 35 Vgl. die Sammelbände Recueils de la Societe lean Bodin Ln: La Coutume, Bruxelles 1990, bes. 2. part. 36 P. Viollet, Histoire du droit civil francais, (1905, Nachdr. 1966), S. 162. Theodor Bühler, Gewohnheitsrecht, Enquete, KodifIkation (Rechtsquellenlehre Bd. 1), Zürich 1977, S. 18 u.

Ö.

37 Vgl. Grimm, Dt. WB s. v. Gewohnheit, und vor allem zum folgenden s. v. Gewohnheitsrecht, Sp. 6588. 38 Die zitierte Stelle im ,,Beruf' (pn. 41), S. 15 a. A. 39 System des heutigen Römischen Rechts Bd. 1, S. 13.

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gebraucht 4O; ein stärkeres Bedürfnis nach diesem Wort kommt erst, wie gezeigt, in den neuesten wissenschaftlichen Arbeiten auf.

III. Die methodischen Ansätze in der älteren rechtsgeschichtlichen Wissenschaft In den Darstellungen der Deutschen Rechtsgeschichte wird, wie wir sahen, traditionell betont, daß das germanische Recht hauptsächlich Gewohnheitsrecht und eng mit Religion, Sitte, Glaube und Sprache verbunden gewesen sei. Doch fehlt eine durchgehende Reflexion dieser Grundtatsache, ja selbst das Stichwort Gewohnheit, Gewohnheitsrecht wird meist nicht ausgewiesen.

Dennoch gibt es seit der Begründung der Historischen Schule der Rechtswissenschaft, auf der die modeme rechtsgeschichtliehe Wissenschaft bekanntlich beruht, einen Ansatz zur Erfassung dieser Eigenart. Der eigentliche, theoretische Begründer der Schule, Friedrich Karl von Savigny, greift bei seiner rechtspolitischen Begründung der Rolle der Wissenschaft gegenüber der modemen, kodifIkatorisehen Gesetzgebung nicht nur auf die Rechtsgeschichte zurück, sondern entwirft eine Evolutionslehre des Rechts 41 . Im Anfang sei das (bürgerliche) Recht dem Volk eigentümlich wie seine Sprache, Sitte, Verfassung. ,Ja diese Erscheinungen haben kein abgesondertes Daseyn, es sind nur einzelne Kräfte und Thätigkeiten des einen Volkes, in der Natur untrennbar verbunden, und nur unserer Betrachtung als besondere Eigenschaften erscheinend"42. ,,Bei steigender Cultur ... sondern sich alle Thätigkeiten des Volkes immer mehr", die einzelnen Tätigkeiten werden von einzelnen Berufsständen ausgeübt. ,,Als ein solcher abgesonderter Stand erscheinen nunmehr auch die Juristen"43. Sie handeln nunmehr nach Savignys Auffassung als Organ des Volkes bei der Rechtsbildung. All diese Arten der Rechtsentstehung, erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz sieht Savigny als etwas, "welches der herrschende, nicht ganz passende Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht bezeichnet"44; erst die Rechtsschöpfung "durch die Willkür eines Gesetzgebers" hebt sich davon ab. In seiner Sicht hat mithin "das Recht nämlich ... kein Daseyn für sich, sein Wesen vielmehr ist das Leben der Menschen selbst, von einer besonderen Seite angesehen"45. 40 Grimm Dt. WB Bd. 14 Sp. 432 nennt Schlosser, Weltgeschichte und Gottfried Keller, Leute von Seldwyla (nicht Savigny). Im Rechtschrifttum fmde ich noch Dernburg, Pandekten I § 27 erwähnt, der statt Rechtsüberzeugung (opinio necessitatis) eine langjährige Rechtsgewohnheit verlangt, also den rechtstatsächlichen Gesichtspunkt betont (zit. bei Windscheid-Kipp, Pandekten I, 8. Aufl. 1900, § 15 Anm. 2 a. E., S. 66). 41 So vor allem in seiner Schrift: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814. (Hier zitiert nach der Ausgabe von Jacques Stern, Neudruck Darmstadt 1959, jedoch nach den Seitenzahlen der Originalschrift).

42 Ebda, S. 8. 43 Ebda, S. 12. 44 Ebda, S. 14.

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Diese in sehr differenzierten Gedankengängen vorgetragene Rechtstheorie Savignys bestimmt nun die deutsche Diskussion bis zu der oben angeführten Einordnung von Gewohnheitsrecht in die kodifizierte Rechtsordnung, allerdings unter Vereinseitigungen und Verkürzungen. Im Ansatz verbindet Savigny Recht mit der sozialen und geistigen Welt (Dasein, Leben, Volksüberzeugung); über dieser Einheit vollziehen sich aber in der Kulturentwicklung Prozesse der Ausdifferenzierung des Rechts als immer mehr verwissenschaftlichter Materie und der Ausbildung eines Juristenstandes. Moderne Ansätze der Systemtheorie (Ausdifferenzierung der Lebensbereiche) wie der Professionalisierungstheorie (Rolle der Juristen) ließen sich hieran unmittelbar anknüpfen. Wenn bei Savigny hier auch traditionell romantische und idealistische Denkansätze gesehen werden, so zeigt seine mehrfache Anknüpfung an Francis Bacons wissenschaftssystematischen Versuchen doch die Legitimität auch einer solchen Traditionslinie. Mit dieser Theorie wird die Hinwendung Savignys und seiner Schüler zum römischen Recht, zum Juristenrecht, zur Pandektenwissenschaft begründet. Den Germanisten als dem anderen Zweig der Historischen Schule war damit aufgegeben, den Strang der volksverbundenen Rechtstradition zu verfolgen. Dies tut mit voller Konsequenz Jacob Grimm, der sich angesichts der Andersartigkeit des älteren germanisch-deutschen Rechts vom Beruf des auf die Praxis wirkenden Juristen verabschiedet und - als Jurist - mit wichtigen Arbeiten Grund legt zur verstehenden Erfassung des älteren deutschen Rechts 46 • Während seine "Poesie im Recht" vor allem die Verflochtenheit des älteren Rechts in die Anschaulichkeit einer nicht fachlich-juristischen Sprache beschreibt, zeigt die Einleitung der Rechtsaltertümer die Einbezogenheit des Rechts in die Zeichenwelt von Symbolen, Handlungen, Zahlen und als Formen benutzten sprachlichen Formeln eine Explizierung dessen, daß Recht hier "das Leben selbst" vor der Ausdifferenzierung einer immer abstrakter werdenden Fachsprache ist. Die Fremdheit dieser alten Rechtswelt zu uns betont Jacob Grimm mit bildstarken Wendungen. Die beiden, aus Savignys Ansatz hervorgegangenen Forschungsrichtungen geraten in kämpferische Auseinandersetzungen vom Vormärz bis zur Abfassung des BGB, nicht so sehr wegen der Abgrenzung des dogmatischen Bereiches von römischem und deutschem Recht - die auf die Bildung allein einer deutschrechtlichen, aktuell verwendbaren Dogmatik ausgerichtete Germanistik war in die Pandektenwissenschaft durchaus zu integrieren 47 - als vielmehr wegen tiefergehender rechtspolitischer Divergenzen, in denen der Rechtsbegriff selbst eine 45 Ebda, S. 30, ähnlich schon S. 8. Die Frage, was nun für Savigny "das Leben" ist, kann hier nicht angegangen werden. 46 Aus den zahlreichen Arbeiten zu Grimm darf ich mich beziehen auf meine Studie: Jacob Grimm als Jurist, in: JuS 12/1985, S. 931-936. 47 Zu den verschiedenen Ansätzen und Richtungen in der Juristischen Germanistik vgl. Gerhard Dilcher / Bernd-Rüdiger Kern, Die Juristische Germanistik des 19. Jahrhunderts und die Fachtradition der Deutschen Rechtsgeschichte, in: ZRG (GA) 100 (1984), S.I-46.

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untergründige Rolle spielt. Einen ersten Höhepunkt dieser Auseinandersetzung bildete die Antwort, die Georg Beseler mit seinem Werk"Volksrecht und J uristenrecht" der grundlegenden Monographie des Savigny-Schülers Georg Friedrich Puchta erteilte, die den Titel "Das Gewohnheitsrecht" trug. Beide fußen in den tragenden Begriffen ihrer Buchtitel ja ganz offenkundig auf Savignys Rechtslehre 48. Es ist hier nicht der Ort, die Kontroverse im einzelnen nachzuzeichnen. Jeder der Autoren führt einen der rechtsmethodischen Stränge der Historischen Schule fort, beide mit unterschiedlichen rechts- und justizpolitischen, ja allgemeinpolitischen Zielen; beide jedoch auf der methodischen Grundlage der Historischen Schule, mit einer rechtshistorischen Analyse beginnend, um daraus grundlegende rechtliche Wahrheitsgehalte zu gewinnen und aus ihnen Konsequenzen für die Rechtsanwendung (Puchta) oder die Rechtspolitik (Beseler) zu ziehen. Bei beiden bedeutenden und scharfsichtigen Juristen ist deutlich, wie die aus der Quellenanalyse gewonnenen Erkenntnisse durch das nicht historische, sondern applikative Erkenntnisinteresse verzerrt werden. Puchta fragt vom Standpunkt des rechtsanwendenden Richters. In genauer Durchmusterung der Meinungen der älteren (römischen) und neueren (seit den Glossatoren) Juristen kommt er zur Unterscheidung von Gewohnheit und Gewohnheitsrecht, gegenüber dem beides ungeschieden bezeichnenden Sprachgebrauch von consuetudo. Diese Trennung führt er weiter zu der rein logischen Erkenntnis, daß die consuetudo nicht Ursprung eines Rechtssatzes sei, sondern Zeugnis für die Existenz eines Rechtssatzes, dessen fortdauernde Übung sie darstelle 49 • Es ist deutlich, wie hier nicht ein historischempirischer Ansatz zugrunde liegt, sondern ein konstruktiv-logischer, der die Existenz einer Weit abstrakt-normativer Rechtssätze hinter der Weit sozialer Erscheinungen voraussetzt. Für die Entwicklung einer Rechtsquellenlehre für die Pandektenwissenschaft war dieser Ansatz natürlich nützlich. Puchta scheidet dabei eigentliches Gewohnheitsrecht, das auf einer nationalen Rechtsüberzeugung beruhe, und Juristenrecht So. Beseler sieht durchaus den schwachen Punkt dieses Ansatzes, wenn er dagegen den Wirklichkeitsbezug der Rechtsgeschichte, ihre notwendige Integration in die allgemeine politische Geschichte ausspielt und das gelehrte Recht nicht als vorgegebene Erkenntnisgrundlage, sondern dessen Rezeption selbst als zu reflektierenden Gegenstand rechtshistorischer Forschung ansiehtSI. Von der Geschichte des deutschen Rechts her betont er einen Ausgangspunkt der Rechtsquellenlehre Savignys, nämlich die Verwurzelung des Rechts in der Volksüberzeugung. Indem 48 Georg Friedrich Puchta, Das Gewohnheitsrecht, 1828 (Neudruck Darmstadt 1965). Georg Beseler, Volksrecht und Iuristenrecht, Leipzig 1843. 49 2. Teil, 3. Buch 1. Kap. unter 2, S. 5 ff. so Zusammenfassend 2. Teil, S. 19 f. Iuristenrecht kann wiederum Gewohnheitsrecht, geschaffen als Organ des Volkes, sein oder Rechtssätze als Ergebnis wissenschaftlicher Wahrheit ermitteln. SI Volksrecht und Iuristenrecht (Fn. 48), S. 3 ff.

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er die Juristen anders als Savigny nicht als deren notwendiges Organ sieht, sondern als Vertreter einer von außen kommenden, volksfremden Tradition, spitzt sich ihm die Rechtsentstehung auf den Gegensatz von Volksrecht und Juristenrecht zu; in beiden Bereichen könne Gewohnheitsrecht entstehen. Seine Untersuchung mündet dann in der rechtspolitischen Forderung nach Volksbeteiligung in der Gerichtsverfassung, etwa in Form von Geschworenengerichten. Andererseits sieht er das Juristenrecht in dem Bestehen eines Berufsstandes der Juristen in Deutschland begründet und untersucht von daher Methode und Wert. Es handelt sich also hier um einen ersten Schritt zu einer realistisch-rechtssoziologischen Rechtsbegründung. - Diese Fragestellung fand bekanntlich ihre äußerste Zuspitzung in den Germanistenversammlungen der Jahre 1846 und 1847, in deren Mittelpunkt die wissenschaftliche Frage der Bewertung der Rezeption des römischen Rechts einerseits, die rechtspolitische Forderung nach Geschworenengerichten andererseits stand. Die Frage der Rechtsquellenlehre und der Organe der Rechtsanwendung erscheint hier unmittelbar verbunden - eine Verbindung, die nicht nur das gegenseitige Interesse dieser juristischen Germanisten zur englischen Rechtswissenschaft bewirkt, sondern sie auch im rechtstheoretischen Ansatz in das Vorfeld des angloamerikanischen Legal Realism führt. Wir müssen bei diesem kurzen Durchgang Otto von Gierke erwähnen, der, auch im eigenenen Selbstverständnis, den Endpunkt dieser Traditionslinie der historischen Schule bildet 52. Seine Genossenschaftstheorie ist eine Theorie von der Rechtsbildung aus der Gesellschaft; seine Stärke ist dabei, daß er nicht nur den Volksbegriff als Bezugspunkt hat, sondern, wie schon bei Beseler angelegt, die unterschiedlichen sozialen Kreise einer Gesellschaft gemäß ihrer jeweiligen Sozialverfassung. Bekanntlich hat dieser Ansatz bis heute Auswirkungen beispielsweise für die theoretische Begründung des Tarifvertragsrechts, während er andererseits im angloamerikanischen Raum Ansatz einer Pluralismustheorie der Politikwissenschaft bildet 53. Ich sehe die Endpunkte der beiden kurz gezeichneten Traditionslinien der Historischen Schule in zwei Werken, deren Gegenüberstellung unter diesem Aspekt vielleicht überrascht: In dem klassischen und bis heute grundlegenden Werk von Siegfried Brie, Die Lehre vom Gewohnheitsrecht von 1899 54 und in der ebenso klassischen Schrift von Fritz Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, zuerst 1919 erschienen 55. - Brie nennt sein Werk selbst eine ,,historischVgl. Otto v. Gierke, Die historische Rechtsschule und die Gennanisten, Berlin 1903. Nachweise bei GerhardDilcher, Genossenschaftstheorie und Sozialrecht: Ein ,,1uristensozialismus" Otto von Gierkes?, in: Quaderni Fiorentini, Bd. 3-4, 1974-75, S. 319365. 54 Siegfried Brie, Die Lehre vom Gewohnheitsrecht. Eine historisch-dogmatische Untersuchung. Erster Theil. Geschichtliche Grundlegung, Breslau 1899 (Nachdruck 1968) (Allein erschienener Teil). 55 Fritz Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, zuerst HZ 120 (1919), S. 1-79, jetzt u. a. Nachdruck Darmstadt 1965 (Titel des Handexemplars: ,,Recht und Verfassung in der Anschauung des Mittelalters"). 52 53

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dogmatische Untersuchung" und antwortet mit ihr auf eine Preisaufgabe der Savigny-Stiftung, die gestellt worden war im Hinblick auf die Rechtsquellenlehre unter dem Zeichen des BGB: ,,Revision der gemeinrechtlichen Lehren vom Gewohnheitsrechte". Brie knüpft an Puchta an, wendet aber weit größere Arbeit als dieser auf die Glossatoren und ihre Nachfolger, die Kanonistik und schließlich auch auf die deutschrechtlichen Gedanken des Mittelalters über das Gewohnheitsrecht, die, so meint er, in der modemen Wissenschaft wieder stärker Geltung gewonnen hätten 56. - Der alleine publizierte Erste Teil bringt nur die historische Grundlegung in scharfsinniger und detaillierter Forschung - doch bleibt das applikative Erkenntnisinteresse deutlich und begrenzt die historischen Fragestellungen, ebenso wie der strenge Bezug auf die klassischen Bereiche des römischen, kanonischen und deutschen Rechts die Wechselwirkungen, geistes-, sozial- und politikgeschichtlichen Hintergründe nur beschränkt aufscheinen läßt. Ganz anders geht Fritz Kern die Frage an, als Historiker, doch das modeme Gesetzesrecht als das prinzipiell Andere im Blick 57 ; deutlich distanziert er seine Fragestellung auch von Heinrich Brunners Deutscher Rechtsgeschichte 58 • Der Ansatzpunkt von Fritz Kerns Darstellung wird in der modemen Forschung, die sie oft zum Ausgangspunkt ihrer Kritik nimmt 59, übersehen 60: Er will weder die ,,Realien" der Rechtsgeschichte darstellen, noch die Theorien mittelalterlicher 56 Vorwort S. N. Da der 2. Teil, der die dogmatische Umsetzung bringen sollte, nicht erschienen ist, blieb die Umsetzung dieses Gesichtspunktes für die Gegenwart aus. 57 Ich teile jedoch nicht die Zuordnung Fritz Kerns zur Freirechtsschule, so aber bei Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 253 ff., wo auch die von Kern gemeinte Ebene des Problems nicht genau genug angesprochen ist. Kern war alteuropäisch-wertkonservativ, während die Freirechtsbewegung in die Aufbruchs- und Jugendbewegungsstimmung der Jahrhundertwende gehört, vgl. Luigi Lombardi Vallauri, Geschichte des Freirechts, in: Studien zur Philosophie u. Literatur des 19. Jhdts. 10, hg. v.: Neunzehntes Jahrhundert Forschungsunternehmen der Fritz Thyssen-Stiftung, Frankfurt a. M. 1967. Im übrigen kommt es für Kerns Beitrag zur Erkenntnis der Strukturen mittelalterlichen Rechts nicht entscheidend auf diese Zuordnung an. 58 S.7 (Einleitung): "Wer aus klassischen Werken wie Brunners Rechtsgeschichte die Rechtsanschauungen der betreffenden Zeit kennen lernen oder rekonstruieren wollte (wofür selbstverständlich eine solche Realiengeschichte gar nicht geschrieben ist): der würde zu einer wunderlich unzeitgemäßen Vorstellung gelangen". 59 Joachim Rückert, Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, Hannover 1988, S. 20, spricht darum von einer "berühmt-berüchtigte(n) Lehre vom alten und guten Recht". Die Kritik von Armin Woff, Gesetzgebung, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 1, München 1973, betrifft nicht ein methodisches Problem, sondern die Ausblendung eines Bereiches (Gesetzgebung) in Kerns Bild. Eine verständnisvolle Einordnung gibt Winfried Trusen, Gutes altes Recht und consuetudo, in: Recht und Staat. FS G. Küchenhoff. hg. v. H. Halblitzel u. M. Wollenschläger, Berlin 1972, S. 189-204. 60 Vgl. etwa Gerhard Köbler, Das Recht im frühen MA (Fn. 15) S. 16 ff, S.27 ff, u. ö. (s. Register Kern) unter Berufung auf K. von See u. K. Kroeschell. Dazu wieder Kart Kroeschell, Das germanische Recht als Forschungsproblem, in: FS f. Hans Thieme hg. v. K. Kroeschell, Sigmaringen 1986, S. 13 f., der aber hier die verschiedenen Ebenen des Problems nicht sieht. Ich halte an meiner Sicht in ZRG (GA) 90, 1973, S. 267 f. fest, die ich im folgenden breiter begründen kann.

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Gelehrter (also nicht die sonst im Vordergrund stehenden Lehren der Juristen!), "sondern die Anschauungen, wie sie bewußt und unbewußt, ausgesprochen und unausgesprochen dem breiten Rechts- und Verfassungslebenjenes großen vergangenen Zeitalters zugrunde lagen"61. Er nennt seine Methode geistes- und weltanschauungsgeschichtlich; heute könnte man sie auch mentalitäts geschichtlich nennen. Gegenüber den begrifflichen Distinktionen der Scholastik und Jurisprudenz betont er das Unscharfe, Fließende der älteren volkstümlichen Rechtsauffassung, das Ineinanderfließen von Rechtsgefühl und Überlieferung - der verstehende, auf das Andersartige gerichtete Ansatz Jacob Grimms setzt sich wieder durch. In sehr grundsätzlicher Weise werden zwei sonst vernachlässigte Probleme behandelt. Zunächst die Frage, was Schriftlichkeit für dieses ältere Recht bedeutet: es gibt kein geschriebenes, nur aufgeschriebenes Recht; zum anderen die Bedeutung der Zeitlichkeit: gutes Recht ist alt und altes Recht ist gut - was - oft mißverstanden - nicht als tatsächliche Feststellung, sondern als eine Feststellung über das Rechtsbewußtsein im Bereich des gewohnheitsrechtlichen Herkommens anzusehen ist 62. Wir lassen dies hier so stehen und brechen ab. Der Durchgang durch die ältere Wissenschaftstradition sollte eines zeigen: Hier liegen Deutungsmuster zugrunde, die aus der Historischen Schule stammen, sich in zwei gegeneinanderstehende Strömungen spalten, deren eine mehr von den Bedürfnissen des geltenden Rechts ausgeht und vom Standpunkt des gelehrten Rechts blickt, deren andere mehr die Andersartigkeit des Mittelalters und den sozialen Realitätsbezug des Rechts verfolgte. Während dieser Ansatz einer auf die Andersartigkeit gerichteten Fragestellung für unsere Frage nach der Besonderheit der Rechtsgewohnheit manche Anknüpfungspunkte bietet, ist er aber in Hinsicht auf sein analytisches Instrumentarium doch allzu stark der Romantik und dem deutschen "Organischen Liberalismus"63 verpflichtet, etwa in dem Rückbezug auf den Volksbegriff. Er ist also einerseits auf ein adäquates Erfassen der Andersartigkeit des Mittelalters ausgerichtet, vermag andererseits durch seinen hermeneutischen Ansatz die Verflechtung in die Vorverständnisse, die aus der spezifischen Herkunft aus der deutschen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts stammen, nicht aufzubrechen. Da deren national-konservative Strömung in der Wissenschaft der 20er bis 40er Jahre dieses Jahrhunderts der engeren Berührung mit nationalsozialistischen Gedanken nicht immer auswich, sind manche wissenschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte ausgesprochen oder unausgesprochen auch eine Auseinandersetzung über diesen Aspekt deutscher Wissenschaftsgeschichte 64 • Der rationalis61 So Kern (Fn. 55), S. 7 in der offenbar häufig übersehenen Einleitung. 62 Dazu auch Hanna Vollrath, Herrschaft und Genossenschaft im Kontext frühmittelalterlicher Rechtsbeziehungen, in: Hist. Jahrbuch 102, 1982, S. 33-71, bes. S. 54 ff. 63 Vgl. dazu Ernst Wolfgang Böckenjörde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, Berlin 1961. 64 Die wissenschaftlichen Diskussionen von Klaus von See mit der traditionellen Nordistik, von K. Kroeschell und F. Graus mit W. Schlesinger über Treue, Gefolgschaft,

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tisch-analytische Ansatz andererseits, der für sich die Fortführung der Aufklärungstradition beansprucht, greift oft nicht über die Untersuchung schriftlicher Dokumente der gelehrt-lateinischen Tradition des Mittelalters hinaus und fmdet damit keinen Zugang zu der Andersartigkeit mittelalterlicher oraler Kultur, die sich gerade in einer Erscheinung wie der Rechtsgewohnheit zeigt. Sicher sind hier aus der deutschen rechtshistorischen Tradition Ansätze zu einer Überwindung dieser gespaltenen Sehweise gemacht worden, vor allem durch die Studien Hermann Krauses 6S sowie der mehr wort- und begriffsgeschichtlich vorgehenden Forschung 66 • Sie bleiben aber in der hermeneutischen Tradition, indem sie sich dem Gegenstand durch ein intensives Einlassen auf die Quellen und ihre Aussagen annähern oder stoßen an die Grenzen einer analytischen Methode, ein andersartiges Weltbild zu rekonstruieren. Darum scheint es im Augenblick wissenschaftsgeschichtlich fruchtbar, hier den Ausgriff zu neuen Fragestellungen durch Einbeziehung andersartiger Forschungstraditionen zu versuchen.

IV. Die Rechtsgewohnheit in der Sicht eines ethnologisch-anthropologisch begründeten soziologischen Rechtsverständnisses Die grundlegende Schwäche der älteren Versuche zur Erfassung mittelalterlicher Rechtsgewohnheit liegt sicher darin, daß sie von einer rechtshistorischen Wissenschaft betrieben wurde, die sich vor allem als Teil einer normativ denkenden Rechtswissenschaft verstand 67. Die Methoden und Fragestellungen anderer Wissenschaften (außer denen der historischen Mediävistik) 68 befanden sich darum Sippe, auch die von G. Köbler mit FritzKern haben einen solchen Hintergrund. Vgl. auch den zit. Aufsatz von Karl Kroeschell, Das germanische Recht (Fn. 60). Das ist legitim und notwendig als ideologiekritische Reflexion einer Wissenschaftstradition. Daneben steht m. E. aber die Aufgabe, historische Sachprobleme angemessen zu erfassen; sie geht nicht in wissenschaftsgeschichtlicher Reflexion auf, sondern wird von ihr kritisch begleitet. 6S Hermann Krause, Dauer und Vergänglichkeit im ma. Recht, in: ZRG (GA) 75, 1958, S. 206-251. Ders.,Königtum und Rechtsordnung (Fn. 18). 66 Dazu oben bei Fn. 60, 64, 65. 67 Es gehört zu den inneren Spannungen in der rechtsgeschichtlichen Wissenschaft, daß sie aus einer sich selbst so benennenden Historischen Schule hervorging, aber stark rechtsdogmatischen, also applikativen Denkmodellen verpflichtet blieb und erst langsam zu einer vollen Historisierung ihres Selbstverständnisses fand. Vgl. Wieacker (Fn. 10), Privatrechtsgeschichte, S.416 (,,Die Entdeckung der Rechtsgeschichte"). Gerade in Grundfragen wie der des Rechtsbegriffs bleiben Prägungen offenbar besonders lange bestehen. Diejenigen Juristen, die zu einem soziologisch-realistischen Rechtsbegriff durchstießen, kamen von der Rechtsgeschichte, verließen aber als Außenseiter die Grenzen dieses Faches. Zu nennen wären etwa Max Weber, Eugen Ehrlich, lose! Kohler. Die Entwicklung einer soziologischen Rechtswissenschaft ist im Grundsätzlichen nicht über sie hinausgekommen, großenteils hinter sie zurückgefallen. 68 Die deutsche Mediävistik befand sich bekanntlich selbst lange Zeit im Banne juristischer Denkweisen, die deutsche Geschichtswissenschaft insgesamt hat lange sozial-

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nicht in ihrem Repertoire, auch nicht die der Rechtssoziologie oder Rechtsanthropologie. Auf eine objektive Schwierigkeit, die hinzutritt, kommen wir später: Die Rechtsgewohnheit der Vergangenheit kann fast ausschließlich erst aus ihrer Verschriftlichung erschlossen werden, weil natürlich die Möglichkeiten empirischer Erhebungen wie in moderner Soziologie oder Ethnologie ausgeschlossen sind. Damit ist sie aber, wie die mittelalterliche Kanonistik sagen würde, schon eine consuetudo in scriptis redacta, nicht mehr einfach mos oder usus. Wenn wir oben sagten, daß es uns nicht um eine juristische Geltungstheorie, sondern um die Betrachtungsweise einer empirischen Rechtssoziologie geht, so fordert das eben einen andersartigen theoretischen Ansatz. Einfach nur die Quellen sprechen zu lassen, ist dafür bekanntlich kein Ersatz, schon gar nicht, wenn es darum geht, Vorstellungen einer nichtschriftlichen Tradition zu rekonstruieren, die sich in schriftlichen Quellen nur indirekt niederschlägt. Zunächst seien noch einmal die Aspekte kurz zusammengefaßt, die für eine qualitative Verschiedenheit der Rechtsgewohnheit gegenüber einem wesentlich schriftlich festgelegten Recht sprechen und darum einen grundsätzlichen Neuansatz fordern, weil ein methodischer Zugang zur Erschließung nichtschriftlich tradierter Ordnung bisher in der Rechtsgeschichte nicht entwickelt wurde.

t. Es sind anband mancher Beobachtungen Zweifel entstanden, ob man innerhalb der Gewohnheitsordnung überhaupt von Normen sprechen kann, ob nicht die Beilegung eines Konfliktfalles aus einem anderen Bewußtseinshintergrund erfolgt als dem, die Lösung sei aus einer Norm - welcher Art oder Abstraktionsgrades auch immer - abzuleiten. Auch wenn man Gründe hat, hier von Recht zu sprechen, so ist jedenfalls seine Qualität gänzlich anders als diejenige der dem Juristen geläufigen Rechtsordnungen, auch der eines schriftlich fixierten Case Law. Die Verbindung von sozialer Lebensordnung zu Konfliktbeilegung ist also möglicherweise anders zu denken als über Aufstellung und Anwendung einer Norm. 2. Schon die klassische deutsche Rechtsgeschichte betont die Verbindung des germanischen Rechts mit Religion, Sitte, Moral, Sprache, Symbolen, ohne dann allerdings daraus für die Beschreibung des Rechts tiefergreifend Folgerungen zu ziehen. Die heute naheliegende umgekehrte Fragestellung lautet, wieweit diese Bereiche sich überhaupt ausdifferenziert haben, unsere Redeweise, die von einer solchen Ausdifferenzierung ausgeht, also überhaupt angemessen ist 69 • wissenschaftliche Denkweisen abgewiesen. Eine methodische Wende kam erst durch

Otto Brunners ,,Land und Herrschaft", dessen Rezeption aber verschleppt und verzögert

geschah, ganz im Gegensatz zum Durchbruch der französischen Schule der Annales. 69 Die Frage der Ausdifferenzierung der Lebensbereiche als Merkmale gesellschaftlicher Strukturen wird heute von der Systemtheorie am nachdrücklichsten formuliert. Vgl. Niklas Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt 1981 und ders., Rechtssoziologie, Reinbek 1972 und Opladen 1983. Vom Standpunkt der Autonomie des Rechts als Merkmal der Modeme dazu in ertragreicher kritischer Diskussion auch der mittelalterlichen Problematik: Joachim Rückert, Autonomie des Rechts (Fn. 59).

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3. Die ältere rechtshistorische Forschung wußte zwar sehr wohl, daß gewaltsame Rechtsdurchsetzung und Fehde in der Frühzeit und im Mittelalter neben dem ,,Rechtsgang" stand 70• Sie faßte jene aber eher als außerrechtliches Phänomen auf. Otto Brunners ,,Land und Herrschaft" hat dagegen den Durchbruch für eine Auffassung (wohl auch bei Rechtshistorikern) gebracht, nach der die Fehde den Rechtsbegriff selbst beeinflußt. Ein übliches Element der Rechtsdefinition, das staatliche Gewaltmonopol und der daraus abgeleitete obrigkeitliche Durchsetzungszwang, ist also für mittelalterliches Recht nicht selbstverständlich. Dabei geht Verschriftlichung mit einer Tendenz zur zwangsweisen Durchsetzung einher, wenn wir an Kirchenrecht, Stadtrecht, Landfriedensrecht denken. Rechtsgewohnheit steht dagegen wohl eher in Korrelation zu fehlendem obrigkeitlichen Durchsetzungszwang. Wir werden die rechtsgewohnheitliehe Ordnung deshalb in einem Gesellschaftszusammenhang verstehen müssen, in dem es nicht nur kein staatliches Rechtssetzungsmonopol, sondern auch kein staatliches Monopol legitimer Gewaltanwendung und damit der Rechtsdurchsetzung gibt. Konsensbildung für jeden rechtlichen Einzelakt hat darum einen hohen funktionalen Stellenwert. 4. Die ältere rechtshistorische Forschung hat, wie wir heute im Rückblick erkennen können, dem Rechtsleben der germanischen Zeit und des Mittelalters in vielem das Muster des ausgebildeten Rechtsstaates zugrundegelegt, überhaupt das Muster institutioneller Staatlichkeit. Die auf der Landesgeschichte aufbauende Mediävistik hat in mehreren Schritten dieses Bild abgebaut, nicht nur im Hinweis auf den Charakter eines Personenverbandsstaates anstelle des erst später entstehenden institutionellen Flächenstaates, sondern in der zunehmend klareren Erfassung dieses personalen Charakters von Herrschaft anstelle von Staatlichkeit in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft. Wenn aber die personale Beziehung die Stelle von Institutionen einnimmt, so muß sich das über das Verständnis von Gericht und damit Konfliktentscheidung auch auf den Rechtsbegriff auswirken. Es ist zunächst noch zu diskutieren und zu erläutern, in welchem Sinne dieser andersartige Ansatz innerhalb der mittelalterlichen Rechtsgeschichte gemeint ist, auch natürlich, welche Grenzen und neuen Problemfelder dabei zu beachten sind. - Ein Ausgangspunkt bildet die Annahme, daß wir es bei den germanischen Gesellschaften nicht mit akephalen und vorrechtlichen Gesellschaften 71 zu tun haben. Das gilt wohl schon für die taciteische Zeit, erst recht seit den Reichsgründungen, die auf römischem Boden unter Integration der Reste antiker und der christlich-kirchlichen Kultur stattfmden. Ein Forum für rechtliche Entscheidung bildet seit alters das Ding - aber eben ohne klare Ausdifferenzierung nicht nur von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung, also Normbildung und Normanwendung, sondern auch von Recht, Politik, Religion, Moral. Nur langsam 70 Erster Ansatz zur Überwindung des ,,rechtsstaatlichen" Bildes: Franz Beyerle , Das Entwicklungsproblem im germanischen Rechtsgang I, 1915. 71 Dazu neuestens Uwe Wesei, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, Franfurt I M. 1985, der aber nicht auf das Frührnittelalter eingeht.

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werden die gennanischen Tennini für Recht, die jedes rechtsgeschichtliehe Lehrbuch anführt 72, auf die uns vertrautere lateinische Begriffstradition bezogen, wobei recht immer mehr in Entsprechung zu ius tritt 73 • Aber gerade die neueste Forschung hat gezeigt, daS in beiden Wörtern der Begriffsinhalt noch schwankend ist, mit rechte vor allem noch lange eine verfahrensmäßige, nicht eine nonnativinhaltliche Bedeutung hat 74 • Die Frage ist nun, ob und wieweit wir hinter dem verfahrensmäßigen recht überhaupt eine Rechtsgewohnheit als inhaltliche Entscheidungsgrundlage suchen dürfen. Im alten Rechtsgang 75 lief das Verfahren ja auf ein sog. Beweisurteil hinaus, welches die Entscheidung durch für unser Verständnis fonnale Mittel - gelungener Eid, meist mit Eidhelfern, Gottesurteil durch Einbeziehung äußerer Geschehensabläufe, Gottesurteil durch Zweikampf - suchte. Sicher war auch hier in der Rückbindung der Entscheidung an überweltliche Kräfte eine inhaltliche Gerechtigkeitsvorstellung vorhanden; was fehlt, ist also eine gesellschaftliche Nonnierung von Rechtsfolgen auf ein bestimmtes konfliktauslösendes Ereignis. Qoch war auch dieses Verfahren durch inhaltliche Rechtsvorstellungen gesteuert, die im Prozeß der Urteilsfindung hervortreten: Von der Art der Rechtsverletzungen, die auch in dem Vokabular der gennanischen Rechtsworte einen alten Bestand bilden, von der Feststellung der Nähe zum Beweis, der Art des Beweisaustrags. Der notwendige Hintergrund rechtsgewohnheitlicher, inhaltlicher Vorstellungen läßt sich klarer rekonstruieren, wenn wir auf anthropologischen und soziologischen Gesichtspunkten aufbauen: Der Mensch ist als Mängelwesen zu sehen, dem die Verhaltenssteuerung durch eine weitgehende Instinktausstattung fehlt; er ist gerade darauf angelegt, diesen Mangel der Natur durch Kultur auszugleichen, d. h. durch gesellschaftlich erzeugte und tradierte Verhaltensmuster 76 • Die modeme Systemtheorie hat dies unter etwas anderem Gesichtspunkt als notwendige Stabilisierung von Erwartungen und Erwartungserwartungen gefaSt, wobei nonnativ jene Erwartungen sind, die nicht unter abweichenden Erfahrungen lernend abgeändert werden 77 • Ethnologisch gesehen sind archaische Gesellschaf72 Vgl. die Übersicht bei Karl von Amira, Gennanisches Recht, 4. Aufl. bearb. von Karl August Eckhardt, Bd. 1 Rechtsdenkmäler, Berlin 1960, S. 415: recht, lage = law, ewa, ~, sitte, tuom, sazzunge, kur, einunge, folcriht etc. 73 Gut dargestellt bei Köbler, Das Recht (pn. 15). 74 Weitzel, Dinggenossenschaft (Fn. 13), bes. S. 41-50 und S. 1327 -1384 sowie S. 1466-1478. 75 Julius Wilhelm Planck, Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter, Bd. 1, Braunschweig 1879. Franz Beyerle, Das Entwicklungsproblem im gennanischen Rechtsgang, 1915. Wilhelm Ebel, Recht und Fonn, Tübingen 1975. 76 Das ist bekanntlich der Ansatz und die Grundlage von Arnold Gehlens philosophischer Anthropologie. Daraus muß man nicht eine betont konservative Institutionenlehre ableiten, wie Gehlen dies tat. Vgl. dazu die Einleitung der Studienausgabe von Karl-Siegbert Rehberg, in: Arnold Gehlen, Studienausgabe der Hauptwerke, Wiesbaden 1986 u. ö. mit den Nachweisen der entsprechenden Diskurse. 77 Niklas Luhmann, Rechtssoziologie Bd. 1 u. 2, 1972 u. ö. bes. I S. 40 ff.

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ten durch Tabuvorstellungen, Riten und Religion oft so streng geordnet, daß Überschreitungen dieser Lebensordnungen sehr selten sind, dann allerdings oft schärfste Reaktionen wie rituelle Tötung oder Ausstoßung aus der Gemeinschaft zur Folge haben. Hier treffen wir allerdings schon auf die Schwierigkeiten der Deutung: Gerade der Charakter der Todesstrafe und der Ausstoßung bei den älteren Gennanen hat heftige grundsätzliche Debatten ohne endgültige Klärungen hervorgerufen 78. Andererseits sind diese Ursprünge für die gesamte Strafrechtsgeschichte des Mittelalters von Bedeutung. Gerade hier böte sich also an, die Diskussion unter Einbeziehung des vollen ethnologischen und anthropologischen Wissens weiterzuführen. Die Rückgriffe auf eine ethnologische und anthropologische Sicht 79 ennöglichen es, die Frage nach dem Recht früher Gesellschaften als analytischen Zugang aufrecht zu erhalten, auch wenn wir davon ausgehen, daß es keine Ausdifferenzierung eines Rechtsbereichs im modemen Sinne gibt. Durch diese Fragestellung können aber die Ansätze eines solchen Prozesses der Ausdifferenzierung in den Blick genommen werden, womit dieser historische Prozeß erst in seiner vollen inneren Dynamik erfaßt werden kann. Die Anfänge dieses Prozesses werden dann jedoch nicht vorschnell auf den Rahmen des modemen Rechtsbegriffs gespannt, sondern können als Teil einer jeweiligen umfassenderen sozialen Ordnung verstanden werden. Für die Rekonstruktion einer solchen Ordnung für das europäische Mittelalter kann die Ethnologie Vergleichsmaterial und Deutungsmuster bereitstellen. Dadurch kann eine modernistische Fehldeutung alten Rechts vennieden werden. Eine solche Fehldeutung allerdings ist selber ein methodisches Grundproblem ethnologischer Forschung 80• Ein Ethnologe hat dieses methodische Problem eindrucksvoll als die Gefahr umschrieben, die Denkweisen und Ordnung einer anderen Kultur durch Beschreibung mittels einer "Grammatik in Spiegelschrift" in die inadäquaten Kategorien des modem-europäischen Denkens umzusetzen 81. Schon das Bewußtsein dieser Gefahr ist eine wichtige methodischkritische Instanz. Diese methodische Gefahr besteht gegenüber einer vergange78 Karl von Amira, Die germanischen Todesstrafen, 1922. Bernhard Reh/eldt, Todesstrafen und Bekehrungsgeschichte, 1942. Ekkehard Kaufmann, Zur Lehre von der Friedlosigkeit im germanischen Recht, in: Gedenkschrift f. H. Conrad, 1980, S. 329 ff. Hermann Nehlsen, Entstehung des öffentlichen Strafrechts bei den germanischen Stämmen, in: Gerichtslauben-Vortäge. Festkoll. H. Thieme, hg. v. K. Kroeschell, Sigmaringen 1983. 79 Den vollständigen Entwurf einer Rechtsanthropologie bietet jetzt Leopold Pospfsil, Anthropologie des Rechts. Recht und Gesellschaft in archaischen und modemen Kulturen, München 1982 (urspr. englisch, New Haven 1974). Auch hier ist typisch für den bisher fehlenden Diskurs, daß das europäische Mittelalter fast ausgeklammert ist (als ,,Relikt" traditionaler Kultur aber das in Tirol geltende Erbrecht, S. 403 ff.). 80 Vgl. etwa Hans Peter Duerr (Hg.), Authentizität und Betrug in der Ethnologie, Frankfurt / M. 1987. 81 P. E. Josselin de Jong, Gewohnheit, Recht und Gewohnheitsrecht, in: Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, hg. v. Wolfgang Fikentscher / H. Franke / O. Köhler, Freiburg 1980, S. 121 ff.

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nen, historischen Kultur in grundsätzlich gleicher Weise wie gegenüber der eines gegenwärtigen fremden Ethnos; die Grundarmahme der Kontinuität und damit weitgehenden Identität zu unserem Denken, mit der wir der europäischen Geschichte gegenübertreten, ist sicher gegenüber der traditionalen nichtschriftlichen Volkskultur des Mittelalters am wenigsten berechtigt. Ihr aber gehört die Sozialordnung der Rechtsgewohnheit an. Der Rückgriff auf ethnologische und anthropologische Ansätze bringt also folgende Vorteile. Er macht klar, daß es jenseits der uns verfügbaren Nachrichten und Texte ("Quellen") um die Rekonstruktion einer sozialen und geistigen Lebensordnung geht, die uns in ihren Voraussetzungen und Äußerungen fremd ist. Für ihre Deutung karm Vergleichsmaterial bereitgestellt werden, das schon auf den ersten Blick als "ähnlicher" anzusprechen ist denn Rechtsnormen unserer heutigen Kultur. (Über die Verschiedenheit oder Eigentümlichkeit des europäischen Mittelalters wird unter V. noch zu sprechen sein). Schließlich können als Erklärungshypothesen auch Deutungsmuster herangezogen werden, die auf eine Sozialform (etwa Stammesgesellschaft, dörfliche Gemeinschaft) oder Kulturstufe bezogen und geeignet sind, die hermeneutische Verfangenheit in bestehende Deutungs- und Wissenschaftstraditionen aufzubrechen. Eine solche ist etwa die oben behandelte Volksgeistlehre der Historischen Schule, die den Begriff des Germanischen so überfrachtet hat, daß er für eine analytische wissenschaftliche Arbeit kaum noch brauchbar erscheint 82• Das gleiche gilt für den Volksbegriff in bezug auf die mittelalterliche Nationsbildung 83 • Da aber Völker germanischer Sprache vielfach den traditional und oral überlieferten Teil der mittelalterlichen Rechtskultur getragen haben, ist es bedenklich, anstelle des Germanischen einfach eine "geschwärzte Stelle" zu setzen. Begriffe, die einen wissenschaftlichen Sinn aus der ethnosoziologischen Forschung haben, könnnen diese Stelle einnehmen. Die Heranziehung anthropologischer und ethnologischer Ergebnisse und Methoden setzt allerdings etwas Grundsätzliches voraus: Daß es nämlich über die einzelne historische Kultur hinausreichende Maßstäbe der Vergleichbarkeit gibt 84. Das karm man als anthropologische Universalien auffassen, die darm 82 83

Vgl. dazu den zit. Aufsatz von Kroeschell (Fn. 60).

J oachim Ehlers, Die deutsche Nation des Mittelalters als Gegenstand der Forschung,

in: Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter (Nationes Bd. 8), hg. v. J. Ehlers, Sigmaringen 1989, S. 11 ff., dort S. 38: ,,Für eine Untersuchung der Problematik deutscher Nationsbildung im Mittelalter hat sich der Volksbegriff deshalb als wenig förderlich erwiesen. Durch seine begriffsgeschichtliche Bedingtheit lenkt er die Fragestellung immer wieder auf Auseinandersetzungen mit postrevolutionären, romantischen und aus der besonderen deutschen Lage der verspäteten Nation erwachsene Konzeptionen" . 84 In differenzierter Analyse behandelt Reiner Schulze jetzt: Das Recht fremder Kulturen - Vom Nutzen der Rechtsethnologie für die Rechtsgeschichte, in: Hist. Jb. 110, 1990, S. 446-469; ausführlicher ders., Der Zugang zum Recht fremder Kulturen: Germanistik und Rechtsethnologie, in: Rechtsgeschichte und theoretische Dimension, Red. Claes Peterson, Lund 1990 (Rättshistoriska studier XV).

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allerdings ihre Ausprägung in den historischen Strukturen einer Kulturstufe mit den spezifischen Abwandlungen eines bestimmten Kulturkreises emden würden. Diese Annahme, die als pragmatische Grundlage eigentlich die Geschichtsschreibung von der Antike bis zur Gegenwart begleitet, ist sicher am entschiedensten von der Auffassung von der Individualität jeder historischen Erscheinung, wie sie der deutsche Historismus entwickelt hat, wissenschaftlich bestritten worden. Die Frage ist aber, ob dieser methodische Weg, seinerzeit sicher ein wissenschaftlicher Fortschritt, nicht heute eine Sackgasse darstellt. Die französische Forschung, vor allem mit dem Namen der Ecole des Annales verbunden, hat hier schon seit einigen Jahrzehnten Verbindungen der Geschichtswissenschaft zu empirischen und theoretischen Nachbarwissenschaften geschlagen, deren Fruchtbarkeit für die Geschichtswissenschaft inzwischen deutlich ist. Die Schlagworte Strukturgeschichte, longue duree, Mentalitätsgeschichte, Alltagsgeschichte bezeichnen methodische Ansätze, deren theoretischer Hintergrund nicht immer scharf definiert, deren pragmatische Brauchbarkeit zur Eröffnung neuer Sehweisen des historischen Prozesses aber bereits mehr als erwiesen ist. Der Impuls hierzu ging aber von einem intellektuellen Diskurs über die Fächergrenzen aus, in welchem das Gespräch mit Philosophie, Soziologie, Ethnologie und Anthropologie grundlegend war 85 • Auch Gefahren und Fehlschläge bei der Übernahme von Fragestellungen und Methoden anderer Wissenschaften, die es unbezweifelbar gibt, gehören also schon zum Erfahrungsschatz dieses Diskurses. Interessanterweise verbindet ein russischer Historiker, Aaron Gurjewitsch 86 , bei seinem Ansatz zur Erforschung der geistigen und sozialen Grundlagen der mittelalterlichen Kultur diese französischen Ansätze mit der zuvor angeführten deutschen ,,romantischen" Tradition, sich dem Mittelalter verstehend zu nähern, indem er etwa die Arbeiten von Fritz Kern immer wieder anführt. Gurjewitsch sieht wie dieser und wie die französische Mentalitätsforschung das spezifische Problem, die mittelalterliche Volkskultur als breite Tradition nichtlateinischoraler Tradition zu erschließen. Mit dieser Kulturschicht befinden wir uns aber, wie sogleich unter V. noch näher ausgeführt werden soll, im Bereich dessen, was wir Rechtsgewohnheit genannt haben. Wenn die deutsche Ausgabe eines Werkes von Gurjewitsch "Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen" betitelt ist, so ist damit auf die wissenschaftstheoretische Erkenntnis Bezug genommen, daß das Handeln des Menschen aus einem Weltbild zu verstehen ist 87, dieses 85 Statt vieler sei verwiesen auf Jacques LeGoff, Für ein anderes Mittelalter, Berlin 1984 (Pour un autre Moyen Age, Paris 1977), sowie ders., Faire l'histoire, 1974. In der Einleitung des erstzitierten Bändchens von Juliane Kümmel ein kurzer Überblick über die zugrunde liegenden interdisziplinären Einflüsse und Diskurse der französischen Wissenschaft. 86 Aaron J. Gurjewitsch. Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München 1982 (zuerst Moskau 1972). Ders., Mittelalterliche Volkskultur, München 1987 (zuerst Moskau 1981). 87 So schon Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1920, S. 252 u. ö. Ders., Wirtschaft und Gesellschaft s. v. Welt-.

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aber wiederum eine gesellschaftlich vollzogene Konstruktion der Wirklichkeit darstellt 88 -etwas, was die französische Geschichtsschreibung auch als "l'imaginaire" für die Mittelalterforschung fruchtbar gemacht hat 89. Ohne Berührungsängste nimmt Gurjewitsch dabei auch allgemein auf die deutsche klassische Tradition der Geschichtsschreibung Bezug (etwa Rankes "unmittelbar zu Gott") und zeigt, wie ihre Zugänge und Erkenntnisse wertvoll bleiben, wenn man sie aus einer zeitbedingten Einseitigkeit eines idealistisch-historistischen Weltbildes löst. In dem Kapitel ,,Auf dem Recht baut das Land auf ... " verwendet er neben kulturvergleichenden, neben gesellschaftlich-materialistischen auch die Ergebnisse der von uns oben beschriebenen deutschen Tradition. In dem zweiten Werk "Mittelalterliche Volkskultur" schließlich nähert er sich von Ansätzen her, für die etwa die Namen Manselli und Le Gojf stehen, genau jenem schwer erschließbaren, "stummen" Bereich der mittelalterlichen Kultur, den Fritz Kern für seine Studie zum mittelalterlichen Recht in Anspruch genommen hatte. Das, was ich an anderer Stelle die ausländische "Fremdwahrnehmung" der eigenen Wissenschaftstradition genannt habe, sollte auch hier zur Erweiterung der Diskussion, zum Weg aus einer Sackgasse (etwa der Diskussion um Fritz Kerns Studie) durch Veränderung des Problemhorizontes genutzt werden. Dazu dient hier das Werk von Gurjewitsch in seiner Wahrnehmung, Einordnung und Verbindung der klassischen deutschen und der neueren französischen Ansätze. Die methodischen Fragen des interdisziplinären Kontaktes zwischen den Geschichtswissenschaften und der Ethnologie sind also lösbar 90• Der Einbruch anthropologischer und ethnologischer Fragestellungen und Kategorien in die Mittelalterforschung - auch die deutsche - ist bereits im Gange 91. Das gleiche gilt für die Rechtswissenschaft, die sich unter dieser Fragestellung in breitem Maße der Rechtsgeschichte als unverzichtbaren Erkenntnismittels bedient 92 • Es soll hier darum nur noch exemplarisch gezeigt werden, wie und an welchen Stellen solche Ansätze und Kategorien für die Erforschung des Bereichs der Rechtsgewohnheit brauchbar sein können. 88 Peter Berger I Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt / M. 1969. 89 Georges Duby, Les trois ordres ou les imaginaires du f6odalisme, Paris 1978. 90 Vgl. Reiner Schulze (Fn. 84). Hinzuweisen ist vor allem auch auf die Arbeiten von Rüdiger Schott zur Begründung und Entwicklung einer Rechtsethnologie, dazu Schulze, Das Recht fremder Kulturen (Fn. 84), in Fn. 24. 91 Ein eigenständiger und gelungener Ansatz in dieser Richtung ohne ausdrückliche theoretische Reflexionen: Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt / M 1979. 92 Einen umfassenden, breit angelegten Versuch macht der Band: Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen (Veröff. d. Instituts für historische Anthropologie Bd. 2), hg. v. Wolfgang Fikentscher I Herbert Franke lOskar Köhler, Freiburg 1980, mit vielen Zugängen und Beiträgen zu unserem Thema, vor allem auch der Heranziehung von Rechtshistorikern. Wichtig ist die Darlegung van Caenegems, S. 609 ff. über Vielförmigkeit und Vielschichtigkeit mittelalterlichen Rechts. Doch bleiben die Ausführungen gerade zu dem Bereich, den wir hier Rechtsgewohnheit nennen und der anthropologischen Begründung für besonders bedürftig halten, unbefriedigend.

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Daß Rechtsgewohnheit wesensmäßig auf mündlicher Tradition beruht, wurde im Laufe der Überlegungen schon deutlich; die Veränderung durch Aufzeichnung bemerkte schon treffend Gratian als consuetudo in scriptis redacta 93 • Thre Erforschung ist also nur möglich, wenn wir uns von der engen Analyse der Quellen als Aussage einer literalen Kultur lösen und aus ihnen (woraus sonst?) die Rekonstruktion des Bereiches nichtliteraler Kultur versuchen. Die Frage, welcher soziale und mentale Bereich des Mittelalters sich eigentlich unmittelbar in den schriftlichen Quellen ausdrückte, wurde schon früher von Mediävisten aufgeworfen 94 • Die entschiedene Frage nach d~r grundlegenden Andersartigkeit aller Kulturen, die auf mündlicher Kommunikation beruhen, aber wurde erst im Zusammentreffen von Kommunikationssoziologie, Ethnologie und - als historische Wissenschaft - Altphilologie herausgearbeitet 95. Deren historisches Material, die homerische Dichtung, zeigt übrigens, daß die wissenschaftliche Frage nach den oralen Formen und Inhalten vor der Verschriftlichung eines Stoffes nicht ins Leere des quellenlosen Raumes greift, sondern sich aus der Verbindung mehrerer Wissenschaften Methoden der Erschließung entwickeln lassen. Oralität und Schriftlichkeit sind so zu einem Paradigma der modemen Forschung geworden, das der Mediävistik ein weit entschiedeneres und grundsätzlicheres Fragen nach der nichtliteralen Kultur des Mittelalters erlaubt 96 • Oralität erweist sich als kommunikatives Medium, das Voraussetzungen, Implikationen und Konsequenzen mit sich führt, ohne deren Berücksichtigung die Forschung nicht in diesem Bereich tiefer eindringen kann. - Forschungsgeschichtlich ist auch hier interessant, daß die Kulturkritik der Aufklärung (Rousseau, Herder) und die deutsche Romantik (Schlegel, Arnim, Brentano, Jacob und Wilhelm Grimm) die ersten Schritte in diese Richtung getan haben 97. Für die Rechtsgeschichte wird besonders 93 Dictum nach D 1,5, eine eigenwillige Abwandlung der überlieferten und referierten antiken Rechtslehre. 94 Z. B. Heinrich Fichtenau, Mensch und Schrift im Mittelalter, Wien 1946. Fritz Rörig, Mittelalter und Schriftlichkeit, in: Welt als Geschichte 13, 1953, S. 29-41. Herbert Grundmann, Litteratus - illitteratus, in: Arch. f. Kulturgesch. 40,1958, S. 1-65. 95 Die Geschichte und Ansätze der Forschungsrichtung sind zusammengefaßt dargestellt in: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, v. Jack Goody u. a., FrankfurtiM 1986, insbes. Heinz Schlaffer, Einleitung und Jack Goody, Funktion der Schrift in traditionalen Gesellschaften. Das europäische Mittelalter ist hier jedoch nicht behandelt. Neuestens: Jack Goody, Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, Frankfurt / M 1990, mit einem kurzen Kapitel zu Recht und Schrift im mittelalterlichen England. Das Fehlen eines dauernden Forschungsdiskurses mit der Mittelalterforschung wird hier als Mangel deutlich. 96 Die hier interessierenden Fragestellungen sind, nach dem erwähnten Aufsatz von Hanna Vollrath, in der deutschen Mediävistik in den letzten Jahren vor allem von Hagen Keller im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 231 der Universität Münster entwickelt worden. Vgl. bisher ders., in: Frühmittelalterl. Studien 22, 1988, S. 388-409 (mit Lit.) sowie in FS K.-E. Jeismann, hg. v. Paul Leidinger I D. Metzler, Münster 1990 und demnächst der Sammelband Hagen Keller I K. Grubmüller (Hg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Münstersche Mittelalter-Schriften. Im Druck. 97 Vgl. Heinz Schlaffer, Einleitung, S. 12/13, in: Jack Goody, Entstehung und Folgen der Schriftkultur (Fn. 95).

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wichtig sein die Stützung der oralen Überlieferung durch memotechnische sprachliche Formen, vor dem Hintergrund der im übrigen nicht kontrollierbar verfließenden Bewußtseinsinhalte und des darum ganz andersartigen Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Bewußtseinshorizont oraler Kulturen. Hier treffen sich die grundsätzlichen Erkenntnisse der Oralitätsforschung mit Ergebnissen quellenbezogener Rechtsgeschichte, daß wir in vielen Bereichen mittelalterlichen Rechts nicht vom Rückgriff auf eine als solche verstandene Normenordnung ausgehen dürfen. Wenn zudem mittelalterliches recht als jeweils im dinggenossenschaftlichen Verfahren herzustellender Konfliktaustrag erkannt ist, so fügen sich hier Elemente eines neuen Bildes zusammen. Daß dem Denken anderer Kulturen ein anderes Verständnis von Zeit und Zeitablauf zugrunde gelegt werden muß, ist nunmehr einerseits in grundsätzlicher Weise aus dem Paradigma Oralität-Schriftlichkeit deutlich. Quellenbezogen und durch verstehendes Eindringen sind Vorarbeiten dazu von der allgemeinen Mediävistik geleistet; im rechtshistorischen Bereich vor allem von Hermann Krause, der ausdrücklich "Dauer und Vergänglichkeit" thematisiert hat. Von der Begriffsgeschichte und der Sattelzeit um 1800 kommend, hat Reinhart Koselleck auf das Verhältnis von Wiederholungsstruktur, Regelhaftigkeit und Semantik hingewiesen 98. Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet - so lautet der Titel eines Werkes von Mediävisten, die sich der Erforschung von Gruppenbildungen im frühen und hohen Mittelalter widmen 99. Zeitlichkeit, Bewußtsein, Gruppenbildung, die Frage nach ihrer Kohärenz und der Entwicklung normativer Strukturen - das führt in diesem Forschungsfeld unter neuen Fragestellungen zu Themen, die zum klassischen Gebiet auch der rechtshistorischen Germanistik gehören: Adel und Sippe, Schwurbruderschaft, Gilde und Eidgenossenschaft. Das Einlassen der rechtsgeschichtlichen Forschung auf gruppensoziologische Fragestellungen und die Einbeziehung rechtsethnologischer Ergebnisse könnte hier die Diskussion der Fächer, die vor allem durch Otto Gerhard Oexles Zugehen auf die ältere und neuere Rechtsgeschichte schon im Gange ist 100, noch verbreitern und vertiefen ..

98 Reinhart Koselleck, Geschichte, Recht und Gerechtigkeit, in: Akten des 26. Dt. Rechtshistorikertages (wie FN 100) u. Ö. 99 Karl Schmid (Hg.), Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet, München 1985. Der Titel wird hier stellvertretend für die Forschungsrichtung genannt, die von Gerd TeIlenbach und Karl Schmid begründet worden ist und immer stärker von prosopographischen Fragestellungen zu der der Verbundenheit mittelalterlicher Gemeinschaften vorgedrungen ist. 100 Es seien hier nur zwei Titel genannt, in denen dies besonders deutlich wird: OUo Gerhard Oexle, Conjuratio und Gilde im frühen Mittelalter, in: B. Schwineköper (Hg.), Gilden und Zünfte, VuF 29, 1985, S. 157 ff., und vor allem der weitgespannte Uberblick: ders., Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft, Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, hg. v. Dieter Simon (Jus Commune Sdhft. 30), Frankfurt/M 1987, S 77107.

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Schon zuvor hatte in einem frühen Alleingang Reinhart Wenskus Fragestellungen und Ergebnisse der Ethnosoziologie herangezogen, um die frühen Stammesbildungen und ihre Veränderungen im germanischen Raum zu erfassen 101. Das relativ statische Bild, das die ältere Verfassungsgeschichte von den germanischen Stämmen oder "Völkern" entworfen hatte, ist dadurch zugunsten eines weit dynamischeren überwunden. Welche Bedeutung das für die Rechtsgeschichte hat, sind doch die überlieferten Rechte bis zum Hoch- und Spätmittelalter weitgehend stammesbezogen, kann hier nur angestoßen werden. Gerade entlang dieser Rechte, von den Leges bis zum Sachsenspiegel und darüber hinaus, zieht sich ja die Bruchlinie von Oralität zu Literalität, zu ,,Aufzeichnung des Rechts"I02, von usus zu consuetudo in scriptis redacta. Gehen wir von der gerade angesprochenen Bedeutung normativer Strukturen

für gesellschaftliche Verbände an die Wurzel der Rechtsentstehung, so ist ein

Schlüsselbegriff im vorrechtlichen Raum hier der Konflikt. Konflikt aber ist eine sozialwissenschaftlich zu erfassende Erscheinung. Er wird erst durch Überführung in ein Rechtsverfahren zu einem Rechtsfall, dessen Lösung dann durch Anwendung einer Rechtsregel oder Rechtsnorm erfolgen kann. Bei den dargelegten Zweifeln, ob und in welchem Sinne Rechtsnormen oder Rechtsregeln außer denen des Verfahrens - im Bereich der Rechtsgewohnheit bestehen, erscheint es methodisch zwingend, die Problematik vom Konflikt in seinem sozialwissenschaftlichen Sinne her anzugehen. Schon für die rechtssoziologische Betrachtung einer modernen Gesellschaft ist es zur Beurteilung der Funktionen von Recht und Justizsystem erforderlich, alternative Konfliktlösungsmöglichkeiten mit ins Auge zu fassen. Das muß aber zur zwingenden Voraussetzung der Forschung nach Recht werden, wenn dieses nicht als einigermaßen gefestigtes und geordnetes Regelwerk schriftlich festliegt, sondern wie bei der Rechtsgewohnheit Existenz, normative Qualität und innere Konsistenz infrage stehen. Die Formen des Konfliktaustrags durch Fehde oder Schiedsverfahren, das Urteilen nach minne oder recht ist nun in der Tat Gegenstand rechtshistorischer Forschung 103, allerdings mehr für das schon stärker verschriftlichte Rechtsleben des Spätmittelalters als für das von der Rechtsgewohnheit beherrschte Erste Mittelalter. 101 Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln 1977. Ders., Probleme der germanisch-deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte im Lichte der Ethnosoziologie, in: Histor. Forschungen f. Walter Schlesinger, hg. v. H. Beumann, Köln/Wien 1974, S. 19-46. 102 So der von ihm bewußt so formulierte Titel des Artikels Hermann Krauses in HRG I, 256 ff. 103 Karl S. Bader, Die Entwicklung und Verbreitung der ma. Schiedsidee, 1935. Arbiter arbitrator seu amicabilis compositor 1960, jetzt in: ders., Schriften zur Rechtsgeschichte, hg. v. Cl. Schott, Bd. 1, Sigmaringen 1984, S. 226 ff. u. 252 ff. Hermann Krause, Consilio et iudicio, in: FS J. Spörl1965. Hans Hattenhauer, Minne und recht, in: ZRG (GA) 80, 1963.

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Die Ethnologie hat sich, unter Auseinandersetzung mit dem Zugang vom Juristischen (und weitgehend seiner Ablehnung), in grundsätzlicher Weise auf den Zugang vom Konflikt her eingelassen 104. Dabei nun hat sie eine Fülle von Mustern der Konfliktlösung in frühen Gesellschaften erfassen können, die mangels oder neben einer Beurteilung durch eine oft dem Thing ähnliche Versammlung stehen. Dabei ist eine gewisse Spontanität und Offenheit typisch, mit der die betroffene gesellschaftliche Gruppe Konfliktlösungen akzeptiert und dann auch Druck auf ihre Akzeptanz durch die Betroffenen ausübt - also den funktionalen Ersatz für obrigkeitlichen Rechtszwang. Das spricht aber gegen die Existenz einer ,,Norm". Dabei ist allerdings die Tendenz zu einer Ritualisierung des Lösungsweges zu beobachten. Von Lächerlichmachen, Verspottung, "Selbstreinigung" der Verwandtschaft durch Tötung des Täters zu Gottesurteil, Schiedsgericht, spiegelbildlichem Vergeltungsschlag ist eine Fülle, aber auch begrenzte Typik an Formen vertreten. Es unterscheiden sich Gesellschaften, die einen kämpferisch-gewaltsamen und solche, die einen eher friedlichen Weg der Konfliktaustragung favorisieren. Sicher stehen dahinter also Wertvorstellungen der betreffenden Gruppen oder Gemeinschaften. Da diese eine gewisse Konsistenz und Kohärenz haben, hat die Ethnologie die Bezeichnung "Ordnung" - natürlich nicht im Sinne von Rechtsordnung - gewählt. Die Beziehung zu dem oben angesprochenen anthropologischen Ansatz, daß das Mängelwesen Mensch die fehlende Instinktausstattung durch kulturell erzeugte Verhaltenssteuerung ersetzen muß, ist deutlich. Die allgemeine Verhaltensforschung (Ethnologie) beginnt, hier auch Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tieren zu erkennen: Auch beim Menschen gibt es in diesem Bereich wohl genetisch festgelegte Grundmuster, und auch Tiere lernen und tradieren Verhaltensweisen. Das Begriffspaar Ordnung und Konflikt bietet hier also einen Ansatz. Er erlaubt, mittelalterliche Rechtsgewohnheit und überhaupt mittelalterliches Recht in den Rahmen der vergleichenden ethnologischen Erfahrung zu stellen. Er stellt aber vor allem die Möglichkeit dar, von konkreten, empirisch belegten Modellen her an die mittelalterliche Gesellschaft Fragen zu stellen, ohne von einer implizierten Vorstellung von Recht oder vorhandenen Normen auszugehen. Die Fragen des Rechtshistorikers werden aber jetzt auf diesen Bereich im Sinne einer aspektiven Betrachtung legitimerweise zielen dürfen \05.

104 Ein ausgezeichneter zusammenfassender Überblick: Simon Roberts, Ordnung und Konflikt. Eine Einführung in die Rechtsethnologie, Stuttgart 1981 (Engl. Order and Dispute. An Introduction to Legal Anthropologie, 1979). \05 Zu einer solchen aspektiven Betrachtung Dieter Grimm, Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Bd. 2, München 1976. Ouo Gerhard Oexle, Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft (Fn. 100), bes. S. 81; ders., Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in: HZ 238, 1984, S. 17ff.

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In der Diskussion zu diesem Vortrag wurde die Frage auf eine mögliche Umsetzung des theoretisch Erarbeiteten in konkrete Forschung gestellt. Sie soll wenigstens durch einige Bemerkungen beantwortet werden. Wir haben zwar nicht die Möglichkeiten der Ethnologie zu teilnehmender Beobachtung und empirischen Erhebungen für das Mittelalter. Wir haben aber Quellen sehr unterschiedlicher Sehweise. Da sind einmal Rechtsaufzeichnungen der consuetudo in scriptis redacta, von den Leges bis zu den Rechtsspiegeln und Weistümern, die vorausgehende mündliche Rechtsgewohnheit erkennen lassen. Wir haben Urkunden, die die rechtliche Behandlung eines Falles wiedergeben. Wir haben erzählende Quellen, die das gleiche in anderer Sicht tun, aber auch über Konflikte und ihre Behandlung außerhalb rechtlicher Verfahren Nachricht geben. Wir haben schließlich diese und andere Quellen, aus denen wir Weltbild und Wertvorstellungen jener Gesellschaften rekonstruieren können.

Dabei sind gerade in letzter Zeit bedeutsame Ergebnisse der Mediävistik erzielt worden, die den oben skizzierten Ansätzen der Mentalitäts- und Sozialgeschichte folgen 106. Ich stelle hier kurz einige neueste Untersuchungen von Gerd Althoff vor. Althoffuntersucht zunächst ,,Königsherrschaft und Konfliktbewältigung im 10. und 11. Jahrhundert" 107. Konflikte vor allem des Königs mit den Großen im Rahmen der "Königsherrschaft über dem Rangstreit der Großen" lOS zeigt sich in den unterschiedlichsten Formen, in ritualisierter Form von Veränderung der Gestik und des Gesichtsausdrucks bis zu offener bewaffneter Rebellion. Genau so breit, mit ähnlich festgelegter ritualisierter Bedeutung war das Spektrum der Mittel, die zur Beilegung des Konfliktes zur Verfügung standen. Respektierung und Wiederherstellung von Rang, Ehre, Würde, die dem König angemessene Milde, wenn Unterwerfung erfolgt, sind dabei maßgebende Kategorien. Maßnahmen der Konfliktbewältigung werden vorher offenbar genau abgesprochen, in ritualisierte, bedeutungsvolle Formen gebracht und dann innerhalb des Kreises von König und Hochadel in diesen Formen vollzogen. In einer zweiten Arbeit untersucht Althoff die Formen und Kreise, sozusagen die Foren, auf denen die Absprachen solcher Art erfolgten 109. Er nennt sie colloquium familiare - colloquium secretum - colloquium publicum; doch Beratungen dieser Art heißen auch placitum, conventum, consilium, curia; damit wird deutlich, daß das Rechtsforum, die dingförmliche Versammlung, miteingeschlossen 106 Schon 1979 untersucht Karl J. Leiser, Rule and Conflict in an Early Medieval Society. Ottonian Saxony, Bloomington / London. Sein Ansatz:"not to attempt to classify conflict anthropologically but rather to employ anthropological insights sparingly", S. 1. 107 Gerd Althoff, Königsherrschaft und Konfliktbewältigung im 10. und 11. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien, 23, 1989, S. 265-290. \08 So die treffende Überschrift eines Kapitels bei Hagen Keller, in: Propyläen Geschichte Deutschlands Bd. 2, Berlin 1986, S. 73 ff. 109 Gerd Althoff, Colloquium familiare - Colloquium secretum - Colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des frühen Mittelalters, in: Frühma. Studien 24, 1990, S. 145-167.

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ist. Gerade die sozialen Grundbedingungen dieser Gesellschaft, Achtung von Ansehen und Prestige, Bindungen verwandtschaftlicher, freundschaftlicher und genossenschaftlicher Art, ließen eine Konfliktbeilegung in vertraulicher Beratung und durch Einbeziehung eines Mediators als erfolgversprechender erscheinen. Das Ergebnis der Absprachen wurde dann aber als großangelegtes Ritual, so als ob die Entscheidung noch offen sei, in der Öffentlichkeit, im colloquium publicum vollzogen. - Diese Formen halten sich im Grunde so lange, bis an die Stelle der Großen eine Funktionselite, also vor allem die Juristen trat; zuvor sind sie weitgehend resistent gegen ein Eindringen von Schriftlichkeit llo. - In einer dritten Studie untersucht Althoff das Verhältnis von "Gewohnheit und Ermessen" 111 im politischen Handeln des hohen Mittelalters. Er kommt durch den Blick auf Herkommen und Gewohnheit weit in den Bereich von Rechtsverfahren, etwa der Kampfesklage, aber auch zu den Möglichkeiten des Königs, die Sache in anderer Weise zu erledigen. Er sieht hier ein dialektisches Verhältnis von Gewohnheit, Ermessen und politischem Kalkül als SpezifIkum für das Funktionieren des mittelalterlichen Personenverbandsstaates. Die Studien von Althoff fußen auf den Ansätzen der modemen Mediävistik, erwähnen die entsprechenden ethnologischen und soziologischen Ansätze, beziehen sie aber noch nicht voll ein. Die zur Deutung verwendeten Begriffe Beratung, Gewohnheit, Ermessen - wie die behandelten Sachprobleme müssen den Rechtshistoriker auf den Plan rufen; die Deutungsmöglichkeiten sind, wie Althoff selber betont, sicher noch bei weitem nicht ausgeschöpft. Der Rechtshistoriker wird hier aber überhaupt nur dann produktiv mitwirken können, wenn er sich methodisch auf einen sozialwissenschaftlichen, vor-rechtlichen Standpunkt stellt; seine Fragestellung, das Rechtliche als Aspekt benutzend (hin auf eine vielleicht "frührechtliche" Gesellschaft), wird er dann als Bereicherung und Präzisierung des analytischen Apparates einbringen können und ebenso die von der rechtsgeschichtlichen Wissenschaft erarbeiteten und verwalteten Kenntnisse. Ausgangspunkt der vorstehenden Überlegungen war die These, daß die für den Rechtshistoriker erwünschte Verbreiterung seines methodisch-theoretischen Zuganges über die Einbeziehung von Ansätzen der ethnologisch-soziologischanthropologischen Forschung laufen könnte. Die hier diskutierten Punkte könnte man folgendermaßen zusammenfassen und zuspitzen:

1. Die Rechtsgewohnheit ist aus dem Gegensatz von Oralität und Literalität zu erfassen. Es handelt sich bei mündlicher und schriftlicher Kulturtradition nicht um zwei verschiedene Quellengattungen, aus denen wir mit den gleichen Methoden historische Erkenntnisse ziehen können, sondern um eine tiefgreifende qualitative Verschiedenheit des zugrunde liegenden Bewußtseins. Das betrifft vor 110 111

S. 166 f. Gerd AlthoJ!, Gewohnheit und Ennessen. Rahmenbedingungen politischen Han-

delns im hohen Mittelalter, in: Geschichte und Geschichtsbewußtsein. FS Karl-Emst Jeismann, hg. v. Paul Leidinger / Dieter Metzler, Münster 1990, S. 155-169.

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allem das Verhältnis von Konstanz und Wandel, noch tiefergehend, das Zeitverständnis in den Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ein lineares Zeitverständnis ist nur in einer literalen Kultur möglich. Soll also das Verhältnis von Regel zum zu entscheidenden Fall in der Art eines hypothetischen Urteils, das in der Vergangenheit festgelegt ist und ein zukünftiges Ereignis betreffen soll, angelegt sein, so setzt dies die schriftliche Fixierung voraus. Eine orale Kultur pflegt mehr in Identitäten der Zeitschichten, also der Gegenwart des Vergangenen, zu denken und kann und will eine rationale Kontrolle von Konstanz und Wandel nicht vornehmen. Die Bildung von Normen im hier bezeichneten strengen Sinne ist einer oralen Kultur also gar nicht möglich, wohl aber von Regelhaftigkeit und vorgeprägter Wiederholungsstruktur einschließlich der Sanktion gegenüber abweichendem Verhalten 112. 2. Die Kategorien von Ordnung und Konflikt stehen bei einer oralen Kultur weitgehend anstelle der Kategorien Recht und Unrecht. Der Mensch ist zu verstehen als ein Mängelwesen, das im Gegensatz zum Tier nur ganz unzulänglich mit genetisch festgelegten Verhaltensmustern ausgestattet ist und diese darum kulturell entwickeln und durch Tradition weitergeben muß. Er ist aber zum Funktionieren des sozialen Lebens von der Gruppe über den Stamm bis hin zur Staatsbildung auf eine Ordnung angewiesen. In systemtheoretischen Kategorien ließe sich auch sprechen von der Stabilisierung von Erwartungshaltungen. Dies ist aber in frühen Kulturen nicht in Sitte, Moral und Recht klar ausdifferenziert. Die Kategorien Ordnung und Konflikt besagen, daß erst das Auftreten eines Konfliktes das Problem einer sonst allgemein als selbstverständlich aufgefaßten Ordnung akut macht und Lösungsmöglichkeiten fordert. Die Ordnung hält aber nicht notwendig eine Entscheidungsnorm bereit, eher ritualisierte Wege als Angebot. Für diese Lösungsmöglichkeiten gibt es in erster Linie traditionelle kollektive Verfahrensweisen. Innerhalb dieser Verfahren spielt dann die Art des Konfliktes und der Verletzungshandlung, die daran beteiligten Personen und ihre RangsteIlung sowie die Autorität der konfliktschlichtenden Personen und die ihnen zugeschriebenen traditionellen Funktionen eine maßgebende Rolle. Damit ist der Gegensatz zu dem, was wir oben Sachnorm genannt haben, sehr deutlich. 3. Die Institutionen und Verfahren der Konfliktbeilegung solcher Kulturen sind im Sinne der Herrschaftssoziologie Max Webers nicht bürokratisch, sondern charismatisch oder traditional organisiert, folgen somit auch nicht der von bürokratischen Herrschaftssystemen entwickelten Rationalität. Diese verlangt zu ihrer Durchsetzung nach dem staatlichen Gewaltmonopol parallel zum staatlichen Rechtsetzungsmonopol. Rechtsverfahren stehen dagegen innerhalb einer oral geprägten Kultur im Wechselspiel von Autorität und kollektiver Akzeptanz, weil hier das Mittel der Entscheidungsfindung und -legitimation ja der mündliche 112 Der Gesichtspunkt ist genauer ausgeführt in meinem Beitrag in dem in Fn. 96 zit., von Keller und Grubmüller herausgegebenen Münsteraner Sammelband (im Erscheinen).

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Diskurs ist, der auch einer schweigenden Zustimmung zugrunde liegt. Die Entscheidung, die einen Konflikt lösen soll, wird also in einem Prozeß in dem Spannungsfeld zwischen der Autorität von Herrschern, Adel oder Rechtshonoratioren und der Akzeptanz durch die Rechtsgenossenschaft "gefunden", ein Vorgang, der im Topos der Rechtsfindung durch Ding oder Schöffen die germanistische Wissenschaft schon seit alters (nämlich seit dem romantischen Ansatz vor allem Jakob Grimms) fasziniert hat. Soweit dieser Prozeß überhaupt nicht nur von "formellen" Verfahrens- und Beweisregeln geleitet wird, sondern auf inhaltliche ,,Normen" gestützt ist, ist dies die Ordnung in dem zuvor beschriebenen Sinne. Hier wird noch einmal deutlich, daß diese Ordnung nicht einen ausdifferenzierten Rechtsbereich darstellt, sondern die aus Überlieferung, Sitte, Moral und Religion bestehende, als richtig angesehene Lebensordnung. Sie muß aber nur im Falle des Konfliktes befragt werden, ist sonst nicht formuliert und damit nicht existent, es sei denn als gelebte Realität, möglicherweise befestigt durch rituelle oder sprachliche Wiederholungshandlungen. Diese aber sind als solche keine Norm. Vor allem die Bezeichnung des Rechtsbruchs, also Mord, Raub, Notzucht etc. stellt wohl eine Art inhaltliche ,,Norm" der Lebensordnung und damit der Rechtsgewohnheit dar, die zumindest über das einzuschlagende Verfahren und die Art der möglichen Sanktion entscheidet, und diese Bezeichnungen des Rechtsbruchs bilden darum auch eine von den stammesrechtlichen Leges bis zur Karolina durchgehende Schicht volkssprachlicher Rechtsworte. Man könnte in Anlehnung an Wilhelm Ebels "die Form ist die Norm" sagen 113: Das Wort ist hier die Norm oder noch genauer: Das Wort ist die Form ist die Norm, das übrige ist dinggenossenschaftliches Verfahren.

V. Mittelalterliche Rechtsgewohnheit in der Typik oraler Gesellschaften. Lateinisches Mittelalter und Volkskultur 114 Bei den vorausgehenden Überlegungen haben wir mittelalterliche Rechtsgewohnheit so angesehen, als ob sie sich in einer Kultur rein mündlicher Tradition vorfände. Das aber ist nur für die vormittelalterlichen, vorchristlichen "germanischen" Gesellschaften zutreffend, die nicht eigentlich Gegenstand unserer Überlegungen sind. Mit der Christianisierung der germanischen Stämme und der Reichsgründung auf römischem Boden - oder die Einbeziehung in die fränkische Reichsgründung - ist die Kulturentwicklung der germanisch-romanischen Völker in ein Spannungsverhältnis zwischen der Tradition antiker Hochkultur und 113

Ebel (Fn. 17).

Die Anlehnung an den Titel von Hanna Vollrath in: HZ 1981 soll die volle Bezugnahme auf ihren gedankenreichen Aufsatz bedeuten, der das Problem formuliert hat. Für die Linie der Latinität kann immer noch auf Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bem 1948 u. ö. verwiesen werden. 114

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der aus archaischen Denkformen aufsteigenden eigenständigen Kultur dieser Völker gestellt, das bis in die Höhe des Mittelalters aus kulturellen Schichtungen und Verwerfungen, aus einem Neben- und Ineinander von Elementen sehr unterschiedlicher Herkunft besteht 115. Hier gibt es keine ungebrochene "germanische" Tradition mehr, weil das dahinterstehende Weltbild mit der Bekehrung zur monotheistischen Buchreligion keine Gültigkeit mehr besitzen kann 116. Das neue Wissen und religiöse Weltbild aber wird vom Klerus verwaltet, also einer Schicht von Schriftkundigen (literati), die mit dem Latein über die Begrifflichkeit und damit über das Denken der antiken Hochkultur einschließlich des jüdisch-christlichen Monotheismus verfügt (wenn auch zunächst in reduzierter Form, die erst in der Reihe der ,,Renaissancen" und religiösen ,,Reformationen" eine größere Fülle zurückholt). Jede Erfahrung auf dem Wege der frühmittelalterlichen Gesellschaften zur Hochkultur kann damit schon eine gedankliche und begriffliche Vorprägung vorfinden, die selbst eine Entwicklungshilfe zu dieser Erfahrung und gleichzeitig eine Gestaltung dieser Erfahrung durch die vorgefundenen Begriffe und Gedanken bedeutet. Das gilt ganz besonders für den Bereich des Rechts. In der Praxis schriftlicher Beurkundung, in Texten römischen Rechts und in der Schrifttradition und Anwendung altkirchlichen Rechts war die Rechtserfahrung der antiken Hochkultur sprachlich präsent. In sie wurde die Rechtsgewohnheit durch Rechtsaufzeichnung in lateinischer Sprache transformiert. Zu ihrer begrifflich-abstrakten Erfassung werden germanische Wörter den lateinischen gleichgesetzt oder auch Übersetzungslehnwörter wie giwoneheit =consuetudo geschaffen. Wir fmden also volkssprachlich vollzogene Rechtsgewohnheit nur in Verschriftlichungen, die eine Projektion in eine Sprache anderer und abstrakterer Begrifflichkeit voraussetzt. Nur eine teilweise Annäherung geschieht durch die "Barbarisierung" und "Vulgarisierung" des mittelalterlichen Latein. Wenn der heutige Wissenschaftler, auf einem langen Weg der Tradition Erbe der mittelalterlichen und antiken Hochkultur, doch mit ihrem Denken keineswegs identisch, die fraglichen Rechtsaufzeichnungen liest, so sieht er die ursprünglichen Bewußtseinsinhalte und Vorstellungen in einer doppelten Brechung, nicht nur in einer einfachen wie allgemein in der ethnologischen Forschung. Wir haben in der schriftlichen Quelle eine Verzerrung der Inhalte der Rechtsgewohnheit durch das Bewußtsein schriftgelehrter Kleriker und die von ihnen verwandte Hochsprache, und wir müssen auch diese Verschriftlichung als einen uns fremden Spiegel verstehen. Nun ist aber gerade im Recht die Situation besonders kompliziert. Der Klerus ist im Besitz der Rechtsaufzeichnungssprache und der in ihr enthaltenen hochkul115 Die Formulierung nimmt Bezug auf meine zitierte Rezension in: ZRG (GA) 90, 1973, S. 270. 116 Die Bedeutung von Literalität wird in den drei monotheistischen Religionen durch die Begründung auf ein Heiliges Buch in eine besondere Dimension gehoben. Vgl. lack Goody, Funktionen der Schrift in traditionalen Gesellschaften, in: ders., Entstehung und Folgen der Schriftkultur (Fn. 95).

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turellen Begrifflichkeit. Er stellt aber nur die Führungsschicht in bezug auf Kultus und Bildung, nicht (oder jedenfalls nicht als Klerus) die die Rechtstradition tragende und Rechtsentscheidungen fällende Schicht; dies ist der Klerus nur in dem Sektor der geistlichen Gerichtsbarkeit, der freilich nicht nur die Kirche selbst betrifft, sondern auch in die Gesellschaft und das Rechtsbewußtsein der Gesellschaft wirkt. Im übrigen haben die Kleriker vor allem eine rechtsprotokollierende Funktion (Philipp Heck). Die tragende Schicht in dem Bereich dinggenossenschaftlichen Rechts ist vielmehr die adlig-bäuerliche Laiengesellschaft, die im König ihre Spitze hat. Sie formt und tradiert, im Ersten Mittelalter noch weitgehend ungestört durch Ansprüche der Schriftkultur, in dinggenossenschaftlichen Rechtskreisen von den bäuerlichen Hintersassen über das Grafengericht der Freien bis zum Kreis der Großen um den König die Rechtsgewohnheit. Teile des Hochklerus sind hier integriert, vor allem im Kreis um den König. Aber sie schlüpfen hier in eine ähnliche Rolle wie die ihrer hochadligen Brüder· und Vettern, nämlich die von Großen des Reichs und Vasallen der Krone. Sicher ist es für die Beratungen und Entscheidungen der Großen nicht ohne Bedeutung, daß in ihrem Kreise Kleriker mitwirken. Aber gerade im Ersten Mittelalter, der Zeit der dominierenden Rechtsgewohnheit, ist die geistliche Bildung der kirchlichen Großen gering, die Kirche als Ganzes als Reichskirehe und als Eigenkirehen der Herrschaft von König und Adel eingegliedert. Das ändert sich erst mit der ,,Revolution" durch die kirchliche Reformbewegung, durch das Programm Gregors VII und die Neuordnung nach dem Investiturstreit. Aber auch danach dominiert kirchliches nicht weltliches Recht, sondern es herrscht jene abendländische Abgrenzung von spiritualia und temporalia, die der Sachsenspiegel etwa sorgsam schon im Eingang des Landrechts auch in bezug auf die Gerichtsverfassung darstellt. Die zwei Kulturen der mittelalterlichen Gesellschaft, die lateinisch-klerikale und die volkssprachliche, bis ins Spätmittelalter fast rein orale Laienkultur, bilden im Bereich des Rechts besonders schwierige Mischlagen und Interferenzen. Zwar lassen sich die zwei Sprachschichten und die sie tragenden sozialen Gruppen unterscheiden. Sie leben einerseits, von der Pfarrgemeinde bis zum Königshof, in den mittelalterlichen Lebens- und Rechtskreisen zusammen, andererseits sind die durch die literale Sozialisation geprägten Bewußtseinsinhalte - also sicher nicht die gesamte Vorstellungswelt - verschiedener als die zwischen "Gebildeten" und "Ungebildeten", Akademikern und Nichtakademikern in der durch allgemeine Literalität geprägten bürgerlichen Gesellschaft. Gerade der mittelalterliche Adel versagt sich lange und selbstbewußt der Umprägung seiner Lebenskultur durch Verschriftlichung. Das betrifft auch das Recht, dessen rechtsgewohnheitliche Erzeugung, Weitergabe und Durchsetzung in den verschiedenen herrschaftlich-genossenschaftlichen Kreisen, teilweise in Zusammenwirken mit der bäuerlichen Bevölkerung, ja gerade eine Hauptaufgabe dieses Adels darstellt. Schriftlichkeit bedeutet hier lediglich Protokollierung in lateinischer Sprache, also nicht in dem eigentlichen Medium der Rechtstradition. Das im 12. Jahrundert

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aufsteigende Bürgertum ist es, welches zunehmend zur Verschriftlichung des Rechtslebens drängt und dabei auch bald zur Volkssprache übergeht. Die lateinischen Texte nun, die uns als Quellen für die Erschließung von Rechtsgewohnheit zur Verfügung stehen, mischen lateinische Literatur mit Gedanken- und Sachinhalten der oralen Rechtskultur in sehr unterschiedlicher und komplexer Weise. Eine sehr unmittelbare und immer wieder zu beachtende Quelle für die oral tradierten Rechtsvorstellungen sind die germanisch-volkssprachlichen Rechtsworte in lateinischen Texten, aufgezeichnet offenbar als unübersetzbare Kennworte und Ausschnitte einer Thing- oder Dingsprache, die Kennzeichen einer Ausdifferenzierung des Rechts sind. Lateinische Texte können unmittelbare "Übersetzungen zu Protokoll" von weistumsartig gefundenen Rechtsaussagen sein. Es können aber auch Umsetzungen in die Vorstellungswelt der lateinischen Tradition stattfinden, schließlich gibt es Reflexionen aus der lateinischen Denktradition über das volkssprachliche Recht. Gerade die mittelalterlichen Königsdiplome, oft Zeugnis eines Rechtsaktes im Kreis der geistlichen und weltlichen Großen, festgehalten von der in einer langen lateinisch-literalen Tradition stehenden Königskanzlei, bieten in ihren verschiedenen, formal und inhaltlich unterschiedenen Teilen von Arenga über Dispositio bis Corroboratio eine sehr unterschiedliche Mischung. Wir haben also Texte, die sich auf Rechtsvorstellungen und Rechtsgewohnheit beziehen, die aber in sehr verschiedenen Kontexten, Lebenszusammenhängen, Intentionen und Interessenlagen stehen. Ganz grob könnte man typisieren: 1. Eine durchgehende lateinisch-christliche Tradition der philosophisch-rhetorischen und theologischen Reflexion über Recht, die sich mehr an den überlieferten Begriffen, Texten und Topoi orientiert als an der jeweiligen Rechtswirklichkeit. 2. Normative Texte aus der lateinischen Antike, die ganz konkret Rechtsbegriffe und Rechtsverständnis jener Hochkultur enthalten, etwa in den Texten des Kirchenrechts und des römischen Rechtes, zum Teil auch in Urkunden, Formularen. 3. Aufzeichnungen in lateinischer Sprache von Rechtshandlungen, die volkssprachlich von nicht literal gebildeten Laien vollzogen werden, also von Rechtsgewohnheit, zum Teil in der Form normativer Sätze. Die rechtsaufzeichnenden Kleriker sind gehalten, die realen und volkssprachlichen Inhalte des Rechtsaktes möglichst gut in lateinische Sprache zu fassen, wobei das von Philipp Heck bezeichnete Übersetzungproblem in vielfältiger Weise auftritt. Rechtsaufzeichnungen dieser Art sind etwa die Leges oder Volksrechte, die Kapitularien, die dispositiven Teile der Königsdiplome, Weistümer und Konstitutionen. Beim Königsdiplom verbinden sich aber die Schicht der unmittelbaren Wiedergabe einer Rechtshandlung mit Teilen eines traditionellen lateinischen Urkundenformulars, außerdem in der Arenga mit einer philosophisch-theologisch-rhetorischen Reflexion über Recht in der lateinisch-christlichen Tradition. Ein unmittelbarer Durchgriff auf die volkssprachliche Rechtssprache, die wir als "Dingsprache"

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bezeichnet haben, sind die schon erwähnten, von den Volksrechten bis zu den deutschsprachig abgefaßten Urkunden durchweg auftauchenden volkssprachlichen Fachworte oder Kennworte, die in lateinische Texte eingesprengt sind, wie etwa die Malbergischen Glossen. 4. Mit dem gelehrten Recht der Kanonistik und Legistik entwickelt sich schließlich eine eigene Lehre vom Gewohnheitsrecht, die an römischrechtliche und kirchenrechtliche Topoi und Theorien der Antike anknüpft, aber die Situation des Mittelalters verarbeiten will. Sie entspringt also den Köpfen und der Bewußtseinslage studierter Juristen und hat darum normativen Charakter. Inbesondere die Lehre der Kanonistik ist dabei aus einer ganz speziellen Interessensituation hervorgegangen. Die kirchliche Reformbewegung - von Cluny über Gregor VII, die Schriften des Investiturstreites und schließlich die Begründung der klassischen Kanonistik - will die Kirche aus der Verfangenheit in die mittelalterliche Herrschaftswelt von Königtum und Adel lösen. Die Kirchenreformbewegung kann darum die Welt der Rechtsgewohnheit in weiten Bereichen, die die personelle Unabhängigkeit, Amtsstruktur und spirituelle Gewalt der Kirche betrifft, nur nach einer normativen Prüfung anerkennen. Die Bewegung beruft sich darum darauf, daß Christus die Wahrheit, nicht die Gewohnheit, veritas non consuetudo sei 117. Aus dieser Bewegung geht die normative Prüfung der Gewohnheit auf Güte, Rationalität und zeitlich überprüfbare Dauer hervor 118. Diese Aussagen sind also keineswegs beschreibend-empirisch zu verstehen, sondern normativinteressegeleitet. Sie sind das Produkt einer Schicht von klerikalen Intellektuellen, die die vorhandene Welt des archaischen, ersten Mittelalters nach festen normativen Vorstellungen des christlichen Weltbildes und der kirchlichen Ethik und Politik verwandeln wollen. Der große Vorgang der Rationalisierung und Legalisierung des europäischen Abendlandes, das heißt aber auch die Überwältigung oder ,,Kolonialisierung" der ursprünglichen, in sich selbst ruhenden Lebenswelt (Habermas)1I9 ist damit um einen entscheidenden Schritt vorwfu:ts getrieben.

117 Der an Joh. 14,6 anschließende Topos fmdet sich in der Antike bei Tertullian. Cyprian. auf der Synode von Kathago i. J. 256 u. Ö. Er wird von Gregor VII in der als welthistorischer Umsturz verstandenen Situation wiederaufgenommen. Vgl. dazu vor allem Gerhard Ladner, Erneuerung, in: Reallexikon für Antike u. Christentum, Bd. 6, Sp. 265 ff, sowie ders., Two Gregorian Letters, in: Studi gregoriani 5, 1956, S. 281 ff. Die Diskussion wird aufgenommen im Decretum Gratiani I, in Dist. VII., bes. c. 4 ff., c. 5, dort unter Bezug auf Gregor der Topos Christus veritas non consuetudo. c. 7: consuetudo sine veritate vetustas erroris est. 118 Eine kurze Übersicht über das Nebeneinander kirchlicher Lehre und volksrechtlicher Gewohnheiten gibt Winfried Trusen. Gutes altes Recht und consuetudo (Fn. 59). 119 Jürgen Habermas. Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt/M. 1981, S. 489 ff. (Marx und die These der inneren Kolonialisierung), bes. S. 522 ff. führt den sehr anschaulichen Begriff ein, um den Eingriff in die symbolische Reproduktion der Lebenswelt durch Subsysteme wie Wirtschaft und Staat zu bezeichnen. Für ihn tritt der Vorgang erst mit einem gewissen Stadium der Ausdifferenzierung ein. Sie erfolgt in Form von Verrechtlichungsprozessen, deren erster zur Zeit des Absolutismus zum

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Insoweit wird hier Rechtsgewohnheit zum Gewohnheitsrecht, das nach normativen Kriterien in eine schriftlich festgelegte Rechtsordnung eingespeist wird. Das gilt wenigstens für die Theorie.

VI. Wirkungsgeschichte und bleibende Fragestellung Die umfassenden verschriftlichten Rechtsordnungen, wie sie das Justinianische Corpus und das aus der Gratianschen Rechtssammlung erwachsende Corpus iuris canonici darstellen, haben im okzidentalen Europa seit dem 12. Jahrhundert eine neue Form der Weitergabe von Recht, von deren Organisation und des von ihr geprägten Rechtskundigen bewirkt: Das "gelehrte" Recht, die universitas der Rechtsbeflissenen als Schule, Studium, Korporation und Institution, der studierte Jurist als professionalisierter Berufsstand 120. In der Sicht dieser Profession wird das Recht, welches im Volke und im Ding praktiziert wird, etwas fremdartiges, weil es nicht Bestandteil des "gelehrten", professionellen, aus dem festgelegten Schriftcorpus mit den schulmäßigen Gedankenoperationen zu ermittelnden Rechtswissens ist. Dieses andersartige Recht existiert aber weiter, teils als orale Rechtsgewohnheit, teils als Rechtsaufzeichnung verschriftlicht. Es kann wohl in der Lehre, im Studium, nicht aber in der späteren Praxis vernachlässigt werden. Denn die Lebenswelt der ständischen Gesellschaft läßt sich vom Schriftgelehrten nicht überwältigen; sie benutzt ihn, gibt ihm ihre Ordnung aber nicht anheim. Die Wissenschaft entwirft darum theoretische Muster, nach denen der Jurist diesen Rechtsbereich erfassen, mit der erlernten Methode zur Anwendung zubereiten und so benützen kann. Dadurch wird der im Studium ausgebildete Jurist befähigt, seine durch hohe Rationalität gekennzeichnete Methode anzuwenden und damit seine professionell vorgeprägte Funktion auszuüben in Bereichen, in denen das andersartige und auf anderen Regeln und Grundlagen beruhende Recht galt. Die ,,Renaissance" und ,,Rezeption" des römisch-gelehrten Rechts konnte so ihren Gang nehmen, d. h. die fortschreitende Verdrängung des andersartigen Rechts und Rechtsdenkens - allerdings sehr unterschiedlich in den verschiedebürgerlichen Staat führt. - Das folgende Kapitel wird das für unser Thema bestätigen. Das Merkmal des europäischen Rationalisierungsprozesses, wie er von Max Weber zuerst grundSätzlich thematisiert worden ist, besteht aber gerade darin, daß mit der Wende des Ersten Mittelalters im 11. / 12. Jahrhundert in der Trennung von geistlicher und weltlicher Herrschaft, in scholastischer Theorie und Jurisprudenz Elemente des Rationalisierungsprozesses in der europäischen Kultur enthalten sind, die ihn vorantreiben, während sie in anderen traditionalen Gesellschaften fehlen. 120 Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, 4. Aufl., München 1966. Wieakker, Privatrechtsgeschichte (Fn. 10), S. 45 ff. Norbert Horn, Soziale Stellung u. Funktion der Berufsjuristen in der Frühzeit dereurop. Rechtswissenschaft, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. IV. Fried (Fn. 10). Otto Gerhard Oexle, Alteuropäische Voraussetzungen des Bildungsbürgertums - Universitäten, Gelehrte und Studierte, in: Werner Conze / J. Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil I, Stuttgart 1985.

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nen Rechtslandschaften Europas und in sehr gestreckten Prozessen, die sich überall auf dem Kontinent bis zur Phase der KodifIkation hinziehen. In Frankreich erweist sich das in der Unterscheidung zwischen pays de droit ecrit und pays de coutume 121, die erst im Code civil zusammengeführt werden, in Deutschland ist der Gegensatz von Romanisten und Gennanisten im 19. Jahrhundert und ihre unterschiedliche Stellungnahme zum Problem des Gewohnheitsrechts ein letzter Ausdruck dieses Spannungsverhältnisses. Die erwähnten theoretischen Muster zur Erfassung mündlicher und verschriftlichter Rechtsgewohnheit sind die in TeilllI kurz skizzierten Lehren der Rechtswissenschaft vom Gewohnheitsrecht 122. Der professionalisierte Juristenstand konnte die Anerkennung seines Rechtswissens als alleinige und primäre Rechtsmaterie nicht erreichen - auch die Kirche erkannte ja nur die päpstliche Gesetzgebung als solche an - vielmehr blieb das gelehrte Recht des lus Commune subsidiäre Rechtsquelle 123. Es ging jedoch von ihm ein Druck zur weiteren Verschriftlichung der Rechtsgewohnheit aus, der von den weltlichen Herrschaftsgewalten vom König bis zum Grundherrn und zum städtischen Rat gefördert und übernommen wurde, weil er die Rationalität gesellschaftlicher und ökonomischer Lebensabläufe erhöhte. Dieser Druck fonnulierte sich etwa in der italienischen Statutentheorie ebenso wie in der Rechtsanwendungstheorie der deutschen Rezeption. Sie erkannten den Vorrang "partikularen" (d. h. meist gewohnheitlich begründeten) Rechts an, begünstigten jedoch durch die Regeln seiner Beweisbarkeit verschriftlichte Fassungen. Dadurch wurde der Bereich von Rechtsgewohnheit, d. h. der in Sitte, Brauchtum, religöser Tradition nonnierten und nonnierenden Lebensordnung weiter eingeengt und domestiziert, indem einerseits gelehrtes Recht breiteren Raum in der Rechtsanwendung einnahm, indem das partikulare Recht andererseits verschriftlicht und somit von der Lebensordnung abgehoben und den rationalen Methoden der juristischen Anwendungslehren unterworfen wurde. Allerdings blieben nicht nur ,,redliche ehrbare und leidliche Ordnungen, Vgl. Bühler (Fn. 36) s. v. Also der Gegenstand der ArbeIten von Puchta bis Brie. Der kirchenrechtliche Standpunkt beider Konfessionen ist neuestens dargestellt von Peter Landau, Die Theorie des Gewohnheitsrechts im katholischen und evangelischen Kirchenrecht des 19. und 20. Jhdts., in: ZRG (kan. Abt) 108, 1991, S. 156-196, bes. S. 168 ff. In der Stellung der Kirchenrechtslehre zeigt sich eine inhaltliche Kontinuität zur mittelalterlichen Kanonistik und eine Abwehr der auf die Volksgeistlehre gegründeten Auffassung der Historischen Schule. 123 Die Subsidiarität des gemeinen Rechts wurde als gelehrte Doktrin angesichts der Rechtsordnung der italienischen Stadtkommunen in der sog. Statutentheorie formuliert, vgl. Reiner Schulze, Statutenrecht in HRG 4, Sp. 1922 ff. m. Lit. In Deutschland wird diese Theorie auf die etwas andere Lage angewandt und u. a. in der Rechtsparömie "Willkür bricht Landrecht, Landrecht bricht gemeines Recht" ausgedrückt. - Im Kirchenrecht hatten im Decretum Gratians die Rechtsquellen nur ihre jeweils eigene Geltungskraft; in bezug auf Gewohnheitsrecht wurde häufig die Zustimmung des Papstes (ev. tacitus consensus) für erforderlich gehalten, vgl. zuletztLandau (Fn. 122), S. 160 ff.; Theodor Bühler, Rechtsquellentypen (Rechtsquellenlehre Bd. 2), Zürich 1980. 121

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Statuten", sondern auch "Gewohnheiten" als primäres partikulares Recht in Geltung l24 • Wenn auch die Durchsetzung mündlicher Gewohnheit vor dem Reichskammergericht wegen der Beweisregeln wenig Chancen gehabt haben mag - hier war also Rechtsgewohnheit wirklich zu Gewohnheitsrecht im oben erläuterten Sinne geworden - so sah es doch in den unteren Rechtskreisen anders aus. In den ländlichen Rechtskreisen galt weiter die dinggenossenschaftliche Gerichtsverfassung mit dem Zusammenwirken von Herrschaft und Genossenschaft zur Rechtsfeststellung l25 • Die alten und verbreiteten Ausdrücke "Recht sagen, weisen, offnen" weisen auf eine Ordnung hin, in der die Rechtsquelle Gewohnheit und gemeinsame Rechtsüberzeugung ist; entsprechend sind die Worte Weistum, Offnung u. ä. für Verschriftlichungen ländlichen Rechts üblich 126. Bekanntlich ist die Weistumsforschung zu sehr differenzierten und auch im einzelnen wie im Grundsätzlichen umstrittenen Meinungen zum Charakter und Inhalt dieser Rechtsaufzeichnungen gekommen 127. Ob man aber nun bäuerlicher Gewohnheit oder herrschaftlichem Einfluß, Herkommen oder vorgegebenen Fragekatalogen, dem Weistumscharakter oder der Einung die größere Bedeutung zumißt: Das Zustandekommen in dinggenossenschaftlicher Versammlung verleiht sowohl mündlicher Weisung wie schriftlicher Aufzeichnung den Ursprung aus einem Lebenszusammenhang; und innerhalb dessen muß dann auch die Rechtsanwendung wieder eingelöst werden. Erst wenn und soweit in der Spätzeit das verschriftlichte Recht auf obrigkeitlicher Satzung beruht und die Rechtsanwendung Sache des Amtmannes ist, wird dieser Zusammenhang gelockert, meist aber nicht völlig gelöst. Die Einbeziehung des Oralitätsaspekts läßt ein Problem, das in der Weitumsforschung lange zentral und vieldiskutiert war, als obsolet erscheinen: Das des Alters der Rechtsinhalte und Regeln 128. Hier liegt im Ansatz Jacob Grimms und der Historischen Schule eine Tendenz, die mittelalterlichen Verhältnisse zu archaisieren und als statisch erscheinen zu lassen. Gerade wenn man den ständigen Fluß und Wandel oraler Tradition berücksichtigt, "gutes altes Recht" als Weltbild oder Mentalität einer oralen Kultur (Kern, Gurjewitsch) und nicht als Tatsache Reichs-Kammergerichts-Ordnung von 1495, § 3. Weitzel, Dinggenossenschaft (Fn. 13), ders., in: La Couturne, sowie der Beitrag von Heiner Lück in diesem Bande. 126 Vgl. etwa Walter Müller, Die Offnungen der Fürstabtei St. Gallen. Ein Beitrag zur Weistumsforschung, St. Gallen 1964. Theodor Bühler (Fn. 123), S. 31 f. u. ö. Zu "Urteil fmden" und dem Verhältnis dieser Vorstellung zum Weistum: Kroeschell, ,,Rechtsfmdung" (Fn. 22). 127 Müller (Fn. 126), S. 169 ff., Bühler (Fn. 123) s. v. Weistum; Karl Heinz Burmeister, Die Vorarlberger Landsbräuche und ihr Standort in der Weistumsforschung, Zürich 1970. Dieter Werkmüller, Über Aufkommen und Verbreitung der Weistümer, Berlin 1972 sowie ders., in: La Couturne. Peter Blickle (Hg.), Deutsche ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistumsforschung, Stuttgart 1977. 128 Vgl. etwa Müller (Fn. 126), S. 169 f. m. Lit. 124

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nimmt, also Rechtsgewohnheit als "das Leben selbst" (Savigny), dann kann methodisch keine Vermutung für ein hohes Alter sprechen: Rechtsgewohnheit bleibt gleich oder ändert sich unbewußt mit den gesamten - sozialen, ökonomischen, politischen, mentalen - Verhältnissen, und die Aufzeichnung selbst ist allemal Antwort auf eine Veränderung und die Überleitung der Tradition in ein neues Medium. Wichtig bleibt dann allerdings die Feststellung, ob, wenn das Recht aufgezeichnet ist, Schrifttext oder fortdauernde Gewohnheit die primäre Rechtsquelle darstellt: Wenn die alte oder die sich ändernde Gewohnheit maßgebend bleiben (und damit deren dinggenossenschaftliche Rechtsfeststellung), so erweist sich die Verschriftlichung als bloße Fixierung und Gedächtnishilfe. Ist dagegen der Schrifttext nunmehr maßgebend, so hat eine volle Transformation in das neue Medium stattgefunden. Es bildet dann allerdings den Ansatzpunkt neuer Gewohnheitsrechtsbildung. Als Fazit bleibt festzustellen, daß insbesondere an der Basis der alten agrarischen Gesellschaft, im bäuerlichen Lebensbereich und seiner Ordnung, auch in den Jahrhunderten von der Wende des Hochmittelalters bis zum bürgerlichen Staat des 19. Jahrunderts die Rechtsgewohnheit mit moderneren Rechtsformen in seltsamen Mischverhältnissen und Schichtungen lebt; zur Erschließung dieser Rechtsstrukuren bleibt deshalb der methodisch adäquate Zugang zur Rechtsgewohnheit von Bedeutung 129. Wir lassen den städtisch-bürgerlichen Rechtsbereich weitgehend beiseite; in ihm hat Verschriftlichung von den frühen Stadtrechtsprivilegien, städtischen Rechtsaufzeichnungen, Statuten bis zu den Stadtrechtsreformationen eine besondere Bedeutung 130. Doch auch hier spielt Oralität der Rechtsüberlieferung neben der zunehmenden Verschriftlichung lange eine Rolle, in der Verkündung und Verlesung städtischen Rechts, oft im Zusammenhang mit der Wiederholung des Bürgereides 131. Hier geht es vor allem um verwillkürtes Recht, also Einung. Es verhält sich damit komplementär zur Rechtsgewohnheit: Durch die orale Umsetzung soll "gemachtes" Recht bindend werden und in die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens aufgenommen werden.

129 Es ist hier darauf hinzuweisen, daß die von Theodor Bühler entworfene Rechtsquellenlehre eine historische Typologie unter dem hier angesprochenen Gesichtspunkt entwickelt. Bühler, Gewohnheitsrecht (Fn. 36), ders., Rechtsquellentypen (Fn. 123). 130 Dazu demnächst Gerhard Dilcher, Oralität, Verschriftlichung und Änderung der Normstruktur in Stadtrechten des 12. u. 13. Jahrhunderts, in: Hagen Keller, K. Grabmüller (Hg.), Pragmatische Schriftlichkeit, Fn. 96. 131 Vgl. Wilhelm Ebel, Der BÜlgereid als Geltungsgrundund Gestaltungsprinzip des deutschen mittelalterl. Stadtrechts, Weimar 1958. Ders., Bursprake, Echteding und Eddach in den niederdeutschen Stadtrechten, in: Ders., Rechtsgeschichtliches aus Niederdeutschland, Göttingen 1978. Dilcher (Fn. 130).

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Noch kurz berührt werden kann hier die Aufzeichnung von Gerichtsentscheidungen von Schöffen oder städtischem Rat 132. Es geht, da es sich um nicht voll professionalisierte Rechtshonoratioren als Repräsentanten einer Rechtsgenossenschaft handelt, um eine Erscheinung, die zwischen der Aufzeichnung von. ,gewohnheit und der Bildung von Juristenrecht liegt. Interessant wäre es, auf der hier angesprochenen methodischen Ebene den Vergleich zu der Ausbildung des common law zu ziehen 133. Ein Gebiet aber besonderen und unmittelbaren Fortwirkens der Rechtsgewohnheit ist das Verfassungsrecht. Es handelt sich dabei um eine europäische Erscheinung, die aber besonders ausgeprägt im Hl. Römischen Reich als nur teilmodernisiertem Relikt des Mittelalters ist. Die Verfassung der europäischen Reiche bestand aus dem rechtsgewohnheitlich begründeten Zusammenherrschen von König und Hochadel einschließlich des hohen Klerus. Verschriftlichungen geschahen in Form von Reichsweistümern, Herrschaftsverträgen, Einungen. Herrscherliche Gesetze, die diesen Bereich unmittelbar betreffen, bleiben bis zum Absolutismus formale Vorblendungen, Tamformen 134. Das Reich lebt bis zu seinem Ende nach Reichsgrundgesetzen dieser Art. Die Rechtswissenschaft, die sich als Reichspublizistik seit dem 17. Jahrhundert zunehmend mit diesem Rechtsbereich beschäftigt, bei dessen Entstehung sie weitgehend unbeteiligt war, entdeckt dabei die tragende Bedeutung der Rechtsgewohnheit. Sie wird Herkommen, Reichsherkommen oder in den lateinischen Texten Observanz genannt 135.· Aus132 Vgl. etwa als ländlisches Schöffengericht den Ingelheimer Oberhof: Adalbert Erler, Die älteren Urteile des Ingelheimer Oberhofes, Frankfurt / M. 1958 - 1963; Gunter Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jhdt., Aalen 1968 (= Untersuchungen zur dt. Staatsund Rechtsgesch. N. F. 10). Als städtisches Gericht das Recht des Magdeburger Schöffenstuhls: G. Buchda, Art. "Magdeburger Recht" in HRG III, Sp. 134-138 und zuletzt Dietmar Willoweit / W. Schich (Hg.), Studien zur Geschichte des sächsisch-magdeburgisehen Rechts in Deutschland und Polen (Rechtshistorische Reihe 10), Frankfurt a. M. / Bem 1980; Friedrich Ebel (Hg.), Magdeburger Recht, Bd. 1: Die Rechtssprüche der Niedersachsen (= Mitteldt. Forschungen 89 / I), Köln / Wien 1983. Bd. 2: Die Rechtsmitteilungen und Rechtssprüche für Breslau (= Mitteldt. Forschungen 89/ n / 1), Köln Wien 1989; Wilhelm Ebel, Lübisches Recht Bd. 1, Lübeck 1971 für die Lübecker Ratsurteile. 133 Zur Rolle der Verschriftlichung im Common Law neuerdings J ohn H. Baker (Hg.), Judicial Records, Law Reports, and the Growth of Case Law, Berlin 1989. 134 Zum Begriff der Tarnformen Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland (vgl. Fn. 17), bes. S. 27 f. Zum Vertragscharakter, bei dem Überlieferung und Rechtsetzung stets ineinanderfließen, zuletzt Gerhard Dilcher, Vom ständischen Herrschaftsvertrag zum Verfassungsgesetz, in: Der Staat, Bd. 27, 1988, S. 161-193. 135 Dazu jetzt grundlegend Bernd Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen, Stuttgart 1984. Als zeitgenössische Monographien etwa Joh. Georg von Kulpis, De observantia imperiali, vulgo Reichsherkommen, Straßburg 1705 (zuerst 1685) und Johann Wilhelm von Goebel, Dissertatio academica de observantia imperii, Helmstedt 1732 (genaue Nachweise bei Roeck). Ein kurzer Aufriß in dem vielbenutzten Grundriß von Johann Stephan Püttner, Institutiones iuris publici germanici. Cap. VI De observantia et analogia iuris publici, ed. III Göttingen 1782, S. 44 ff. Vgl. auch Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 1. Bd., München 1988, s. v. Reichsherkommen.

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gangspunkt zu deren Erfassung ist bei den Juristen naheliegenderweise die gelehrte, römisch-kanonistische Theorie von der consuetudo 136. Aber im Gegensatz zu der Zurückdrängung ungeschriebener Gewohnheit im ius civile kam die Publizistik zu einer fortschreitenden Aufwertung des Herkommens bis hin zu seiner Bewertung als ,,Eckstein" der Reichsverfassung 137. Es wird dabei einerseits in der Dimension einer tausendjährigen Vergangenheit seit Karl dem Großen gesehen 138, andererseits stellt es ein Instrument zur Legitimierung von Verfassungsänderungen dar 139, etwa der Entwicklung des Reiches zu einem Bündel von Territorien mit einer gewissen Eigenstaatlichkeit im Wege eines organischen Prozesses. Das Herkommen zeigt damit die oben festgestellten Eigentümlichkeiten der Rechtsgewohnheit: Verbindung von Konstanz und Wandel im Medium der Zeit, mangelnde Ausdifferenzierung des Rechts aus anderen Bereichen, hier vor allem dem Politischen, kurz: "das Leben selbst". Unter Berufung auf Tacitus wird herausgestellt, das "Genie" der Deutschen habe von alters "auf Mores und Consuetudines und nicht sowohl auf Leges gesehen" 140. Dadurch kann das Reichsherkommen nun auch eine theoretische Fundierung durch ein (historisches) Naturrecht, etwa und vor allem bei Thomasius, gewinnen l41 • Noch bedeutsamer aber wird die methodisch zwingende Folgerung, sich innelhalb der Rechtswissenschaft auf die Geschichte einzulassen. Sie geht davon aus, daß in den römisch-rechtlichen Termini der consuetudo-Lehre die Bedeutung des Reichsherkommens für die deutschen Verfassungsverhältnisse nicht adäquat erfaßt werden könne. Man werde nicht aus den Gesetzen eines fremden Volkes erklären können, was seinen Ursprung in einheimischen Einrichtungen habe. Damit war aber die Bedeutung der Geschichte, einer empirischen Wissenschaft also, als tragende Grundlage der Rechtswissenschaft angesprochen 142; sie liefert nicht mehr nur Exempla. Damit ist das theoretische Fundament der Historischen Schule des 19. Jahrhunderts, ja weiter, der Historismus vorausgedacht. In der Spätzeit der Reichspublizistik wächst aber auch schon die Gegentendenz, im Vorausblick auf den Verfassungsstaat, die kodifizierte Konstitution, die Breite und Beliebigkeit der Argumentation aus der Geschichte methodisch strenger zu binden. J ohann Jacob Moser versucht

Roeck (Fn. 135), S. 86. Roeck (Fn. 135), S. 110 u. ö. 138 Roeck (Fn. 135), S. 111. 139 Roeck (Fn. 135), S. 84. 140 Spener, Jus publicum. Roeck, (Fn. 135), S. 85, 100 so schon Conring unter Bezug auf Tadtus, Germania, Kap. 19. Schlagend wird die fehlende Ausdifferenzierung zum Verfassungsrecht deutlich bei Julius Bernhard von Rohr, Einleitung zur CeremonielWissenschaft der großen Herren etc. Neue Aufl. Berlin 1733 (Neudruck 1990). Das Problem der Ausdifferenzierung in der Sicht der Zeit wird sehr schön deutlich bei dems., Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der Privatperson, Berlin 1728 (Neudruck 1990), 1. Teil, bes. Cap. 1: Von den Ceremoniel-Wissenschaften überhaupt. Mit Bemerkungen zu Gebräuchen, Satzung, Regel, Gesetz und ihrer Zuordnung zu bürgerlichem Recht, Politica, Klugheit, Tugendlehre, (S. 3). 141 Roeck (Fn. 135), S. 101 ff. 142 Roeck (Fn. 135), S. 93 ff. 136

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die Geltung des Reichsherkommens wieder an die klar fonnulierten Geltungsbedingungen der consuetudo-Theorie zu binden; angesichts der Erschütterungen des Reiches Ende des 18. Jahrhunderts fmdet auch dies noch Kritik, und die Begründung der Legitimität staatlicher Herrschaft im Verfassungsstaat muß auf anderen Grundlagen aufbauen 143. Wir blicken noch einmal in die rechtliche Ordnung des täglichen Lebens der Gesellschaft, die vor allem im Zivilrecht (ius civile, bürgerliches Recht) in der europäischen Rechtsgeschichte ihre Fonn gefunden hat. Den Gemengelagen von Rechtsgewohnheit, verschriftlichtem und nichtschriftlichem Juristenrecht, Rechtsaufzeichnung, obrigkeitlichem Gesetz und Gewohnheitsrecht, das wir beobachten konnten, wollte zuerst der spätabsolutistische Gesetzgeber ein Ende setzen. Er greift das von Systementwürfen der Philosophie, Vernunftrechtstheorie und des Utilitarismus gegen die Tradition des ius commune entwickelte Programm der RechtskodifIkation auf, in einem Zusammenwirken von wohlfahrtsstaatlichem Patriarchalismus mit dem allgemeinen Rationalismus der Bürokratie in ihrer selbstherrlichen Entfaltung und ihrer naiven Besserwisserei 144. Ausgeschaltet wird hier "das bloß faktisch für Recht Gehaltene", "vor allem das Gewohnheitsrecht" 145. Nach dem ersten großen Muster dieser Gesetzgebung, dem preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, sind Gewohnheitsrechte und Observanzen den Provinzialgesetzbüchern nach sorgfältiger Prüfung, auch auf "die Erheblichkeit und Nutzbarkeit derselben", einzuverleiben; 146 nach Ablauf der hierfür vorgesehenen Frist haben sie nur noch im Rahmen des kodifizierten Rechts Geltung. Die Bildung von Juristenrecht wird aber an die Kette der Gesetzeskommission gelegt 147. - Die Feindschaft gegen Recht außerhalb des staatlichen Gesetzes zeigt sich gemildert in der revolutionären Kodifikation (code civil u. a.) wie im spätabsolutistischen österreichischen ABGB, denen sich die Juristenschaft in exegetischen Rechtsschulen unterordnet. Noch der erste Entwurf zum BGB plante eine restriktive Regelung in bezug auf das Gewohnheitsrecht, ehe sich die Auffassung durchsetzte, es handele sich um eine Frage, die nicht in die Kompetenz des Gesetzgebers, sondern der Wissenschaft und der Rechtsprechung fiele 148. Damit aber sind wir wieder am wissenschaftsgeschichtlichen Ausgangspunkt unserer Überlegungen; die grundlegende Arbeit von Brie, die die Ergebnisse der Historischen Schule zusammenfassen, aber auch anwendbar machen wollte, gehört ja gerade in diesen Zusammenhang. Roeck (Fn. 135), S. 114 ff., 121 ff. Diese scharfe Charakterisierung fmdet sich schon bei Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe v. J. Winckelmann, 5. Auflage 1985, S. 493 ff. 145 Weber (Fn. 144), S.494. 146 Publikationspatent des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten vom 5.2. 1794, Art. VII. 147 ALR, Eint. § 46,47. 148 Mugdan, Die gesamten Materialien zum BGB, 1. Bd. Berlin 1899, S. 360 ff. Protokolle z. Allg. Teil, zu § 2 S. 568 ff. bes. S. 570. 143

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Doch die wissenschaftsgeschichtliche Linie hat noch eine weitere Filiation. Wie wir sehen, konnte die Rechtsgeschichte sich nur sehr mühsam dem normorientiert-anwendungs bezogenen Denkansatz entziehen. Aus der Rechtsgeschichte gingen aber in jener Zeit der Jahrhundertwende die großen, bis heute maßgebenden Entwürfe einer Rechtsoziologie hervor. Zu nennen sind vor allem Max Weber und Eugen Ehrlich l49 • Deren Rechtssoziologie aber vollzieht den "Paradigmawechsel" zu einer empirisch-analytischen Betrachtung des Rechts von der Gesellschaft her. Interessanterweise markieren nun beide den Umschlag, der mit dem monopolistischen Anspruch des Staates auf Setzung der Entscheidungsnorm im späten 18. Jahrhundert vor sich geht, als historische Wendemarke. Max Weber zeigt, wie der Kodiftkationsgedanke aus dem vollentwickelten "aufgeklärten Despotismus" hervorgeht 150, in der angesprochenen Mischung aus wohlfahrtsstaatlichem Patriarchalismus und dem Rationalismus der Bürokratie in ihrem vereinigten Bestreben nach Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Parallel dazu verwandelte sich die Methode der Juristen von der gemeinrechtlichen Kunst, das römische Recht "den Bedürfnissen der Rechtsinteressenten anzupassen", zu einer Wissenschaft, für die, was der Jurist aus letzten Rechtsprinzipien nicht konstruieren kann, auch rechtlich nicht existiert 151. - Eugen Ehrlich unterscheidet und setzt gegenüber "gesellschaftliches Recht und staatliche Entscheidungsnormen" 152. Wirksam sei allgemein nur der unmittelbare staatliche Eingriff, also das Verwaltungshandeln, während die Vorgabe einer Entscheidungsnorm oft in der Realität leerliefe. Als Beispiele dienen ihm die Auswirkungen genereller Gesetze in den ausgedehnten, unterschiedliche Bevölkerungen umfassenden Ländern der Habsburger Monarchie. Die josephinische Allgemeine Gerichtsordnung habe in den Niederlanden bzw. Belgien zu einem mündlichen und unmittelbaren, in Österreich dagegen zu einem protokollarischen und mittelbaren Verfahren geführt l53 • In der Bukowina habe sich die patria potestas gegenüber dem individualistischen Familienrecht des ABGB unvermindert erhalten und wandle sich erst mit der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse 154. - Ob sich das Recht nur durch Gesetz oder auch durch Gewohnheitsrecht fortbilde, wird deshalb als eine Frage der juristischen Metaphysik bezeichnet; sie sei gegenstandslos, "wenn man unter der Entstehung und Fortbildung des Rechts das versteht, was darunter verstanden werden soll: Die Entstehung und Umbildung gesellschaftlicher Einrichtungen" 155.

149 Weber (Fn. 144), zuerst postum 1921. Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, zuerst 1913, 3. Auflage, Berlin 1967. ISO Weber (Fn. 144), S.493. 151 Weber (Fn. 144), S. 495 oben und 492 unten. 152 Ehrlich (Fn. 149), S. 299. 153 Ehrlich (Fn. 149), S. 295 f. 154 Ehrlich (Fn. 149), S. 298. ISS Ehrlich (Fn. 149), S. 315.

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Die methodische Annäherung an die Rechtsgewohnheit (consuetudo, coutume), die das Erste Mittelalter Europas und die Rechtszustände vieler anderer Kulturen beherrscht, vermag also den Blick zu schärfen für ungelöste Probleme der modernen Rechtstheorie und Rechtsmethodologie. Es hat sich gezeigt, daß die welthistorisch einzigartige - Gemengelage von Rechtsschichten im europäischen ius commune und den Partikularrechten, von "gelehrtem" Juristenrecht und aus der Gesellschaft hervorgegangenen verschriftlichtem und nichtschriftlichem Recht, eine gewisse Realitätsnähe des Rechts bei wissenschaftlicher Behandlung sicherte. Die "abstrakt-generelle Norm" des das Recht kodifizierenden Rechtsstaates löst sich von dieser Verbindung. Die tragenden Grundprinzipien, damit auch die Ziele und Vorzüge dieser Rechtskonzeption sind so oft dargestellt und beschrieben worden, daß dies hier nicht wiederholt zu werden braucht l56 • Damit bleibt auch das Maß und die Bedeutung der Ausdifferenzierung eines Subsystems ,,Recht" hier außerhalb des Betrachts. Es ging in diesem Zusammenhang darum, die Verlustseite dieses Vorganges schärfer ins Auge zu fassen und Wege seiner genaueren Analyse anzubahnen. Die neueste Diskussion der TheoriePraxis-Divergenz ist wohl auch deshalb nicht zu den erstrebenswerten Ergebnissen gelangt, weil sie historisch (und damit rechtssoziologisch) nicht weit genug zurückgefragt hat. Nicht zufällig hat sich in der Common-Law-Tradition, die den Sprung zur generell-abstrakten Norm so nicht getan hat, eine rechtsmethodische Schule des legal realism ausgebildet, die allerdings nicht in der Gesellschaft, sondern an der gerichtlichen Fallentscheidung als dem Ergebnis des Denkens und Handeins der Gerichtspersonen ansetzt 157. Fikentscher versucht die Realitätsferne der generell-abstrakten Norm durch die Bildung einer Fallnorm einzuholen 158. Die Schwierigkeiten des Transfers westlich-europäischer Rechtsordnungen in Länder anderer sozialer und mentaler Traditionen sind offenbar; ihre historische Aufarbeitung ist wohl am japanischen Beispiel am weitesten gediehen, ohne daß, soweit ich sehe, sich daraus schon eine jurisprudentielle (d. h. anwendungsorientierte) Rechtstheorie ergäbe 159. Die Beschäftigung mit der Rechtsgewohnheit kann deshalb zu dem Satz führen, in dem Eugen Ehrlich seine Soziologie des Rechts zusammenfaßt 160: "der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liege auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst". 156 Pio Caroni, Kodifikation, in: HRG 2, Sp. 907 m. Lit. Franz Wieacker, Aufstieg, Blüte und Krisis der KodifIkationsidee, FS Boehmer 1954. Herbert Hofmeister (Hg.), Kodifikation als Mittel der Politik, Wien 1986. Pio Caroni, Liberale Verfassung und bürgerliches Gesetzbuch im XIX. Jahrhundert, Bem 1988. 157 Vgl. etwa Norbert Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas, Heidelberg 1967. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 11, Tübingen 1975, Kap. 14, S. 273 ff. 158 Fikentscher (Fn. 157), Bd. IV. 159 Helmut Coing u. a. (Hg.), Die Japanisierung des westlichen Rechts, Tübingen 1990. 160 Ehrlich, Vorrede, in: Soziologie des Rechts (Fn. 149).

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Gewohnheitsrecht und fränkisch-deutsches Gerichtsverfahren Von Jürgen Weitzel

I. Einleitung Geht man die Geschichte der Theoriebildung zum Gewohnheitsrecht von den Römern bis zur Gegenwart durch, wie es im April 1990 J ean Gaudemet in einem Vortrag am Frankfurter rechtshistorischen Graduiertenkolleg getan hat, so fällt auf, daß in diesen traditionsreichen Beschreibungen der consuetudo nirgendwo vom Gericht die Rede ist 1. Letzten Endes vermag dieser Befund jedoch nicht zu erstaunen. Er ist Ausdruck dessen, daß alle diese Theorien von schriftgewohnten Denkern im Rahmen und zur Deutung von Rechtsordnungen entwickelt wurden, die im Primat der Schriftlichkeit lebten. Oralität war ihnen zweitrangig, wenn nicht von ihrer lebensprägenden Quantität her, so doch als Qualität. Solche Rechtsordnungen haben ihr Zentrum, den Fix- und Orientierungspunkt ihres Denkens im Schriftrecht; das Gericht ist nur zur Anwendung bereits gebildeten Rechts berufen. Der Fixpunkt Schriftrecht bleibt auch im Konflikt um das Recht, im Rechtsstreit erhalten. Der Normtext steht über den Rechtsmeinungen. Das schriftlose, nicht gesatzte oder nicht aufgezeichnete Recht wird in solchen von literaten Rechtsdenkern zur Deutung im Kern textbezogener Rechtsordnungen formulierten Theorien notwendigerweise auf den zweiten Platz verwiesen, bleibt - jedenfalls in der Theorie - rechtfertigungsbedürftig und nachrangig: consuetudo optima legum interpres, so tradieren es die Jahrhunderte. Die genannte gelehrte Tradition weist allerdings eine beachtliche Lücke auf. Vom frühen 7. bis zum späten 11. Jahrhundert, zwischen lsidor und lvo, schweigt der Chor der Nach-Denker über das Gefüge textzentrierter, herrschaftlicher Rechtsordnungen. Es ist dies die hohe Zeit einer von Mündlichkeit geprägten Rechtskultur. Manche, die vom gelehrten Recht herkommen, bezeichnen diese Epoche heute als eine solche "überbordenden Gewohnheitsrechts"; verräterischerweise, wie ich meine, denn wer hat schon je als Korrelat eine Epoche des die Gewohnheit überbordenden Schrift- oder Gesetzesrechts herausgestellt. Schriftlichkeit gilt uns eben - ganz in der Tradition literaten Rechtsdenkens 1 Jean Gaudemet, La Fonnation du Droit canonique medieval, London 1980; ders., La couturne en droit canonique, in: La Coutume (Rec. de la Societe lean Bodin LII), Brüssel 1990, S. 41-61.

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als Nonnalität des Rechts. Aber warum eigentlich? Weder in historischer noch in rechtstheoretischer Hinsicht erscheint diese "Selbstverständlichkeit" als gerechtfertigt. Die Lücke in der gelehrten Tradition der consuetudo bezeichnet freilich keine absolute Oralität der damaligen Gesellschaft. Sie bedeutet auch nicht, daß die römisch-kanonische Konzeption der consuetudo zwischen Isidor und Ivo untergegangen wäre. Denn es gab ja nach wie vor Schriftkundige, an der Bibel und den Texten der Kirchenväter orientierte Personen, die sie zu verstehen vennochten. Es bedeutet auch nicht, daß diese Konzeption jegliche Bedeutung für die Praxis verloren haben müßte. Es bedeutet aber, daß das textzentrierte Rechtsdenken in der Kirche und damit gesamtgesellschaftlich niemals weniger Bedeutung hatte als in diesen Jahrhunderten 2• Zum anderen lebt die Kirche - zumindest in den hier interessierenden Gebieten nördlich der Alpen - während des gesamten Mittelalters in einem von illiteraten Laien geprägten Umfeld. Sind auch die Auswirkungen des "schriftlosen Denkens" innerhalb der Kirche ein - umstrittenes - Thema für sich 3, so steht doch fest, daß die Kirche eine Verschriftlichung der fränkischen oder gar der deutschen hochmittelalterlichen Gesellschaft nicht bewirkt hat. Es bestanden also über viele Jahrhunderte hin zwei Vorstellungsweisen vom schriftlosen Recht und von der rechtlichen Gewohnheit nebeneinander: Einerseits die gelehrte, die letztlich auf die Offenbarung und Autorität von Schrift und Schriften rekurrierte, andererseits die der illiterati, die nahezu ausschließlich von der Erfahrung der Mündlichkeit bestimmt wurde. Über die Gewichtung beider Vorstellungswelten in ihrem je konkreten Verhältnis zueinander ist damit noch nichts ausgesagt. Ethnische und soziokulturelle Faktoren durchrnischen sich. Zum Gesamtverhältnis von Oralität und Literalität jedoch läßt sich hinsichtlich des Rechtsdenkens eine regelhafte Aussage machen. Es war bereits von der notwendigen Nachrangigkeit der Gewohnheit in textbezogenen Rechtssystemen die Rede. Notwendig ist die Zurücksetzung der Gewohnheit insofern, als eine Rechtsordnung nur entweder nach den Maximen der Schriftlichkeit oder aber nach denen der Mündlichkeit gedacht und gedeutet werden kann. Die Autorität des Rechts kann nur entweder in der Schrift oder aber im gesprochenen Wort liegen. Für das Individuum mag diese Entscheidung durch Bildung beeinflußbar und selbst kurzfristig veränderbar sein. Das Kultur- und Schriftlichkeitsniveau ganzer Gesellschaften jedoch ist typischerweise langfristig festgelegt. Bei ihrer Betrachtung gilt folglich das Gesetz von der Umbildung der minoritären durch die überwiegende Qualität: Über2 Max Jörg Odenheimer, Der christlich-kirchliche Anteil an der Verdrängung der mittelalterlichen Rechtsstruktur und an der Entstehung der Vorherrschaft des staatlich gesetzten Rechts im deutschen und französischen Gebiet, Basel 1957. 3 Jürgen Weitzel, So scheiden sich die Geister. Zu Franz Kerffs Kritik, RhistJ 8 (1989), S. 407 -413. Die mediävistische Kanonistik bleibt aufgefordert, Urteilsbegriff und Entscheidungsfindung für ihr Gebiet zu klären.

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wiegende Schriftlichkeit prägt (das Verständnis von) Mündlichkeit in ihrem Sinne, überwiegende Mündlichkeit denkt sich Schriftlichkeit nach ihren Mustern. Gesellschaften wie die des frühen und hohen Mittelalters leben im regime coutumier, das heißt, ihr Rechtsverständnis ist nicht auf einen Normtext und dessen Interpretation hin orientiert, sondern auf faktische und mündliche Kommunikationsformen 4• Von diesen her empfangt das partiell durchaus vorhandene Schriftrecht Deutung und Bedeutung, ihnen wird es zu-, ein- und letztlich untergeordnet. Von denkbaren Ausnahmen, z. B. bei Rechtssätzen, für die es auf den Wortlaut der Bibel ankam, wird noch die Rede sein. Was das "Umdenken" von Schriftrecht nach den Regeln der Mündlichkeit bedeutet, soll kurz an einigen Beispielen aufgezeigt werden. Die Magdeburger Schöffen schreiben im 15. Jahrhundert einem, der gern die "Belegstellen" für einen ihm erteilten Spruch nachgereicht hätte, zurück: hu aver de stede wür solks tho rechte fundirrt anthoteigen, solks is by uns und unsen vOr/aren von alder her nicht wontlich gewest. Was zunächst als in Bequemlichkeit oder Geheimniskrämerei begründet erscheinen mag, erfährt eine angemessene Deutung durch einen älteren Spruch desselben Schöffenstuhls. Er hat die Frage zum Gegenstand, ob Schöffen sich des (Sachsenspiegel-)Land- und Lehenrechts bedienen oder aber nach ihrem Sinne das Urteil fmden sollen, wenn es im Weichbildrecht an Regeln fehlt. Dazu heißt es: Alles Geschriebene ist den Leuten zum Wissen und zur Lehre gegeben. Wer deshalb als Schöffe auf das Recht geschworen hat, der mag nach seiner Redlichkeit, seinem besten Sinne und auch nach dem Wissen der Schriften und des Rechts auf seinen Eid Urteil fmden. Bekommt er dafür die Folge seiner Mitschöffen, so ist das Recht. Bekommt er sie nicht, so ist im Rechtszug das Urteil des höchsten Schöffenstuhls maßgeblich 5 • So weit die Antwort, derzufolge letztlich ganz allein Schöffeneid, persönliches Rechtswissen und Vollwort die Entscheidung legitimieren. Ferner ein Hinweis auf die Anwendung des Oberbayerischen Landrechts von 1346, das bekanntlich vorschrieb, die Richter sollten "nach des Buches Sage von wort ze wort, von stuk zu stuk armen und reichen ungevaerlich richten". Auch sollte der Schreiber das Recht im Buch suchen. Konnte er es dort nicht finden, so sollte man die Sache an den Herrn bringen, d. h. den Rechtszug zum Hofgericht in Anspruch nehmen und nicht etwa auf das überkommene Frageund Folge-Verfahren zurückgreifen. Genau das aber geschah. Sobald nur der geringste Zweifel aufkam, die zu entscheidende Frage nicht wortwörtlich im Gesetz geregelt war, klappte man das Buch zu und befragte die Urteiler. Das Buch dachte man sich offenbar als Aufzeichnung eines Herrenwortes, das nur so und nicht anders gelautet hatte, das allenfalls diesen und nicht auch den lohn Gilissen, La coutume, Turnhout 1982. Quellennachweise bei lürgen Weitzel, Über Oberhöfe, Recht und Rechtszug, Göttingen 1981, S. 38 f. 4

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nächstbenachbarten Fall entscheiden konnte 6• Das Recht lebte also im Wort und nicht in der Schrift. Der Rechtskonflikt wurde in einem mit Zwangselementen angereicherten Rechtsgespräch, nicht aber durch Auslegen eines Normtextes beigelegt. Und dies auch dann, wenn es - nach Ansicht und Absicht der Herren - Schriftrecht gab. Die Beispiele stammen aus dem späten Mittelalter, einer Zeit, in der sich die Laien im Zuge der Rezeption allenthalben mit der Erscheinung von Schriftrecht, und zwar von Schriftrecht unterschiedlichster Herkunft und verschiedenartigsten Geltungsanspruchs, auseinandersetzen mußten. Selbst in dieser Spätphase des Laienrichterturns stellen sie klar, daß die Autorität des Rechts im Wort und im Verband der Urteiler liegt, nicht in Texten. Durchgehend gilt dies in jenen Tagen allerdings nur noch für das Landrecht.

11. Gerichtsverfahren und konkret-konsensuale Rechtsgeltung Vergleichbare Beispiele und unser Thema direkt treffende Aussagen aus früheren Jahrhunderten sind mir nicht bekannt. Sie können schwerlich erwartet werden, da das Verhältnis von Schrift und gesprochenem Wort den illiteraten Laienurteilern eben erst im Spätmittelalter zum Problem geworden ist. Es liegen aber auch deshalb keine einschlägigen Quellen vor, weil nur die Vertreter des gelehrten Rechts ihre Rechtsauffassung schriftlich formuliert haben. Die Vorstellungen der in der mittelalterlichen Sprechkultur Lebenden vom Recht sind folglich nur mittelbar zu erschließen. Man kann Parallelen zu anderen schriftlosen Kulturen ziehen 7 • Man kann aber auch - mit ethnologischem Hintergrundwissen mittelalterliche Einrichtungen daraufhin befragen, wie ein Recht, das mit ihnen harmoniert, von, mit und in dem sie leben, strukturiert sein muß. Die wohl wichtigste Einrichtung dieser Art sind die Gerichte und das vor ihnen beachtete Verfahren. Sie erscheinen im Mittelalter in zwei Grundformen, die sich nach Herkunft, Erscheinungsbild und fernerem Schicksal unschwer dem (aus der Antike überkommenen) Schriftrecht einerseits, der (die germanische Tradition fortführenden) oralen Rechtskultur andererseits zuordnen lassen 8 • Die in der Kirche und in mediterranen Gebieten überlebende Schriftkultur sichert das Überleben des nicht nur vorsitzenden, sondern - meist unter dem Beirat anderer - auch selbst urteilenden Richters. Der Richter ist Träger eines inhaltliche Entscheidungskompetenz und Rechtszwang ungeschieden in sich vereinigen6 Hans Schlosser, Spätmittelalterlicher Zivilprozeß nach bayerischen Quellen, Köln 1971, S. 405 ff., 436 ff.; vgl. auch H einz Lieberich, Kaiser Ludwig der Baier als Gesetzgeber, ZRG GA 76 (1959), S. 173 ff. 7 Vgl. den Beitrag von Gerhard Dilcher in diesem Band. 8 Jürgen Weitzel, Gerichtsverfahren, LexMA IV, Sp. 1333-1335.

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den Amtes. Das Rechtsverständnis ist grundsätzlich autoritativ im Sinne von "obrigkeitlich vorgegebenen", "von außen kommend festgelegt" auch da, wo die Quellen nicht ausdrücklich auf Schriftrecht rekurrieren. Das "Gegenmodell" ist das dinggenossenschaftliche Verfahren. Der Richter ist (nur) Vorsitzender und Träger der Gebots- und Vollzugsgewalt; die inhaltliche Entscheidungskompetenz steht Urteilern zu, die Rechtsgenossen der Parteien sind. Das Rechtsverständnis ist grundsätzlich genossenschaftlich im Sinne von "in der konkreten Rechtsgemeinschaft gebildet", "von innen her verpflichtend". Die Entscheidungszuständigkeit der Urteiler, in die die gesamte Gerichtsgemeinde einbezogen sein kann 9, zeigt, daß das die Entscheidung typischerweise tragende schriftlose Recht nicht zur Verfügung der (jeweiligen) Herren und Richter steht 10. Das schriftlose Recht ist anti-obrigkeitlich. Es rührt nicht aus dem Willen von Herrschaftsträgern her, sondern ruht in der Gemeinschaft oder doch zumindest in einer von der Mehrheit nicht ausdrücklich angefochtenen 11 Willensbildung ihrer Führungsgruppe. Der Willen, auf dem das schriftlose Recht aufruht, erscheint in der gelehrten consuetudo-Tradition wie auch in germanistischen Beschreibungen des schriftlosen mittelalterlichen Rechts als consensus (Konsens). Gemeint ist in beiden Fällen der Konsens der konkreten rechtbildenden Gemeinschaft. Und doch kam dem Konsens in den gelehrten Theorien eine partiell andere Rolle zu. Sie ergab und ergibt sich daraus, daß der Konsens nicht nur schlicht Recht hervorbringt, sondern zugleich die Abgrenzung dieses Rechts zu bzw. seine Eingliederung in eine bereits bestehende Rechtsordnung, die jedenfalls im Grundsätzlichen als Schriftrecht oder doch in Analogie zum Schriftrecht gedacht wird, zu leisten hat. Dazu nimmt der Konsens im Konzept der gelehrten Rechte Elemente wie einen besonderen Rechtsbildungswillen, die geltungsbegrundende Dauer der tatsächlichen Übung und die Notwendigkeit der zumindest stillschweigend erfolgenden Zustimmung des Oberen in sich auf l2 • Das fränkische Gerichtsverfahren ist aus dem Sühneverfahren zwischen den Parteien hervorgegangen \3. Im Sühneverfahren bestimmten letztlich die Parteien, was Recht war. Daran änderte sich nichts, als das Sühneverfahren mit autoritativen Elementen aus der Gewalt des neuen Großkönigs angereichert wurde. Nur der Druck auf die Streitenden wurde verstärkt, nicht aber änderte sich die Art und Weise des Verbindlichwerdens der Regelung. Die Parteien mußten die Erfüllung Jürgen Weitzel, Umstand, HRG V. Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht, Köln 1985; ders., Deutsches Recht, LexMA m, Sp. 777 -781. \1 Zur Urteilsschelte und ihrer Funktionsweise vgl. Weitzel (pn. 5), S. 5-19; ders., Rechtszug, HRG N, Sp. 430-443; ders., Dinggenossenschaft (Fn. 10), S. 116-124. 12 Vgl. den Beitrag von Udo Wolter in diesem Band, insbesondere These 6 e. \3 Jürgen Weitzel, Gerichtsverfahren, Zur Veröffentlichung vorgesehen in: Reallex. Germ. Altertumskunde, 2. Aufl. 9

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des Urteils der Rachinburgen, das ist deren Regelungsvorschlag, geloben. Taten sie dies nicht, so konnte eine Entscheidung in der Sache nicht getroffen werden. Die "Rechtsordnung" konnte nur mit dem Ausschluß der sich dem Zwangsvergleich Verschließenden aus der Rechtsgemeinschaft reagieren. Noch unter Karl dem Großen suchte man solche Parteien durch Haft gefügig zu machen. In jenen Jahrzehnten gewann das Verfahren verstärkt autoritative Züge. Die Verbindlichkeit des Urteils erwuchs zunehmend aus dem richterlichen Gebot. Bis ins hohe Mittelalter hinein finden sich jedoch Belege dafür, daß das Urteil von der unterlegenen Partei "gelobt", d. h. ausdrücklich anerkannt werden mußte 14. Später wurde die Partei so behandelt, als habe sie konsentiert. Erst in der frühen Neuzeit setzte sich die Vorstellung durch, es sei gleichgültig, ob sie konsentiere oder nicht. Dieser Abbau des Konsenselementes ist seit dem ausgehenden Hochmittelalter vor dem Hintergrund rezipierter Vorstellungen von autoritativem Recht und autoritativem Entscheiden zu sehen. Für das Rechtsverständnis bedeutet das Erfordernis des zu konsentierenden Urteils, daß das schriftlose Recht sich im Konfliktsfalle durch (Wieder-)Herstellung eines konkreten (Zwangs-)Konsenses zwischen den Parteien Geltung verschaffte. Es sind der Rechtsstreit und seine Beilegung im gerichtlichen Verfahren durch Urteil, auch in der Form des Weistums, überhaupt die maßgeblichen Situationen, von denen her Aussagen zur "Geltung" des schriftlosen Rechts gewonnen werden können und müssen. Über das Verständnis des unstreitig im Konsens geübten Rechts haben sich die Beteiligten, wie gesagt, nicht geäußert. In der (Zwangs-)Sühne stellt sich das Recht konkret - für diesen Streit, zu diesem Zeitpunkt - zwischen zwei Parteien her. Es entsteht durch das Urteilserfüllungsgelöbnis eine zweiseitige Norm, eine lex contractus 15. Das Recht geht. aus der Sühne hervor, hat vertragsähnlichen Charakter, ist nicht Vollzug einer allgemeingeltenden Norm. Denn da, wo es keine autoritative Dritt-Entscheidung gibt, sondern nur die streiterledigende Willensbildung der Parteien selbst, gibt es auch keine allgemeingeltende Norm, die von Dritten auf den Rechtsstreit der Parteien "angewendet" werden könnte. Daß und in welchem Umfang es Regelvorstellungen (Rechtsgewohnheiten) gab, an denen sich die parteieigene Entscheidung wie auch der Regelungsvorschlag der Urteiler ausrichtete, und welche Qualität ihnen des näheren zugesprochen werden muß, soll später erörtert werden. Im Konflikt jedenfalls besteht zwischen den Parteien kein Recht. Eine ,,Norm" oder ,,Regel", die nur im Sühnekonsens und mit dem Einverständnis des Betroffenen sich realisieren kann, liegt jedenfalls derart weit von unserem heutigen Normenverständnis ab 16, daß wir vorrangig die Konfliktsituation und benachbarte 14 Weitzel. Dinggenossenschaft (Fn. 10), S. 960, 1055, 1121, 1259 f.; Götz Landwehr. "Urteilfragen" und "Urteilfinden" nach spätmittelalterlichen, insb. sächsischen Rechtsquellen, ZRG GA 96 (1979), S. 1-37. 15 Vgl. Gerhart Husserl. Rechtskraft und Rechtsgeltung, Berlin 1925, S. 17 ff., 113, 138-144.

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Erscheinungen "zweiseitiger Rechtsgeltung" untersuchen sollten. Nur dies kann uns hindern, den ,,Regeln" schon anfänglich unser heutiges Verständnis von Normen unterzuschieben. Wie grob die daraus resultierenden Fehleinschätzungen sein könnten, zeigt eine bereits angeklungene Überlegung. Die Lex Salica datiert nach allgemeiner Auffassung noch aus der Regierungszeit Chlodwigs, also um das Jahr 510. Zu diesem Zeitpunkt und auch noch Generationen später gab es bei den Franken keine ,,richtige" Gerichtsbarkeit, sondern nur das Sühneverfahren. Möglicherweise amtierte statt des Grafen noch der Thungin im sogenannten Volksgericht. Was immer auch die Lex Salica in dieser Situation gewesen sein mag - sie war jedenfalls weder Gesetz noch Norm im heutigen Verständnis. Ohne autoritative Drittentscheidung von Rechtsstreitigkeiten gibt es keine allgemeingültige-abstrakte Norm! Von allen übrigen, technischen Gründen abgesehen, hat sich ihre und der übrigen Volksrechte gerichtliche ,,Anwendung" schon deshalb nicht erweisen lassen 17. Die (nur) zweiseitige, konkrete Geltungsweise des schriftlosen Rechts läßt sich auch an allgemein die Bedingungen von Oralität einerseits, Schriftlichkeit andererseits reflektierenden Überlegungen wahrscheinlich machen. Fixpunkt der Konfliktbewältigung ist im gelehrten römisch-kanonischen wie im heutigen Recht der Normtext. Seine Geltung wird durch den Streit nicht in Frage gestellt. Die im Text festgelegte Norm besteht fort, das Gericht hat sie nur anzuwenden, durch Subsumtion die Fallnorm zu bilden. Dieses Modell nun wird, bleibt man auch für das fränkisch-deutsche Mittelalter beim herkömmlichen gelehrten Typus des Gewohnheitsrechts stehen, "sinngemäß" auch auf das schriftlose Recht einer in Oralität lebenden Gesellschaft angewandt. Auch mit der Bildung und Geltungsweise dieses Rechts soll das mittelalterliche Gericht nichts zu tun haben. Durch ,,Parallelwertung" kommt man zu ,,Normen", die nur "festgestellt" werden müssen, um dann wie autoritatives Schriftrecht (Gesetzesrecht) "angewandt" werden zu können. Es werden also im Konzept des Gewohnheitsrechts das schriftlose Recht, seine Bildung und Geltung nach den Maximen der Schriftlichkeit konstruiert. Heute mag dies angemessen sein, der mittelalterliche Mensch aber dachte in den Kategorien des regime couturnier und der Oralität. Für ihn gab es den Fixpunkt einer in Analogie zum Schriftrecht gedachten allgemeinverbindlichen Norm nicht. Er war zur Beilegung des Konfliktes auf Formen der mündlichen Kommunikation angewiesen. Das Rechtsgespräch aber fand traditionsgemäß an der Gerichtsstätte (ahd. mahal, mal nach germ. mapla-, mahla, Rede, Versamm-

16 Die Arbeit von Ferdinand Kirchhof, Private Rechtsetzung, Berlin 1985, S. 84 ff., 98 f. behandelt unser Problem nicht. Vgl. auch Karl Kroeschell, Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters, in: Der Staat, Beiheft 6, Berlin 1983, S. 47 -77, und (in der Aussprache) S. 85 zu lex contractus. 17 Zum Themenkreis vgl. zuletzt Karl Kroeschell, Besprechung zu Hubert Mordek, (Hg.), Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters, Sigmaringen 1986, in: ZRG KA 107 (1990), S. 335-342.

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lung) statt 18. Zur Aussprache vor Gericht also ging der Blick des mittelalterlichen Menschen im Rechtskonflikt, nicht zum Rechtsbuch. Die Strategie zur Bewältigung des Konfliktes konnte nicht auf einen Normtext rekurrieren. Sie konnte auch angesichts einer fehlenden Erfahrung der Dimension "Schriftlichkeit" nicht zur Rekonstruktion einer normativen Entscheidungsgrundlage in Analogie zur fehlenden Schriftgrundlage finden. Sie blieb vielmehr den Gesetzmäßigkeiten der Mündlichkeit verhaftet. Der verlorengegangene Konsens mußte also konkret, d. h. im Gespräch, wiederhergestellt werden. Es gab keinen außerhalb der gerichtlichen Kommunikation liegenden verbindlichen Fixpunkt ,,Rechtsordnung Rechtsgeltung" , keinen in Permanenz tagenden Rechtserzwingungsstab, meist auch keine autoritativ übergeordnete Rechtseinsicht bestimmter Personenkreise. Es stand vielmehr Rechtsmeinung gegen Rechtsmeinung. Nicht die Rekonstruktion und Anwendung einer außergerichtlich vorgegebenen Norm überwand folglich den Konflikt, sondern die erneute und konkrete (Wieder-)Herstellung des Konsenses im Gericht. Aus diesen Bedingungen resultiert eine gewisse Geltungsschwäche der mittelalterlichen Rechtsgewohnheiten. Wohlgemerkt, es ist hier nicht von einer Durchsetzungsschwäche die Rede, die auch dem heutigen Gesetzesrecht infolge mannigfacher Unwägbarkeiten, insbesondere solcher der faktischen Umsetzung und gerichtlichen Durchsetzung zu eigen sein kann. Es geht vielmehr um eine Schwäche des Geltungsanspruches, um eine Schwäche in der Struktur der Geltung, die darin beruht, daß Rechtsmeinung gegen Rechtsmeinung steht, daß "Geltung" nur im Konsens vorhanden ist. Außerhalb des gerichtlichen Verfahrens sind Rechtsauffassungen nur genossenschaftlich gleichwertige Meinungen. Sollen sie "gelten", so müssen sie geteilt werden. Sollen sie als Urteil (das ist durchsetzbares Recht) geboten werden, so müssen sie im förmlichen Verfahren sich bewähren und zusammenfinden. Die rechtliche Gleichwertigkeit der Rechtsmeinung aller vollwertigen Dinggenossen zeigt sich im Vorgang der Urteilsfindung selbst, im Institut der Urteilsschelte, die grundsätzlich jedem offensteht und nach Sachsenrecht den scheltenden Genossen auf die Urteilerbank bringt, sowie im Ersatzoder Noturteilertum 19 eines jeden Dinggenossen. Selbst die Rechtssprache bringt diese Gleichwertigkeit zum Ausdruck, indem sie den Spruch der Urteiler wie die zur Entscheidung gestellte Rechtsmeinung der Parteien als "Urteil" bezeichnet 20 • Das Erfordernis der Wiederherstellung des Konsenses im Gericht bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß die mittelalterliche Rechtsgewohnheit nur 18

Ruth Schmidt-Wiegand, Mahal, Mahlstatt, HRG rn, Sp. 150; dies., Mallus, mallum,

rn, Sp. 217. Zuletzt Rolf Lieberwirth, Das Privileg des Erzbischofs Wichmann und das Magdeburger Recht (Sb. Akad. Leipzig, Bd. 130 Heft 3), Berlin 1990, S. 19. 20 Nachweise bei Jürgen Weitzel, Die Formel consilio et iudicio im Lichte des fränkisch-deutschen Urteilsverständnisses, in: Wege europäischer Rechtsgeschichte, FS Karl Kroeschell, Frankfurt/M. 1987, S. 573-591,580-582.

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im Konsens "gilt", d. h. verbindlich und notfalls zwangsweise durchsetzbar ist. Zerbricht ein bestehender Konsens, so zerbricht das Recht. Es wird im Konflikt nicht nur von einer Seite, wie wir es heute sehen - gebrochen, sondern es ist zerbrochen, weil das genossenschaftliche Überzeugungsrecht keine Autorität außerhalb des Rechtskonsenses kennt. Für unbestrittenes Recht stellt sich die Frage eines eventuellen Zurücktretens hinter die ,,Eigengesetzlichkeiten des Verfahrens" 21 nicht. ,Jn lokalen Rechtsquellen" fixiertes Recht gibt es in jener Epoche typischerweise nicht. Soweit es auftritt, gilt es nicht von ungefähr kirchlichen Grundherrschaften (Worms, Limburg)22. Daß wir zu diesen Hofrechten Rechtsprechung finden könnten, ist wenig wahrscheinlich 23. Die Eigengesetzlichkeiten des Verfahrens haben freilich massenhaft überregionales Schrifuecht verdrängt. Vornehmlich im Bereich des ehedem fixierten kanonischen (Buß-)Rechtes 24 • Es hat ja sogar die kanonistische Doktrin die derogierende Kraft der Gewohnheit, in der die Eigengesetzlichkeit des Verfahrens steckt, grundsätzlich anerkennen müssen 25. Daß sich die Leges nicht als verbindliches Recht durchsetzten, sondern daß sie allenfalls nach Maßgabe des Wortes der Urteiler "bestätigt" wurden, liegt auf derselben Linie. Aber - um bei den obigen Beispielen zu bleiben - auch das Oberbayerische Landrecht und das sächsische Landrecht sind von den Urteilern nicht so, wie es den Maximen der Schriftlichkeit entsprochen hätte, durch Subsumtion angewandt und in ihrem nonnativen Gehalt ausgeschöpft worden. Dabei ist aber immer zu beachten, daß das Verhältnis zwischen Oralität und Schriftlichkeit in der Gesamtentwicklung wie in den diese formenden Details von den vorgenannten ethnischen und soziokulturellen (Klerus, Stadtbürger) Faktoren abhängig ist. Es kann also, insbesondere im Spätmittelalter, punktuell die Autorität der Schrift die des Wortes überwinden. Eine andere, später näher zu erörternde Frage ist, ob konkret und in welchem Umfang allgemein Rechtsgewohnheiten bestanden und wie sie unter normativen Gesichtspunkten näher zu qualifizieren sind. Im Rahmen des Verfahrens können wir sie nur als dem Gebot nicht zugängliche Rechtsmeinungen erfassen. Dem (nur) zweiseitigen oder vertragsähnlichen, eben konsensual-konkreten Charakter des schriftlosen Rechts entspricht die Erscheinung der Fehde als einer vom Recht gebilligten und späterhin auch gestalteten Erscheinung 26 . Daß die 21 Karin Nehlsen-v. Stryk, Zum ,,Justizbegriff' der rechtshistorischen Gennanistik, lus Comrnune 17 (1990), S. 189-222,218. 22 Pirmin Spieß, Das Limburger Hofrecht. Ein Sozialmodell des Jahres 1035, in: FS Kroeschell (Fn. 20), S. 468 -485; Gerhard Dilcher, Die genossenschaftliche Struktur von Gilden und Zünften, in: Gilden und Zünfte (VuF 29), Sigmaringen 1985, S.70111,80-83 m. w. H. 23 Daß "dem Wesen des mittelalterlichen Gewohnheitsrecht" entsprechend "selbst eventuell vorhandene Aufzeichnungen über das Recht doch niemals Anlaß zu textkritischen Überlegungen geben konnten", sagte bereits Gunter Gudian, Ingelheimer Recht, Aalen 1968, S. 4. 24 Vgl. dazu Odenheimer (Fn. 2). 25 Vgl. den Beitrag von Udo Wolter in diesem Band, insb. Thesen 5 b und d.

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Gegner einander Rechtsbruch vorwarfen, daß jeder seine Rechtsmeinung für Recht und richtig hielt, versteht sich. Er konnte dies jedoch unter den Bedingungen der Schriftlosigkeit mit um so größerer Überzeugung vortragen, als eine Objektivierung von Recht in Schriftprodukten nicht vorlag. Rechtsmeinung stand gegen Rechtsmeinung. Auch deshalb - und nicht nur wegen des nicht realisierbaren Gewaltmonopols der Rechtsgemeinschaft - mußte die Fehde für zulässig erachtet werden, wenn sich eine Partei der Beilegung der Streitigkeit "durch Recht", d.h. im gerichtlichen Verfahren entzog. Das Recht zur Fehde ist (auch) die Konsequenz einer konkret-konsensualen Rechtsstruktur. Es soll ferner der Hinweis nicht fehlen, daß Einung (Willkür) wie auch das Privileg und die rechtsgestaltende Vertragspraxis als die übrigen Rechtsquellen derZeit, Normen aus konkretem Konsens hervorgehen lassen. Beim Vertrag und beim Privileg ist dies im Ansatz leicht zu erkennen. Aber auch die Einung hat die Grundlage ihrer Verbindlichkeit im Eid derer, die sich verpflichteten 27 • Und es ist bekannt, daß es über Jahrhunderte hin ein Problem war, ob und weshalb die anläßlich der "Satzung" nicht Anwesenden und wie die, die den Frieden nicht beschworen hatten, gleichwohl als gebunden zu erachten seien.

111. Normqualität und Existenz materieller Rechtssätze Wenden wir uns näher den Fragen der Normqualität des schriftlosen Rechts sowie des Bestandes und der Erkennbarkeit materieller Rechtssätze zu. Die seit einigen Jahren diskutierte Normqualität des schriftlosen Rechts oder der Rechtsgewohnheiten ist der Schlüssel zum Verständnis der Struktur des mittelalterlichen Rechts. Die Aufgabe ist äußerst vielschichtig, sowohl von der Aufbereitung konkreten Materials als auch von der Entwicklung einer angemessenen Terminologie her und nicht zuletzt in der Vermittelbarkeit der (jeweiligen) Forschungsergebnisse schwierig. Die unter Sachkennern im Prinzip unstreitige Einsicht, daß das schriftlose Recht von einer schwächeren und andersartigen Geltungsstruktur ist als das heutige Recht oder daß es gar der Normativität entbehre, wird angesichts einer Rechtstheorie, die, da ahistorisch, keine begrifflichen Instrumente zur Erfassung von Entwicklungsstufen der Rechtsgeltung und des Rechtszwanges bereitstellt, von anderen oft mit ungläubigem Staunen quittiert. Dies gilt nicht nur für Juristen, sondern infolge eines entsprechenden, allgemein verbreiteten ,,Laienverständnisses" vom Recht, auch für Historiker.

26 Zur Fehde vgl. Franz Beyerle. Das Entwicklungsproblem im germanischen Rechtsgang, I (=Dtrechtl. Beiträge X, Heft 2) Heidelberg 1915; Weitzel. Dinggenossenschaft (pn. 10), S. 140-143. 27 Zuletzt Kroeschell (Fn. 17).

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Divergenzen unter den Kennern der Materie sind weitgehend solche tenninologiseher und methodischer Natur. Allerdings ist nicht immer klar zu sehen, wo sie in sachliche Differenzen übergehen. So scheint es mir z. B. erforderlich, die Problematik jenseits aller historischen Rechtssoziologie in einer Begrifflichkeit der "Geltung" von Recht aufzubereiten. Freilich muß eine solche Geltungstheorie gerade über das, was sie im Rahmen der Deutung der gegenwärtigen Rechtsordnung leistet, entscheidend hinausgreifen. Nachfolgend soll ein Versuch gemacht werden, für das schriftlose mittelalterliche Recht mit einer Unterscheidung der "Geltung" und des ,,Lebens" von Recht weiterzukommen:z8. "Geltung, gelten" soll eine Wirkungsweise bezeichnen, die die (notfalls erzwingbare) Durchsetzbarkeit einer Nonn meint. Diese Durchsetzbarkeit, di~ im fränkisch-deutschen Mit-' telalter näherhin als Gebietbarkeit oder Gebotsfähigkeit eines Rechtes besi::hrie~ ben werden kann, ist nur auf konkret-konsensualer Grundlage gegeben. Das, schriftlose Recht ist als solches (schlechthin, abstrakt) dem richterlichen oder herrschaftlichen Gebot nicht zugänglich. Sonst gäbe es Gesetze. Die das Gebot ennöglichende konkret-konsensuale Situation tritt in zwei Fonnen in Erscheinung. Erstens im Streitfalle als zumindest mehrheitlich konsentiertes, ungeschol~ tenes Urteil. Zweitens bei Nichtleistung auf eine unbestreitbare, meist offenbare, gelobte Schuld. In diesen Fällen, über die der Richter nicht Urteil fmden lassen soll, darf und muß das Recht ohne Urteil geboten werden 29 • Alle unterhalb des "gebietbaren Rechts" bleibenden Wirkungsweisen des schriftlosen Rechts sollen dahingehend zusammengefaßt werden" daß dieses Recht "lebt". Es umfaßt dies die Fülle der im unreflektierten und unprobleJnati~, sehen Konsens liegenden Regeln. Hier nun könnten die ersten Einwände gegen die Nonnqualität dieses Rechts und seiner Regeln kommen. Jedoch: was den Rechtsbegriff angeht, so genügt zum einen die Erzwingbarkeit der Nonn im konkreten Einzelfall. Recht muß nicht abstrakt und generell gebietbar sein. Zum anderen könnte man einwenden, daß dieses Recht ungeschieden mit Sitte,'Moral und Religion in eins falle. Das ist sicher richtig, wirft aber nur selten Probleme auf. Grundsätzlich nämlich sind zumindest alle jene Nonnen Recht, die gerichtsfahig sind 30. Ob sie dann ihrer Herkunft nach in Sitte, Moral, Religion oder in einer "primär rechtlichen" Gewohnheit gründen, ist für den Rechtsbegriff belanglos. Die Qualität als Recht könnte allerdings noch an der fehlenden Nonnqualität der nicht gebietbaren Irlhalte scheitern. Gründe, die Nonnqualität in Frage zu stellen, gibt es viele. Unter vielen Gesichtspunkten entspricht das schriftlose 28 Diese ,,Krücken" können, blickt man in der Sache besser durch, fortgeworfen werden. 29 Wilhelm Ehel. Worüber der Richter nicht richten soll. Zur Bedeutung der Alten Soester ,Gerichtsordnung, in: ders., Rechtsgeschichtliches aus Niederdeutschland, Göttingen 1978, S. 17-194; Landwehr (Fn. 14), S. 1-37. 30 Weitzel. Dinggenossenschaft (Fn. 10), S.41-50.

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Recht nicht dem, was wir heute gemeinhin unter einer Rechtsnorm verstehen. Die wichtigste Divergenz scheint mir jedoch in dem Unvermögen zu bestehen, sich das Recht abstrakt als erzwingbar zu denken. Zunächst will ich jedoch andere solcher "Hindernisse" der Normativität einbeziehend - die Frage erörtern, ob man die Inhalte des schriftlosen Rechts allgemein als ,,Normen" oder aber (nur) als ,,Regeln" bezeichnen sollte. Mir scheint dies eine nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu treffende Festlegung zu sein. In der Sache geht es darum, ob man - wie bei "Staat", "Stadt", "Urteil" und anderen Begriffen mehr variierende Inhalte genetisch einheitlicher Erscheinungen mit unterschiedlichen Bezeichnungen belegen soll oder nicht. Grundsätzlich scheint mir eine begriffliche Doppelung nur als Sonde sinnvoll, soweit ein Gegenstand in seiner Andersartigkeit überhaupt erfaßt, beschrieben und in das Bewußtsein der Forschenden gehoben werden muß. Ist aber die Andersartigkeit im genetischen Zusammenhang erfaßt, so empfiehlt es sich, zu einer einheitlichen Bezeichnung zu finden. Daran, daß die Inhalte des schriftlosen mittelalterlichen Rechts - soweit eben solche bestehen - genetisch zu dem gehören, was wir heute als Rechtsnorm bezeichnen, gibt es keinen Zweifel. Es geht also gerade darum, die Andersartigkeit mittelalterlicher Normativität zu erfassen und zu beschreiben. Dies ist bereits verschiedentlich geschehen 31 • Als regelhaft, doch nicht in der Art eines hypothetischen Urteils konditionierend, als vorgeprägte Strukturen wiederholend und abweichendes Verhalten sanktionierend, wurde das schriftlose Recht beschrieben. Auch als anschauungsgebunden verallgemeinernd, nicht abstrakt generalisierend, als eher zu- und bei-, denn unter- und überordnend, als nicht scharf von der Welt der Fakten abgehoben, sondern nach dem Bewußtsein der Zeitgenossen in ihnen - eben ais "konkretes" Recht - ruhend. Das Rechtsdenken ist auf das Verfahren hin ausgerichtet, es entbehrt einer die Fülle der Lebenserscheinungen kategorisierenden, zertrennenden und in ein abgelöstes Denksystem umsetzenden scharfen Begrifflichkeit. Rechtssystem und Rechtsordnung im heutigen Verständnis fehlen aber auch deshalb, weil manche Lebensbereiche ausschließlich durch die Vertragspraxis (z. B. im Ehegüterrecht) gestaltet werden und für wieder andere mangels bisheriger Konfliktträchtigkeit ein Bewußtsein ihrer Rechtlichkeit noch gar nicht entwickelt wurde 32 • Auch aus dieser, einer stark rechtsethnologisch abgestützten Perspektive erweist sich, daß der Konflikt eine eigenständige rechtstheoretische Größe ist und daß das zu seiner Bewältigung entwickelte gerichtliche Verfahren nicht nur "auf Streiterledigung in geordneten Bahnen gerichtet" 33, sondern zugleich objektiv Recht hervorzubrin31 Vgl. Kroeschell (Fn. 16); ders., Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, in: Probleme des 12. Jahrhunderts (=VuF 12), Sigmaringen 1968, S. 309-335; Gerhard Dilcher in diesem Band; Weitzel, Dinggenossenschaft (Fn. 10), S. 1333-1357; ders., (Fn. 5), S. 20-37; ders., Deutsches Recht (Fn. 10). 32 Vgl. den Beitrag von Gerhard Dilcher in diesem Band. 33 Dieter Werkmüller, Besprechung zu Weitzel, Dinggenossenschaft (Fn. 10), ZRG GA 106 (1989), S. 351-362,362.

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gen geeignet ist. Das nicht mehr unstreitig konsentierte Recht steht nun aber in der Strategie der Konfliktbewältigung dem erst durch das Verfahren zu hebenden Recht gleich. Es gibt nur eine Form der gerichtlichen Auseinandersetzung. Das läßt darauf schließen, daß beide Probleme sich auch im Bewußtsein der Zeitgenossen einheitlich dargestellt haben. Der Kernpunkt der einheitlichen Wertung liegt in der Abwesenheit der Vorstellung, es bestünden in Konfliktsituationen irgendwelche die Parteien außerhalb der gerichtlichen Entscheidung verpflichtenden, also abstrakte Normen (fort). Dies wiederum ist, was das "Zerbrechen von Recht" angeht, die Konsequenz dessen, daß Recht nur im Konsens, nur in genossenschaftlicher Gleichwertigkeit lebt, nur von innen verpflichtet, bei Dissens also nur noch gleichwertige Rechtsmeinungen einander begegnen. Über den Meinungen gibt es nur noch die Pflicht "zu Recht zu stehen"34. Das mittelalterliche schriftlose Recht ist also Überzeugungsrecht. Die noch nicht bewußt gewesene oder aber die streitige, im Konflikt zerbrochene Rechts"gewohnheit" wird im Verfahren (erneut) geschaffen. Die frühere Übung ist in der Tat nicht Geltungsgrund. Sie kann bestanden haben oder nicht, sie kann als rechtliche bewußt geworden sein oder nicht. Entscheidend ist nur der gegenwärtige Konsens der Genossen im Gericht, auf den die Parteien verpflichtet werden. Das Urteil ist zugleich Konkretisierung des nur im Wort vorübergehend objektivierbaren Rechts und Streitbeilegung im Einzelfall. Rechtskonkretisierung meint dabei nicht den Vollzug einer abstrakten Rechtsnorm, also die sogenannte Fallnormschöpfung, sondern die Rolle des Prozesses für die Gewinnung der Objektivierung des Rechts im Wort. Selbst wenn eine Rechtsaufzeichnung besteht, so gewinnt die Entscheidung ihre Geltung nach den Regeln der Oralität nicht aus einer Ansammlung von Buchstaben, die den Urteilern nichts sagen, sondern aus dem Konsens der Urteilenden, der zwar inhaltlich mit dem Buchstaben übereinstimmen mag, aus denen aber ihr gegenwärtiges Wort nicht seine Autorität bezieht. Eine Ausnahme mögen hier in gewissem Umfange göttliche Normen, die Gebote der Bibel machen, deren Verwaltung zugleich oder in erster Linie einem schriftkundigen Rechtsstab anvertraut ist. . Die Objektivierung des Rechts im Wort der Gerichtsgemeinde gilt zunächst einmal für die und in der gerichtlichen Entscheidungssituation. Es besagt dies per se nichts dazu, ob, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen die zur Bewältigung des Konfliktes betriebene Objektivierung des Rechts von Bestand ist, also über die Einzelentscheidung hinaus rechtsbildend wirkt, normativen Charakter entwickelt. Man wird dies grundsätzlich verneinen müssen. Im Prinzip ist das Urteil nicht Norm, kann es nicht sein, da es selbst den Regeln der Mündlichkeit unterliegt. Immerhin aber ist es ein aus dem Fluß der Erscheinungen herausragendes Element der Rechtsbildung, vornehmlich dann, wenn es geboten und vollstreckt wird 35. Es kann also Recht "bewußt machen", handlungsanleitend, 34 Hermann Krause, Mittelalterliche Anschauungen vom Gericht im Lichte der Formel: iustitiam facere et recipere, Recht geben und nehmen, München 1974.

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nonnstabilisierend und -korrigierend, damit auch nonnbildend wirken, vornehmlich dann, wenn eine dichte Abfolge gleichlautender Entscheidungen ergeht. Der prozessuale Konsens jedoch muß jeweils neu hergestellt werden. Selbst in Kenntnis eines sogenannten Reichsweistums, einer Urteilsfonn, an der die aufgezeigte Problematik seit längerem diskutiert wird, muß im nächsten gleichliegenden Fall die Objektivierung des Rechts wieder mitvollzogen werden. Der König kann (im 13. Jahrhundert) zwar unter Hinweis auf ein älteres Weistum eine dessen Rechtsgehalt entsprechende Verhaltensweise gebieten 36, er kann aber nicht einen konkreten Streit durch Hinweis auf ein früheres Urteil gebietend entscheiden. Vollstreckungsgrundlage war ein gebietbares und gebotenes Urteil, d. h. daß die Objektivierung des Rechts im Urteil jeweils neu vollzogen werden mußte und damit auch die Rechtslage jeweils neu in Frage gestellt werden konnte. Versuche, durch besonders hervorgehobene, die Rechtsfrage als solche betreffende Urteile wie auch durch die Aufzeichnung oder die rechtssatzähnliche Darstellung einer Vielzahl von Urteilen Rechtssätze einzuschärfen und "auf Dauer zu stellen", hat es im Laufe des fränkisch-deutschen Mittelalters immer wieder gegeben. Die Lex Salica und die Lex Frisionum stellen sich selbst als solche Aufzeichnungen dar, das Gottesurteil von Steele 938 über das Erbrecht der Enkel 37 war ein solcher Versuch, und die Reichsweistümer werden ebenfalls den Übergang zu einer dauerhaften Objektivierungsfonn des Rechts gesucht haben. Sie alle sind den Gesetzen der Mündlichkeit erlegen. Es wäre dem Sachsenspiegel, der gleichfalls spruchfönnige Rechtsgewohnheit als allgemeine Rechtssätze formuliert, wohl dasselbe Schicksal beschieden gewesen, hätte er nicht unter dem Einfluß der Rezeption eine neue Qualität als autoritatives Schrift- und Kaiserrecht gewonnen 38 • Aber damit sind wir bereits im 14. Jahrhundert, in dem auch andere Spruchsammlungen ihres konkreten Bezuges entkleidet wurden und in die Rolle autoritativer Nonntexte hineinwuchsen 39. Es bleibt die Frage, ob man dem unproblematischen, schlicht konsentierten Vollzug der Lebensordnung Rechtsnonnen ablauschen kann und sollte 40. Ich denke ja. Freilich ist der Gegensatz zwischen Nonn und Faktum hier auf das 35 Auslösend Bernhard DiesIelkamp, Reichsweistümer als normative Quellen?, in: Recht und Schrift im Mittelalter (=VuF 23), Sigmaringen 1977, S. 281-310. 36 DiesIelkamp (Fn. 35), S. 292 ff., 302 ff. 37 Widukind, Sächsische Geschichten, übersetzt und bearbeitet von P. Hirsch, 5. Aufl., Leipzig 1931, S. 72 f.; Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte I, Reinbek 1972, S.143. 38 Karl Kroeschell, Rechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit: Das Beispiel des Sachsenspiegels, in: Recht und Schrift (Fn. 35), S. 349 - 380. 39 Man denke nur an den Alten Kulm; vgl. Friedrich Ebel, Kulmer Recht - Probleme und Erkenntnisse, in: 750 Jahre Kulm und Marienwerder, hg. v. B. Jöhnig und P. Lelkemann, Münster 1983, S. 9-26. 40 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 112: Das deutsche Recht sei nicht Norm, sondern "lediglich Sinngehalt des beurteilten Lebensverhältnisses" .

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Äußerste reduziert, liegen Recht und Sein nahezu in einem 41. Es kann gleichwohl, soweit überhaupt nur die Gerichtsfähigkeit bestimmter Verhaltensbereiche erfahren worden war, kein Zweifel bestehen, daß damit auch ein Bewußtsein von ihrer Rechtlichkeit einkehrte. Die Norm oder Regel hatte keine das Leben, das Denken und das Verhalten absolut zwingende Kraft - da man sich ihr mit der Chance, im genossenschaftlichen Verfahren die maßgebliche Mehrheit zu gewinnen, entziehen konnte - , doch gestaltete die in der Gewohnheit zutage tretende Rechtsüberzeugung das Leben mit. Die dem Gericht zugänglichen Normbereiche sind ausweislich des Quellenmaterials sehr weitläufig, sie decken - soweit wir dies heute überblicken - zwar nicht alle, wohl aber viele wesentliche Lebensbereiche ab. Daß diese ,,Regeln" nur mittelbar, nach einer förmlichen Abklärung ihrer gegenwärtigen Anerkennung durch die Gemeinschaft zwangsweise durchsetzbar sind, daß sie zunächst nur im Sozialbereich leben, vielleicht sogar häufig ihre Behauptung schon mit dessen Mitteln (Druck, Lächerlichmachen, Verachtung, Minderung des Ansehens) sicherstellen 42 , schließt die Normqualität nicht aus. Unser heutiger, die Abgehobenheit der Rechtsregel von den ihr zugeordneten Lebenssachverhalten so betonender Begriff der Normativität ist eben ein spezifisches Produkt des Schriftrechtes als einer von der unmittelbaren Lebenserfahrung abgehobenen, in sich bearbeitbaren und eigene Gesetzinäßigkeiten entwickelnden Ordnung. Es handelt sich um positivistischen Normativismus, der nicht zum Maßstab des vorpositiven Rechts gemacht werden darf. Andere Disziplinen hätten wohl kaum Bedenken, im zunächst undifferenziert scheinenden Lebensvollzug moralische, religiöse und soziale Normen auszumachen. Während die Existenz von Verfahrensnormen allgemein anerkannt wird, findet sich die Auffassung, daß es dem schriftlosen mittelalterlichen Recht grundSätzlich oder doch weithin an materiellen Normen fehle 43 • Wo es aber materielle Rechtsgrundsätze nicht gebe, könne das Recht im Konflikt auch nicht "zerbrechen"44. Diese Ansicht stützt sich in erster Linie auf das Erscheinungsbild der mittelalterlichen Urteile und des Verfahrens, bezieht daneben die "für den Erfolg des Rechtsgeschäfts" zu beachtenden (Abschluß-)Formen ein. Zusammenfassend wird gesagt, der mittelalterliche Rechtsbegriff sei formal-prozessualer Qualität. Im materiellen Recht hätten sich "aus Geschäft und Urteilsspruch feste Vorstellungen 41 Franz Wieacker, Eigentum und Eigen, Dt. Recht 1935, S. 496-501, 496: Unter gewissen Bedingungen sei das Leben "schon vor der Normierung durch positive Regel Recht und Sein zugleich". - Das schriftlose Recht ist dann wohl Recht vor der Normierung durch positive Regel, also vorpositive Norm. 42 Dies ist ein Gesichtspunkt, der an die im übrigen sehr zutreffenden Überlegungen von Gunter Gudian, Zur Charakterisierung des deutschen mittelalterlichen Schöffenrechts, in: FS Helmut Coing I, München 1982, S. 113 -127 noch herangetragen werden müßte. 43 Karl Kroeschell, Rechtsfmdung. Die mittelalterlichen Grundlagen einer modemen Vorstellung, in: FS Hermann Heimpel m, Göttingen 1972, S. 498-517; ders. (Fn. 37), S. 267 f.; ders., Deutsche Rechtsgeschichte 11, Reinbek 1973, S. 84-86, 122-125. 44 Nehlsen-v. Stryk (Fn. 21), S. 218.

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von dem, was gilt," erst herausgebildet. Dies wird wohl als ein im 12. Jahrhundert einsetzender gestreckter Vorgang gesehen 45 • Soweit diese Auffassung über regionenspezifische Einzelbereiche - z. B. das oben erwähnte Ehegüterrecht - hinaus und aus prinzipiellen Erwägungen heraus die Existenz materieller Rechtssätze leugnet, vermag sie nicht zu überzeugen. Die ,,Normendichte" wird vielmehr nach Sachgebieten, möglicherweise auch nach der Leistungsfähigkeit der einzelnen Gerichte (überhöfe) unterschiedlich sein 46 • Die Bedenken können dahingehend zusammgefaßt werden, daß von der Formalität des Verfahrens, insbesondere vom vorwiegend formalen Beweisrecht her, zu schnell auf einen Mangel an inhaltlichen Richtigkeitsvorstellungen geschlossen wird. Warum ein Zeitalter vorwiegend formal-verfahrensrechtlich, ein anderes vorwiegend inhaltlich-materiellrechtlich denkt, das ist im Detail noch nicht herausgearbeitet worden. Es dürfte dies aber zumindest auch mit dem hier erörterten Problem der Verschriftlichung von Recht zusammenhängen. Abzulehnen ist die Auffassung, "am Anfang" habe es nur Verfahrensrecht gegeben. Es gab vielmehr ein Recht, das Verfahren und materielles Recht nicht trennte. Erscheinungsmäßig steht dann das prozessuale Recht im Vordergrund. Zum ersten: Soweit der Spruch nichts über inhaltliche Rechtssätze und über die Ermittlung der sogenannten materiellen Wahrheit aussagt, bedeutet dies nicht, daß es keine inhaltlichen Rechtsvorstellungen gegeben hätte. Es bedeutet nur, daß die Entscheidung in formalisierte, meist auf Beweisführung und Beweislast abstellende Überlegungen "eingepackt" wird. Auch hinter dem reinen, sogenannten zweizüngigen Beweisurteil stehen inhaltliche Vorstellungen davon, was man einem anderen antun durfte, unter welchen Voraussetzungen einem ein Gut zustand oder doch jedenfalls eher als einem anderen zukam und anderes mehr. ühne solche materiellrechtlichen Gesichtspunkte ist eine Entscheidung über Beweisführungsrecht bzw. Beweislast gar nicht möglich. Es ist zudem nach heutigen Vorstellungen keineswegs so, daß die Beweislastregeln eindeutig und unbestritten (nur) dem Verfahrensrecht zugerechnet würden. Die einen sehen in ihnen formelles, die anderen materielles Recht. Eine vermittelnde Ansicht sieht sie als genuin materielles Recht, das jedoch funktional dem Prozeßrecht zuzuordnen sei 47. Das formale mittelalterliche Beweisrecht beruht wesentlich auf einer vorweggenommenen Würdigung materieller Gehalte 48 , wobei sich die Würdigung in einem Vgl. Kroeschell (Fn. 31,43). Weitzel, Deutsches Recht (Fn. 10), Sp. 780. Man vgl. nur die so augenfälligen, von ganz spezifischen lokalen Entwicklungen abhängigen Unterschiede in der Leistungsfähigkeit etwa des Ingelheirner, Frankfurter und Basler Gerichts (Oberhofs) im 15. Jahrhundert. GUliian (Fn. 23), S. 3 f.; Hans-Rudolj Hagemann, Zur Krise spätmittelalterlicher Schöffengerichtsbarkeit, in: FS Karl Kroeschell (Fn. 20), S. 89-99. 47 Vgl. Leo Rosenberg , Die Beweislast, 5. Aufl., München 1965, S. 5, 77 - 89; Stein / Jonas / Leipold, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 20. Aufl., Tübingen 1977 ff., § 286 Rdnr. 54 ff. 48 Die von Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte 11, S. 124 zitierte Äußerung Wilhelm Ebels, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, 2. Aufl, Göttingen 1958, 45

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"Stärkevergleich" des beiderseits als wahr unterstellten Parteivorbringens erschöpfen kann. Zu diesem Gesichtspunkt treten dann noch die der Integrität der Parteien und der Stärke der von ihnen angebotenen Beweismittel 49. Zum zweiten: Soweit der Spruch selbst materielles Recht nicht erkennen läßt, bedeutet dies keineswegs, daß im gesamten Verfahren nirgendwo materielle Rechtssätze zur Sprache gekommen wären so. Da Recht und Faktum im Mittelalter nicht streng geschieden werden, enthält durchweg bereits der Parteivortrag rechtliche Wertungen(Urteile)51. Es kann nun zwar im Einzelfall fraglich sein, ob sich gerade die in concreto vertretene Auffassung als Nonri erweist. Hat sie im Verfahren Bestand, so kann man dies jedoch annehmen, und generell gesehen liegen hinter solchen Wertungen allemal materielle Vorstellungen. Derartige Normen müssen freilich unserem heutigen Verständnis von einem "Tatbestand" nicht genügen. So weist Gerhard Dilcher 52 treffend darauf hin, daß wohl "die Art des Rechtsbruches" eine inhaltlich ,,Norm" darstelle. Zum anderen sind die Klage begleitende typisierte Bezeichnungen des Unrechts, z. B. das malo ordine posidere des fränkischen Liegenschaftsstreites, bekannt, die eine ganze Palette von Normverstößen abdecken. Auch der Bericht Widukinds von Corvei über das Gottesurteil von Steele 938 bringt klar zum Ausdruck, daß es - in diesem Falle einander widerstreitende - normative Vorstellungen vom Erbrecht der Enkel gab. Daß den Reichsweistümem normative Rechtsvorstellungen zugrunde liegen, ist unbestritten 53 . Desgleichen die Verbindlichkeit der seit dem 13. Jahrhundert aufkommenden ländlichen Weistümer 54. Und schließlich S. 15, das Urteil sei "die im Gericht gefundene Aussage über die Rechtslage, die Feststellung des in dieser Lage zu beachtenden Rechts", zielt m. E. nicht auf die Frage des fonnalprozessualen Charakters des Rechts ab. Sie zielt vielmehr auf den Gegensatz zwischen Urteil und Leistungsbefehl. "Das gennanische Urteil ist eine Rechtweisung" . 49 Alexander 19nor, Integrität und Indiz. Anmerkungen zum Gerichtsverfahren des Sachsenspiegels, in: Ruth Schmidt-Wiegand, (Hg.), Text-Bild-Interpretation. Untersuchungen zu den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, München 1986, S.77-91; Jürgen Weitzel, Beweis, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Rechtsgeschichte; Dieter Werkmüller, ,,Et ita est altercatio finita". Ein Beitrag zum fränkischen Prozeß, FS Karl Kroeschell (Fn. 20), S. 593 -606, 603 ff., der allerdings gegen Rudolf Hübner die in und hinter den Tatsachenbehauptungen liegende materiell-rechtliche Dimension verdrängt (insb. beim Erbrecht). 50 Heute mag manches Urteil den Eindruck erwecken, es gebe kein Verfahrensrecht - und doch ist es (meist) nach den Regeln der ZPO zustande gekommen. - Was Werkmüller (Fn. 49), S. 605 unter rn. 2. zusammenfaßt, gilt nur für den Prozeß im Sinne des äußeren Erscheinungsbildes. Es trifft nur die Struktur des Prozesses, nicht aber die des Rechts (insgesamt). 51 Weitzel (Fn. 11,20); ders., Urteil, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Rechtsgeschichte. 52 In diesem Band. 53 Vg1. auch den Urteilsbericht der Annales Stadenses zum Jahre 1112, bei Kroeschell (Fn. 37), S. 176 f. 54 Vgl. Dieter Werkmüller, Gewohnheitsrecht in deutschen Weistümern, in: La Coutume (Fn. I), S. 311- 324, 320. 6*

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hat Gunter Gudian in seinem ,Jngelheimer Recht" und haben viele andere in weniger umfangreichen, doch vergleichbaren Untersuchungen materielle Rechtssätze nicht nur den "Tenores", sondern dem Spruchmaterial insgesamt "abgelauscht". Das Ingelheimer Material stammt freilich aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts und ist damit, was insbesondere die Frage nach der Qualität seines ,,Rechtssystems" angeht, nicht für das Mittelalter typisch 55. Zudem dürfte das "System" - vom Beweisrecht abgesehen - doch eher aus weiten, lapidaren, einfachen und rudimentären Sätzen bestanden haben 56. Zum dritten: Das Überwiegen der (meist zweizüngigen) Beweisurteile gegenüber den inhaltliches Recht eher erkennbar machenden (materiellen) Endurteilen ist Ausdruck einer in der Ausformung von Staatlichkeit und Rechtszwang noch nicht so weit fortgeschrittenen Rechtskultur. Ihrer eigengearteten Folgerichtigkeit werden wir nur bruchstückhaft ansichtig. Es hat allerdings schon in fränkischer Zeit auch materielle Endurteile, das zu ihnen führende schlichte Beweisurteil und auch die Zulässigkeit des Gegenbeweises gegeben 57. Und es gab den von vornherein auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit, also inhaltlicher Positionen zielenden Inquisitionsbeweis. Im Niedergang des Karolingerreiches geht dieses fortgeschrittene Rechtsniveau verloren, um (in Deutschland) seit dem 13. Jahrhundert wiedergewonnen zu werden. Da nun offenbar zwischen dem Beweisrecht und der Erkennbarkeit materieller Rechtssätze ein Zusammenhang gegeben ist, bestehen Zweifel daran, daß die Rechtskultur im Mittelalter generell und im frühen Mittelalter im besonderen, derart weitgehend archaisiert worden wäre, daß sie ein materielles Rechtsverständnis gar nicht mehr hätte tragen können. Diese Bedenken werden, zum vierten, auch dadurch gestützt, daß es im christlichen Mittelalter in der Kirche stets eine schriftkundige Institution gegeben hat, die an Hand von Texten materielle Rechtssätze kannte und lehrte. Das gilt nicht nur für den religiös-moralischen Aspekt, sondern weitgehend auch für den Bereich des kirchlichen Vermögens- und Organisationsrechtes 58 • Angesichts des kirchlichen Einflusses und des weitgehenden Hineinwirkens kirchlicher Lehre auch in Lebensbereiche der Laien, war diesen die Erfahrung des allgemeingeltenden "Du sollst" keineswegs unbekannt. Das allgemeine Verhaltensgebot hatte in der Laienperspektive lediglich eine andere Geltungs- und Durchsetzungsstruktur. Gerade die Punkte 3-5 unserer Überlegungen zeigen, daß das fränkisch-deutsche Mittelalter nicht mit beliebigen archaischen Gesellschaften in eins gesetzt werden darf. Vgl. auch Fn. 46. Gudian (Fn. 42), S. 114 ff. 57 J. Müller-Volbehr, Beweis, Reallex. Germ. Altertumskunde, 2. Aufl., 11 S.483487; Rudolf Hübner, Gerichtsurkunden der fränkischen Zeit I, ZRG GA 12 (1891), Anhang S. 1-118; Werkmüller (Fn. 49), S. 600 f., 604; Weitzel, Dinggenossenschaft (Fn. 10), S. 260 ff.; ders., Beweis (Fn. 49); DD Kar I 63, 65, 110, 138, 148; die Urteile bei Kroeschell (Fn. 37), S. 90 f. (807) und 101 f. (818). 58 Vgl. hierzu den Beitrag von Udo Wolter in diesem Bande, vornehmlich These 6 der Zusammenfassung. 55

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Schriftkultur und Hochreligion waren nicht gänzlich unbekannt, sondern nachhaltig geschwächt. Zum fünften schließlich waren aufgezeichnete Rechtssätze auch außerhalb der Bibel nur wenige Jahrhunderte "gänzlich" unbekannt. Ganz abgesehen davon, welche Rolle sie vor Gericht gespielt haben, bestand doch - in kirchlichen Grundherrschaften offenbar stets - die Fähigkeit, außerhalb des Verfahrens materielle Rechtssätze zu formulieren. Besonders ausgeprägt ist diese Fähigkeit zudem im 13. und 14. Jahrhundert, deren Sprüche nach KroeschelJS9 "fast alle derartige Beweisurteile" sind. Ein Schöffe wie Eike von Repgow konnte also beides: Er konnte Beweisurteile und die hinter ihnen stehenden materiellen Rechtssätze formulieren.

IV. Zusammenfassung in Thesen 1. Die consuetudo-Theorien der gelehrten Rechte deuten schriftloses Recht (nur) innerhalb textzentrierter herrschaftsgetragener Rechtsordnungen. 2. Schriftlose, im regime coutumier lebende Kulturen bilden eine eigenständige Konzeption des schriftlosen Rechts, der Rechtsgewohnheiten, aus. Sie ist im fränkisch-deutschen Mittelalter zugleich genossenschaftlich geprägt. 3. In "gemischten" Kulturen wird die minoritäre Objektivierungsform des Rechts durch die überwiegende qualitativ verformt: überwiegende Schriftlichkeit "erklärt" Mündlichkeit nach den für Schriftrecht geltenden Regeln, überwiegende Mündlichkeit deutet Schriftrecht nach den für die Mündlichkeit geltenden Mustern (um). 4. Hauptmerkmale des von den Regeln der Mündlichkeit bestimmten mittelalterlichen Rechts sind: a) es ist häufig aus der Lebensordnung nicht herausgehoben, b) Objektivierung als ,,Recht" erfährt es im Medium Sprache, im Wort, c) es gilt nur im Konsens, ist also geltungsschwach. 5. Der Konsens ist entweder unbestritten (,,konsentierte Ruhelage des Rechts") oder er ist zerbrochen. Mit ihm das (objektive) Recht. Dies zunächst nur zwischen den Parteien, doch anerkennt die Rechtsgemeinschaft den Zustand als Mangel des Rechts (Fehdeberechtigung, Struktur der gerichtlichen Willensbildung). 6. Das Recht zerbricht deshalb im Konflikt, weil es keine jenseits der gespaltenen Rechtsmeinung stehende Objektivierung kennt (insb. keinen Normtext) und auch eine (herrschaftliche) Instanz fehlt, die ,,Richtigkeit" autoritativ feststellen könnte. Ausnahmen im Bereich göttlichen Rechts, althergebrachter Formen und des strukturell eigengearteten Kriminalrechts. 59

Deutsche Rechtsgeschichte 11, S. 125.

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7. Der Konsens und mit ihm das Recht werden im gerichtlichen Verfahren, einem mit Zwangselementen angereicherten Willensbildungsprozeß aller Beteiligten - auch der Parteien - (wieder-)hergestellt. Anders die Vorstellung im Kriminalverfahren. 8. Das Rechtsbewußtsein der von Mündlichkeit geprägten Kulturen trägt deshalb eine auf das gerichtliche Verfahren hin orientierte Gestimmheit in sich, die auf das Verständnis des Rechts "in Ruhelage" ausstrahlt. Das Verfahren steht als Konfliktlösungsinstrument, in dem sich Recht "bewähren" muß, im Zentrum der Rechtsvorstellung ("Verfahrensaspekt des Rechts"). 9. Der Spruch ist zugleich Konkretisierung des nur im Wort vorübergehend objektivierten Rechts und Streiterledigung im Einzelfall. 1O.Rechtskonkretisierung meint dabei nicht den Vollzug einer abstrakten Rechtsregel, sondern die Rolle des Prozesses für die Gewinnung des objektiven Rechts im Wort der Gerichtsgemeinde. Es gibt also keine sogenannte Fallnormschöpfung. 11. Unter diesen Bedingungen ist das gerichtliche Verfahren nicht nur "auf Streiterledigung in geordneten Bahnen gerichtet", sondern es schafft vielmehr jedenfalls für die und in der gerichtlichen Entscheidungssituation objektives Recht. 12. Das gebotene Urteil ist nicht Norm. Es ist jedoch ein aus dem Fluß der Erscheinungen herausragendes Rechtsbildungselement.

Die "consuetudo" im kanonischen Recht bis zum Ende des 13. Jahrhunderts Von Udo Wolter

I. Einführung Nach dem Konzept der Sektion soll hier das Kontrastprogramm vorgetragen und gegen die Theorie von den Rechtsgewohnheiten die Theorie vom Gewohnheitsrecht oder - weniger dogmatisch im Sinne des 19. Jahrhunderts - die Lehre von der consuetudo dargestellt werden. Gegenstand der Betrachtung soll das kanonische Recht sein. Diese Auswahl hat sicher ihre Berechtigung. Denn die Kirche und ihre Juristen haben in einem langwierigen, sich über Jahrhunderte erstreckenden Denk-, Arbeits- und Entscheidungsprozeß eine umfassende Rechtsquellenlehre und - darin eingeschlossen - eine Lehre von der consuetudo entwickelt, die so bedeutsam ist, daß sie mit großem Nutzen zu vergleichenden Zwecken herangezogen werden kann 1. Nicht vergessen werden sollte allerdings das römische Recht. Dieses hat ebenfalls eine eindrucksvolle Lehre von der consuetudo geschaffen, die seit dem Hochmittelalter von den Glossatoren und Kommentatoren wissenschaftlich entfaltet worden ist. Auch sie sollte an sich als komparatives Gegenmodell dienen. Schon aus zeitlichen Gründen kann sie jedoch hier nicht gründlich dargestellt werden. Trotzdem soll das römische Recht nicht unbeachtet bleiben. Denn bei der Darstellung des kirchlichen Rechts kommt man ohne einen Blick auf das römische Recht nicht aus. Bekanntlich baut jenes Recht in erheblichem Umfang auf diesem auf; in der Parömie ecclesia vivit iure Romano hat diese Tatsache in prägnanter Weise Ausdruck gefunden. Für die kirchliche Lehre von der consuetudo gilt das in besonderer Weise. Schon der "Vater" dieser Theorie, Tertullian, beruft sich auf das römische Recht, und der "Vater" des kirchlichen Rechts, Gratian, macht in seinem ,,Dekret" davon ausdrücklich Gebrauch 2• 1 Vgl. Jean Gaudemet, La coutume en droit canonique, Revue de droit canonique 38 (1988), S. 224-251, hier 224 f. Die Abhandlung ist wortgleich abgedruckt in: La Coutume / Custom. Deuxieme partie / Second Part: Europe occidentale medievale et moderne / Medieval and Modern Western Europe (Recueils de la Societe lean Bodin pour I 'histoire comparative des institutions / Transactions of the lean Bodin Society for Comparative Institutional History . LU), Bruxelles 1990, S. 41 - 61. Im folgenden wird nur nach der erstgenannten FundsteIle zitiert. 2 S. unten ill. 1. und IV.

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Deshalb soll zunächst - natürlich nur in aller Kürze - die römischrechtliche Lehre betrachtet werden (11.). Das Schwergewicht wird dann beim kirchlichen Recht liegen. Dabei wird der historische Entwicklungsgang der kanonistischen Lehre nachgezeichnet werden, und das wird in drei Stufen geschehen: die Zeit des ersten Jahrtausends, in der die Gewohnheiten dominieren und die ersten Versuche einer theoretischen Erfassung gemacht werden (111.), das Dekret Gratians um 1140, in dem auf der Basis der Rechtsregeln und der Rechtsmeinungen der früheren Zeit die wissenschaftlichen Bausteinen der kirchlichen Lehre geschaffen werden (IV.), und schließlich das 12. und 13. Jahrhundert, die sog. klassische Zeit der Kanonistik, in der die Kirchenrechtswissenschaft und die päpstliche Gesetzgebung Hand in Hand mit diesen Bausteinen ein spezifisches kirchenrechtliches Theoriegebäude errichten, das in seiner Substanz bis heute fortbesteht (V.). Es handelt sich um die beiden Phasen der Entwicklung der kirchenrechtlichen Gewohnheitsrechtsdoktrin, die Jean Gaudemet, einer der profundesten Kenner dieser Materie, mit den Begriffen "Une societe coutumiere" und ,,La doctrine canonique classique" bezeichnet; die dritte, vor allem von der Spätscholastik geprägte Phase, von ihm "La coutume controlee" genannt,3 muß hier als nicht zum Gesamtthema der Sektion gehörig außer Betracht bleiben.

11. Das römische Recht Während im Altertum Philosophen und Rhetoren sich schon lange mit den Sitten und Gewohnheiten der Menschen und deshalb auch mit dem heute Gewohnheitsrecht genannten Bereich befaßt hatten, entwickelte sich im rechts wissenschaftlichen Schrifttum offenbar erst recht spät eine Theorie von der consuetudo, nämlich im 2. oder gar erst 3. nachchristlichen Jahrhundert. In der Literatur zum römischen Recht ist streitig, ob bereits die hochklassischen Juristen die consuetudo als Rechtsquelle, dh als Mittel der Rechtsschöpfung und Rechtserkenntnis wie das Gesetz, betrachtet hätten. Schmiedel hat es 1966 in seiner Freiburger Dissertation als ein gesichertes Ergebnis der neueren Romanistik dargestellt, daß dies nicht der Fall sei, sich also eine Gewohnheitsrechtslehre erst in der Nachklassik gebildet habe4, und er hat später die Unterstützung von Flume 5 erhalten; neuerdings hat sich Walter Selb dieser Auffassung angeschlossen. 6 Die GegenpoGaudemet (Fn. 1), S. 225. Burkhard Schmiedei, Consuetudo im klassischen und nachklassischen römischen Recht, Graz/Köln 1966 (Forschungen zum römischen Recht, 22. Abh.), S.l f., S.42 Fn.2. 5 Werner Flume, Gewohnheitsrecht und römisches Recht, Opladen 1975 (RheinischWestfälische Akademie der Wissenschaft. Vorträge G 201), S. 9 f. 6 Kunkel! Selb, Römisches Recht. Aufgrund des Werkes von P. Jörs! W. Kunkel! L. Wenger in Vierter Auflage neubearb. v. H. Honsell! Theo Mayer-Maly! W. Selb, Berlin / Heidelberg u. a., 1987 (Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft: Abt. Rechtswissenschaft), § 2 m, S. 3. 3

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sition haben u. a. Theo Mayer-Maly7, Dieter Nörr 8 und Wolfgang Waldstein 9 vertreten. 10 Es kann und soll keine Einmischung in diese Kontroverse wegen mangelnder Kompetenz erfolgen, geschweige denn, der Versuch gemacht werden, sie zu entscheiden. Doch kommt es darauf im Zusammenhang mit unserem Thema sowieso nicht an. Denn auch Schmiedel und Flume bezweifeln ja nicht, daß auf jeden Fall seit der frühen Nachklassik um 300 n. ehr. eine Rechtsquellenlehre existiert, innerhalb derer die consuetudo nun nicht mehr - wie bisher - als bloßes Faktum zur Kenntnis genommen, sondern als Recht anerkannt wird. Und diese Lehre, gleichgültig wann sie als solche entstanden ist, soll Gegenstand der folgenden Betrachtungen sein.

1. Dogmatische Aspekte der römischen Lehre von der consuetudo Es sind vor allem zwei Fragmente, in denen die Lehre ihren Ausdruck findet: Die dem Julian zugeschriebene Stelle 1. 3. 32 sowie der Hermogenian-Text 1. 3. 35. Das erstere Fragment ist das wichtigere und am meisten diskutierte und soll deshalb näher betrachtet werden. Es hat folgenden Inhalt: 1. Das principium beschäftigt sich mit dem Municipaloder Lokalrecht. Wenn geschriebenes Lokalrecht fehlt, dann sind Rechtssätze in dieser Reihenfolge anzuwenden: Gewohnheitsrecht, ,,Analogie", Recht der Stadt Rom. 2. Der § 1 des Fragments wendet sich vom Lokalrecht ab und generalisiert: Das Gewohnheitsrecht gilt wie ein Gesetz, denn es beruht letztlich ebenso auf dem Volkswillen wie das Gesetz; dieser äußert sich in einem tacitus consensus. 3. Durch die stillschweigende Zustimmung aller werden auch Gesetze (leges) derogiert. 11 7 Theo Mayer-Maly, Gnomon 41 (1969), S. 383 ff. in einer Rezension zu Schmiedei (Fn.4). 8 Dieter Nörr, ZRG Rom 84 (1969), S. 454 ff.; FS Felgentraeger, Göttingen 1969, S. 353 -366; Divisio und Partitio. Bemerkungen zur römischen Rechtsquellenlehre und zur antiken Wissenschaftstheorie, Berlin, 1972 (Münchener Universitätsschriften. Juristische Fakultät, Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Bd. 4). 9 Wolfgang Waldstein, ZRG Rom 93 (1976), S. 358 - 369, in einer Rezension zu Flume (Fn. 5), sowie in: Gewohnheitsrecht und Juristenrecht in Rom, FS Ulrich Lübtow, Berlin 1980, S. 105-126. 10 Die römische Gewohnheitsrechtslehre ist diesbezüglich vielfach untersucht worden; eine akribische Auflistung der streitenden Autoren ist zu finden bei Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Quellenkunde, Rechtsbildung, Jurisprudenz und Rechtsliteratur , Bd. I, 1. Abschnitt: Einleitung, Quellenkunde - Frühzeit und Republik, München 1988 (Handbuch der Altertumswissenschaft: Abt. 10, Rechtsgeschichte des Altertums; Abt. 10, Teil 3), § 29 n 3 Fn. 43, S. 499. 11 De quibus causis scriptis legibus non utimur, id custodiri oportet, quod moribus et consuetudine inductum est; et si qua in re hoc deficeret, tune quod proximum et

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Wesentliche Fragen einer Lehre von der eonsuetudo, wie sie sich dann auch für das kanonische Recht gestellt haben, sind hier bereits aufgeworfen: Wer schafft eonsuetudines und welches ist damit ihr Geltungsgrund? Wie ist das Verhältnis der eonsuetudo zum Gesetzesrecht, insbesondere kann das erstere dem letzteren derogieren und welche Rolle spielt dabei die lokale eonsuetudo im Verhältnis zum allgemeinen Gesetzesrecht? Weitere Probleme sind von anderen römischen Rechtstexten angesprochen worden, wie zB der Zeitfaktor, indem etwa eine perpetua eonsuetudo gefordert wird (Dig. 3. 4. 6. pr.) oder von eonsuetudo ususque longaevus die Rede ist (eod. 8. 52. 2). Jedoch ist - anders als später im kirchlichen Recht 12 - eine bestimmte Geltungsdauer nie festgelegt worden; lediglich in dem Hermogenian-Fragment 1. 3. 35 werden die Worte ea quae longa eonsuetudine eomprobata näher erläutert durch den Zusatz ae per annos

plurimos observata.

2. Die Entstehungsbedingungen der römischen Lehre von der consuetudo Mit diesen Andeutungen über dogmatische Einzelheiten der römischrechtlichen Lehre muß es genug sein 13. Im übrigen kommt es ja in dieser Sektion sowieso nicht so sehr auf die subtilen Einzelheiten der Theorie - sowohl der römisch- als auch der kanonischrechtIichen - an. Wichtiger und interessanter erscheinen unter rechtsvergleichendem Aspekt vielmehr zunächst einmal die Entstehungsbedingungen der Theorie zu sein: Warum ist es zu einer wissenschaftlichen Theorie gekommen? Welchen Inhalt und welche Gestalt hatten nach dem Verständnis der Rechtsgenossen die Rechtsordnungen, für die sich eine Theorie von der eonsuetudo offenbar als unausweichlich erwies? Erst nach der Beantwortung dieser Fragen ist es sinnvoll, sich der weiteren, mehr dogmatischen Frage zuzuwenden: Wie ist die eonsuetudo consequens ei est; si nec id quidem appareat, tune ius, quo urbs Roma utitur, servari oportet. § 1. 1nveterata consuetudo pro lege non immerito custoditur, et hoc est ius, quod dicitur moribus constitutum. Nam eum ipsae leges nulla alia ex causa nos teneant, quam quod iudicio populi receptae sunt, merito et ea, quae sine ullo scripto populus probavit, tenebunt omnes; nam quid interest, sujfragio populus voluntatem suam declaret, an rebus ipsis et factis? Quare rectissime etiam illud receptum est, ut leges non solum sujfragio legislatoris, sed etiam tacito consensu omnium per desuetudinem abrogentur. 12 S. unten V. 2. l3 Die römischrechtliche Lehre von der consuetudo ist ausführlich dargestellt bei Georg Friedrich Puchta, Das Gewohnheitsrecht, Erster und zweiter Teil, Erlangen 1828 und 1837, Neudruck Darmstadt 1965, hier Erster Teil, S. 1-120, insb. 69 ff.; Siegfried Brie, Die Lehre vom Gewohnheitsrecht. Eine historisch-dogmatische Untersuchung. Erster Theil: Geschichtliche Grundlegung (Bis zum Ausgang des Mittelalters), Breslau 1899, Nachdruck Frankfurt/M. 1968, S. 1-58; Rene Wehrle, De la coutume dans le droit canonique. Essai historique s'etendant des origines de I'Eglise au pontificat de Pie XI, Paris 1928, S. 13-31.

Die "consuetudo" im kanonischen Recht bis zum Ende des 13. Jh.

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eingebettet worden und welchen Stellenwert hat sie in der Gesamtrechtsordnung erhalten? Die erstgenannten Fragen sollen daher im folgenden bei beiden Rechtsordnungen intensiver untersucht werden. Dabei kann man bereits im voraus als Ergebnis ansagen, daß für das römische Recht einerseits und das kirchliche Recht andererseits bemerkenswerte Unterschiede festzustellen sind. Für das römische Recht sollen und können dabei lediglich bisher veröffentlichte Forschungsergebnisse und Thesen referiert werden. Ernst Levy hat die Ansicht geäußert, das von den frühnachklassischen Autoren verteidigte Gewohnheitsrecht sei identisch mit dem Vulgarrecht und die zeitgenössische Theorie habe sich gedrängt gesehen, zum Vulgarrecht und zu seinem Wesen Stellung zu nehmen 14. Diese Auffassung hat Schmiedel mit dem Hinweis abgelehnt, daß den Juristen dieses Recht wohl noch nicht als eigenständiger Rechtskreis bewußt gewesen sei 15. Als entscheidendes Moment sieht er vielmehr die Absicht der Juristen an, gegenüber der sich ausweitenden kaiserlichen Gesetzgebung für die autonome Rechtssetzung und Rechtsbehauptung mit Hilfe einer juristischen Lehre eine gefestigte Grundlage zu schaffen; das erkläre auch die Berufung auf die Volksgesetzgebung in den Digestentexten. Hätte Schmiedel recht, so müßte man möglicherweise die Konstitution Kaiser Konstantins in Cod. 8. 52. 2, durch die für die consuetudo der Prüfungsmaßstab der ratio eingeführt wird 16, als kaiserliche Gegenmaßnahme betrachten.

Ausführlicher und vielschichtig sind die Darlegungen von Dieter Nörr 17 ; da durch sie die ganz anders gelagerte Situation im kirchlichen Recht besonders gut erhellt wird, sollen sie ausführlicher wiedergegeben werden. Nörr weist darauf hin, daß das römische Recht stets in weitem Umfang aus dem Rechtsstoff bestand, den wir heute als Gewohnheitsrecht bezeichnen, das gilt für eine Vielzahl familien- und erbrechtlicher Institute sowie vor allem für das weite Gebiet der Verkehrsgeschäfte nach dem ius gentium l8 • Und doch haben die Juristen nur selten daran gedacht, diese Rechtsinstitute auf die consuetudo oder den mos maiorum zurückzuführen. Dies hängt insbesondere mit der antiken Auffassung von der Rechtsordnung zusammen. Während der modeme Jurist immer noch geneigt ist, seine Rechtsordnung als eine Summe von aufeinander bezogenen Rechtsnormen zu sehen und das Vorbild dafür im Gesetz erblickt, besteht für den römischen Juristen das Recht "aus einer 14 Ernst Ley, Römisches Vulgarrecht und Kaiserrecht, FS Max Gutzwiller, Basel 1959, S. 65-71, hier 68 ff. 15 Schmiedel (Fn. 4), S. 64 ff. 16 Consuetudinis ususque longaevi non vilis auctoritas est, verum non usque adeo valitura momento, ut aut rationem vincat aut legem. 17 In seinem bereits zitierten (Fn. 8) Beitrag zur FS Felgentraeger ,,zur Entstehung der gewohnheitsrechtlichen Theorie". 18

Ebd. S. 354 f.

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nicht allzu gut integrierten Ordnung von Rechtsinstituten, Rechtssätzen, rechtlichen Verhaltensmustern (wie den Grundsatz von Treu und Glauben), rechtlichen Prinzipien, rechtlichen Traditionen (etwa der Fonn der mancipatio), rechtlichen Fonneln (zB den Klagfonneln des Edikts) sowie den Rechtsparömien (wie nemo plus iuris trans/erre potest quam ipse habet)." "Diese Rechtsordnung ist keine stabile, sondern eine streitbare, agonale Masse, in deren Dickicht nur wenige leges schmale Schneisen der relativen Stabilität geschlagen haben" 19. Angesichts einer so weitgehend von Gewohnheiten in einem umfassenden Sinn dominierten Rechtsordnung konnte sich eine besondere Lehre von der consuetudo nur sehr zögernd und spät entwickeln. Daß es trotzdem, wenn auch erst im 2. Jh. n. Chr., zu einer juristisch-wissenschaftlichen Erfassung gekommen ist, dafür nennt Dieter Nörr drei Gründe 20 • Zum einen hat offenbar die verlogen-pathetische Berufung auf die Tradtion und den mos maiorum in den politischen Kämpfen im 1. Jh. v. Chr. die Juristen provoziert, dagegen eine nüchterne juristische Theorie vom Gewohnheitsrecht zu setzen. Zum anderen scheint die griechische philosophisch-rhetorische Lehre von den agraphoi nomoi, aufgrund welcher mit Bezug auf den consensus omnium gegen das positive, zufällige Recht eines einzelnen Staatswesens eine allgemeine, dauerhaft angelegte Ordnung begriffen und postuliert worden ist, in einer auf die römisch beherrschte Ökumene bezogenen Weise Grundlage für die Lehre von der consuetudo geworden zu sein. Damit zusammen hängt die dritte Wurzel: Als Herren der Welt trafen die Römer auf die verschiedenartigen Rechtsordnungen der unterworfenen Völker, die weithin nicht schriftlich festgelegt waren. Die Erkenntnis, daß fremde Rechtsordnungen weithin auf Gewohnheiten beruhten, mußte den Juristen auch die Augen dafür öffnen, daß auch die spezifisch römische Rechtsordnung unter der Perspektive der consuetudo betrachtet werden konnte. Das principium der zitierten Julian-Stelle macht diesen Zusammenhang deutlich. Das Ergebnis dieser Betrachtungen der Juristen ist ein erster Schritt in Richtung auf eine systematische Rechtswissenschaft 21 • Die römische Rechtssprache fonnuliert die Trias: ius, lex, consuetudo, wobei im Anschluß an die Lehre von den agraphoi nomoi der maßgebliche Gesichtspunkt die Unterscheidung zwischen "geschriebenem" und "ungeschriebenem" Recht (ius ex scripto und ius ex non scripto, VIp. Dig. 1. 6. 1 = Inst. 1. 2. 3) wird. Neben dieser Differenzierungstendenz ist eine Legalisierungstendenz zu beobachten: Die wenigen leges, die einzigen stabilen Teile der römischen Rechtsordnung, gewinnen eine bestimmende Bedeutung, der Begriff der lex wird der 19 20 21

Ebd. S. 355. Ebd. S. 357 - 359. Vgl. Nörr (Fn. 8), S. 361-363.

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zentrale Orientierungspunkt. Nicht nur die Edikte der Magistrate und die Senatsbeschlüsse und sodann· die Reskripte der Kaiser und gar die Responsen der Juristen werden mit dem vigor legis ausgestattet, also "legalisiert", sondern eben auch die consuetudo. Auch dieser Aspekt wird aus der Iulian-Stelle deutlich, wennes dort:heißt:i1~veterata consuetudo pro lege . .. custoditur. Die consuetudo ist in ihrem Rang dadurch dem Gesetzesrecht zwar an sich grundsätzlich gleichgestellt, und es kann, jedenfalls dann, wenn man dem Iulian-Fragment folgt, 22 Gesetzesrecht abändern. Noch wichtiger erscheint aber, daß die consuetudo bereits im römischen Recht im Verhältnis zum Gesetzesrecht vor allem eine Ergänzungs- und Hilfsfunktion zugewiesen erhält. Das zeigt sich daran, daß es zum einen zur Anwendung kommen soll, si qua in re hoc deficeret, wie es bei Julian im principium heißt, und daß es zum anderen einem Gesetz eine bindende Auslegung geben kann, wie in anderen Quellen mehrfach bestimmt ist (vgl. Dig. 1. 3. 37 und 38). Im kanonischen Recht wird die Regel über die erläuternde Kraft der consuetudo später dann wörtlich durch das Dekretalenrecht wiedergegeben, vgl. X 1. 4. 8: quae optima est legum interpres 23 •

111. Das kanonische Recht im 1. Jahrtausend: Entstehungsbedingungen und erste Umrisse einer kirchlichen Lehre von der consuetudo 1. Vorbemerkung Beim kanonischen Recht sollen mit Vorrang - wie beim römischen Recht - die Entstehungsbedingungen und die ersten Umrisse der Theorie von der consuetudo betrachtet werden, ehe dann die Strukturen der Theorie beschrieben werden. Dazu bedarf es vorab einiger klärender Worte zu den Darlegungen und Thesen von Gerhard Dilcher über das Phänomen der Schriftlichkeit und die Rolle der Kleriker in der Rechtsentwicklung. In der Tat sind die Kleriker in bezug auf das weltliche Recht lediglich Außenstehende gewesen: sie waren ,,nicht die soziale Schicht oder Gruppe, die die Rechtstradition trägt und die Rechtsentscheidung (ge)fallt (hat) ... Die Kleriker haben vor allem eine rechtsprotokollierende Funktion (gehabt) ... "24. Diese Aussage ist in bezug auf das weltliche Recht zutreffend, nicht aber in bezug auf das kirchliche (Gewohnheits)Recht.

22 Anders wohl nach der Konstitution des Kaisers Konstantin Cod. 8. 52. 2 (Fn. 16), s. unten Fn. 81. 23 S. dazu Brie (Fn. 13), S. 36-46 (römisches Recht), S. 60 (kanonisches Recht). 24 Gerhard Dilcher, Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als methodisch-theoretisches Problem, (in diesem Band), S.49.

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Hier sind die Kleriker an der Gwohnheitsrechtsbildung in ganz besonderer Weise beteiligt gewesen. Das ergibt sich ohne weiteres aus der hervorgehobenen Rolle, die sie gegenüber den Laien hatten (und auch heute noch haben), gemäß derer die Gestaltung des kirchlichen Lebens maßgeblich in ihren Händen lag. Deshalb ist die Festellung nicht überraschend, daß es sich bei einer großen Zahl kirchlicher Gewohnheitsrechte, die "gerichtskundig" geworden sind, weil sie später der päpstlichen Kontrolle unterlagen und deshalb im Dekretalenrecht auftauchen 2S, um solche handelt, bei denen Rechte von Klerikern auf dem Spiel standen, betrafen sie doch, um den Katalog von Rene WehrLe wiederzugeben 26, vor allem: die Einsetzung in Benefizien und Dignitäten; die Beschränkungen der Jurisdiktionsrechte der entsprechend ausgestatteten Kleriker; das Gerichtsverfahren; Schenkungen, Testamente oder den Zehnten; liturgische Fragen, insbesondere die Verwaltung der Sakramente, gerade auch des Ehesakraments. Es gibt zwar durchaus auch Fälle, in denen die Gewohnheitsrechtsbildung von den Laien ausgegangen ist. So anerkennt Alexander /11., auch wenn er prinzipiell fordert, daß der Ehekonsens in feierlicher Form vor einem Priester abgegeben werden müsse, den Konsens vor dem Notar sieut in quibusdam locis ad hue observatur (X 4. 4. 3)27. Doch bezieht sich eine sehr große, womöglich sogar die größere Zahl der Fälle auf die Kleriker in den nur sie betreffenden Rechtsbereichen, wie zB bei der Durchführung von Wahlen 28 oder der Ausübung von Jurisdiktionsrechten 29 • Und trotz der Schreibfreudigkeit in den Klöstern und Kanzleien haben sie sich offenbar nur selten bemüßigt gefühlt, diese von ihne~ geübte Praxis schriftlich zu fixieren. Insoweit hatten sie also wohl das gleiche für das Gewohnheitsrecht typische Bewußtsein, das ,,Richtige" zu tun und damit "Recht" anzuwenden, wie die weltliches Gewohnheitsrecht erzeugenden Laien. 2. Ausgangslage im kirchlichen Recbtsbereich Die Ausgangslage der kirchlichen Rechtsordnung ist eigentlich nicht viel anders gewesen als die im römischen Reich. Bis in das 12. Jahrhundert hinein war nicht das Gesetz das bestimmende Moment, sondern die Gewohnheiten 30• Auch im Dickicht der kirchlichen Rechtsordnung gab es zwar "Schneisen relativer S. unten V. 2. Wehrle (Fn. 13), S. 100 ff. 27 S. zu dieser Praxis Peter Leisehing, ZRG KA 63 (1977), S. 20-46. 28 Gerade hier blühten die Gewohnheiten in den verschiedensten Ausgestaltungen, vgl. X 3. 8. 7; 1. 4. 6 (England); X 1. 5. 4 (Ungarn); X 1. 6. 24; 1. 6. 31; 3. 11. 3 (Italien); X 1. 6. 55 (Frankreich); zu X 2. 12. 3, einem italienischen Streitfall, s. unten Fn.102. 29 So wird zB für den Erzbischof von Sens das Visitationsrecht über die Äbte von Paris (X 2. 26. 16) oder für den Bischof von Ravenna über die in seiner Diözese . gelegenen Klöster (X 3. 39. 14) anerkannt. 30 Vgl. Gaudemet (Fn. I), S. 225 f. 2S

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Stabilität" in Gestalt von Konzilsbeschlüssen auf allgemeiner oder lokaler Ebene, päpstlichen Dekretalen, bischöflichen Erlassen oder klösterlichen Regelungen. Und doch dominierten die Gewohnheiten, sei es bei den Ämterbesetzungen, sei es in dem weiten Bereich der Liturgie, vor allem auf der lokalen Ebene, was angesichts der Ausdehnung der Kirche über das ganze römische Reich und des (noch) geringen Grades der Zentralisierung der kirchlichen Verwaltung geradezu selbstverständlich erscheint. In den Texten werden diese Gewohnheiten mit consuetudines, mores und auch traditiones bezeichnet; ein sachlicher Unterschied ist nach Jean Gaudemet darin nicht zu erblicken 3!. Die Kirchenväter, zumeist theologisch und juristisch zugleich argumentierend, haben schon sehr früh versucht, diese Gewohnheiten ebenso wie die schriftlichen Rechtstexte begrifflich zu erfassen und in das System der kirchlichen Rechtsordnung einzugliedern 32. Anders als im römischen Recht stellte sich für das kirchliche Recht die Ordnungs- und Systematisierungsfrage von vornherein. Es ist das Autoritätsproblem, das Vorhandensein einer autoritativen, vorrangigen Rechtsordnung, das diese Fragestellung erzwingt. Denn Ausgangspunkt und Maßstab allen Denkens und Handelns waren und sind die durch Christus vermittelte göttliche Lehre und die lex aeterna, auf die auch das Recht ausgerichtet werden muß(te)33. Die Frage, die bei einer Untersuchung über die Entstehung einer Lehre vom Gewohnheitsrecht von besonderem Interesse ist, nämlich ab wann Gewohnheiten rechtliche Qualität besitzen, beschäftigt die Väter offenbar nicht. Während das römische Recht in den Digesten die Begriffe mos, mores und auch consuetudo unterschiedlich, dh im tatsächlichen Sinn als "Sitte, Gebrauch" einerseits und im rechtlichen Sinn andrerseits verwendet und damit die unterschiedlichen 3! Ebd. S. 227 f. Deshalb lehnt er die Defmitionsbemühungen von van Hove, De consuetudine. De temporis supputatione, Rom 1933 (Commentarium Lovaniense in Codicem Iuris Canonici, vol. I, tom. ill), nr. 23 ff. (S. 23 ff.) in Hinblick auf die eben wenig ergiebigen Quellen der frühen Zeit als unhistorisch ab. 32 Die Geschichte des kanonistischen Gewohnheitsrechts ist in der 1. Hälfte dieses Jahrhunderts ausgiebig von Rene Wehrte (Fn. 13) dargestellt worden; darauf kann auch heute noch - trotz mancher kritischer Einwände (s. unten Fn. 112 und 118) - mit Nutzen zurückgegriffen werden, gerade auch für das erste Jahrtausend (S. 36-84). Neuerdings hat sich besonders intensiv mit der frühen Zeit, vor allem den Vätern und der patristischen Literatur Peter Leisehing beschäftigt: Consuetudo und ratio in der Gesetzeslehre des Hl. Augustinus, Gedächtnisschrift für C. Holböck, Wien 1985, S. 39; Prolegomena zum Begriff der ratio in der Kanonistik, ZRG Kan 72 (1986), S. 329337; Consuetudo und ratio im Werk des Isidor von Sevilla, FS H. Schwendenwein, Graz/Wien /Köln 1986, S. 191-199; Consuetudo und ratio im Dekret und der Panormia des Bischofs Ivo von Chartres, ZRG Kan 74 (1988), S. 535-541; Consuetudo und ratio: Antike und patristische Quellen der consuetudo-Lehre, demnächst wohl in der FS Stickler (ich danke Herrn Leisching für die Zur-Verfügung-Stellung der Druckfalmen). 33 Vgl. dazu Handbuch des katholischen Kirchenrechts, hg. v. J. Listl/ H. Müller / H. Schmitz, Regensburg 1983, § 2: Theologie des Rechts (Eugenio Corecco), § 3: Rechtsphilosophische Grundlagen des Kirchenrechts (Gerhard Luf), S. 12 ff., 24 ff.

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Schichten der Entwicklung des Begriffs der consuetudo zum Ausdruck bringt,34 scheinen die Väter von vornherein auf die Gewohnheit (auch) im rechtlichen Sinn abzuzielen 35 • Das ist aus zwei Gründen verständlich: Zum einen stießen die Kirchenväter auf ein schon hoch entwickeltes römisches Recht, das sie für ihre Ordnungsund Systematisierungsaufgabe nutzbar machen konnten und gemacht haben; bereits Tertullian weist, wie gleich gezeigt wird, auf das römische Recht hin. Zum anderen bestand in der Kirche schon sehr früh die Neigung zur Verrechtlichung des kirchlichen Lehrgebäudes und des kirchlichen Lebens - ein Vorgang, der bekanntlich von Rudolph Sohm 36 heftig kritisiert worden ist; doch ändert diese Kritik nichts an der historischen Realität. Deshalb kann man wohl von einer frühzeitigen Verrechtlichung der consuetudo im Bewußtsein der Kirchenväter sprechen.

3. Tertulliail Tertullian, gestorben am Anfang des 3. Ib.37, war der erste, der sich zu den Fragen des Rechts, des Gesetzes und der Gewohnheit geäußert hat. 38 Zur Bewälti-

Vgl. dazu Brie (Fn. 13), S. 6-12. So auch J. F. Schulte, Die Lehre von den Quellen des katholischen Kirchenrechts, Gießen 1860 (Das katholische Kirchenrecht, 1. Theil), S. 203 f. 36 Vgl. die berühmten Ausführungen in der Einleitung zu seinem Kirchenrecht, Bd. 1: Die geschichtlichen Grundlagen, Leipzig 1892, S. 1: ,,Das Kirchenrecht steht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch." "Das Wesen der Kirche ist geistlich; das Wesen des Rechts ist weltlich." Die Frage nach der Daseinsberechtigung des Rechts in der Kirche sei jedoch vergessen "seit dem Sieg des Katholicismus über die urchristlichen Ideen." 37 Zu diesem s. Wehrle (Fn. 13), S. 43-49; B. Altanerl A. Stuiber, Patrologie, Freiburg / Basel/Wien, 7. Aufl. 1966, S. 148 -172; G. Claesson, Index Tertullianaeus, 3 Bde, Paris 1974/75; R. Braun, Deus Christianorum: Recherches sur le vocabulaire doctrinal de Tertullien, Paris, 2. Aufl. 1977; Leisching, ZRG Kan 72 (1986) (pn. 32), S. 329-331 mit einer Reihe wertvoller Hinweise ebd. Fn 1-6; ders., FS Schwendenwein (Fn. 32), S. 192-196; ausführlich zu dem Kirchenvater und seiner consuetudo-Lehre demnächst ders. in der FS Stickter (Fn. 32). 38 In den beiden Abhandlungen De virginibus velandis (zwischen 203 und 206), veröff. in: Christoph Stücklin, Tertullian, De virginibus vigilandis. Übersetzung, Einleitung, Kommentar. Ein Beitrag zur altkirchlichen Frauenfrage (Europäische Hochschulschriften. Reihe xxm, Theologie, Bd. 26), Bem / Frankfurt, M. 1974, sowie De corona miliris (wahrscheinlich um 211), veröff. (lateinisch) in: Jacques Fontaine, Tertullien. De corona. Edition, introduction et commentaire, Paris 1966 (Coll. Erasme, 18), (deutsch) in: K. A. Heinrich Kellner I G. Esser, Tertullians apologetische, dogmatische und montanistische Schriften (Bibliothek der Kirchenväter. Tertullians ausgewählte Schriften, ins Deutsche übersetzt, Bd. 2), Kempten/München 1915, S.230-263; s. dazu auch H. Quellet, Concordance verbale du De corona de Tertullien, Hildesheirn / New York 1975. In der ersteren befaßt sich der Kirchenvater mit dem (in den Gemeinden unterschiedlich gehandhabten) Brauch, daß sich Jungfrauen in der Öffentlichkeit verhüllen mußten Tertullian befürwortet den Brauch unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit: ... hoc exigere veritatem, cui nemo praescribere potest (I 1); in der letzteren behandelt er den Brauch 34 35

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gung des Autoritätsproblems hat er eine Lehre vom ungeschriebenen Gesetz 39 entwickelt. Er geht von der Existenz eines ewigen, allein wahren und unwandelbaren Grundgesetzes, der lexfidei, aus, die durch die Vernunft und die Güte Gottes geschaffen, von Christus den Aposteln vermittelt und von diesen an die Kirche weitergegeben wurde, die sie als authentische Regel treu bewahrt; die lex fidei ist der Maßstab allen Rechts. Dieser Gesetzeslehre liegt vorchristliches, bei Cicero und in der Stoa zu findendes Gedankengut zugrunde. 40 Quelle der Erkenntnis der Wahrheit ist die Tradition 41 , und sie erscheint scriptum in den apostolischen Schriften, häufiger - non scriptum - mündlich überliefert. Der Geltungsgrund beider Erscheinungsformen der Tradition ist allein die ratio. Der Gesichtspunkt der Dichotomie von ius· scriptum und ius non scriptum, der für das römische Recht so bestimmend geworden ist, wird bei Tertullian hintangesetzt zugunsten des überwölbenden Gedankens der veritas und der ratio 42 • Ganz plastisch hat er das in dem Satz ausgedrückt: Christus habe gesagt, er sei die Wahrheit, nicht: er sei die Gewohnheit 43 • Wenn ein mos mit der ratio übereinstimmt, wird er bei ständiger observatio eine bewährte, gesicherte Tradition,44 und er ist dann wie ein Gesetz anzuerkennen; für die Gewohnheit und die lex gilt der gleiche Prüfungsmaßstab der ratio. Der Kirchenvater zieht dabei in seiner Argumentation das römische Recht heran. Mit einer Formulierung, die unverkennbar den Aussagen des Julian-Fragments Dig. 1. 3. 32 entspricht 45 , stellt er die consuetudo der lex gleich und weist ihr eine ergänzende Funktion zu: consuetudo etiam in civilibus rebus pro lege suscipitur cum deficit lex. Doch wird im folgenden Text auch die lex relativiert und ebenso wie die consuetudo der ratio unterstellt: nec differt scriptura an ratione consistat, quando et legem ratio commendet. Porro si ratione iex constat, lex erit omne iam quod ratione consisterit, a quocumque productum 46 • der Soldaten, eine Krone auf dem Kopf zu tragen, um kenntlich zu machen, daß sie nicht gefangen genommen worden seien - Tertullian verlangt von den·Gläubigen, diese militärische Auszeichnung auszuschlagen. 39 So die Fonnulierung von Leisehing, ZRG KA 72 (1986) (Fn. 32), S. 329. 40 Vgl. Leisehing (Fn. 39), S. 331; ders., Gedächtnisschrift Holböck (Fn. 32), S. 1417; ausgiebig dazu ders. demnächst in FS Stickler (Fn. 32). 41 S. dazu A. Deneffe, Der Traditionsbegriff, Münster 1931; F. de Pauw, Lajustification des traditions non ecrits chez Tertullien, Ephemerides Theologicae Lovanienses 19 (1942), S. 5 -46; P. A. Maistre, Traditio: Aspects theologiques d'un tenne de droit chez Tertullien, Revue des sciences philosophiques et theologiques 51 (1967), S. 617-643. 42 Vgl. Leisehing, Gedächtnisschrift Holböck (Fn. 32), S. 12-14; ders., ZRG KA 72 (1986) (Fn. 32), S. 330. 43 De virg. vel. I. 2: Sed Dominus noster Christus veritatem se, non consuetudinem cognominavit. 44 De corona, cap. 2: Omnes ita observant .. . Videris unde auctoritas moris, de qua nunc maxime quaeritur ... Plane, ut ratio quaerenda sit, sed salva observatione ... quo magis observes, cum fueris etiam de ratione securus. 45 S. oben ll. 1. aA. Vgl. zu diesem Aspekt Waldstein, ZRG Rom 93 (1976) (Fn. 9), S.366. 7 Schulze

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4. Cyprianus und Augustinus Dieses von Tertullian in besonderer Weise herausgehobene Kriterium der Rationa(bi)lität, Geltungsgrund und Prüfungsmaßstab des Rechts zugleich, mit dem spezifischen, von der Glaubenslehre geprägten Inhalt, wird auch von anderen Kirchenvätern übernommen 47. Das gilt zunächst für Cyprianus, den in der Mitte des 3. Jahrhunderts in Nordafrika lebenden ,,Landsmann" des Tertullian 48 • Die Problematik des Verhältnisses von consuetudo und ratio / veritas wurde bei ihm und seinen Zeitgenossen vor allem in der Frage der Wiedertaufe von Häretikern virulent. Gegen die ,,römische" Auffassung des Papstes Stephanus, der sich auf die Tradition berief, vertraten Cyprian in Briefen an diesen und sodann - mit besonderer Heftigkeit - die Bischöfe auf dem 7. Konzil zu Karthago (256) die "afrikanische" Ansicht, daß nicht eine Taufe durch einfaches Auflegen der Hand genüge, sondern daß die Taufe als solche wiederholt werden müsse; dabei betonten sie scharf, daß die Wahrheit (deren sie sich sicher waren) auf jeden Fall Vorrang gegenüber Tradtion und Gewohnheit habe 49 • Bei Augustinus SO ist, wie bei Tertullian, das ewige Gesetz, das der göttlichen Vernunft und dem göttlichen Willen gleichgesetzt wird, der Rechtsgrund für die innere Ordnung aller Dinge, der Geltungsgrund der lex naturalis ebenso wie der leges scriptae S1 • Da die leges scriptae nicht alles, was die lex aeterna gebietet, 46 De corona, cap. 4. Zur Rolle des römischen Rechts bei Tertullian s. A. Beck, Römisches Recht bei Tertullian und Cyprian, Halle 1930 (Schriften der Königsberger gelehrten Gesellschaft, geisteswiss. Klasse, Jahr 7, H. 2), Nachdruck Aalen 1967; Jean Gaudemet, Couturne et raison en droit romain, Revue historique de droit francais et etranger 17 (1938), S. 142-171, hier 162-165 (= ders., Etudes de droit romain I, Camerino 1978, S. 54-57). Zur Frage, ob Tertullian Jurist war - in den Digesten sind fünf Fragmente eines Juristen Tertullian überliefert - vgl. Wolfgang Kunkel, Herkunft und soziale Stellung der römischen Juristen, Weimar 1952, S. 236-240. 47 Und er fließt auch in das römische Recht ein, vgl. Celsus Dig. 1. 3. 39, das Reskript des Kaisers Alexander Severus, des Zeitgenossen des Tertullian, Cod. 8. 52. 1, oder die Konstitution des Kaisers Konstantin Cod. 8. 52. 2 (s. oben Fn. 16); zu der Frage, welchen Inhalt die ratio hier jeweils haben könnte, s. Brie (Fn. 10), S. 24-32; Beck (Fn. 46), S. 37; Gaudemet (Fn. 46), S. 152 f.; Schmiedel (Fn. 4), S. 9 f., 73 (Fn. 11). 48 Beck (Fn. 46), S. 106 ff.; J. N. Bakhuizen von den Brink, Cyprian von Carthago, Amsterdam 1958; Altaner / Stuiber (Fn. 37), S. 172 ff.; Jean Gaudemet, Le droit romain dans la litterature chretienne occidentale du ille au Ve siecle, in: lus Romanum Medii Aevi (Irmae) I 3 b, Mediolani 1976, S. 36 ff.; ders. (Fn. 26), S. 228-230; Leisehing, ZRG KA 72 (1986) (Fn. 32), S. 331 f. 49 Vgl. Wehrle (Fn. 13), S. 51 f.; H. M. Klinkenberg, Die Theorie der Veränderbarkeit des Rechts im frühen und hohen Mittelalter, in: P. Wilpert (Hg.), Lex et Sacramentum im Frühmittelalter, Berlin 1969 (Miscellanea Medievalia, Bd. 6), S. 157 ff., hier 163 f; Gaudemet (Fn. 1), S. 229. so Zu diesem allgemein s. E. Gilson, Der heilige Augustin. Eine Einführung in seine Lehre, Hellerau 1930; Henri J. Marrou, Saint Augustin et la fm de la culture antique, Paris 1938; zu seiner Lehre von der consuetudo Wehrle (Fn. 10), S. 59-64; Leisehing, Gedächtnisschrift Holböck (Fn. 32); ders., ZRG KA 72 (1986) [Fn 32], S.332-334; Gaudemet (Fn. 46), S. 167 ff.; ders. (Fn. 48), S. 127 ff.; ders. (Fn. 1), S. 230-232.

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erfassen können, treten mos und consuetudo ergänzend hinzu. Fehlt eine Schriftstelle, sind der mos populi dei und die instituta maiorum wie ein Gesetz zu beachten 52. Dabei macht Augustinus einen bemerkenswerten Unterschied zwischen den allgemeinen und den lokalen Gewohnheiten. Die über die ganze Kirche verbreiteten Gebräuche, die non scripta sed tradita bewahrt werden, wie zB die Festtagsordnung (Ostern, Pfingsten), führt er auf die Apostel und die allgemeinen Konzile zurück, die beide zur authentischen Interpretation der lex aeterna berufen sind. 53 Dagegen haben für ihn die partikulären Gewohnheiten (wie zB die unterschiedlichen liturgischen Ausgestaltungen der Festtage) nicht diesen hohen Stellenwert. Er empfiehlt, solche abzuschaffen, die weder durch die heilige Schrift noch durch Konzile noch durch allgemein-kirchliche Gewohnheit Kraft erlangt haben allerdings nur, sofern dadurch kein scandalum in der Gemeinde entsteht - , denn solche Gewohnheiten beschränken die Freiheit der Religion in unnötiger Weise. 54 Ganz prinzipiell betont er im Anschluß an Cyprian, daß consuetudines jeder Art, die dem Glauben und den guten Sitten widersprächen, unbedingt beseitigt werden müßten. Umgekehrt ist jedoch eine Gewohnheit, die sich auf die Wahrheit stützen kann, in jeder Weise aufrecht zu erhalten, denn wenn die veritas die consuetudo untermauert, so hat die Wahrheit keine größere Stütze als die Gewohnheit 55 • Insgesamt kommt der consuetudo eine ergänzende und die veritas entfaltende Funktion zu, dagegen kann sie keine abrogierende Kraft haben. 56 Ähnlich wie bei Tertullian spielt auch bei Augustinus der Gedanke der Schriftlichkeit als besonderer Stabilitätsfaktor der Rechtsordnung keine dominierende Rolle. Er ist der Meinung, daß das geschriebene Gesetz im Verhältnis zum wahren und ewigen Gesetz unvollständig ist und das letztere unabhängig davon gilt, ob es zu einer formalen Norm positiviert worden ist oder nicht. Kraft seiner Vernunft ist der Mensch von Natur aus in der Lage, Gewohnheiten und Sitten herauszubilden, die ein Ausfluß der lex aeterna sind 57. 51 S. dazu A. Schubert, Augustins Lex-aetema-Lehre, Münster i. W. 1924 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, 24/2); zu dem ciceronischen Anteil bei Augustinus s. Leisching, Gedächtnisschrift Holböck (Fn. 32), S. 16 f. mit weit. Hinweisen. 52 Brief (nr. 36) an Casulanus aus dem Jahr 396, aufgenommen von Gratian in sein Dekret: D. 11 c. 7. 53 Brief (nr. 54) an Januarius aus dem Jahr 400, vgl. Gratian D. 12 c. 11. 54 Brief (nr. 55) an Januarius aus dem Jahr 400, vgl. Gratian D. 12 c. 12. 55 So vor allem in seiner Schrift ,.oe baptismo" (400 / 401), in der er unter Übernahme von Sentenzen des Cyprian und des 7. Konzils zu Karthago zum Ausdruck bringt, daß die Wahrheit den eindeutigen Vorrang vor der Gewohnheit habe, ein Irrtum der geoffenbarten Wahrheit zu weichen habe, daß also ratio und veritas eine consuetudo ausschlössen, vgl. dazu Leisching, Gedächtnisschrift Holböck (Fn. 32), S. 8 f., 11 f. mit ausführlichen Literaturhinweisen zu dem Problem von fides und ratio bei Augustinus ebd. S. 8, Fn.35. 56 Vgl. Leisching (Fn. 55), S. 11. 57 Vgl. Leisching, ZRG KA 72 (1986) [Fn. 32], S. 334.

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5. Isidor von Sevilla Für die weitere Entwicklung ist Isidor von Sevilla, der große Gelehrte des frühen 7. Jh. 58, sehr wichtig geworden, denn durch ihn sind die juristischen römischen Rechtsvorstellungen in das Mittelalter weitergeleitet worden; er war nach Ernst Robert Curtius der große Vermittler des antiken Erbes an das Mittelalter. 59 Insbesondere Gratian, der"Vater der kanonistischen Rechtswissenschaft" 60, hat sich zur Begründung seiner Lehre von der consuetudo intensiv auf jenen berufen, wie noch zu zeigen sein wird 61. Stärker als die genannten Väter bezieht Isidor das römische Recht ein, im Prinzipiellen weicht er aber von diesen nicht ab. Er versucht, die Begriffe ius, lex, mos und consuetudo zu erfassen und in einen Zusammenhang zu bringen. Ius ist für ihn generale nomen, und omne ius legibus et moribus constat. Die lex ist constitutio scripta. Dieser Begriff ist für ihn dann in seiner weiteren Darstellung von zentraler Bedeutung, denn er bezieht - und hier handelt er durchaus entsprechend der oben für das römische Recht beschriebenen Legalisierungstendenz 62 - die anderen Defmitionen auf die lex. Demgemäß heißt es zum mos, dem anderen Teil des ius: Inter legem autem et mores hoc interest, quod lex scripta est, mos vero est vetustate probata consuetudo, sive lex non scripta 63 - eine Stelle, die bezeichnenderweise von Gratian nicht übernommen worden ist, wie noch darzustellen sein wird 64• Ähnlich wie bei Tertullian rechtfertigen sich bei Isidor sowohl die lex als auch die consuetudo als lex non scripta allein durch die ratio. Diese konkretisiert er in Anlehnung an Augustinus dahin, daß die lex nur solange rational sei, als 58 Zu diesem sowie zu seiner Lehre von der consuetudo s. Jacques Fontaine, Isidor de Seville et la culture classique dans I'Espagne Wisigothique, 2 Bde, Paris 1959; H. J. Diesner, Isidor von Sevilla und das westgotische Spanien, Trier 1978 (Occidens 2); Leisehing, FS Schwendenwein (pn. 32); Juan de Churruca, Le concept de droit couturnier chez Isidore de Seville, Couturnes et libertes. Actes des journees internationales de Toulouse, 4 - 7 juin 1987, Montpellier 1988 (Recueil de memoires et travaux publie par la Societe d'histoire du droit et des institutions des anciens pays de droit ecrit, fasc. XIV), S. 145-154. 59 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bem I München 1978, S. 33, 450 f, 487, 510 Fn. 1; vgl. auch Diesner (Fn. 58), S. 84. 60 So Stephan Kuttner, The Father of the Science of Canon Law, The Jurist I (1941), S. 2 ff. 61 S. sogleich IV. Die grundlegenden Ausführungen Isidors vor allem in Liber V seines Werks ,,Etymologiarum sive Originium libri XX" (hg. v. W. M. Lindsay, Oxford 1911) hat Gratian in die Distinctio 1 seines Werks wörtlich aufgenommen, so daß die Texte ohne weiteres dort aufzufinden sind. Weitere wichtige Aussagen zum Gewohnheitsrecht hatIsidor in seinem anderen bedeutenden Werk ,,Differentiarum seu de proprietate verborum libri 11" (veröff. in PL Bd. 83) gemacht. Eine gründliche Auseinandersetzung mit allen einschlägigen Texten Isidors nimmt insbes. Churucca (Fn. 58) vor. 62 11.2. aB. 63 Orig. 2. 10. 1 = 5. 3. 2. 64 IV. (1.).

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sie der Religion entspreche, der Kirchenordnung folge und das Seelenheil fördere. Trotz der begrifflichen Orientierung an der lex ist für l sidor die consuetudo nicht nachrangig, vielmehr stehen, ebenso wie bei Tertullian und Augustinus, lex und consuetudo auf der gleichen Stufe als Teil des ius - das hat Carl Gerold Fürst überzeugend dargelegt 6S.

IV. Das Decretum Gratiani: Die Grundlegung der Lehre von der consuetudo Die Zeit nach den Kirchenvätern, waren, wie Jean Gaudemet es ausgedrückt hat, die ,Jahrhunderte des Schweigens"66. Sie waren im kirchlichen (ebenso wie im weltlichen) Rechtsleben vornehmlich wohl durch die lokalen Gewohnheiten geprägt. Daß aber die Überlegungen der Väter zu Recht, Gesetz und Gewohnheit nicht endgültig in Vergessenheit geraten waren, zeigt die (zumindest partielle) Wiedergabe ihrer Texte in den ersten bedeutenden Rechtssammlungen im 2. Jahrtausend von Burchard von Worms 67 und lvo von Chartres 68 sowie anderen, weniger bekannten oder unbekannten Autoren 69 • Zu Bausteinen einer Theorie der consuetudo sind diese Texte jedoch erst von Gratian in seinem etwa 1140 erstellten "Dekret" inhaltlich zusammengefaßt und geformt worden. 70 Dabei lehnt er sich, wie bereits ausgeführt,71 besonders stark an lsidor von Sevilla an; er weicht jedoch in manchem Aspekt von diesem ab und begründet so eine durchaus eigenständige Lehre. Drei Aspekte erscheinen besonders interessant. (1) In D. 1 c. 1 bis 5 zitiert Gratian lsidor, allerdings - wie bereits gesagt - nicht vollständig, und er verschärft und verändert sodann in seinem Dictum nach c. 5 den von lsidor gegebenen Ansatz. Dadurch rückt er von der begrifflichen Präponderanz des Gesetzes ab 72. Er ersetzt den von l sidor verwendeten Gattungs6S earl Gerold Fürst, Zur Rechtslehre Gratians, ZRG KA 57 (1971), S.276-284, hier 279 f., 282 Fn. 20. 66 Gaudemet, (Fn. 1), S. 233. 67 In seinem ,,Dekret" sind die die consuetudo betreffenden Texte in III. 124-127 zu finden, abgedr. in PL 140, Sp. 696-698; s. dazu Wehrte (pn. 13), S. 79 f.; Gaudemet (Fn. 1), S. 233 f. 68 Zu dessen Auffassungen über consuetudo und ratio s. Leisching, ZRG KA 74 (1988) [Fn. 32], S. 535; s. auch Gaudemet (Fn. 1). 69 Vgl. Gaudemet (Fn. 1), S. 234 f. 70 Zur Rechtsquellenlehre und der Lehre von der consuetudo des Gratian s. aus der älteren Literatur: Schulte (Fn. 35), S. 204 f.; Brie (Fn. 13), S. 59 ff., und aus der jüngeren Literatur: van Hove (Fn. 31), nr. 29, S. 31 f.; Jean Gaudemet, La doctrine des sources du droit dans le Decret de Gratien, Revue du droit canonique 1 (1950), S. 5-31 (= La formation du droit canonique medieval, London 1980); Fürst (Fn. 65) mit zahlreichen Literaturhinweisen; Leisching, ZRG KA 72 (1986) [Fn. 32], S. 335-337. 71 S. oben III. 3. 72 Vgl. Fürst (Fn. 65), S. 279 f. und 282 f.

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begriff ius durch seinen entsprechenden Begriff der consuetudo und bringt dadurch sowohl das Gesetz als auch die Gewohnheit unter diesen Begriff der consuetudo. Er gelangt damit zu einer doppelten Bedeutung der consuetudo: in einem weiten Sinn erfaßt er damit alles überlieferte Recht, innerhalb dieses Gattungsbegriffs unterscheidet er dann die consuetudo redacta in scriptis von der consuetudo moribus utentium reservata, und die letztere ist dann als consuetudo im engeren Sinne anzusehen; ihr Gegenstück ist das Gesetz, das er mit Isidor als constitutio populi (D. 2 c. 1) bezeichnet 73 • (2) Hatte schon Julian als Geltungsgrund für die lex das sujfragium populi und gleichwertig für die consuetudo den tacitus consensus omnium erklärt, so kommt Gratian - über seine begrifflichen Bestimmungen in der 1. Distinctio hinaus - in ähnlicher Weise zu einer prinzipiellen Gleichstufigkeit und Gleichwertigkeit von Gesetzes- und Gewohnheitsrecht dadurch, daß er in seinem Dictum nach D. 4 c. 3 ausführt, daß Gesetze durch die Promulgation rechtswirksam und durch die Sitten der Rechtsanwendenden bestärkt und gebilligt würden. Dies leitet er im gleichen Dictum aus der Tatsache ab, daß im Verlauf der Geschichte vielfach Gesetze durch entgegenstehende Gewohnheiten abrogiert worden seien; diese Möglichkeit der Abrogation bestätigt er durch Belege in den folgenden cc. 4 - 6. 74

Diese so klar scheinende Rechtsmeinung konterkariert Gratian jedoch selbst, indem er an anderen Stellen, insb. in der 11. und 12. Distinctio, den consuetudines die abrogierende Kraft abspricht. In der Literatur ist dieser Widerspruch unterschiedlich gewertet worden. Siegfried Brie hat die Ansicht vertreten, Gratian habe letztlich insgesamt den Wert des Gewohnheitsrechts ungünstig beurteilt 75 , doch ist dieses Urteil angesichts der prinzipiellen Gleichsetzung von Gesetzes-I, und Gewohnheitsrecht durch Gratian allzu pauschal. earl Gerold Fürst will zur Überwindung des Widerspruchs bei Gratian keine gekünstelte Harmonisierung herbeiführen; er nimmt den Widerspruch als solchen hin und erklärt ihn aus der kirchenpolitischen Situation dieser Zeit 76 • Peter Leisching 77 dagegen möchte diese Diskordanz doch auflösen durch ein gemeinsames Zurückbeziehen von geschriebener lex und rechtschaffender consuetudo auf das überpositive ewige Gesetz, die Idee der Rationiona(bi)lität, dem gemeinsamen Erfordernis für beide Erscheinungsformen des.Rechts.

3.

73

Er verwendet allerdings auch den Begriff lex, vgl. sogleich (2.) zu D. 1 dict. p. c.

74 S. dazu Fürst (Fn. 65), S. 282 f.; Leisehing, ZRG KA 72 (1986) (Fn. 32), S. 336 f.; vgl. auch B. Tierney, "Only the Truth Has Authority", in: Law, Church, and Society, Essays in Honor of Stephan Kuttner, hg. v. K. Pennington / R. Somerville,1977, S. 6996. 75 Brie (Fn. 13), S. 63. 76 Fürst (Fn. 65), S. 283 f. Zu dem großen Konflikt dieser Zeit s. Stanley Chodorow, Christian political Theory and Church Politics in the Mid-Twelth Century, Los Angeles 1972. 77 Leisehing, ZRG KA 72 (1986) (pn. 32), S. 336 f.

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(3) Der "Vater der Kirchenrechtswissenschaft" verbleibt in der Tradition der Kirchenväter, nach welcher Maßstab für alle consuetudines die ratio und die veritas sind 78. Das bringt er vor allem in der Distinctio 8 zum Ausdruck, wo er durch Zitate des Cyprianus und des Augustinus darlegt, daß die consuetudo gegenüber diesen Werten zurückzutreten habe (cc. 4 und 5), wobei auch Gratian die schöne alte Formulierung anführt (c. 5), daß der Herr gesagt habe, er sei die Wahrheit, nicht: er sei die Gewohnheit (unter Berufung auf einen Brief von Gregor VII.). Umgekehrt trägt er aber auch das Augustinus-Wort vor (c. 7), daß eine Gewohnheit, die der Wahrheit entspricht, auf jeden Fall bewahrt werden soll, da sie deren stärkste Stütze sei. Damit ist klar, daß eine consuetudo praeter legem ebenso wie eine consuetudo secundum legem Recht schaffen kann und daß die ratio der Grund der Verbindlichkeit ist.

V. Die Entfaltung der Gewohnheitsrechtstheorie im 12. und 13. Jahrhundert durch die Kirchenrechtswissenschaft und die päpstliche Gesetzgebung Gratian hatte damit die Bausteine für eine kanonistische Gewohnheitsrechtstheorie geliefert, und die Kanonisten der folgenden Zeit ebenso wie die päpstliche Gesetzgebung machten sich an die Arbeit, daraus ein Theoriegebäude zu errichten. Zweifellos hat dabei das römische Recht in besonderer Weise als Vorbild gedient 79. Daß sich aber trotzdem im kirchlichen Recht eine demgegenüber sehr eigenständige Lehre von der consuetudo entwickelt hat, hängt wiederum mit dem Autoritätsproblem zusammen, diesmal aber entsprungen aus den veränderten Machtstrukturen der Kirche, die sich seit der Gregorianischen Reform nach und nach zugunsten der päpstlichen Zentralgewalt verschoben 80• Vgl. Brie (Fn. 13), S. 68 f. Zur allmählichen Aufnahme des römischen Rechts in das kirchliche Recht, die in der Parömie ecclesia vivit iure Romano ihren beredten Ausdruck gefunden hat, s. Pierre Legendre, La pent!tration du droit romain dans le droit canonique de Gratien aInnocent IV (1140-1254), Diss. Paris 1964; Etudes d' histoire du droit canonique, dediees a Gabriel Le Bras. Ouvrage publie avec le concours du Centre de la Recherche Scientifique, Tome n, Paris 1965, ill: Droit canonique et droit romain au moyen äge, S. 803 -1026 mit einer Reihe beachtlicher Einzelabhandlungen; Udo Wolter, lus canonicum in iure civili. Studien zur Rechtsquellenlehre in der neueren Privatrechtsgeschichte, Köln I Wien 1975 (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, Bd. 23), S. 27 - 29 m. weit. Hinw. 80 Zur Entwicklung der päpstlichen pLenitudo potestas s. PauL Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts, mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Bd. 1, Berlin 1869 (Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland, Bd. 1), S. 163 ff. m. umfangreichen historischen Ausführungen; WaLter Ullmann, Die Machtstellung des Papstes im Mittelalter, Graz I Köln 1982; Ludwig Buisson, Potestas und caritas: Die päpstliche Gewalt im Spätmittelalter, 2. Aufl. Köln 1982; Kenneth Pennington, Pope and Bishops: The Papal Monarchy in the Twelth and Thirteenth Centuries, University of Pennsylvania Press 1984. 78

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Ausdruck dieser Macht ist auch eine allumfassende Gesetzgebungsbefugnis, und sie muß notwendigerweise mit einer Rechtsentstehung konfligieren, die sich auf den mos und die tonga consuetudo gründet, vor allem dann, wenn dieses Recht dem bereits kund getanen Willen des zentralen Gesetzgebers widerspricht, aber auch dann, wenn es nicht - aus welchen Gründen auch immer - mit seinen Intentionen einhergeht. Diesem Dilemma versuchte zunächst die Rechtswissenschaft gerecht zu werden; aber auch die päpstliche Gesetzgebung selbst hat sich der Bewältigung dieses Problems angenommen. In noch stärkerem Maße als im römischen Recht sind die Lösungen von einer Legalisierungstendenz geprägt. Das wird allein schon aus der Tatsache ersichtlich, daß gesetzliche Bestimmungen über die Zulassung und Geltung der consuetudines erlassen worden sind. Angesichts der päpstlichen Omnipotenz war diese Entwick1ung wohl unvermeidlich. Und trotzdem ist den consuetudines der Boden keineswegs gänzlich entzogen worden. Ganz im Gegenteil ist ihnen unter manchen Aspekten ein durchaus weiter Raum gewährt worden. Das ergibt sich zum einen daraus, daß die Entstehungs- und Geltungsbedingungen zum Teil begünstigend und überdies nicht umfassend geregelt worden sind, und zum anderen daraus, daß die Rechtsmeinungen in der Literatur nicht selten erheblich voneinander abwichen. Offenbar waren die Päpste realistisch genug einzusehen, daß nicht alles von der Zentrale her regelungsfähig ist und daß es wohl sinnvoll ist, den vielen kulturell und regional unterschiedlichen unteren Gliederungen der Kirche die Chance zu einer eigenständigen Entfaltung zu geben. Die dogmatische Entwicklung kann und soll hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden, denn im Hinblick auf die in der Sektion anstehende Problematik genügt es, die Strukturen der kanonistischen Lehre sichtbar zu machen. Im Vordergrund werden deshalb die Frage des Geltungsgrundes, der Geltungsdauer und der Überprüfbarkeit der consuetudines sowie deren Verhältnis zum Gesetzesrecht stehen; eine gewichtige Rolle werden dabei die Dekretalen Cum tamo (X 1. 4. 11) sowie Licet Romanus Pontifex (VI 1. 2. 1) spielen.

1. Die Dekretisten des 12. Jahrhunderts Die wichtigste Entscheidung der Wissenschaft nach Gratian ist darin zu erblikken, daß sie - offenbar wohl auch unter dem Einfluß der jüngeren Glossatoren 81 81 Vgl. van Hove (pn. 31), nr. 30, S. 32,34 Fn. 2. Im römischen Recht ist die Frage des derogierenden Gewohnheitsrechts wegen des Widerspruchs von Jul. Dig. 1. 3. 32 ( ... ut leges . .. per desuetudinem abrogentur, s. Fn. 11) und Cod. 8. 52. 2 (... verum non usque adeo sui valitura momento, ut aut rationem vincat aut legem, s. Fn. 16) nicht hinreichend geklärt, vgl. Brie (Fn. 13), S. 30-32, 42-46. Die älteren Glossatoren haben die derogierende Kraft der consuetudo noch abgelehnt; dagegen haben sich seit dem Ende des 12. Jahrhunderts die jüngeren Glossatoren im Hinblick auf partikuläre Gewohnheiten befürwortend ausgesprochen - eine Entscheidung, die angesichts der Vielzahl

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- unzweifelhaft die derogatorische Kraft des Gewohnheitsrechts anerkannt und damit die unsichere und unklare Rechtslage im kirchlichen Recht überwunden hat, die sich daraus ergab, daß weder die Kirchenväter noch Gratian trotz aller Wertschätzung und der prinzipiellen Anerkennung des Gewohnheitsrechts ein klares Votum dazu abgegeben hatten 82• Diese Entscheidung ist dann - nach noch widersprechenden Dekretalen vor der und um die Jahrhundertwende 83 im 13. Jahrhundert durch die päpstliche Gesetzgebung und die Theologen, vor allem Thomas von Aquino 84 , bestätigt und gefestigt worden. Rechtliche Grundlage dafür ist eine geschickte dogmatische Konstruktion gewesen: das Gewohnheitsrecht wurde als gesetzesgleich auf die Zustimmung des Papstes als des kirchlichen Gesetzgebers zurückgeführt. So erklärt Ruflnus die - auch schon von Gratian erwähnte 85 - Tatsache, daß einige kirchliche Gesetze per mores utique utentium in contrarium abrogiert worden seien, bereits 1165 (in seiner Summe zum Dekret) aus dem Konsens des Pontifex. Zum Vergleich bezieht er sich auf die kaiserliche Gesetzgebung (nach dem römischrechtlichen Verständnis): wie heute ohne die Autorität oder den Konsens des Kaisers keine Gesetze erlassen werden könnten, so könnten sie auch nicht außer Kraft gesetzt werden, da der populus Romanus auf ihn omne suum imperium et potestatem übertragen habe. Dies gilt nach Rufinus in gleicher Weise für den Papst: ita absque conscientia et assensu summi patriarche canones sicut non potuerunt fleri, ita nec irritari 86• In der Person des Gesetzgebers sind also Gesetz und Gewohnheit in gleicher Weise begründet. Das Erfordernis des Konsenses des Gesetzgebers zur Bildung einer consuetudo contra legem wird in der Bologneser Dekretistik spätestens um 1170 von dem Kanonisten J ohannes F aventinus eindeutig vertreten. So führt er in seiner Glosse zu D. 11 zu generalis consuetudo aus: si vero legi contradicat preiudicat illi in casibus olim solo populi contrario usu ... hodie non nisi consuetudini princeps consentiat vel quantum ad canones pertinet romanus pontifex, sic enim plures canones sunt abrogati ut s. di. 1111 87 • Doch bedarf es für die Geltung der consuetudines nicht der ausdrücklichen Zustimmung. Vielmehr gevon Gewohnheitsrechten in den italienischen Städten wohl unumgänglich war, vgl. Brie, S. 118-125. 82 Vgl. Gaudemet (pn. 1), S. 239. 83 Einige der Entscheidungen, die die Geltung von Gewohnheiten contra legem ablehnen, sind sogar in den Liber Extra aufgenommen worden: X 1. 23. 4; 2. 2. 5; 2. 19.2; 2.27.8. 84 S. unten Fn. 96. 85 S. oben N. (2.). 86 Summa ad D. 3 c. 3 v. officium vero (bei Rufinus D. 4), hg. v. Heinrich Singer, Summa Decretorum, Paderbom 1902, Neudruck Aalen 1963, S. 13. 87 Die Glosse ist ediert worden von Rudolf Weigand, Das Gewohnheitsrecht in den frühen Glossen zum Dekret Gratians, in: lus Populi Dei. Miscellanea Raymundi Bigador I, Rom 1972, S. 91-102, hier S. 97; zur Zuschreibung dieser Glosse an Johannes Faventinus ebd. S. 99.

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nügt die unausgesprochene Zustimmung. Die Theorie des tacitus consensus wird nachdrücklich von Huguccio vertreten und kann bereits am Ende des 12. Jahrhunderts als communis opinio angesehen werden. 88 War also damit der Weg zum derogierenden Gewohnheitsrecht grundsätzlich frei, so wurden doch Wegbegrenzungen und Kontrollmarken gesetzt, um einer ungehemmten Gewohnheitsrechtsbildung gegenzusteuern. Von den Kontrollinstrumenten, die zu diesem Zweck von der Wissenschaft und der päpstlichen Gesetzgebung entwickelt worden sind, erscheinen zwei besonders wichtig: das Kriterium der Rationabilität sowie das Erfordernis der legitima praescriptio. Die Rationabilität war ja als Geltungsgrund und Prüfungsmaßstab, synonym mit der veritas, seit Tertullian stets zumeist mit großem rhetorischem Aufwand als unabdingbar für das Gewohnheitsrecht bezeichnet worden. 89 Welche tatsächliche Bedeutung dieses Prinzip allerdings in der Zeit der Gewohnheiten im 1. Jahrtausend gehabt hat, läßt sich wohl kaum feststellen. Ganz anderes gilt für die nachgratianische Zeit. Hier wird die Rationabilität zu einer positiven Geltungsvoraussetzung der consuetudo 9O • Für die Päpste wird dieses Kriterium damit zu einem wichtigen praktischen Prüfungsmittel, mit Hilfe dessen sie Gewohnheiten bestätigen oder verwerfen konnten. Dabei erhält der Begriff der Rationabilität dank der kanonistischen Wissenschaft einen von der Überlieferung abweichenden Inhalt. Gratian hat offenbar noch in der Tradition der Kirchenväter gestanden. Er erörtert die Probleme der ratio und der veritas in der 8. Distinctio im Zusammenhang mit dem ius naturale . Eine begriffliche Trennung findet hier nicht statt. Zu Recht hat Siegfried Brie aus diesem Zusammenhang geschlossen, daß Gratian unter der ratio nichts anderes als die göttliche Offenbarung verstanden hat 91 • Es waren seine Nachfolger, die diese Trennung vollzogen haben. Am deutlichsten kommt das in der berühmten Dekretale Cum tanto (X 1. 4. 11) zum Ausdruck, wo Innozenz III. im ersten Satz das ius naturale und im zweiten Satz unter Benutzung (aber doch beredter Veränderung 92) der Konstitution des Kaisers 88 Vgl. die kurze, aber prägnante Darstellung der Ansichten der Dekretisten bei van Hove (Fn. 31), nr. 30, 31, S. 32-35; dort werden auch die Ausführungen von Huguceio, Summa, ad D. 11, initio, sowie ad D. 4. dict. p. c. 3, wiedergegeben: Interveniente consensu istius [sc. imperatoris} vel illius [sc. Romani Pontifieis}, et leges et canones possunt abrogari contraria consuetudine. Consensu dico expresso vel taeito, quia hoc quod papa vel imperator seit contrariam consuetudinem esse et non reprobat, taeito consensu videtur eam confirmare. 89 S. oben m. 90 Vgl. z. B. Bernardus Papiensis, Summa decretalium, hg. v. E. A. T. Laspeyres, Bernardi Papiensis Faventini episcopi Summa Decretalium, Regensburg 1861, S. 5: Nota quod generalis consuetudo aUa rationabilis, aUa non; rationabilis abrogat legem, ... non rationabilis abrogatur. 91 Brie, (Fn. 13), S. 68; vgl. auch Leisehing, ZRG KA 72 (1986) (Fn. 32), S. 335 f. 92 S. sogleich unten bei Fn. 104, 105.

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Konstantin (Cod. 8. 52. 2) die ratio als weiteren Maßstab für die Geltung der consuetudo nennt. Die Dekretalisten haben in der folgenden Zeit dann allerdings nicht mehr den präzisen Unterschied gemacht; bei ihnen wird der Begriff der Rationabilität der dominierende. Doch ist dadurch der Sache nach nichts verändert worden 93. Denn der Katalog der von ihnen aufgeführten Fälle, in denen Gewohnheiten als irrational verworfen worden sind, umfaßt zunächst immer erst solche, bei denen es sich um einen Widerspruch mit dem ius naturale oder ius divinum handelt 94.

Doch reicht sodann der Kreis der Verwerfungsgründe weit darüber hinaus 95 • Für die kirchlichen Juristen war es allerdings schwer, den Begriff im Hinblick auf diese weite Bedeutung inhaltlich zu bestimmen; sie waren in demselben Dilemma, wie der heutige Jurist bei der Auslegung einer GeneralklauseI. Bestimmende Bedeutung hat für die Überlegungen der Dekretalisten später, zB bei Guido de Baysio ("Archidiaconus") oder Antonius de Butrio, auch die Lehre des Thomas von Aquino von dem vernünftigen Endzweck der Rechtssätze gewonnen, wobei der Begriff des bonum commune in den Mittelpunkt rückte 96• Den weiten Anwendungsbereich des Prüfungsmaßstabs der Rationabilität kann man am besten aus der päpstlichen Rechtsprechungspraxis ersehen; sie ist ausführlich bei Ernst Meier 97 oder Rene Wehrle 98 dargestellt.

Vgl. Brie (Fn. 13), S. 177 ff. Vgl. ebd., S. 180-182. 95 Vgl. ebd., S. 183-185. 96 V gl. die kurze Darstellung der thomistischen Gewohnheitsrechtslehre bei Brie (Fn. 13), S. 178-180, Wehrle (Fn. 13), S. 189-191, van Hove (Fn. 31), nr. 50, S. 49 f. und Gaudemet (Fn. 1), S. 244 f. Ausgangspunkt der Darlegungen des Thomas ist die Annahme, daß das Gesetz ein Produkt des von der Vernunft bestimmten Willens ist, s. Summa theologica 11 / I q. 90 a. 1: Utrum lex sit aliquid rationis und q. 97 a. 3: Omnis lex proficiscitur a ratione et voluntate legislatoris ... Dabei stellt er (in q. 97 a. 3: Utrum consuetudo possit obtinere vim legis) die consuetudo der lex gleich, ja er ist sogar der Ansicht, daß am wirksamsten durch konkludente Handlungen die innere Willensbewegung und der zugrunde liegende rationale Gedanke bekundet werden würden, q. 97 a. 3: inquantum scilicet per exteriores actus multiplicatos interior voluntatis motus et rationis conceptus efficacissime explicatur. Der Geltungsgrund der (abrogierenden) consuetudo ist für ihn je nach der politischen Verfassung des Staates bzw. der Kommune die libera multitudo oder, falls die freie Gesetzgebungsgewalt aller fehlt, die Zustimmung derjenigen, die diese Gewalt innehaben, q. 97 a. 3. Als den für die Vernunft maßgeblichen Endzweck allen Rechts sieht er das bonum commune bzw. die utilitas hominum an, q. 90 a. 2 und q. 95 a. 3; das sind für die lex humana die temporalis tranquillitas civitatis, für die lex divina die felicitas aeterna, q. 98 a. 1. Die Texte sind entnommen der ThomasAusgabe von Stanislaus Eduard Frette I Paul Mare, Doctoris Angelici Divi Thomae Aquinatis Opera Ornnia, vol. 2, Paris 1872, S. 558 ff. 97 Die Rechtsbildung in Staat und Kirche, Berlin 1861, S. 200 ff. 98 Werle (Fn. 13), S. 118 ff. 93

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2. Die päpstlichen Dekretalen und die Dekretalisten im 13. Jahrhundert 99 Die zweite, allerdings nur die derogatorische consuetudo betreffende wesentliche Geltungsvoraussetzung ist das Erfordernis der legitima praescriptio. Im Dekret Gratians findet sich dieser oder ein ähnlicher Ausdruck noch nicht. Die von Gratian aus kirchlichen Quellen und aus dem römischen Recht aufgenommenen Stellen heben nur ganz allgemein das Erfordernis der längeren Dauer der Übung hervor. Die legitima praescriptio ist vielmehr aus dem Dekretalenrecht erwachsen. Als älteste Quelle führt Jean Gaudemet einen Brief des Papstes Urban 1II. (1185 - 1187) an, in welchem dieser Gewohnheiten der Kirche von Chartres billigt 100. Darin beschränkt er sich nicht darauf, diese als rationabiles anzuerkennen. Er betont darüber hinaus, daß sie ohne Unterbrechung und ohne Widerstreit über 40 Jahre beobachtet worden seien. Allerdings war in dieser Zeit die streitige Frage der Dauer der Entstehungszeit noch nicht entschieden: Soll in Anlehnung an das römische Recht ein Zeitraum von 10 oder 20 Jahren oder in Anlehnung an die bei Gratian in C. 16 q. 3 dict. p. c. 15 § 6 genannten Präskriptionsfristen ein Zeitraum von 30 oder 40 Jahren gelten? Durchgesetzt hat sich, auch wenn die Meinungen auseinandergingen, die letztere, also die ,,kanonistische" Lösung 101. Offenbar haben hier einige Entscheidungen von lnnozenz 1II. eine Rolle gespielt 102. Wichtig war aber vor allem die Tatsache, daß sich Raymund von 99 S. dazu Schulte (Fn. 35), S.206-208; P. C. A. Kreutzwald, Oe canonica iuris consuetudinarii praescriptione, Jur. Diss. Berlin, Freiburg I Br. 1873; Brie (Fn. 13), S. 5995, 165-201; Rudolf Kästler, Consuetudo legitime praescripta. Ein Beitrag zur Lehre vom Gewolmheitsrecht und vom Privileg, ZRG KA 8 (1918), S. 154-194; Wehrte (Fn. 13), S. 97 -197; van Hove (Fn. 31), nr. 32-37, S. 35-40, auch nr. 49 ff., S.48ff.; Gaudemet (Fn. 1), S. 236-245. 100 Gaudemet (Fn. 1), S. 235 f. 101 Zur Dauer der Frist (40 Jahre) s. Brie (Fn. 13), S. 86-92; Kästler (Fn. 99), S. 192194. 102 So vor allem die Entscheidung des Papstes lnnozenz [ll. von 1200 (X 2. 12. 3) in dem Streit der Chorherren von Sutri gegen die Domherren über das von den ersteren behauptete gewolmheitsrechtlich bestehende Mitwahlrecht bei der Bischofswahl. Der Papst lehnt die Anerkenung eines Gewolmheitsrechts mit der Begründung ab, die nachweisliche bisherige dreimalige Beteiligung reiche wegen der Kürze der Zeit, die nicht bis zur gesetzlichen Verjährung gedauert habe, zum Erwerb eines Mitwahlrechts nicht aus: ius eligendi propter brevitatem temporis usque ad praescriptionem legitimam non producti sibi acquirere potuerunt; s. dazu Kästler (Fn. 99), S. 177 f. - Diese Dekretale ist im 19. Jahrhundert für Schulte (Fn. 35), S. 225 ff. einer der Beweise für seine These gewesen, daß es sich, soweit im Liber Extra, insbes. auch in der Konstitution Cum tanto, die praescriptio herangezogen werde, nicht um die Anerkennung objektiven Gewohnheitsrechts, sondem lediglich um die individuelle Ersitzung von subjektiven Rechten des öffentlichen Rechts handele; dazu eingehend Peter Landau in seinem Vortrag auf dem 25. Deutschen Rechtshistorikertag 1990 in Nijmegen ,,Die Theorie des Gewolmheitsrechts im katholischen und evangelischen Kirchenrecht des 19. und 20. Jahrhunderts", veröff. in ZRG KA 108 (1991), S. 156 - 196

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PefiaJort, der Verfasser des Liber Extra, in seinem frühen Werk, der Summa luds von 1218-1221, dafür ausgesprochen hat, daß die (derogierende) consuetudo praescripta sein müsse 103.

Im Liber Extra, dem Gesetzeswerk von 1234, ist in der Tat dann in der berühmten Konstitution Cum tanto (X 1. 4. 11) der Rechtszustand positiviert worden, wie er sich nach Gratian entwickelt hatte: Der Papst unterscheidet zwischen ius naturale und Rationabilität; Rationabilität und legitima praescriptio sind - über das Vorbild der Konstitution des Kaisers Konstantin, Cod. 8. 52. 2, 104 hinaus - Geltungsvoraussetzungen: während die römische Konstitution eine dem Gesetz widersprechende Gewohnheit verwirft, modifiziert der Papst den Text in der Weise, daß er die Autorität einer Gewohnheit akzeptiert, allerdings unter den zwei Bedingungen der Rationabilität und der legitima praescriptio. \05 Die Rahmenbedingungen für die Geltung des Gewohnheitsrechts waren damit gesetzlich bestimmt, und überdies ist der Begriff des ius positivum (erstmals) als Gegenbegriff zu dem der consuetudo festgelegt worden. 106 Den Abschluß der Entwicklung der mittelalterlichen klassischen Zeit des kanonischen Rechts bildet die Konstitution Licet Romanus Pontifex des Papstes BoniJaz VlIl. im Liber Sextus (VII. 2. 1) von 1298. Darin wird festgestellt, daß ein generelles Gesetz partikuläres Gewohnheitsrecht nur dann aufhebe, wenn es dieses ausdrücklich in seiner Regelung erwähne. 107 Diese Regelung ist das Ergebnis einer langen Diskussion im 13. Jahrhundert. Ausgangspunkt war die Tatsache, daß Gregor IX. in der Konstitution Cum tanto die Fragen offengelassen hatte, ob der Konsens des Papstes als Gesetzgeber eine weitere Geltungsbedingung der consuetudo sei, ob und wie er die Bildung von Gewohnheiten überhaupt zur Kenntnis erhalten könne und ob und wie er gegebenenfalls seinen Konsens zu artikulieren habe.

\03 Raymundo de Penyafort, Summa Iuris, Barcelona 1945, S. 35: Ad hoc autem ut consuetudo specialis sive particularis derogat legi, ista consideranda sunt: Quod sit antiqua adeo quod non extet eius memoria vel saltem sit praescripta.

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S. oben Fn. 16.

Cum tanto sint graviora peccata, quanto diutius infelicem animam detinent alligatam, nemo sanae mentis intelligit, naturali iuri, cuius transgressio periculum salutis inducit, quacunque consuetudine, quae dicenda est verius in hac parte corruptela, posse aliquatenus derogari. Licet etiam longaevae consuetudinis non sit vilis auctoritas, non tamen est usque adeo valitura, ut vel iuri positivo debeat praeiudicium generare, nisi fuerit rationabilis et legitime sit praescripta. 106 Vgl. Gaudemet (Fn. 1), S. 240. 107 Licet Romanus Pontifex, qui iura omnia in scrinio pectoris sui censetur habere, constitutionem condendo posteriorem, priorem, quamvis de ipsa mentionem non faciat, revocare noscatur; quia tamen locorum specialium et personarum singularium consuetudines et statuta, cum sintfacti et infacto consistant, potest probabiliter ignorare: ipsis, dum tamen sint rationabilia, per constitutionem a se noviter editam, nisi expresse caveatur in ipsa, non intellegitur in aliquo derogare. \05

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Einzelheiten der Diskussion können hier nur kurz wiedergegeben werden. An dem von den Dekretisten entwickelten Erfordernis der Zustimmung des Papstes als des kirchlichen Gesetzgebers hielten alle Dekretalisten und die späteren Kanonisten grundsätzlich fest. lOS Während jedoch vor 1234, dem Erlaß des Liber Extra, Johannes Teutonicus in der Glossa ordinaria zum Dekret noch erklärte, nur de scientia, nicht de tolerantia des Gesetzgebers könne gesetzwidriges Gewohnheitsrecht anerkannt werden, 109 und sich noch nach 1234 Innozenz IV. in seinen (unter seinem Namen Sinibaldus Fliscus veröffentlichten) DekretalenKommentar dieser Auffassung anschloß, 110 wurde diese bereits 1245 von Bartholomäus Brixiensis ausdrücklich abgelehnt: Sed credo quod consuetudo rationabilis et praescripta tollit leges, ut Extra, de consuetudine, c. ult. [sc. Cum tanto], etiam sine scientia principis. 111 Schließlich gelangte man zu der Auffassung, daß bei Verstreichen der Verjährungsfrist eine Vermutung für die Zustimmung des Gesetzgebers anzunehmen sei; dies hat am Ende der hier beschriebenen Epoche der berühmte Verfasser eines Dekretalenkommentars und der Glossa ordinaria zum Liber Sextus Johannes Andreae klar zum Ausdruck gebracht. 112 Auf dieser Linie liegt die Lösung des Bonijaz VIII. Dem lokalen Gewohnheitsrecht ist sie durchaus freundlich gewogen. Sie ist allerdings nicht etwa durch das vernünftige Bedürfnis lokaler Kreise oder durch den auf generelle Zulassung nicht unvernünftiger partikulärer Rechtsnormen gerichteten Willen des Papstes lOS Vgl. van Hove (Fn. 31), flf. 39, S. 41 und flf. 51, 52, S. 50-53; ders., De requisito consensu legislatoris in jure consuetudinario, Rom 1932 (Monographiae Juridicae ex Ephemeride lus Pontificum exerptae eiusve cura editae, Serie m, Fasc. XV). 109 Glossa ad D. 4 c. 4 v. abrogatae und ad D. 8 c. 7 consuetudinem, abgedr. bei van Hove (Fn. 31), flf. 49 Fn. 3, S. 48. 110 S. o. Sinibaldus Fliscus Commentaria, Apparatus in V Libros Decretalium, Druck Frankfurt 1570, Nachdruck Frankfurt/ M. 1968, in Lib. I, Tit. IID De consuetudine, n. 4 (fol. 31 v): Item oportet quod [sc. consuetudoJ sit inducta de seientia eius, qui super eos, ubi indueitur habet ordinariam iurisdictionem et potestatem condendi leges . .. et non sufficit toleratio. 111 Zitat nach van Hove (Fn. 31), nr. 49, S. 49. 112 Unzutreffend ist die Meinung von Wehrte (Fn. 13), S.247, Johannes Andreae habe lediglich den Volkswillen als gewohnheitsrechtsbegründend anerkannt und den Willen des kirchlichen Gesetzgebers ("l'influence exercee par le droit aristocratique de I'Eglise") unbeachtet gelassen. Den consensus legislatoris erwähnt der Kanonist in der Tat nicht in seinem in den Dekretalenkommentar eingefügten Traktat De consuetudine, wohl aber in seiner Kommentierung der Konstitution Innozenz' Ill. Cum tanto, ad X 1. 4. 11, n. 47, in der Druckausgabe der "Commentaria Novella", Venedig 1581, fol. 61 v: Fateor quod usus vel actus privatorum unius regni vel provineiae vel loei legem communem abrogare, id est ubique tollere, non possunt; sed derogare possunt in eo regno, provineia velloco, ut sicut ibi legem munieipalemjacere possent, sic et consuetudinem inducere. Et tamen ad obiectionis solutionem jateri oportet, quod nec in loco id possent, nisi quia papa vel princeps id expresse permittit ... Item taeite, sicut enim in alicuius praeiudieium praescribitur, et is contra quem praescribitur a iure fingitur consentire et alienare videtur, quod praescribi vel usucapi patitur ... sic cum contra ius Ecclesiae praescribit consuetudo, iuris lator consentire videtur; vgl. auch van Hove (Fn. 31), flf. 52, S. 51, dort auch Fn. 2.

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begründet. Vielmehr beharrt er darauf, daß das Oberhaupt der Kirche das gesamte Recht der Kirche an sich kenne und eigentlich das neuere Gesetz früheres Recht aufhebe. Wenn trotzdem vernünftige, ausdrücklich nicht genannte lokale Gewohnheiten fortgelten sollen, dann ist das in den Augen des Papstes lediglich ein tatsächlicher Vorgang. Es handelt sich also um eine ganz praktische Lösung, in der etwaige Rechte des Papstes prinzipiell nicht angesprochen werden und damit auch nicht aufgegeben werden können. 1I3 Die Entwicklung kulminiert schließlich in einer klaren wissenschaftlichen Begrifflichkeit. Waren noch bei den Vätern die Begriffe consuetudo, mos und traditio synonym verwendet worden, 114 so gewinnen diese im Laufe des 13. Jahrhunderts nunmehr einen eindeutig umschriebenen Inhalt. Der zentrale fachspezifische juristische Begriff wird der der consuetudo im Sinne einer Rechtsquelle, während usus nur noch ein Faktum darstellt und traditio die rechtliche Bedeutung verliert und sich allein auf den theologischen Vorgang der Übermittlung der Botschaft Christi bezieht. m Als Beispiel sei zum einen Heinrich von Segusia, Kardinalbischof von Ostia und bekannt geworden unter dem Beinamen Hostiensis, genannt. In seiner "Summa", die in den fünfziger Jahren des 13. Jahrhunderts verfaßt worden und über Jahrhunderte hin unter dem Namen Summa aurea hochberühmt gewesen ist, kann man auf die Frage: Quid sit consuetudo? als Defmition lesen: Consuetudo est usus rationabilis competenti tempore praescriptus velfirmatus, nullo actu contrario interruptus, binario actu seu contradictorio iudicio vel quod non extet memoria, inductus, usuque communi utentium comprobatus. 1I6 Zum anderen soll auf den bereits erwälmten Johannes Andreae eingegangen werden, der als einer der großen Kanonisten am Ende des hier beschriebenen Zeitraums steht. In seinem Traktat De consuetudine 117 setzt er sich in bemerkenswerter Weise mit dem Begriff der consuetudo im Vergleich zu dem der (schriftlichen) lex auseinander. 118 Als Definition gibt er zunächst die des Isidor von Sevilla wieder: ... sciendum est, quod quidam se expediunt cum Isidoro dicentes, quod Vgl. Brie (Fn. 13), S. 93 f. S. oben m. 2. m Vgl. Gaudemet (Fn. 1), S. 237.

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116 Es folgt sodann eine äußerst umfangreiche Darlegung jedes einzelnen Aspekts dieser Def'mition mit einer geradezu bestechenden Akribie. Der gesamte Text ist bei Wehrte (Fn. 13), S. 155 -188 mit einer ausführlichen Kommentierung aller dieser Aspekte durch den letzteren zu f'mden. 117 Vgl. Fn. 112. 118 Auch seine Lehre stellt Wehrte (Fn. 13), S. 199 - 247 ausgiebig, allerdings bisweilen ohne hinreichende rechtshistorische Problematisierung und Differenzierung dar; so bringt er nicht einmal zum Ausdruck, daß der Kanonist am Übergang zum Spätmittelalter (immer noch) mit der Def'mition des Isidor beginnt. Anders als bei Hostiensis zitiert Wehrle den Originaltext des Johannes Andreae nur recht spärlich; insoweit muß also auf die Druckausgabe (Fn. 112) verwiesen werden.

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consuetudo est ius quoddam moribus institutum, quod pro lege suscipitur, cum lex deficit. 119 Doch reicht ihm dies ganz offensichtlich nicht. Denn er trägt danach eine Reihe weiterer Begriffsbestimmungen vor, darunter auch die des Hostiensis. Im Mittelpunkt der Erörterungen des J ohannes Andreae steht dabei ein Aspekt, der bei dem Verfasser der Summa aurea nicht weiter hinterfragt worden war: der Gesichtspunkt der Nichtschriftlichkeit der consuetudo. Johannes Andreae zitiert Azo, der in seine Definition ausdrücklich aufgenommen hat, consuetudo est ius non scriptum 120, ebenso wie es Innozenz W. getan haben soll. 121 Zur Vertiefung dieses Problems führt er sodann die beiden wichtigsten Vertreter der ultramontanen Rechtsschule von Orleans an. Nach der Wiedergabe der Begriffsbestimmung des Jacques de Revigny (Jacobus Ravanis) weist er auf dessen Gegenposition hin: Et adverte, quia Jaco. noluit in diffinitione ponere ius non scriptum, ut ponunt Azo et Innoc. dicens, quod sicut scriptum non esse legis, ut patet in ipsius diffinitione, quae habetur.ff. de legibus. I. 1 [Dig. 1.3. 1] et facit de renunc. c. 1 /ib. 6 [VII. 7. 1]. sic et non scriptum non est de diffinitione, vel essentia consuetudinis. Immerhin hat für Johannes Andreae die Zuordnung der lex zum schriftlichen und der consuetudo zum nicht schriftlichen Recht doch eine wichtige ordnende Funktion: sed pro tanto dicitur lex ius scriptum, et consuetudo non scriptum: quia frequenter vel ut plurimum ita accidit, ff. de legi. nam ad ea [Dig. 1.3.5]. est ergo inter illa diversitas solum taciti ad expressum.ff. de legi. de quibus [Dig. 1.3.32]. Und dafür zieht er Pierre de Belleperche (Petrus de Bellapertica) heran: Pe. de Bel. bene ponebat in diffinitione ius non scriptum forte non tantum ut denotaret essentiam, quam ut denotaret frequentiam, vel differentiam inter tacitum et expressum ...

J ohannes Andreae kommt schließlich auf seine eingangs niedergelegte, von Isidor hergeleitete Definition zurück und bringt zum Ausdruck, daß er diese unter Einbeziehung der von Jacques de Revigny und Pierre de Belleperche ins Spiel gebrachten Gesichtspunkte aufrecht erhalte: Et singula verba diffinitionis Ia. et Pe. prosequendo dicemus, quod consuetudo est ius ... (= Verweis). patet per hoc, quod non est simp/iciter factum, !icet interdum pro facto, vel assuefactione summatur. nec obstat, quod consuetudo probatur, et ius non ... Item non obstat, quod ius non !icet ignorare, consuetudinem sic ... fateor enim, quod 119 N. 2, Druck fol. 62 a. Er fügt dann die etymologische Betrachtung des Isidor an, daß der Begriff wohl mit consuere = zusammennähen zusammenhänge. 120 Vgl. Wehrle (Fn. 13), S. 139. 121 Nach dem hier zur Verfügung stehenden Druck von 1570 (pn. 110) lautet dessen Formulierung allerdings consuetudo est jus non praescriptum, Lib. I, Tit. IIII De Consuetudine, n. 1. Ob der Druck auf einer anderen Handschrift basiert, als sie Johannes Andreae zur Verfügung stand, oder ob dieser den Azo falsch zitiert hat und ob Innozenz W., sollte er tatsächlich praescriptum verwendet haben, den mangelnden imperativen Charakter der consuetudo betonen wollte, kann ohne weitere Forschung nicht entschieden werden.

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non est ius in corpore iuris clausum, de quo intelligatur. Sequitur secundum Pe. 122 So gesehen kann er dann erklären: constat enim ius ex scripto, et non scripto ... 123 Die Diskussion über die ,,richtige" Bestimmung des Begriffs der consuetudo in Abgrenzung zur lex spielt im folgenden dann eine große Rolle bei der von dem Kanonisten bereits angesprochenen Frage, inwieweit die Nichtkenntnis des Rechts schade. Grundsätzlich galt, ut lex, vel canon liget ignorantes ... quod non est in consuetudine. l24 Welche Bedeutung sollte dabei den (in großer Zahl existierenden) Gewohnheitsrechtsaufzeichnungen zukommen, den redactae in scriptis consuetudines feudorum, et multarum ecclesiarum, et civitatum aliorum? Gerade hier wird für Johannes Andreae die "eigentliche" Unterscheidung zwischen ius tacitum und ius expressum wichtig: Das Gewohnheitsrecht könne die Schriftlichkeit nicht als Entstehungsbedingung haben, da es seinen Grund in dem stillschweigenden Konsens aller es Ausübenden habe. Natürlich könne dieses Recht vom Klerus oder vom Volk auf dessen Befehl ad memoriam oder (so eine andere Formulierung) ad sui continuationem, vel observationem aufgezeichnet werden. 125 Dies könne allerdings nicht als ius scriptum bezeichnet werden, cum ad solam rei memoriam fit scriptura; es sei ius expressum, non tacitum: ergo non potest dici consuetudo. 126 Dieses aufgezeichnete Gewohnheitsrecht gewinnt also einen eigenartigen Zwischenstatus, denn es wird weder schriftliches Recht im Sinne von Gesetzesrecht oder - wie heute bisweilen gerne aus der Retrospektive, etwa im Hinblick auf den Sachsen- oder den Schwabenspiegel, gesagt wird 127 - im Sinne von "gesetzesgleichem" Recht, noch bleibt es Gewohnheitsrecht, da es durch die Aufzeichnung seinem eigentlichen Grund, dem tacitus consensus entzogen wird. Die Betrachtung kann an dieser Stelle abgebrochen werden. Denn wenn auch die Entwicklung weitergegangen ist, so kann man doch mit dem Ende des 13. Jahrhunderts, wenn auch mit aller Vorsicht, einen Schlußstrich ziehen. Nachdem in der kanonistischen Wissenschaft zunehmend auch die subjektive Seite der N. 3, Druck fol. 62 a. N. 4, Druck fol. 62 a. Ähnlich in seinem Dekretalenkommentar, wo er einleitend zum Titel De consuetudine ausführt: Diximus de iure scripto, quod consistit in constitutionibus, et rescriptis. Nunc videamus de iure non scripto, quod consistit in consuetudine, Druck fol 54 a. 124 So im "Traktat" (pn. 112), n. 14 a, Druck fol. 63. 125 Insoweit gelangt es also das muß man daraus schließen - zur Kenntnis der Rechtsunterworfenen, so daß diese sich dann ähnlich wie beim Gesetz nicht mehr auf Unkenntnis berufen können. 126 Vgl. "Traktat" (Fn. 112), n. 14 und 15, Druck fol. 63. 127 Vgl. Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1: Frühzeit und Mittelalter, Ein Lehrbuch, Karlsruhe, 2. Aufl. 1962, S. 351: " ... sind die Rechtsbücher später zu Rechtsquellen geworden, die das Ansehen von Gesetzen erlangten." Vorsichtiger spricht Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1: Bis 1250, Opladen, 8. Aufl. 1987, s. 241 von "Vorboten der Gesetzbücher." 122

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consuetudo, der animus inducendi consuetudinem und die Rechtsüberzeugung, erörtert 128 und damit auch noch die Grundlagen für das heute allgemein geforderte Element der opinio necessitatis 129 geschaffen worden sind, läßt sich sagen, daß mit dem ausgehenden 13. Jahrhundert die kanonistische Theorie der consuetudo praktisch und wissenschaftlich so entfaltet ist, daß sie in der Substanz bis in unsere Zeit fortgelten konnte. Sowohl im Codex 1917 130 als auch im Codex 1983 131 ist sie in ihren Grundzügen aufbewahrt.

VI. Zusammenfassung in Thesen 1. Ziel der Untersuchung sind sowohl die Entstehungsbedingungen als auch der Inhalt der kanonistischen Lehre von der consuetudo; angesichts der Verknüpfung mit dem römischen Recht muß die römische Lehre einbezogen werden. 2. Da eine Lehre von der consuetudo Teil einer Rechtsquellenlehre ist, ist in der Frage nach den Entstehungsbedingungen bei der Struktur der Gesamtrechtsordnung anzusetzen. 3. Nur eine nach formalen und I oder inhaltlichen Klassen von Rechtsregeln differenzierte Rechtsordnung kann eine Systematisierung herausfordern; wann und wie eine solche vom Rechtsstab vollzogen wird, hängt von unterschiedlichen Bedingungen ab, wie die Entwicklungen im römischen und kanonischen Recht zeigen. 4. Die römische Rechtsordnung ist höchst unterschiedlich gestaltet gewesen: neben wenigen leges gibt es gewohnheitsmäßig angewendete Rechtsinstitute, Rechtsregeln und Parömien sowie Klageformeln. Die wissenschaftliche Neigung, diese höchst heterogene Rechtsordnung begrifflich zu erfassen, ist offenbar relativ spät erwacht (etwa 2. oder gar 3. Jh. n. Chr.). a) Unter dem Einfluß der griechischen philosophisch-politischen Lehre von den agraphoi nomoi tritt der Gegensatz von lex und consuetudo in den Vordergrund, und das gesamte Rechtssystem (ius) wird auf diese beiden Begriffe dichotomisch reduziert.

Vgl. Brie (pn. 13), S. 171 ff. . Vgl. Ludwig Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts. Bd. 1: Einleitung, Allgemeiner Teil, Schuldverhältnisse, Marburg, 3. Aufl. 1908, § 29 11, S. 71; J ose!Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und des Staates, Wien 1949, S. 118; Jürgen Baumann, Einführung in die Rechtswissenschaft (Juristische Kurzlehrbücher), München, 7. Aufl. 1984, S. 44; Karl Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, München,. 7. Aufl. 1989, § 1 I c, S.7; BGHZ 22, 317, 328 (11. 12. 1956); BVerfGE 34, 293, 297 (14. 2. 1973). 130 Lib. 1. Tit. 2, cc. 25 - 30. 131 Lib. 1, Tit. 2, cc. 23-28. 128

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b) Dabei gewinnt nach und nach der Gesetzesbegriff die vorrangige Bedeutung, und der Begriff der consuetudo wird auf jenen bezogen: consuetudo pro lege custoditur, Julian Dig. 1. 3. 32. 1 (Legalisierungstendenz). Die Gründe dieser Entwicklung müßten von den Romanisten diskutiert werden. 5. Die kirchliche Rechtsordnung ist ähnlich wie die römische Rechtsordnung verfaßt gewesen: neben einigen schriftlich fixierten Rechtsregeln, wie zB Konzilsbeschlüssen, päpstlichen Dekretalen und Ordensregeln, bestimmen im 1. Jahrtausend ganz überwiegend die Gewohnheiten das Rechtsleben. Diese werden in den Quellen mit den Begriffen consuetudo, mos, auch traditio bezeichnet und von vornherein als rechtlich relevant begriffen. Anders als im römischen Recht haben sich die Kirchenväter, die theologischen und juristischen "Denker" der Kirche, schon recht früh bemüht, den gesamten Rechtsstoff zu erfassen und zu ordnen. a) Der Grund dafür liegt in dem Vorhandensein einer autoritativen, vorrangigen Rechtsordnung, des durch Christus vermittelten göttlichen Gesetzes, das Ausgang und Ziel allen menschlichen Denkens und Handeins zu sein hat, auf das also auch das Recht auszurichten ist; der Topos, unter dem diese Autoritätsfrage von allen Kirchenvätern und Gratian diskutiert wird, ist der der ratio oder der veritas. b) Die veritas als solche ist unwandelbar. Da sie sowohl schriftlich als auch mündlich tradiert worden ist und wird, tritt auch für die Bewertung der Qualität und Beständigkeit des Rechts die Frage der Schriftlichkeit in den Hintergrund; lex oder constitutio als schriftliche Rechtsquelle und consuetudo als mündlich überlieferte Rechtsquelle gelten gleichberechtigt je nach dem, ob sie mit der ratio oder der veritas konform sind oder nicht. c) Die erstmals bei I sidor von Sevilla unter dem Einfluß des römischen Rechts festzustellende, von Gratian aber wieder zurückgedrängte Legalisierungstendenz entfaltet sich in der nachgratianischen Kanonistik und im päpstlichen Dekretalenrecht des 12. und 13. Jahrhunderts in weitgehendem Maße. Dies hängt mit der Konzentration der Macht, insbesondere auch der Gesetzgebungsbefugnis, auf den Papst zusammen. Der tacitus consensus omnium (Julian Dig. 1. 3. 32. 1) als Gesetzgeber mußte demgegemüber durchaus prekär erscheinen; er wurde später von den Kanonisten in geschickter Weise überspielt (siehe e». d) Den gemeinsamen Bemühungen der Wissenschaft und der Gesetzgebung gelingt es, eine kirchliche Lehre zu entwickeln, die die Entstehung und Geltung der consuetudo nicht nur secundum und praeter legem, sondern auch contra legem zuläßt, aber auf jeden Fall eine maßvolle Kontrolle durch den Papst als Gesetzgeber ermöglicht (X 1. 4. 11; VI 1. 2. 1). Vom römischen Recht wird ausgiebig Gebrauch gemacht, doch ist die Theorie in hohem Maße eigenständig, da und soweit es um die Bewältigung der spezifischen Probleme der Kirche geht. S'

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e) Die wichtigsten dogmatischen Instrumente dieser Kontrolle sind: Die Rückführung der Geltung der consuetudo auf den tacitus consensus des Gesetzgebers, also des Papstes; ius naturale und ratio als Prüfungsmaßstäbe, wobei der Gesichtspunkt der Rationabilität einen gegenüber dem bis Gratian überlieferten Verständnis veränderten Inhalt erhält; Erfordernis der legitima praesciptio von 40 Jahren als Voraussetzung für die Rechtsverbindlichkeit. 6. Insgesamt läßt sich sagen, daß die von Gerhard Dilcher vorgenommene Beschreibung der Rolle der Kleriker als der des Schreibens kundigen gebildeteten Funktionärsschicht bei der Verschriftlichung des Rechts aufgrund seiner typisierenden Betrachtungsweise durchaus zutreffend ist. Doch ist unter zwei Aspekten zu differenzieren: a) Während die Kleriker nicht an der Bildung der weltlichen Rechtsgewohnheiten beteiligt waren, sondern in diesem Bereich überwiegend eine ,,rechtsprotokollierende Funktion" (Gerhard Dilcher) ausübten, war ihre Rolle im kirchlichen Rechtsbereich - so wie es ihrer gegenüber den Laien überlegenen Position allgemein entsprach - bei der Gewohnheitsrechtsbildung von bestimmender Bedeutung, zumal es sich bei den Gewohnheiten häufig um Rechte handelte, die die Kleriker betrafen. b) Auf keinen Fall darf übersehen werden, daß in der historischen Realität das Gewohnheitsrecht in der Kirche stets eine erhebliche Bedeutung gehabt hat, und zwar auch noch, als seit dem 12. Jahrhundert das schriftlich verfaßte Recht immer mehr in den Vordergrund trat. Die Schaffung der umfänglichen und differenzierten kirchlichen Gewohnheitsrechtstheorie hängt gerade auch mit dieser historischen Realität zusammen. 7. Aus der Entwicklung des kirchlichen Rechts ist zu entnehmen, daß die Frage der Schriftlichkeit des Rechts lediglich ein äußerliches Moment für die Entstehung der Lehre von der consuetudo darstellt. Sie ist für den Begriff und den Inhalt des Gewohnheitsrechts sowie für dessen Abgrenzung zum Gesetzesrecht und damit für die Bestimmung des Stellenwerts der consuetudo von sekundärer Bedeutung gewesen. Diese Probleme sind aufgrund von theologischen und machtpolitischen Vor-Entscheidungen gelöst worden.

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Gewohnheitsrecht und Privileg Allgemeine Fragen und ein Befund nach Königsurkunden des 12. JahrhundertsVon Elmar Wadle

Wer sich dem komplexen Themenbereich nähert, der durch den Titel "Gewohnheitsrecht und Privileg" mehr angedeutet als umschrieben ist, begibt sich auf ein schwieriges Gelände. Je länger man sich mit den beiden grundlegenden Begriffen befaßt, desto stärker tritt ihre Problematik zutage. Nicht weniger schwierig erscheint es, den Zusammenhang zwischen beiden zu erfassen, für den im Titel das bescheidene Wörtchen "und" steht. In einer solchen Situation gibt es bekanntlich zwei Möglichkeiten. Zum einen kann man über die bisherige Forschung berichten, mit ihrer Hilfe über die Begriffe räsonieren und dann mögliche Ansätze für einige sinnvoll erscheinende Fragen erwägen. Zum anderen - und dies liegt für einen historisch Arbeitenden besonders nahe - kann man die Perspektive des Themas stark verengen und sich einer überschaubaren Quellengattung zuwenden; am Ende der Überlegungen mag man dann den begrenzten Aussagewert der Ergebnisse feststellen und es der weiteren Forschung überlassen, das Gesagte zu überprüfen und zu ergänzen.

Beide Möglichkeiten scheinen zunächst eine Alternative zu bilden; doch kann es auch sinnvoll sein, beide Wege miteinander zu kombinieren. In dieser Weise soll im folgenden vorgegangen werden. Zunächst sind einige Überlegungen zur Bedeutung und Funktion der beiden Begriffe anzustellen und mögliche Aspekte des Zusammenhangs zu erörtern (I - III); daß es nicht darum gehen kann, die Tragweite des Themas erschöpfend zu umschreiben, sei bereits hier hervorgehoben. Anschließend soll eine mögliche Fragestellung an einem konkreten Quellenbestand erprobt werden (IV - VIII).

I. Zum Verständnis von Gewohnheitsrecht Zum Stichwort "Gewohnheitsrecht" kann man sich angesichts zahlreicher Erörterungen und Beiträge I kurz fassen. Es sei vor allem daran erinnert, daß wir I Die Literatur zum Stichwort "Gewohnheitsrecht" ist nahezu unüberschaubar. Als erste Einführung ist gut geeignet der Artikel von Hermann Krause, Gewohnheitsrecht, in: Adalbert Erler / Ekkehard Kaufmann (Hg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte Bd. I, Berlin 1971, Sp. 1675-1684. -Im übrigen seien genannt zur Geschichte

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mit dem uns geläufigen Begriff Probleme haben, wenn wir die mittelalterliche Rechtswelt zu verstehen suchen. Heute hat "Gewohnheitsrecht" einen mehr oder weniger festen Platz in der Rechtsquellenlehre. Dabei verstehen wir "Gewohnheitsrecht" vor allem als Komplementärbegriff zu "Gesetz"2. Diese Bezogenheit auf den Begriff "Gesetz" der Theorie: Siegfried Brie, Die Lehre vom Gewohnheitsrecht, Eine historisch-dogmatische Untersuchung, 1. Theil: Geschichtliche Grundlegung (bis zum Ausgang des Mittelalters), Breslau 1899; Rudolf Köstler, Consuetudo legitime praescripta, Ein Beitrag zur Lehre vom Gewohnheitsrecht und vom Privileg, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung f. Rechtsgeschichte, Kan. Abt. vm (1918), S. 154-194; Rene Wehrle, Oe la couturne dans le droit canonique, Essai historique s'etendant des origines de I'Eglise au pontificat de Pie XI, Paris 1928; Wi/libald M. P/öchl, Geschichte des Kirchenrechts Bd. n, Wien/ München 1962, S. 52 ff.; Sten Gagner, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Acta Universitatis Upsaliensis, Studia Juridica Upsaliensia I, Stockholm / Uppsala / Göteborg 1960, bes. S. 216 ff., 295 ff.; Winfried Trusen, Gutes altes Recht und consuetudo - Aus den Anfängen der Rechtsquellenlehre im Mittelalter, in: Hans Hablitzel / Michael Wollenschläger (Hg.), Recht und Staat, Festschrift f. Günther Küchenboff zum 65. Geburtstag am 1.8.1972, 1. Halbbd. Berlin 1972, S. 189-204; John Gilissen, La couturne, Typologie des sources du Moyen Age occidental, Fasc 41, Turnhaut 1982. - Zur ,,Realgeschichte" des Gewohnheitsrechts seien genannt: Hermann Krause, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung f. Rechtsgeschichte (= ZRG) Germ. Abt.(= GA) 75 (1958), S. 206-251; ders., Königtum und Rechtsordnung in der Zeit der sächsischen und salischen Herrscher, in: ZRG, GA Abt. 82 (1965), S. 1-98, bes. S. 52 ff.; Karl Kroeschell, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, in: Probleme des 12. Jahrhunderts, Vorträge u. Forschungen XII, Sigmaringen 1968, S. 309-335; Gerhard Köbler, Zur Frührezeption der consuetudo in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 89 (1969), S.337-371; ders., Das Recht im frühen Mittelalter, Untersuchungen zu Herkunft und Inhalt frühmittelalterlicher Rechtsbegriffe im deutschen Sprachgebiet, Köln/Wien 1971, bes. S. 121 ff., 167 ff., 191 ff., 227 ff.; Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht, Untersuchungen zum Rechtsverständnis im fränkisch-deutschen Mittelalter, Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich Bd. XV, Köln / Wien 1985, bes. S. 1344 ff.; Karl Kroeschell, Wahrheit und Recht im frühen Mittelalter, in: Sprache und Recht, Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters, Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand z. 60. Geburtstag, Berlin / New York 1986, S. 455 -473. - Entsprechende Studien zur westeuropäischen Geschichte: Fran~ois O/ivier-Martin, Le roi de France et les mauvaises coutumes au moyen äge, in: ZRG GA 58 (1938), S.108-137; Ludwig Buisson, König Ludwig IX., der Heilige, und das Recht, Studie zur Gestaltung der Lebensordnung Frankreichs im hohen Mittelalter, Freiburg 1954; O/ivier Guil/ot, Consuetudines, consuetudo: Quelques remarques sur I' apparition de ces termes dans les sources fran~aises des premier temps capetiens (a l'exception du Midi), in: Memoires de la Societe pour I'Histoire des Droits et des Institutions des anciens pays bourguinions, comtois et romands. 40re fasc., Dijon 1983, S. 21-87. - Zuletzt die Abhandlungen in: La Couturne, Recueils de la Societe Jean Bodin pour I'Histoire comparative des institutions, Tom. Ln, 2ieme partie: Europe occidentale medievale et modeme, Bruxelles 1990; hier bes. J ean Gaudemet, La couturne en droit canonique, S. 41 -61; Gerhard Köbler, Consuetudo und Giwonaheit, Gewohnheit und Gewohnheitsrecht im deutschen Frühmittelalter, S. 65-87; Dieter Werkmüller, Gewohnheitsrecht in deutschen Weistümern, S. 311-324; Jürgen Weitzel, Gewohnheiten im lübischen und sächsisch-magdeburgischen Rechtskreis, S. 325-358. 2 Vgl. etwa Bernhard Windscheid, Lehrbuch der Pandekten, 7. Aufl., Frankfurt a. M. 1891, Bd. I, §§ 14-18 (einerseits S. 36: "Gesetz ist der Ausspruch des Staates, daß Etwas Recht sein soll"; andererseits S. 38: "Unter Gewohnheitsrecht versteht man dasjenige Recht, welches, ohne vom Staate gesetzt worden zu sein, thatsächlich geübt wird".);-

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bereitet keine unüberwindlichen Schwierigkeiten mehr, nachdem wir von der im 19. Jahrhundert entfalteten Theorie gelernt haben, den Gesetzesbegriff einigermaßen sicher zu bestimmen 3• Für die ältere Zeit freilich liegen die Dinge viel komplexer. Es existiert zwar seit der Zeit der Kanonisten und Legisten des 12. / 13. Jahrhunderts eine Theorie der Rechtsanwendung und der Rechtsentstehung, die nicht zuletzt das Verhältnis von lex und consuetudo behandelt 4 ; doch ist sie noch voller Ungewißheiten. Überdies bleibt das Problem, ob und inwieweit die Ergebnisse dieser Theorie uns dabei helfen können, die gelebte mittelalterliche Rechtswelt besser zu verstehen. Schaut man in die gängige rechtshistorische LiteraturS , so gewinnt man den Eindruck, daß im Mittelalter das Verhältnis der beiden aufeinander bezogenen Schlüsselbegriffe "Gewohnheitsrecht" und "Gesetz" anders gewichtet war als in der modemen Theorie. Es sieht so aus, als sei "Gewohnheitsrecht" ein sicherer Terminus gewesen, während "Gesetz" und "Gesetzgebung" mit all ihren Entsprechungen nicht unerhebliche Probleme bereiten. Die jüngere Diskussion um die Ralf Dreier, Artikel "Gewoimheitsrecht", in: Staatslexikon, 7. Aufl. Bd. TI, Freiburg 1986, Sp. 1059-1063: Gewohnheitsrecht ist "dasjenige Recht, das ohne in einem förmlichen Rechtserzeugungsverfahren gesetzt zu sein, kraft lang dauernder Übung und der Überzeugung von der rechtlichen Notwendigkeit ihrer Befolgung und / oder Anwendung gilt"; nebst Hinweis auf BVerfGE 22, 114 (121); Fritz Ossenbühl, Gesetz und RechtDie Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, in: lose!lsensee / Paul Kircho!(Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Bd. ill: Handeln des Staates, Heidelberg 1988, S. 281-314, hier S. 301: "Gewohnheitsrecht ist von den Rechtsbeteiligten und Betroffenen selbst geschaffenes Recht, Urrecht, im Gegensatz zum geplanten, organisierten, gesetzten Recht allmählich gewachsenes Recht". 3 Vgl. vor allem Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, 2. Aufl. Göttingen 1958, bes. S. 78 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenjörde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, Schriften z. Öffentlichen Recht I, 2. Aufl. Berlin 1981; Rolf Grawert, Gesetz, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Kosel/eck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe Bd. TI, Stuttgart 1975, S. 863-922. 4 Als allgemeinere Darstellungen seien hier genannt: Gagner (Fn. 1); Dieter Wyduckel, Princeps Legibus Solutus, Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und St~tslehre, Berlin 1979. Im übrigen vgl. etwa folgende Spezialstudien: Rolf Sprandel, Uber das Problem des neuen Rechts im frühen Mittelalter, in: ZRG KA (A) 48 (1972), S. 117137; William E. Brynteson, Roman law and legislation in the Middle Ages, in: Speculum 41 (1966), S. 420-437; Hans Martin Klinkenberg, Die Theorie der Veränderbarkeit des Rechts im frühen und hohen Mittelalter, in: P. Wilpert (Hg.), Lex et sacramentum im Mittelalter, Miscellanea Mediaevalia Bd. 6, Berlin 1969, S. 157 -188, bes. S. 172 ff.; Winfried Trusen, Römisches und partikuläres Recht in der Rezeptionszeit, in: Kurt Kuchinke (Hg.), Rechtsbewahrung und Rechtsentwicklung, Festschrift für Heinrich Lange z. 70. Geburtstag am 25.3.1970, München 1970, S. 97 -120; Karl Gerold Fürst, Zur Rechtslehre Gratians, in: ZRG KA 57 (1971), S. 276-284; Andre Gouron, ,,Non dixit: Ego sum consuetudo", in: ZRG KA 74 (1988), S.133-140; Harry Dondorp, Review of Papal Rescripts in the Canonists' Teaching, in: ZRG KA 76 (1990), S. 172-253. S Dazu Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte Bd. I, Frühzeit und Mittelalter, 2. Aufl. Karlsruhe 1962, S. 128 ff., 345 ff.; Heinrich Mitteis, Deutsche Rechtsgeschichte, neu bearb. v. Heinz Lieberich, 18. Aufl. München 1988, Kap. 18 und 37; Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte I (bis 1250), Hamburg 1972, S. 149 ff., 182 ff., 242 ff., 310 ff.

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Geschichte der Gesetzgebung 6 hat vieles problematisiert und dabei auch "Gewohnheit" und "Gewohnheitsrecht" verwendet, zumeist aber so, als seien dies mehr oder weniger feste Größen. Nach alledem scheint die Aufgabe fast unlösbar, die früh-und hochmittelalterliche Rechtswelt zu beschreiben, ohne sich dabei auf gelehrte Distinktionen zu stützen: eine Zeit, die uns selbst nicht hinreichend deutlich sagt, was wir unter lex, edictum, constitutio u. ä. zu verstehen haben, erschwert uns weithin auch das Verständnis von consuetudo, usus, mos und ihren auf das Recht bezogenen volkssprachlichen Äquivalenten. Auch die Tatsache, daß die Theorie des 12. Jahrhunderts die Begriffe langsam mit festeren Konturen zu versehen beginnt, hilft nur bedingt weiter; denn wir dürfen nicht ohne weiteres unterstellen, daß diese Begriffe das Verständnis derjenigen widerspiegeln, die in der Praxis mit dem Recht umgegangen sind. Zumindest für die Rechtskultur nördlich der Alpen ist insoweit immer Vorsicht angezeigt. Wir tun also gut, in unserem Thema den Terminus "Gewohnheitsrecht" unbestimmt zu halten. Wir müssen damit rechnen, daß consuetudo u. ä. ein mehr oder weniger großes Bedeutungsfeld haben. Es reicht von der ,,Rechtsgewohnheit" i. S. Dilchers 7 bis zur consuetudo i. S. der antik-kirchlichen Tradition, die im Fruhmittelalter wohl nie ganz verdrängt worden ist und in der wissenschaftlichen Theorie des 12. / 13. Jahrhunderts neu formuliert wird. Diese Hinweise zum Terminus "Gewohnheitsrecht" müssen hier genügen, nicht zuletzt deshalb, weil es ja gerade Sinn unserer Veranstaltung ist, mittelalter6 Zusammenfassend jetzt Hermann Krause, Gesetzgebung, in: HRG (1) Bd. I, Sp. 1606-1619. - Im übrigen: Heinz Mohnhaupt, Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im An~ien Regime, in: Ius Commune IV (1972), S. 188-239; Armin Wolf, Die Gesetzgebung der entstehenden Territorialstaaten, in: Helmut Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte Bd. I, München 1973, S. 517 - 800; Hans Schlosser, Zum Rechtsquellencharakter der bayerischen Polizeimandate des 16. Jahrhunderts, in: Archivalische Zeitschrift 75 (1979), S. 225-232; Armin Wolf, Gesetzgebung und KodifIkation, in: Peter Weimar (Hg.), Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert, Zürcher Hochschulformum Bd. n, Zürich 1981, S. 143 - 171; Reiner Schulze, Geschichte der neueren vorkonstitutionellen Gesetzgebung, in: ZRG GA 98 (1981), S. 157-235; Bernhard Diestelkamp, Einige Beobachtungen zur Geschichte des Gesetzes in vorkonstitutioneller Zeit, in: Zeitschrift f. Historische Forschung 10 (1983), S. 385-420; Jürgen Weitzel, Merkantilismus und zeitgenössische Rechtswissenschaft, in: Volker Press (Hg.), Städtewesen und Merkantilismus in Mitteleuropa, Köln 1983, S. 45-81, bes. S. 56 ff.; Hans Schlosser, Rechtsgewalt und Rechtsbildung im ausgehenden Mittelalter, in: ZRG GA 100 (1908), S. 9-52; Dietmar Willoweit, Gesetzgebung und Recht im Übergang vom Spätmittelalter zum frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaat, in: Okko Behrends I Christoph Link (Hg.), Zum römischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff, Abhandl. d. Akademie d. Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 157, Göttingen 1987, S. 123-149; Hans Schlosser, Rechtssetzung und Gesetzgebungsverständnis im Territorialstaat Bayern im 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift f. bayerische Landesgeschichte 50 (1987), S. 41-61. 7 Vgl. den Beitrag von Gerhard Dilcher in diesem Bande.

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liches Gewohnheitsrecht oder Rechtsgewohnheit von möglichst vielen Seiten her zu betrachten, und die Aufgabe dieses Beitrags gerade darin besteht, vom Privilegienwesen her auf das Phänomen zu blicken und auf diese Weise eine weitere Facette zu gewinnen, welche das Gesamtbild deutlicher werden lassen kann. Daraus ergibt sich zugleich, daß es notwendig ist, den Bezugspunkt Privileg näher zu umschreiben.

11. Zum Begriff Privileg Beim Versuch, den Terminus ,,Privileg" genauer zu bestimmen 8 , zeigt sich ebenfalls, daß es leichter ist, die Aufgabe zu benennen, als ihr gerecht zu werden. Man tröstet sich mit dem Gedanken, daß die Suche nach einem für die Zwecke des Rechtshistorikers brauchbaren Begriff des Gesetzes ebensolche Probleme beschert 9. Die dort geführte Diskussion tröstet indes nicht nur, sie hilft auch weiter, insoweit nämlich, als es sinnvoll erscheint, den Begriff nicht allzu starr zu fixieren und, dem Beispiel Diestelkamps 10 folgend, mit einem teilvariablen Begriff zu arbeiten, einem Begriff also, dessen Kernbereich feststeht und dessen zusätzliche Merkmale nach Epoche und Umfeld und nicht zuletzt nach der jeweiligen Fragestellung zu variieren sind. Ein solches Vorgehen liegt umso näher, als der Begriff ,,Privileg" - auch insoweit gibt es eine gewisse Parallele zum Begriff "Gewohnheitsrecht" - zum Begriff "Gesetz" in einem bestimmten Verhältnis zu stehen scheint. Dies wird deutlich, wenn wir abermals auf die Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts schauen 11. 8 Die Literatur hierzu ist kaum weniger umfangreich als jene zu "Gewohnheitsrecht". Erste Überblicke bieten die Artikel von Hermann Krause, ,,Privileg", mittelalterlich" und Heinz Mohnhaupt, ,,Privileg, neuzeitlich", in: HRG 1 Bd. m Sp. 1999-2011; jetzt Wolter, in diesem Band. - hn übrigen vgl. etwa: Dominikus Lindner, Die Lehre vom Privileg nach Gratian und den Glossatoren des Corpus iuris canonici, Regensburg 1917 (Fn. 1); Plöchl (Fn. 1), S. 58 ff.; Hermann Krause, Die Rolle der Bestätigung in der Hohenstaufenzeit, Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik, Festschrift f. Hermann Eichler, Wien 1977, S. 387 -409; ders., Der Widerruf von Privilegien im frühen Mittelalter, in: Archivalische Zeitschrift 75 (1979), S. 119-134; ders., Dauer (Fn. 1), bes. S. 231 ff.; ders., Königtum (Fn. 1), passim; Heinz Mohnhaupt, Untersuchungen zum Verhältnis Privileg und Kodifikation im 18. und 19. Jahrhundert, in: Ius Commune V (1975), s. 71121; ders., Privatrecht und Privilegien, in: Symposion in Krakau 9. -12. Okt. 1979,Ius Commune Sonderh. 15, Frankfurt a. M. 1981, S. 58 -75; Schulze (Fn. 6), S. 167 f., 203 ff.; Gerhard Dilcher, Königliche Privilegienemeuerung und kirchliches Reformdenken bei Konrad m., in: Clausdieter Schott / Claudio Soliva (Hg.), Nit anders denn liebs und guets, Petershauser Kolloquium aus Anlaß d. 80. Geburtstags von Karl S. Bader, Sigmaringen 1986, S.47-55. 9 Vgl. etwa die Arbeiten von Schulze (pn. 6), S. 167,203 ff.; Schlosser, Rechtsgewalt (Fn.6), bes. S. 29 ff.; Diestelkamp (Fn. 6), S. 389 ff.; Willoweit (pn. 6), S. 126 f. m. Anm.16. 10 Diestelkamp (Fn. 6) aaO. 11 Bezeichnend die Passagen bei Heimbach, Artikel ,,Privilegium", in: Julius Weiske (Hg.), Rechtslexikon Bd. vm, Leipzig 1954, S.492-503, bezeichnend S.494: "Die

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Hier hat der Begriff Privileg zunächst einen festen Platz innerhalb der Rechtsquellenlehre. Im Laufe des Jahrhunderts verliert er diesen Platz allerdings völlig. Seine Funktionen im Gesamtsystem werden von anderen Begriffen übernommen 12; im Privatrecht etwa von den Begriffen "Subjektives Recht" und ,,Rechtsgut" , im öffentlichen Recht von den Begriffen"Verwaltungsakt" und "Subjektives öffentliches Recht". Soweit ,,Privileg" die Bedeutung hatte, etwas über die Entstehung von Recht auszusagen, wurde es vom "Gesetz" verdrängt, soweit nicht der Begriff "Verwaltungsakt" noch eine gewisse Rolle zu spielen hatte. Heute ist uns der Begriff ,,Privileg" verlorengegangen; wenn von Rechtsetzung die Rede ist, die den Kriterien Allgemeinheit und Gleichheit nicht mehr recht genügt, so spricht man nicht mehr von ,,Privileg", sondern von ,,Einzelfallgesetz", ,,Maßnahmegesetz" o. ä. Dieser knappe Blick auf das 19. Jahrhundert zeigt, daß man Privileg als Instrument der Rechtsetzung im Einzelfall begreifen kann, mithin als Sonderfall der Gesetzgebung. Eine solche Vorstellung läßt sich mit einer gewissen Vorsicht auch für die Betrachtung älterer Zeiten verwenden. Sie mag überall dort praktikabel sein, wo es eine einigermaßen präzise Vorstellung von "Gesetz" und "Gesetzgebung" gegeben hat. Im 19. Jahrhundert ist dies ohne Zweifel der Fall, wie schon die Konsequenz zeigt, die man gezogen hat: Je mehr man sich des Zusammenhangs bewußt wurde, umso entbehrlicher wurde der Begriff "Privileg". Kann der Bezug auf Gesetz und Gesetzgebung aber auch für andere Zeiten durchgehalten werden? Zweifel hat man schon, ob ein solches Vorgehen für das Verständnis der früheren Neuzeit hilfreich ist 13. Für das MittelLehre von den Privilegien in dem heutigen Sinne" (im Sinne von: Ausnahmegeset;ze für alle oder mehrere gleiChartige Fälle, Anm. d. Verf.) ist eigentlich dem Gebiete des Civilrechts fremd, obgleich sie bisher fast immer in dem allgemeinen Theile desselben mit abgehandelt worden ist; sie gehört vielmehr in das Staatsrecht, und es sind daher die in den Quellen des römischen und canonischen Rechtes enthaltenen Bestimmungen über Privilegien nur mit Vorsicht anzuwenden". Im übrigen vgl. Zöpfl, ,,Privilegien; Privilegienhoheit", in: Carl von Rotteck / Carl Welcker, Staatslexikon XIII, Altona 1842, S. 163 -172; Paul Hinschius, ,,Privilegium", in: Karl Freiherr von Stengel (Hg.), Wörterbuch des Deutschen Verwaltungsrechts 2. Bd., Freiburg i. Br. 1890, S. 309-315; Paul Hinschius / Wilhelm Kahl, ,,Privilegium (nach staatlichem und kirchlichem Recht)", in: Freiherr Karl von Stengel / Max Fleischmann (Hg.), Wörterbuch des Deutschen Staatsund Verwaltungsrechts Bd. m, 2. Aufl. Tübingen 1914, S. 196-201; Paul Hinschius, Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland Bd. m, Berlin 1883 (Neudr. Graz 1959), S. 805 ff. (§ 193), hier S. 805: ,,Eine besondere, von dem gemeinen Recht abweichende Rechtsnorm (s. g. lex specialis)", S. 814: ,,Da das Privilegium den Charakter einer gesetzlichen Anordnung hat ... "; 12 Hierzu siehe Diethelm Klippei, Historische Wurzeln und Funktionen von Immaterialgüter- und Persönlichkeitsrechten im 19. Jahrhundert, in: ZNR 1982, S. 132-155; Heinz Mohnhaupt, Vom Privileg zum Verwaltungsrecht, Beobachtungen zur dogmengeschichtlichen Entwicklung in Deutschland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Erk Volkmar Heyen (Hg.), Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem An~ien Regime, lus Commune Sonderh. 21, Frankfurt a. M. 1984, S. 41-58; Barbara Dölemeyer, Vom Privileg zum Gesetz am Beispiel österreichischer Erfindungsprivilegien, in: lus Commune XV (1988), S. 57 -71.

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