Getaktete Zeiten: Von Kalendern und Zeitvorstellungen in Literatur und Film 9783110773750, 9783110773361

Time(s) and calendrical rhythms are both subjects of and creative elements in literature and film. But it is recurring,

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German Pages 353 [358] Year 2022

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Getaktete Zeiten: Von Kalendern und Zeitvorstellungen in Literatur und Film
 9783110773750, 9783110773361

Table of contents :
Vorbemerkung
Inhalt
Bei sich selber sein: Zu Alexander Honolds sechzigsten Geburtstag
Kalender und Kalendarisches
Die kalendarische Phantasmagorie angesichts des Anthropozäns
Koloniale Erinnerungskultur: Kalendergeschichten aus der Südsee
Kalendarische Verkehrung: Mit Proust durch die Nacht
Robert Walsers Kalendergeschichten: Zeitbezüge in Das „Tagebuch“-Fragment von 1926 und Radio
Hagauers Wandkalender, Kluges 60 Stunden und die Zeit der Engel: Paradoxien des Kalendarischen in Musils Mann ohne Eigenschaften (dritter Teil und Nachlass)
Epistemologie der Exemplarität: Bertolt Brechts Kalendergeschichten
Kalendergeschichten? Kurzprosa und Kolumnen von Adelheid Duvanel
Funktionen von Kalendern im Film: Eine kleine Bestandsaufnahme nebst Versuch einer Typologie
Zeitsynthesen? Überlegungen zu einigen Voraussetzungen der Zeitform ‚Kalender‘
Zeitvorstellungen und Zeitwahrnehmung
Die Iden des März: Jeder Verrat hat seine Zeit
Das keineswegs ganz regelmäßige Bauernjahr: Über den Zusammenhang von Schreiben und Ackerbau
Sub specie aeternitatis: Scheintodnarrative als Grenzfälle der Zeitwahrnehmung (Dante, Stricker, Boccaccio)
Goldenes Zeitalter und andere Zeitvorstellungen: Novalis, Heine, Kleist
Modern Times im Dreikaiserjahr: Zeitreflexion und erzählerische Zeitgestaltung in Fontanes Roman Die Poggenpuhls
Rhythmus als ‚Tiefenzeit‘: Zum Konnex von Lebensphilosophie und ästhetischer Moderne um 1900
„Mir hat die Sternenuhr die große Zeit geschlagen“: Revolution in Hofmannsthals Großem Welttheater
Das Gedächtnis im Ohr: Vom Geschlecht des Erinnerns in Rilkes Sonette an Orpheus
Kafkas Zeitsätze
Nachts nach dem Krieg: Uhren und Uhrzeiten in Wolfgang Borcherts Prosa
„Es hat sich heut nicht viel ereignet“: Aspekte von Zeitlichkeit in Hans Sahls Exilgedicht Kalenderblatt
Heute kommt die Sonne etwas früher als gestern: Zeit und Zeitlichkeit in Primo Levis Erzählen
Zeitzünder: Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän
Die Zeit als Purgatorium in Lukas Bärfuss’ Hundert Tage (2008): Einige Reflexionen über die Zeitlichkeit
Beiträgerinnen und Beiträger

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Getaktete Zeiten

Getaktete Zeiten

Von Kalendern und Zeitvorstellungen in Literatur und Film Herausgegeben von Christof Hamann und Rolf Parr

ISBN 978-3-11-077336-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077375-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-077384-2 Library of Congress Control Number: 2022937692 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: audioworm / iStock / Getty Images Plus Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorbemerkung Was, wenn nicht Fragen von Zeit(‐en) und ihren kalendarischen Rhythmen, sollte das genuine Thema der Literaturwissenschaft sein? Erzählen Romane und Filme doch in der Regel gerade nicht in Form des einfachen zeitlichen Nacheinanders, sondern entwickeln komplexe Formationen zeitlicher Arrangements mit Vor-, Nach- und Gleichzeitigkeit,Vor- und Nachgeholtem hinsichtlich der Inhalte sowie dem Spiel der Beschleunigung bzw. Dehnung im Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit. Obgleich man all dies als Literaturwissenschaftler/-in schon früh mit der Unterscheidung von Histoire und Discours lernt, sind gerade die rhythmisch wiederkehrenden Zeiten, ihre Wahrnehmung und schließlich die vielfältigen Formen von Kalendarischem als nicht nur Verfahren, sondern auch Themen literarischer und filmischer Texturen bisher nicht so umfassend in den Blick genommen worden, wie man dies eigentlich hätte erwarten können. Eine Ausnahme stellen hier die von Alexander Honold kontinuierlich betriebenen Forschungen dar, darunter die Habilitationsschrift Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800 (Berlin 2005), die die komplexe Zeitlogik in Hölderlins Dichtung als „Arbeit am Kalender“ versteht, und dann der eine erste, was die zeitliche Spanne und Vielfalt der behandelten Autoren angeht aber bereits breit angelegte Bilanz seiner Kalenderforschungen ziehende Band Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur (Basel 2013). Gemeinsam haben die hier versammelten Beiträge, dass sie durch diese ‚kalendarischen‘ Arbeiten von Alexander Honold und nicht selten auch durch freundschaftlich-bereichernde Gespräche mit ihm inspiriert sind. Sie alle versuchen auf der Basis seiner Forschungen weiterzudenken, neue Autor/-innen, neue thematische Aspekte und Fragen in den Blick zu nehmen. Auf die eine oder andere Weise zeigen die Beiträge uns alle als diejenigen, die von Alexander Honold lernen durften, als Schüler/-innen ebenso wie als Kolleg/-innen. Nichts liegt daher näher, als ihm diesen Band zu widmen. Köln und Essen im April 2022 Christof Hamann und Rolf Parr

https://doi.org/10.1515/9783110773750-001

Inhalt Martin R. Dean Bei sich selber sein: Zu Alexander Honolds sechzigsten Geburtstag

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Kalender und Kalendarisches Boris Previšić Die kalendarische Phantasmagorie angesichts des Anthropozäns

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Thomas Schwarz Koloniale Erinnerungskultur: Kalendergeschichten aus der Südsee Gary Wetz Kalendarische Verkehrung: Mit Proust durch die Nacht

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47

Lucas Marco Gisi Robert Walsers Kalendergeschichten: Zeitbezüge in Das „Tagebuch“-Fragment von 1926 und Radio 59 Maximilian Bergengruen Hagauers Wandkalender, Kluges 60 Stunden und die Zeit der Engel: Paradoxien des Kalendarischen in Musils Mann ohne Eigenschaften (dritter 73 Teil und Nachlass) Christof Hamann Epistemologie der Exemplarität: Bertolt Brechts Kalendergeschichten Christine Weder Kalendergeschichten? Kurzprosa und Kolumnen von Adelheid Duvanel Rolf Parr Funktionen von Kalendern im Film: Eine kleine Bestandsaufnahme nebst Versuch einer Typologie 107

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VIII

Inhalt

Ralf Simon Zeitsynthesen? Überlegungen zu einigen Voraussetzungen der Zeitform 129 ‚Kalender‘

Zeitvorstellungen und Zeitwahrnehmung Hans Richard Brittnacher Die Iden des März: Jeder Verrat hat seine Zeit

141

Robert Stockhammer Das keineswegs ganz regelmäßige Bauernjahr: Über den Zusammenhang von Schreiben und Ackerbau 153 Simon Aeberhard Sub specie aeternitatis: Scheintodnarrative als Grenzfälle der 165 Zeitwahrnehmung (Dante, Stricker, Boccaccio) Rolf-Peter Janz Goldenes Zeitalter und andere Zeitvorstellungen: Novalis, Heine, 181 Kleist Inka Mülder-Bach Modern Times im Dreikaiserjahr: Zeitreflexion und erzählerische Zeitgestaltung in Fontanes Roman Die Poggenpuhls 193 Christine Lubkoll Rhythmus als ‚Tiefenzeit‘: Zum Konnex von Lebensphilosophie und ästhetischer Moderne um 1900 219 Nicola Gess „Mir hat die Sternenuhr die große Zeit geschlagen“: Revolution in Hofmannsthals Großem Welttheater 239 Manfred Koch Das Gedächtnis im Ohr: Vom Geschlecht des Erinnerns in Rilkes Sonette an Orpheus 253 Oliver Simons Kafkas Zeitsätze

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Inhalt

IX

Andrea Bartl Nachts nach dem Krieg: Uhren und Uhrzeiten in Wolfgang Borcherts 275 Prosa Stefan Hermes „Es hat sich heut nicht viel ereignet“: Aspekte von Zeitlichkeit in Hans Sahls Exilgedicht Kalenderblatt 291 Hubert Thüring Heute kommt die Sonne etwas früher als gestern: Zeit und Zeitlichkeit in 301 Primo Levis Erzählen Klaus Birnstiel Zeitzünder: Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän

319

Anna Karško Die Zeit als Purgatorium in Lukas Bärfuss’ Hundert Tage (2008): Einige Reflexionen über die Zeitlichkeit 329 Beiträgerinnen und Beiträger

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Martin R. Dean

Bei sich selber sein: Zu Alexander Honolds sechzigsten Geburtstag Lieber Alexander, der Mann, der den Tisch verlässt, um noch schnell Zigaretten zu holen, und dann nie mehr zurückkehrt, ist vielleicht unser aller Doppelgänger. Es gibt im Leben Situationen, in denen man sich buchstäblich ein anderes Leben wünschen würde. Wer kennt das nicht? Sind wir nicht alle immer nur vorübergehend bei uns zu Hause? Packt uns der Überdruss, ziehen wir gerne aus unserem Leben aus und suchen hoffnungsvoll eine andere Adresse für unser Ich. Regelmäßig und alle Jahre wieder wollen wir uns für einige Wochen beurlauben, um ein anderer zu werden, um ein authentisches, freieres und intensiveres Leben zu führen – und stranden dann an fernen Küsten mit einem Kater wieder in der eigenen Biografie. „Ferien“, schreibt Valentin Groebner, „sind das Versprechen, das eigene echtere Ich wieder zu bekommen, das ursprünglichere, eigentlichere.“ Wie viele von denen, die jährlich in Europa verschwinden, ein neues Leben finden, wissen wir nicht. Wir kennen auch die Namen jener nicht, die bei ihrer unfreiwilligen Flucht aus widrigen Umständen ihr Leben verlieren. Zuweilen wird bekannt, dass jemand auf einem fernen Kontinent nochmals eine Familie gegründet, Kinder gezeugt und ein neues Haus gebaut hat. Unter anderem Namen, versteht sich, und in der Hoffnung, mit dem Namenswechsel auch gleich seine Geschichte loszuwerden. Es wäre indes vermessen, in diesen Ausreißern nur Glückspilze zu sehen. Von Katzen sagt man, dass sie sieben Leben hätten, während Menschen lebenslänglich eingeschweißt sind in ihre ganz eigene Kausalität, die ihr Schicksal bleibt. Dabei pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Die Chancen, mit dem zweiten Leben doch nur das erste zu wiederholen, sind groß. 1967 schwamm der australische Premierminister Harold Holt ins Meer hinaus und kehrte nicht mehr zurück. Kam er dabei zu Tode? Es gab Gerüchte, wonach er sein Ableben nur vorgetäuscht hatte, um mit einer Geliebten durchzubrennen. Eine andere Version geht dahin, dass er als chinesischer Agent von einem U-Boot abgeholt worden ist. Da er nie mehr auftauchte, musste man ihn für tot erklären – aber vielleicht hatte er nur einen alten Menschheitstraum wahrgemacht. Dabei führen wir, zumindest seit Sigmund Freuds Entdeckung des Unbewussten, alle mehr oder weniger ein Doppelleben. Wenn Träume mehr sind als Schäume und einen Realanteil an unseren projektiven Sehnsüchten haben, dann stehen wir immer mit einem Fuß im sündigen Leben. Nachts gleiten wir hinüber in jene Region, in der Teile unseres spröden Alltagsselbst wie leuchtende Anhttps://doi.org/10.1515/9783110773750-002

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Martin R. Dean

amorphosen wiederkehren: unser Leben als schamlos Verfremdetes. Solche Abstecher ins Unbewusste, das weiß die Neurologie, erfrischen das Ich und vielleicht ist jeder Traum ein Zipfel des Ungelebten, den wir im Morgengrauen gerade noch erhaschen. Vielleicht hast auch du, Alexander, dir zuweilen vorgestellt, wie es wäre, ein anderer zu sein. Einem Kindheitstraum nachzugeben, ein Siedler in Südamerika zu sein. Entspricht nicht auch der Wunsch, in einem fremden, wenn auch benachbarten Land heimisch zu werden, einem Verlangen nach Verwandlung? Vorbereitet dazu werden wir durch Bücher. In Büchern, Theaterstücken und Romanen entdeckt man das andere Leben, das man nicht gelebt hat. Die Utopien, zu deren Verwirklichung es nicht gereicht hat, und die Abgründe und Katastrophen, denen man vielleicht deswegen entgangen ist, weil man statt zu leben einfach gelesen hat. Durchs Lesen werden wir größer, geräumiger und hellhörig für das Ungelebte in uns. In Margriet de Moors Roman Erst grau dann weiß und blau ist es eine Frau, Magda, die eines Tages die Koffer packt und ohne Angabe von Gründen für zwei Jahre aus dem Leben ihres Ehemannes verschwindet. Die unangekündigte Flucht in ein anderes Leben ist natürlich der Albtraum für jeden Zurückgelassenen. Doch bricht man nicht ungestraft aus seinem alten Leben aus. Magda, die zwei Jahre lang ihre Wünsche auslebt – und damit fast so etwas wie ein richtiges Leben im falschen führt –, bezahlt ihren Exodus bei ihrer Rückkehr mit dem Tod. Wie tautologisch sich alle Versuche ausnehmen, der eigenen Biografie Adieu zu sagen und, quasi im Copy-and-paste-Verfahren, eine zweite an ihre Stelle zu setzen, wird der einsehen, der die Sache grundsätzlicher bedenkt. Es kann durchaus sein, dass sich das erste Leben erschöpft hat und seinen Elan in einer festen Spurrille aushaucht und einem nur das Nachdenken hilft, aus der Rille zu kommen. Vielleicht steckt, analog einer russischen Puppe, unser zweites Leben immer schon im ersten und gelangt mit wachsender Reflexion allmählich zu sich selber. Das behauptet mit einiger Plausibilität der französische Philosoph François Jullien in seinem Buch Ein zweites Leben. Jullien führt aus, dass unser zweites Leben gleichsam evolutionär aus dem ersten Leben hervortritt. Ab einem bestimmten Moment wird der Blick auf unser Leben von einer Luzidität bestimmt, die uns die Feinstofflichkeit unserer Erfahrungen erkennen lässt und wir durchschauen die Gesetzmäßigkeiten unseres Lebensskripts besser. „Man kann beginnen“, schreibt Jullien, „aus den Begrenzungen hinauszutreten, die man für schicksalhaft oder wesenhaft abgesteckt hielt […].“ Geht man im ersten Leben wie durch einen englischen Garten, den wechselnden Prospekten, den überraschenden Perspektiven ausgeliefert und von der Farbenpracht erschlagen, also mitten in der Natur, besteigt man im zweiten Leben gleichsam einen Heißluftballon, um

Bei sich selber sein: Zu Alexander Honolds sechzigsten Geburtstag

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einige Meter über dem Plan zu schweben und dessen Struktur und Architektur zu erkennen. In der Psychologie, zu der man gerne flüchtet, um über das Leben nachzudenken, unterscheidet man zwischen fluider und kristalliner Intelligenz. Letztere meint das Wissen und die Ausdrucksfähigkeit, die mit den Jahren zunimmt und die volkstümlich Altersweisheit heißt. Wobei das Alter bei jedem zu einem anderen Zeitpunkt beginnt. Mit siebzig beim einen, mit vierzig beim anderen. Letztlich beschreibt Altern ja nichts anderes als ein Verhältnis zur eigenen Vergänglichkeit. Tritt diese deutlicher ins Bewusstsein, verwandelt sich auch der Bezug zu sich selber. Die Intelligenz wird kristallin und gipfelt in der wachsenden Fähigkeit, Gelerntes und Erfahrenes in Beziehung zu setzen – mithin Erfahrungsstränge neu zu verbinden. „Das eigentliche Problem mit der Zeit“, schreibst du in Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur, „bereiten allerdings weder die Messwerte noch die Konventionen; heikel und folgenschwer ist vielmehr die ihr eigene, variable Ökonomie. Je mehr man davon hat, desto weniger wert ist sie; und je knapper sie wird, desto schneller vergeht sie.“ Das zweite Leben entwächst dem ersten, wenn die Zeit als knappe Ressource hervortritt. Weder verlangsamt knappe Zeit noch beschleunigt sie das Leben; sie intensiviert es. Die neu erwachte Luzidität lässt vieles, was durch Stress, hormonale Übersteuerung, Pflichten und Agenda als Triebsand unseres alten Lebens ans Licht kommt, als zufällig erscheinen. Andersherum erhalten Schicksalsschläge einen tieferen Sinn und Verwirrungen und Verirrungen erweisen sich als notwendige Umwege, ohne welche das Ziel nicht erreicht worden wäre. „Ich gelange zu der Feinzeichnung – der Faser – die im Raster […] eine gänzlich andere Konfiguration der Dinge durchscheinen lässt“, so Jullien. Im zweiten Leben lösen wir uns endlich aus der rein funktionellen Sichtweise und werden freier. Luzidität kann auch ganz schön desillusionierend sein und dem Griesgram in uns Vorschub leisten. Dem, der wie ein Philosoph über dem Schlachtgetümmel seines ersten Lebens thronen will, müssen all die Intrigen, Niederträchtigkeiten und Machtspiele erst einmal gleichgültig werden. Das braucht Arbeit am Ich, man muss über sich selber hinwegkommen. Man könnte sich den Luziden z. B. als einen vorstellen, der in Gesellschaft nicht mehr lügen und sich verstellen will und sich damit restlos unbeliebt macht. In jedem Fall aber nimmt die Aufrichtigkeit zu, und das kann nicht nur angenehm sein. Der klare Blick auf sich selber belohnt sich dadurch, dass man größere Risiken eingeht: Angesichts des eigenen Verfallsdatums hat man weniger zu verlieren. Die mythologische Seifenblase des Selbst zerplatzt. Man löst sich von den Bedingtheiten und erreicht eine Leichtigkeit des Selbst, die gerade im Loslassen von diesem bestehen könnte.

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Martin R. Dean

Interessant wird von hier aus ein Blick auf die gängigen biografischen Entwicklungsmodelle, die von einem organischen Wachstums- und Zerfallsmodell ausgehen, als wären wir Blumen und nicht soziale Wesen: Geburt, Heranwachsen, Ausbildung und Beruf als strahlende Lebensmitte, dann Pensionierung und Rückzug aus dem tätigen Leben, Dahinwelken. Dagegen steht der Qualitätszuwachs des zweiten Lebens. Auch die erstaunliche, wenn auch oft unzugängliche Wucht künstlerischer Alterswerke – man denke bloß an Beethoven oder Beckett und andere – widerspricht diesem biologistischen Lebensmodell. Natürlich fällt, wie früh auch immer, auf das zweite Leben das milde Licht des Paradieses. Schönheit in der Dauer erfahren wir ja auch bei der zweiten oder dritten Lektüre eines Romans. Schickt man sich zur wiederholten Lektüre eines bewunderten Werks an, wird man nicht mehr dem Schluss des Buches entgegenhasten.Vielmehr kostet man jede Seite aus, wobei einem Details auffallen, die man bei der Erstlektüre überlesen hat. Das Wiederlesen birgt ebenso viele Überraschungen, wie es Bekanntes in neuem Licht erscheinen lässt, weil man ein anderer geworden ist. Und man entscheidet, an welchen Stellen man länger verweilt und was man kursorisch überfliegt. Und so, wie wir endlich häuslich werden im Text, kommen wir auch im zweiten Leben bei uns selber an. Ich wünsche dir, Alexander, den ganzen Zauber, den ein zweites Leben in sich birgt.

Kalender und Kalendarisches

Boris Previšić

Die kalendarische Phantasmagorie angesichts des Anthropozäns Mondphasen sind dem Nomaden und Hirten Taktgeber des Lebens. Schließlich sind helle Nächte ideal zum Weiden und Weiterziehen. Die siderische Kalenderzählung hingegen ist entscheidend für den Ackerbau, beispielsweise für die Aussaat zum richtigen Zeitpunkt – im wiederkehrenden Lauf der Jahreszeiten. Darum handelt es sich beim heute gültigen Kalender nur noch scheinbar um eine Kompromissformel, bei der die zwölf Monate leicht gedehnt werden, damit sie ins tropische Jahr passen. Denn unsere Monate orientieren sich nicht mehr am Mondzyklus. Lediglich die Oster-Regelung des Konzils von Nicäa im Jahre 325 kann als letztes Zugeständnis an das Mondjahr und damit an eine nomadische Lebensweise gelten, die in ihrer Genealogie auf den Exodus des Volkes Israel verweist. Das Konzil hielt fest, dass Ostern jeweils auf den Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond zu fallen hat. So richtet sich der höchste christliche Festtag – immer bei bereits abnehmendem Mond – samt seiner Folgefesttage nicht nach dem siderischen Jahreszeitenlauf. Ostern und Pfingsten bilden für uns keine Orientierung in Bezug auf Vegetation. Osterglocken und Pfingstrosen sind eine kalendarische contradictio in adiecto. Dabei handelt es sich gewissermaßen um einen religiösen Sonderfall, um eine Ausnahme von der Regel, welche einer sesshaften Lebensweise ackerbaubasierter Zivilisationen entspricht. Und so greift der heutige weltweit gültige Kalender „auf astronomische, klimatische und agrikulturelle Wissensbereiche zurück“ (Honold 2013, 15). Wie sehr sich die jährliche Wiederholung von Vegetation und damit verbundener agrikultureller Tätigkeit in der Benennung niederschlagen, zeigen die archaisierenden Monatsnamen in den beiden slawischen Sprachen, im Kroatischen und im Ukrainischen, exemplarisch. Schön erkennbar wird die klimatische Verschiebung der leicht nördlicher und kontinentaler gelegenen Ukraine in den vegetationsentscheidenden Monaten: So entspricht der Monat, in dem das Gras („trava“ [kroat.] / „трава“ [ukr.]) wächst, dem kroatischen April („travanj“) bzw. dem ukrainischen Mai („травень“), der Monat der Lindenblüte Juni („lipanj“) bzw. Juli („Липня“) und der Monat der Getreideernte, der Sichelmonat, Juli („srpanj“) bzw. August („Серпень“).

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Boris Previšić

1 Die Erdgeschichte überrollt die Zivilisationsgeschichte Doch wo stehen wir heute, wenn sich die klimatischen und damit auch die agrikulturellen Eckwerte verschieben, weil man mehrere Wochen früher im Vergleich zum bisherigen Durchschnitt auf die Alp ziehen, Getreide aussäen und ernten muss oder die Obstbäume blühen und die Weintrauben reif sind? Oder jenseits dieses Gradualismus: Was stellen wir an, wenn die sinnvollen durchschnittlichen Annäherungs- und Orientierungswerte, die sich alljährlich wiederholten, auf einmal entfallen, wenn die bisherigen Taktgeber aus dem Takt geraten? Denn die Klimaerwärmung bringt es mit sich, dass sie gegen den Nordpol hin, u. a. wegen der sich verringernden Albedo des Nordpolarmeers, überproportional größer ausfällt. Dadurch verringert sich die Temperaturdifferenz zwischen tropischer, gemäßigter und arktischer Zone. Der Antrieb der Höhenwinde – wie des in unseren Breitengraden bekannten Jetstreams – lässt nach. Diese Winde treiben Hoch- und Tiefdruckzonen nicht mehr regelmäßig weiter, sondern kommen ins Schlingern und schlängeln sich zwischen diesen Zonen hindurch. Damit erhöht sich der Effekt der Klimaerwärmung nochmals. In den zu stabilen Hochdruckzonen wird es wie im Sommer 2021 in Nordamerika, in Südosteuropa und in Sibirien noch trockener und heißer. In den stationären Tiefdruckgebieten wird es noch feuchter, und es folgen längere und heftigere Starkniederschläge wie in Mitteleuropa, China oder Indien im selben Jahr. Diese Muster wiederholen sich zwar, durchkreuzen aber jegliche klimatische Stabilität und Prognostizierbarkeit im Sinne des Kalenders – weil die Hoch- und Tiefdruckzonen sich geografisch alljährlich wieder neu nach dem Zufallsprinzip verteilen (vgl. Woolings 2020). So erfolgte der Alpaufzug 2019 wegen trockenem und schneearmem Winter einen Monat früher als bisher, 2020 hingegen fast einen Monat später wegen eines schneereichen Winters und Frühjahrs. Solche Amplituden und damit verbundene Extremereignisse, so verheerend sie auch für die Vegetation sein mögen, gehören zum neuen „klimatischen Regime“ (Latour 2017). Der anthropogene Klimawandel, der sich durch disruptive Unregelmäßigkeiten auszeichnet, rückt das bisherige kalendarische Hintergrundrauschen in den Vordergrund, indem er es selbst zum Ereignis macht. In diesem Sinne gibt es auch keine „tautologische Kernfunktion des Klapperns der [Jahres‐]Zeitzeichen“ (Honold 2013, 27) wie beim späten Hölderlin mehr. Die bisherige Geschichtsschreibung war auf die jährliche Wiederholung angewiesen, auf eine Stabilität des Kalenders, der die Ereignishaftigkeit von menschlichem Tun, aber auch von Naturkatastrophen umso mehr zu exponieren imstande ist. Das gilt selbst für die Histoire de longue durée eines Fernand Braudel (vgl. Chakrabarty 2021). Erdge-

Die kalendarische Phantasmagorie angesichts des Anthropozäns

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schichtlich gesprochen, ist der Kalender das Resultat der klimatischen Stabilität des Holozäns, woran sich die systemischen Erdwissenschaften in Bezug auf die planetaren Grenzen orientieren (vgl. Rockström et al. 2009). Bis heute ist unklar, ob der Einfluss des Menschen diese klimatische Stabilität erzeugt hat oder ob umgekehrt diese Stabilität überhaupt Sesshaftigkeit ermöglicht hat. Wahrscheinlich handelt es sich um einen negativen Rückkopplungseffekt, d. h. um eine gegenseitige Stabilisierung. Zum eigentlichen Erwärmungstreiber, welcher gegen den paläontologischen Trend des Pleistozän Richtung Abkühlung infolge der Milanković-Zyklizität anhält, gehören seit achttausend Jahren Rodungen für Schiffsbau, Ackerbau und Viehzucht mit entsprechend höherem atmosphärischem Kohlendioxidgehalt und seit fünftausend Jahren zusätzlich der Reisanbau mit seinem hohen Methanausstoß (vgl. Ruddiman 2003/Where are we in the Milankovitch Cycle?). Der Mensch als Homo erectus der letzten 1,3 Millionen Jahre (vgl. Steffen et al. 2015) und dann als Homo sapiens seit gut dreihunderttausend Jahren, der sich gegen seine engeren Verwandten, wie z. B. gegen den Neandertaler vor rund vierzigtausend Jahren, durchsetzte, ist aber viel eher das Resultat seiner Anpassungsleistungen an die extremen Klimaschwankungen des Pleistozän zwischen längeren Eiszeiten und kürzeren Warmphasen zu verstehen – wie übrigens Ratten, Schweine und Gräser auch, „allesamt Spezies, die in der Lage sind, gestörte und labile Ökosysteme schnell zu kolonisieren“ (Horn und Bergthaller 2019, 95). Das ‚Natürliche‘ des Menschen erklärt sich aus seiner evolutionären Sonderstellung, gegen seine Bedürftigkeit ohne schützendes Fell sowie mit langer Kindheit Maßnahmen zu ergreifen – mit Kleidung, Feuer oder sozialem Verbund. Doch daraus können wir nicht ableiten, dass der Mensch als Spezies in Zukunft besonders überlebensfähig ist – ganz abgesehen davon, dass er in erster Linie die klimatisch und geologisch stabilisierende Biodiversität spätestens seit der großen Beschleunigung mit zunehmender Geschwindigkeit unwiederbringlich vernichtet. Er katapultiert sich nicht mehr, wie er es aus dem Pleistozän evolutionär gewohnt ist, wieder zurück in eine Kaltphase bzw. Eiszeit. Von diesem Bedrohungsszenario hat er sich die entsprechenden Narrative gebildet, die bis in unsere Gegenwart reichen, denken wir nur an das Schreckgespenst einer erneuten Eiszeit, die man bis vor Kurzem mit Klimawandel verbunden hat – wie selbst noch im Katastrophenfilm The Day After Tomorrow (2004), der zwar von der globalen Erwärmung ausgeht. Doch der erhöhte Süßwasserabfluss durch das abschmelzende Grönlandeis stoppt den Golfstrom, wodurch auf der nördlichen Hemisphäre binnen Kurzem wieder eine Eiszeit ausbricht. Es scheint, als ob man noch nicht wirklich Hitzeszenarien durchspielen kann, obwohl wir uns neu mit einer „Heißzeit“ (vgl. Latif 2020) konfrontiert sehen, für die selbst evolutionär seit den letzten 2,8 Millionen Jahren kein Erfahrungsnarrativ vorhanden ist. Wahrschein-

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Boris Previšić

lich ist die universelle Erzählung von der großen Flut noch als Residuum von Erwärmungen nach Kälteperioden mit ansteigendem Meeresspiegel im Pleistozän oder ganz spezifisch als Übergang vom Pleistozän in das Holozän vor elftausendsiebenhundert Jahren einzuordnen. Aber Szenarien, die bereits heute Realität sind und in denen Teile der Erde wegen der Nachthitze unbewohnbar werden (vgl. Wallace-Wells 2019), haben wir als Spezies schlichtweg nicht in petto und somit weder in unserem kulturellen Gedächtnis noch in unserer DNA. Unabhängig davon, wo wir den Beginn des Anthropozän ansetzen (vgl. Horn und Bergthaller 2019, 33 – 43), wirft das Bewusstsein für eine neue anthropogene Erdepoche die Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung und Erdgeschichte auf. Zugespitzt wird die Frage in den Postcolonial Studies, welche die Befreiungsgeschichte seit den Aufklärungen zwar universalisiert, aber bisher den Zusammenhang zur Verfügbarkeit fossiler Energieträger nicht hergestellt hat. Dessen gewahr wird sich der Historiker Dipesh Chakrabarty 2009, in dem Jahr also, in welchem die internationale Forschergruppe um Johan Rockström vom Stockholmer Resilience Center die planetaren Grenzen der Biosphäre festlegte. „Philosophers of freedom“, so Chakrabarty, were mainly, and understandably, concerned with how humans would escape the injustice, oppression, inequality, or even uniformity foisted on them by other humans or human-made systems. Geological time and the chronology of human histories remained unrelated. This distance between the two calendars […] is what climate scientists now claim has collapsed. (Chakrabarty 2021, 32)

Die Kalender, welche auseinandergehalten wurden, einerseits der Kalender der geologischen Zeitmessung („geological time“), andererseits der Kalender der historiografischen Ereignisgeschichte („the chronology of human histories“), mag im abstrakt Allgemeinen des Kalendarischen schon immer idealiter konvergiert haben, aber – wie bereits ausgeführt – nur auf dem stabilen Hintergrund siderischer, klimatischer und agrikultureller Stabilität. Bemerkenswerterweise erfolgen die kalendarischen Umwälzungen im Zuge der Französischen Revolution in dem Moment, in welchem der Mensch beginnt, auf eine geologische Ressource zurückzugreifen, welche zwar Energie zur Befreiung der eigenen Muskelkraft verfügbar macht, welche aber größtenteils vor über 300 Millionen Jahren zur Karbonzeit der Atmosphäre entzogen, in stabilen Kohlenstoff umgewandelt und geologisch abgelagert wurde. Das Kalendarische als Prinzip behauptet eine Natürlichkeit zu einer Zeit, in welcher sie ihm zu entgleiten beginnt, und ist somit selbst ein Produkt des Holozäns und damit von Zivilisationen, deren kulturelle Basis agrikulturell ist. Den Kalender einer geologischen Zeit – wie ihn Chakrabarty postuliert – gibt es wahrscheinlich gar nicht. Jedenfalls nicht als historisch gewachsenes kulturelles

Die kalendarische Phantasmagorie angesichts des Anthropozäns

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Produkt. Vielmehr markiert die Sinnentleerung des Kalenders und des profanisierten Datums wie bei Hölderlin und Büchner nur noch die Leerstelle des Endes des Holozäns und des sich anbahnenden Anthropozäns, der wiederum ein Bewusstsein für eine Menschheitsgeschichte vor einer Zivilisationsgeschichte schafft. Als Gradmesser für dieses Bewusstsein kommen wir zu drei literarischen Einsatzstellen: zu Hölderlins Chiron aus den Nachtgesängen, kurz nach 1800 entstanden; zu Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän, erschienen 1979, im Windschatten des erstarrten Kalten Kriegs kurz vor der Überschreitung des Schwellenwerts von 350 ppmV des atmosphärischen Klimagases Kohlendioxid; und schließlich zur Zeitzeugin Nastassja Martin mit ihrem Erstling An das Wilde glauben (2021, Original: Croire aux fauves, 2019). Es sind letztlich alles Verlustgeschichten, welche die Zukunft neu modellieren.

2 Hölderlins Chiron: Verlustgeschichte des Holozäns als Anschluss an die Gegenwart? Die Nachtgesänge Friedrich Hölderlins erscheinen in Wilmans Taschenbuch für das Jahr 1805. Die Eröffnungsode firmiert unter „Chiron“ (zur metrischen Kontextualisierung von Hölderlins „Chiron“ im 17. und 18. Jahrhundert ausführlicher Previšić 2022). Es handelt sich um den Zentauren, in dem sich die verschiedenen Fähigkeiten und Wissensfelder der Menschheit in ihrer Tiefengeschichte des Pleistozäns konzentrieren: Es sind dies Jagd, Medizin und Musik. In der Mischgestalt zwischen Pferd und Mensch steht Chiron für die Doppelheit des Menschen: für seine biologische Bedingtheit einerseits und für seine zivilisatorischen Errungenschaften andererseits, für seine Triebhaftigkeit und Rationalität. Die dreizehn Strophen umfassende Ode Chiron, die damit das weitaus längste Gedicht des ganzen Zyklus von neun Gedichten ist, erfasst den Moment, in dem der Zentaur, vom giftigen Pfeil des Herakles getroffen, sterben möchte. Er kann die Sterblichkeit aber nur von Prometheus erhalten, den wiederum Herakles dafür befreien muss (vgl. Reitani 2001, 1475). Die Eröffnungsstrophe nennt das Licht, welches für das Heraustreten des Menschen aus den Zusammenhängen seiner bisherigen Lebensbedingungen, der Nacht, steht: Wo bist du, Nachdenkliches! das immer muß Zur Seite gehn, zu Zeiten, wo bist du, Licht? Wohl ist das Herz wach, doch mir zürnt, mich Hemmt die erstaunende Nacht nun immer.

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Die Beschreibung der Zerrissenheit zwischen Licht und Nacht, zwischen Suspension des Denkens und Nachdenkens schlägt sich in der durchbrochenen Form nieder. Die übliche Zäsur der alkäischen Ode trennt just „Náchdenk/líches“, das als Wort gleichzeitig umakzentuiert wird. Der Gegenstand des Denkens ist somit immer gebrochen, aufgebrochen in seiner Silbigkeit, akzentuiert in seiner Ableitung. Das Unentschiedene wird durch die Verschiebung von Wort- und Versakzent exponiert und verweist auf die beiden Folgestrophen 2 und 3, in denen ein prähistorischer Zustand beschrieben wird. Bemerkenswerterweise besinnt sich hier Chiron auf seine Jugend als Jäger und Sammler im Pleistozän. Statt der visuellen Metaphorik in der Zerrissenheit zwischen Licht und Nacht ist die akustische Wahrnehmung entscheidend: „Sonst nämlich folgt’ ich Kräutern des Wald’s und lauscht’/Ein weiches Wild am Hügel“ (Str. 2, V. 1 und 2). Der Einschub, der die Frage des Beginns „wo bist du Licht?“ (Str. 3, V. 2) und den Gegensatz zwischen dem Herz (der eigenen Körperlichkeit sowie Beseelung) und der historischen Zeit der Nacht des Wartens auf die Erlösung wiederaufnimmt, führt zur längsten Periode der Strophen 4 bis 6, welche dem Zugeständnis folgt, dass man selbst wohl „herzlos“ war (Str. 3, V. 2). Es handelt sich um eine fulminante Zivilisationskritik, in welcher sich Syntaktik und Strophenform nicht mehr in Deckung bringen lassen. Vielmehr überborden diese Strophen in Enjambements. Der Mensch, hier: Chiron, lässt sich auf den Zyklus der Jahreszeiten ein. Der „Krokus“ steht für den Frühling, der „Thymian“ für den Sommer und das „Korn“ für den Herbst (Str. 4, V. 1 und 2), er wird sesshaft und orientiert sich dementsprechend nicht mehr am Mond, sondern am Jahreszyklus der Sterne, am siderischen Kalender. Den besseren Zustand des Pleistozäns hat er durch die Nutzbarmachung von Ackerfläche – „Und bei mir // Das wilde Feld entzaubernd“ (Str. 4, V. 4, und Str. 5, V. 1) – und in der nominalistischen Objektivierung und Distanznahme – „lernt’ ich, / Aber das Nennbare nur“ (Str. 4, V. 3 und 4) – im Holozän verloren. Der Verlust im Holozän und die daraus resultierende Sehnsucht fallen jeweils auf die Enjambements zwischen den Strophen 4 und 5 sowie zwischen den Strophen 5 und 6. So wird der Bruch und gleichzeitig das zeitlich Vorwärtsdrängende direkt in der alkäischen Form aufgehoben. Den Zerfall fortschreitender Zivilisation im Holozän (symbolisiert in der Vergiftung durch den Pfeil des Herakles) kann nur noch göttliche Erlösung rückgängig machen. Mit dem Einsatz der siebten Strophe tritt das Akustische wieder in den Vordergrund: Zeus’ kathartisches Gewitter überzieht hörbar das Land: „Dann hör’ ich oft den Wagen des Donnerers“ (Str. 7, V. 1). Damit hält die Wende Einzug. Das Tagesereignis erhält seine Resonanz in der Nacht. Die Umschlagstelle ist im letzten Vers rhythmisch markiert: „Reiniget sich, und die Quaal Echo wird.“ (Str. 7, V. 4) Die akustischen Verhältnisse der alkäischen Odenform selbst fordern an dieser Stelle eine Umakzentuierung ein. Es lautet also nicht – wie für unsere

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Ohren gewohnt – „und die Quáal Écho wird“, sondern – wie aus dem Griechischen ἠχώ (ēchṓ = Eigenname der Nymphe) – „und die Quáal Echó wird“ (Nachtgesänge, 2:54). Der etymologische Rückverweis verallgemeinert das spezifische Phänomen der Schallspiegelung zum Schall selbst. Zum einen korrespondiert nun Chirons Verletzung durch Herakles’ Pfeil sowohl mit der akustischen Kulisse der Antike als auch mit der griechischen Sprache selbst. Zum anderen kommt dem Ohr eine neue Mittlerstellung zwischen Innen- und Außenwelt des menschlichen Subjekts, aber auch zwischen zivilisationsgesättigtem Holozän samt siderischer Ordnung und vorzivilisatorischer Tiefengeschichte des Pleistozäns zu. Die Umakzentuierung unterstreicht die Gleichwertigkeit und Spannung zwischen diesen beiden Sphären: Innen und Außen sind ebenso real; Chirons „Quaal“ wird zum Schallereignis selbst. Das Kommen des „Retter[s]“ wird in seiner Zerstörung hörbar; das „Unrecht“ auf der Welt als „Stachel des Gottes“ (Str. 10, V. 1) bleibt zwar weiterhin unerklärbar. Doch „die Erd’ ist anders“ (Str. 10,V. 4). Das Wechselspiel zwischen Innen und Außen, zwischen Nacht und Tag, zwischen Geschichte und Rettung erhält in der akustischen Realisierung und in der akustischen Umakzentuierung einen anderen, einen neuen Stellenwert. Es ist die Natur selbst, welche wieder Heimat bietet. Die Eingangsfrage nach dem Licht wird hier partiell eingelöst, auch wenn die Sonne selber – ganz nach Keplers Erkenntnis zu den exzentrischen Himmelskörperbahnen (Honold 2005, 18 – 73) – als „Irrstern des Tages“ (Str. 12, V. 1) angesprochen wird. Die Rückkehr in die ursprüngliche Heimat des Zentauren Chiron, an seiner „Bäche Weiden“ (str. 11, v. 2), erweist sich als Aufbruch in die Zukunft, welche das Holozän hinter sich lässt. Die letzte, die dreizehnte Strophe scheint wie angefügt. Die bisherige Redeinstanz in der ersten Person wird nun als Knabe angesprochen: „Nimm nun ein Roß, und harnische dich und nimm / Den leichten Speer, o Knabe!“ (Str. 13, V. 1 und 2) Im Unterschied zur vorhergehenden Ruhe gerät das Gedicht nochmals selbst auf die exzentrische Bahn der Sonne, welche selbst zur Taktgeberin einer stets wandelbaren Form wird. Zum Abschluss wird nochmals der sprachliche Klang selbst als Echo gespiegelt, wenn Herakles als französischer Held, als Hercules, in der „Rückkehr“ anagrammatisch anklingt: „Die Wahrsagung / Zerreißt nicht, und umsonst nicht wartet, / Bis sie erscheinet, Herakles Rückkehr.“ (Str. 13, V. 2– 4) Die klangliche Struktur der Form greift direkt ins Verhältnis zwischen Holozän und Pleistozän und damit zwischen historiografischer Zivilisationsgeschichte und Vor- bzw. Tiefengeschichte ein. Doch was bedeutet die Ankunft dieses Gottes, die Befreiung von den Schmerzen? Wenn die „Erd’“ nun „anders“ ist, kündet Hölderlin ein erstes Bild des Anthropozäns avant sa lettre an – ein Bild, das von einem postrevolutionären Idealzustand überdeckt wird, der wiederum auf eine Zeit vor dem Holozän zurückweist. Hölderlins Synkretismus eröffnet uns auf diese Weise eine

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Perspektive, welche die Vorgeschichte des Menschen im Pleistozän mit der Gegenwart des Anthropozäns zusammendenkt.

3 Der Mensch an der Schwelle zum Anthropozän: vom involvierten Beobachter zur Körpererfahrung Amitav Ghosh unterstellt zwar dem spätmodernen Roman Unangemessenheit in den Erzählmitteln: „Im Palast der ernsten Erzählliteratur wird niemand die Frage stellen, wie Kontinente entstanden, niemand wird sich auf einen Zeitenlauf von Tausenden Jahren beziehen.“ Das wirke absurd und kippe ins Satirische, so argumentiert Amitav Ghosh und fügt an: „Das Wesen des Klimawandels setzt sich aus genau den Phänomenen zusammen, die vor Langem aus dem Territorium des Romans verstoßen wurden – aus Kräften von unvorstellbarer Gewalt, die unerträglich enge Verbindungen über unermessliche Zwischenräume in Zeit und Raum hinweg herstellen.“ (Ghosh 2017, 90) Wie aber ein solches Narrativ dennoch aussehen könnte, führt uns Max Frisch in seiner Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän aus dem Jahre 1979 vor. Zwar folgen wir hier noch den Gedanken des verwitweten Rentners Armin Geiser, der starke tagelange Niederschläge im Tessin erlebt, diesen auf einer Wanderung auch zu entkommen versucht, dabei sein Leben riskiert und gegen seinen Gedächtnisverlust ankämpft. Doch es wird schnell klar, dass der Mensch nicht mehr abgehoben von Bedingungen der Biosphäre beobachten kann. So wird der Erzählfluss ständig von Erinnerungen, Reflexionen und Notizen durchkreuzt und unterbrochen. Die Tiefenzeit wird nicht im üblichen Erzählmodus thematisiert, sondern als Schnipsel aus dem „Lexikon in zwölf Bänden“ (Frisch 1981, 18), dem Großen Brockhaus aus dem Jahre 1953. Die Zeit ist allgegenwärtig, weil sie in der ganzen Erdgeschichte nie stehengeblieben ist (Frisch 1981, 87), und erscheint fast beiläufig in unterschiedlichen Facetten, so im wiederholten Einwurf des Dorfbewohners „Che tempo, che tempo“ (Frisch 1981, 33, 40 und 73). In der Mehrdeutigkeit und Gleichzeitigkeit von Periode, Zeitpunkt und Wetter („tempo“) spiegelt sich die historische Beschränkung auf das laufende Geschehen aus menschlicher Erfahrung und Sicht. Der Erzähler hingegen sieht den „Lehm unter den Tomaten“ und das „Geröll im Salat“ im Rahmen einer sich ankündenden Katastrophe, bei der der ganze Hang abrutscht. Zudem gerät der durch die Schnipsel unterbrochene Erzählfluss zusätzlich in Wiederholungen: Das prägnanteste Beispiel dafür ist die Notiz, welche erste Anhaltspunkte für das Holozän gibt mit dem Eintrag: „Am Ende der Eiszeit lag der Meeresspiegel mindestens 100 Meter tiefer.“ (Frisch 1981, 34) Dieser

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wird abschließend präzisiert mit der Datierung von Steinzeit und Jungsteinzeit (vgl. Frisch 1981, 34– 35, 74). Unkommentiert wird der Anstieg des Meeresspiegels antizipiert vom Sintflut-Ausschnitt aus Genesis 7, 17– 24. (vgl. Frisch 1981, 25). So durchzieht das Aufschreibesystem der Notula, in welchem sich der Gedanke kristallisiert und wieder abrufbar wird (vgl. Barthes 2003), und durchbricht zugleich die Erzählung, um einerseits Übersicht, andererseits Abrufbarkeit zu garantieren (vgl. Frisch 1981, 50 – 51) Das Vorläufige und Provisorische der Notiz wird damit zur Tiefenschicht und zum Rahmen der Erzählung der Erinnerung, in welcher Island als Landschaft erscheint, um in die Tiefenzeit abzutauchen, in eine „Welt wie vor der Erschaffung des Menschen“: „Mancherorts ist nicht zu erraten, welches Erdzeitalter das ist.“ (Frisch 1981, 70) So bilden erzählerische Zeitlosigkeit und Imagination einer erdgeschichtlichen Zeitlosigkeit den extradiegetischen Rahmen, der dennoch in die Erzählung eingebunden ist. Zugleich extrapoliert er diesen Rahmen in die Zukunft unserer heutigen Gegenwart des Anthropozäns: „Wenn das Eis der Arktis abschmilzt, so ist New York unter Wasser.“ (Frisch 1981, 70) Diese Stelle wird durch den Eintrag Mensch (homo, anthropos) im Brockhaus auf der Folgeseite ergänzt, worin die „Sonderleistung“ im „Abstandnehmen zu der Welt“ formuliert wird: „Der Mensch hat sich und seine Daseinsumstände, so weit die Überlieferung zurückreicht, als ein Rätsel empfunden; er ist sich selbst unausschöpfliches Thema kraft seiner Fähigkeit, sich (als das ‚Subjekt‘) der Welt, in der er lebt (den ‚Objekten‘) gegenüberzustellen“ (Frisch 1981, 71). Die Trennung des Menschen von seiner Umwelt ist somit auch Ursache des hier noch ungenannten Anthropozäns. Gleichzeitig wird die Extrapolation in die Zukunft später wiederholt (vgl. Frisch 1981, 103), womit sich die Tiefenzeit dem alleinigen Erzählstrang der Erinnerung entzieht. Im Ausloten der Extreme wird zugleich die absichtslose Wirkmacht im Abschmelzen des arktischen Eises durch die Klimaerwärmung wie die beabsichtigte Handlungsgewalt in der fatalen Objektivierung von Natur als reiner Ressource des Anthropozäns beim Namen genannt und damit der Mensch im Holozän endgültig verabschiedet. Die Anthropologin Nastassja Martin spezialisiert sich auf arktische Völker insbesondere in Alaska und, auf der anderen Seite der Beringstraße, auf der russischen Halbinsel Kamtschatka. Dort lebt sie mit einem der indigenen Völker, mit den Ewenen, zusammen, welche seit dem Zerfall der Sowjetunion wieder zurück in die Wälder gegangen sind, um ihrer animistischen Lebensweise nachzukommen. Martin begegnet nach einer Mehrtagestour im Hochgebirge unvermittelt einem Bären. Es kommt zu einem Überlebenskampf, den die Autorin nicht als Ereignis verbuchen kann – „zu viel, um nicht sofort in das eine oder andere Denksystem eingegliedert zu werden; zu viel, um nicht von einem bestimmten Diskurs instrumentalisiert […] zu werden“ (Martin 2021, 99). Selbst die ewenischen Jäger und Jägerinnen sehen sich gezwungen, diesen Vorfall, bei dem ihr der Bär

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einen Teil ihres Kieferknochens herausbeißt und den sie knapp überlebt, im Mythos der „miedka“ zu überformen. Seit der Begegnung ist Martin für sie halb Mensch und halb Bär (vgl. Martin 2021, 29). Die Leidensgeschichte bringt sie über eine Operation in einem ehemaligen sowjetischen Militärspital nach Frankreich zurück, wo drei Nachoperationen am völlig entstellten Gesicht und Kieferknochen folgen. Das Rückgängigmachen der neolithischen Revolution, die Konsequenz der Begegnung zwischen Anthropozän und Pleistozän, ereignet sich an ihrem Körper. Sie nimmt aber nicht eine Opferrolle ein. Vielmehr entscheidet sie sich, ihren Körper als Botschafter zwischen „entferntesten Gegenden“ (Martin 2021, 70) anzunehmen. So zeugt er in seiner Entstellung von der Nähe zum „animistischen Wesen“: „Seine Textur zeugt zugleich von einem Übergang und einer Rückkehr.“ (Martin 2021, 30) So schmerzhaft die Begegnung zwischen Frau und Bär gewesen sein mag, so sehr wird sie zur Signatur eines neuen Weltverständnisses, apostrophiert als „Kuss“ (Martin 2021, 77).

4 Reflexion des Kalendarischen als Beginn des Anthropozäns Eduard Renner stellt in seinem Goldenen Ring über Uri (1941), in dem er Sagen und Gebräuche der Bergbauern und Alphirten im Kanton versammelt, eine Rückkehr zu einem magischen Weltbild fest. Die These, die er in seiner Einleitung ausbreitet, geht davon aus, dass dank der Erschließung durch eine Passstraße und später durch die Eisenbahn der Getreideanbau im 19. Jahrhundert abgenommen hat. Dadurch können sich die Bauern vor Ort auf die Viehzucht spezialisieren und können ein Weltbild weiterführen, das nicht – in der Begrifflichkeit Eduard Renners – an den Animismus, den Aberglauben und die Götter der Sesshaftigkeit anschließt, sondern den Glauben an die Naturkräfte fortsetzt. Der neue Nomadismus im ständigen Auf und Ab zwischen Talsohle, Maiensäß und Alp kann es sich somit erlauben, die Bedingungen des Holozäns wieder zu verlassen. Die Modernisierung erlaubt somit eine nomadische Lebensweise, welche wieder an den Kalender des Pleistozäns anschließt. Wir treffen somit in einer modernen Sagenwelt auf die Möglichkeit, neue Horizonte zu eröffnen und aus einer neuen Position – vergleichbar mit derjenigen Chirons in Hölderlins alkäischer Eröffnungsode der Nachtgesänge – die Errungenschaften einer sesshaften Lebensweise zu kritisieren. Wir treffen also auch hier auf Erzählmuster, welche eine Kritik am Holozän formulieren. Unabhängig davon, wo wir den genauen Beginn der neuen Erdepoche ansetzen, erweist sich die Unterscheidung zwischen Holozän und An-

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thropozän als sinnvoll. Die gegenwärtige Anthropozändebatte unterscheidet weitgehend zwischen ökologischer Reflexivität, die bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert einsetzt (vgl. Bonneuil und Fressoz 2016), und systemisch vergleichenden erdwissenschaftlichen Ansätzen, welche sich lediglich auf eine rudimentäre Historisierung einlassen. Nur vermeintlich scheint sich hier ein Graben zwischen den zwei Kulturen, zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, aufzutun. Zum einen verweisen die Naturwissenschaftler Crutzen und Stoermer bereits im Gründungsdokument 2000 auf eine Vorbegriffsgeschichte des Anthropozäns, die in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreicht, und lassen offen, ob der Beginn der neuen Erdepoche mit der Großen Beschleunigung der 1950er Jahre oder mit der Patentierung der Dampfmaschine durch James Watt einsetzt (vgl. Crutzen und Stoermer 2000). Zum anderen werden historische Ansätze, welche beispielsweise aus biologischer Sicht argumentieren, in beide Wissenschaftskulturen integriert: So sieht die These des Columbian Exchange die Entdecker der Neuen Welt ab dem 16. Jahrhundert lediglich biologisch im Vorteil, weil sie gegen Krankheiten Abwehrkräfte entwickelt haben, welche die Indigenen Mittel- und Südamerikas nicht hatten und wodurch 90 Prozent innerhalb der ersten hundert Jahre dahingerafft wurden (vgl. Crosby 2003). Den Graben zwischen den Wissenschaftskulturen brauchen wir somit nicht weiter zu vertiefen. Vielmehr zeigt sich in der literarischen Spezifik die doppelte Gebundenheit an ihre Architextualität zum einen an Form und Erzählmuster, zum anderen an zivilisationsbedingte Mythen. Wenn Literatur eine Ahnung bzw. ein Bewusstsein für den „Clash of the two Calendars“ bzw. für das Ende des Holozäns formuliert und dazu ihre eigenen Bilder imaginiert, kontrastiert sie eigene Verfahren des Metrums, des Genres oder der Fiktionalität weiterhin auf dem vermeintlich stabilen kalendarischen Hintergrund. Gerade weil Letzterer aber auf die Wiederholbarkeit in der Triangulierung von astronomischen, klimatischen und agrikulturellen Taktgebern abhängig ist, ist bereits seine Thematisierung Symptom seines Zerfalls. Erst hier kommt die erdgeschichtliche Epoche des Holozäns als Gesamteinheit in den Blick und wird als Verlustgeschichte erzählt. Die Möglichkeit der Narrativierbarkeit markiert gleichzeitig das Ende dieser Epoche und noch eine Leerstelle, die weiterhin als offene Wunde klafft. Die Reflexion des Kalendarischen wird somit zum Anfang des Anthropozäns, der einen systemischen Blick auf das Planetare und dessen Grenzen unabdingbar macht. Und die Projektionen in die Ordnung des Kalenders auf dem stabilen Hintergrund natürlicher Kreisläufe entpuppen sich als kalendarische Phantasmagorien des Anthropozäns.

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Literatur Barthes, Roland. La Préparation du roman (I et II). Cours et séminaires au Collège de France (1978 – 1979 et 1979 – 1980). Paris: Seuil, 2003. Bonneuil, Christophe und Jean-Baptiste Fressoz. The Shock of the Anthropocene: The Earth, History and Us. London/New York: Verso, 2016. Chakrabarty, Dipesh. The Climate of History in a Planetary Age. Chicago: University of Chicago Press, 2021. Crosby, Alfred W. The Columbian Exchange. Biological and cultural consequences of 1492. 30th Anniversary Edition. Westport: Praeger, 2003. Crutzen, Paul J. und Eugene F. Stoermer. „The ‚Anthropocene‘“. International Geosphere-Biosphere Programme (IGBP) Global Change Newsletter 41 (2000): 17 – 18. Frisch, Max. Der Mensch erscheint im Holozän. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981. Gosh, Amitav. Die große Verblendung: Der Klimawandel als das Undenkbare. München: Blessing, 2017 (Original: The Great Derangement. Climate Change and the Unthinkable. Chicago: Chicago University Press, 2016). Hölderlin, Friedrich. „Chiron“. Tutte le liriche, edizione tradotta e commentata e revisione del testo critico tedesco a cura di Luigi Reitani. Milano: Mondadori, 2001. 284 – 287 und 1475 – 1478 (FHA 5, 823 – 824). Honold, Alexander. Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800. Berlin: Vorwerk, 2005. Honold, Alexander. Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur. Basel: Schwabe, 2013. Horn, Eva und Hannes Bergthaller. Anthropozän zur Einführung. Hamburg: Junius, 2019. Latif, Mojib. Heißzeit: Mit Vollgas in die Klimakatastrophe – und wie wir auf die Bremse treten. Freiburg im Breisgau: Herder, 2020. Latour, Bruno. Facing Gaia. Eight Lectures on the New Climatic Regime. Cambridge: Polity Press, 2017. Martin, Nastassja. An das Wilde glauben. Berlin: Matthes & Seitz, 2021. Nachtgesaenge. Reg. Michael Engelhardt. 2020. www.youtube.com/watch?v=CcDbX7fY sUs&t=490s. Previšić, Boris. Akustische Praktiken in der alkäischen Ode der Aufklärung. Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 26 (2022) [erscheint demnächst]. Renner, Eduard. Der Goldene Ring über Uri. Zürich/Neuchâtel: Mühlrad, 1941. Rockström, Johan et al. „Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity“. Ecology and Society 14 (2009). http://www.ecologyandsociety.org/vol14/iss2/ art32/. Ruddiman, Williams. „The Anthropogenic Era Began Thousands of Years ago“. Climatic Change 61.3 (2003): 261 – 293. Steffen, Will et al. „Planetary Boundaries: Guiding Human Development on a Changing Planet“. Science 347 (2015). https://www.science.org/doi/10.1126/science.1259855. The Day After Tomorrow. Reg. Roland Emmerich. Fox, 2004. Wallace-Wells, David. The Uninhabitable Earth. Life After Warming. New York: Random House, 2019.

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Woolings, Tim. Jet Stream: A Journey Through Our Changing Climate. Oxford: Oxford Academics, 2020. Where are we in the Milankovitch Cycles? United Nations, 2019. www.youtube.com/watch?v= eB3DJtQZVsw.

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Koloniale Erinnerungskultur: Kalendergeschichten aus der Südsee 1 Wozu braucht Deutschland Kolonialkalender? Ein erster Kolonial-Kalender erschien in Deutschland für die Jahre 1889 bis 1898, von 1899 bis 1914 mit dem Zusatz Statistisches Handbuch. Zu dieser eher nüchternen Publikation gesellte sich 1909 Süsserott’s illustrierter Kolonial-Kalender (bis 1916). Auch der Köhler-Verlag publizierte einen Illustrierten deutschen KolonialKalender für die Jahre von 1909 bis 1914, wiederaufgenommen 1926 bis 1935 und von 1938 bis 1942. Zwischen 1908 und 1918 wandte sich Jung-Deutschlands Flotten- u. Kolonial-Kalender an die Jugend. Für zwei Kriegsjahrgänge ist auch ein Kolonialkriegerdank-Kalender nachgewiesen, für 1935 und 1936 ein Kolonialer Frauenkalender. Konkurrierende kolonialrevisionistische Organisationen verkauften zur Finanzierung ihrer Ziele Abreißkalender, die von der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt 1935 zum Zusammenschluss gezwungen wurden. Im Zweiten Weltkrieg verschwanden diese ‚kriegsunwichtigen‘ Produkte. Im Kieler Orion-Heimreiter-Verlag, einer Publikationsplattform für Neonazis, war für die Jahre 2007 bis 2009 ein Kolonialkalender Deutsche Schutzgebiete erhältlich. In der Konsolidierungsperiode des deutschen Kolonialreiches ging es bei dieser Textsorte zunächst darum, eine koloniale Tradition zu bilden und eine ihr entsprechende Erinnerungskultur zu etablieren, die während der Phase des Kolonialrevisionismus von der Kultivierung eines nostalgischen Phantomschmerzes abgelöst wurde, eingedenk des Verlusts der Kolonien im Ersten Weltkrieg. Die Bewahrung des im Krieg verlorenen Kolonialreiches im kollektiven Gedächtnis der Deutschen war wohl die wichtigste Funktion der Kalender in dieser Zeit. Im ersten Teil bieten diese Publikationen ein Kalendarium jährlich wiederkehrender kolonialer Gedenktage, am 1. Januar beispielsweise für die „Hissung der kurbrandenburgischen Flagge auf Groß-Friedrichsburg an der Guineaküste“ im Jahr 1683 (Kolonial-Kalender 1889, 7).¹ Der Kolonialpropagandist Gustav Meinecke (vgl. Brümmer 1913, 418 – 419) eröffnet den Kalender für 1889 mit einem Jahresrückblick, in dem er den „immer schärfer auftretenden Gegensatz zwischen  In den meisten Kolonialkalendern ist im Impressum das Jahr, in dem das Produkt erschienen ist, nicht vermerkt. Im Haupttext verweise ich in Klammern auf das Jahr, für das der Kalender produziert wurde, also auf das Jahr nach der Drucklegung, mit dem sie häufig auch katalogisiert sind. https://doi.org/10.1515/9783110773750-004

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der Zivilisation und der Barbarei“ heraufbeschwört (33). Um die Kolonien „zu unterwerfen“, müsse „den Eingeborenen“ ein „Begriff von der Macht des Deutschen Reiches und dem energischen Willen desselben zu kolonisieren, beigebracht werden“ (35). Mit diesem Satz bringt Meinecke ein zentrales Problem des kolonialen Diskurses auf den Punkt, der um die Frage kreist, wie sich antikoloniale Resistenz brechen lässt. Süsserottʼs Illustrierter deutscher Kolonial-Kalender ist mit einem günstigen Preis von einer Mark auf „Massenverbreitung“ bedacht. Auf zweihundert Textseiten kommen etwa einhundert Illustrationen (Anzeige 1908, XX). In seiner ersten Ausgabe ist im Kalendarium für den August 1909, wenn die Sonne in „das Zeichen der Jungfrau“ eintritt, ein Kalenderbild des Malers Carl Arriens abgedruckt. Sinnigerweise zeigt es eine ‚samoanische Dorfjungfrau‘ (12), ein im kollektiven Gedächtnis zu diesem Zeitpunkt bereits fest verankertes Bild. Die illustrierten Kalender vermittelten die Vorstellung, dass in den Kolonien eine Atmosphäre exotischer Erotik auf die potenziellen Kolonisatoren warte. Sie suggerierten nicht nur die Verfügbarkeit von kolonisierbarem Raum, sondern auch von exotischen Frauen, deren nackte Haut den wohl wichtigsten Werbeträger des kolonialen Projekts bildete. Das Einsammeln von Spendengeldern war eine wichtige Funktion dieser Kalender. Der Kolonialkriegerdank-Kalender ruft im Ersten Weltkrieg dazu auf, den „Kolonialkriegern“ zu spenden. Friedrich Hupfeld aus dem Vorstand skandalisiert, dass der Feind nicht vor der Verwendung „farbiger Truppen“ zurückscheue und die „Eingeborenen gegen ihre bisherigen Herren“ zum „Meuchelmorde“ anstifte (Hupfeld 1916, 3).² Die paranoische Projektion stilisiert die Täter der deutschen Kolonialarmee zu Opfern. Das ist eine erstaunliche Verdrängungsleistung, denn derselbe Kalender feiert in fünf Illustrationen den Einsatz von Askaris auf der Seite ihrer deutschen ‚Herren‘ gegen die Engländer in Afrika (37, 64– 65, 96 – 97), ohne dass der offensichtliche Widerspruch auffiele. Paranoid ist es auch, wenn der Kolonialpolitiker Paul Rohrbach in der „Einführung“ vom „Raub“ der deutschen Kolonien im Jahr 1915 spricht (Rohrbach 1916a, 6; vgl. Rohrbach 1916b, 32). Die entsprechende deutsche Praxis nennt er „Vergrößerung“ (34). Das portugiesische Angola lasse sich beispielsweise noch „heranziehen“ (35). Um „überseeisches Neuland“ zu appropriieren, brauche es „Flottengeist, Überseegeist und Kolonialgeist“. Um diesen „Geist anzufeuern“, gehe dieser Kalender an „Millionen“ Leser (Rohrbach 1916c, 122). Megalomanisch fordert auch Kolonial-

 Vgl. Hupfeld 1916, 5: Der Verein hat fünftausend Mitglieder und verfügt 1915 über ein Vermögen von einer halben Millionen Mark, vgl. Hupfeld 1916, 127: Die Deutsche Kolonialgesellschaft hat zu diesem Zeitpunkt etwa vierzigtausend Mitglieder.

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Abb. 1: Eine samoanische ‚Dorfjungfrau‘ (taupou).

minister Wilhelm Solf in seinem Grußwort, dass der deutsche „Kolonialbesitz“ nach dem Krieg so „vergrößert werde“, dass „zusammenhängende […] Kolonialreiche“ entstehen (Solf 1916, 7). Der Leitartikel von Köhlers Kolonialkalender für 1934 dramatisiert die „Gewinnung von Raum in Übersee“ zu einer „Frage unserer nationalen Existenz“ (19). Auf dem Umschlag prangt die Fotografie einer nackten Afrikanerin, die mit offenem Mund bittend ihre Hände vor der Brust verschränkt. „Die Wildnis ruft“, steht als doppeldeutiger Slogan neben dieser Allegorie, die in einer perfiden ideologischen Verdrehung verkündet, dass es der ausdrückliche Wunsch der Kolonisierten selbst sei, die Deutschen mögen doch zurückkommen. Die Coverfotografie wird zum Markenzeichen des Kalenders von 1938 bis zur letzten Edition für das Jahr 1942, allerdings mit einer schwarz unterlegten Textbox, die als eine

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Abb. 2: Die Allegorie der im Ersten Weltkrieg verlorenen deutschen Kolonien.

Art rassenhygienischer Zensurbalken die Brust der Exotin bedeckt und zugleich als Lektüreanweisung dient: „Atemlos gefesselt lesen wir von den Wundern ferner Länder, von deutschen Kolonien und deutschen Siedlern in Übersee, von Urwald, Dschungel und mancherlei Abenteuern.“ Es gehört zu den Paradoxien dieses Genres, dass das rezeptionssteuernde Titelbild dem Kolonialherrn eine ‚willige Wilde‘ verspricht, während der Kalender offiziell die Doktrin der Rassenhygiene vertritt. Der Leitartikel für 1935 hebt hervor, dass „zwischen Nationalsozialismus und Kolonialfrage zahlreiche Berührungspunkte bestehen“. Seine erste Forderung lautet: „Mehr Raum für unser Volk!“ Auch die „Erhaltung des deutschen Blutstromes“ (Anonym 1935a, 17) ist ihm ein Anliegen. Die „deutschen Auswanderer“ dürften nicht mehr „aufgehen in fremden Völkern“ (18). Im Anschluss daran formuliert der Kolonialpolitiker Dr. Georg Hartmann einen Aufruf mit dem Titel „Heraus mit unseren Kolonien!“ (22) Das Jahr 1934 sei insofern ein „kolonialgeschichtliches Gedenkjahr von größter Bedeutung“, als sich Deutschland fünfzig Jahre zuvor in Südwestafrika „entschlossen“ habe, „seinen Lebensraum zu vergrößern“ und damit „Kolonialmacht geworden“ sei (22). Noch einmal beschwört Hartmann den Phantomschmerz des Kolonialrevisionismus herauf: Der Erste Weltkrieg habe zur „Verstümmelung des deutschen Lebensraumes“ und zur „Vernichtung des Deutschtums als kulturelle Machtgröße“ geführt (22). Die „koloniale Schuldlüge“ habe das „deutsche Volk“ für „unwürdig“ erklärt, Kolonien zu besitzen (22). Mit diesem Schlagwort wendet sich Hartmann gegen die Publikation eines Bibliothekars am britischen Kolonialinstitut, Evans Lewin, der 1918 eine Schrift veröffentlicht hatte, in der er die überseeische Expansion des Deutschen Kaiserreichs als Kolonisierung mit der Peitsche anprangerte. Den Deutschen sprach er darin das „moralische Recht“ ab, in Zukunft „Kolonien auf afrikanischem Boden“ zu besitzen, weil sie in „einzelnen Kolonien weite Gebiete ent-

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völkert“ hätten, durch „Arbeitszwang und systematische Gewalttätigkeiten oder durch Krieg“ (Lewin 1918, 3 – 5). Hartmann weist auch darauf hin, dass Hitler die „alte ‚unsinnige‘ Kolonialpolitik“ verurteile, indem er sie als „hinter uns liegend für abgeschlossen erklärt“ (24). Vor diesem Hintergrund diskutiert er seine Forderung nach Rückgabe der Kolonien. Er moniert, dass der „Träger der kolonialen Idee“ in Deutschland sich nur auf „einige hunderttausend Mitglieder“ der „Deutschen Kolonialgesellschaft“ beschränkt habe (24). Als „ewige Großtat“ Hitlers rühmt Hartmann, dass er ein „deutsches Ehrgefühl wachgerufen“ habe (24). Der „einheitliche Schrei nach Lebensraum“ dringe jetzt aus „der Seele des ganzen deutschen Volkes“ (25). Deutschland habe ein Anrecht auf seine „alten Kolonien“, könne aber auch „anderswo mit Lebensraum entschädigt“ werden (25). Letztlich bleibe es dem „großen Führer überlassen“, den „Weg für die Erweiterung des deutschen Lebensraumes zu wählen“ (25). Der koloniale Diskurs konnte sich sowohl an die Raum- als auch an die Rassenideologie der Nazis ankoppeln. Einen „alten Afrikaner“, also einen ehemaligen Kolonialherren, lässt der Kalender behaupten, dass die „eingeborene Bevölkerung“ der ehemaligen deutschen Kolonien „die deutsche Schutzherrschaft“ zurücksehne (Anonym 1935b, 49). Positiv hebt er die „Rassescheidung“ in den deutschen Kolonien hervor: Ein Weißer, der mit einer Eingeborenen – an Heirat gar nicht zu denken – ein zu enges Band knüpfte (auf die feineren Unterschiede dieses ungeschriebenen Gesetzes einzugehen, verbietet der Gegenstand), war selbst zum ‚Kaffer‘ geworden, unmöglich geworden für die Volksgemeinschaft der Kolonie. Man beschränkte jeden Verkehr mit ihm auf das allernotwendigste, ließ ihn deutlich merken, daß er zu seiner dunklen Frau und ihren Stammesangehörigen gehöre. Eine deutsche Frau würde ihm nie mehr die Hand gereicht haben. (54)

Zur „Judenfrage“ in den Kolonien merkt der Autor an, dass ein „deutsches Kolonialmädchen“ weder „einen Eingeborenen“ noch „einen Juden geheiratet“ hätte (54). Insofern seien „gar manche Hauptzüge des Hitlerschen Programms“ in den „Kolonien bereits verwirklicht“ gewesen (54). Aus der Perspektive solcher Kolonialherren lag die Kontinuität zwischen rassistischen Praktiken in den Kolonien und dem Vorgehen der Nazis gegen die ‚Rassenmischung‘ auf der Hand. Der koloniale Diskurs ließ sich fast friktionsfrei mit dem Fanatismus der ‚Rassenreinheit‘ in der Lingua Tertii Imperii reartikulieren. Irritierend müsste vor dem Hintergrund der Hybridisierungsparanoia der Nazis allerdings gewirkt haben, dass die Kolonien in den rezeptionssteuernden Paratexten der Kolonialkalender, in Fotografien und Illustrationen softpornografisch in Szene gesetzt wurden. Die koloniale Propaganda vermittelt auf der einen Seite statistisch aufbereitetes, ökonomisches und biopolitisches Wissen,

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aber auch geografisches und ethnologisches Wissen über die Kolonialgebiete. Auf der anderen Seite kultivieren Reiseberichte und literarische ‚Kolonial-Erzählungen‘ die Emotionen der kolonisierenden Gesellschaft. In den illustrierten Kalendern wird der Kolonialismus als emotionales Regime greifbar, das den Habitus der Kolonisatoren als einen emotionalen Stil zu prägen sucht.³ Ein Volk ohne Kolonien wäre in diesem Diskurs ein Volk ohne ‚Ehrgefühl‘. Ein solcher emotionaler Stil ist auch der koloniale Rassismus mit seiner Verachtung der ‚Verkafferung‘. Sie kultiviert die Abjektion gegen jede Form von Hybridisierung. Exemplarisch soll in diesem Beitrag beleuchtet werden, wie und mit welcher Funktion die Kolonialkalender den deutschen Kolonialismus im Pazifik in Szene setzten. Der erste Teil analysiert, wie sich das rassistische Herrenmenschentum einer militärtechnisch überlegenen Kultur gebärdet, wenn die Kolonisierten Widerstand leisten sollten. Im zweiten Teil der Untersuchung gehe ich auf einen diskursiven Hotspot des deutschen Kolonialismus ein, auf den dieser erhebliche libidinöse Energien konzentrierte, auf den pazifischen Archipel von Samoa.

2 Berichte von ‚Strafexpeditionen‘ in den Pazifikkolonien Zur Kriegs-Ausgabe 1915 – 1916 von Süsserott’s illustriertem Kolonial-Kalender hat Karl Jacobsen einen Bericht beigesteuert über die „Strafexpedition S.M.S, ‚Cormoran‘ nach den French-Inseln“ (68), den Vitu-Inseln im Bismarck-Archipel, seit 1885 deutsches Kolonialgebiet. Anlass für die Expedition war ein Überfall von „French-Insulanern“ auf die „Handelsniederlassung des deutschen Staatsbürgers Peter Hansen“ in Peterhafen auf der Insel Garove im Jahr 1901 (68). Die Ware Arbeitskraft war auf den Vitu-Inseln denkbar billig, der Plantokrat Hansen soll den Lohn in Form von Tabak im Wert von etwa fünf Pfennigen pro Woche bezahlt haben (69). Während seiner Abwesenheit in Australien allerdings hatten die Insulaner Hansens „Haus geplündert“ und einige Arbeiter ermordet, angeblich auch seine Frau und Kinder (68). An Bord des daraufhin entsandten Kriegsschiffs war auch der deutsche Gouverneur Rudolf von Bennigsen, darüber hinaus waren 30 in der Region rekrutierte Polizeisoldaten an dem Unternehmen beteiligt (68).⁴

 Vgl. zum Konzept des ‚emotionalen Regimes‘ Reddy 2001, 124– 129.  Vor Ort traf die Expedition neben Hansen einen Professor, der ethnologische Studien betrieb und eine Insulanerin geheiratet hatte (68), was ihn jedoch nicht daran hinderte, an der militärischen Aktion zumindest passiv teilzunehmen (69). Es handelt sich um den ungarischen Sammler Ladjos Biro, vgl. Blythe 2019, 5.

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Auf die Insel der „Raubmörder“ feuerte das deutsche Kriegsschiff zuerst „Granaten“ ab (69): Die „Dörfer“ der „Eingeborenen wurden mit Ladungen aus 10,5-Zentimenter-Kanonen, Revolverkanonen und Maschinengewehren überschüttet.“ (69) Ein Landungskommando setzte ein verlassenes Dorf „in Flammen“ und zerschlug die auf den Strand gezogenen Boote (69): „Dadurch wurde den Eingeborenen ein äußerst empfindlicher Schaden zugefügt, da sie lange Zeit gebrauchen, um mit ihren primitiven Steinwerkzeugen wieder Baumstämme auszuhöhlen.“ (69) Nebenbei bemächtigte sich die Expedition auch diverser Ethnographica, denn überall „wurden viele mit Menschenknochen verzierte Speere und Steinbeile erbeutet“ (69), die womöglich heute noch in den Vitrinen eines deutschen Museums zu besichtigen sind. Bald schon hätten „sämtliche Dörfer ringsherum“ gebrannt, die schwer erreichbaren Ortschaften seien „in Brand geschossen worden“ (69). Am Folgetag suchte der Kreuzer Cormoran noch einige weitere Inseln heim, auf denen „Teilnehmer“ des Überfalls vermutet wurden (70). Das Schiff will die „räuberischen Bewohner“ einer Insel „durch seinen Besuch […] beglücken“ (70). Die koloniale Ironie hat die Funktion, das brutale Vorgehen der Kriegsmarine als eine Art spaßige Aktion erscheinen zu lassen – Kolonialismus als fun action. Wegen der erweiterten Reichweite der Schiffsartillerie haben die der Insel vorgelagerten Riffe die Funktion des Schutzes, den sie einst gegen die europäischen Invasoren des Pazifiks geboten haben, weitgehend verloren. Zwar kommt das Schiff nur bis auf zwei Seemeilen an die angepeilte Küste heran, doch „10 bis 12 Granaten“ hätten „Leben auf die Insel“ gebracht (70). Die Ironie, mit der Jakobsen das koloniale Verbrechen dieses todbringenden Beschusses verharmlost, macht die Lektüre schwer erträglich. Etwa „20 mit Eingeborenen dicht besetzte Kanoes“ versuchen, sich über einen Kanal hinweg auf eine andere Insel in Sicherheit zu bringen: „Nun mußten die S.-K.-Schützen (Schnelladekanonenschützen) zeigen, daß sie schießen konnten.“ (70) Nach zwei Fehlschüssen treffen sie, „die nächsten drei Granaten saßen und fünf Kanoes flogen mit ihrem heulenden Inhalt in die Luft“ (70). Die „Kanaken“ seien „entsetzt“ ins Wasser gesprungen, um ihr Leben „durch Schwimmen und Tauchen vor den fürchterlichen, nun gut gezielten und treffenden Granaten zu retten“ (70). Abschließend „zerstört“ die Besatzung des Kreuzers die restlichen Boote (70). Der Bericht hält als Fazit fest, dass die Insel menschenleer sei, alle „Eingeborenen“ seien entweder „entflohen“ oder „erschossen worden“ (70). Die „verlassenen Dörfer“ werden „in Brand gesteckt“ (70). In der Zwischenzeit haben Polizeisoldaten auf einer anderen Insel „neun Eingeborene erschossen“ (70). Und so geht es weiter von Insel zu Insel, die Kalendergeschichte kürzt das Geschehen im iterativen Erzählmodus ab:

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Überall wurde eine Abteilung an Land geschickt, um die Dörfer in Brand zu stecken und die Boote zu zerstören. Von der zeitraubenden Verfolgung der Eingeborenen wurde Abstand genommen. Von Bord aus wurden die höher liegenden Dörfer in Brand geschossen, was bei ihrer großen Zahl fast den ganzen Tag beanspruchte. Dabei waren interessante Beobachtungen zu machen. Ging eine Granate durch eine Hütte, dann explodierte sie nicht. Schlug sie jedoch auf den Boden einer Hütte auf, dann flog die Hütte nach allen Seiten in die Luft. (71)

Der Autor versucht, das Interesse auf handwerkliche Aspekte des gezielten Artilleriebeschusses zu lenken und abstrahiert dabei völlig von den tödlichen Folgen eines solchen Bombardements für die Dorfbewohner. Der Bericht bezieht sich auf eine „Strafexpedition nach den French-Inseln (Deslacs und Wingoru) vom 20. bis 26. Februar 1901“, über die in den Akten des Reichskolonialamts, einsehbar im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, auch ein auf den 28. Februar datierter Bericht von Max Grapow vorliegt, dem Kommandanten des Kreuzers Cormoran. Während der Abwesenheit Hansens seien insgesamt „9 Menschen erschlagen“ worden (209). In Grapows Bericht ist keine Rede von Hansens Familie, die den Anschlag in Wirklichkeit überlebt hat.⁵ Bereits vor der Ankunft des Kriegsschiffes hatte die lokale Polizeitruppe der deutschen Kolonialherren „im Buschgefecht 4 Mann getötet“ (Grapow 1901, 209). Der erste Beschuss des Dorfes der „Aufrührer“ fand am 22. Februar statt, neben dem Dorf sei ein „großes Kanoe durch Abbrennen zerstört“ worden (209). Am 23. Februar folgte das „Abbrennen einiger Dörfer ohne weiteren Erfolg“ (210). Am 24. Februar ging ein Stoßtrupp von Polizeisoldaten gegen das Dorf eines „Rädelsführers“ vor, äscherte es ein und tötete „5 Menschen, darunter leider auch eine Frau“ (210). Zwei weitere Dörfer wurden „mit Granaten“, und zwar „mit Erfolg beschossen“ (20), ohne dass der Bericht Angaben zur Zahl der Opfer machen würde. Das Landungskommando der „Polizeitruppe“ zerstörte die Dörfer, die „Bootsbesatzungen“ des Kriegsschiffs zerstörten am Strand „14 grosse Kanoes“ (211). Es könnte sich um den Bootstyp gehandelt haben, dessen letztes Exemplar im Berliner Humboldt-Forum von dieser autothalassischen Hochkultur zeugt (Aly 2021). Dann griff das deutsche Kriegsschiff die „Insel Wingoro“ an, deren Bewohner sich „durch besondere Wildheit und Muth“ auszeichnen sollen (Grapow 1901, 211). Sie wurden in ihren „Kanoes“ über 2,5 Kilometer hinweg mit Übungsgranaten unter Beschuss genommen (211). Ihr Dorf am Strand wurde ebenfalls „beschossen“ (211). Die Polizeisoldaten töteten tags darauf „6 Mann“ und verbrannten anschließend „20 Kanoes“ (212). Am 25. Februar fand eine „gründliche Zerstörung mehrerer Dörfer“ statt (212). Insgesamt sollen also 15 Menschen getötet, „35 Ka-

 Vgl. Blythe 2019, 12, dort ist die Rede von insgesamt zehn Todesopfern unter Hansens Angestellten. Hansens autothalassische Frauen und deren Kinder hatten sich im Haus verschanzt.

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noes“ und „zahlreiche Dörfer“ zerstört worden sein (212). Die Expedition brachte auch „4 Gefangene“ ein, darunter „2 Männer“, die wegen Totschlag angeklagt werden sollten (212). Wahrscheinlich sind insgesamt weit mehr als fünfzig Menschen bei dieser Intervention der deutschen Kolonialarmee getötet worden, unter ihnen Frauen und Kinder.⁶ Es handelt sich also um eine suggestive paranoische Projektion, wenn der Kolonialkalender in seiner Version der Geschichte ‚Frau‘ und ‚Kinder‘ des Plantokraten als Opfer aufzählt. Grapows Bericht enthält auch die Information, dass die Inseln früher dicht bevölkert gewesen seien, jedoch habe im Jahr 1895 eine „Pocken-Epidemie“ die „Hälfte der Einwohnerschaft“ dahingerafft (213, vgl. Blythe 2019, 10). Der biologische Krieg Europas gegen die autothalassische Bevölkerung des Pazifiks trug insgesamt sicher erheblich stärker zu ihrer Dezimierung bei als die spektakulär aufgezogenen Strafexpeditionen. Folgt man Grapow, dann waren auf den French-Inseln zwar Kokospalmen angebaut worden, aber erst seit Hansen das „Einsammeln der Kopra“ organisierte, habe sich auch ein gewinnbringendes Geschäft entwickelt (Grapow 1901, 213). 1904 verließ Hansen den Archipel nach einem zweiten Aufstand, in dessen Gefolge eine weitere Strafexpedition noch mehr Todesopfer als diese erste forderte (Blythe 2019, 20). Was der Kolonialkalender vor allem verschweigt, sind die guten Gründe für die Angriffe der Einheimischen auf den Plantokraten. Systematisch unterminierte er beispielsweise ihre Eigentumsrechte am Land auf der Insel und verdrängte sie davon (12). Anschließend verwandelte er sie in Arbeitskräfte, die nur einen Naturallohn erhielten. Rosa Luxemburg hat die Konsequenzen, die sich aus der imperialistischen Expansion für die „primitiven Gesellschaften“ ergeben, treffend beschrieben. Unter dem Druck des Akkumulationsprozesses bleibe ihnen keine Alternative als „Widerstand und Kampf auf Tod und Leben, bis zur völligen Erschöpfung oder bis zur Ausrottung“. Die „Kolonialexpeditionen“, die „gewaltsame Methode“ des „Kolonialregimes“, fasst Luxemburg klarsichtig als unausweichliche „Folge des Zusammenpralls des Kapitalismus mit naturalwirtschaftlichen Formationen“. Die „Eingeborenen“ werden in „Arbeitskräfte“ und in „Konsumenten“ verwandelt. Das funktioniere nicht, ohne ihre traditionelle Gesellschaft „zu vernichten“ (Luxemburg 1913, 290 – 291). Jacobsens Kalendergeschichte erinnert daran, dass der Weltkrieg auch in den deutschen Pazifikkolonien bereits begonnen hatte, bevor er 1914 auf ein neues Level gehoben wurde.

 Vgl. Blythe 2019, 13 – 14, die unter Berufung auf Biro von 57 Todesopfern ausgeht, darunter Frauen und Kinder, eine Frau soll auch das Opfer einer Gruppenvergewaltigung durch Polizeisoldaten geworden sein.Vgl. zum „Terror auf den Witu-Inseln“ auch Krug 2006, 255 – 259. Krug hat ein Standardwerk zum Thema der „Strafexpeditionen“ geschrieben, mit denen die Kriegsmarine die deutschen Pazifikkolonien überzogen hat.

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In Köhlers Kolonialkalender für 1912 findet sich eine andere „Geschichte aus dem Bismarck-Archipel“ aus der Feder des Kolonialschriftstellers Friedrich Meister mit dem Titel Der Seeräuber von Niti. Die Kolonialerzählung handelt von einem kulturellen Überläufer, Jakob Kallies aus Danzig. In Australien desertierte er von der preußischen Korvette Vineta. Dann heuerte er auf einem Walfischfänger an, wurde jedoch nach einer misslungenen Meuterei auf einer der Admiralitätsinseln, auf der fiktiven Insel Niti, ausgesetzt. Der beachcomber wurde dort zu einem „Halbwilden“, er gründete mit einer Insulanerin namens Nuta eine Familie (Meister 1912, 139) und versuchte sich als Gelegenheitspirat (140). Nachdem die Admiralitätsinseln 1885 dem deutschen Kolonialreich einverleibt worden waren, überfiel Kallies mit den „blutdürstigen Wilden“ von Niti den Schoner einer „deutschen Südseegesellschaft“ und raubte ein Fass mit Silbermünzen (140). Als die Nachricht von der Ermordung der Schiffsbesatzung bekannt wurde, erhielt das Kanonenboot Albatroß den Auftrag für eine „Strafexpedition“ mit dem Ziel, die „Schuldigen festzunehmen“, alternativ „das Dorf der Eingeborenen zu zerstören“ oder ihnen „noch andere Strafen angedeihen zu lassen“ (140). In dieser Kalendergeschichte sterben insgesamt „zehn Eingeborene“ im Feuer der Landungstruppen, darunter der fünfjährige Sohn von Kallies (141). Da es den „Matrosen unmöglich gewesen“ sei, zwischen Frauen und Männern im Getümmel zu unterscheiden, wird bei dieser Gelegenheit auch die Frau von Kallies verletzt (141). Nach der Flucht der Dorfbewohner setzt das Landungskommando „Hütten und die Kanus in Brand“ (141). Und nachdem das Dorf von der „Besatzung des Kanonenbootes durch Feuer vernichtet“ (139) worden ist, sucht die „Bootsmannschaft“ unter den „glimmenden Resten der Hütten nach einheimischen Merkwürdigkeiten“ (139). Kallies wird später im Busch erschossen (143 – 144). Nicht fiktiv an dieser belletristischen Kalendergeschichte ist die Beschreibung der militärischen Praxis der Kriegsmarine im Südpazifik (vgl. Krug 2006) und der Raub der Ethnographica. Köhlers Kolonialkalender für 1934 enthält unter dem Titel „Südsee-Rache“ einen Bericht von Hubert Jüdtz über eine „Bestrafungs-Expedition“ (40) des Kriegsschiffs Kondor auf den Admiralitätsinseln, deren Bewohner als „Menschenfresser“ gelten (33). Da hier schon „mancher Europäer“ sein „Leben eingebüßt“ habe, sichern sie ihre Stationen mit Nachtwachen (33). Ein Händler der „Südseefirma Hernsheim u. Co.“ namens Adam (33) wurde hier trotz aller Vorsichtsmaßnahmen auf der Insel Ulunau von seinen Bediensteten Wellep, Ura und Tomoll ermordet, Letzterer tötete seinen Herrn mit einem Hieb des Haumessers ins Genick (35). Zusammen mit ihren Nachbarn von der Insel Pak plünderten sie die Handelsstation Adams und erbeuteten Waffen (36). Der Erzähler der Geschichte betreibt im Archipel auf der „Insel Komoli“ die „Hauptniederlassung der Firma Hernsheim“ (37). Für ihn steht aus kolonialpolitischer Perspektive im

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Vordergrund, dass die „Mörder aufgespürt“ werden, damit „der Respekt der Eingeborenen vor den Europäern nicht leidet“ (40).

Abb. 3: Prinzip der kollektiven Haftung. Eine deutsche ‚Strafexpedition‘ brennt ein Dorf auf den Admiralitätsinseln ab. Illustration von Karl Hachez.

Ein „Landungskommando“ des Kriegsschiffs Kondor fackelt zunächst das Dorf der Plünderer auf Pak ab, dessen Bewohner jedoch vorher geflüchtet seien (40 – 41): „Die Matrosen nehmen sich ihrer Sache mit edler Hingebung an und in kurzer Zeit steht das große Dorf in hellen Flammen“ (41). In der Rhetorik des kolonialen Diskurses ist die Ironisierung der Philanthropie bemerkenswert, signalisiert sie doch ganz offen, dass ‚Edelmut für edle Wilde‘ in den Kolonien ganz fehl am Platz sei. Die Illustration von Karl Hachez reduziert die Fliehenden zu verschreckten Strichmännchen, die in panischer Furcht vor dem Landungskommando fliehen. Die Mörder selbst werden von „Eingeborenen“ getötet, die aus dem Dorf Papitalai stammen (41). Die Kopfjäger hätten jedoch nur die Köpfe abgeliefert und auf Nachfrage behauptetet, dass sie die Körper „vergraben“ hätten (42). Da sich die alliierten Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg unter Berufung auf Berichte über deutsche Kolonialverbrechen entschlossen hatten, ein Mandatssystem für die Kolonien des Kaiserreichs zu etablieren, war es durchaus brisant, derart offen über eine ‚Strafexpedition‘ zu schreiben. In diesem Zusammenhang kam dem Rückgriff auf den Kannibalendiskurs in dieser Kalendergeschichte eine besondere Bedeutung zu, diente die Anthropophagie doch in erster Linie der Rechtfertigung kolonialer Gewalt von deutscher Seite.

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Die Admiralitätsgruppe ist auch realhistorisch von etlichen Strafzügen der deutschen Kriegsmarine heimgesucht worden, auf denen zahlreiche Dörfer dem Erdboden gleichgemacht wurden.⁷ Hinter dem im Kolonialkalender als historische Semifiktion aufgewärmten Fall steht der Tod des Plantokraten und Händlers Gustav Schlehan im Jahr 1905. Schon die Deutsche Kolonialzeitung hatte in der Rubrik „Südseebericht“ kolportiert, es liege nahe, dass die „Kannibalen“ der Admiralitätsinseln dessen „Leiche verzehrt“ hätten (Anonym 1906, 179). Der Kreuzer Condor habe sich mit der „Einäscherung des schuldigen Dorfes“ begnügen müssen, da die „Eingeborenen bei der Annäherung des Kriegsschiffes in das Dickicht entflohen“ seien (180). Ein anderer Bericht erklärt, dass die „Mörder“, übrigens Schlehans „eigene Leute“ von der Insel Buka, zusammen mit „Eingeborenen aus der Nachbarschaft“ die Station des Händlers geplündert und Gewehre erbeutet hätten. Wieder andere Insulaner hätten dann die Mörder getötet, um nicht für die Tat haftbar gemacht zu werden. Die Gewehre hätten sie an einen auf der Insel Komuli stationierten Händler ausgeliefert, ganz offensichtlich der Erzähler der Kalendergeschichte namens Jüdtz. Von der Aktion des Kreuzers Condor heißt es hier lapidar: „Die Eingeborenendörfer, die sich an der Plünderung beteiligt hatten, wurden bestraft.“ (77) Details des Falls lassen sich aus den Berichten an Albert Hahl, seit 1902 Gouverneur von Deutsch-Neuguinea, rekonstruieren. Am 15. Dezember 1906 erklärte Hubert Jüdtz, dass die Jungen Sokey, Torro und Leilei Schlehan auf der Insel Pak ermordet hätten, nachdem dieser Torro zusammen mit einem Kollegen hatte einsperren lassen, weil sie sich offenbar mit einem Boot ohne seine Erlaubnis vom Dienstort entfernt hatten (Akten 1906 – 1908, 12). Schlehan drohte, sie vom Gouverneur wegen Diebstahls und Ungehorsam „bestrafen zu lassen“. Das habe den „Stammesgenossen des Torro“, den Buka Sokey, „wild und aufgeregt“ gemacht. Sokey habe Schlehan daraufhin mit einem Axthieb gegen die Kehle getötet. Verbündete von der Insel Manus hätten mit den Mördern die Station geplündert (12), aber auch der „Laban ‚Pollo‘“ von der Insel Pak habe sich ein Gewehr und Munition angeeignet. Unter seiner Führung hätten dann die Leute von Pak aus „Angst vor einer folgenden Strafe“ Schlehan gerächt (13). Der Bezirksamtmann Karlowa berichtete am 10. März 1906, dass er bei der Vergeltungsaktion des Kriegsschiffs Condor das Dorf Mogara auf der Insel Pak von der Polizeitruppe habe „niederbrennen“ lassen (Akten 1906 – 1908, 20). Aus dem an der Plünderung ebenfalls beteiligten Dorf Louin fordert Karlowa als Strafe Zwangsarbeiter. Jüdtz charakterisiert gegenüber Karlowa die Bewohner der Inseln

 Vgl. Krug 2006, 161, einschlägig ist auch das Werk des ehemaligen Richters von Neuguinea, Heinrich Schnee (1904), Kapitel XI: „Strafexpeditionen in den deutschen Admiralitätsinseln“.

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„Buke“ („Zuckerhut“) und der Ortschaft Louin „als Feinde der Weissen“, auch wenn es bislang „keine direkt feindlichen Bewegungen unter den Eingeborenen“ gegeben habe (21). Festhalten lässt sich, dass von Kannibalismus in beiden Berichten mit keinem Wort die Rede ist, dieses pikante Detail wurde dem semifiktiven Strafexpeditionsnarrativ hinzugefügt. Der koloniale Diskurs speiste sich unter anderem aus einer Kannibalenphobie. In ihrer paranoiden Belagerungsmentalität konnte es für die militanten und stets gewaltbereiten Angehörigen der Kolonialmacht gar nicht anders sein, sie betrachteten sich als ,Menüpunkt‘ auf der ,Speisekarte‘ angeblich immer schon ‚gewalttätiger Wilder‘. In der kolonialen Propaganda und für die Darstellung im Kolonialkalender lässt diese Form der Erfindung von Kannibalismus deutsche ‚Strafexpeditionen‘ gegen die Bewohner der Admiralitätsinseln als Aktion gegen abjekte ‚Barbaren‘ erscheinen. Die Kolonialmacht nahm deren Aktionen in einem Kontext antikolonialer Resistenz wahr und keineswegs als individuell ausgeübte und zu ahndende Verbrechen. Anmerken ließe sich auch, dass es im Bericht nicht die Besatzung des Kriegsschiffs, sondern die lokal rekrutierte Polizeitruppe war, die für die Schmutzarbeit des Abfackelns eingeteilt worden war. Von heldenmütigen deutschen Blaujacken kann insofern nicht die Rede sein, als sie in der Regel eher nicht die dünne rote Frontlinie bildeten. Es gilt zu begreifen, dass sich die Bewohner dieser Inselgruppe mit einem kolonialen Terrorregime konfrontiert sahen. Es machte sie kollektiv haftbar und hetzte sie gegeneinander. Zwar stand ihnen die Möglichkeit offen, sich dem unmittelbaren Zugriff der deutschen Kriegsmarine durch Flucht zu entziehen. Doch deren Taktik der ‚verbrannten Erde‘ zielte darauf ab, die Lebensgrundlagen der für ihre antikoloniale Resistenz ‚schuldig‘ befundenen Inselbevölkerung zu vernichten. Die Folge war jeweils eine massive Dezimierung der lokalen Population (vgl. Aly 2021, 31). Diese Strategie hatte den erwünschten Nebeneffekt, Land herrenlos zu machen, das sich dann umso leichter von der deutschen Plantokratie appropriieren oder an lokale Alliierte der Kolonialmacht umverteilen ließ. Die Kalendergeschichte von Jüdtz erinnert während der Nazi-Diktatur an einen Angriff auf ein unverteidigtes Dorf. Damit verfestigt sie im kollektiven Gedächtnis zukunftsweisend die Vorstellung, dass die von der Haager Landkriegsordnung sanktionierte Kollektivhaft eine gängige Praxis der Kriegsführung sei. Der Kolonialpropagandist Richard Deeken erklärt in einem Aufsatz über die „Karolineninsel Ponape“ für Süsserott’s illustrierten Kolonial-Kalender für 1912, dass es ein „wildes, hinterhaltiges Volk“ sei, das unsere „landschaftlich so schöne Insel“ bewohne. Es handle sich um ein „Mischvolk“, in dessen Adern „melanesisches, malayisches und polynesisches Blut“ fließe. Mit den „liebenswürdigen Völkern der östlichen Südsee, den Hawaiiern, Samoanern und Tonganern“ hätten die „Ponapesen, wie überhaupt die Karolinier, wenig gemein“ (191). Deeken ist

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insofern ein repräsentativer Autor der deutschen Kolonialliteratur, als er eine diskursive Position bezieht, die Hybridität negativ mit der Konnotation der Monstrosität besetzt: Kolonialbeamte seien auf Ponape 1910 bei einem Überfall dieser hybriden Monster „hingeschlachtet“ und in „unmenschlicher Weise verstümmelt“ worden (192). Eine „Strafexpedition gegen die aufrührerischen Eingeborenen“ habe schnell zu einem Erfolg geführt, die „Aufständischen“ hätten sich „unter Zurücklassung zahlreicher Toter“ zurückziehen müssen (194). Auf deutscher Seite seien „ein Offizier und 3 Mann“ gefallen. „15 der Haupträdelsführer“ seien „standrechtlich erschossen“ worden“, der ganze rebellische „Stamm“ sei von der Marine „deportiert“ worden (194). Die mikronesische Kolonie entpuppt sich hier ebenfalls zukunftsweisend als Übungsfeld für die Biopolitik der Deportation. Auch Köhlers Kolonialkalender für 1912 ließ sich das Thema nicht entgehen. Hier berichtet Kapitänleutnant Hans von Koschitzky als Augenzeuge von der Aktion der „deutschen Kriegsschiffe ‚Emden‘, ‚Nürnberg‘, ‚Cormoran‘ und ‚Planet‘“ unter dem Titel: „Mit unseren Blaujacken in Ponape im Januar 1911“ (134). Die Flottille war nach der Ermordung des deutschen Kolonialbeamten Boeder vor Ponape zusammengezogen worden. Sie hat „dreihundert Matrosen und hundertsechzig schwarze Neuguinea-Soldaten“ angelandet, um „den Feind“ nach einem „Bombardement“ auf einer Ponape vorgelagerten Insel anzugreifen (138). Koschitzky erzählt, wie ein deutscher Marinesoldat „aus dem Busch“ heraus angeschossen und schwer verwundet wird (135). Die Aufständischen diskreditiert er als „Kinder der Halbkultur“, die bei einem Angriff „angesichts des ersten Verlustes an Toten“ schon ihre Stellungen preisgeben. Das sei ein „typisches Merkmal des Südsee-Insulaners“ (135). Koschitzky betont auch die „Verschlagenheit“ der beiden Rebellenführer Jomatau und Samuel (135), die sich realhistorisch angesichts der Übermacht auf eine Guerillataktik verlegt hatten und kriegsentscheidenden Konfrontationen ausgewichen waren.⁸ Ihre Anhänger verschanzten sich schließlich auf dem Berg Nankiop in einer „burgähnlichen, 150 m langen Steinfestung mit Turmbastionen an steilen Hängen“. Ende Januar 1911 konnte diese Stellung durch die Besatzung der Emden eingenommen werden (135). Koschitzky teilt zwar mit, dass sich Jomatau schließlich ergeben hat (136), spart aber die Exekution der Rebellenführer aus. Erinnerungswürdig findet er die „Namen“ der deutschen „Helden von Ponape“, „Obersignalgast Günther, Obermatrose Kneidl“ und „Leutnant z.S. Erhard“ (137).

 Der historische Hintergrund der deutschen Strafexpedition gegen Ponape ist umfassend aufgearbeitet in Morlang 2005, vgl. auch Schwarz 2019.

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In Köhlers Illustriertem deutschen Kolonial-Kalender für 1913 erzählt Oberleutnant Edgar Freiherr von Spiegel von seinem „Südseedienst“ (134) an „Bord des Kreuzers ‚Cormoran‘“ (135). Er schildert einen ethnologischen Raubzug auf dem Kaiserin-Augusta-Fluss von Papua-Neuguinea: „Götzen, Waffen, Schilde, Steinbeile, Flechtereien, Tanzmasken und alle Arten von Gebrauchsgegenständen wurden ausgetauscht gegen Eisenwaren, Armringe, kleine Spiegel und rote Farbe.“ (138) Spiegel erwähnt auch die notorischen „Perlen (Glas natürlich)“ in seiner Liste der Tauschwaren, die geeignet seien, von den „schwarzen Naturkindern“ möglichst „viele ihrer Landes- und Geisteserzeugnisse an die Oberfläche der Kultur zu ziehen“ (135), also in deutsche Museen zu verfrachten. Ich teile die Auffassung von Götz Aly, dass das „Sammeln wertvoller Ethnographica mit Hilfe von Kanonenbooten“ als Raub zu werten ist.⁹ Von einem fairen Handel kann keine Rede sein, wenn ein Dutzend Geschützrohre auf die ‚Handelspartner‘ gerichtet sind. Freiherr von Spiegel hatte sich in kolonialen Kreisen 1912 mit der Publikation eines reißerischen Berichts unter dem Titel Kriegsbilder aus Ponape einen Namen gemacht, in dem er ungeniert mit kolonialen Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit der Niederschlagung der Sokehs-Rebellion prahlt: Man habe „gehaust“ in den „Fruchtgärten Ponapes“ und den „Reichtum eines ganzen Volkes in wenigen Tagen […] vernichtet“. Die Truppe sei „sengend und brennend“ durchs Land gezogen, „wehende Rauchsäulen verbrennender Dörfer als Wegweiser des Tags, als leuchtende Fackel des Nachts“ (III). Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass der Autor dieser Zeilen 1930 erfolgreich die Mitgliedschaft in der NSDAP beantragte (Spiegel 1936). Während der Nazi-Diktatur machte er Karriere im diplomatischen Dienst. Nachdem ihn Roosevelt aus den USA ausgewiesen hatte, übernahm er 1942 das Generalkonsulat in Marseille. Bei Himmler bedankte er sich von dort aus gehorsamst dafür, dass dieser ihn bei der SS nach seiner Aufnahme im Jahr 1936 noch zum „Oberführer“ befördert hatte (Spiegel 1942). Deutsche Museen wären wohl gut beraten, Ethnographica mit der Provenienz ‚Cormoran / Spiegel‘ zu restituieren. Eine Illustration zu Spiegels Artikel im Kolonialkalender 1913 zeigt, wie sich die Kolonialherren in Zukunft die Niederschlagung antikolonialer Rebellionen vorstellen. Auf der Grafik von B. v. Francken sind Luftlandetruppen zu sehen, die ein Dorf in einer Tropenkolonie überfallen. Unterschiedslos treiben sie Frauen und Männer vor sich her und schießen sie nieder.

 Aly 2021, 93; dazu auch meine Rezension, die zeigt, wie Aly mit einer den deutschen Kolonialismus im Pazifik verharmlosenden Historiografie bricht (Schwarz 2021).

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Abb. 4: B. v. Francken: „Ein Zukunftsbild: Bekämpfung der Aufständischen durch Aeroplane“.

Die infantilen Illustrationen des kolonialen Terrors zeigen in erster Linie, dass es sich bei der Infantilisierung der autothalassischen Bevölkerung im kolonialen Diskurs um eine paranoide Projektion brutaler europäischer Barbaren handelt, deren koloniales Begehren von puerilen Gewaltfantasien befeuert wird.

3 Die sexuelle Eroberung der Pazifikkolonien im kolonialen Diskurs In Süsserott’s illustriertem Kolonial-Kalender für 1910 dichtet Kurt Hoffmann über die „feenhafte Tropennacht“, dass sie das „Herz mit ganzer Macht“ betöre. Doch das lyrische Ich richtet seine „Sehnsucht“ nach „Norden“, zu seiner „Lieb im Vaterland“, deren „blaue Augen“ es offenbar attraktiver findet (Hoffmann 1910, 55). Eine Illustration zeigt eine „Mondnacht im Hafen von Apia“ und suggeriert so, dass sich die Tropennacht am besten im Hauptort der deutschen Kolonie Samoa erleben lasse, obwohl sich Hoffmanns Gedicht selbst lokal nicht festlegt. Es bringt das emotionale Regime des deutschen Kolonialismus insofern zum Ausdruck, als es zwar einerseits das koloniale Begehren auf die diskursiv feminisierte Tropenlandschaft richtet, während es zugleich jedoch einen emotionalen Stil kultiviert, der die sexuellen libidinösen Energien von den Exotinnen ablenkt und zurückbiegt auf die deutsche Frau. Aus Apia beschwört dann auch in Süsserotts Kalender für 1913 Lotte Emka in ihrem Samoagedicht „Tropenschönheit“ den „märchenschönen Zauber / Mond-

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durchtränkter Tropenlandschaft“ herauf. Auf dem „Eiland“ im „Meer des Südens“ wird die Journalistin von ozeanischen Affekten übermannt: Und ihr schlanken Palmenbäume, Die ihr stolz wie Himmelssäulen In dem Dome wahrer Andacht Hoheitsvoll zum Glauben zwinget! Raget höher in das Weltall, Reißet alles Sein, Empfinden Auf, empor zum Quell des Lichtes! (31)

Noch in Köhler’s illustriertem deutschen Kolonialkalender für 1934 bedichtet Hans Langmaack die „Südseenacht“, den „Silberflor“ des Mondes überm „Palmenwalde“ (18). Die Südseeinsel ist im kolonialen Diskurs eine Stimmungslandschaft, über die sich in dieser Lyrik libidinöse Energien aus der Wunschmaschine der Kolonialkalender ergießen. Drei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg rühmt Franz Otto Koch in einem Reisebericht für Köhlers Kalender die „schönen Samoanerinnen“ (1911, 152). Dort sei ihm bei einem Ausritt auf einem „Brückensteg“ aus „zwei Palmenstämmen“ eine der „Dorfschönheiten“ entgegengekommen, ein „Mädchen von schlankem, feinem Wuchs“ (153). Koch wird als Willkommensgruß das „Nationalgetränk“ Kava angeboten (153), an deren Zubereitung sich die „den Ehrenposten bekleidende Jungfrau“ beteiligt (154). Nach der „Kavazeremonie“ wird gegessen und die „Tochter des Hauses“ lässt sich vom europäischen Gast die „braunen Wangen“ streicheln. In Samoa erwarte sie, dass der Gast ihr „besonders den Hof macht“. Es folgt eine Tanzdarbietung der „jungen Damen“, der sich diese „mit großer Leidenschaftlichkeit“ widmeten (155). Danach will der Reiter immer noch nicht „zur Ruhe“ gekommen sein: „Die Ereignisse des Tages zogen an mir vorüber – wie ein seltsam lieblicher Traum“ (155). Signifikant ist in diesem Satz vor allem der Gedankenstrich, der im kolonialen deutschen Südseediskurs auf sexuelle Handlungen verweist (vgl. Schwarz 2013, 18, 99, 142 und 181). Das Satzzeichen steht als narrative Paralipse für das, was im kolonialen Diskurs in der Regel mit einem Artikulationsverbot belegt ist, während zugleich jedoch ein größerer Anreiz besteht, im Text auch eine Anspielung auf die Möglichkeit einer sexuellen Eroberung zu platzieren. Ein Teil der Autoren scheint regelrecht Wert darauf zu legen, an dieser Stelle der Erzählung einen interpretatorischen Ahaeffekt zu provozieren, mit dem sie sich als potenzielle ‚Eroberer einer exotischen Schönheit‘ zu erkennen geben. Zugleich sichern sie sich mit dem Gedankenstrich gegen den Vorwurf der kolonialen ‚Rassenschande‘ ab. Köhlers Kolonial-Kalender für 1912 zufolge zog die sexuelle Hybridisierung, deren Indikator das starke Wachstum der „Anzahl der Mischlingskinder“ in der kolonialen Statistik war, eine „Rassenverschlechterung“ nach sich.Vor diesem Hintergrund begrüßte der

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Abb. 5: „Samoanische Schönheit. Dreifarbendruck nach photographischer Originalaufnahme“ am Frontispiz des Illustrierten Kolonialkalenders von Köhler.

Kalender, dass sich das Reichskolonialamt bereit erklärt hat, für die heiratswilligen deutschen Bräute der „Beamten in den Schutzgebieten“ die Reisekosten zu übernehmen (Anonym 1912a, 22). Damit in Widerspruch scheint zu stehen, dass die Kolonialkalender unübersehbar an der erotischen Inwertsetzung der Kolonien arbeiteten. Wesentlich prominenter als die Warnung vor der Hybridisierung prangt am Frontispiz von Köhlers Edition für 1912 die farbige Illustration einer „schönen Samoanerin“. Dass die Originalaufnahme aus dem samoanischen Studio des neuseeländischen Fotografen Thomas Andrew stammt, gibt die Bildredaktion nicht preis. Andrews Modell ist auf einer Postkarte mit einem ärmellosen Top bekleidet (Nordström 1995, 21). Das Frontispiz von Süsserottʼs Kolonial-Kalender für 1914 schmücken gleich vier Fotografien mit dem Titel „Samoanische Schönheiten“. Als Augenfang dient das Brustbild einer jungen Samoanerin.

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Ambivalent ist eine Fotografie mit folgender Bildunterschrift: „16jähriges Mädchen, welches einem Mitarbeiter des Köhlerschen Kolonial-Kalenders in Neu-Guinea gegen eine Schachtel Stecknadeln zum Geschenk angeboten wurde“ (Anonym 1912b, 134). Zu sehen ist eine an zwei Pfählen festgebundene Frau, die schutzlos der Tropensonne ausgesetzt ist. Indem das Foto das ‚Barbarische‘ der Offerte moniert, rechtfertigt es zugleich die militärische Gewalt gegen die Pazifikinseln, über die gleich im Anschluss berichtet wird, als ‚zivilisierende‘ Maßnahme (vgl. Koschitzky 1912). Zugleich verstärkt das Bild aber auch die Botschaft von der sexuellen Verfügungsgewalt über exotische Frauen in den Pazifikkolonien.

Abb. 6: Koloniales Propagandafoto zur Rechtfertigung kolonialer Gewalt als Maßnahme zur Befreiung der exotischen Frau von einem angeblich ‚barbarischen Joch‘.

Hans Bethge ist wohl einer der wenigen Autoren von Köhlers Kolonialkalender, der auch in Germanistenkreisen bekannt ist, weil Gustav Mahler sieben seiner Gedichte aus der Sammlung Die Chinesische Flöte (1907) in seinem Lied von der Erde vertont hat (Lauer und Yü, 2020). In der Ausgabe für 1912 hat er eine Kalendergeschichte mit dem Titel Satuila und ich untergebracht, die suggeriert, es könnte sich – so der Untertitel – um seine persönlichen „Erinnerungen an Samoa“ handeln (152). Bethges außereuropäische Reiseerfahrungen beschränken sich allerdings auf Nordafrika. Ein Aufenthalt in Polynesien ist auch gar nicht notwendig, um zu erzählen, dass in tropischen Ländern „der Mond aus den Palmen“ aufsteigt (154). Bethges Novelle handelt von einem sexuellen Exotisten, der ein Jahr lang auf Samoa in einem abgelegenen Dorf der Insel Upolu, Falilati, eine

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‚wilde Ehe‘ mit Satuila führt, einer samoanischen Madame Butterfly. Als er ihr schließlich erklärt, dass er in Europa „wichtige Dinge“ zu erledigen habe, prognostiziert sie: „Du kehrst niemals wieder“ (155). In der Tat hat er von Anfang an geplant, nicht länger als ein Jahr in der Fremde zu bleiben. Er verlässt seine Geliebte am Ende nachts, ohne sie aufzuwecken (156). Eine Liebesgeschichte dieses Typs publiziert auch der Autor Karl Jacobsen, eine „samoanische Erzählung“ mit dem Titel Alieta, und zwar in Süsserott’s illustriertem Kolonial-Kalender für das Jahr 1913. In ihr läuft „S.M.S. ‚C‘“ (unschwer zu dechiffrieren als der Kreuzer Cormoran) den Hafen Apia auf Upolu an. Dort seien die „feurigen Samoanerinnen“ an einem „Flirt“ mit den „blauen Jungen“ sehr interessiert (56). Der Matrose Georg Stahl verliebt sich in eine dieser „Amphibien“, die ihn mit ihren Tauchkünsten beeindruckt (56). Alieta begeistert sich für Georgs Uniform (61). Unter der „heißen Tropensonne“, die das „kalte, nordische Blut schneller pulsieren“ lasse (58), geschieht das Unvermeidliche. Es war ein Gemeinplatz des europäischen Tropendiskurses, dass sich „das heisse Klima“ stimulierend auf die „Geschlechtslust“ auswirke und „zu einer völligen Entartung des Geschlechtstriebes führt“ (Rau 1904, 8). Nachts überschüttet im Samoadiskurs auch hier der „Mond mit seinem Silberlicht“ die „wunderbare Landschaft“ und erzeugt eine „zauberische Stimmung“ (Jacobsen 1913, 58). Alieta holt ihrem Liebling „von einer Kokospalme Nüsse“ (57) und versucht, ihn zur Desertion zu bewegen. Das kommt für den pflichtbewussten Georg nicht infrage, doch verspricht er Alieta in der „Abschiedsstunde“, nach einem Jahr zurückzukehren (58). Andere Samoanerinnen wie Manai und Tulia warten jahrelang vergeblich auf die „Rückkehr ihrer weißen Männer“ (61). Alieta liest vermutlich auch Kolonialkalender, jedenfalls weiß sie schon Bescheid: „Du kommst nie wieder! Schon viele Weiße, die hier waren und ein braunes Mädchen liebten,verließen sie heimlich oder versprachen zurückzukommen. Sie blieben aber fern und kümmerten sich nicht um die trauernde Samoanerin“ (58 – 59). Georg macht Alieta einen Heiratsantrag und fragt sie, ob sie am locus amoenus „im Walde am Strande“ mit ihm wohnen möchte, und ringt ihr ein Treueversprechen ab (59). Doch das „Tropenmärchen“ (61) dieser „exotischen „Liebe“ (62) nimmt kein gutes Ende. Zwar kehrt Georg tatsächlich zurück, allerdings hat ein „junger, schlanker Samoaner“ bereits seine Stelle eingenommen (62). Jacobsen ist insofern ein idealtypischer Repräsentant des kolonialen Pazifikdiskurses, als er sowohl die Nachfrage nach Gewaltnarrativen als auch das Begehren nach schlüpfrigen Seifenopern unter Palmen zu befriedigen vermag. In Jung-Deutschlands Flotten- u. Kolonial-Kalender für das Jahr 1918 berichtet der deutsche „Eingeborenenlehrer“ Hugo Sawade in kindgerechter Sprache von der „unvergleichlichen Schönheit“ des „lieblichen Südseeeilandes“ Samoa. Die diskursiv infantilisierten „Samoamenschlein“ seien „gastfrei und der Freund des Weißen“ (21). Ihr König Tamasese sei auch dann ein „Freund der Deutschen“ ge-

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blieben, als neuseeländische Truppen Samoa im August 1914 besetzten (23). Nachdem Tamasese im September 1915 gestorben war, verschlechterte sich die Situation der Deutschen auf Samoa. Der Autor des Nachrufes wurde Anfang 1916 aus Samoa ausgewiesen, will aber vorher noch ein Lied über „Deutsch-Samoa“ komponiert haben (29). Es sei „tropisch prächtig, märchenschön“ im „Samoaland“, das lyrische Ich will ihm überall und „stets gedenken“ (30). Der Lehrer empfiehlt den Jugendlichen, „Text und Melodie gehörig auswendig“ zu lernen (28). Der Samoadiskurs hat sich inzwischen von seiner kolonialen Erfahrungsgrundlage gelöst und erstarrt in Erinnerungsritualen. In den Jahren 1914/15 hatte sich auch der Schriftsteller Erich Scheurmann auf Samoa aufgehalten, nach eigenen Angaben „studienhalber“. In einem Brief an die Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt vom 28. März 1927 behauptet er nun dreist, er habe die „Erforschung und Darstellung der polynesischen Welt und Weltanschauung“ zu seinem „Spezialgebiet“ gemacht. Zwei „Südseebücher“ habe er schon 1919/20 auf den Markt gebracht (1927, 20). Unter den Publikationen Scheurmanns möchte ich zum einen den Papalagi von 1920 hervorheben, die fiktiven Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea, zum anderen das Bilderwerk Samoa, das Scheurmann in erster Auflage 1926 im Eigenverlag publizierte, in zweiter Auflage 1927 im Konstanzer See-Verlag. Um sein Werk möglichst effektiv zu vermarkten, hatte Scheurmann schon am 8. Februar 1927 bei der Kolonialabteilung damit geprahlt, dass er mehr als dreihundert Diavorträge über Samoa gehalten habe. Jetzt stellt er dem Amt seine Aufnahmen zur Verfügung (Scheurmann 1927, 7). Scheurmanns Verleger erklärt unabhängig davon in einem Anschreiben vom 8. März, dass Scheurmanns Bilderwerk Samoa für die „koloniale Propaganda“ schon deshalb „besonders wirkungsvoll“ sei, weil es dem „kolonialen Gedanken fernstehende Kreise erfasst, indem es sich an exotische, ethnografische und künstlerische Vorstellungswelten des Publikums wendet, um es auf diesem Wege auch für den kolonialen Gedanken zu gewinnen“ (Scheurmann 1927, 15 – 16). Diese Quelle gibt Auskunft über die Arbeitsteilung, die im kolonialen Diskurs zwischen Gewaltnarrativen und Softpornografie herrscht. Während die einen die Zurichtung rassistischer Killer betreiben, dient der illustrierte sexuelle Exotismus in diesem Kontext der Rekrutierung. Dass Scheurmanns Verleger das Anliegen seines Autors richtig verstanden hat, bestätigt der Schriftsteller in seinem Schreiben vom 25. März: Es gehe ihm mit der Publikation darum, „das koloniale Interesse auch in breiten Kreisen des deutschen Volkes lebendig zu erhalten“. Gleichzeitig versucht er das Auswärtige Amt anzuschnorren: Da er sich um die „Erhaltung des kolonialen Gedankens verdient gemacht“ habe, bittet er um Hinweise auf geeignete „Beihilfen“ (Scheurmann 1927, 20). Ganz zweifellos ist der Verfasser des berühmten Papalagi nichts anderes als ein Kolonialrevisionist.

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Die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes kaufte einhundert Exemplare von Scheurmanns Bilderwerk an (6), mit fünfundzwanzig Prozent Rabatt auf den Ladenpreis von neun Mark (18). Am Erlös war Scheurmann mit zehn Prozent Tantiemen beteiligt (25). Der deutsche Kolonial-Verein setzte Bücherspenden von Scheurmanns Samoabuch aus der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes zur „kolonialen Propaganda“ ein (23), weitere Exemplare gingen an den „Bund der Kolonialfreunde“ (25). Auf dem freien Buchmarkt erwies sich die Publikation als Flop, der Konstanzer Verlag blieb auf seiner „hohen Auflage“ sitzen und bat deshalb das Amt um eine „umfangreiche Bestellung“ (36). Erwähnenswert ist, dass ein beträchtlicher Teil der Aufnahmen in diesem Band nicht von Scheurmann selbst stammt. Alle Studioaufnahmen beispielsweise hatte dieser ‚Forscher‘ während seines Aufenthalts schlicht als Postkarten in den einschlägigen Läden Apias käuflich erworben. Die Kolonialabteilung hatte kein Interesse daran, den erfolglosen Erich Scheurmann und seinen Verlag zu sponsern. Konkretes Interesse bestand allerdings an Kopien seiner Dias und Fotos (6, vgl. die Liste auf Bl. 28 – 29). Scheurmann bot dem Amt die Originale der Platten zur Reproduktion für den Dumpingpreis von einer Mark pro Stück an (25) und konnte sich auf diese Weise siebenundfünfzig Mark dazuverdienen (30). Der Grund für den Ankauf geht aus den Akten hervor. Die illustrierten Kolonialkalender entwickelten einen unersättlichen Hunger nach neuem Bildmaterial aus dem kolonialen Archiv, der umso schwieriger zu befriedigen war, je länger die Kolonialzeit zurücklag. Regelmäßig suchte der Mindener Verleger Wilhelm Köhler deshalb die Kolonialabteilung in Berlin auf, um „persönlich den Bildervorrat nach geeignetem Material“ zu durchstöbern (Akten 1925 – 1937 [31.12.1925], 10).¹⁰ Köhler’s illustrierter deutscher Kolonial-Kalender 1935 enthält einen Beitrag von Max Fleck, der einen Besuch von Blaujacken des Kreuzers Cormoran bei „Faalata“, dem „Häuptling der Samoaner“ (124), schildert. Als Illustration dient das Foto einer „Samoanerin“ (126). Zwar gibt es keine Quellenangabe, doch das Bild lässt sich genau wie die Tätowierszene auf der gegenüberliegenden Seite (127) unschwer Robert J. Flaherty zuordnen. Der Dokumentarfilmer hatte in den 1920er Jahren auf der samoanischen Insel Savai’i den Streifen Moana (1926) gedreht. Mitte der 1930er Jahre wussten sich die Kolonialkalender in ihrer Bildernot nicht mehr anders zu behelfen: Um das Begehren ihres Publikums nach neuer nackter Haut von Exotinnen zu stillen, mussten sie stillschweigend auf die Bildproduktion  Vgl. Akten 1925 – 1937, für das Jahr 1926: 11, eine spezielle Nachfrage nach Südseebildern 1927: 17, neue Reise 1928: 20: Köhler bittet in seinem Brief vom 6. Januar um „Erstattung der Reisespesen“, damit er für den „neuen Jahrgang des Kolonial-Kalenders neue Photographien“ auswählen kann. Vgl. ähnlich den Brief vom 2. November 1928, Bl. 45, vgl. ferner 51, 77.

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derer zurückgreifen, die sie offiziell des Raubs der deutschen Kolonien bezichtigten. Flecks Geschichte repetiert stereotyp die Erzählbausteine aus dem Samoadiskurs. Nachdem die deutschen Marinesoldaten die „Kawa“ ihrer Gastgeber (125 – 126) getrunken haben, wohnen sie einer Vorführung des Festtanzes, der „Siwa“, bei (126 – 127). Nicht anders macht es der finanziell notorisch klamme Erich Scheurmann (vgl. Schwarz 2013, 209). In der Ausgabe für 1938 erhält er endlich selbst einmal Gelegenheit, über einen „Besuch im Samoadorfe“ zu schreiben. Nach einer Durchquerung der Insel Upolu erreicht er zusammen mit drei Freunden die Ortschaft Falealili. Für die Begrüßung am Strand ist eine „Schar junger Mädchen“ unter Führung der „Taopou“ zuständig, der „Mädchenkönigin des Dorfes“. Gastgeber ist „Häuptling Atanoa“, er hält eine Rede „voller verschlungener Gleichnisse“ (84). Die „Taopou“ beginnt die „Kawawurzel“ zu „zernagen“ (85), um das Begrüßungsgetränk vorzubereiten (86).

Abb. 7: [Erich Scheurmann.] „Bereiten des Kawatrunkes“, in Wirklichkeit John Davis (um 1893).

Auch hier ist vom „mondbestrahlten unendlichen Ozean“ die Rede, der Kulisse für den „Siva“ (86): „Immer wilder wogte der Tanz. – – – – –“ (88). Drei weiße Männer in der ‚Tropennacht‘, allein bei den ‚wilden Samoanerinnen‘! Scheurmann benötigt ganze fünf Gedankenstriche für seine Paralipse, mit der er das Geschehen übergeht, das sich im kolonialen Diskurs nicht artikulieren lässt, erst recht nicht während der Nazi-Diktatur, der sich Scheurmann 1938 als Parteigenosse andient (Schwarz 2013, 209). Nach „Mitternacht“ begibt er sich zu seinem „Nachtlager“ und findet „lange keinen Schlaf“. Anders als bei Bethge gibt es keinen dramatischen Abschied, die „Trennung“ läuft recht feierlich ab und die drei Exotisten

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schreiten nach einem „Tofa“ („Lebt wohl“) würdig „dem Urwald entgegen bergan“ (88). Aufnahmen des Verfassers illustrieren den Artikel, doch was Scheurmann hier als sein eigenes Werk ausgibt, ist in Wirklichkeit ein Bild des in Samoa tätigen Fotografen John Davis. Dieser hat es wahrscheinlich um 1893, kurz vor seinem Tod aufgenommen.¹¹ Noch der letzte Band von Köhlers Kolonialkalender für 1942 enthält eine Fotografie von Scheurmann, auf der samoanische „Rundhäuser“ zu sehen sind (168). Hier findet sich auch ein Beitrag von Scheurmanns Freund Walter Michael, einem ehemaligen Regierungslehrer auf Samoa, der ein Stimmungsbild über den „Dampfertag in Apia“ (177) verfasst hat. Auch dieser Artikel ist illustriert mit einem Bild Scheurmanns, das samoanische Kinder zeigt (177). Auf diese Weise konnte der 1940 zum Blockwart avancierte Scheurmann, der sich längst von den Sozialleistungen von ‚Hitlers Volksstaat‘ abhängig gemacht hatte (Schwarz 2013, 209 – 210), immer noch ein paar Zusatzbrötchen verdienen.

4 Die Fossilierung der Kolonialkalender Die Frage nach der Rezeption und dem Wirkungsgrad dieser Kolonialkalender lässt sich nur tentativ beantworten. Am 31. Dezember 1925 kündigt der Verleger Wilhelm Köhler in einem Brief an die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes an, dass er möglichst noch im selben Jahr seinen Kolonial-Kalender für 1927 in einer „Auflage von ca. 100.000 Exemplaren“ herausbringen möchte (Akten 1925 – 1937, 10). Dass er zu hoch gegriffen hat, bezeugt ein weiteres Schreiben, in dem Köhler die Auflage für die Kalender der Jahre 1928 – 1930 auf sechzigtausend beziffert (14, 45, 51). Der deutsche Kolonialverein teilt dem Auswärtigen Amt am 29. März 1928 mit, dass er einen „kolonialen Abreißkalender“ mit dem Titel Mehr Raum im Angebot hat. Er bittet das Amt darum, eintausend Exemplare zum Preis von drei Mark abzukaufen, der zuständige Beamte bewilligt eintausendfünfhundert Reichsmark (Akten 1925 – 1937, 23, vgl. auch 25 – 26). Der Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft, Theodor Seitz, beschwert sich am 11. April 1928 vor diesem Hintergrund, dass der „Kolonialkalender der Kolonialen Reichsarbeitsgemeinschaft“ keine Mittel aus dem „Propagandafonds“ erhalte (24). Die Herausgeber dieser Publikationen glauben, dass sich von Kalendern dieses Typs mindestens dreißigtausend, unter Umständen auch sechzig- bis achtzigtausend Exemplare verkaufen lassen (83). Die Deutsche Kolonialgesellschaft betreibt seit

 Vgl. Scheurmann 1927, Tafel 92: „Bereiten des Kawatrunkes“; zur Aufnahme von Davis siehe Engelhard und Mesenhöller 1995, 70, Tafel 6.

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Anfang der 1920er Jahre ein Konkurrenzprojekt mit dem Titel Deutscher Kolonialkalender (89 und 174) zur wohltätigen Unterstützung eines „stammesbewußten Deutschtums in den unter Mandat gestellten deutschen Kolonien“ (91). Tatsächlich jedoch setzt der Kolonialverein 1929 nur fünfzehntausend Exemplare ab, nach Abrechnung der Unkosten verbleibt ein Reinerlös von etwa vierzehntausend Mark (100). Im folgenden Jahr verkauft der Verein mehr als zwanzigtausend Kalender und erzielt einen Gewinn von über dreißigtausend Mark (115). Die Kolonialgesellschaft kann zwar von ihrem Deutschen Kolonialkalender 1930 fast dreiundzwanzigtausend Stück absetzen und nimmt damit achtundsechzigtausend Mark ein. Doch nach Abzug aller Kosten bleibt ihr nur ein Überschuss von fünftausend Mark, mit dem sie vorwiegend Schulen in Südwest- und Ostafrika fördert (123). Offensichtlich wirtschaftet der Kolonialverein auch bei rückläufigen Verkaufszahlen effektiver (vgl. 130, 155 und 162– 164). Denkwürdig ist, dass nicht die einflussreichere Kolonialgesellschaft, sondern der Kolonialverein 1932 eine Kassenprüfung über sich ergehen lassen muss, die allerdings ergebnislos verläuft (166 – 168). Festhalten lässt sich, dass die Kolonialkalender während der Weimarer Republik eine für einzelne Verleger gewinnträchtige Marktnische bilden, von der die Kooperationspartner der Kolonialgesellschaft auch erfolgreich unter Ausnutzung einer angeblichen Gemeinnützigkeit dieses Projekts profitieren. Die Verkaufszahlen allerdings stagnierten. An potenziellen Käuferschichten hätte es unter der Nazi-Diktatur nicht gefehlt. Zwischen 1933 und 1941 soll sich die Zahl der organisierten Mitglieder der Kolonialbewegung von dreißigtausend auf zwei Millionen erhöht haben (vgl. Sandler 2018, 3, 8, 17 und 22, dort Anm. 52). Für 1935 ordnete die Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt eine Zusammenführung der konkurrierenden Abreißkalender für 1935 an (187). Im „Gedenkjahr an den Erwerb der deutschen Kolonien vor 50 Jahren“ demonstriert die deutsche Kolonialbewegung Geschlossenheit (214). Der Potsdamer Verleger Ludwig Voggenreiter bittet am 19. September 1933 Edmund Brückner, den Leiter der Kolonialabteilung, ihm mit Bildmaterial zum Abdruck in einem „kolonialen Jungenkalender“ auszuhelfen, einem Themenschwerpunkt des Spurkalenders für das Jahr 1934. Konkret hätte Voggenreiter gern eine Fotografie des „ersten Gouverneurs von Deutsch-Südwestafrika Herrn Dr. Goering“, das „neben dem Bild seines Sohnes, des Herrn Ministerpräsidenten Göring“, erscheinen soll (Akten 1925 – 1937, 189). Beigelegt ist ein rabiates kolonialrevisionistisches Manifest vom März 1933. Es soll die Jugend für den „Kampf mit den Feindmächten um neuen Lebensraum“ und „unsere unvergesslichen Schutzgebiete“ mobilisieren (198):

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Es kann nicht mehr bescheiden an unsere Wünsche erinnert werden, es ist vielmehr die Stunde gekommen, einen Sturm über das deutsche Land, damit über die Welt hin zu entfesseln mit der End-Forderung: Wir verlangen unsere Kolonien zurück! (197)

Es handle sich schließlich um deutsches „Eigentum“ (198). Am 9. Dezember 1933 meldet sich der Voggenreiter-Verlag erneut bei Brückner und überreicht ihm seinen Spurkalender 1934. Der Verlag hält es für „ausserordentlich wichtig“, dass die mit dem deutschen Kolonialismus „verbundenen Gedenktage“ zum „Gemeingut der deutschen Jugend“ werden (204). In vorauseilendem Gehorsam legt der Verlag dem Amt den Entwurf für einen „Aufsatz“ mit Kolonialpropaganda zur Zensur vor, der in den Medien verbreitet werden soll. Darin heißt es, beim kolonialen „Problem“ gehe es nicht um Import und Export von „Kolonialwaren“, sondern „um den Raum allein“. Die Deutschen seien ein „Volk ohne Raum“, in Afrika aber liege ein „Raum ohne Volk“, ein von „Deutschen“ allerdings bereits „erschlossener Raum“. Mit dem Chiasmus reklamiert das Pamphlet Eigentum an Grund und Boden. Es dürfe nicht so sein, dass „deutsches Blut nur Kulturdünger für fremde Völker, für fremde Länder“ sei (210). Der Zensor vom Amt empfiehlt allerdings unter anderem, die „Kolonialfrage“ nicht „vom Standpunkt des Siedlungsproblems“ ausgehend zu beurteilen, sondern auf die „wirtschaftliche Bedeutung überseeischer Besitzungen hinzuweisen“ (211). Der Verlag hingegen nutzte seine Kontakte zum „Kolonial-Referenten der Reichsjugendführung“, um den Aufsatz in der „ursprünglichen Form“ an „die Presse zu geben“ (216). Bei Voggenreiter war man sich sicher, den Zeitgeist der Nazis erfasst zu haben, und versuchte konsequent, ihn umzumünzen. Hans Grimms Roman Volk ohne Raum (1926), der die deutsche Klaustrophobie dieser Jahre und die komplementäre Vorstellung eines herrenmenschenleeren Terrains im Titel auf den Punkt bringt, hatte es 1934 bereits auf eine Auflage von dreihunderttausend gebracht (Honold 2004, 95 – 96). In Köhlers Kolonialkalender für 1935 mahnt Hans Gerd Esser in einem „Appell der Jugend“: „Wir müssen ins Volk!“ (197) Als Vertreter der „jungen kolonialen Vorkämpfer“ fordert er eine „Propaganda“ nach dem Vorbild von Goebbels, „fanatische Kleinarbeit“ unter „Ausnutzung jeder Freiminute“ (199). Kein Zweifel, aus der Perspektive der Nazis schlägt dieser Mann den richtigen Ton an. Doch die Stichproben legen die Vermutung nahe, dass die Kolonialkalender zu einem fossilierten Projekt geworden sind, in dem sich ältere Herrschaften in kolonialer Melancholie repetitiv an ihre Jugend erinnern. Abgehalfterten Schriftstellern wie Erich Scheurmann mögen sie noch eine letzte Publikationsmöglichkeit geboten haben. Nachdem der Zweite Weltkrieg die Kalender völlig von ihrem Nachschub an Bildmaterial abgeschnitten hat, haben sie als illustriertes Medium ausgedient. Noch bevor Nazideutschland alle organisatorischen Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Kolo-

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nialismus im ‚Totalen Krieg‘ einstellte, war Köhlers Kolonialkalender vom Markt verschwunden.

Quellen und Literatur Akten, betreffend: Allgemeine Verhältnisse in Neu-Guinea. Auswärtiges Amt. Kolonial-Abteilung AIII. Januar 1906–Januar 1908. Berlin: Bundesarchiv (BArch R 1001/2992). Akten, betreffend: Kolonialkalender. Bd. 1 (enthält Probeblätter des Kalenders Mehr Raum, ediert vom deutschen Kolonialverein für das Jahr 1929: 26 – 38, für das Jahr 1930: 61 – 76). Berlin: Bundesarchiv (BArch R1001/4595) 1925 – 1937. Aly, Götz. Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten. Frankfurt am Main: Fischer, 2021. Anonym. „Südseebericht“. Deutsche Kolonialzeitung 18 (1906): 179 – 180. Anonym. „Denkschrift über die Entwickelung der deutschen Schutzgebiete und in der Südsee. Berichtsjahr 1. April 1905 bis 31. März 1906.“ Anlage zu: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. 12. Legislaturperiode. Bd. 239. Berlin: Sittenfeld, 1907. 23 – 433. Anonym [mutmaßlich Kurd Strantz]. „Beihülfe der Bräute der Kolonialbeamten“. Illustrierter deutscher Kolonial-Kalender für 1912 (a). Redigiert von Kurd Strantz. Minden: Köhler, 1911. 22. Anonym [mutmaßlich Kurd Strantz]. „Was eine Frau kostet“. Illustrierter deutscher Kolonial-Kalender für 1912 (b). Redigiert von Kurd Strantz. Minden: Köhler, 1911. 134. Anonym [mutmaßlich Wilhelm Köhler]. „Wir müssen wieder Kolonien haben!“ Köhler’s illustrierter deutscher Kolonialkalender 1934. Minden: Köhler, 1933. 19. Anonym [mutmaßlich Wilhelm Köhler]. „Kolonien im Dritten Reich!“ Köhler’s illustrierter deutscher Kolonialkalender 1935 (a). Minden: Köhler, 1934. 17 – 20. Anonym [‚Alter Afrikaner‘]. „Was uns die Kolonien waren. Volksethische Betrachtungen und Schlußfolgerungen“. Köhler’s illustrierter deutscher Kolonialkalender 1935 (b). Minden: Köhler, 1934. 49 – 54. Anzeige: „Süsserott’s illustrierter Kolonial-Kalender 1909“. Deutscher Kolonial-Kalender und statistisches Handbuch für das Jahr 1909. Nach amtlichen Quellen neu bearbeitet. Berlin: Deutscher Kolonial-Verlag/Meinecke,1908. XX. Bethge, Hans. „Satuila und ich. Erinnerungen an Samoa“. Illustrierter deutscher Kolonial-Kalender für 1912. Redigiert von Kurd Strantz. Minden: Köhler, 1911. 152 – 156. Blythe, Jennifer Mary. „The War with Peter: Commercial development in the Vitu Islands, German New Guinea“. Journal of Colonialism and Colonial History 20.1 (2019): 1 – 27. Brümmer, Franz. Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Bd. 4. Leipzig: Reclam, 61913. Deeken, Richard. „Die Karolineninsel Ponape“. Süsserott’s illustrierter Kolonial-Kalender 1912. Hg. Hubert Henoch. Berlin: Wilhelm Süsserott, 1911. 191 – 196. Emka, Lotte. „Tropenschönheit“. Süsserott’s illustrierter Kolonial-Kalender 1912. Hg. Hubert Henoch. Berlin: Wilhelm Süsserott, 1911. 31. Engelhard, Jutta Beate und Peter Mesenhöller (Hg.). Bilder aus dem Paradies. Koloniale Fotografie aus Samoa 1875 – 1925. Köln: Rautenstrauch-Joest-Museum, 1995.

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Koloniale Erinnerungskultur: Kalendergeschichten aus der Südsee

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Spiegel, Edgar Freiherr von und zu Peckelsheim an Heinrich Himmler. „Mein Reichsführer!“ Berlin: Bundesarchiv (BArch R/9361/III), 13. 2. 1942. Vgl. „Aufnahme in die SS“, 1936 / „Beförderungen“, 1942.

Abbildungen Abb. 1: Arriens, Carl. „Jungfrau“. Süsserott’s illustrierter Kolonial-Kalender 1909. Hg. Hubert Henoch. Berlin: Wilhelm Süsserott, 1908. Kalendarium (August, ohne Seitenangabe). Wiederverwendet für die Kriegs-Ausgabe 1915 – 1916. Berlin: Wilhelm Süsserott, 1915. Abb. 2: Bernatzki, Hugo Adolf. „Titelbild“. Köhler’s illustrierter deutscher Kolonial-Kalender 1934. Minden: Köhler, 1933. Köhler entnimmt die Fotografie einem „Bilderwerk“ von Hugo Adolf Bernatzki: Aethiopien des Westens. Forschungsreisen in Portugiesisch-Guinea. 2 Bde. Wien: Seidel, 1933 (vgl. „Redaktionelle Notizen“, 236). Abb. 3: Hachez, Karl. „In kurzer Zeit steht das Dorf in hellen Flammen“ [Überfall der deutschen Kriegsmarine auf ein Dorf der Insel Pak, Admiralitäts-Inseln]. Köhler’s illustrierter deutscher Kolonial-Kalender 1934. Minden: Köhler, 1933. 39 Abb. 4: Francken, B. v. „Ein Zukunftsbild: Bekämpfung der Aufständischen durch Aeroplane“. Illustrierter deutscher Kolonial-Kalender 1913. Minden: Köhler, 1911. 139. Abb. 5: „Samoanische Schönheit. Dreifarbendruck nach photographischer Originalaufnahme“. Illustrierter deutscher Kolonial-Kalender für 1912. Redigiert von Kurd Strantz. Minden: Köhler, 1911. Frontispiz. Abb. 6: „16jähriges Mädchen, welches einem Mitarbeiter des Köhlerschen Kolonial-Kalenders in Neu-Guinea gegen eine Schachtel Stecknadeln zum Geschenk angeboten wurde“. Illustrierter deutscher Kolonial-Kalender für 1912. Redigiert von Kurd Strantz. Minden: Köhler, 1911. 134. Abb. 7: Scheurmann, Erich (in Wirklichkeit John Davis). „Bereiten des Kawatrunkes“ (um 1893). Köhler’s illustrierter deutscher Kolonialkalender 1938. Minden: Köhler, 1937. 86.

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Kalendarische Verkehrung: Mit Proust durch die Nacht – O Nächte, Nächte, Nächte Möchte ich schreiben Und immer, immer über Blättern bleiben […].¹

1 Aufbruch im Abendlicht „[I]ch bin ein ‚Schriftsteller‘ – oder scribens – des Tages, niemals der Nacht; doch gerade deshalb träume ich so gut davon: Ich habe Lust, nachts zu arbeiten, aber mein Körper folgt mir nicht“, notiert Roland Barthes (2008, 363) am Ende eines Abschnitts mit der Überschrift „Die Nacht“ in seiner letzten Vorlesung und spannt dabei zugleich die grundlegenden Pole der hier einsetzenden kleinen festschriftlichen Textwelt auf. Es wird um gleichermaßen ungleiche wie vergleichbare Paare und ihr jeweiliges Dazwischen gehen, um Leben und Werk, Literatur und Theorie, Musik und Sprache, Traum und Wirklichkeit. Dies anhand des Aufeinandertreffens zweier Autoren, die angesichts ihrer stark divergierenden Biorhythmen auch als gleichaltrige Zeitgenossen² wohl kein gemeinsames Datum für ein get together gefunden hätten: Roland Barthes (1915 – 1980) und Marcel Proust (1871– 1922), der geistreiche und disziplinierte Wissenschaftler mit minutiösem Tagesablauf hier, der ebenso begnadete wie schlaflose Schriftsteller der Nacht dort, alle beide indes, in ihren atemlosen, weitschweifenden Sätzen, stets auf der Suche nach der angemessenen literarischen Form und dem erinnernden Ganzen,³ der Überwindung von Sprache und Zeit im Festhalten der Fühlung. Was den großen Semiologen vom großen Romancier trennt und zugleich beide miteinander in Beziehung treten lässt, ist die dem „Rhythmus des Licht-

 Es handelt sich hier um die Anfangsverse eines frühen Gedichtentwurfs Rilkes vom 21. November 1899 im sog. Schmargendorfer-Tagebuch (Rilke 1976, 42). Diesem frühen Zeugnis des nächtlichen Grundmotivs in Rilkes Lyrik sollte in späteren Jahren eine ganze Reihe von Gedichten an die Nacht (1913 – 1914) folgen.  Vgl. hierzu Barthes 2010, 29. Die Porträtfotografie im Stile Nadars, die den vierjährigen Barthes im Jahr 1919 zeigt, als Proust für Im Schatten junger Mädchenblüte den renommierten Prix Goncourt erhält, wird von folgender Überschrift begleitet: „Zeitgenossen? Ich begann zu laufen, Proust lebte noch und beendete die Recherche.“  Vgl. etwa Benjamin 2006, 310 – 324, und die pointierte Formulierung bei Naumann 2019, 71, von einem Erzählen, „das kein Ende kennen kann und es doch beständig will“. https://doi.org/10.1515/9783110773750-005

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wechsels“ (Honold 2021, 108) entspringende kalendarische Opposition von Tag und Nacht. Wobei eine ausgeglichene Gegensätzlichkeit der beiden Begriffe – der Narratologe Gérard Genette (1968, 28 – 42) ist dieser Problematik in einem literatursemiotischen Aufsatz nachgegangen – weitaus weniger offenkundig ist, als man gemeinhin vermuten mag. So lassen sich Tag und Nacht zwar in eine helle beziehungsweise dunkle Zeitspanne zwischen Morgenröte und Dämmerung im einen, zwischen abendlichem Nieder- und morgendlichem Wiederaufgang der Sonne im anderen Fall gliedern und voneinander unterscheiden, dies jedoch innerhalb einer vierundzwanzigstündigen Rotation der Erde um ihre eigene Achse. Sprachlich betrachtet sind Tag (jour) und Nacht (nuit) folglich Teil des Hyperonyms ‚Tag‘ (jour), eines begrifflichen „archi-jour“ (Genette 1968, 30), der Tag und Nacht unter sich subsumieren kann. Der Tag schließt die Nacht gleichermaßen in sich ein wie von sich aus: […] la relation entre jour et nuit n’est pas seulement d’opposition, donc d’exclusion réciproque, mais aussi d’inclusion: en un de ses sens, le jour exclut la nuit, en l’autre il la comprend […] Nous avons donc un paradigme à deux termes, dont l’un sert aussi à désigner l’ensemble du paradigme. (Genette 1968, 30)⁴

Gerade dieser Umstand sprachlicher Asymmetrie wertet die Nacht wider Erwarten nicht zugunsten des Tages ab, sondern zulasten des Tages auf. Sie wird im Unterschied zum Tag „[qui] va de soi“ – so Genette (1968, 30) im Rückgriff auf die strukturale Linguistik und literarische Beispiele von Baudelaire bis Blanchot – zu einem „terme significatif par son écart“ (Genette 1968, 31), zum buchstäblich singulären Anderen (nuit vs. nuits), zu einer in der poetischen Imagination und literarischen Sprachverwendung ebenso bevorzugten wie bedeutungsvollen Abweichung, wobei die Rede der Nacht – im Unterschied zum Sprechen über den Tag – stets auf ihr lichtvolles Gegenstück bezogen bleibt: „Aimée, ou redoutée, exaltée ou exorcisée, la nuit est ce dont on parle: mais on dirait que cette parole ne peut se passer du jour. On pourrait parler du jour sans penser à la nuit, on ne peut parler de la nuit sans penser au jour: ‚La nuit, dit Blanchot, ne parle que du jour.‘“ (Genette 1968, 31– 32) Von der Antike bis zur Gegenwart haben sich die Literatur – und mit ihr Malerei und Musik – durch alle Gattungen und Formsprachen hindurch als bevorzugte Reflexionsmedien der hier nur ansatzweise in ihrer Komplexität umrissenen semantischen Konstellation von Tag und Nacht, Sonne und Mond, Licht

 Vgl. dazu auch Bronfen 2008, 167– 176, die sich für ihr Kapitel „Ein anderer Zeitraum“ ebenfalls auf Genettes’ Überlegungen beruft.

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und Schatten angenommen⁵ – und damit ihren Produzenten wie Rezipienten selbst manch schlaflose Nacht beschert. Als besonders produktiv hat sich in diesem Zusammenhang eine ursprünglich auf die italienische Renaissancemalerei zurückgehende Bilddarstellung mit ausgeprägtem „Hell-Dunkel-Kontrast“ (Steinecke in Hoffmann 1985, 953) erwiesen, die die europäische Romantik in ihrer programmatischen Verschmelzung der Künste ins musikalische Nocturne zum einen (so bei John Field, Robert Schumann oder Frédéric Chopin),⁶ ins literarische Nachtstück zum anderen übersetzt und damit den Siegeszug der Nacht als Raum ebenso schöpferischer wie destruktiver Fantasien eingeläutet hat. Hierbei darf die gleichnamige Erzählsammlung des Dichters, Musikers und Zeichners E.T.A. Hoffmann (1776 – 1822) zweifellos als Höhepunkt der Gattung gelten. Exemplarisch sei daraus an die Geschichte des Malers Berthold in Die Jesuiterkirche in G. (1816) erinnert, die am Scheitern ihres nachtaktiven, zwischen Licht und Schattenwelt stehenden Protagonisten zugleich eine kunsttheoretische Reflexion über Architektur-, Historien- und Landschaftsmalerei sowie das prekäre Verhältnis von Original und Kopie ausagiert. Berthold, der sich zwar von Fackellicht begleitet jeweils „die ganze Nacht hindurch“ (Hoffmann 1985, 121) zeichnerisch verausgabt, muss dennoch fortwährend in der „Zeit des Durchbruchs zur Erleuchtung“ (Hoffmann 1985, 133) verharren und kann die in der Fantasie erträumten Landschaften und himmlischen Frauengestalten nicht auf die Leinwand bannen: „Ei, lieber Bruder Berthold!“, sprach Florentin: […] ich stelle die wahre Landschaft den tief bedeutsamen heiligen Historien, wie sie die alten Maler darstellen, völlig gleich. Ja, ich halte sogar dafür, daß man erst durch das Darstellen der uns näher liegenden organischen Natur sich stärken müsse, um Licht zu finden in ihrem nächtlichen Reich. Ich rate dir Berthold, daß du dich gewöhnst Figuren zu zeichnen, und in ihnen deine Gedanken zu ordnen; vielleicht wird es dann heller um dich werden.“ Berthold tat so wie ihm der Freund geboten, und es war ihm, als zögen die finstern Wolkenschatten, die sich über sein Leben gelegt, vorüber. „Ich mühte mich, das, was nur wie dunkle Ahnung tief in meinem Innern lag, wie in jenem Traum hieroglyphisch darzustellen, aber die Züge dieser Hieroglyphen-Schrift waren menschliche Figuren, die sich in wunderlicher Verschlingung um einen Lichtpunkt bewegten. – Dieser Lichtpunkt sollte die herrlichste Gestalt sein, die je eines Bildners Fantasie aufgegangen; aber vergebens strebte ich, wenn sie im Traume von Himmelsstrahlen umflossen mir erschien, ihre Züge zu erfassen. Jeder Versuch, sie darzustellen, mißlang auf

 Vgl. Bronfen 2008 als einschlägige, intermedial ausgerichtete Motivgeschichte der Nacht, die interphilologische Anthologie von Koch und Overath 2002 sowie den transdisziplinären Sammelband von Bergengruen et al. 2006. Der fundamentalen Rolle von Astronomie und Gestirnen etwa bei Hölderlin, Goethe oder Mann sind die wegweisenden Studien zum Kalendarischen von Alexander Honold gewidmet, vgl. Honold 2005; 2013; 2021.  Zur wechselseitigen Literarisierung von Musik und Musikalisierung von Literatur in der europäischen Romantik vgl. jüngst Görner 2021, 247– 274.

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schmähliche Weise, und ich verging in heißer Sehnsucht.“ – Florentin bemerkte den bis zur Krankheit aufgeregten Zustand des Freundes, er tröstete ihn, so gut er es vermochte. (Hoffmann 1985, 132– 133)

Das Verhältnis von Tag und Nacht erweist sich in den romantischen Nachtstücken insofern kaum als reiner Ausschluss, sondern steht im Zeichen von Ambivalenz und Übertragung, des Begehrens der einen zum anderen, des Aufgehens des einen in der anderen, der Verkehrung der einen in den anderen. So etwa auch dann, wenn die erste von Novalis’ Hymnen an die Nacht (1800) entgegen allen Erwartungen mit einem Loblied auf den Tag und seine sonnenbestrahlte Farbenpracht einsetzt: „Welcher Lebendige, Sinnbegabte, liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreiteten Raums um ihn, das allerfreuliche Licht – mit seinen Farben, seinen Stralen und Wogen; seiner milden Allgegenwart, als weckender Tag.“ (Novalis 1977, 131; vgl. auch Görner 2021, 237) In der literarischen Moderne wiederum lässt sich der romantische Nachtraum mit seinen wechselseitigen Beziehungen zum Tag nicht zuletzt in den Texten wie im Leben von Marcel Proust wiederfinden. Freilich ist eine umfassende Analyse des Nachtmotivs in Prousts Leben und seinem noch umfangreicheren Œuvre im Rahmen dieses Beitrags nicht zu leisten. Vielmehr soll vor dem kontrastiven Hintergrund eines seiner profiliertesten Leser und dessen Überlegungen zum Kalendarischen der Versuch unternommen werden, ein paar ausgewählte Schlaglichter auf die Nacht bei Proust zu werfen. Eine besondere Aufmerksamkeit wird daher im Folgenden – mit vereinzelten Rückgriffen auf die Recherche – Barthes’ Vorbereitung des Romans (La Préparation du Roman, 1978 – 1980) und Prousts kalendarischem, dezidiert intermedial angelegtem Erstlingswerk Freuden und Tage (Les Plaisirs et les jours, 1896) zukommen.

2 Strukturierte Tage und durchwachte Nächte Wenn in der Vorrede zu Roland Barthes’ bekanntestem Buch zu lesen ist, die Sprache der Liebe, ihr „dis-cursus“ sei so endlos „wie ein immerwährender Kalender“ (Barthes 1988, 20), dann ist dies in Anbetracht des umfangreichen Gesamtwerks des Autors eine von überraschend wenigen Stellen, an denen der Begriff Kalender explizit in Erscheinung tritt. Und taucht er andernorts auf, etwa in einem Essay zur Texttheorie aus der Schaffensperiode der Lust am Text ⁷ oder

 Vgl. Barthes 2002a, 911. Im Rahmen der Entwicklung einer Schreibpraxis der Lust ist hier die Rede von der möglichen Erzeugung eines „signifiant perpétuel (à la façon d’un calendrier du même nom) dans le champ du Texte (ou plutôt dont le Texte est le champ)“.

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anlässlich von Interviews,⁸ dann just in dieser Wort- und Sinnkonstellation des calendrier perpétuel – und gerät damit selbst unter den Verdacht des ewig Gleichen. Doch wäre es verfehlt zu glauben, das Kalendarische bei Barthes ließe sich auf diese eine Bedeutungsschicht der unablässigen und mitunter lustvollen Wiederholung reduzieren. Das Gegenteil beweist etwa die um das Gravitationszentrum Proust kreisende Vorlesung (vgl. Barthes 2008, 29 – 41, 46 und 256), die der Literaturwissenschaftler auf dem Sprung zum Roman in den letzten Lebensjahren am Collège de France gehalten hat. Ist die universitäre Lehrveranstaltungsform mit ihren regelmäßigen, zumeist wöchentlichen Sitzungen selbst einer kalendarischen Makrostruktur unterworfen, geht Die Vorbereitung des Romans aber auch auf inhaltlicher Ebene unterschiedlichen Ausprägungen von Kalendarik nach. Dabei liegt der Schwerpunkt des ersten Teils auf dem japanischen Haiku als ebenbürtigem Pendant zur großangelegten Recherche, und dies gerade in seiner ihr diametral entgegengesetzten Kürze und Reduktion, zumal es „in 17 Silben bereits etwa dasselbe [sagt] wie Proust auf ein oder zwei engbedruckten Seiten über den Sommer in Balbec“ (Barthes 2008, 66). Mit dem Haiku und seiner saisonalen „Tonika“ (Barthes 2008, 78), die Frühling, Sommer, Herbst oder Winter nicht beschreibt, sondern – wie die in Lindenblütentee getauchte Madeleine die Erinnerungen des Erzählers an „ganz Combray“ (Proust 1994, 71) – unmittelbar präsent werden lässt, halten folglich Überlegungen zu Tages- und Jahreszeiten sowie zum Wetter Einzug in die Vorlesung: „Im Haiku gibt es immer etwas, das Ihnen sagt, wo Sie sich im Jahreslauf befinden, unter welchem Himmel, in welcher Kälte, und in welchem Licht“ (Barthes 2008, 78). Das zweite Vorlesungsjahr widmet sich in der Folge den möglichen Übergängen von der fragmentarischen Notiz der Gegenwart zu einem erzählerischen Kontinuum, und Barthes postuliert darin drei zu bestehende Prüfungen für das schreibende Subjekt: die Wahl der Form, die geduldige, praktische Organisation des eigenen Schreibverhaltens und schließlich das Aushalten des Rückzugs aus der Gesellschaft, der Einsamkeit (vgl. Barthes 2008, 272). Mit den genannten Schreibprüfungen zeichnet sich eine Verlagerung des makrokosmischen Interesses am literarischen Sprechen über die Jahreszeiten oder das Wetter (vgl. dazu Barthes 2008, 82– 92) auf die mikrokosmische Ebene des einzelnen Kalender- bzw. Schreibtages und dessen individueller Ausgestaltung ab. Zahlreich sind hier die Überlegungen zur Zeitlichkeit als integralem Bestandteil sowohl der Schreib- wie der Lebensfantasie des Subjekts, dem uto-

 Vgl. das Interview über S/Z für Les Lettres françaises vom 20. Mai 1970 in Barthes 2002b, 79: „Schon lange wollte ich […] mich einer Mikroanalyse widmen […] einer immerwährenden Analyse, so wie man von einem immerwährenden Kalender spricht.“

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pischen Wunsch nach einer fließenden, „glatte[n] Zeit: ohne Reibung, ohne Termine“, einer Zeit des Schreibens, die nicht beständig durch die „Verwaltung des Lebens“ (Barthes 2008, 333) unterbrochen wird. Neben der „methodischen Organisation des Lebens als Schreibender“ (Barthes 2008, 379) und der Frage, welche Vorsichtsmaßnahmen der Schriftsteller gegen „die Erledigung der täglichen Geschäfte“ (Barthes 2008, 341) treffen kann, um das fantasierte Werk zu Papier zu bringen, rückt dann die tägliche Schreibpraxis ins Zentrum des Interesses und mit ihr der langersehnte Moment, in dem das Schreiben „in Gang kommt“ (vgl. Barthes 2008, 385 – 388) – doch dazu soll es für Barthes bekanntlich nicht mehr kommen. Der Grund dafür liegt gerade auch in der gewissenhaften Vorbereitung selbst, die die produktionsästhetische Schreibszene mit ihren Voraussetzungen, Möglichkeiten und drohenden Hindernissen reflektiert, dadurch aber den Einstieg in das eigene Schreiben immerzu dem Aufschub preisgibt. Die Wahl des richtigen Schreibortes, die proxemische Einrichtung von Wohnung und Schreibzimmer, die Bedeutung verschiedener Lichtquellen, die Wahl geeigneter Schreibmöbel (Schreibtisch versus Bett) und ihre nötige (Un‐)Ordnung, Gründe und Lösungsansätze für Phasen der Schreibhemmung und nicht zuletzt die optimalen Tagesstrukturen und Schreibzeiten – all dies verfolgt Barthes an Proust und anderen bevorzugten Gattungsvertretern wie Flaubert oder Kafka, immer kurz vor dem Erzählenden, ohne jedoch am Ende der Vorlesung tatsächlich im Roman angekommen zu sein (vgl. Barthes 2008, 446). Eine Pointe liegt hier darin, dass der Wissenschaftler Barthes offenkundig einer gänzlich anderen Kalendarik des Schreibens folgt als seine hauptsächlichen literarischen Identifikationsfiguren. Gibt bereits eine unscheinbare Klammerbemerkung in der Vorlesung selbst einen Hinweis darauf,⁹ so stellt ein am 27. September 1973 in Le Monde erschienenes Interview unter dem Titel Ein fast manisches Verhältnis zu Schreibwerkzeugen (Barthes 2002b, 197– 202) das wohl ausführlichste Selbstzeugnis zur disziplinierten Arbeitsweise, dem mehrstufigen Schreibprozess zwischen musikalischen und malerischen Aktivitäten und den stets gleich getakteten Arbeitstagen eines auch in diesen Belangen durch und durch strukturalistischen Denkers dar: In Paris befindet sich der Ort, an dem ich arbeite (jeden Tag von 9 Uhr 30 bis 13 Uhr; dieses regelmäßige timing eines Beamten der Schrift liegt mir mehr als das zufallsbestimmte timing, das einen fortgesetzten Erregungszustand voraussetzt), in meinem Schlafzimmer (welches nicht dasjenige ist, in dem ich mich wasche und meine Mahlzeiten einnehme). Er wird vervollständigt durch einen Platz für Musik (ich spiele jeden Tag ungefähr um die gleiche Zeit Klavier: um 14 Uhr 30) und durch einen Platz für ‚Malerei‘ mit vielen Anführungszeichen

 Vgl. Barthes 2008, 362: „([D]enn ich selbst habe, wie gesagt, nie nachts arbeiten können, nicht einmal abends)“.

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(ungefähr einmal in der Woche übe ich die Tätigkeit eines Sonntagsmalers aus; ich brauche also einen Platz, um zu klecksen). In meinem Landhaus habe ich diese drei Orte genau nachgebildet. Es macht nichts, daß sie nicht im gleichen Zimmer liegen. Nicht die Zwischenwände, sondern die Strukturen zählen. (Barthes 2002b, 200)

Doch nicht nur die Zimmer von Paris und Urt sind in raumzeitliche wie funktionale Abschnitte eines Tagarbeiters gegliedert. Auch der Arbeitsplatz selbst und der um weitere Ablageflächen ergänzte Schreibtisch, etwa für die maschinenschriftliche Zweitredaktion der zuerst mit Tinte niedergeschriebenen Texte, folgen einem präzisen Ordnungsmuster (vgl. Barthes 2002b, 199 – 200). Und schließlich unterliegt sogar die Verwendung des Schreibpapiers strengen Regeln, wobei die Notizen für Barthes’ zeitlebens befüllte Zettelkästen, etwa den noch unedierten Grand Fichier aus dem Umkreis der Vorbereitung des Romans,¹⁰ rund „ein Viertel des Formats“ (Barthes 2002b, 200) einer handelsüblichen Papierseite einnehmen durften. Dem entgegengesetzt geben sich nun die schriftstellerischen Arbeitsgewohnheiten derjenigen zu erkennen, die sich Barthes zum Romanvorbild genommen hat. Nicht die strukturierten Tage, sondern die durchwachten Nächte, die sich zum Tag verkehren, sind ihr kalendarisches Erkennungszeichen. Tritt dabei der Versicherungsbeamte mit pathologischer Schlaflosigkeit Franz Kafka (vgl. Kilcher 2009, 223 – 226) für die deutsche, so der abendliche Salonbesucher Marcel Proust für die französische Literaturgeschichte als paradigmatischer Schriftsteller der Nacht an. „Es ist ja Mitternacht, aber das ist […] nur insoferne Entschuldigung als ich bei Tag überhaupt nichts geschrieben hätte“, lässt Kafka sein Tagebuch im Blick auf den ungeordneten Schreibtisch wissen und macht „die angezündete Glühlampe, die stille Wohnung, das Dunkel draußen“ zu seinen einzigen Rechtsbeiständen im Kampf des Schreibens „und sei es auch das Elendste“ (Kafka 1990, 139).¹¹ Werden bei Kafka die Tagebücher und Briefe an Max Brod, Felice Bauer oder Milena Jesenská zu Kronzeugen seines nächtlichen Wachens und Schreibens, geben sich im Falle Prousts die Memoiren seiner Haus-

 Vgl. dazu Barthes 2020, 239 – 384. Die Anthologie versammelt nicht nur Barthes’ wichtigste Proust-Publikationen, sondern macht erstmals eine Auswahl von zweihundert der insgesamt dreitausend Karteikarten zu Proust mit Zitaten, Beobachtungen und Stichwörtern aus dem sog. Grand Fichier (Paris, BnF) zugänglich. Sie greifen die großen Themen aus der Vorbereitung auf (u. a. Schreibbegehren, Trauer, Übergang vom Essay zum Roman, Fotografie). Warum man sich allerdings innerhalb der getroffenen Auswahl nicht für eine durchgängig einheitliche Edition (Faksimile und diplomatische Transkription) entschieden hat, bleibt ungeklärt.  Vgl. auch Barthes (2008, 361), der die berühmte Tagebuchstelle zu Das Urteil (1912) zitiert, wonach Kafka (1990, 460) die Erzählung „von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben“ habe. Kilcher (2009, 227) weist zudem darauf hin, dass auch Das Urteil selbst mit einer poetologischen Schreibtischszene einsetzt.

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hälterin Céleste Albaret als eindrucksvolle Quelle einer umfassenden Inversion von Tag und Nacht – derjenigen Prousts wie ihrer eigenen – zu lesen. Albaret kommt kurz nach Erscheinen von Du côté de chez Swann (1913) zu Proust und wird bis zu seinem Tode zur wohl engsten Vertrauten des Autors, zuletzt gar mit der Ordnung der vielen Manuskripthefte, Druckfahnen und stetig wuchernden Korrekturen und Hinzufügungen betraut, wobei sie ihm anbietet, die vielen losen Notizblätter „an der richtigen Stelle“ zusammenzukleben: „,Auf diese Weise können Sie es so lang machen, wie Sie wollen; man muss es dann bloß kniffen. Der Setzer wird die lange Fahne dann auseinanderfalten und einen Satz nach dem anderen drannehmen.‘ Sein Gesicht strahlte; er wusste sich vor Freude nicht zu lassen.“ (Albaret 2021, 389 – 390) Dass die verantwortlichen Setzer bei Gallimard von diesem Vorschlag genauso begeistert waren wie Proust, darf an dieser Stelle zumindest bezweifelt werden. Mit aufrichtigem Interesse und uneingeschränkter Hingabe, „weil ich alles, was er war, liebte und bewunderte“ (Albaret 2021, 384), stellt sich Céleste in den Dienst des schweren Asthmatikers und lässt den gewöhnungsbedürftigen Lebensrhythmus und die Schlaflosigkeit schließlich zu ihren eigenen werden. „Acht Jahre, Tag für Tag, ohne einen einzigen zu versäumen, das ergibt eine sehr viel längere Zeit als Tausendundeine Nacht“ (Albaret 2021, 197), addiert sie rückblickend mit Verweis auf die Lieblingslektüre des Erzählers in der Recherche. ¹² Gerade in diesem Zusammenhang kommt Céleste eine Schlüsselrolle in der Werkgenese der Recherche zu, nicht nur als Bedienstete (die in der Figur der Françoise ihr literarisches Ebenbild erhalten sollte), sondern vielmehr als geduldige Zuhörerin, wenn Proust sich als Scheherazade im aufschiebenden nächtlichen Erzählen am Leben erhält und den künftigen Roman im gemeinsamen Gespräch über das Gesehene und Gehörte entwickelt: Wir hatten sozusagen unseren Feierabend, der allerdings, da die Nacht zum Tag geworden war, im Allgemeinen zwischen zwei und drei Uhr morgens, kaum früher, begann, nachdem Monsieur Proust nach Hause gekommen war oder mit seiner Arbeit aufgehört hatte, ohne sich aus dem Zimmer zu rühren. Im Laufe der Zeit dehnte sich der Feierabend immer länger aus. Zuerst ließ er mich gegen fünf oder sechs Uhr morgens gehen, manchmal auch erst um sieben; dann hat er es sich angewöhnt, mich noch einmal zu rufen; es wurde acht Uhr, neun Uhr, manchmal halb zehn. Mir war das gleichgültig: Sobald er läutete, kam ich sofort, die Haare auf dem Rücken hängend, wie ich schon erwähnt habe, immer lächelnd und bereit, ihm zuzuhören, selbst wenn mich sein Läuten aus dem ersten Schlaf gerissen hatte. (Albaret 2021, 179)

 Vgl. dazu Rousset (1962, 158 – 163), der sich früh der Bedeutung der Erzählerlektüren in der Recherche widmete und diese mit einem wiederkehrenden „leit-motiv wagnérien“ (163) assoziierte, sowie die umfassende intertextuelle Studie von Roloff 2009.

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3 Ein literarisches Nocturne in „zeitfarbener Tönung“ Die soeben in Prousts lebensweltlichem Kontext betrachtete Verkehrung von Tag und Nacht durchdringt auch seine literarischen Texte, die von den ersten Versuchen bis in die letzten Bände der Recherche nicht müde werden, gerade den vieldeutigen ‚hellen‘ Nächten ihrer Figuren besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Die Nacht erweist sich dabei als Zeitraum von Traum und Erinnerung, von Eifersucht und Leidenschaft, Sehnsucht und Melancholie, von überwältigenden Naturerfahrungen wie von künstlerischer Produktion und Rezeption. Im zweiten Teil des ersten Bandes (Un amour de Swann) ist es der Verursacher des einstigen drame du coucher in Combray, Charles Swann, „diese dunkle undeutliche Gestalt“ (Proust 1994, 29), dem der Roman im Roman mit der Sonate des Komponisten Vinteuil ein abendliches musikalisches Erweckungserlebnis beschert und den er zugleich als nächtlichen Antihelden von Paris in missglückten Eifersuchtsfahrten zu seiner Geliebten Odette de Crécy der beißenden Ironie preisgibt (vgl. Proust 1994, 303 – 309 und 395 – 399). All dies ist nun bereits in Prousts Erstlingswerk angelegt, dem Anatole France in einer Vorrede für die zeitgenössische Leserschaft folgende Worte mit auf den Weg gab: „Dieser Kalender der Freuden und Tage zeigt mit harmonischen Himmels-, Meeres- und Waldgemälden die Stunden der Natur an und gleichzeitig, mit wirklichkeitsgetreuen Porträts und Genrebildern von bewunderungswürdiger Perfektion, die menschlichen Stunden“ (France in Proust 1988, 7– 8). Der Text, erstmals 1896 als aufwendiges Gesamtkunstwerk mit Zeichnungen von Madeleine Lemaire und vier Klavierstücken von Reynaldo Hahn erschienen (vgl. Keller 2009a, 297), wird insofern als produktive Fortschreibung der Romantik lesbar. Den frühromantischen Manifesten von Tieck und Wackenroder nahe, vereint Prousts Debüt mit seinen Novellen, Pastiches, Fragmenten und Prosagedichten zum einen gänzlich verschiedene Gattungen. Zum anderen macht der Text mit den „Porträts von Malern und Komponisten“ (Proust 1988, 111– 116), von Watteau, Chopin oder Schumann, in einem zweiten romantischen Gestus das Verhältnis der Künste zu seinem Mittelpunkt und suggeriert von Anfang an eine gegenseitige mediale Reflexion von Text, Bild und Musik, die er in der Folge selbst erprobt.Was nun das Verhältnis von Tag und Nacht betrifft, erweisen sich die Miniaturen der „Träumereien in zeitfarbener Tönung“ (Proust 1988, 143) als besonders aufschlussreich, wobei das französische „rêveries couleurs du temps“ (Proust 1971, 104) in seiner doppelten Lesart von temps als Zeit und Witterung noch stärker die wechselseitige Bewegung von kalendarischem Umschlag und der Gemütsverfassung des Subjekts, die „wechselnde[n] Stimmungen und Tönungen der Atmo-

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sphäre und der Seele“ (Keller 2009c, 969) betont. Der Traum, die Erinnerung, die Verstrickungen des Liebesbegehrens, die synästhetische Verschränkung von Düften, Farben und Klängen – alle diese Grundmotive des späteren Proust schlägt ein mit „Mondscheinsonate“ betiteltes und an die gleichnamige Klaviersonate Beethovens (op. 27,2) erinnerndes Nachtstück an und imaginiert die Nacht, mit „ihren ergreifenden und sanften Tönen des Lichts“ (Proust 1988, 163) zugleich als einen helleren Tag.Vordergründig spricht der Text weder von Beethoven noch von Musik, doch scheint der Titel zu suggerieren, dass sich der Text selbst als klangsprachliche Mondscheinsonate, als literarisches Nocturne verstanden wissen will (vgl. Corbineau-Hoffmann 2008, 169). Und tatsächlich: Der Bewegung in Beethovens Komposition vergleichbar, vom ersten zum zweiten Satz, vom adagio zum allegretto, vom leisen und schwermütigen Einstieg in Moll zu einer lebhafteren Fortsetzung in Dur, gestaltet Proust den Aufbau seines Textes als fortschreitenden Übergang von einer anfänglichen Bedrücktheit im Zeichen des Tages und des Verstandes, eines physisch („Anstrengungen des Weges“) wie psychisch („die ängstlichen Gedanken“, „die Ansprüche des Vaters“, „die Gleichgültigkeit Pias“, „die Hartnäckigkeit der Feinde“, Proust 1988, 159) erschöpften, zerstreuten Subjekts hin zu einer Zuversicht am Textausgang, einer gelösten Geborgenheit in der mondhellen Nacht, im Gefühl einer sinnlichen und allumfassenden Vereinigung mit der Natur: „die Bäume, die Felder, de[r] Himmel, der sich von neuem im Meer spiegelte, und mein Herz, das endlich klar sah in seinem Herzen“ (Proust 1988, 163). In augenfälliger Überblendung der beiden metaphorischen Wortfelder von Helle und Dunkelheit (z. B. „in diesem dunklen Strahlen“, „erleuchtete es nur den vagen Schatten“, Proust 1988, 160 – 161) gelingt der Literatur in diesem unscheinbaren Text, was dem Leben wie der Natur letztlich versagt bleiben muss: die unmittelbare Verwandlung des Traumes in Realität und die gelungene kalendarische Verkehrung: „Die einzige Wirklichkeit lag in diesem unwirklichen Licht, und lächelnd wandte ich mich ihm zu“ (Proust 1988, 162).

Literatur Albaret, Céleste. Monsieur Proust. Die Erinnerungen seiner Haushälterin. Aufgezeichnet von Georges Belmont. Aus dem Französischen von Margret Carroux. Zürich: Kampa, 2021. Barthes, Roland. Fragmente einer Sprache der Liebe. Übersetzt von Hans-Horst Henschen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988. Barthes, Roland. „De l’œuvre au texte“. Œuvres complètes. Bd. III: 1968 – 1971. Hg. Éric Marty. Paris: Éditions du Seuil, 2002a. 908 – 916.

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Barthes, Roland. Die Körnung der Stimme. Interviews 1962 – 1980. Aus dem Französischen von Agnès Bucaille-Euler, Birgit Spielmann u. Gerhard Mahlberg. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002b. Barthes, Roland. Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978 – 1979 und 1979 – 1980. Texterstellung, Anmerkungen und Vorwort von Nathalie Léger. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008. Barthes, Roland. Über mich selbst. Aus dem Französischen von Jürgen Hoch. Berlin: Matthes & Seitz, 2010. Barthes, Roland. Marcel Proust. Mélanges. Hg. Bernard Comment. Paris: Éditions du Seuil, 2020. Benjamin, Walter. „Zum Bilde Prousts“. Gesammelte Schriften. Bd. II.1: Aufsätze, Essays, Vorträge. Hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006. 310 – 324. Bergengruen, Maximilian, Davide Giuriato und Sandro Zanetti (Hg.). Gestirn und Literatur im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Fischer, 2006. Bronfen, Elisabeth. Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. München: Hanser, 2008. Corbineau-Hoffmann, Angelika. „Totalitätstendenzen und Hybridität: Zur Medialisierung der Musikwahrnehmung bei Marcel Proust“. Die Korrespondenz der Sinne. Wahrnehmungsästhetische und intermediale Aspekte im Werk von Proust. Hg. Uta Felten und Volker Roloff. München: Fink, 2008. 163 – 182. Genette, Gérard. „Le jour, la nuit“. Langages 12 (1968): 28 – 42. Görner, Rüdiger. Romantik. Ein europäisches Ereignis. Ditzingen: Reclam, 2021. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus. „Die Jesuiterkirche in G.“. Sämtliche Werke. Bd. 3: Nachtstücke, Klein Zaches, Prinzessin Brambilla. Hg. Hartmut Steinecke. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1985. 110 – 140. Honold, Alexander. Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800. Berlin: Vorwerk 8, 2005. Honold, Alexander. Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur. Basel: Schwabe, 2013. Honold, Alexander. „Das Gegebene. Goethes Werther und seine Kalender-Poetik.“ Goethe medial. Aspekte einer vieldeutigen Beziehung. Hg. Margrit Wyder, Barbara Naumann und Georges Felten. Berlin/Boston: De Gruyter, 2021. 103 – 123. Kafka, Franz. Tagebücher. Kritische Ausgabe. Hg. Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt am Main: Fischer, 1990. Keller, Luzius. [Art.] „Freuden und Tage“. Marcel Proust Enzyklopädie. Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung. Hg. Luzius Keller. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2009a. 297 – 300. Keller, Luzius. [Art.] „Tageszeiten“. Marcel Proust Enzyklopädie. Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung. Hg. Luzius Keller. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2009b. 844 – 846. Keller, Luzius. [Art.] „Witterung“. Marcel Proust Enzyklopädie. Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung. Hg. Luzius Keller. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2009c. 969 – 970. Kilcher, Andreas B. „Literatur und Gesetz. Kafkas Schreibtisch“. Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis

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zur Gegenwart. Hg. Mark H. Gelber, Jakob Hessing und Robert Jütte. Tübingen: Niemeyer, 2009. 221 – 230. Koch, Manfred und Angelika Overath (Hg.). Schlaflos: Das Buch der hellen Nächte. Ein literarisches Notturno für Schlafsuchende und Wache. Lengwil: Libelle, 2002. Naumann, Barbara. „Das unvollständige Ganze. Die unendliche Rede in Marcel Prousts ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘“. Non-Finito. Un-Fertig. Fluchtlinien des Kreativen in Kunst und Literatur. Hg. Klaus Scherpe und Elisabeth Wagner. Berlin: Vorwerk 8, 2019. 64 – 92. Novalis. „Hymnen an die Nacht“. Schriften. Bd. 1: Das dichterische Werk. Hg. Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1977. 130 – 158. Proust, Marcel. Jean Santeuil, précédé de Les Plaisirs et les jours. Hg. Pierre Clarac und Yves Sandre. Paris: Gallimard, 1971 [Bibliothèque de la Pléiade]. Proust, Marcel. Freuden und Tage und andere Erzählungen und Skizzen aus den Jahren 1892 – 1896. Frankfurter Ausgabe. Bd. I.1. Hg. Luzius Keller. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988. Proust, Marcel. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit I: Unterwegs zu Swann. Frankfurter Ausgabe. Bd. II.1. Hg. Luzius Keller. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994. Rilke, Rainer Maria. Gedichte an die Nacht. Auswahl und Nachwort von Anthony Stephens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976. Roloff, Volker. Proust und Tausendundeine Nacht. Sur la lecture. Bd. IX. Köln: Marcel Proust Gesellschaft, 2009. Rousset, Jean. Forme et signification. Paris: Corti, 1962.

Lucas Marco Gisi

Robert Walsers Kalendergeschichten: Zeitbezüge in Das „Tagebuch“-Fragment von 1926 und Radio 1 Geschichten auf Kalendern Es gibt Kalendergeschichten und Kalendergeschichten. Historisch betrachtet, handelt es sich dabei zunächst um in Kalendern veröffentlichte und mit diesen in Umlauf gebrachte Texte, die in Bezug auf Inhalt, Form und Umfang sehr unterschiedlich sein können. Auf diesen Traditionen aufbauend, bildet sich mit Johann Peter Hebels Kalendergeschichten eine eigene literarische Gattung aus, die sich vom Medium des Kalenders löst (vgl. Knopf 1983, 25). Damit wird die Frage danach, ob eine Geschichte für einen Kalender geschrieben wurde, gemäß Jan Knopf umgekehrt in die „Frage, ob der Kalender sich in der Geschichte spiegelt“ (1983, 22). Vor dem Hintergrund dieser gattungsgeschichtlichen Entwicklung kann man sich darüber hinaus fragen, ob Texte, die nicht für Kalender, sondern auf Kalendern geschrieben wurden, auch als Kalendergeschichten bezeichnet werden können. Indem Kalenderblätter als Manuskripte in ihrer Materialität in den Blick genommen werden, lassen sich Zeitbezüge und Koinzidenzen zutage fördern, die zufällig entstanden oder bewusst gesetzt worden sind und somit ebenso künstlich wie natürlich erscheinen mögen und gerade darin selbst kalendarischen Ordnungsprinzipien entsprechen. Solche Korrelationen möchte ich in diesem Beitrag am Beispiel von Abreißkalenderblättern untersuchen, auf denen literarische Texte notiert wurden. Auf Abreißkalendern findet sich nebst den Angaben zur astronomischen und kulturellen Zeitmessung oftmals Wissenswertes oder Vergnügliches in Text und Bild von Zitaten über Jubiläen bis zu eigentlichen Kalendergeschichten. Die Blätter sind nicht selten nur einseitig bedruckt und auf der Rückseite ‚leer‘. Im Gegensatz zu lange oder ewig währenden Kalendern, in denen man sich mit der Zeit bewegt, etwa indem man mitliest oder umblättert, bei denen die Gegenwart also grundsätzlich nicht nur auf die Zukunft hin, sondern auch zurück in die Vergangenheit offen bleibt, wird der Abreißkalender ‚mit der Zeit‘ abgetragen, das Vergangene vom Kalender abgetrennt. Die täglich, wöchentlich oder monatlich abgerissenen Blätter verweisen zwar noch in mehr oder weniger nachvollziehbarer Weise auf ihre ursprüngliche Stellung innerhalb des Kalenders, sind aber Makulatur geworden und können zum Schmierzettel oder Schreibpapier umhttps://doi.org/10.1515/9783110773750-006

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funktioniert und in diesem Sinn zum Medium für neue Kalendergeschichten werden. Zwar werden die leeren Flächen des Blatts beschrieben, aber indem der Text in ein ‚Spatium‘ eingefügt wird, wird damit gewissermaßen die Gattungsgeschichte der Kalendergeschichte rekapituliert. Die Bedeutung des Textträgers für die Entstehung von Texten ist durch die Schreibprozessforschung herausgestellt worden, und eine bei der Materialität der Überlieferung ansetzende Editionsphilologie hat diese textgenetischen Prozesse nachvollziehbar gemacht. Die Verwendung von Kalenderblättern als Textträger liefert erste Orientierungswerte für die Datierung eines Texts, kann aber durchaus auch Verwirrung stiften, wie ich kurz am Beispiel eines Gedichts von Hermann Hesse illustrieren möchte. Das Gedicht Die Morgenlandfahrt ist in mehreren autorisierten Abschriften überliefert, für die in zwei Fällen die leere Rückseite eines Kalenderblatts verwendet wurde. Am Schluss des ersten Typoskripts steht vor Hesses handschriftlicher Signatur: „geschrieben am Ostermontag 1932“, d. h. am 28. März 1932.¹ Das Gedicht findet sich auf der Rückseite des Kalenderblatts für die Woche vom 29. März bis 2. April 1932, was vermuten lässt, dass Hesse den Kalender gar nie als Kalender, sondern gleich als Schreibpapier benutzt hat. Dagegen spricht, dass er das Kalenderblatt für besagte Woche als Agenda benutzt hat und mit Bleistift Verabredungen sowie einen Opernbesuch für den 31. März eingetragen hat. Schließt man ein Versehen aus, so hat Hesse das Blatt in seinen beiden Funktionen gleichzeitig benutzt, als Terminkalender und als Schreibpapier. Allerdings darf auch die Angabe „geschrieben“ – zumal bei einem Autor, der oft mehrere Abschriften seiner Gedichte angefertigt hat – nicht zu übereilten Schlüssen bezüglich der eigentlichen Entstehung des Gedichts führen. Klarheit darüber kann jedenfalls auch das zweite, ohne Datum signierte Typoskript nicht schaffen; hier steht das Gedicht auf dem Blatt des Kunst und Leben-Kalenders für den 6. Dezember 1931.² Darauf ist der heilige Martin abgebildet, dessen soldatische Vergangenheit ein Betrachter der Vorder- und Rückseite des Blattes vielleicht mit dem im Gedicht beschriebenen Kreuzritter in Bezug setzt, während sich der Philologe durch die verwirrenden Zeitbezüge wie letzterer, „in der dürren Wüste / Von Zeit und Zahl, vom Ziele abgedrängt“ (Hesse 2002, 315) herumirrend, wähnen mag.³

 Hermann Hesse. Die Morgenlandfahrt. Schweizerisches Literaturarchiv, Hesse-Archiv. Signatur: SLA-Hesse-Ms-Lq-535-A-1– 2/04– 3.  Hermann Hesse. Die Morgenlandfahrt. Schweizerisches Literaturarchiv, Hesse-Archiv. Signatur: SLA-Hesse-Ms-Lq-535-A-1– 2/04– 4.  In den Sämtlichen Werken ist „Ostern 1932“ als Entstehungsdatum angegeben (Hesse 2002, 650).

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Robert Walser war sich der Zirkulation von Literatur über das Medium des Kalenders durchaus bewusst: Ein Autor begegnet einem „Ausspruch“ aus einem eigenen Buch auf seinem „Abrißkalender“, wie er selbst wiederum in dem durch den Blick auf diesen Abreißkalender angeregten Prosastück Artikel mitteilt.⁴ Da Walser seine Texte verschiedentlich auf Kalenderblättern entworfen hat, schließt sich bei ihm der Kreis auch in einem ganz handfesten Sinn. Zwei dieser Texte möchte ich im Folgenden aus je entgegengesetzten Perspektiven als Kalendergeschichten analysieren, indem ich zunächst eine dem „Tagebuch“-Fragment von 1926 zugrunde liegende Kalenderpoetik herauszuarbeiten und dann das Prosastück Radio über das als Textträger verwendete Kalenderblatt zu erschließen versuche. So gesehen können Walsers Texte in einem doppelten Sinn als Kalendergeschichten gelten: Es sind Texte, die auf Kalenderblättern stehen und die nach kalendarischen Mustern organisiert sind.

2 Kalendarische Erzählmuster in Das „Tagebuch“-Fragment von 1926 Robert Walser hat seine Texte nach eigener Aussage seit 1917 mit Bleistift entworfen und dann mit Tinte ins Reine geschrieben (vgl. Walt 2015). Überliefert sind fünfhundertsechsundzwanzig Blätter mit Entwürfen aus dem Zeitraum von 1924 bis 1933, die wegen der radikal verkleinerten Kurrentschrift als Mikrogramme große Beachtung gefunden haben und in langjähriger Entzifferungsarbeit ediert worden sind (vgl. Kammer 2015). Bei der Mehrzahl der Mikrogrammblätter handelt es sich um Papiere, die umfunktioniert und als Textträger wiederverwendet wurden, wie etwa Honorarquittungen, Streifbandumschläge, Telegramme oder eben auch Kalenderblätter. Eines der größten Teilkonvolute bilden die einhundertsechsundfünfzig halbierten Blätter des Tusculum-Kalenders 1926 für Freunde der Antike. Walser hat mit Ausnahme einer Kalenderblatthälfte den ganzen Kalender als Schreibpapier verwendet und in der Regel die leere Rückseite sowie in zwölf Fällen teilweise auch die bedruckte Seite beschrieben (vgl. Gisi und Maas 2016). Auf den Blättern für je eine Woche finden sich nebst dem Kalendarium Zitate griechischer und römischer Denker zu einem im Titel gesetzten Thema wie „Vom Lesen“ oder „Von sich selbst“, jeweils im Original und in deutscher Übersetzung. Dazwischen sind Blätter mit Abbildungen und Verlagsankündigungen eingefügt. Wie Bernhard Echte nachweisen konnte, hat Walser den Kalender gar  Vgl.Walser 2013, 149 – 153. Im Folgenden wird aus der Kritischen Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte von Robert Walser mit der Sigle KWA und der Nennung der Bandzahl zitiert.

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nie als solchen verwendet und die Blätter bereits ab Frühjahr 1926 in anderer Reihenfolge beschrieben. Dementsprechend gibt es keine Korrelation zwischen Kalenderdatum und Textgenese; gewisse Texte wurden sogar schon vor der entsprechenden Kalenderwoche publiziert (vgl. Walser 1990, 465 – 466). Auf neun halbierten Tusculum-Kalender-Blättern hat Walser 1926 einen seiner letzten längeren Prosatexte entworfen und davon eine dreiundfünfzigseitige Reinschrift angefertigt, die postum unter dem Titel Das „Tagebuch“-Fragment von 1926 publiziert wurde (Abb. 1 und 2).

Abb. 1 und 2: Robert Walser: Mikrogramme 299 und 308, recto und verso. Robert WalserZentrum Bern (Depositum Schweizerisches Literaturarchiv). Signatur: RW MS-MKG-299 und RW MS-MKG-308. © Keystone/Robert Walser-Stiftung Bern.

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Die in der Reinschrift durch Leerzeilen abgesetzten acht Abschnitte des Textes stehen im Bleistiftentwurf je oben auf einem einzelnen Blatt, in einem Fall läuft der Abschnitt über zwei Blätter. Auf drei Blättern finden sich darunter andere Prosastücke und Gedichte. Zwar lassen sich mögliche Bezüge zwischen dem „Tagebuch“-Fragment und den Themen und Zitaten auf dem Kalenderblatt oder den anderen Texten auf dem jeweiligen Mikrogramm herstellen, doch bleiben diese letztlich assoziativ (vgl. Wolfinger 2011, 58 – 83). Aufgrund der Reinschrift und von Aussagen im Text selbst („Dieser erste Abschnitt hier dürfte etwas mit

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einer Art Einleitung verglichen werden dürf können“)⁵ kann man davon ausgehen, dass die Abfolge der Abschnitte feststeht. Dennoch scheint mir eine Lektüre des „Tagebuch“-Fragments als Kalendergeschichte, d. h. Blatt für Blatt – wie es dank der Faksimileausgabe möglich ist – aufschlussreich für das Verständnis dieses „poetologischen Schlüsseltext[s]“ (Sorg 2011, 113), in dem Walser seine Auffassung eines autofiktionalen Erzählens reflektiert und realisiert. Liest man das „Tagebuch“-Fragment ‚am Stück‘, so gewinnt man den Eindruck einer perpetuierten Digression, als würde laufend vom einen zum anderen Thema gesprungen, statt etwas zu Ende zu erzählen. Viel geordneter wirkt der Text, wenn man ihn ‚Stück für Stück‘ liest. Dabei lassen sich Elemente einer Kalenderpoetik im Sinne Alexander Honolds ausmachen, d. h. eine Modellierung der „Mechanik des Erzählens nach kalendarischen Mustern“ (Honold 2013, 109). Eigentlich sind es acht Themen, die in den acht Abschnitten immer wieder behandelt werden: die Begegnung mit einem Intellektuellen, die Beziehungen zu Frauen, das Zeitgeschehen bzw. die Zeitkritik, die Lektüren, die Autobiografie des Schriftstellers, die Poetologie der Autofiktion, die Gattung des Textes und der Schreibprozess. Gruppiert und systematisiert man diese Themen, geht es um die Gegenstände (Begegnungen, Erlebnisse, Lektüren), die Darstellungsverfahren (Autobiografie, Autofiktion) und die Techniken des Schreibens (Gattungen, Schreibprozess). Es sind gewissermaßen acht Geschichten oder drei Themenbereiche, die täglich weitererzählt bzw. aufs Neue erörtert werden. Man kann sie sich als Elemente eines Kalenders denken, die sich auf den einzelnen Kalenderblättern finden können, aber nicht müssen. Mit der Koinzidenz unterschiedlicher Ereignisse ruft Walsers „Tagebuch“-Fragment die Ursprünge des Kalenders auf (vgl. Honold 2013, 72). Tagebuch und Kalender verbindet, dass sie beide nach dem Prinzip eines regelhaft unterbrochenen Zeitflusses organisiert sind. Diese Verwandtschaft zwischen Tagebuch bzw. Journal und Kalender bzw. Agenda manifestiert sich auch in Walsers „Ichbuch“ (Walser 1996, Mkg. 309).⁶ Der Text beginnt mit dem „Heute“ und der Reflexion des Vorhabens einer Niederschrift, die den Schreiber „voraussichtlich etwa zwan[z]ig Tage lang beschäftigen wird“ (Walser 1996, Mkg. 295). Das gesamte Schreibprojekt folgt damit einer „explizite[n] Programmatik der Schreib-Zeit“ (Kammer 2003, 222). Es ist durch das getaktet, was in den vorangehenden Abschnitten bereits steht und den

 Walser 1996, Mikrogramm-Blatt Nr. 295. Da die Faksimileausgabe nicht paginiert ist, wird im Folgenden die Transkription anhand der Blattnummer mit der Abkürzung Mkg. zitiert.  Mit Verweis darauf, dass Carl Seelig den Arbeitstitel „Tagebuch [über Frauen]“ über Walsers Reinschrift gesetzt hat und der Titel Das „Tagebuch“-Fragment von 1926 vom Herausgeber Jochen Greven stammt, ist die Zugehörigkeit zur Gattung des Tagebuchs verschiedentlich diskutiert worden (vgl. Sorg 2011, 111– 123; Wolfinger 2011, 91– 99; Kammer 2003, 224– 226).

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„Wörtchen“ (Walser 1996, Mkg. 296), die noch folgen werden. Die Angaben zur Schreibzeit im Text hat Jochen Greven zu einer „Chronik“ der Textgenese zusammengeführt, um aus den Tagesrationen Walsers Schreibtempo abzuleiten (vgl. Greven 2008, 26 – 31). Tatsächlich ist der Schreiber um eine „möglich[st] angenehme und gefällige Einteilung“ (Walser 1996, Mkg. 308) bemüht, für die offensichtlich die Zeitadverbien ‚gestern‘, ‚heute‘ und ‚morgen‘ die Hauptparameter bilden. Die Jahreszeit bleibt unbestimmt; es ist einzig von „einem fast frühlinghaftwarmen Herbstregelein“ die Rede (Walser 1996, Mkg. 309). In jedem Abschnitt finden sich Verweise auf den gegenwärtigen Schreibprozess sowie entweder auf das gestern Geschriebene oder das morgen zu Schreibende. Mit dem Archiv und der Prognostik finden sich in Walsers Text folglich zwei zentrale Kalenderfunktionen wieder (vgl. Honold 2013, 73). Zu Beginn des zweiten Abschnitts rechtfertigt sich der Schreiber, der Besuch einer „Abendgesellschaft“ habe ihn „gestern vom Weitererzählen“ abgehalten, und ‚beschreibt‘ so quasi eine Lücke im Text (Walser 1996, Mkg. 295). Am Schluss des vierten Abschnitts wird festgestellt, dass „heut Sonntag“ ist und es der Schreiber „beim Angebrachten und Angeführten“ bewenden lasse und die Arbeit unterbreche – der Abschnitt ist denn auch deutlich kürzer als die anderen (Walser 1996, Mkg. 308). Im letzten Abschnitt gesteht er, die Arbeit am sich selbst erteilten „Auftrag“ „ein paar Tage lang“ unterbrochen zu haben (Walser 1996, Mkg. 309). Die Zeitreferenzen beziehen sich auf die Bedeutung des Kalendereintrags und auf diesen selbst: „gestern“ meint gleichermaßen das zuvor Erlebte wie den „vorangegangene[n] Abschnitt“ (Walser 1996, Mkg. 296). Der Text endet mit dem Besuch eines Verlagsvertreters und damit in einem doppelten Sinn, da der Schreiber einen Besprechungstermin hat und sein Werk – mutmaßlich – in den Druck geht.⁷ Walsers Text oszilliert zwischen Erinnerung und Verdrängung des Vergangenen auf der einen sowie zwischen Vorwegnahme und Aufschub des Kommenden auf der anderen Seite. Es werden immer wieder Zeitbezüge hergestellt zwischen Erlebtem, Gelesenem, Gedachtem und dessen Verzeichnung, d. h. der „Anstrengung, die sich auf vorliegenden und folgenden Blättern abspielt“ (Walser 1996, Mkg. 299), kurz: zwischen Lebens- und Schreibzeit. Das Kalenderblatt gibt als Textträger nicht nur den Rahmen für Walsers „Tagebuch“-Fragment vor, sondern auch für den Text selbst, und zwar indem es Zeitpunkt und Zeitlauf zu integrieren vermag und damit eine Struktur bereitstellt, in der Leben und Schreiben in Analogie zueinander gedacht werden können. „Ich finde z. B., daß das Schreiben gleichsam Hand in Hand mit dem Leben geht“

 Dieser doppelte Abschluss spricht auch gegen die Annahme, es handle sich bei dem Text um ein Fragment. Zu dieser Annahme vgl. Greven 2008, 31; Stiemer 2013, 120 – 122.

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(Walser 1996, Mkg. 296). Das Kalenderblatt wird in diesem Sinn zum Ort der Transformation von (Lebens‐)Wirklichkeit in (Auto‐)Fiktion.

3 Zeitbezüge im Feuilleton Radio Neben den Blättern des Tusculum-Kalenders finden sich im Konvolut von Walsers Mikrogrammen drei Blätter eines Tagesabreißkalenders, ebenfalls aus dem Jahr 1926 (16., 18. und 24. Mai), auf deren leerer Rückseite Walser jeweils einen Text entworfen hat. Alle drei Feuilletons sind zwischen 1926 und 1929 in der Prager Presse erschienen.⁸ Das sehr schlicht gehaltene Kalenderblatt umfasst nebst Datum und Wochentag zwei durch Gedankenstrich getrennte Zahlen: die Anzahl der Tage seit Jahresbeginn und bis Jahresende, wodurch der hervorgehobene Tag in den Jahreslauf eingebunden bleibt. Hinten auf dem Blatt für 136 – 230, also für Sonntag, 16. Mai 1926, steht das Prosastück Radio, dem ich mich abschließend zuwenden möchte. Der Text beginnt mit einem biografisch einschneidenden Erlebnis des Erzählers: „Gestern bediente ich mich zum erstenmal eines Radiohörers.“ (KWA III 4, 382). Walser erkennt sofort die Möglichkeiten des neuen Mediums, „etwas Entferntes“ zu hören und „gleichsam zu allen“ zu sprechen, allerdings zum Preis, dass diese mittelbare Kommunikation mit der Masse an die Stelle der unmittelbaren Interaktion mit dem näheren sozialen Umfeld tritt (KWA III 4, 382). Walsers Radioerlebnis biografisch, werkgeschichtlich und medienhistorisch einzuordnen, d. h. zu bestimmen, wann ‚gestern‘ war, ist allerdings gar nicht so einfach, wie der einigermaßen konkrete Bericht zunächst vermuten lässt.Wann die Reinschrift an Otto Pick, den Redakteur der Prager Presse, ging, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, veröffentlicht wird der Text jedenfalls erst am Pfingstsonntag 1928. Um den Schreibprozess zu rekonstruieren, muss das Blatt des Abreißkalenders somit an den Zeitkontext zurückgebunden werden. Der Icherzähler berichtet, er habe die „Bekanntgabe von Sportergebnissen aus Berlin“ sowie „schweizerdeutsche Gedichtvorträge“ gehört und sei in den Genuss eines in England (ein‐)gespielten Cellos sowie eines „aus zauberischer Distanz zu mir herübertanzenden Klavierspiels“ gekommen (KWA III 4, 382). Im Mikrogrammentwurf wird er zudem Zeuge der „Bravour einer Sängerin“.⁹ Insgesamt ein für die Radioprogramme der Zeit typischer Mix aus Nachrichten, literarischer Lesung und Musik also.  Mkg. 428 („Gräfin Maritza“. Prager Presse vom 21. August 1926), Mkg. 337 („Radio“. Prager Presse vom 27. Mai 1928), Mkg. 336 („Eugen Sue“. Prager Presse vom 27. Januar 1929).  Robert Walser: Mikrogramm 337. Robert Walser-Zentrum Bern. RW MS-MKG-337. Freundlicher Hinweis von Christian Walt.

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Radio Bern kündigt, beispielweise für den 16. Mai 1926, in der Berner Zeitung Der Bund das folgende Vorabend- und Abendprogramm an (1926, 7): Die „Liedervorträge von Frau A. Büchi-Bodmer, Belp“, Arien von Mozart und Brahms, sind für 17:30 bis 18:00 Uhr angesetzt. Um 20 Uhr werden „Zeitzeichen“, also die Nachrichten, gesendet, in denen möglicherweise auch von dem Pferderennen auf der Galopprennbahn Hoppegarten in Berlin berichtet wurde, einer Massenveranstaltung, die etwa auch der Neuen Zürcher Zeitung vom 16. Mai 1926 eine Meldung wert war (1926, Bl. 7). Anschließend folgt ein dreiteiliger „Dialekt-Abend von Herrn Moritz Ruckhaeberle aus Basel (mit Assistenz von Frl. Elsy Schwob von der ‚Baseldytschi Bihni‘) und Herrn Josef Wiss-Stäheli aus Zürich“. Dazwischen wird Orchestermusik gespielt, u. a. Beethovens Sonate Pathétique, die speziell angekündigt wird als „Klaviervortrag von Gino Filippini“ – einem italienischen Musiker und Komponisten, der in den 1920er Jahren Orchesterdirektor beim Radio Bern war. Handelt es sich beim „Dialekt-Abend“ tatsächlich um die „Gedichtvorträge“, die der Erzähler „zum Teil ungewöhnlich amüsant“ fand (KWA III 4, 382)? Ein Blick in die Radioprogramme zeigt, dass in den folgenden zwei Jahren, also bis zum Erscheinen von Walsers Prosastück im Druck, noch einige Sendungen mit Sportnachrichten, Mundartliteratur, Gesang und Klaviermusik über den Äther gegangen sind. Im Prosastück wechselt Walser nach dem Bericht über das gestrige Radioerlebnis mit der Ankunft im Heute scheinbar auch das Thema: Heute nun finde ich in einem bewährten Blatt eine Direktorstelle ausgeschrieben. […] Was die Direktorialität anbelangt, so wird von der Bewerberschaft Energie und Gewandtheit verlangt. Allgemeine Bildung, heisst es in der Annonce, sei die Hauptbedingung. Dass ich mich mit der Frage befasse, ob ich Gewünschtes in genügendem Grad aufwiese, möchte mich weiter nicht wundern. (KWA III 4, 383)

Tatsächlich findet sich in der Zeitung Der Bund am Folgetag des Kalenderblatts und des realen Radioabends, am 17. Mai 1926 also, ein Stelleninserat, das genau auf diese Beschreibung passt (Abb. 3). Gesucht wird eine „[e]nergische und gewandte Persönlichkeit von umfassender allgemeiner Bildung und selbständigem Organisationstalent“, und zwar für die Stelle eines Direktors – man staune! – der Radiostation Bern (Der Bund, 17. 5.1926, 7).¹⁰ Was zunächst nach einem für Walsers Feuilletons der Berner Zeit charakteristischen abrupten Wechsel des Themas oder des Gegenstands aussieht, wie wir sie auch im „Tagebuch“-Fragment kennengelernt haben, ist also vielmehr eine Nachwirkung des eingangs geschilderten Erlebnisses: Offensichtlich hatte

 Das Inserat erscheint etwa auch im Berner Tagblatt vom 17. Mai 1926: 6.

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Abb. 3: Stellenanzeige in Der Bund vom 17. Mai 1926, 7. www.e-newspaperarchives.ch/?a= d&d=DBB19260517-01.2.35.1 © Schweizerische Nationalbibliothek, Bern.

das neue Medium Walser derart beeindruckt, dass er sich am nächsten Tag überlegte, Radiodirektor zu werden.

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Das Kalenderblatt hält also Walsers erste Begegnung mit dem Radio fest: auf der einen Seite ihr Datum und – nachdem dieses abgelaufen ist und das Blatt abgerissen werden kann – auf der anderen Seite ihre Geschichte. Er hat sich nicht erst 1928 mit dem neuen Medium Radio auseinandergesetzt, wie in der Forschung wegen des Erscheinungsdatums des Feuilletons Radio immer wieder angenommen wurde. Es bleibt aber dabei, dass die erste (bekannte) Lesung von Texten Walsers im Radio – am 22. August 1925 in Frankfurt, vermutlich ohne dass der Autor Kenntnis davon hatte – erfolgte, bevor der Autor selbst Radio gehört hatte. Auf eigene Hörerfahrungen konnte er hingegen zurückgreifen, als er Hans Bänninger seine Zustimmung für die Rezitation von Texten im Radio Zürich am 10. November 1926 gab und zugleich das „Ausbeutungssystem“ beklagte, da keine Honorare bezahlt wurden.¹¹ Während er dem Radio 1926 noch den Stoff für einen Feuilletontext verdankt, wird er es drei Jahre später als Konkurrenz zum Zeitungsfeuilleton empfinden.¹² Der Rundfunk ist mittlerweile zu einem Medium für kalendarisches Wissen geworden und damit auch zu einem ‚Taktgeber der Literatur‘. Wir wissen nun, wann Walser erstmals Radio gehört hat, aber noch nicht, wo. Anhand seiner Korrespondenz lässt sich ersehen, dass er eine Einladung seiner Vertrauten Frieda Mermet annimmt, sie am Sonntag, 16. Mai 1926, für acht bis zehn Tage in Belleley zu besuchen, und seinen Besuch zwei Tage vorher nochmals bestätigt.¹³ Folglich hat Walser in der Psychiatrischen Anstalt Bellelay, in der Frieda Mermet und seine Schwester Lisa arbeiteten, erstmals Radio gehört, was eine durchaus tragische Koinzidenz darstellt, wird er doch wenige Jahre später, 1929, die „Radio-Musik“ als Patient der Psychiatrischen Anstalt Waldau lieb gewinnen.¹⁴ Durch die zeitliche und räumliche Rekonstruktion des Schreibprozesses wird auch der geheimnisvolle Schluss des Feuilletons konkretisierbar, die literarische Schreibszene auf eine reale Schreibszene rückführbar.¹⁵ „Ich wohne hier in einer Art Krankenzimmer und als Schreibunterlage für diese Skizze dient mir eine  BA 2, Nr. 723 – 727, Zit. Nr. 727; vgl. Sorg 2007, 71– 72.  An Therese Breitbach scheibt Walser am 23. Dezember 1929: „Die Prager Presse hat ziemlich aufgehört, Sachen von mir zu veröffentlichen. Gegenwärtig spielt Radio eine gewisse Rolle bezüglich der Literatur.“ (BA 2, Nr. 850)  Vgl.Walser 2018, Nr. 694 und 702. Im Folgenden wird aus dem zweiten Band der Briefe mit der Sigle BA zitiert. Darauf, dass Walser in Bellelay erwartet wird, lässt auch Frieda Mermets am 15. Mai 1926 als Telegramm übermitteltes „Sobald wie möglich“ schließen (BA 2, Nr. 705). In BA 2, 214, Anm. zu Zeile 75, wird Walsers Aufenthalt in Bellelay fälschlicherweise auf 21. bis 28. Mai 1926 datiert.  „Nett ist, daß es hier tagüber auch Radio-Musik gibt.“ (BA 2, Nr. 839)  Zu dieser Unterscheidung vgl. Stingelin 2004, 14– 15.

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Zeitschrift.“ (KWA III 4, 383)¹⁶ Was im Text rhetorisch als selbstreflexive Wendung funktioniert, um zu einem Schluss zu kommen, wird durch die kalendarische Verortung auch als Referenz auf den außertextuellen Entstehungskontext lesbar. Demnach wäre Walser nicht wie bei anderen Besuchen in Bellelay bei seiner Schwester, sondern in einem Zimmer der Klinik untergebracht gewesen. Dies scheint er im Dankesbrief, den er nach seiner Rückkehr nach Bern an Mermet schreibt, anzudeuten: „Ich denke an’s No 15 und an die schönen Ferientage mit Freude!“¹⁷ Das Kalenderblatt dokumentiert, dass es darüber hinaus auch eine fruchtbare Arbeitszeit war. – Das akribische Nachzeichnen der Zeitbezüge zwischen den Kalendern und den Geschichten, die auf diesen stehen, ergibt eine Kalendergeschichte.

Literatur Berner Tagblatt vom 17. Mai 1926. Bleckmann, Ulf. „…ein Meinungslabyrinth, in welchem alle, alle herumirren…“. Intertextualität und Metasprache als Robert Walsers Beitrag zur Moderne. Frankfurt am Main: Lang, 1994. Der Bund vom 16. und 17. Mai 1926. Gisi, Lucas Marco und Julia Maas. „Kleine Archäologie des ‚Tusculum-Kalenders 1926‘“. Mitteilungen der Robert Walser-Gesellschaft 23 (2016): 21 – 26. Greven, Jochen. „‚Indem ich schreibe, tapeziere ich.‘ Zur Arbeitsweise Robert Walsers in seiner Berner Zeit“. Bildersprache, Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser. Hg. Margit Gigerl und Anna Fattori. München: Fink, 2008. 13 – 31. Hesse, Hermann. Sämtliche Werke. Hg. Volker Michels. Bd. 10. Die Gedichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002. Honold, Alexander. Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur. Basel: Schwabe, 2013. Kammer, Stephan. „Das Phänomen Mikrographie“. Robert Walser-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. Lucas Marco Gisi. Stuttgart: Metzler, 2015. 274 – 283. Kammer, Stephan. Figurationen und Gesten des Schreibens. Zur Ästhetik der Produktion in Robert Walsers Prosa der Berner Zeit. Tübingen: Niemeyer, 2003. Knopf, Jan. Die deutsche Kalendergeschichte. Ein Arbeitsbuch. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983. Neue Zürcher Zeitung vom 16. Mai 1926. Sorg, Reto. „‚Doch stimmt bei all dem etwas nicht‘. Robert Walser als Vorleser eigener Texte“. Robert Walsers ‚Ferne Nähe‘. Neue Beiträge zur Forschung. Hg. Wolfram Groddeck, Reto Sorg, Peter Utz und Karl Wagner. München: Fink, 2007. 61 – 74.

 Die „Würdigung des neuen Mediums Rundfunk findet also buchstäblich auf dem Rücken des alten Mediums Zeitschrift statt“, wie Ulf Bleckmann (1994, 244) treffend konstatiert.  Demgegenüber vermuten die Herausgeber von BA 2, 229, Anm. zu Zeile 1, Walser sei in dem neben der Klinik liegenden Hôtel del’Ours untergekommen.

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Sorg, Reto. „Selbsterfindung als Wirklichkeitstheorie. Zu Robert Walsers nachgelassener ‚Tagebuch-Erzählung‘ aus dem Jahr 1926“. „Ich beendige dieses Gedicht lieber in Prosa“. Robert Walser als Grenzgänger der Gattungen. Hg. Anna Fattori und Kerstin Gräfin von Schwerin. Heidelberg: Winter, 2011. 111 – 129. Stiemer, Hendrik. „Wenn das Schreiben Hand in Hand mit dem Leben geht. Zu Robert Walsers ‚Tagebuch‘-Fragment von 1926“. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 87.1 (2013): 93 – 122. Stingelin, Martin. „‚Schreiben‘. Einleitung“. „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hg. Martin Stingelin. München: Fink, 2004. 7 – 21. Walser, Robert. Aus dem Bleistiftgebiet. Bd. 4. Mikrogramme aus den Jahren 1926 – 1927. Hg. Bernhard Echte und Werner Morlang. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990. Walser, Robert. Berner Ausgabe. Bd. 2. Briefe 1921 – 1956. Hg. Peter Stocker und Bernhard Echte. Berlin: Suhrkamp, 2018. Walser, Robert. Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Bd. III 1. Drucke im Berliner Tageblatt. Hg. Hans-Joachim Heerde. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Schwabe, 2013. Walser, Robert. Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Bd. III 4. Drucke in der Prager Presse. Hg. Hans-Joachim Heerde und Barbara von Reibnitz. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Schwabe, 2018. Walser, Robert. „Tagebuch“-Fragment. Faksimile und Transkription des „Mikrogramm“-Entwurfs. Hg. Carl Seelig-Stiftung. Transkribiert und ediert von Bernhard Echte. Zürich: Carl Seelig-Stiftung, 1996. Walt, Christian. „Schreibprozesse: Abschreiben, Überarbeiten“. Robert Walser-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. Lucas Marco Gisi. Stuttgart: Metzler, 2015. 268 – 273. Wolfinger, Kay. Ein abgebrochenes Journal. Interpretationen zu Robert Walsers Tagebuchfragment. Frankfurt am Main u. a.: Lang, 2011.

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Hagauers Wandkalender, Kluges 60 Stunden und die Zeit der Engel: Paradoxien des Kalendarischen in Musils Mann ohne Eigenschaften (dritter Teil und Nachlass) Hagauer, Agathes Mann, hat ein „Neujahrsgeschenk eines Papierwarengeschäfts […] aus der Schule“ mitgebracht: einen „Wandkalender“, den er zu allem Überfluss ins „Speisezimmer“ hängt. Agathe nimmt sich trotz oder „wegen“ der damit verbundenen „Trostlosigkeit“ dieses „fürchterliche[n] Sinnbild[s] des Lebens“ an und sorgt für das „Abreißen der Blätter von diesem Kalender“ (947).¹ Aber eines Tages ist sie weg; um den Nachlass im Haus ihres verstorbenen Vaters zu ordnen, wie es anfangs heißt. Dann aber zieht sie zu Ulrich in sein Schlösschen in Wien – und verlässt Hagauer. Der Verlassene könnte nun selbst den Dienst des täglichen Abreißens der Blätter versehen, denn es widersprach seinen Gewohnheiten, diesen Teil der Wand gleichsam verwildern zu lassen. Aber anderseits war er ein Mann, der jederzeit wußte, auf welchem Wochen- und Monatsgrad er sich im Meere der Unendlichkeit befand, ferner besaß er ohnehin einen Kalender in seiner Schulkanzlei, und endlich hatte er, gerade als er trotzdem die Hand heben wollte, um die Zeitmessung in seinem Heim zu ordnen, ein sonderbares, lächelndes Innehalten gespürt, eine jener Regungen, in denen sich, wie sich später auch herausstellen sollte, das Schicksal ankündigt, die er aber zunächst nur für eine zarte, ritterliche Empfindung hielt, die ihn erstaunte und von sich befriedigte: er beschloß, das Blatt mit dem Tag, an dem Agathe das Haus verlassen hatte, im Sinne einer Ehrung und Erinnerung nicht zu berühren vor ihrer Rückkehr. (947)

Der Kalender misst also auf eine doppelte Weise die Zeit. Einerseits ist es mit ihm wie mit allen Kalendern: Wenn man die Blätter täglich entfernt, sieht man auf das aktuelle Datum. Anhand der Größe der Abrisskante kann man zudem den Gang der vergangenen Tage im Jahr ablesen. Für Hagauer, der die Blätter seit Agathes Abreise nicht entfernt hat, ergibt sich jedoch eine besondere Zählweise, da er anhand des stehengebliebenen Blatts (und in dem Wissen um das jeweils aktuelle Datum) sehen kann, „wie lange seine Frau ausblieb“ (947).

 Ich zitiere hier wie im Folgenden direkt im Fließtext nach der Ausgabe Musil 1970. https://doi.org/10.1515/9783110773750-007

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Nachdem er anfangs diesen speziellen kalendarischen Effekt nicht „bemerkte“, wird der „Wandkalender mit der Zeit zu einer eiternden Wunde, die Hagauer bei jedem Blick daran erinnerte, wie lange seine Frau schon die Heimat meide“ (947). Ironischerweise sind die nicht zuletzt durch den Kalender von Tisch und Bett geschiedenen Eheleute zugleich durch ihn verbunden, nämlich durch die Furcht vor ihm. Der Unterschied besteht lediglich in der Zeit und in den oben genannten unterschiedlichen Verwendungsweisen: Während der einen die normale oder exoterische Dimension des Kalenders „fürchterlich[]“ (947) war, ist dem anderen die private oder esoterische Verwendung unerträglich. Unabhängig davon, dass der Erzähler mit Agathes Ablehnung der Normalfunktion des Hagauer’schen Wandkalenders sympathisiert, so führt auch er kalendarisch sehr genau Buch, nämlich indem er die Abwesenheit Agathes von zu Hause mit Hinweisen auf den Gang der Jahreszeiten begleitet. Genau genommen setzt er dabei eine erzählerische Tradition fort: Bekanntlich beginnt die erzählte Zeit des gesamten Romans an einem „schöne[n] Augusttag des Jahres 1913“ (9) und läuft auf den Sommer 1914 zu, von dem jede/r Leser/-in weiß, was er bedeutet. Perspektiviert wird dies durch das Jahr 1918 als, wie man im Jahr 1914 des Romans dachte, ein doppeltes „Regierungsjubiläum[]“ (78), wiewohl es, ex post gesehen, das Ende des Ersten Weltkriegs darstellt (vgl. Honold 1995, 25 – 94 und 181– 274; Honold 2014, 23 – 24 und 696 – 724). Ein Jahr also (oder etwas weniger, dazu gleich mehr), das in eine kalendarisch genaue Chronikform gebracht wird, auch wenn deren politische Dimension nur am Rande auftaucht, am deutlichsten im Kapitel 83, in dem die Weltgeschichte „Ende 1913 und Anfang 1914“ (359) als peripher erwähnt wird. Das zweite Buch bzw. der dritte Teil, um den es hier gehen soll, setzen zu Beginn des Jahres 1914 ein. Die kalendarische Schreibweise konzentriert sich nun auf den Gang der Jahreszeiten in der Natur, wohlwissend, dass gerade in und mit dieser Harmlosigkeit ein politischer Countdown in Bezug auf den Weltkrieg beschrieben wird: Agathes Abreise muss nach Neujahr stattgefunden haben, da Hagauers Kalender schon zu zählen begonnen hat. Der „Ausflug[] auf die Schwedenschanze“ bringt „gefrorene Radspuren“ und „Kälte“ mit sich (733). Die heiligen Gespräche der Geschwister finden bei winterlichem Licht statt, das kaum in das „Wohnzimmer“ des väterlichen Hauses dringt, welches „dunkel und geschützt“ bleibt. Wenn die Geschwister das Haus verlassen, sehen sie, dass der „Winter“ die „Blätter“ vom „nackte[n] Gesträuch“ des Gartens „geschält“ hat (749). Im zweiundzwanzigsten Kapitel findet sich hingegen nur noch im „Gebirge […] Schnee“, nicht mehr aber in Wien oder der näheren Umgebung (866). Nachdem Agathe bei Ulrich eingezogen ist, beginnt der „Frühling“ (909). Doch „Frühjahrszeit“ (913) hin oder her; der Winter kann nicht lange her sein, weil die

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„lebhafte[] Wintergeselligkeit“ noch nicht abgeschlossen ist (929 – 930). Wenn Agathe Lindner kennenlernt (wir befinden uns mittlerweile im einunddreißigsten Kapitel), dann „über den grünenden Weinbergen“ (965), also höchstwahrscheinlich im April. In den Nachlasskapiteln wird das Wetter und mit ihm die Jahreszeit vornehmlich im Zusammenhang mit den mystischen Gesprächen im Garten von Ulrichs Schlösschen erwähnt. Mittlerweile hat die wärmere und vor allem lichtvollere Jahreszeit begonnen: Im Kapitel 46 „Mondstrahlen bei Tage“ (bei dem die Lichtmetaphorik bereits im Titel anzitiert wird) ist es „Sommerwetter“, aber anscheinend vor der Zeit, weil es kalendarisch eigentlich Frühling ist: „[I]m Garten blühten Blumen und Sträucher.“ Wenn in diesem Zusammenhang der Begriff der „taghellen Mystik“ (1087– 1089) fällt, dann einerseits wegen der geschwisterlichen Lektüre des „Buch[s]“(1091) im Garten, d. h. von Martin Bubers Ekstatischen Konfessionen als Stichwortgeber für die brautmystische Dialogizität des Romans, andererseits aber auch, weil das Licht bei diesen mystischen Gesprächen wirklich von einer Helligkeit ist, die jede platonische Höhlenmetaphorik² aus dem Winter (s.o.) hinter sich lässt (ausführlich Bergengruen 2022). An die „Stunde im Garten“ (1218), da sie mithilfe von Buber in ein mystisches Gespräch eintauchen konnten, erinnern sich die Geschwister – nun schon in der dritten Ersetzungsreihe –, wenn sie sich erneut in einem solchen bzw. in ein solches Gespräch verlieren. Vor allem aber setzen sie die Gespräche auch wieder im Freien fort (immer wieder mit der Erinnerung an die „Entzückung[en] […], die sie vormals in diesem Garten […] befallen“ haben; 1233): erst bei „gemächliche[m] Sonnenschein, der zärtlich ist, ohne zudringlich zu sein“ (1223), und mit „Wiesengerüche[n]“ in der „Luft“ (1230) – der Sommer ist also wieder einen Schritt nähergekommen –, dann im bekannten Kapitel 52 „Atemzüge eines Sommertags“, wenn – die Handlung spielt noch am gleichen Tag wie im vorherigen Kapitel – die „Sonne […] höhergestiegen“ ist (1232). Trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit spricht der Erzähler von einem „jungen Sommer“ (Hervorhebung des Verfassers), was ja auch dadurch unterstrichen wird, dass der vielzitierte „Strom glanzlosen Blütenschnees“ (1232) in der Luft schwebt: Wie der Winter die Herbstblätter von den Bäumen geschält hat (s.o.), wie der Frühling die „Bäume und Sträucher“ wieder „belaubt[]“ und mit Blüten versehen hat, so nimmt der gerade einsetzende Sommer diese Blüten wieder (1232). Bekanntlich meditiert Alexander Kluge in einem Gespräch mit Katharina Teichgräber über genau dieses Kapitel und sein Sommerszenario (vgl. Agathos

 Zur antiken Lichtmetaphysik vgl. nach wie vor Beierwaltes 1957 (zu Platon: S. 37– 96); vgl. Blumenberg 1957, 432– 447.

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2004, 27). Das Gespräch beginnt mit einer Lektüre des Anfangs des Kapitels 52, aus der sich dann die weiteren Themen der Unterhaltung ergeben. In ihr entwerfen Kluge und seine Gesprächspartnerin einen „60-Stunden-Film“, dessen Basis die „Repetition von differenten Szenen eines Sommers“ ist: eines Sommers, wie Kluge fortfährt, „der ja August 1914 bedeuten kann oder August 1939 oder 1944 in Auschwitz“ (Kluge 2004, 672– 673). Mir ist es nicht um die Rekonstruktion dieses Filmprojekts, in dem durch eine „Summe von Sommertagen“ ein „Jahrhundert“ (Kluge und Teichgräber 2004, 674) dargestellt werden soll, zu tun, sondern lediglich um dessen Prämisse: „August 1914“: Kluge scheint anzunehmen, dass der Mann ohne Eigenschaften im Kapitel 52 der dritten Ersetzungsreihe am Ende eines kompletten Sonnenkreislaufs³ angelangt ist. Vielleicht denkt er, da er ja filmische Assoziationen zu anderen Kriegsereignissen bzw. Ereignissen, die in Zusammenhang mit dem Krieg stehen, aufruft, an die Kriegserklärungen an Russland und Frankreich von Anfang August 1914, aber das wäre zu sehr aus der Perspektive des Deutschen Reichs gedacht, da Österreich ja bereits Serbien am 28. Juli den Krieg erklärt. Vor allem aber fehlt in diesem Zusammenhang Sarajewo. Wir befinden uns in Kapitel 52 offensichtlich vor dem 28. Juni, was ja auch durch die Formulierung vom ‚jungen Sommer‘ (s.o.) gedeckt ist. Folgt man Musils Engführung von Kalendarik und Lichtmetaphorik, wäre wohl der 21. Juni das wahrscheinlichste Datum. Die Sonne hat an diesem Tag ihren höchsten Stand. Lateinisch heißt dieses Datum solstitium, also Sonnenstillstand. Und genau darum geht es: Stillstand der Zeit im größtmöglichen Licht. Unabhängig von der Frage nämlich, ob „Atemzüge eines Sommertags“ (1232) den Abschluss des oder eine Zwischenetappe im Mann ohne Eigenschaften darstellen sollte und ob der Roman überhaupt abschließbar ist (vgl. Mülder-Bach 2013, 444– 448), ist festzuhalten, dass er im Kapitel 52 nicht im kriegerischen August 1914, ja nicht einmal am 28. Juni angekommen sein kann. Dies lässt sich auch aus seinem Gegenstand ableiten: Bei genauerem Hinsehen sind die Nachlasskapitel von einer komplexen Dynamik aus Bewegung und Gegenbewegung in Bezug auf den Fortgang der Zeit geprägt: Einerseits wird, wie beschrieben, der Kalender in der Manier von Hagauers Wandkalender heruntererzählt, explizit harmlos, weil auf die Natur bezogen, implizit mit seiner gesamten furchteinflößenden Dynamik in Richtung Kriegsbeginn; anderseits werden die damit verbundenen Zeitläufte von den beiden Protagonist/-innen radikal aufgehalten oder genauer gesagt: ausgesetzt – und zwar gerade deswegen, weil das Licht am ersten

 Zu dieser kalendarischen Prämisse vgl. Honold 2013, 13 – 14.

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Tag des Sommers am höchsten steht; und mit ihm die dazugehörige höchste Erkenntnis, die im mystischen Sinne dann aber keine Erkenntnis mehr ist. Dies wird nirgends deutlicher als im vielzitierten Augenblick des Blütenzugs: „Die Zeit stand still, ein Jahrtausend wog so leicht wie ein Öffnen und Schließen des Auges, sie war ans Tausendjährige Reich gelangt“ (1233). Zitiert wird also die mystische Zeitlosigkeit (vgl. auch Wolf 2011, 985 – 992); das im frühen 20. Jahrhundert topische eckhartsche „nû“ (Meister Eckhart 1993, 104).⁴ Der gleiche Gedanke wird wenige Kapitel zuvor auch spezifisch auf das Kalendarische bezogen formuliert, auch hier wieder mit Bezug auf einen mystischen Text, in diesem Falle Emanuel Swedenborgs Der Himmel und seine Entsprechungen: Ulrich holte lächelnd ein Buch von der Wand, worin sich ein Lesezeichen befand, und setzte vor seine eignen Worte die folgenden fremden: „Wenn auch der Himmel, ebenso wie die Welt, einer Folge wechselnder Ereignisse unterworfen ist, so fehlt doch den Engeln jeder Begriff und jede Vorstellung von Raum und Zeit. Obwohl sich auch bei ihnen alle Vorgänge nacheinander abspielen, in völliger Übereinstimmung mit der Welt, wissen sie nicht, was Zeit bedeutet, weil im Himmel weder Jahre noch Tage, sondern Zustandsänderungen herrschen. Wo Jahre und Tage sind, herrschen Zeiten, wo Zustandsänderungen sind, Zustände. Da die Engel keine Vorstellung von der Zeit haben, wie die Menschen, so fehlt ihnen auch die Bestimmung der Zeit; sie kennen nicht einmal ihre Einteilung in Jahre, Monate, Wochen, Stunden, in morgen, gestern und heute. Hören sie einen Menschen davon reden – und Gott hat ständig den Menschen Engel zugesellt – dann verstehen sie darunter Zustände und Zustandsbestimmungen. Der Mensch denkt aus der Zeit, der Engel aus dem Zustand; so wird die natürliche Vorstellung der Menschen bei den Engeln zu einer geistigen“ (1202).⁵

Die bei Swedenborg beschriebenen engelhaften und menschlichen Perspektiven sind einerseits vollkommen unterschiedlich, da die Engel keine Zeit kennen – und damit eben auch nicht „Jahre und Tage“ bzw. „Jahre, Monate, Wochen, Stunden“, also keinen Kalender und keine Uhr. Aber es gibt, andererseits, eine Analogie zwischen beiden Wahrnehmungsweisen, nämlich die Veränderung von Zeitläuften bei den Menschen und die von „Zustände[n] und Zustandsbestimmungen“ bei den Engeln. Über diese Brücke können Agathe und Ulrich in die engelhafte Atemporalität gelangen; sie, die nunmehr nur noch wahrnehmen, dass, wenn nicht die Zustände, dann die „Umstände“ zu einer „Veränderung“ kommen (1232; Hervorhebung des Verfassers). Und dieser Übergang von der Menschen- in die Engelperspektive, vom Natürlichen ins Geistige, von der Zeit in die Zeit ermöglicht es, den,  Zur Rolle Eckharts in der Neomystik der Moderne vgl. Bergengruen 2010, 21– 23.  Das Zitat ist nach Swedenborg 1925, 118 – 119. Interessanterweise deutet der Übersetzer Hasenclever Swedenborgs Lehre als ein Bollwerk gegen den „kategorischen Imperativ“, dessen „Erfüllung“ der „Sommer 1914“ gewesen sei (Swedenborg 1925, 265).

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Maximilian Bergengruen

Zitat Agathe, „fürchterliche[n]“ Gang des Kalendarischen auszusetzen; und dies gerade, weil er am lichtvollen Ende der Zeit angekommen ist. In gewissem Sinne hat auch Kluge das so verstanden, wenn er in Bezug auf die „Atemzüge“ von einer „versiegelte[n] Zeit“ redet (Kluge 2004, 673), aber ganz radikal gesprochen, und das kann und/oder will der imaginierte Film nicht umsetzen, ist diese versiegelte Zeit eben jenseits des Kalendarischen – zumindest für einen Augenblick.

Literatur Agathos, Katarina. „Unter dem aufgeräumten Schreibtisch lauert die Entropie. Wahrnehmungsphänomene. Zerlegungsprozesse. Übertragungsversuche.“ Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Remix. Hg. Katarina Agathos und Herbert Kapfer. München/Belleville: Der Hörverlag, 2004. 15 – 28. Beierwaltes, Werner. Lux intelligibilis. Untersuchung zur Lichtmetaphysik der Griechen. München: Ludwig-Maximilians-Universität (Diss.), 1957. Bergengruen, Maximilian. Mystik der Nerven. Hugo von Hofmannsthals literarische Epistemologie des „Nicht-mehr-Ich“. Freiburg im Breisgau: Rombach, 2010. Bergengruen, Maximilian. „Wien, Blicke. Architektonik des Mystischen“ (Kapitel „52/Atemzüge eines Sommertags“). Erscheint in: Musil. Architektur. Hg. Burkhard Wolf et al. Berlin: Vorwerk 8, 2022, 19 – 24. Blumenberg, Hans. „Licht als Metapher der Wahrheit.“ Studium generale 10 (1957): 432 – 447. Honold, Alexander. Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München: Fink, 1995. Honold, Alexander. Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur. Basel: Schwabe, 2013. Honold, Alexander. Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs. Berlin: Vorwerk, 2014. Kluge, Alexander und Katharina Teichgräber: „Alexander Kluge im Gespräch mit Katharina Teichgräber: Der 60-Stunden-Film“. Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Remix. Hg. Katarina Agathos und Herbert Kapfer. München/Belleville: Der Hörverlag, 2004. 672 – 673. Meister Eckhart. Werke. Bd. 1. Hg. Niklaus Largier. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1993. Mülder-Bach, Inka. Robert Musil: der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München: Hanser, 2013. Musil, Robert. Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. Adolf Frisé. Hamburg: Rowohlt, 1970. Swedenborg, Emanuel. Himmel, Hölle, Geisterwelt. Eine Auswahl aus dem lateinischen Text. Übersetzung von Walter Hasenclever. Berlin: Verlag Die Schmiede, 1925. Wolf, Norbert Christian. Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien: Böhlau, 2011.

Christof Hamann

Epistemologie der Exemplarität: Bertolt Brechts Kalendergeschichten – Die Gewalt versichert: So, wie es ist, bleibt es. (Brecht, Lob der Dialektik)¹

1 Heterogenität oder Homogenität der Kalendergeschichten Brechts? Der Augsburger Kreidekreis, der erste, im Januar 1940 entstandene Text in Brechts Sammlung Kalendergeschichten, endet mit dem salomonischen Urteilsspruch eines gelehrt und weise genannten Richters im Dreißigjährigen Krieg, den er im Anschluss an eine „Probe“² der Angeklagten und der Klägerin fällt: Juristische Wissensproduktion erfolgt hier also induktiv und nicht auf der Basis eines allgemeingültigen Gesetzes. Das darauf folgende, im Herbst 1935 geschriebene Gedicht Ballade von der Judenhure Marie Sanders handelt ebenfalls von Rechtsprechung, allerdings in einer ganz anderen Zeit: Das am 15. September 1935 in Nürnberg verabschiedete ‚Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre‘ verbietet Ehen bzw. außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen. Dieses führt zur öffentlichen Bloßstellung von Marie Sanders.Weise Rechtsprechung spielt in der Ballade keine Rolle, im Gegenteil: Die Justiz ist Bestandteil eines verbrecherischen Regimes. Wenig später folgt die Erzählung Das Experiment, die Brecht Ende 1938/Anfang 1939 während der Arbeit an der ersten Fassung des Stücks Leben des Galilei schrieb; sie springt zeitlich erneut zurück in die Frühe Neuzeit und stellt ein anderes Thema ins Zentrum. Der Titel bezieht sich auf eine kurze Episode aus den letzten Lebenstagen von Francis Bacon (1561– 1626): Dieser verlässt trotz der Kälte seine Kutsche, um ein von dieser überfahrenes Huhn mit Schnee ausstopfen zu lassen. Das Experiment soll zeigen, dass ein derart behandeltes totes Tier wochenlang frisch und genießbar bleibt. Wenige Tage später stirbt Bacon an einer sich während der Forschung am Huhn zugezogenen Erkältung. Wird einerseits

 Brecht 1988, 237.  Brecht 1995, 353. Ich zitiere von nun an aus den Kalendergeschichten nach der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe (Bd. 18) im Fließtext unter Angabe der Sigle GBA und der Seitenzahl. https://doi.org/10.1515/9783110773750-008

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sein politisches Wirken als Lordkanzler zu Beginn der Erzählung heftig kritisiert (vgl. GBA, 362), so erfahren andererseits seine naturwissenschaftlichen Forschungen eine Würdigung durch den heterodiegetischen Erzähler, der ihn u. a. mit dem Epitheton ‚groß‘ versieht, vor allem aber durch die Figur eines Stalljungen, den der Wissenschaftler zu seinem Schüler auserkoren hat. Trotz der sozialen Unterschiede und der fehlenden Bildung des Jungen ist der Unterricht insofern erfolgreich, als sich der Lernende nicht nur die Lehre Bacons durch permanentes Üben (vgl. GBA, 363, 365) aneignet, sondern auch nach dessen Tod fortzuführen gedenkt: Er will das ‚gefrorene‘ Huhn zubereiten und essen, um festzustellen, ob es giftig ist oder nicht. In dem sich an die Erzählung anschließenden Gedicht Ulm 1592, zuerst unter dem Titel Der Schneider von Ulm in den Svendborger Gedichten veröffentlicht, steht ebenfalls ein Experiment im Mittelpunkt, allerdings ein scheiterndes: Ein Schneider will einen Bischof davon überzeugen, dass der Mensch fliegen könne, doch er kommt bei seinem Flugversuch ums Leben. Der Geistliche sieht dadurch sein Wissen auch für die Zukunft bestätigt: „Es wird nie ein Mensch fliegen“ (GBA, 373). Im Anschluss an Ulm 1592 folgen weitere Texte, stets Prosa und Lyrik im Wechsel, abgeschlossen wird der Band mit 39 knapp gefassten Geschichten vom Herrn Keuner. Das letzte Gedicht der Sammlung, bevor die Kurzprosa mit dem Protagonisten Keuner beginnt, gehört ebenso wie Der Schneider von Ulm/Ulm 1592 zu den bekanntesten Gedichten Brechts; überschrieben ist es mit „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“. 1938 entstanden, erzählt es von dem „Lehrer“, der aus einem Ruhebedürfnis heraus der wieder einmal zunehmenden „Bosheit“ in seinem Land den Rücken kehrt, an der Grenze aber von einem einfachen, armen „Zöllner“ (GBA, 433) aufgehalten wird. Dieser bringt ihn dazu, sein Wissen schriftlich zu fixieren, darunter den Lehrsatz: „Daß das weiche Wasser in Bewegung / Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. / Du verstehst, das Harte unterliegt.“ (GBA, 433) Brechts erste Buchpublikation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ist im Januar 1949 erschienen. Keiner der Texte ist eigens für die Sammlung geschrieben worden – bis auf eine Ausnahme, die 1946 geschriebene Erzählung Die zwei Söhne, handelt es sich um solche, die zum kleinen Teil während des Krieges, überwiegend aber in den Jahren vor dessen Ausbruch entstanden sind; manche Keuner-Geschichten sowie das Gedicht Die Teppichweber von Kujan-Bulan ehren Lenin stammen bereits aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Von 1940 an, als Brecht sich vermutlich erste Gedanken über die Zusammenstellung der Kalendergeschichten machte, bis 1948, dem Jahr, in dem die Publikation, vor allem dank Brechts Mitarbeiterin Ruth Berlau, nach und nach Form annahm, änderten sich „Anordnung und Auswahl“ (Knopf 2002, 405) permanent.

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Die eben erfolgte Zusammenfassung weniger Geschichten und Gedichte sollte zeigen, dass es sich bei Brechts Kalendergeschichten, wie in der Forschung auch immer wieder hervorgehoben wird, um eine heterogene Sammlung handelt, die sich durch Formen- und Themenvielfalt (vgl. Knopf 2002, 408; Renz 1998, 858) ebenso wie durch „Sprunghaftigkeit“ (Knopf 2002, 408; vgl. Ignasiak 1982, 206) hinsichtlich der behandelten Zeiten und Orte auszeichnet. Allerdings bemüht sich die Forschungsliteratur zugleich fast ausnahmslos darum, sämtliche Texte oder zumindest einen Teil davon in Bezug zu einem Allgemeinen zu setzen. Das liegt auch nahe, schon allein deshalb, weil bekannt ist, wie wichtig Brecht die Ordnung der Sammlung war. Welcher Regel diese folgt, darüber ist die Forschung geteilter Meinung. Laut Ludwig Rohner gehören die Texte – in genau dieser Chronologie – zusammen, weil sie Teil einer Klimax hin zum Einfachen seien (vgl. Rohner 1978, 386 – 411). Jürgen C. Thöming hingegen gruppiert sie um die im Zentrum stehende Geschichte Cäsar und sein Legionär (vgl. Thöming 1973, 89 – 90). Und Jan Knopf plädiert für „die paarweise Anordnung von Geschichte und Gedicht“ – ein jedes Paar sei „trotz der Form- und Inhaltsdifferenzen komplementär zu lesen.“ (Knopf 2002, 407) Ein die Sammlung übergreifendes Allgemeines ergibt sich ebenfalls Knopf zufolge, indem er sie in die Tradition der Kalendergeschichte einordnet, weil sich die einzelnen Texte an den Merkmalen des Volkstümlichen, des Historiografischen, des Dialogischen und Didaktischen orientieren würden, Brecht diese aber zugleich seinem „Programm“ (Knopf 1983, 270) des Volkstümlichen, der Geschichte etc. anpasse (vgl. Knopf 1983, 263 – 272; vgl. auch Müller 1980, 309). Schließlich existieren auch Versuche, thematische Verbindungen zwischen manchen oder sämtlichen Texten herzustellen. So subsumiert Klaus-Detlef Müller Das Experiment, Ulm 1592 und die nachfolgende Erzählung Der Mantel des Ketzers, die ebenfalls 1592 spielt und von den Bemühungen Giordano Brunos um eine ‚gute Tat‘ erzählt, unter dem allgemeinen Gesichtspunkt, dass darin „aus dem naturwissenschaftlichen experimentierfreudigen Geiste der frühen Neuzeit überlieferte Ordnungs- und Weltvorstellungen kritisch in Frage“ (Müller 1980, 311) gestellt würden. Für Christine Renz sind die Kalendergeschichten insgesamt „getragen von einer Gesellschaftsutopie: der sozialistischen Gesellschaft, wie von einer diese Utopie tragenden Schicht: der arbeitenden, nicht am Besitz beteiligten Schichten“ (Renz 1998, 859).

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2 Das Beispiel: epagôgê und parádeigma Meine Skizze der Forschung führt zu einer eigentlich schlichten These: Brechts Kalendergeschichten werden im Folgenden als Exempel- oder Beispielsammlung³ gelesen, in der der einzelne Text stärker in den Vordergrund rückt. Nun fallen die beiden Begriffe in Bezug auf die Erzählungen und Gedichte zwar immer wieder einmal (vgl. z. B. Hasselbach und Hasselbach 1990, 7; Knopf 1984, 297; Thöming 1973, 76), eingehender erörtert werden sie allerdings nie: In der Regel werden sie nur beiläufig erwähnt, selten einmal erfolgt eine knappe würdigende Reflexion wie bei Ludwig Rohner: „Die Kalendergeschichten sind beispielhaft. […] Beispiele setzen eine Theorie voraus, der sie illustrierend dienen.“ (Rohner 1978, 409) Ebenso selten wird das Beispielhafte, u. a. von Knopf, kritisch reflektiert: Definitionen, die fixieren, was „ist“, darf es nach Brecht nicht mehr geben, weil sie wie die Zitate in den „Fragen eines lesenden Arbeiters“ das Geschichtliche ein für alle Mal festlegen, von der geschichtlichen Realität wegführen und alles Geschichtliche zur Exempelsammlung

 In diesem Beitrag wird nicht systematisch zwischen Exempel und Beispiel unterschieden. Darin folge ich Willer, Ruchatz und Pethes (2007), denen zufolge die strikte Trennung, wie sie u. a. von Immanuel Kant vorgenommen wurde, für die „Gegenwart und jüngste Vergangenheit“ nicht mehr plausibel sei, da die Bedeutungen der beiden Wörter „fundamentale Gemeinsamkeit[en]“ (41) besäßen. Erwähnt sei zumindest, dass auch vor Brecht publizierte Kalendergeschichten Beispiele und Exempel genannt worden sind. Kurt Franz spricht sich für solche Bezeichnungen aus, weil „strukturale sowie intentionale Konstituenten dies z.T. ohne weiteres erlaubten“ (Franz 1995, 118). Im Historischen Wörterbuch der Rhetorik wird aufgrund des Elements des Lehrhaften eine Nähe zwischen Kalendergeschichte und exemplum betont (vgl. Renz 1998, 852). Auffallend ist an dieser Zuordnung allerdings, dass die Beispiele bzw. Exempel ebenfalls oft unter eine allgemeine Regel subsumiert werden. Wenn Franz etwa Hebels ‚Rechnungsexempel‘ (vgl. dazu Franz 1995, 396 – 406) untersucht, dann weniger in ihrer Besonderheit als in ihrem notwendigen Bezug zu einem „vernünftigen menschlichen Verhalten[]“ (Franz 1995, 400). Jan Knopf argumentiert ähnlich, wenn er „‚Calendererzehlungen‘ eines anonymen Verfassers“ von 1766 an den „Versuch“ koppelt, diese „moralisch zu deuten und als allgemein-verbindliche [womöglich göttlich-statuierte] Exempla lehrhaft zu wenden“ (Knopf 1983, 108). An anderer Stelle weitet Knopf seine Beobachtung dahingehend aus, dass sich bereits in Kalendergeschichten aus dem 17. Jahrhundert die Tendenz zeige, „die erzählte Historie als moralisches Exemplum mit angehängter Lehre auszuweisen“; interessant sei weniger die Geschichte, sondern vielmehr „das mit ihr verbundene moralische Exempel, das als Mahnung oder Vorbild für allgemein sittliches Verhalten präsentiert und rezipiert wird“ (Knopf 2000, 218 – 219). In diesem Beitrag kann der Frage, inwiefern diese Verallgemeinerungen begründet sind, leider nicht nachgegangen werden. Ich bin aber wie Alexander Honold der Ansicht, dass die Qualität zumindest von Hebels Kalendergeschichten in ihren „oft paradoxen Bewegungen“ und ihren „gewitzten Zwischentönen“ (Honold 2013, 116) besteht. Wie Walter Benjamin sieht Honold in Hebel einen Kasuisten. „Kasuistik bedeutet […]: Nicht das Prinzip, sondern der einzelne Fall entscheidet.“ (Honold 2013, 116)

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einer vorgegebenen systematischen Ordnung der Welt und ihrer Erscheinungen degradieren. (Knopf 1973a, 16, vgl. 149)

Die unterschiedlichen Urteile von Rohner und Knopf zum Beispielhaften der Kalendergeschichten beruhen auf derselben unzulänglichen These, dass Beispiele ausschließlich illustrativ sein könnten. Indizien dafür sind die Verben ‚voraussetzen‘ bzw. ‚vorgeben‘, denen zufolge Beispiele dazu da seien, Theorien zu veranschaulichen; methodisch lässt sich von Deduktion sprechen. Doch Beispiele sind keineswegs nur dazu da, um Regeln evident zu machen. Mir geht es im Folgenden vor allem darum, Beispiele als Beispiele ernster zu nehmen, ohne mögliche Verallgemeinerungen zu scheuen. Als grundlegend für eine ‚Epistemologie des Beispiels‘ sehen Willer, Ruchatz und Pethes den „problematischen […] Wechselbezug zwischen dem jeweiligen Einzelfall und dem Allgemeinen, das als Übergeordnetes oder Umgebendes des Einzelfalls aufgefasst wird.“ (2007, 8) Dieser Wechselbezug lasse sich nach vier Funktionen systematisieren, einer rhetorischen, einer wissensabbildenden, einer wissensbildenden und einer normativen (vgl. 2007, 8). Wie problematisch die Relation zwischen Besonderem und Allgemeinen sei, offenbare bereits der „kanonische[] Ausgangspunkt“ (2007, 11) jeglicher Beschäftigung mit dem rhetorischen Beispiel, nämlich die einschlägigen Reflexionen des Aristoteles. Zu Beginn seiner Rhetorik stellt dieser heraus, dass Enthymem und Beispiel (epagôgê) diejenigen Möglichkeiten darstellen, „die Überzeugung auf dem Wege des Beweisens […] zu bewirken“; Ersteres wird von ihm als „rhetorische Deduktion“, Letzteres als „rhetorische Induktion“ (Aristoteles 2002, 158; vgl. Aristoteles 2018, 1356a35) definiert. Unter Deduktion ist eine Methode zu verstehen, „die einen zu beweisenden bzw. zu erklärenden Satz auf Prämissen zurückführt, die wahr […], ursprünglich […], unvermittelt […] und im Verhältnis zur Konklusion (dem zu erklärenden Satz) bekannter […], vorrangig […] und ursächlich […] sind.“ (Aristoteles 2002, 57; vgl. Aristoteles I 1, 100a18) Das heißt: Spezielle Erkenntnisse werden aus allgemeinen Theorien gewonnen. Im Unterschied dazu besteht die Induktion darin, „dass man von der vergleichenden Betrachtung mehrerer Einzelfälle zu demjenigen Allgemeinen übergeht, unter das alle betrachteten Einzelfälle subsumiert werden können; es handelt sich also um einen Schluss vom Einzelnen aufs Allgemeine.“ (Aristoteles 2002, 161; vgl. Aristoteles 2004, I 12, 105a13 – 16) Allerdings kann die „säuberliche Zweiteilung“ (Willer, Ruchatz und Pethes 2007, 11), Deduktion versus Induktion bzw. Enthymem versus Beispiel, zumindest für die Rhetorik, nicht aufrechterhalten werden. Denn wenig später definiert Aristoteles ein Beispiel, nun parádeigma genannt, wie folgt: „Es verhält sich aber weder wie ein Teil zum Ganzen noch wie das Ganze zu einem Teil oder das Ganze zum Ganzen, sondern wie ein Teil zu einem Teil, Ähnliches zu Ähnlichem: wenn beides unter eine

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Gattung fällt, das eine aber bekannter ist als das andere, liegt ein Beispiel vor.“ (Aristoteles 2018, 1357b25 – 30) Überwiegend wird diese Definition als Kombination von Induktion und Deduktion verstanden: Zunächst gelangt man von einem bekannten Besonderen zu einem impliziten Allgemeinen, der Gattung, anschließend wird von diesem Allgemeinen erneut auf ein anderes, weniger bekanntes Besonderes geschlossen (vgl. Ramharter 2008, 29 – 30; Rapp 2021, 330). Für Peter Moos kommt in dieser Interpretation das parádeigma einer „verkappte[n] umgekehrte[n] Deduktion“ (1988, 38) gleich; für ihn hingegen macht der pragmatische Vergleich des Besonderen mit dem Besonderen als dem Nicht-Systematisierbaren […] seit der Antike die eigene antirationalistisch-antiszientistische Bedeutung des Exemplums aus. Nicht die „Weisheit“ der Theorie, sondern die „Klugheit“ der Praxis ist der eigentliche „Nutzen“ von Exempla, und er ist umso höher, je konkreter „der Mensch in seinem Widerspruch“ dabei sichtbar wird. […] Exempla [wollen] zuerst nur „klug für ein andermal“ und erst dann – vielleicht – auch noch weise für immer machen. (Moos 1988, 38 – 39)

Während in der einen Lesart das parádeigma letztendlich doch wieder unter ein Allgemeines subsumiert wird, fokussiert die andere stärker die Relationen zwischen Teil und Teil und erkennt tendenziell eine „lose Beziehung“ (Willer, Ruchatz und Pethes 2007, 13) zwischen Teil und Ganzem. Damit wird zugleich das „Ausmaß an Kontingenz und Ambivalenz“ (13) stärker gewichtet. Auch in ihren Erläuterungen zum wissensabbildenden (deduktiven) und wissensbildenden (induktiven) Beispiel stellen Willer, Ruchatz und Pethes den Wechselbezug von Besonderem und Allgemeinem verschiedentlich infrage, ohne ihn zu suspendieren. Das zuletzt thematisierte normative Beispiel weiche von den beiden zuvor skizzierten ab, weil es nicht auf „deskriptive“, sondern auf „präskriptive“ Regeln (42) ziele, ihm wohne eine „Handlungsorientierung“ (40) sowie ein „Appellcharakter“ (43) inne. Eine solche „Erziehung durch Beispiele“ ziele auf die „Nachahmung“ (43) vorbildlichen Verhaltens oder Taten, ohne aber zwingenderweise „Allgemeinverbindlichkeit“ (52) anzustreben. Auch in Bezug auf das normative Beispiel sprechen sich Willer, Ruchatz und Pethes für eine ‚lose‘ Verbindung zwischen Besonderem und Allgemeinen aus und fokussieren zugleich statt einer deduktiven, vom Allgemeinen ausgehenden, bzw. einer induktiven, auf allgemeinverbindliche Regeln hinsteuernden Beweisführung Ähnlichkeiten zwischen Besonderheiten. Dadurch rücke das Beispiel aus dem Bereich der inventio stärker in den Bereich der elocutio, genauer: den der Metapher (vgl. 15). Durch diese Verrückung, die in der rhetorischen Tradition, etwa bei Quintilian, zwar skeptisch gesehen, aber nicht geleugnet werde, zeige sich einmal mehr, dass der Bezug eines Besonderen auf ein Allgemeines „rhetorisch nicht notwendig ist und daher ausgeklammert werden oder latent bleiben kann.“ (17) Genau deshalb biete sich

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eine „vergleichstheoretische Deutung“ des Allgemeinen an, „nämlich als tertium comparationis: als jenes Dritte, das in der Metapher programmatisch ungesagt bleibt“ (17). Für die Untersuchung von Brechts Kalendergeschichten scheint mir insbesondere die Applikation der rhetorischen Engführung von Beispiel und Metapher auf „die Engführung von Metapher und Paradigma“ (19) bei Roman Jakobson von Interesse zu sein: Jakobsons Verhältnisbestimmung von Metonymie und Metapher führt diese beiden Tropen, verstanden als die zwei polar entgegengesetzten Aspekte der Sprache, auf die Saussuresche Grundunterscheidung zwischen Kombination und Selektion sprachlicher Zeichen zurück, also zwischen der syntagmatischen und der paradigmatischen ‚Achse‘ der Zeichenverknüpfung. Wenngleich man diese Polarisierung von zwei (und nur zwei) Haupttropen als Extremform einer „restringierten Rhetorik“ kritisieren kann, ist doch unverkennbar, dass sich in der Art, wie Jakobson die Funktionsweise des Paradigmatischen beschreibt, das ‚Nebeneinander der Ähnlichkeiten‘ im Sinne des rhetorischen parádeigma wiederfindet: Die Auswahl zwischen Zeichen, die in paradigmatischer Beziehung zueinander stehen, wird als „Similaritätsoperation“ aufgefasst, mittels deren „eine Möglichkeit für eine andere, welche der ersten in einer Hinsicht gleichwertig und in einer anderen Hinsicht ungleichwertig ist, eingesetzt werden kann“. (19)⁴

Auf der Basis der Ausführungen von Willer, Ruchatz und Pethes zum ‚Nebeneinander von Ähnlichkeiten‘ möchte ich meine These zu Brechts Kalendergeschichten wie folgt präzisieren: Diese Beispielsammlung ist als eine normative in diesem abgeschwächten, metaphorischen Sinne zu verstehen. Um diese These zu plausibilisieren, werde ich im Folgenden die paradigmatische Achse in den Vordergrund stellen und mich auf wenige zentrale Ähnlichkeiten zwischen ausgewählten Beispielgeschichten sowie -gedichten konzentrieren. Abstand nehmen werde ich von einer deduktiven Argumentation, die von einem Allgemeinen ausgeht, etwa einem Formprinzip (z. B. der Steigerung hin zum Einfachen) oder einer theoretischen Äußerung (z. B. Brechts programmatischem historisch-materialistischem Geschichtskonzept [vgl. Knopf 1983, 275] bzw. dem utopischen Fluchtpunkt eines sozialistischen Gesellschaftskonzepts [vgl. Renz 1998, 859]) oder einer Handlungsmaxime/einem Handlungsappell, um einzelne Kalendergeschichten darunter zu subsumieren. Der Fokus auf Ähnlichkeiten setzt sich aber auch von einer induktiven Argumentation ab, die von der vergleichenden Betrachtung der Kalendergeschichten zu einem Allgemeinen übergeht, unter das diese subsumiert werden können. Den Fokus auf das Nebeneinander von Ähnlichkeiten zu richten, heißt nicht, sich Verallgemeinerungen prinzipiell zu ver-

 Willer, Ruchatz und Pethes beziehen sich in diesem Zitat auf Jakobsons Artikel Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik (1971).

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weigern – Brechts Kalendergeschichten sind nun einmal eine Beispielsammlung. Es heißt, von einer eher ‚losen Beziehung‘ zwischen einer Kalendergeschichte und einer anderen auszugehen, das Tertium Comparationis zwischen den beiden und möglicherweise weiteren als ein gemeinsames, übergeordnetes Merkmal anzunehmen, ohne mögliche Ambivalenzen und Kontingenzen zu ignorieren.

3 Wissens- und Weisheitsproduktionen In Der Augsburger Kreidekreis muss der Richter Ignaz Dollinger über folgenden „sonderbare[n] Fall“ (GBA, 350) urteilen: Ein Kind soll entweder der leiblichen Mutter zugesprochen werden oder der Magd Anna, die sich widrigen Umständen zum Trotz um es gekümmert hat. Das Problem wird mit Hilfe einer „Probe“ (GBA, 353) entschieden: Dollinger lässt in die Mitte des Gerichtssaals einen Kreis zeichnen, in den sich das Kind ebenso wie die Mutter und die Magd stellen müssen. Den beiden Frauen wird befohlen, nach einer Hand des Kindes zu greifen und zu versuchen, es aus dem Kreis zu ziehen. „Die von euch die stärkere Liebe hat“, sagt der Richter, „wird auch mit der größeren Kraft ziehen und so das Kind auf ihre Seite ziehen.“ (GBA, 353) Die Mutter handelt, wie ihr von Dollinger geheißen wird, die Magd aber lässt die Hand sofort los, aus „Furcht, es könne Schaden erleiden“ (GBA, 354). Die Probe – oder, so zwei Synonyme, der Versuch oder das Experiment – lässt Dollinger das folgende Urteil fällen: „Und somit wissen wir“, sagte er laut, „wer die rechte Mutter ist. Nehmt der Schlampe das Kind weg. Sie würde es kalten Herzens in Stücke reißen.“ (GBA, 354) Dieser Schiedsspruch lässt erkennen, dass der Richter folgende Prognose antizipierte: Die ‚kaltherzige‘ Mutter wird im Versuch der Aufforderung Dollingers rücksichtslos Folge leisten, während sich die ‚warmherzige‘ Magd dieser widersetzen wird. Die Prognose wird also durch das soziale Experiment verifiziert, zugleich erlauben Vorhersage und Versuch, den Richter als Vorbild einer gerechten Rechtsprechung zu identifizieren und somit die Beispielerzählung eine normative zu nennen. Auf die Frage, inwiefern sein besonderes Handeln allerdings einen Appell zur Nachahmung impliziert,⁵ gibt Der Augsburger Kreidekreis eine indi-

 Andere Angebote für eine Verallgemeinerung liefert die Kalendergeschichte eher nicht, weder in der Hinsicht, dass die ‚rechte Mutter‘ Anna „als Fürsprecherin[] einer besseren Zukunft“ fungiert – „wie so oft bei Brecht“ (Ignasiak 1982, 210) –, noch in der, dass die Nichtanerkennung der Blutsverwandtschaft in diesem einen juristischen Fall eine allgemeine Kritik am nationalsozialistischen „Blut- und Bodenkult“ (Knopf 1973b, 106) impliziere. Knopfs Generalisierung scheint mir vor allem seinem Bestreben geschuldet zu sein, die eigene These von den Kalenderge-

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rekte Antwort: Der seltsame Fall belegt die zuvor erfolgte Charakterisierung Dollingers als gelehrt (vgl. GBA, 349) und weise (vgl. GBA, 350, 352). Weisheit ergebe sich, so Alois Hahn, u. a. aus „der fehlenden Kongruenz von Wissen und Situation.“ (Hahn 1991, 50) Daher könne, wer – wie der Richter – in der Lage sei, Wissen kreativ auf eine besondere Situation, die sich stets „begrifflicher Generalität“ (50) entziehe, anzuwenden, weise genannt werden. Darüber hinaus gehe es einer solchen kreativen Anwendung nicht um „‚utilitaristische‘ Lösungen“ (51), sondern um ethisch richtige: Bei der Weisheit handelt es sich aber darum, daß die eigentümliche Dialektik des Wissens aufgehoben scheint, die darin besteht, daß es einerseits eine Funktion der Lebensbewältigung ist, andererseits aber, als entfesseltes und grenzenloses, auch in Gegensatz zu Religion, Gesittung und Sinnerfüllung des Lebens, ja zu diesem selbst, treten kann. Weisheit ist insofern die ‚Entschärfung‘ des Wissens.“ (51– 52)

Die ‚ethisch richtigen‘ Lösungen oder Urteile Ignaz Dollingers sind allerdings – hier geht Der Augsburger Kreidekreis über die soziologischen Überlegungen Hahns hinaus – solche, die vom niederen Volk, nicht aber von der Obrigkeit goutiert werden (vgl. GBA, 349). Doch – und das scheint mir wichtig für Brechts Text zu sein – die Weisheit des Richters wird dem Volk kaum verständlich gemacht – es kann sich über das Urteil des Richters zwar freuen, aber da Dollinger seinen Richtspruch nur mit wenigen Worten erläutert, können die damit verbundenen Hintergründe nur schwer nachvollzogen und daher auch nur schwer nachgeahmt werden. Mit der Zeit selbst Weisheit zu erlangen, das ist dem Volk nicht möglich. Dollinger ist eben Richter, aber kein Lehrer. In der Kalendergeschichte Der Augsburger Kreidekreis wird also prognostiziertes Wissen mithilfe eines Experiments verifiziert und darüber hinaus dieses Wissen sowie die daraus folgende Handlung dahingehend verallgemeinert, dass es als ‚weise‘ deklariert wird. Doch fällt auf, dass nicht versucht wird, diese Weisheit in Form einer Lehre zu vermitteln. Der Frage, ob überhaupt und inwiefern diese Interpretation auf andere Geschichten oder Gedichte applizierbar ist, möchte ich anhand der Erzählung Das Experiment nachgehen, deren Titel zumindest auf eine Nähe zu den bisherigen Überlegungen hindeutet. Bei dem titelgebenden Versuch handelt es sich um einen naturwissenschaftlichen: Ein totes Huhn wird mit Eis ausgestopft, um zu prüfen, ob es auf diese Weise wochenlang genießbar bleibt. Die Forschenden sind ein „Lehrer“ (GBA, 366), Francis Bacon, und sein Schüler, ein „Stalljunge“ (GBA, 362). Schon von daher liegt es nahe, von

schichten-Paaren, in diesem Fall Der Augsburger Kreidekreis und Ballade von der Judenhure Marie Sanders, belegen zu wollen.

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einem normativen Beispiel zu sprechen, in dem anschauliche Handlungen eines Vorbilds zur Nachahmung führen (vgl. Willer, Ruchatz und Pethes 2007, 46). Genau dies geschieht in Das Experiment, und zwar mittels einer empirischen Methode: Bacon redet zwar auch mit dem Schüler über seine Forschungen (vgl. GBA, 363), ebenso weiß dieser, dass er, um seine Neugierde zu stillen, lesen lernen muss (vgl. GBA, 364– 365), aber die „Hauptübung für den Jungen bestand darin, dass er die Dinge, die er sah, und die Prozesse, die er miterlebte, zu beschreiben hatte“ (GBA, 363). Dieser ist dadurch in der Lage, das allgemeine Ziel der Übungen zu erfassen (vgl. Neureuter 2011, 86): Er verstand den Philosophen so: Eine neue Zeit war für die Welt angebrochen. Die Menschheit vermehrte ihr Wissen beinahe täglich. Und alles Wissen galt der Steigerung des Wohlbefindens und des irdischen Glücks. Die Führung hatte die Wissenschaft. Die Wissenschaft durchforschte das Universum, alles, was es auf Erden gab, Pflanzen, Tiere, Boden, Wasser, Luft, damit mehr Nutzen daraus gezogen werden konnte. Nicht was man glaubte, war wichtig, sondern was man wußte. Man glaubte viel zuviel und wußte viel zuwenig. Darum mußte man ausprobieren, selber, mit den Händen, und nur von dem eben, was man mit eigenen Augen sah und was Nutzen haben konnte. (GBA, 364)

Die Lehr-/Lernprozesse erweisen sich als erfolgreich. Bacon stirbt zwar an den Folgen des Experiments mit dem Huhn, der Stalljunge jedoch bleibt dem Appell des Lehrers auch über dessen Tod hinaus treu und beschließt gegen Ende der Erzählung, das Experiment fortzuführen: „In der Hütte setzte er sich neben das Huhn, auf das er erwartungsvoll herabschaute. Er würde es in einem Topf mit Wasser kochen und einen Flügel essen. Dann würde er sehen, ob es giftig war oder nicht.“ (GBA, 372). Die Realisierung des Versuchs und die Folgen für den Schüler werden in der Kalendergeschichte nicht geschildert. Der Schluss greift stattdessen den Anfang der Erzählung auf, der nicht den Wissenschaftler, sondern den Politiker Bacon charakterisiert. „Die Jahre seiner Lordkanzlerschaft“, heißt es im ersten Absatz, „rechnen mit all den Exekutionen, Vergebungen schädlicher Monopole, Verhängungen ungesetzlicher Verhaftungen und Fällungen diktierter Urteilssprüche zu den dunkelsten und schändlichsten der englischen Geschichte.“ (GBA, 362). Der letzte Satz greift dieses vernichtende Urteil über einen verbrecherischen Politiker auf; Bacon habe „nicht wenige seiner Zeitgenossen mit Abscheu erfüllt“ (GBA, 372), und auch wenn abschließend seine wissenschaftliche Leistung noch einmal gewürdigt wird, rückt die Forschung des Lehrers, die das Wohlbefinden und das irdische Glück ja eigentlich steigern sollte, durch diese Rahmung ins Zwielicht.⁶ Irritiert wird dadurch auch dessen Vorbildfunktion, denn

 Für Neureuter hingegen klingt der Schluss „fast versöhnlich“ (2011, 87). Jürgen Jacobs geht

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Bacons naturwissenschaftliches Wissen und Handeln zielt zwar auf eine bessere Lebensbewältigung ab; zugleich jedoch deuten Anfang und Schluss an, dass der Lehrer sein Wissen auch anderes eingesetzt hat, auch anders handeln kann: nicht zum, sondern gegen das Wohl der Menschen. Seine Forschung – und damit voraussichtlich auch die seines Schülers – ist daher von jener eigentümlichen ‚Dialektik der Aufklärung‘ gekennzeichnet, der Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer gleichnamigen Studie nachgegangen sind. Daher lässt sich Das Experiment nur bedingt unter den allgemeinen Gesichtspunkt subsumieren, dass darin „aus dem naturwissenschaftlichen experimentierfreudigen Geiste der frühen Neuzeit überlieferte Ordnungs- und Weltvorstellungen kritisch in Frage“ (Müller 1980, 311) gestellt würden. Ebenso wenig kann ich darin eine Geschichte über den „wissenschaftlichen Fortschritt“ erkennen, die Brechts „grundoptimistische Einstellung gegenüber des Verlaufs [sic!] der Geschichte“ (Kratzmeier 2010, 174; vgl. Hasselbach und Hasselbach 1990, 39) offenbare. Wird in Der Augsburger Kreidekreis prognostiziertes Wissen durch ein soziales Experiment bestätigt, aber nicht von Lehr-/Lernprozessen begleitet, so finden Letztere in Das Experiment durchaus statt. In der ersten Kalendergeschichte trägt das Experiment vor allem dazu bei, den Richter als weise Figur auszuzeichnen; in der anderen ist es Zeichen eines Wissens, das, wie oben zitiert, auf lange Sicht menschlichen Wohlstand bewirken soll. Diese Qualität wird allerdings durch den Politiker Francis Bacon, der dieses Wissen produziert, in Zweifel gezogen, hat dieser doch in seiner Karriere oftmals skrupellos agiert. Wenn also von einer (losen) Beziehung der beiden Geschichten gesprochen werden kann, dann insofern, dass in der einen Wissensproduktion mit ethischem Handeln kombiniert wird, allerdings ohne Vermittlungsanstrengungen, in der anderen möglicherweise aus der Wissensproduktion kein ethisches Handeln resultiert, dieses Wissen aber erfolgreich an den Schüler vermittelt wird. Um Wissensproduktion dreht sich ebenfalls ein drittes Beispiel, das Gedicht Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration. Im Zentrum steht der im Titel erwähnte Lehrer, der im 6. Jahrhundert v.Chr. gelebt haben soll. Aufgrund der im Lande herrschenden „Bosheit“ macht sich der ruhebedürftige „Alte[]“ (GBA, 433) auf den Weg ins Exil, wird aber an der Grenze von einem ärmlich gekleideten Zöllner (vgl. GBA, 434) aufgehalten. Zu verzollen hat Laotse zwar nichts, aber auf eine Aussage des den Lehrer begleitenden Jungen hin – „[e]r hat gelehrt“ –, die wohl dessen Armut erklären soll, wird der Beamte neugierig: „Hat er was rausgekriegt?“ Die Antwort des Knaben lautet:

noch einen Schritt weiter, denn für ihn werden die naturwissenschaftlichen Leistungen Bacons überhaupt „nicht durch moralische Einwände aufgehoben oder beeinträchtigt“ (1969, 247).

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„Daß das weiche Wasser in Bewegung / Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. / Du verstehst, das Harte unterliegt.“ (GBA, 433) Mit diesem einen Lehrsatz gibt sich der Zöllner nicht zufrieden, er will mehr wissen, und zwar deshalb: „Doch wer wen besiegt, das intressiert auch mich.“ (GBA, 434) Der Grenzbeamte verwandelt sich in einen Schüler, der Laotse auffordert, sein gesamtes Wissen zu verschriftlichen. Erst danach kann dieser weiterziehen, wichtiger: Erst dadurch und somit also durch das Eingreifen des Zöllners verwandelt sich Laotse in einen Weisen; vor allem Horst Uwe Neumann hat diese für das Gedicht zentrale Veränderung pointiert herausgestellt: Produktivität ist sozialer Bezug. Seiner bedarf – nach Brechts und nach Meinung der Legende – die Weisheit um ihrer selbst willen. Erst durch die Trennung des Weisen von seiner Weisheit wird die Weisheit sozial und der Weise als Weiser ‚produktiv‘. Darum nennt Brecht den Laotse erst in der elften Strophe ‚weise‘. […] [Weise wird der Lehrer] durch den, der die kostbarste Konterbande konfisziert, die je außer Landes wollte – durch den Anderen, den höflichen Zöllner.“ (Neumann 1970, 71)

Mit der sozialen Komponente von Weisheit, der Angewiesenheit auf einen ‚Anderen‘ als Katalysator, kommt ein neues Moment in meine Interpretation von Wissensproduktionen hinzu. Weder in Der Augsburger Kreidekreis noch in Das Experiment rücken der Schüler, die „plötzlich erwachte Wißbegier des Ungebildeten“, wie Walter Hinck schreibt (1995, 136), so sehr in den Vordergrund. Hinck sieht im Zöllner ein pars pro toto für die „Schicht der Nichtprivilegierten“ (Hinck 1995, 137). Eine solche Verschiebung vom privilegierten Lehrer auf den Schüler aus der Unterschicht verdanke sich dem „Marxismus“ (Hinck 1995, 137), der Brechts Denken und Handeln von Beginn der 1930er Jahre an bestimme. In Hincks „politische[r] Auslegung des Weisheitsspruches“ steht der „Klassen-Antagonismus“ im Zentrum, dem sich die „Vermittlung altchinesischer Weisheit“ (Hinck 1995, 138) unterzuordnen habe. Gegen eine solche „geschichtsphilosophische[]“ Einordnung der „Legende“ wendet sich Heinrich Detering (2008, 7; vgl. 81, 89 – 90), dem zufolge die taoistische Lehre im Gedicht viel präsenter sei, als von Hinck angenommen, und im Widerspruch zum Marxismus stehe. Gegen die induktiven Methoden der beiden Untersuchungen, die von präzisen Textbeobachtungen zu sehr unterschiedlichen allgemeinen Aussagen gelangen, setzt mein ‚Versuch‘ stärker auf die „Funktionsweise des Paradigmatischen“ von Brechts Beispielsammlung, in der sich „das ‚Nebeneinander der Ähnlichkeiten‘ im Sinne des rhetorischen parádeigma wiederfindet.“ (Willer, Ruchatz und Pethes 2007, 19). Die drei behandelten Geschichten stellen durchaus eine gedankliche Bewegung hin zu einer Ähnlichkeit dar, die als eine zunehmende ‚Fluidisierung‘ von Wissen vorgestellt werden kann. Ist der Richter in Der Augsburger Kreidekreis noch

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einziger Wahrer von Wissen, das zwar im ‚Namen des Volkes‘ produziert wird, aber in seiner salomonischen Singularität geradezu monarchischen Charakter hat, wird das Wissen im Falle von Bacon und seinem Schüler zumindest in Ansätzen demokratisiert. Die empirische Produktion von Wissen macht nicht nur die Überprüfung für jedermann möglich, sie macht das Wissen auch lehr- und lernbar. Im Gegensatz zum Richter hat Bacon einen jungen Nachfolger, der auf eigene Faust weiterexperimentieren kann. Gerät hier das Wissen bereits in Bewegung, wird allerdings erst durch die „Legende“ deutlich, wie wichtig diese zweite Instanz des Schülers oder Nachahmers ist. Die Weisheit des Einzelnen geht mit dem Forschenden unter, wenn es nicht weitergegeben wird, mehr noch: Letztlich ist es der Schüler, der durch seinen Wissensdurst Weisheit beim Lehrenden erst hervorzulocken vermag. So wird Wissensproduktion, wie sie in Der Augsburger Kreidekreis und Das Experiment verhandelt wird, um einen wichtigen Aspekt erweitert: den der sozialen Dimension, ohne die Weisheit nicht vermittelt und nicht produktiv werden kann. Dem Tertium Comparationis der kaum oder ansatzweise oder durchaus vorhandenen Vermittlungsfunktion von Wissen lassen sich Beispiele, Das Experiment und Legende, und ein Gegenbeispiel, Der Augsburger Kreidekreis, zuordnen. Darüber hinaus ist das Tertium Comparationis zum einen keineswegs das einzige in den Kalendergeschichten realisierte, sondern nur eine mögliche Verkettung von Geschichten, die keineswegs eine Vorzugsstellung für sich beanspruchen kann. Zum anderen stehen ihm Besonderheiten der jeweiligen Exempla zur Seite, darunter das aus der Weisheit des Richters folgende ethische Handeln, die Dialektik aufklärerischen Wissens bei Bacon und das (Nicht‐)Vorhandensein von Wissen in unterschiedlichen sozialen Schichten, das in allen drei Erzählungen auf unterschiedliche Weise thematisiert wird. Diese Aspekte ergänzen das Tertium Comparationis, eröffnen zusätzliche Deutungsaspekte sowie weitere Verkettungsmöglichkeiten und erzeugen so Mehrdeutigkeit. Mit dem Ausblick auf eine Keuner-Geschichte komme ich zum Schluss meiner Überlegungen. Für Hahn pflegt die „Tradierung von Weisheit […] auf eine Habitualisierung, ja Verkörperlichung ihrer Inhalte“ (1991, 52) abzuzielen. Sowohl Dollinger als auch Bacon sind alt (vgl. z. B. GBA, 349, 350, 352, 362 und 364), doch während die runde ‚Fleischlichkeit‘ (vgl. GBA, 349, 350) des Richters und sein selbstbewusster Auftritt im Gerichtssaal – er sitzt, ohne einen Tisch vor sich, auf dem Boden (vgl. GBA, 350) – für einen „durch lebenslange Selbstgestaltung“ (Hahn 1991, 52) gelassenen, in sich ruhenden Charakter spricht, ist der Körper Bacons „gebrechlich“ (GBA, 366) und „geschwächt durch die Anstrengungen, die es ihn gekostet hatte, andere zu Fall zu bringen“ (GBA, 362). Das Experiment mit dem Huhn „erschöpft“ (GBA, 366) ihn sehr und führt zu einer tödlichen Krankheit. Hinsichtlich ihrer Haltung erweisen sich Dollinger und Bacon als Gegen-

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beispiele; sie bestätigt die Weisheit des einen und unterstützt die These, dass der andere nur bedingt eine Vorbildfunktion erfüllen kann, ist doch der Körper des Forschenden von seinem verbrecherischen Leben gezeichnet. Ausgehend von diesem Tertium Comparationis lässt sich ein weiteres Beispiel aus Brechts Sammlung heranziehen, nämlich die Keuner-Geschichte Weise am Weisen ist die Haltung. Ein Lehrer, genauer: ein „Philosophieprofessor“ (GBA, 439), erzählt Herr Keuner von seiner Weisheit. Dieser jedoch vermag keine zu erkennen, eben weil beim Lehrer die Haltung fehlt, „der die Weisheit sichtbar werden läßt“ (Wöhrle 1989, 46): „Sehend deine Haltung, interessiert mich dein Ziel nicht.“ (GBA, 440) Dass diese Haltung auch an ein Ethos geknüpft ist, lässt sich der Lichtmetaphorik eines weiteren Satzes entnehmen: „Du redest dunkel, und es ist keine Helle, die du während des Reden schaffst.“ (GBA, 440) Der Professor produziert ‚bloßes‘ Wissen, weise ist er deshalb aber ebenso wenig wie Bacon, weil sich diese Qualität durch eine Haltung des Denkens, aber auch des Körpers – Herr Keuner sieht den Lehrenden „täppisch“ (vgl. GBA, 440) gehen – zu erkennen gibt. Haltung zu zeigen, heißt auch, „sich immer wieder und stets aufs Neue in der konkreten Situation zu bewähren“ (Wöhrle 1989, 46), in den Worten von Hahn: In der weisen Haltung zeigt sich „die Stimmigkeit von Situation und Wissen“ (Hahn 1991, 51). Zu einer solchen ist Dollinger fähig, Bacon eher nicht, der Philosophieprofessor auf keinen Fall. Diese Ähnlichkeit ergänzt und erweitert die zuvor zumindest ansatzweise erfolgte paradigmatische Interpretation von wenigen Texten in Brechts Sammlung. Die Kalendergeschichten im Hinblick auf eine Epistemologie der Exemplarität zu untersuchen, heißt, sie als eine stärker ambivalente zu präsentieren, als eine von Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten, von besonderen Nuancen und sich ergänzenden Facetten durchzogene. Die so produzierte Mehrdeutigkeit in der Exempelsammlung konnte, so ist zu hoffen, bei Leser/-innen im Nachkriegsdeutschland und kann vielleicht auch heute noch „für eine kritische und fragende Haltung“ (Hinck 1978, 107) sorgen, die – gemäß Brechts Versen aus Lob der Dialektik: „Das Sichere ist nicht sicher. So, wie es ist, bleibt es nicht“ (1988, 238) – das Wissen des Textes ebenso wie das eigene immer wieder aufs Neue in Bewegung zu versetzen vermag.

Literatur Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Hg. Hellmut Flashar. Bd. 4: Rhetorik. Zweiter Halbband: Kommentar von Christof Rapp. Berlin: Akademie, 2002. Aristoteles. Rhetorik. Hg. Gernot Krapinger. Stuttgart: Reclam, 2018.

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Kalendergeschichten? Kurzprosa und Kolumnen von Adelheid Duvanel

Selten geschieht es, dass das Personal einer großen Buchhandlungskette das bestellte Produkt bei der Abholung kommentiert. „Ich lese jeden Tag eine Geschichte daraus“, sagt mir die Verkäuferin in einer hektischen Bahnhofsfiliale bei der Übergabe der soeben erschienenen, aber bereits in dritter Auflage laufenden Sämtlichen Erzählungen von Adelheid Duvanel im Spätfrühling 2021, fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod der Basler Autorin im Alter von 60 Jahren. Angenommen, die Leserin habe am 1. Mai mit der ersten Geschichte à zwei Buchseiten, betitelt Der Dichter, begonnen: „Jeden Tag spaziere ich mit meiner Hündin, die auf die genau gleiche Weise hinkt wie ich (ich bin mir des lächerlichen Anblicks bewusst), durch das Vorstadtquartier“, heißt es darin (9).¹ Einer wiederholten Struktur der Erzählungen folgend, wird auf der Folie solcher Alltäglichkeit („jeden Tag“) erzählt, wie es eines Tages auf diesem Spaziergang „geschah […], dass ich zum Dichter wurde“ angesichts des von Kinderfingern auf eine frostige Kühlerhaube geschriebenen Wortes „ZORN“² und wie seither Dichteralltag bzw. Dichterallnacht aussieht: Ich schreibe nun Tag und Nacht Wörter, male mit ihrem Klang die Fluten des Himmels, die einen tollwütigen Fisch vor mein Fenster treiben; ich baue Türme und Brücken, lasse die Sonne mit blitzendem Besen die Schatten aus den Schluchten kehren und schüttle den Kopf, wenn der Wind, den ich beschreibe, wie ein Vagabund in einem Winkel alte Zeitungen liest; hastig, mit lachhafter Neugier, blättert er um. (9)

Wenn die Buchverkäuferin weder am ersten Tag nach diesem flatternden Schlussbild wie der Wind weitergeblättert noch bei der tagtäglichen Lektüre Sonn- oder Feiertage eingelegt hat, dann sollte der Geschichtenschatz bis zum 5. Januar 2022 vorgehalten haben. Weil die meist sehr kurzen Geschichten im

 Alle Angaben nur mit Seitenzahl nach meinem Berner Bahnhofsladenexemplar der schönen neuen Duvanel-Ausgabe Sämtlicher Erzählungen, erarbeitet in Basel, verlegt in Zürich (vgl. Literatur).  Zumal im Jahr 1978, als Duvanels Text im Basler Magazin erstmals veröffentlicht wurde, lesbar als Anspielung auf Fritz Zorn, der eigentlich Angst hieß und mit seinem wütenden Krebsbuch Mars (postum 1977) der Jugendbewegung der 1980er Jahre nicht nur in der Schweiz ein Kultbuch liefern sollte. https://doi.org/10.1515/9783110773750-009

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berückenden Figuren- und Bilderreigen Duvanels nach zweihundertfünfzig³ Stück und Tagen eine Wiederkehr verlangen, dürfte sie sinnigerweise am Dreikönigstag, dem alten Hochneujahr in alemannischen Gegenden, wieder von vorn begonnen und ihren selbstgekürten zum immerwährenden Literaturkalender gemacht haben. Seither lebt und liest sie mit Agenda und Literatur stets nach zwei verschiedenen Jahreskalendern. (Wenn sie der Reihe nach liest – statt, die andere Grundvariante kalendarischer Lektüretechnik anwendend, mit einer Nadel als Zufallskompass ins Buch zu stechen –, wie beides in der Geschichte namentlich mit der Bibel und erbaulichen Schatzkästlein gerne getan worden ist [unter Schweiz-Fokus vgl. Brückner 2011, 66 – 87], dann steht übrigens der feierliche 16. November 2022 ausgerechnet im Zeichen von Fenstergeschichte [211– 213], die dem Basler Kalendergeschichten-Aficionado [Honold 2013, 105 – 126] daher besonders empfohlen sei.) Nebst solchen Spekulationen stiftet die wahre Begebenheit im Buchladen dazu an, das Genre des Kalenders entgegen den Schulbuchdefinitionen eher als Lese- denn als Schreibweise, eher als Rezeptionspraktik denn als Produktmerkmal zu verstehen. Ist doch sogar ein Abreißkalender keiner ohne praktizierende Abreißer, die umgekehrt selbst einen Roman durch zerstörerische Gleichbehandlung der Tagesration Leseseiten zu einem solchen Kalender werden lassen könnten. Auf andere Weise zur gleichen Perspektive regen die in letzter (Pandemie‐)Zeit florierenden Lektüretagebücher von Wissenschaftlern an, die ihren täglichen Stoff, etwa Hegels Logik durch das Exerzitium des allmorgendlichen Studiums während eines halben Jahres, zu einer Art Kalender machen (z. B. Eiden-Offe 2020; Schäfer 2021). Doch in diesem Fall ist die Verkäuferin-Leserin bei aller Selbstermächtigung – und Tod der Autorin hin oder her – nicht völlig auf sich allein gestellt. Ihre EinText-pro-Tag-Lesart hat nur schon wegen der perfekt rationierbaren Kürze der Texte kein zufälliges Buch getroffen, das in den zahlreichen enthusiastischen Besprechungen als „eine Art Lebensbegleiter“ bezeichnet worden ist (Ö1-Buch des Monats Oktober 2021). Deshalb möchte ich die Begebenheit zum Anlass nehmen, nach dem Kalendarischen und konkret nach der Kalendergeschichte bei Adelheid Duvanel zu fragen. Während bei ihrer Kurz- oder ‚Mikroprosa‘ (z. B. Jagfeld 2009, 8) diesbezüglich zumindest auf den ersten Blick vor allem Aversionen ins Auge stechen (Abschnitt 1), ist mit dem Stichwort der Zeitung aus der ersten Geschichte

 Zwar ist überall zu lesen, es seien zweihunderteinundfünfzig, und bei derartigen Texten gilt, je mehr, desto besser. Aber die Philisterin kann noch so oft zählen, sie kommt auf zweihundertfünfzig Erzählungen – plus drei Auftaktgedichte (die im Inhaltsverzeichnis nicht auftauchen: 482, 530, 575).

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eine Spur gelegt zu einem – in aller Öffentlichkeit gut versteckten – Schreibbereich von Affinitäten zum Kalendarischen: Duvanels Kolumnen (Abschnitt 2).

1 Der Abreißkalender hat einen markanten Auftritt in Ubuh (616 – 619). Die Geschichte, erstmals am 28. Oktober 1962 in den Basler Nachrichten unter dem monatskalendarischen Pseudonym Judith Januar erschienen (wie viele von Duvanels Texten der 1960er Jahre), handelt von einem unehelichen „dunkelhäutigen Knaben“ (616), dem seit der Heirat seiner Mutter Golub mit Gerold „das Gefühl, daheim zu sein, wie ein Mantel von den Schultern geglitten“ (618) war. Zwar „lachte er“ jeweils „laut“, wenn „die Kinder (auch seine Stiefschwester war dabei) ‚Neger!‘ riefen“, denn jederzeit „hätte er Verena ja ‚aschblonde Kicherjungfrau‘ nennen können“, und „[d]iese Möglichkeit machte ihm jeden Tag zum Fest“ (618). Doch an „einem nebligen Abend im November“ (617) – so hat die Buchhandlungsangestellte in ihrem ersten Duvanel-Jahr am 13. Dezember, im zweiten am 20. August gelesen – erwachte in ihm die Sehnsucht nach dem Meer und seinem mutmaßlichen Kapitänsvater. Als er sich auf den Weg machte, fühlte er sich „[p]lötzlich […] am Arm gefasst“ (619). Es war Golub, die wissen wollte, „ob es ihm denn bei ihr nicht mehr gefalle“, und „flüsterte, sie habe heute Apfelmus gekocht“. Kein Aufbruch zum Schluss: „Sie zerrte ihn mit sich. Er weinte ein wenig und fand Apfelmus, das er freilich gut mochte, einen schäbigen Ersatz für die Auffindung des Kapitäns, seines Vaters.“ (619) Zum „tüchtige[n] Hausmütterchen“ Golub gehört nun neben dem Apfelmus ebenso die Liebe zu „Sprichwörter[n], die sie ihres schlechten Gedächtnisses wegen nicht behalten konnte, die sie aber jeden Tag auf dem Abreißkalender las“. Der Abreißkalender, assoziiert mit dem Aufbruchsehnsucht weckenden Alltag und sprichwörtlichen Allgemeinplätzen, kommt schlecht weg: „Es schien ihr viel daran gelegen, die so widersprüchliche Welt reduziert und zusammengefasst in klaren, wackeren Sätzchen zu sehen.“ (617) Abgesehen vom unterschwelligen Akzent auf dem Kalendarischen wiederum als Wahrnehmungsweise sind das – bei Duvanel selten – klar wertende Worte der Erzählstimme. Sie setzt zudem das generell häufige Diminutiv,⁴ für das gerade auch der ‚Kalendermann‘ Johann Peter Hebel ein Ohr hatte (Hebel 1999, z. B. 228, 229 und 269), hier besonders ironisch  Beispielsweise 217, 486, 511, 610 und 614– 619 etc.; Dickerchen (205), Häslein in der Grube (275), In einem Schächtelchen (292), Operatiönchen (486), Wiborada und das Wildschweinchen (610), Wie ein Tröpfchen Tinte (729) sowie Seppli der zehnjährigen Adelheid (Schweizerisches Literaturarchiv, Sign. A–1–d–1).

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ein, als wollte sie jeden Verdacht im Keim ersticken, dieses „Gschichtli“⁵ selbst könnte sich mit der Verkleinerungsform an die kleine Form jener „wackeren“ Kalender-„Sätzchen“ anlehnen. Zum Kontrast (genauer: zum Vergleich) ließen sich nicht nur die das Genre im 20. Jahrhundert frei abwandelnden, aber deklariertermaßen weiterschreibenden Kalendergeschichten heranziehen, etwa diejenigen von Oskar Maria Graf (1929), Bertolt Brecht (1949) oder der Schulzenhofer Kramkalender (1966) von Erwin Strittmatter. Eine ausdrückliche Anknüpfung beim Abreißkalender und, mehr noch, bei Hebels Kalendergeschichten findet sich insbesondere in Durs Grünbeins Reflexionen im Turnus von Das erste Jahr (2001) des dritten Jahrtausends (vgl. Honold 2013, 122). Dort heißt es in der Nacherzählung von Unverhofftes Wiedersehen, während „die Sehnsucht nach dem Niegelebten“ die Braut „an die Fensterbank fesselt, ziehen in der Ferne die Züge des äußeren Lebens mit seinen Kleinund Großereignissen vorbei wie die Sprüche auf einem Abreißkalender“ (Grünbein 2001, 7). Dabei klingt der gleichmacherische Zug von Kalendersprüchen ebenfalls an, der in Ubuh auf die Zeitwahrnehmung selbst zugespitzt erscheint: Während Ehemann Gerold immerhin im Wechsel von Alltag bzw. Arbeitstag und Frei- bzw. (projektierter) Ferienzeit lebt, indem er von „Montag bis Freitag […] die Zeit auf der Schreibmaschine tot[tippt], so wie man Fliegen zerdrückt“, nach „Feierabend“ aber „Kuckucksuhren“ verkauft, „um sich einen Wohnwagen zu seinem Automobil anzuschaffen“ (616), ebnet dagegen Golub mit ihrem Kalender alle Welt und Zeit alltäglich ein. Eines Nebelabends versucht Ubuh die Unterbrechung nicht nur solchen Lebens, sondern solcher Zeit. Der poetologischen Aversion gegen eine Reduktion der widersprüchlich-nebligen Besonderheiten der Welt auf die schlüssig-klärende Allgemeinheit von Kalendersprüchlein entspricht bei Duvanel, dass sich die Erzählungen eines ‚Merke!‘ radikal enthalten. Auch wendet sich die Erzählinstanz nie direkt an die Lesenden. Zwar wecken vor allem die Titel der Geschichten, von denen nicht wenige genauso gut beim Hausfreund neben Überschriften wie Untreue schlägt den eigenen Herrn, Der Wegweiser, Böser Markt oder Teures Späßlein (Hebel 1999 [1811], 136, 197 und 269) stehen könnten, immer wieder die Hoffnung auf ein modernes – weibliches? – Pendant zum Erzähler als einem „Mann, der dem Hörer Rat weiß“ (obgleich dieser Rat nicht immer hilft und der Kalendermann eindeutige Resultate wie einseitige

 Gegen dieses offenbar von ihrem Vater verwendete Etikett schreibt Duvanel später einmal in der Begleitkarte zur Übersendung einer „der vielen guten Kritiken, die ich hatte“, an ihre Eltern: „Ich würde nicht wochenlang an einem Text von einer Schreibmaschinenseite feilen, wenn ich nur ‚Gschichtli‘ schriebe.“ (Karte vom 27. Oktober 1985, abgedruckt bei Krayfuss 1998, 15)

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Botschaften vermeidet).⁶ Das gilt etwa für Duvanels Der Sieche will in der Sauberkeit liegen (429), Vom Recht, lebensuntüchtig zu sein (391– 392), Unmoralische Geschichte (312– 313) oder Der Traum vom großen Geld (424– 425). Doch der allgemeine Satz vom Siechen entpuppt sich in der erfahrungsgesättigten⁷ Geschichte von einer Christina und ihrem „heimlichen, verbissenen Kampf“ darum, die Wohnung, die sie mit ihrem kokainsüchtigen Freund teilt, „nicht verkommen zu lassen“, als besonderer Ausspruch jenes Kranken: „‚Wenn man dahinsiecht, möchte man gern in der Sauberkeit liegen.‘“ (429) Die einzige weitere Verallgemeinerung, ihrerseits keine Äußerung der Erzählstimme, beschließt den knapp zweiseitigen Text und ist nicht einfach aus der Geschichte ableitbar: „Oft verstand Christina ihren Freund nicht, denn er sprach undeutlich, da ihm alle Zähne ausgefallen waren. Christina dachte: ‚Es gibt Menschen, denen man einen weißen Stock in die Hand drückt und sie mitten hinein in die Finsternis stellt.‘“ (430) Ähnlich uninstruiert bleibt man Vom Recht, lebensuntüchtig zu sein. Es ist die Geschichte von Benjamin „mit einem einzigen, leuchtenden Auge“, der „schwarz bei seinen Eltern in einer Alterssiedlung“ wohnte, seine einstige Spielgefährtin Julie liebte und gewissermaßen kalendarisch statt tüchtig lebte: Er erinnerte sich „täglich“ an einen bestimmten, immergleichen Film, las „jeden Tag“ Maigret und schrieb „Tagebuch“ zum Festhalten der Augenblicke, „damit er und die Zeit nicht zerflossen“ (391). Dies alles tat er aber nicht unter der Parole vom Recht zur Lebensuntüchtigkeit, auf das erst der letzte Satz zu sprechen kommt: „Als sie [Julie] noch die Schule besuchte, hatte sie einen Aufsatz mit dem Titel: ‚Vom Recht, lebensuntüchtig zu sein‘ geschrieben.“ (392) Bei der Unmoralischen Geschichte liegt im Titel das einzige Moment von Moralisierung. „Gestern Nachmittag hat mich ein Mann wachgeküsst; ich schlief bei unverschlossener Tür und erwachte mit einer fremden Zunge in meinem Mund.“ (312) So erzählt eine Ichinstanz, die „zur Selbsthilfegruppe der Nasenbohrer“ gehört, obwohl sie eigentlich von ihrem „Laster gar nicht loskommen“ möchte (312). Sie verreist ans Meer, „kann die fremde Zunge nicht vergessen, an der“ sie „selbstvergessen gelutscht“ hat, und hinterlässt einen am Ende ratlos:

 So Walter Benjamins allgemeine Charakterisierung mit besonderem Blick auf Jeremias Gotthelf und seine landwirtschaftlichen Ratschläge, Charles Nodier und seine Warnungen vor den Gefahren der Gasbeleuchtung sowie Hebel, „der seinen Lesern kleine naturwissenschaftliche Unterweisungen in das ‚Schatzkästlein‘ schob“ (Benjamin 1977 [1936 – 1937], 441– 442 [Zitat 442]; zu Hebel vgl. Honold 2013, 111 und 113 – 114).  Duvanel nimmt ihre drogenabhängige und aidskranke Tochter und Enkelin in den 1980er Jahren bei sich auf.

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„Ich denke plötzlich, dass ich einen Mann brauche, verlasse den Balkon, die Wohnung, das Haus und begebe mich in das Dorf, um mich anzubieten.“ (313) Der Traum vom großen Geld um „Frau Marion“, ihr Kind und einen „Herrn aus Schweden“, der mit den geerbten Bildern auf und davon fährt (424– 425), gibt ebenso wenig Merksätze her wie schließlich Frau Merkofer (389 – 390). Dabei wäre bei Duvanel durchaus mit sinnigen Namen nach Kalendergeschichtenart zumal von Hebels Kannitverstan oder auch Unglück der Stadt Leiden, worin der Stadtname sprechend wird (Hebel 1999 [1811], 152– 155, 110 – 111), zu rechnen. Denn „Namen sind gewiss nicht Schall und Rauch“: Dies ist nicht allein – in der Erzählung Keine Rücksicht auf den Schwängerer – das Credo von Ernestine oder „Oernestine“ (436), wie sie von ihrem „Gatten“ angelsächsischer Herkunft genannt wird. Die Schwangere denkt an der Bushaltestelle über Namen für das Kind nach und würde, wenn sie „ohne Orthografiefehler schreiben“ könnte, „über das Thema ‚Vornamen‘ eine Betrachtung […] (ein ‚Feuilleton‘, wie ihre Mutter und ihre Großmutter gesagt hätten)“ schreiben (436 – 437). Auch die Autorin selbst, jedenfalls unter dem Decknamen „Martina“, hält es bei den betreffenden Redensarten mehr mit dem römischen Komödiendichter Plautus als mit Goethes Mephistopheles im Faust: „Ich glaube eher an den Ausspruch ‚nomen est omen‘ als an ‚Namen sind Schall und Rauch‘.“ (Martina, Doppelstab, 4. März 1975) So beginnt eine der rund neunzig Kolumnen von Adelheid Duvanel, die zwischen 1974 und 1979 unter diesem Pseudonym in der Basler Gratiszeitung Doppelstab erschienen sind.⁸ Das „Feuilleton“, das Oernestine aus der 1995 (in der Sammlung Die Brieffreundin) erstmals erschienenen Geschichte gerne schreiben würde, hat Duvanel als Martina zwanzig Jahre früher tatsächlich geschrieben, und dies in einem Textgenre mit starker Affinität zum Kalendarischen, ja zur Kalendergeschichte.

2 Der Einstieg des Namenfeuilletons mit einer generellen Aussage – einer Aussage über zwei generelle Aussagen, wie sie in Golubs Abreißkalender von Sprichwörtern stehen könnten – entspricht einem allgemeinen Zug der Kolumnen, die Du-

 Geschrieben hat sie noch viel mehr, insgesamt gegen hundertvierzig Stück, wie sich beim Abgleich der in der Zeitung auffindbaren Kolumnen mit den über neunzig Typoskripten (zufällig eine ähnliche Zahl wie die der gedruckten) im Nachlass ergibt: Bei einer Schnittmenge von nur gut vierzig ist der Teil der offensichtlich für dieses Kolumnenformat geschriebenen, aber nicht im Doppelstab zu findenden Texte (über fünfzig) rätselhaft groß. Für Mithilfe bei der Ermittlung danke ich Fanny Audeoud.

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vanel in den 1960er und 1970er Jahren hauptsächlich für die Basler Nachrichten (ca. 1963 – 1972) und den Doppelstab (1974– 1979) verfasst hat. Im Gegensatz zur Kurzprosa kennzeichnet dieses Muster einen Großteil der faszinierend vielseitigen Kolumnen, was bei mancher thematischen Konvergenz, der durchgängig gemeinsamen ‚kleinen Form‘ hinsichtlich Textlänge bzw. -kürze sowie der Zeitung als oft geteiltem (Erst‐)Erscheinungsmedium umso auffälliger ist: Allgemeinaussagen, meistens am Anfang oder Ende, werden in einer Weise mit Einzelbeobachtungen und -erzählungen kombiniert (ohne dass diese in jenen aufgehen), die an Fabeln oder eben Kalendergeschichten erinnern. So beginnt etwa die nachdenkliche Betrachtung einer vor sechs Jahren geschossenen Kinderfotografie und des seither veränderten Kindes mit der Feststellung: „Ein Kind stirbt fortwährend“ (Duvanel, Basler Nachrichten, 29. November 1964). Oder ein lockeres Geplauder über das Wellensittichweibchen „Bussardli“, das einem beim Thema Namen wieder begegnet (seiner rührt von des einstigen Überbringers entsetzter Einordnung des Findlings als junger Bussard), wird einer Liebesgesetzlichkeit angeschlossen: „Dass Liebe bittersüss sein kann, hat auch unser Wellensittich erfahren.“ (Martina, Doppelstab, 12. Juli 1974) Die allgemeinen Formulierungen können dabei in eine Art ‚Merke!‘ ausgreifen. Dies geschieht beispielsweise im erzählten Fall eines von Hausabriss bedrohten Geigenlehrers, der keine Wohnung findet, weil die Leute einen „panischen Schrecken vor dem Violinspiel“ seiner Schüler haben. Da Martina den Mann zugleich zur größeren Gattung jener „Manche[n]“ zählt, die es aus „Schüchternheit“ nicht verstehen, „die Oeffentlichkeit“ für ihre persönlichen Probleme „zu mobilisieren“, legt sie sich zum Ausgleich mit einem aufklärerischen Aufruf („Liebe Mitmenschen […]!“) für die leisen Kindergeigen und gegen jene Panik ins Zeug, nicht ohne ganz Basel auf sein Selbstverständnis als „Musikstadt“ zu behaften (Doppelstab, 18. Juli 1975). Mit ähnlich ironisiertem Pathos windet sie drei Jahre später „allen nicht geborenen, zu früh verstorbenen, verstossenen, verkannten oder vergessenen grossen Künstlern“ einen Wortkranz gegen die erfolgreichen „Nichtskönner und Scharlatane“. Dahin gelangt sie auf verschlungenem Weg nach einem Bandwurmanfangssatz über eine Lesefrucht zweiter Ordnung: „Albert Vigoleis Thelen berichtet in seinen herrlichen Erinnerungen ‚Die Insel des zweiten Gesichts‘, dass Goethe in ‚Dichtung und Wahrheit‘ erzähle, wie er durch eine Ungeschicklichkeit der Hebamme für tot auf die Welt gekommen sei und man es erst durch vielfache Bemühungen dahin gebracht habe, dass er das Licht der Welt erblickte.“ (Doppelstab, 16. August 1978)⁹ Allein

 Martina bzw. Thelen (im 4. Buch, 1. Abschnitt) bezieht sich auf die Eingangspassage, in der Goethe übrigens seine letztliche „Erhaltung“ nach der Geburt am „28. August 1749, mittags mit

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schon mit solchem Zehneinhalbzeiler nimmt sich Martinas Wortmeldung, hier unter dem wiederkehrenden Kolumnentitel Allzu Privates (parallel bedient sie auch die Rubrik Unsere Tiergeschichte), im Lokalblatt recht exotisch aus. An diesem Mittwoch im Hochsommer ist sie eingeklemmt zwischen zwei anderen mehr oder weniger regelmäßigen Formaten: einerseits dem ‚ds‘ Klatsch (das Kürzel steht für den Zeitungsnamen, nicht fürs Deutsche Seminar der Uni Basel), in dem die tagesaktuelle „Rodung der Bäume am Oberen Rheinweg vor dem Hotel ‚Krafft‘“ gepriesen wird, weil man dadurch den „schmutzig-grünen Rhein“ umso besser vorbeiziehen sieht; andererseits der vom Foto einer alten Dame mit Hut begleiteten Rezeptkolumne gesund und jung mit friedel strauss (diesmal, passend zum Rheinblick: Fischgerichte). Das Ensemble steht zugleich anschaulich für die kunterbunte Mischung des „wilden“ Basler Anzeigers (gemäß Bezeichnung im Berner Bund, 27. November 1976, 4). Die sternstundenhafte Kolumne über den „beinahe nicht zu uns gestossenen Goethe, der sich mit geschlossenen Augen irgendwie seitwärts aus dem Staub machen wollte“, gibt auch ein Beispiel für das – ähnlich wie bei Hebel – oftmals schräge oder rätselhafte Verhältnis zwischen den Allgemein- und Einzelheiten. „Ging ich da im Warenhaus so für mich hin“ (wie im Walde das Ich von Goethes Gedicht Gefunden), fängt Martina eine alptraumartige Szene mit „smartem Herrn“ im Nähmaschinenareal an, um am Ende in die allgemeine Frage einzubiegen: „Dürfen Peiniger im Nebenberuf Nähmaschinen verkaufen?“ (Martina, 8. Typoskript) Und eine Kaskade kafkaesker Alltagswidrigkeiten voller Situationskomik, die darin gipfeln, dass „ich zur glotzenden Verwunderung meines Tischnachbarn“ im Bahnhofbuffet „mit verbissenem Gesicht“ den Kaffee per Kugelschreiber umrühre, wird vom Schlusssatz unvermittelt unterboten: „Weit haben wir’s gebracht – immer weiter werden wir’s bringen!“ (Martina, 23. Typoskript) Wo das ‚Merke!‘ nebulös bleibt, liegt es nicht selten an der (Selbst‐)Ironie, die Duvanel in den Kolumnen, anders als in der Kurzprosa, durchweg freigebig einsetzt. Zum anderen Ton dieser Beiträge für die Basler Zeitungen, obschon oft ebenso abgründig (z. B. Basler Nachrichten, 30. September 1963; 3. August 1964; Martina, 16. Typoskript), gehört außerdem eine durch eingestreute Dialektwörter und -wendungen erzeugte Nähe zur Mundart. Sie wirkt über die Zeiten hinweg der Sprache des Kalendermannes verwandt, der zur Hälfte in Basel aufgewachsen und zunächst mit seinen Alemannischen Gedichten (1803) in Wiesentäler Dialekt

dem Glockenschlage zwölf“, potenziell der Gust des Kalenders bzw. der „Konstellation“ zuschreibt, „welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wußten“ (Goethe 1986 [1811– 1814], 15).

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bekannt geworden ist.¹⁰ Diese Einsprengsel stehen nicht nur bei wiedergegebener Rede häufig in Anführungszeichen, wenn etwa ein Buschauffeur, der wie wild „‚tüütlet‘“ und flucht über „‚so ebbis‘“ (so etwas; meint „[n]atürlich eine Frau“, bemerkt Martina bissig), oder – im Rahmen eines Bekenntnisses zur Uneinsichtigkeit in den Sinn von Setzkästen – „‚Giggernillis‘“ (Krimskrams) vorkommt (Doppelstab, 27. Mai 1975 bzw. 4. April 1977). Manchmal wird Dialektales wie eine geplatzte „Milchgugge“ (Milchpackung; Doppelstab, 17. Februar 1976) aber auch umstandslos ohne Markierung eingeflochten – selbst im Diminutiv, das die Kolumnistin generell unverfrorener verwendet als die distanzierend-verkleinernde Kurzprosaistin. Zwar geht „Martina“ trotz jenem Wellensittich bei ihrem eigenen Namen nicht so weit wie „Gritli“, Verfasserin einer anderen regelmäßigen Kolumne im Doppelstab. Doch Duvanel malt zum Beispiel beim leichtfüßig treffenden Nachdenken über die „sonderbare Sache“ des Erzählens aus, was in den Köpfen der Zuhörenden geschieht, wenn jemand von einem neu entdeckten Tier beginnt, von einem „rote[n] Bdebbeli“, das einen „klaren Sopran“ besitzt „und singt, als ob es huste“ (Basler Nachrichten, 16. November [!] 1964). Brücken zwischen Kolumnen und Kurzprosa schlägt sie von beiden Seiten. Die Feuilletonschreiberin pflegt einen persönlichen Umgangston mit ihrem Publikum und scheint viel von sich preiszugeben. So vermittelt etwa die mehrteilige Formentera-Folge über den im Frühling 1968 gestarteten Versuch, mit Mann und Tochter, Staffelei und Schreibmaschine „auf eine kleine Insel auszuwandern“, in plastischen Alltagsszenen einen Eindruck von der ernüchternden Erfahrung (Basler Nachrichten, 16. Mai [Zitat], 27. Juni und 5. September 1968, 18. Juni und 10. September 1969). Allerdings verschweigt sie in den Kolumnen zugleich nicht allein den Namen der Insel, sondern auch das sich während des Aufenthalts auf Formentera zuspitzende Eheelend (vgl. Jagfeld 2009, 14). Jenes ist höchstens aus der Weise zu erahnen, wie sie im Text über die Rückkehr nur noch „ich“ schreibt und von einem begonnenen Bürojob sowie von einer „Bekannte[n]“ berichtet, „bei der nun mein Kind lebt“, d. h., „von morgens sieben bis abends acht Uhr“ als schlecht erzogen „zurechtgewiesen“ wird. (Ihr Ehemann, der Kunstmaler Joseph oder Joe Duvanel [1941– 1986], ist derweil zu seiner schwangeren Geliebten Lilianne gezogen.) Martina beschreibt besonders unter dem – zeitweise mit dem Signet eines Schlüsselloches versehenen – Titel Allzu Privates persönliche Begebenheiten und Beobachtungen, worin auch Zeitgeschehen wie die Ölkrise (85. und 92. Typoskript) oder Moden wie das hauseigene Hegen und Pflegen eines Kefirpilzes („Das Geschlabber vermehrt sich wie der Brei im Mär-

 Ironischerweise konnte Hebel für sein Mundartbuch keinen Basler Verleger gewinnen; es erschien bei Macklot in Karlsruhe.

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chen der Gebrüder Grimm.“ Doppelstab, 28. September 1976) aufblitzen. Dabei erfährt man von ihrer prekären finanziellen Situation ebenso wie, dass sie sich Namen ausdenkt für „meine zukünftigen Kinder – die eine Utopie sind“ (Doppelstab, 4. März 1975). Doch wenn Martina eine tägliche „Therapie“ im „Spital“ anspricht, nach der sie jeweils „zur Stärkung und Aufmunterung“ ihres „angeschlagenen Ich im immer gleichen Café einen Espresso“ trank, bleiben Ausmaß und Schrecken von Duvanels Psychiatrieerfahrungen (vgl. Jagfeld 2009, bes. 10 – 12) gleichzeitig diskret verborgen (17. Typoskript). Und wenn Martina neben der Tochter (Adelheid Cécile Duvanel, 1964– 2005) immer wieder „meinen Pflegesohn“ erwähnt (z. B. Doppelstab, 19. September 1975), dann versteckt sich dahinter keine Berufstätigkeit als Tagesmutter, sondern höchstwahrscheinlich Duvanels Betreuung von François (*1969), dem Kind von Joe und Lilianne.¹¹ Dabei standen zumal Martinas Vertraulichkeiten für die Leser und Leserinnen unter sicherem Inkognito. Felix Feigenwinter, der als Redaktor beim Doppelstab arbeitete und seiner Schwester zu Schreibmöglichkeiten in diesem Blatt verhalf (neben den Kolumnen gelegentliche Artikel v. a. über Kunstausstellungen, Konzerte und Aufführungen der Basler Kleinbühnen), achtete nicht weniger als die Autorin selbst auf Geheimhaltung des Klarnamens; bis zu ihrem Tod wusste auch kaum jemand, dass er ihr Bruder war (so seine Auskünfte auf Anfrage). Bei der Durchsicht der archivierten Doppelstab-Bände findet sich denn nicht nur der Zufall, dass ein Martina-Text auf der gleichen Zeitungsseite mit einer Besprechung von Adelheid Duvanel steht (17. Februar 1976: Letztere schreibt über eine Vernissage zur Tagebuchedition des Basler Arztes Felix Plattner [1536 – 1614], Erstere über einen spektakulären Sturz aus dem Bus). Die Ausgabe vom 30. November 1976 bringt ein ausführliches Porträt, das die Schriftstellerin Duvanel samt ihrem früheren Pseudonym Judith Januar (und familiärem Insiderwissen) vorstellt, ohne ein Wort über Martina zu verlieren – gezeichnet von „F. Feigenwinter“. In solchem Doppelleben spaltete sich Duvanel nachhaltig von Martina ab: „Was heute so viele Talente ins Abseits und zu unnötigem Scheitern führt, die Verlockung, auch mal einen Roman zu schreiben, auch mal ein Theaterstück, auch mal ein Hörspiel oder einen Krimi oder ein paar Kolumnen, scheint Adelheid Duvanel nie auch nur gestreift zu haben“, schreibt Peter von Matt noch im Nachwort zur postumen Erzählsammlung Beim Hute meiner Mutter (Duvanel 2004, 162). Gerade Martina, als die Duvanel brotberuflich und mediengemäß mehr für den Tag denn für die Ewigkeit schrieb, dürfte den Basler Zeitungslesenden der  Zu Joes „Arrangement einer ‚Grossfamilie‘ mit zwei für ihn im Haus und ausserhalb im Büro arbeitenden Frauen“ vgl. in den Erinnerungen von Adelheid Duvanels Bruder Felix Feigenwinter, https://feigenwinterfelix.hpage.com/persoenliche-erinnerungen-an-meine-schwester-adelheid. html.

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1970er Jahre eine Art Hausfreundin gewesen sein. Bestimmt haben viele von ihnen den über lange Zeit zweimal wöchentlich frei ins Haus flatternden Doppelstab jeweils zuerst nach einem Allzu Privates oder einer Tiergeschichte von ihr abgesucht. Sie hatten daran freilich keinen verlässlichen Kalender mehr. In den 1960er Jahren hatte man sich zumindest beim doppelt kalendarischen Kolumnenformat Junge Basler sehen den Sonntag, einem montäglich erscheinenden Feuilleton zum Sonntag, noch auf eine gewisse Regelmäßigkeit verlassen können, obwohl keineswegs jeder ein Junge-Basler-, geschweige denn ein Adelheid-Duvanel-Montag war (sie schrieb hier ohne Decknamen im Wechsel mit anderen; z. B. über einen „Strohwitwensonntag“, der sie zu jenem roten Bdebbeli führte [Basler Nachrichten, 16. November 1964]). Martinas Texte in launisch-loser Folge richteten sich hingegen nicht nach einem vorgegebenen Kalender, abgesehen vom Erscheinungstermin der Zeitung. Vielmehr ergab umgekehrt ihr unberechenbares Auftauchen für die Leserinnen und Leser einen Überraschungskalender von Martinatagen. Johann Peter Hebel referierte in der Vorrede zum Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes die „gute Meinung“ des Verlegers (Cotta), „es wäre schade“, wenn „die besten Aufsätze“ seines Kalenders „mit dem nämlichen Jahr, wofür sie geschrieben sind, wieder untergehen sollten, und druckt sie daher für ein eigenes Büchlein, samt den mittelmäßigen ab, damit sich jene besser herausheben“ (Hebel 1999 [1811], 13). Wenn Adelheid Duvanels Kolumnen mehr als die Rheinnähe mit solchen Kalendergeschichten teilen, ließe sich für eine Verewigung der zeit(‐ungs‐)gebundenen Eintagsfliegen ähnlich argumentieren.

Literatur Benjamin, Walter. „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“. Gesammelte Schriften. Hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. II/2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977. 438 – 465. Brückner, Shirley. „Der ‚Frommen Lotterie‘. Pietistische Lospraktiken in der Schweiz“. Schweizerische Zeitschrift für die Erforschung des 18. Jahrhunderts 2 (2011): 66 – 87. Duvanel, Adelheid. Fern von hier. Sämtliche Erzählungen. Hg. Elsbeth Dangel-Pelloquin unter Mitwirkung von Friederike Kretzen. Zürich: Limmat, 2021. Duvanel, Adelheid. Beim Hute meiner Mutter. Erzählungen. Nachwort von Peter von Matt. München/Wien: Nagel & Kimche, 2004. Duvanel, Adelheid. Seppli. Manuskript Heft mit Zeichnung. Schweizerisches Literaturarchiv (SLA), Signatur A–1–d–1. Duvanel, Adelheid alias Martina. Typoskripte von Kolumnen für den Doppelstab. SLA, Signatur A–1–c/1 – 6 (unnummeriert; Nummerierung gemäß Reihenfolge im Konvolut). Eiden-Offe, Patrick. Hegels ‚Logik‘ lesen. Ein Selbstversuch. Berlin: Matthes & Seitz, 2020.

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Goethe, Johann Wolfgang. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit [1811 – 1814]. Hg. Klaus-Detlef Müller. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1986. Grünbein, Durs. Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001. Hebel, Johann Peter. Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes [1811]. Kritische Gesamtausgabe mit den Kalender-Holzschnitten. Hg. Winfried Theiss. Stuttgart: Reclam, 1999. Honold, Alexander. „Wiedergefundene Zeit. Die Kalendergeschichten Johann Peter Hebels“. Ders. Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur. Basel: Schwabe, 2013. 105 – 126. Jagfeld, Monika. „Adelheid Duvanel – Chronistin der Unangepassten“. Wände dünn wie Haut. Zeichnungen und Gemälde der Schweizer Schriftstellerin Adelheid Duvanel. Ausstellungskatalog. St. Gallen: Museum im Lagerhaus, 2009. 8 – 30. Krayfuss, Gudrun S. Scheherezadel. Eine Basler Autorin wird entdeckt. Reflexionen zu Leben und Werk von Adelheid Duvanel. Basel: Isishaus, 1998. Ö1-Buch des Monats Oktober 2021: Adelheid Duvanel, Fern von hier. https://oe1.orf.at/artikel/ 687555/Adelheid-Duvanel-Fern-von-hier. Schäfer, Armin: Hundert Tage Prosa. Ein Lektüretagebuch. Hannover: Wehrhahn, 2021.

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Funktionen von Kalendern im Film: Eine kleine Bestandsaufnahme nebst Versuch einer Typologie 1 Kalender und Kino

Betrachtet man Kalender zunächst einmal auf ihre primäre Funktion hin, so erscheinen sie als Versuche, die sich zyklisch wiederholenden planetarischen Konstellationen und Bewegungen sowie die durch sie verursachten Wechsel der Jahreszeiten alltagstauglich nachvollziehbar zu machen. Dies geschieht durch zeitlich getaktete und auf Wiederholung der konstitutiven Einheiten basierenden Anschauungsformen: Zyklisch kehren kalendarische Einheiten wie die sieben Tage der Woche, die vier Wochen des Monats und die zwölf Monate des Jahres wieder; und selbst da, wo das Anschauungsmodell Kalender der Adjustierung bedarf, geschieht dies in regelmäßigen Abständen, so etwa, wenn alle vier Jahre Ende Februar ein Schalttag hinzukommt und damit auch gleich das ganze Jahr zum Schaltjahr wird (vgl. Schlag 2008). Als kulturelle Gegenstände weisen Kalender darüber hinaus zahlreiche weitere, sekundäre Funktionen auf. Sie sind Instrumente, mit denen Herrschaftssysteme gestützt werden (beispielsweise durch wiederkehrende Feiertage vom Typ ‚Königs Geburtstag‘, ‚Tag der Thronbesteigung‘ oder ‚Tag der Revolution‘). In Abwandlung des berühmten Diktums von Carl Schmitt (vgl. 1922, 11) könnte man sagen: ‚Souverän ist, wer über den Kalender bestimmt‘, was schon Napoleon wusste, als er den seit 1793 benutzten „calendrier révolutionnaire français“ (französischer Revolutionskalender) sukzessive wieder abschaffte und den gregorianischen Kalender restituierte (vgl. Meinzer 1992; Wendorff 1993, 187– 198; Rüpke 2006, 207– 209; Honold 2013, 65– 85). Wie sehr diese kulturell-politische Funktion von Kalendern auf Strukturen der Wiederholung distinkter Einheiten angewiesen ist, macht der Vergleich von Kalender und Uhr deutlich. Den Tag als kleinste Einheit des Kalenders unterteilt die Uhr in vierundzwanzig Stunden mit je sechzig Minuten, von denen jede einzelne noch einmal 60 Sekunden umfasst. Insofern ist das Zeitsystem der Uhr nichts anderes als die konsequente Fortsetzung des Kalenders bzw. umgekehrt ist der Kalender die Hochrechnung der Uhr. Dennoch wird das, was die Uhr anzeigt, eher als kontinuierlicher Fluss wahrgenommen, und nicht – wie im Falle des Kalenders – als Abfolge in sich abgeschlossener Einheiten. So wird auch der Wechsel von einem Wochentag zum nächsten im Denkmodell Uhr als fließend vorgestellt, im https://doi.org/10.1515/9783110773750-010

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Denkmodell Kalender jedoch als Einschnitt, der immer dann umso größer wird, wenn gleich mehrere der Zäsuren zwischen den kalendarischen Einheiten zusammenfallen: die des Tages mit der zwischen zwei Wochen beziehungweise zwei Monaten, zwei Jahren, zwei Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten. Zelebriert wird ein solcher Mehrfacheinschnitt in jedem Jahr zu Silvester, denn dann wird der als kontinuierlich gedachte Zeitfluss der Uhr für einen Moment zugunsten des Denkens eines bedeutungsvollen Einschnitts zwischen zwei Tagen (31. Dezember und 1. Januar), zwei Monaten (Dezember/Januar) und zwei Jahren und mit allen diesen Elementen zwischen zwei kalendarischen Zyklen suspendiert. (Auch sogenannte runde Geburtstage wie etwa der Sechzigste werden als bedeutende Einschnitte zelebriert, wobei niemand so recht sagen kann, worin diese zeitlich-kalendarische Bedeutsamkeit denn genau liegt.) Mit all dem bietet der Kalender „als ein Instrument der Verzahnung natürlicher und kultureller Zeitformen“ (Honold 2013, 72), primärer und sekundärer Funktionen, für Kino- und Fernsehfilme ein enormes Potenzial an bildlichen und auch narrativen Möglichkeiten, sodass es nicht verwundert, dass seit den Anfängen des Films immer wieder auf Kalendarisches zurückgegriffen wurde. Dabei lassen sich einige typische Funktionen beobachten, die Kalender in Kino- und Fernsehfilmen übernehmen können und die im Folgenden genauer in den Blick genommen werden: Erstens dienen Kalender dazu, Zeitverläufe zu visualisieren, sie ‚ins bewegte Bild‘ zu setzen; zweitens eröffnet die Wiederkehr kalendarischer Elemente die Möglichkeit zu seriellem Erzählen; drittens kann mit ungewohnten Kalendersystemen verdeutlicht werden, dass man sich mit einem Film in zeitlicher, kultureller oder räumlicher Entfernung zur eigenen Welt befindet. Viertens können Charaktere so eng an Kalender gekoppelt sein, dass ihr Handeln nahezu vollständig durch kalendarische Zyklen determiniert ist, denn mit ihrer gleichmäßigen Taktung stellen Kalender etwas Unerbittliches dar, das in geradezu zwanghaftes Handeln münden kann. Fünftens schließlich gibt es eine Reihe von Sonderfällen, bei denen Kalender und Uhr ineinander übergehen, beispielsweise dann, wenn das Springen der Uhr von 23:59 Uhr auf 00:00 Uhr zwar einen Tageswechsel signifiziert, aber einen, der sich für ein und denselben Tag ständig wiederholt und mit Blick auf den Kalender daher keine Veränderung mit sich bringt, den zu erwartenden Einschnitt zwischen zwei Tagen also tilgt und damit das Denkmodell Uhr von dem des Kalenders abkoppelt.¹

 Für Hinweise auf einschlägige Filme danke ich Peter Ellenbruch, Markus Engelns, Sophie Greve, Lena und Julia Krebeck, Thomas Küpper, Lena Pillkahn und Charlotte Zick.

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2 Zeitverläufe visualisieren Schon in den frühen Stummfilmen dient das Davonfliegen von Kalenderblättern dazu, das Verstreichen von Zeitabschnitten, die über die zwölf Stunden des normalen Zifferblatts der Uhr hinausgehen, zu verbildlichen (vgl. Missomelius 2015, 113), wobei die Geschwindigkeit, mit der die Kalenderblätter wechseln, variiert. Denn es geht zwar stets um den Ablauf von Zeit, aber dessen Semantisierung kann höchst unterschiedlich sein, zeigen sehr langsam sich vom Kalender lösende Blätter, deren Herabfallen dann auch noch in Slow Motion gezeigt wird, doch Langeweile oder zumindest ein zähes Vergehen von Zeit an und umgekehrt in Fast Motion davonwirbelnde Kalenderblätter rasende Zeitverläufe über meist längere Zeitspannen hinweg. In 1922 (1978) lebt eine griechische Stadt in „Angst vor der bevorstehenden Ankunft der türkischen Armee. Das langsame und qualvolle Verstreichen der Zeit“ bis dahin – es geht um drei Tage – „wird durch Detailaufnahmen von Kalenderblättern signalisiert (24. August 1922, 25. August, 26. August usw.)“ (Kolovou 2017, 233). In Der blaue Engel (1930, 01:15:30 – 01:16:00) werden fallende Kalenderblätter mit dem Wechsel von Tagen, dann Monaten und schließlich Jahren für die Zeit von 1925 bis 1929 gezeigt, um die Gleichförmigkeit der Tages-, Wochen- und Jahresabläufe im Unterhaltungsetablissement und Professor Raths Leiden daran zu verdeutlichen, sowie zugleich auch, um einen Zeitsprung in der Handlung vorzubereiten. Die fallenden Kalenderblätter sind hier ins bewegte Bild gesetzte Metonymien für Zeitverläufe längerer Dauer. Dies wird noch einmal dadurch unterstrichen, dass hinter dem Kalenderblatt des 2. Dezembers schon das des 24. durchschimmert und die Jahreszahl 1925 allmählich durch die von 1929 überblendet wird, sodass die überblendeten Kalenderblätter zugleich Motiv und filmische Technik sind. Der eigentlich an einer solchen Stelle fällige Jumpcut wird auf diese Weise überbrückt.

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Abb. : Kalenderblatt in Der blaue Engel.

Abb. : Kalenderblatt in Der blaue Engel.

Abb. : Kalenderblatt in Der blaue Engel.

Abb. : Kalenderblatt in Der blaue Engel.

Abb. : Kalenderblatt in Der blaue Engel.

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Zu etwas Filmspezifischem werden Zeichen wie die davonflatternden Kalenderblätter in allen diesen Fällen durch „das Prozesshafte und Bewegte, das sich ausschließlich durch die Bewegtheit und die Aneinanderreihung der Bilder im Film darstellen lässt“ (Schwarz 2006, 49). Mediengeschichtlich betrachtet sind die fliegenden Kalenderblätter damit kaum etwas anderes als ein im Medium Film gezeigtes Daumenkino, als eine medienreflexive Reminiszenz. Die Visualisierung von Kalendern und Kalenderblättern im Bewegtbild kann also gleichermaßen dazu dienen, Effekte der Zeitraffung wie auch der Zeitdehnung zu erzielen, und dies bei möglicherweise ähnlich großer Spanne der dafür benötigten Laufzeit des Films. Bei Szenen in Gefängnissen werden sowohl für Effekte der Zeitraffung als auch für solche der Zeitdehnung gerne die an den Gefängniswänden in Form von Strichlisten geführten Kalender genutzt. In Le Comte de Monte-Cristo (dt. Der Graf von Monte Christo, 1954) beginnt dieser seine Kalenderführung gleich mit dem ersten Tag seiner Kerkerhaft und dem an die Wand geschriebenen Datum „30 Juillet 1816“ (00:51:50), das von da an für den Gefangenen den Ausgangstag seiner ganz persönlichen Zeitrechnung bildet. In Oldboy (2003) wird der kleine Geschäftsmann Oh Dae-Su auf der Straße von Unbekannten gekidnappt und in einen fensterlosen Raum eingesperrt, ohne dass er weiß warum. Wird das Vergehen von Zeit zu Beginn des Films noch durch tickende und bisweilen leinwandfüllend gezeigte Uhren verdeutlicht, so beginnt während Dae-Sus Gefangennahme eine Zeitrechnung in größeren, nämlich kalendarischen Einheiten. Vor dem Fernseher in seiner Zelle sitzend, sinniert er zunächst noch: Falls du an einem regnerischen Abend vor einer Telefonzelle stehst und dir jemand begegnet, der sein Gesicht unter einem violetten Regenschirm verbirgt, empfehle ich dir, dass du eine innige Beziehung mit einem Fernsehapparat eingehst. Der Fernseher ist beides: Uhr und Kalender. (00:10:10 – 00:10:30)

Doch in der Folge ist es ein Makrokalender, der dominant im Denken Dae-Sus wird: Während der insgesamt fünfzehn Jahre, die er eingeschlossen verbringen wird, beginnt er damit, sich körperlich abzuhärten, schlägt mit den Fäusten an die Wand, sodass sich dicke Hornhautschichten auf seinen Knöcheln bilden, und – tätowiert sich mit der Spirale eines Schreibblocks und Tinte einen Kalender in seinen Unterarm: „Ein Strich für jedes Jahr. Zuerst musste ich mir sechs Striche auf einmal tätowieren. Nächstes Jahr wird es einfacher sein.“ (00:13:00 – 00:13:30)

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Abb. 6: Strichkalender in Oldboy.

Abb. 7: Ablösung von Kalender durch Uhr in Oldboy.

Mit dem 15. Strich auf seiner Hand naht das Ende seines Martyriums. Als sich DaeSu plötzlich auf dem begrünten Dach eines Hochhauses in feiner Kleidung wiederfindet, schwenkt die Kamera auf seinen linken Arm und eine Armbanduhr. Mit der Freilassung wird das Denkmodell Kalender wieder gegen das der Uhr eingetauscht, wobei beide für wenige Sekunden nebeneinander zu sehen sind (00:17:37– 00:17:39). Eine Kalenderführung per Strichlisten findet sich vielfach auch im Falle von gestrandeten, verschollenen oder in der Wildnis ausgesetzten Filmfiguren, kurz bei Robinsonaden jeglicher Art. In Die blaue Lagune (1980, 00:17:25 – 00:17:35) werden die seit der Strandung auf der Insel vergangenen Wochen in Strichen auf

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einem horizontal liegenden Baumstamm festgehalten; in Cast Away (dt. Cast Away – Verschollen, 2000) ist es ein FedEx-Mitarbeiter, der beim Absturz eines Transportflugzeugs ans Ufer einer einsamen Insel gespült wird und auf der Felswand seiner Höhle Tage und Monate sowie Wetterzyklen verzeichnet (01:17:34– 01:17:40; 01:21:50 – 01:22:00); in der vierteiligen Fernsehfassung von Daniel Defoes Robinson Crusoe (1964) werden die Tage, Wochen und Jahre auf senkrecht am Strand vor der Hütte von Robinson stehenden Pfählen markiert; dort erhält auch der von ihm befreite Eingeborene seinen Namen oder besser seine kalendarische Taufe: „Freitag“ (Robinson Crusoe [ZDF], Teil 3, 01:11:01– 01:12:00).

Abb. : Kalenderführung in Robinson Crusoe (ZDF).

Abb. : Kerbkalender in Robinson Crusoe (ZDF).

Der Fernsehfilm realisiert damit jedoch nur einen Bruchteil des kalendarischen Potenzials, das der Roman Defoes bietet. Denn „wenige Tage, nachdem“ Robinson „als einziger Schiffsbrüchiger überlebt und sich auf die einsame Insel gerettet“ (Schmidt 2000, 5) hat, legt er einen Kalender an. Der Roman entfaltet den Beginn, die Inauguration dieses kalendarischen Aufschreibesystems ausführlich: Nach zehn oder zwölf Tagen fiel mir ein, ich könnte aus Mangel an Papier, Tinte und Feder die Zeitrechnung ganz aus dem Gedächtnis verlieren, vielleicht sogar den Sonntag im Ablauf der Tage vergessen. Um das zu vermeiden, schnitt ich mit einem Messer in Großbuchstaben eine Inschrift in einen starken Pfosten, zimmerte dann daraus ein großes Kreuz und stellte es am Strand an der Stelle auf, wo ich ihn zuerst betreten hatte. Die Inschrift lautete: „Ich betrat hier den Strand am 30. September 1659.“ An den Seiten dieses viereckigen Pfostens schnitt ich mit dem Messer jeden Tag eine Kerbe ein, an jedem siebten Tag machte ich die Kerbe doppelt so lang wie die andern, und an jedem Monatsersten doppelt so lang wie die Sonntagskerbe. So hatte ich meinen Kalender mit wöchentlicher, monatlicher und jährlicher Zeitrechnung. (Defoe 1969, 72– 73)

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Mit dem Datum des Tages seiner Rettung stiftet Robinson für sein Inseldasein gleichsam ein Kalenderjahr mit eigenem Beginn, denn fortan zählt er in den Jahren seiner Anwesenheit auf der Insel und nicht etwa nach dem bekannten Kalenderjahr. Der 30. September selbst wird zum Jahrestag. Das Holzkreuz mit Robinsons Kalender ist im deutsch-französischen Fernsehfilm von 1964 meist nur noch im Hintergrund zu sehen; in der sowjetischen Produktion von 1972 dagegen nimmt es eine viel bedeutendere Rolle ein (dt. Robinson Crusoe, 00:11:33 – 00:12:02). Der sowjetische Film greift nämlich die schon bei Defoe zu findenden christlichen Analogien auf und inszeniert das Aufstellen des Kalenders mit dem Datum der Strandung geradezu als Kreuzweg:

Abb. 10: ‚Kreuzweg‘ und Kerbkalender in Robinson Crusoe (1972).

Abb. 11: ‚Kreuzweg‘ und Kerbkalender in Robinson Crusoe (1972).

Funktionen von Kalendern im Film

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Abb. 12: ‚Kreuzweg‘ und Kerbkalender in Robinson Crusoe (1972).

Abb. 13: ‚Kreuzweg‘ und Kerbkalender in Robinson Crusoe (1972).

Thomas Schmidt (2000, 5 f.) hat darauf hingewiesen, dass in Defoes Roman über den Kalender, der zwar nicht dem abendländisch-christlichen Modell folgt, mit dem Kreuz jedoch „in den Bezugsrahmen des Christentums“ gestellt wird, „eine verhaltene, aber dennoch unverkennbare Konkurrenz zur christlich-europäischen Zivilisation“ hergestellt wird. Der sowjetische Robinson-Film versucht diese Konkurrenz durch den ‚Kreuzweg‘ Robinsons wieder zu kompensieren. Keine größere Rolle kommt dem Kalender hingegen in Luis Buñuels Robinson Crusoe aus dem Jahr 1954 zu (vgl. zu weiteren filmischen Adaptionen des Robinson-Stoffes Mayer 2018). Auch in den Robinsonaden und Gefangenenfilmen geht es in erster Linie darum, das Verstreichen von Zeit bildlich wahrnehmbar zu machen, und zwar in zwei Richtungen: einmal, um die bereits im Gefängnis, auf der Insel, im Wald etc. verbrachte, also verflossene Zeit zu fokussieren, zum anderen – wie bei den Gefängnisfilmen – die noch verbleibende Zeit bis zur Freilassung. Diese Variante findet sich zudem in zahlreichen Filmen, in denen Ultimaten oder Restzeiten

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jeglicher Art eine Rolle spielen, kurz: dann, wenn Zeitspannen auf einen Endoder Zielpunkt hin heruntergezählt werden. Heißt es in einem Fernsehkrimi gleich zu Beginn aus dem Mund des Staatsanwaltes: ‚Ich gebe Ihnen fünf Tage, um den Fall zu lösen‘, dann wird deren Ablauf mit großer Wahrscheinlichkeit durch das Einblenden von Kalendern deutlich gemacht; in etlichen Weihnachtsfilmen wie Claus (dt. Klaus, 2019) wird mithilfe von Adventskalendern die Zeit bis zum 24. Dezember heruntergezählt. In National Lampoonʼs Christmas Vacation (dt. Schöne Bescherung, 1989) zeigt ein alter Adventskalender aus Holz, dessen Türchen nach und nach geöffnet werden, die letzten Tage bis zum 24. Dezember an (00:49:27– 00:49:34, 00:59:18 – 00:59:25).

Abb. 14: Adventskalender in National Lampoonʼs Christmas Vacation.

Schließlich arbeiten auch Katastrophenfilme mit kalendarisch motivierten Countdownszenarien. In 2012 (2009) ist es ein Mayakalender, der für das Jahr 2012 einen Weltuntergang prognostiziert, was sich bereits im Jahr 2009 durch eine starke Aufhitzung der Erdkruste ankündigt, sodass der Countdown des gregorianischen Kalenders mit der Prognose des Mayakalenders gekoppelt ist. Vor dem Hintergrund der vielfältigen Verwendung von Kalendern in Filmen, wie sie bereits an den wenigen bisher angeführten Beispielen deutlich wird, spricht Edgar Morin schon in den 1950er Jahren davon, dass „die davonflatternden Kalenderblätter […] erst Symbole geworden“ seien, „dann Zeichen der vergangenen Zeit“ (Morin 1958, 196, zit. nach Schweinitz 2001, 184), wobei er mit dem Wechsel von ‚Symbol‘ zu ‚Zeichen‘ auf den Prozess der Konventionalisierung hinweist. Roland Barthes hat dann zu Beginn der 1960er Jahre Kalenderblätter im

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Abb. 15: Adventskalender in National Lampoonʼs Christmas Vacation.

Film in genau diesem Sinne als Elemente einer „veritable[n] Rhetorik“ filmischer Zeichen charakterisiert, die „aus einer Art kollektiver Lexik schöpfen“ (Barthes 2001, 38); und Jörg Schweinitz spricht von „durch die fortgesetzte Wiederholung eines Einfalls“ entstandenen „Stereotype[n]“, von „Mustern“, die „geradezu konventionell geworden“ seien (Schweinitz 2001, 177).

3 Kalender und serielles filmisches Erzählen Kalendereinträge und -notizen von Figuren sind in Spiel- und Fernsehfilmen eine Art Joker, der immer dann gezogen werden kann, wenn eine die Handlung vorantreibende Information gebraucht wird, die es dann wiederum erlaubt, einen Kriminalfall zu lösen oder Einblick in das Handeln einer Person zu gewinnen (so etwa im Kinofilm The Shape of Water [dt. Shape of Water – Das Flüstern des Wassers, 2017], in dem eine Kalendernotiz den Sicherheitschef in die Wohnung der Protagonistin führt; 01:07:57– 01:08:03 und 01:47:22– 01:47:30). In dramaturgischer Hinsicht werden damit vielfach auch Figurenkonstellationen hervorgebracht, die im Verlauf der Handlung bis dato keinen besonderen Stellenwert hatten oder gar nicht plausibel denkbar waren. Zudem sind Kalender als Gegenstände und auch einzelne Kalendereinträge aufgrund ihrer Größe und optischen Prägnanz besonders einfach bildlich in Szene zu setzen. Kalendereinträge sind daher in vielen Fällen dramaturgische Knotenpunkte im Verlauf von Filmen;

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allerdings ist das eine Funktion, die oft ebenso gut auch durch andere Gegenstände erzielt werden kann. Spezifischer wird das Generieren von Handlungen jedoch mit solchen Filmen, die Kalender als abstraktes Gerüst für serielles Erzählen nutzen: Erzählt wird dann beispielsweise entlang der Abfolge der Blätter bebilderter Monatskalender, womit dieser Filmtypus einem Zyklus von Mininovellen mit integrierender Rahmenerzählung ähnelt, also dem Decamerone-Modell. In Calendar Girls (dt. Kalender Girls, 1994) wird von der Vorsitzenden des schon etwas angestaubten christlichen Frauenvereins von Yorkshire der Vorschlag gemacht, für den diesjährigen Vereinskalender Motive von Kirchen der Umgebung zu wählen. Aus dem Publikum heraus kommt von der sich dann zur Protagonistin des Films entwickelnden Chris zunächst der spontane Gegenvorschlag „George Clooney […] im Dezember mit aufklappbarer Badehose“ (00:13:10 – 00:13:30). Kurz darauf stirbt der Mann ihrer Freundin und es wird der Plan gefasst, den wenig einladenden Angehörigenraum des örtlichen Krankenhauses neu auszustatten. Als Chris in einer Werkstatt einen Pin-up-Kalender sieht (00:19:40 – 00:19:50), werden die bis dahin im Film entwickelten Kalenderstränge zusammengeführt, nämlich in der Idee, das für die Neuausstattung des Krankenhausraumes nötige Geld dadurch zusammenzubringen, dass sich für den Jahreskalender des Frauenvereins zwölf Hausfrauen als Aktmodelle zur Verfügung stellen und sich, eine für jeden Monat, in Situationen ihrer Alltagstätigkeiten ablichten lassen: beim Backen, Malen, Blumenschneiden, Klavierspielen, Stricken, Saftpressen oder Marmeladekochen. Nachdem sich die ersten Frauen gemeldet haben („Hier siehst du den Januar vor dir und hier den Februar, März, April“, 00:35:40 – 00:36:00), kippt das anfängliche Zögern in Euphorie um. Es folgt das Fotografieren von elf Frauen plus einem Weihnachtsgruppenbild für den Monat Dezember (00:47:19). In diesem seriellen Teil der filmischen Narration werden die einzelnen Episoden/Aufnahmen nur kurz angespielt. Im weiteren Verlauf bildet der gedruckte Kalender dann das Leitmotiv der Rahmenhandlung: in der Rotationspresse, beim Versand, beim Signieren, bei einer Show in Hollywood. Stärker als in Calendar Girls bestimmt die kalendarische Wiederholungsstruktur in Filmen wie Calendar Girl Murders (dt. Der Model-Killer, 1984), The Holiday Calendar (2018) und Le Calendier (2021) die filmische Narration. In Atom Egoyans Calendar (1992/93) kommt die kalendarische Serialität als das die filmische Narration strukturierende Element in der zweiten Hälfte des Films zum Zuge, in der ein von seiner Frau verlassener Fotograf einmal im Monat eine stets neue Frau zu sich zum Essen einlädt. In Calendar Girl Murders sind es zwölf Frauen, die nackt auf einem Jahreskalender abgebildet sind. In kalendarischer Reihenfolge wird kurz nach der Veröffentlichung des Kalenders zuerst Miss Januar, dann wenig später Miss Februar ermordet. Spannung entsteht bei der solchermaßen vorgegebenen Serialität

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aus der Frage, ob der Mörder gefasst werden kann, bevor er den Monat Dezember erreicht und das letzte der Kalendergirls sterben muss. Im Falle von Le Calendier bekommt eine auf den Rollstuhl angewiesene Extänzerin einen alten dreidimensionalen Adventskalender aus Holz geschenkt. Mit dem Öffnen eines jeden Türchens löst sie Ereignisse aus, die auf ihr Leben einwirken. Dabei besteht die Tragik darin, dass es sich bei diesen Ereignissen mal um positive, mal aber auch um eher negative handelt, sodass sich die Frau entscheiden muss, entweder den Kalender und mit ihm die bis hin zum Tod in ihrer Umgebung reichenden schlechten Ereignisse loszuwerden oder die Chance wahrzunehmen, durch ein gutes Ereignis wieder laufen zu können (vgl. den Eintrag zum Film in der Internet Movie Database [https://www.imdb.com/title/ tt12496706/]). Nicht unbedingt überzeugend wird das serielle Kalendermodell in The Holiday Calendar (2018) adaptiert. Am Weihnachtsabend bekommt Abby, Angestellte im kleinen Fotostudio von Josh, auch wieder von ihrem Großvater einen Adventskalender geschenkt. Hinter jedem geöffneten Türchen findet sich ein symbolischer Gegenstand, der jeweils auf die eine oder andere Weise auf Ereignisse in Abbys Lebensalltag vorausdeutet. Nach etlichen Querelen und Umwegen kommen Josh und Abby zusammen, wobei der Kalender noch einmal seine Türchen im Spiel hat, das Happyend ist schließlich ein eigenes Fotogeschäft mit dem Namen „Holiday Calendar“. Trotz ihrer Verschiedenheit ist allen diesen Filmen gemeinsam, dass sie ihr Basiserzählmodell durch die Wiederholungsstruktur des Kalenders erhalten, die in die Serialität des filmischen Erzählens überführt wird, und zwar unabhängig davon, ob es eine Rahmenerzählung gibt oder nicht.

4 Fremde Welten, fremde Kalender Eine weitere, noch einmal ganz andere Funktion von Kalendern besteht schließlich darin, zu zeigen, dass man es mit fremden, zukünftigen oder zeitlich sehr weit zurückliegenden Welten zu tun hat. Diese fremden Welten, egal ob es sich um Utopien oder Dystopien handelt, haben in der Regel eigene Zeit- und Kalendersysteme, so etwa in den Fernsehfolgen der Star Trek-Serie (dt. Raumschiff Enterprise, 1966 – 1969), die stereotyp mit der aus dem Off zu hörenden Logbuchansage der sogenannten Sternzeit, dem Zeitmaß der Föderation, beginnen (‚Computerlogbuch der Enterprise, Sternzeit 4114,2, Captain Kirk‘). Solche Sternzeitansagen werden zudem auch innerhalb einer Folge als Element der Gliederung genutzt, etwa zu Beginn längerer Filmsequenzen. Interessant ist dabei, dass in der Sternzeit die Denkmodelle von Uhr und Kalender zusammenfallen, sodass der ‚Chronometer‘ der USS Enterprise neben der immer noch traditionellen Bordzeit

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(„Shipboard“) nur noch das beide integrierende und daher kontinuierlich verlaufende „Stardate“ anzeigt (Memory Alpha, das Star-Trek-Wiki):

Abb. 16: ‚Chronometer‘ Raumschiff Enterprise.

Auf seiner Webseite bzw. in seinem Podcast erklärt Sven Taurus, was genau es mit diesem Stardate auf sich hat: Bereits in den alten Episoden mit Captain Kirk nannte dieser in seinen Logbucheinträgen immer die Sternzeit. […] War diese in den klassischen Enterprise Episoden aus den 60er Jahren noch größtenteils willkürlich, so wurde bei Star Trek – The Next Generation ab 1987 ein festes und logisches System eingeführt: Nehmen wir als Beispiel die Sternzeit der ersten Episode der Next Generation „Der Mächtige“: 41153,7. Die ersten beiden Zahlen 41 entsprechen dem Jahr. Soll heißen, mit dem Beginn eines Jahres springt die Zahl um einen Zähler weiter. Da die erste Staffel im Jahr 2364 spielt, beginnt die Sternzeit der ersten Folge der zweiten Staffel aus dem Jahr 2365 demnach mit 42. Hintergrund war, dass die Serienmacher die 4 nahmen, weil die Serie im 24. Jahrhundert spielt, und die 1, weil es die erste Staffel war. Die Zahl 41 ist also mehr oder weniger willkürlich gewählt. Diese Zahl erhöht sich also von Jahr zu Jahr um den Wert 1, und das in Echtzeit. Nach sieben Staffeln und demnach auch sieben Jahren „The Next Generation“ lautete die Sternzeit in der letzten Folge, die im Jahre 2370 spielt, 47988,1. Die Macher der Serie haben das immer konsequent weitergeführt […]. Das Mysterium der drei Zahlen und der Nachkommastelle nach dem Jahreszähler ist relativ simpel: Hier wurde das Jahr mit seinen 365 Tagen einfach in 1000 Einheiten aufgeteilt. Die Sternzeit 41500 entspricht also genau der Mitte des Jahres 2364, nämlich dem 2. Juli. (Taurus: Sternzeit)

Werden vorhandene Zeit- und Kalendersysteme nicht durch andere ersetzt, so können irreversible zeitliche Einschnitte dadurch filmisch signifiziert werden, dass Kalender und Zeiten gänzlich außer Kraft gesetzt werden. Das geschieht in The Omega Man (dt. Der Omega-Mann, 1971) – der düsteren Dystopie einer durch

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biologische Waffen teils mutierten, zum größten Teil aber vernichteten Menschheit – dadurch, dass mit einem das längst nicht mehr gültige Datum ‚März 1975‘ anzeigenden Kalender symbolisch auch gleich ein ganzes System der Zeitrechnung von der Wand heruntergerissen und für ungültig erklärt wird (00:04:22– 00:04:38); scheint „Zeitmessung im vorgeführten Universum“ des Films doch eine „an sich“ schon „irrelevante Kategorie zu sein“ (Gräf et al. 2015, 200). Auch in der ersten filmischen Adaption des Stoffes – The Last Man on Earth (1967) nach einem Roman von Richard Matheson – wird zu Beginn ein Kalender gezeigt (00:02:20 – 00:02:40), allerdings noch ganz in der Tradition der Gefängniskalender, bekommt man mit den Strichlisten an der Wand doch keine andere Information als die, dass die Seuche schon seit drei Jahren wütet.

5 Kalendercharaktere Einzelne Filmfiguren können so stark in kalendarischem Denken verhaftet sein, dass dieses zu ihrem dominierenden Charaktermerkmal wird. Im Batman-Universum ist es der „Calendar Man“ namens Julian Gregory Day, der in seinem ganzen Denken von Kalendarischem geradezu besessen ist (vgl. Cowsill et al. 2016, 58). Bei der Comicfigur wird darauf durch die ihm auf die Stirn geschriebenen Abkürzungen der Monatsnamen hingewiesen (Calendar Man. DC Continuity Project).

Abb. 17: Calendar Man (DC Continuity Project).

Im Videospiel (Storyteller zum Videospiel Batman: Arkham City, 00:02:47) übernimmt dies der vollständig mit Kalenderblättern bedeckte Boden seiner Zelle. Seine Verbrechen plant er – wie könnte es anders sein – durchgehend kalendarisch: nach Feiertagen oder auch nach der Etymologie der Namen von Wochentagen. Das erste Mal tritt der Calendar Man in „Detective Comics #259 aus dem Jahr 1958“ auf, im „sogenannten ‚Silver Age‘ der Comics“ der 1950er und

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Abb. 18: Batman: Arkham City (Videospiel).

1960er Jahre. „In dieser Zeit war es üblich“, dass „‚Schurkennamen‘ meist schon unmittelbar auf ihren Modus Operandi hinwiesen“. Sie „tauchten einfach in der jeweiligen Heimatstadt des Titelhelden auf und begingen dort Verbrechen wie Raubüberfälle und Einbrüche, bis ihnen der entsprechende Superheld das Handwerk legen konnte“. Bei „seinem ersten Auftritt“ kündigt der Calendar Man „in einer Zeitung“ insgesamt vier Überfälle an, die jeweils einen Bezug zu einer der vier Jahreszeiten haben. Ein fünftes Verbrechen ist mit einer zunächst unbestimmt bleibenden fünften Jahreszeit korreliert (vgl. Batman-Wiki): Zuerst überfiel er in einem lächerlichen Pflanzenkostüm die Gothamer Internationale Gartenshow, sein Sommer-Outfit war ein flammender Asbest-Anzug, in seinem Herbstverbrechen raubte er, wieder in einer passenden Verkleidung und mit der Hilfe einer Windmaschine, einen Panzerwagen aus. Bei seinem Winterverbrechen stahl er als Schneemann verkleidet Diamanten („Ice“ in der Gangstersprache genannt) bei einer Diamantenausstellung. Alle vier Male war Batman nicht in der Lage ihn aufzuhalten und schon der Verzweiflung nahe, doch er kombinierte richtig, dass Calendar Mans 5tes Verbrechen mit dem Auftritt eines Magiers in Gotham zu tun hat und stellte den Calendar Man letztendlich und machte ihn unschädlich. (Batman-Wiki)

Das kalendarische Vorgehen ist hier – wie in vielen ähnlichen Filmen mit ‚Kalendercharakteren‘ – zum einen das, was fasziniert, zum anderen aber ist die damit verbundene Rätselstruktur auch der Ansatzpunkt, um die Kalendermänner zu entlarven und als Verbrecher dingfest zu machen. Denn auf welche Weise, für welchen Ort und vor allem für welchen Zeitpunkt sie ihre Verbrechen auch pla-

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nen, sie werden es mit Bezug auf Kalendarisches tun. Diesem Prinzip bleibt auch Calendar Man treu: „In later appearances he started staging his robberies around different months, or other calendar measurements“ (DC Continuity Project [http:// dccontinuityproject.weebly.com/calendar-man.html]). Die allem Kalendarischen inhärente Wiederholungsstruktur müssen diejenigen, die die Kalendermänner fassen wollen, daher zum prognostischen Instrument machen; sie müssen „die jeweils eintretenden […] Ereignisse möglichst weit im Voraus erkennen und dementsprechende Vorkehrungen treffen“ (Batman-Wiki). Mit Alexander Honold (2013, 72) formuliert: Es gilt herauszufinden, „welche astronomischen Konstellationen jeweils mit welchen […] Ereignissen auf regelhafte und unverwechselbare Weise verknüpft“ sind, um die nächste Tat zu verhindern. Wiederum ähnlich wie in Calendar Man sieht es im Falle von The January Man (dt. Im Zeichen der Jungfrau, 1988) aus. Darin ist es ein Frauenmörder, der die New Yorker Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Seinen elften Mord begeht er genau zur Jahreswende, am 31. Dezember um kurz vor zwölf, den letzten Atemzug macht sein Opfer am 1. Januar. Kalendarisches wird dabei von Beginn des Vorspanns an ins Bild gesetzt: Gezeigt wird nämlich zunächst die große Leuchttafel „Happy New Year“ auf dem Times Square. Während dort die letzten Sekunden bis zum neuen Jahr heruntergezählt werden, vergehen auch die letzten Sekunden im Leben der überfallenen Frau. Und am nächsten Morgen wird die Tatsache des nun elften Mordes mit der ersten vergangenen Zeit korreliert: „Major vows capture of killer after ELEVENTH month of mayhem“ (00:05:04). Von der Polizei herangezogen, um es nicht auch noch zur zwölften Tat kommen zu lassen, macht sich Nick, ein Profiler avant la lettre, daran, das letzten Endes auch hier wieder spezielle kalendarische System zu verstehen, das hinter dieser Mordserie steht. Als Lösung erweist sich: Die ersten elf Morde sind an denjenigen der 31 Tage eines Monats geschehen, die Primzahlen sind; die übrigbleibende Primzahl ist die 5, sodass am 5. Januar wieder mit einem Mord zu rechnen ist (00:52:40). Auch die Gebäude, in denen gemordet wurde bzw. werden wird, lassen sich kalendarisch berechnen, denn sie ergeben insgesamt das Sternbild Jungfrau, in dem der letzte, noch fehlende Stern den kommenden Tatort markiert. Bleibt die Frage, in welcher Etage und in welchem Appartement das geschieht. Nachdem er Fotos der Gebäude mit Markierung der Zimmer, in denen gemordet wurde, nebeneinander aufgehängt hat, ergibt sich für Nick die Idee, das Ganze als Partitur zu lesen. Auf diese Weise hinzu kommen als weitere ‚intermediale‘ Elemente des ohnehin schon komplexen Kalender-Sternzeichen-Schemas auch noch die ersten sieben Töne des Pophits Calendar Girl von Neil Sedaka (Text: „I love, I love, my little calendar girl“, 01:12:29). Aus all dem kann Nick Zeit und Ort des nächsten Mordes berechnen und den Täter fassen. Das serielle Element tritt in The January Man zunächst insofern in den Hintergrund, als der größte Teil der Mordserie zu dem Zeitpunkt, in dem der

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Abb. 19: Monate und Primzahlen in The January Man.

Film einsetzt, bereits geschehen ist; dominant wird es aber dann rückblickend doch wieder bei der Auflösung der kalendarischen Rätselstruktur.

6 Übergänge zwischen Kalendern und Uhren Filme, in denen mit Zeitschleifen als Wiederholungsstruktur gearbeitet wird (vgl. Parr und Thiele 1993), überblenden den tendenziell als kontinuierlich wahrgenommenen Zeitfluss der Uhr häufig mit dem kalendarischen Wechsel/Einschnitt zwischen zwei Tagen. In Jack Sholders 12:01 (1993) gerät ein kleiner Büroangestellter einer Hightechfirma, die an einer Zeitmaschine arbeitet, durch einen Zeitsprung in die Lage, den tags zuvor miterlebten Mord an seiner heimlichen Geliebten in einem halben Dutzend Wiederholungen des einen Tages ungeschehen zu machen und gleich auch noch die Hintergründe aufzuklären. Symptomatisch für diese Art von Filmen ist, dass Kalender in der filmischen Diegese nicht mehr vorkommen, und zwar deshalb, weil die kalendarische Funktion in die der Uhr integriert ist. Bei Groundhog Day (dt. Und täglich grüßt das Murmeltier, 1993) beginnen die mehr als dreißig Durchläufe eines Tages immer mit dem Klingeln des Weckers und der Anzeige 06:01 von neuem. Serialität wird bei diesem Typ Film gleichsam gegen den Kalender, in dem die Wiederholung ein- und desselben Tages nicht denkbar ist, aber mit dem kontinuierlichen Fließen der Zeit erzielt.

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Dadurch „ragt“ – wie Gérard Genette in anderem Kontext formuliert hat – „das vom iterativen Segment abgedeckte Zeitfeld ganz offenkundig weit hinaus über das der Szene, in die es sich einfügt“ (Genette 1994, 85): Der Fluss der Uhr ist geöffnet ins Kalendarische hinein, die Sprünge des Kalenders werden in die Wiederkehr der Uhrzeit verlagert.

7 Fazit Wie die kleine Revue von Kalendern im Film gezeigt hat, sind sie nicht nur „Taktgeber der Literatur“ (Honold 2013), sondern auch in vielfältiger Weise ein Bezugsmedium audiovisueller Texturen, das vielfältige Funktionen erfüllt, von denen hier lediglich einige besonders offensichtliche vorgestellt wurden. Wäre dies nicht ein Buchbeitrag, sondern wären wir in einer akademischen Sitzung, dann würden jetzt alle ihre Kalender zücken, nach einem Slot für den nächsten Termin suchen und damit – ganz anders als die Kalender im Film – jedes Weitermachen erst einmal stillstellen.

Filme, Quellen und Literatur Filme 12:01. USA 1993. Reg. Jack Sholder. 1922. Griechenland 1978. Reg. Nikos Koundouros. 2012. USA/Kanada 2009. Reg. Roland Emmerich. Calendar Girl Murders (dt. Der Model-Killer). USA 1984. Reg. William A. Graham. Calendar Girl. Neil Sedaka. Scopitone-Film. www.youtube.com/watch?v=QfYiusSAGR4 (27. April 2021). Calendar Girls (dt. Kalender Girls). USA 1994. Reg. John Whitesell. DVD: Buena Vista Home Entertainment 2004. Calendar. Armenien/Kanada/Deutschland 1992/1993. Reg. Atom Egoyan. Cast Away (dt. Cast Away – Verschollen). USA 2000. Reg. Robert Zemeckis. DVD: Dreamwork Pictures 2000. Claus (dt. Klaus). Spanien 2019. Reg. Sergio Pablos. Der blaue Engel. Deutschland 1930. Reg. Josef von Sternberg. DVD: Universum Film 2010. Groundhog Day (dt. Und täglich grüßt das Murmeltier). USA 1993. Reg. Harold Ramis. Le Calendier. Frankreich 2021. Reg. Patrick Ridremont. Le Comte de Monte-Cristo (dt. Der Graf von Monte Christo). Frankreich 1954. Reg. Robert Vernay. National Lampoonʼs Christmas Vacation (dt. Schöne Bescherung). USA 1989. Reg. Jeremiah S. Chechik. Oldboy. Südkorea 2003. Reg. Park Chan-wook. DVD: e-m-s new media 2004.

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Robinson Crusoe. USA/Mexiko 1954. Reg. Luis Buñuel. Robinson Crusoe. (Die seltsamen und einzigartigen Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, berichtet von ihm selbst). Fernsehfilm in vier Teilen. Deutschland 1964. ZDF. DVD: Concorde Home Entertainment 2006. Star Trek. (dt. Raumschiff Enterprise). USA 1966 – 1969. The Blue Lagoon (dt. Die blaue Lagune). USA 1980. Reg. Randal Kleiser. DVD: Columbia Pictures 1980. The Holiday Calendar. USA 2018. Reg. Bradley Walsh. The January Man (dt. Im Zeichen der Jungfrau). USA 1988. Reg. Pat OʼConnor. DVD: MGM Home Entertainment 2002. The Last Man on Earth. USA 1967. Reg. Ubaldo Ragona und Sidney Selkow. The Omega Man (dt. Der Omega Mann). USA 1971. Reg. Boris Sagal. – DVD: Warner Brothers Entertainment 1999. The Shape of Water (dt. Shape of Water – Das Flüstern des Wassers). USA 2017. Reg. Guillermo del Toro. DVD: Fox Searchlight Pictures (TSG Entertainment) 2018. Жизнь и удивительные приключения Робинзона Крузо Schisn i udiwitelnyje prikljutschenija Robinsona Kruso Goworuchin (dt. Synchronfassung: Robinson Crusoe. Sowjetunion 1972. Reg. Stanislaw Sergejewitsch).

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Funktionen von Kalendern im Film

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Zeitsynthesen? Überlegungen zu einigen Voraussetzungen der Zeitform ‚Kalender‘ 1 Kalender als Synthese von Zeitsynthesen Die Überlegungen, die Alexander Honold der Zeitform Kalender widmet (Honold 2005; 2013; 2021), sind syntheseorientiert. Dass es Zeitsynthesen überhaupt gibt, wird a fortiori unterstellt, infrage stehen ihre verschiedenen Ausprägungen. Entsprechend besteht das Textkorpus, dem sich die Analysen widmen, aus dem Höhenkanon klassischer Texte der gemäßigten Moderne. Honold beschreibt die Zeitform Kalender aus der durchaus problematisch bleibenden Überlagerung verschiedener Ordnungssysteme (zusammengefasst in Honold 2021): zeitliche Zyklen (Jahre, Monate, Wochen, Tage, Jahreszeiten etc.), astronomische Ordnungen (Sonnenjahr, Mondjahr etc.), epochale Terminierungen oder kulturell skandierte Bedeutungssetzungen (Nullpunktsetzung mit der Geburt Christi, französischer Revolutionskalender, römische Kalendaristik, Kirchenjahr etc.), kalendarische Gattungsformen (z. B. barocker Spaltenkalender), Berechnungsmodelle (z. B. 360-Grad-Einteilung). Kalender haben also die Aufgabe, unterschiedliche Modellparadigmen zu synthetisieren. Es ist dies ein Unterfangen, das nicht immer aufgeht, sobald numerische Präzision, kosmische Zyklen und kulturelle Paradigmen aufeinanderstoßen. Das Phänomen des Schaltjahrs gibt über die Schwierigkeit, zyklisch nicht integrierbare numerische Reste zu berücksichtigen, beredt Auskunft. Als die julianische Kalendaristik im 16. Jahrhundert einen Rückstand von elf Tagen zu konstatieren hatte, wurde der gregorianische Kalender mit der Schaltjahresregelung eingeführt, freilich um den Preis, dass durch Umbenennung des 4. in den 15. Oktober 1582 elf Tage aus der Weltgeschichte herausgefallen sind. Genaue Berechnungen zeigen allerdings, dass auch der gregorianische Kalender die numerische Präzision nicht ganz erreicht. Honolds Studien zur literarischen Kalendaristik basieren auf der Überlegung, dass die Syntheseleistung, die der Kalender selbst schon vollzieht, zugleich als Syntheseleistung der literarisch dargestellten Zeit analysiert und sichtbar gemacht wird. Dieser Ansatz macht das Prinzip der Zeitsynthese zur Voraussetzung der literatur- und kulturwissenschaftlichen Beobachtung. Implizit ist damit die zeittheoretische Vorentscheidung getroffen, dass es erstens Zeit als solche gibt, dass sie zweitens sich homolog koordinierend über verschieden große Areale erstreckt und dass drittens Literatur ein starkes Medium für eine derart qualifizierte Darstellung von Zeit ist. https://doi.org/10.1515/9783110773750-011

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Erstens: Gibt es Zeit? Augustins Argument bestreitet die Existenz von Zeit: Indem sie entweder als vergangene nicht mehr oder als zukünftige noch nicht ist und als gegenwärtige nie erhascht werden kann, ist sie dreimal, also auch insgesamt, nicht existent (Flasch 2004, 251). Sein Lösungsvorschlag, Zeit als Erinnerung, Dauer und Erwartung ins subjektive Zeitempfinden zu verlegen (Flasch 2004, 259), ist seit jeher bewundert und bezweifelt worden. Denn die Existenz von Zeit wird durch diesen Coup wiederum auch bezweifelt, weil sie unter den Verdacht gerät, sich als bloß subjektive Chimäre darzustellen. John und Ellis McTaggarts (2007) in der Philosophie nicht weniger berühmtes Argument basiert darauf, dass es zwei Zeitschematisierungen gibt – Zeit als relationale Vorhernachher-Unterscheidung versus Zeit als prozessuale dreimodulige Form –, die jeweils in sich selbst und dann auch gegenseitig widersprüchlich sind, weshalb infolge des Widerspruchs Zeit überhaupt eine Illusion sei. Nach wie vor bestehen in der Philosophie beide Probleme. Zweitens: Selbst wenn man Augustins Argument zugestehen würde – Honold referiert es zustimmend (2013, 8) –, ist doch mit der bloß subjektiv bleibenden Zeiterfahrung keine Aussage über die Möglichkeit oder gar Legitimität gemacht, derlei Schematisierungen intersubjektiv, gesellschaftlich, epochal oder weltgeschichtlich zu verallgemeinern. Die unterstellte subjektinterne Zeitsynthese bietet als solche keinen Legitimationsgrund dafür, objektive Zeitsynthesen strukturhomolog auf andere Gebiete zu übertragen. Der Dezisionismus von Gregor XIII., elf Tage rechnerisch verschwinden zu lassen, gibt zunächst Auskunft über Dispositive der Macht. Methodologisch wäre in forcierter Paradoxie zu mutmaßen, dass Zeit, egal ob es sie gibt oder nicht, instituiert wird, gegebenenfalls kontrafaktisch. Sie ist vielleicht das Ergebnis von Machtregimen und erhält ihre Wirklichkeit aus den Prozeduren der Macht – dies umso mehr, desto allgemeiner und umfassender Zeitmodellierungen als Kontrollinstanzen für soziale Körperschaften, etwa für die regulierte Arbeitszeit, vorgeschrieben werden. Gesellschaftlich hat Zeit wohl die wesentliche Aufgabe, Arbeitsrhythmen zu koordinieren.Wahrscheinlich lässt sich die lange Zeit vorherrschende Superposition der westlichen Welt aus der in ihr geltenden Zeitökonomisierung herleiten, wie etwa ein Vergleich mit chinesischen Zeitvorstellungen zeigt (vgl. Jullien 2004). Mit anderen Worten: Es lässt sich durchaus infrage zu stellen, ob subjektive Zeitevidenz mit objektiv modellierter Zeit überhaupt zusammenhängt. Ist der Kalender ein mögliches Modell der Zeit? Ist die Übereinanderlegung von kosmischer Zyklik, numerischer Ordnung und kulturell bedeutsamer Terminierung tatsächlich eine Synthese oder nicht vielmehr eine Machttechnik, die über die Brüche, Reste und Verwerfungen hinwegzutäuschen versucht? Die Frage, wie diese verschiedenen Ebenen miteinander verbunden werden können, ist methodisch durchaus heikel, sie wird zeitphilosophisch wohl nicht begründbar sein. – Würde man nicht syntheseorientiert,

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sondern modernetheoretisch und mit negativistischer Skepsis über die Zeitform Kalender nachdenken, dann würden die Überlegungen einen dekonstruktiven und machtkritischen Zug annehmen. Drittens: Es ist immer eine Entscheidung, welche Literatur man für welche These auswählt. Es gibt Solidaritäten zwischen literaturwissenschaftlichen Theorieprofilen und dem von ihnen bewirtschafteten Textkanon (vgl. Previšic 2010). Für die Frage nach einer literarischen Kalendaristik und der ihr entsprechenden Zeitmodelle behandelt Honold Autorinnen und Autoren wie Friedrich Schiller, Friedrich Hölderlin, Johann Peter Hebel, Thomas Mann, Annette von Droste-Hülshoff oder Ernst Jünger. Sie werden vor allem integrierende Antworten zu bieten haben. Wie sähe es mit einem anderen Kanon aus, in dem etwa Jean Paul, Wilhelm Raabe oder Arno Schmidt zu finden wären? Sehr viel allgemeiner gefragt: Wenn die Dekonstruktion damit recht hätte, dass die thematische Ebene der Darstellung in der Literatur immer durch die Verfahren des Darstellens unterwandert und destabilisiert wird, ist dann nicht eine radikale Lektürebewegung nahegelegt, die sich dekonstruktiv gegen die Zeitmodelle richtet – und zwar im Namen der Literatur? Wie sähe eine literarische Zeitmodellierung mit Rücksicht auf die Thematik des Kalenders aus, wenn Zeitsynthesen nicht von vornherein angenommen werden würden? Dazu sind im Folgenden einige Bemerkungen zu machen.

2 Die zerschossene Zeit: Katastrophe statt Kalender (Geerken, Schmidt) Hartmut Geerken schreibt in seiner vierhundert Seiten umfassenden Prosa phos (2005) einen anderen Kalender. ‚Phos‘ steht vor allem für Phosphor, dem Brandbeschleuniger der im Zweiten Weltkrieg eingesetzten Bomben der englischen Luftwaffe. Das Buch hat die Bombenangriffe auf Stuttgart zum Gegenstand. Die Kapitel sind nach einem identischen Schema benannt. So heißt etwa ein Kapitel (72– 77): „11034322462350 die rote solare erde“ (Geerken 2005, 72, siehe auch 7). Zu lesen ist die Zahlenfolge so: 11. März 1943, von 22:46 Uhr bis 23:50 Uhr. Eine Liste im Anhang (Geerken 2005, 350 – 356) verzeichnet alle bekannten, etwa zweihundert Bombenangriffe chronologisch. Einige Einträge sind mit Buchstaben in alphabetischer Reihenfolge versehen; sie bezeichnen die im Buch thematisierten Angriffe. Es überschneiden sich also chronologische und alphabetische Ordnungen. Der Überschriftsteil „die rote solare erde“ holt die Sonne auf die Erde, in der Feuerfarbe rot – üblicherweise wird die Sonne mit der Farbe gelb assoziiert –, sodass die Bombenattacke aus der Egoperspektive als Einsturz der Sonne auf

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die Erde wahrgenommen wird. Die neben den Zahlenreihen sprechenden Überschriftsanteile kreieren einen negativistischen Schöpfungsmythos, in dem galaktische oder planetarische Mächte menschlicher Anmutung (kristallener Magier, rhythmischer Krieger, kosmische Hand etc.) zusammen mit Naturelementen (magnetische Samen, spektrale Schlange, lunarer Drache etc.) und Gestirnen (planetare Sonne, rhythmischer Stern etc.) die Verwandlung und Umstülpung der Erde vollziehen. So werden die Daten zu Terminierungen mythopoetischer Schreckensmächte, die insgesamt eine Inversionsbewegung vollziehen, in der die abstrakte Todeskälte des Weltalls in den Erdenraum einbricht, um diesen zu entflammen. Formal betrachtet, wären somit die Synthetisierungsmomente für die Zeitform Kalender vorhanden: zwei Skalen – eine rein chronologische, daraus selektiert eine alphabetische –, deren unterschiedliche Notierungsformen übereinandergelegt werden; kulturelle Zäsuren, nämlich die Schockwellen der Angriffe; Andeutungen eines mythologischen Systems. Trägt phos also die Züge eines literarischen Kalenders? Tatsächlich werden alle Möglichkeiten von Zeitsynthesen konsequent unterlaufen, die Zeitebenen durchschießen einander unvermittelt. Schon das sprechende Ich ist das damalige Kind und zugleich der schreibende Intellektuelle. Auf der thematischen Ebene schlägt die Bombe immer schon unvermittelt in die Schreibgegenwart ein¹ und am zum Schreiben wie zum Frühstücken benutzten Tisch wird der in den Konzentrationslagern produzierte Knochenleim wahrnehmbar, der aber entgegen der Erzählgegenwart in die Kindernase steigt.² Es liegen hier keine Zeitsynthesen vor, sondern schockhafte Durchdringungen von Zeitebenen. Die Bombenangriffe werden vom jetzt Schreibenden, aber zugleich aus der Ichperspektive eines Kindes, zurückgehend auf Geerkens eigene Kindheitserlebnisse, evoziert, in einer ohne Satzzeichen als innerer Monolog durchgeschriebenen und weitgehend über metonymische Assoziation oder scharfe metaphorische Sprünge organisierten Prosa. Die Zusammenhänge erstellen sich einzig über paradigmatische Relationen einer idiosynkratischen Matrix, deren Grundstruktur von der Zerreißung durch die Bomben gebildet ist. Anstelle einer Zeitkontinuität, die berechenbar wäre, entstehen jäh aufsteigende Assoziationsbündel, ins Licht der Textfähigkeit durch den Blitz der Explosion gesetzt:

 „[…] sehe ein lachendes marmeladengesicht mein fleisch färbt sich bei verletzung lohfarben oder schmutzig rosa habe ich etwa vergessen den bombeneinschlag von vor einer Minute zu erwähnen wir werden nie loskommen von den religionen solange es das gesindel gibt früher war ich blass […]“ (Geerken 2005, 156 – 157).  „[…] der knochenleim mit dem der tisch auf dem ich schreibe geleimt ist steigt in meine kindernase […]“ (Geerken 2005, 156).

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[…] vor 2 Jahren noch lebte er mit seiner katze in rufweite von mir am anderen ufer des sees alles was gerade passierte war ein körper der durch die luft flog steine & erde spritzten von der strasse hoch auch teile von ziegelsteinen mit löchern heute mittag hatten wir den sechs&neunzigsten alarm 060443 jeder kopf glühte im lichtkreis einer lampe […].

Das Ich wird in dieser Oszillation einer in ihren Bestandteilen zerberstenden Welt selbst ortlos: „[…] aber so gespielt wird im weltall zwischen erde & himmel lag ich direkt mitten in der luft […]“ (Geerken 2005, 77). Auch die Zeitform Kalender kennt eine Vertikalisierung der Zeit. Der Nullpunkt der Geburt Christi scheidet die Zeit im Sinne der christlichen Typologie, und die chronikalisch verlaufende Zeit hat immer auch die Dimension, einen Index der Erlösung mitzutragen. Der Heiligenkalender figuriert dieses Zeitverständnis aus. Aber der Kalender muss gleichwohl die Horizontalisierung der Zeit gewährleisten. Diese Funktion wird in Geerkens phos unterlaufen. Die Schockerfahrung findet in der Plötzlichkeit, mit der sie die Ebenen durchstößt, keine querverstrebenden Stabilitäten, um Zeitkontinuität zu begründen. Somit werden die Zeitsynthesen auf jeder Ebene durchbrochen. Dem jetzt Schreibenden dringt ein Geruch in seine Kindernase: Schon das Subjekt, das die Zeitsynthese gewährleisten soll, ist nicht ein in sich und mit sich einiges. Die kosmische Bewegung ist ein Zusammenfallen, ein Katastrophensturz der planetaren Welt auf die Erde: Die den Kalender stabilisierende astronomische Dimension kollabiert. Mond und Sonne (Mondjahr, Sonnenjahr) werden zu Akteuren einer vernichtenden mythologischen Gewalt. Geerkens phos lässt sich als Angriff auf die Normalitäten der Zeit und insbesondere auf die Zeitform Kalender lesen. Geerken ist mit dieser mimetischen Anverwandlung an die Bombenexplosion nicht der einzige Autor nach 1945. Arno Schmidts Szene eines Bombenangriffs am Ende seines Textes Aus dem Leben eines Fauns (1953) macht die Grundstruktur vielleicht noch anschaulicher. Dass Schmidt seine Texte in sogenannten snapshotEinheiten schreibt, reflektiert in der ästhetischen Form die zerreißende Gewalt des Bombenangriffs. Der grelle Blitz der Explosion stellt im Moment höchster Dynamik die Dinge im Modus ihres Zerrissenwerdens still. Sie sind bis zum nächsten snapshot nicht mehr zu reparieren: Ein vergrabener Spiritustank rüttelte sich frei, rollte sich auf wie Marienglas auf heißer Hand, und zerging in einen Halemaumau (aus dem Feuerbäche gossen: ein Polizist gebot bestürzt dem rechten davon Einhalt und verdampfte im Dienst). Eine fette Wolkige richtete sich am Magazin auf, blähte den Kugelbauch und rülpste einen Tortenkopf hoch, lachte kehlig: o wat!, und knotete kollernd Arme und Beine durcheinander, wandte sich steatopyg her, und fortzte ganze Garben von heißen Eisenrohren aus, endlos, die Könnerin, daß die Sträucher bei uns knixten und plapperten. Eine glühende Leiche fiel schmachtend vor mir auf die Kniee, und brachte ihr qualmendes Ständchen; ein Arm flackerte noch und schmorte keck: mitten aus der Luft war sie

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gekommen, „Vom Himmel hoch“, die Marienerscheinung. (Die Welt war überhaupt voll davon: wenn wieder ein Dach hochklappte, schossen sie von den Simsen wie Taucher, gehelmt oder mit nacktem Haar, flogen ein bißchen, und platzten unten wie Tüten. In Gottes Bubenhand!). (Schmidt BA I/1, 381– 382)

Weil hier keine Zeit mehr die gemächliche Breite des Epischen erreichen kann und weil im Schock die Synthese der Zeit objektiv und auch im Subjekt zerbirst, beginnt der Text mit der berühmten Sequenz einer mehrmaligen negativen Beteuerung zur Frage der Kontinuität: Mein Leben?!: ist kein Kontinuum! (nicht bloß durch Tag und Nacht in weiß und schwarze Stücke zerbrochen! Denn auch am Tage ist bei mir der ein Anderer, der zur Bahn geht; im Amt sitzt; büchert; durch Haine stelzt; begattet; schwatzt; schreibt; Tausendsdenker; auseinanderfallender Fächer; der rennt; raucht; kotet; radiohört; „Herr Landrat“ sagt: that’s me!): ein Tablett voll glitzernder snapshots. Kein Kontinuum, kein Kontinuum!: so rennt mein Leben, so die Erinnerungen (wie ein Zuckender ein Nachtgewitter sieht): Flamme: da fletscht ein nacktes Siedlungshaus in giftgrünem Gesträuch: Nacht. Flamme: gaffen weiße Sichter, Zungen klöppeln, Finger zahnen: Nacht. Flamme: stehen Baumglieder; treiben Knabenreifen; Frauen kocken; Mädchen schelmen blusenauf: Nacht! Flamme: Ich: weh: Nacht!! (Schmidt BA I/1, 301)

Interessanterweise findet auch bei Schmidt eine Durchdringung der Erzählebenen statt. Die snapshots sind zwar innere Monologe, aber überwiegend in der Vergangenheitsform geschrieben, sodass sie in die temporale Distanz zu ihrer literarischen Vollzugsform treten und somit eigentlich (text‐)ontologisch unmöglich sind. Man kann es folglich nur konsequent nennen, dass Arno Schmidt über die Zeitform Kalender zuweilen nachdenkt und sie als inadäquat abgeschafft wissen möchte. Sein kurzer Essay Julianische Tage unterbreitet den ironischen Vorschlag, Zeitläufte durch die Angabe der julianischen Tage, aber unter Verzicht auf kalendarische Datierung, anzugeben. So habe Herder etwa 21663 Tage gelebt, eine aussagekräftigere Datierung als die kalendarische, so Schmidt (BA III/4, 88). Wer sich das alte Datum errechnen wolle, könne dies problemlos anhand zweier Tabellen tun (BA III/4, 89). Diese benutzend, lässt sich übrigens errechnen, dass bei Werthers romantischer Mondnacht vom 9. September 1771 der dazu nötige Mond abwesend war: „,Finster wars, der Mond schien helle‘: das wollen nun Klassiker sein!“ (BA III/4, 91).

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3 Der leere, also immerwährende Kalender (Egger) „Fast allen meinen Büchern liegt ein Kalender zugrunde, denn das Einzige, was immerzu passiert und sich ereignet, ist, denke ich, dass die Zeit vergeht.“ (Egger 2019, 39) Diese, in einem Interview sich findende Aussage Oswald Eggers hat ihre Tücken. Denn indem der Kalender die Zeit nicht einfach nur vergehen oder passieren lässt, sondern sie zäsuriert, mit bedeutsamen Terminierungen versieht und somit Zeitsynthesen formiert, fügt er der Zeit Inhalte bei, lässt sie sich an Bedeutsamem kristallisieren und zur Sichtbarkeit bringen. Aber Egger insistiert, er bleibt bei seiner Aussage, die Kalender und bloßes Vergehen der Zeit zusammenstellt – auch in seinen poetischen Texten. Immer wieder ist in Die ganze Zeit – Eggers umfangreichster und zeittheoretisch substanziellster Text – vom Kalender die Rede, auch von der Zeiteinteilung des Jahres: „Die aufs Jahr ins Stundenbuch gestanzten, vierundzwanzig Einstiftungen zu Liedern pro Tag, flüchtige, wie Sandfiguren Vertraute ihrer unruhständigen Uhr in Mühl- und Göpelform, im Pensum entlang des Kalenders notiert“ (Egger 2010, 179). Nähme man dies wörtlich (eine bei Eggers wortumwendender Wörtlichkeit nur ironisch benutzbare Wendung), dann wären die Vierzeiler und Prosagedichte in Die ganze Zeit vom kalendarischen Zeitmetrum geleitet, als schriebe Egger pro Stunde sein Pensum, vierundzwanzig pro Tag, ein ganzes Jahr lang, wie er an anderer Stelle nahelegt. Feiertage und Wochenenden in Abzug gebracht, blieben etwa dreihundert Arbeitstage mit je vierundzwanzig Einstiftungen (vgl. Egger 2010, 179, 539). Die Rechnung geht nicht auf, so viel ist sofort zu sehen. Die ganze Zeit enthält weit mehr als nur siebentausendzweihundert Texte. Der großformatige, siebenhunderteinundvierzig Seiten umfassende Text besteht aus kürzeren Prosablöcken, aus Vierzeilern, die auf den ersten Blick wie Volksliedstrophen aussehen, aus Skizzen und Zeichnungen sowie in regelmäßigen Abständen aus jeweils einer Seite theorieorientierter Prosa. Der Text hat keine Handlung, der Zusammenhang zwischen den einzelnen Texteinheiten ist nicht mit Kategorien des Erzählerischen beschreibbar. Oswald Eggers opus magnum umkreist die Frage, ob und wie die ganze Zeit vorhanden und repräsentierbar ist. Da die Lektüre keinerlei Orientierung in diesem Textgebirge findet, ist sie mit jenem Akt am absoluten Anfang und zugleich immer schon mittendrin. Es bildet sich bei ausdauerndem Lesen kein Textgedächtnis. Selbst der Versuch, wiederkehrende Motive zu versammeln und sie untereinander abzugleichen, führt weder zu einer Erzählung noch zu einem irgendwie kohärenten Paradigma. Die primäre Erfahrung nach mehrstündigem Lesen besteht darin, die ganze Zeit über die Zeit nicht ausgefüllt zu haben – in

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dem Sinne, dass sie durch zielführende Arbeit strukturiert worden wäre. Ohne Ergebnis in den Händen steht die Leserin oder der Leser am Ende da und hat weiter nichts als eben genau nur dies, die ganze Zeit über die Zeit selbst, und nicht etwas in ihr, vollzogen zu haben. Eggers Buch verweigert folglich die Zeitsynthese in jeder Hinsicht. Es gibt keine zeitliche Teleologie, keinen Anhaltspunkt semantischer Art, nicht einmal einen Hinweis dazu, in welcher Weise bestimmte Seiten zu lesen wären. So finden sich Doppelseiten, die einem regelmäßigen Mosaik von viereckigen Plättchen ähnlich wie aus Vierzeilern bestehen. Man könnte von links nach rechts auf einer Seite oder über die Doppelseite hinweglesen, um dann links mit der nächsten Zeile weiterzufahren. Man könnte aber auch eine Spalte von oben nach unten lesen. Beide Strategien ließen sich seitenverkehrt von rechts nach links anwenden, aber auch diagonale Verbindungen sind möglich. Je länger man in Die ganze Zeit liest, desto mehr verliert man die Funktionszeiten und desto intensiver entleert sich das Bedürfnis nach Zeitfüllung überhaupt. Das Lesen schreitet nicht fort, die Zeit ist eigenartig iterativ, invers geworden, wie in sich zurückgebogen. Der Text besteht aus Gabelungen, die sich gabeln: Vielleicht gabelt sich die Gabe der gegebenen Zeit in nur fortwährender Verästelung und Verdrehtheit, so wie ein Stundenglas mitsamt Sand, das die Zeit als Frist in sich geborgen dauert. Ein Taschenspielertrick: man lebt lieber im Glauben, die Zeit sei etwas ständig neu sich Veränderndes, Entstehendes und sich Verwandelndes – im Handumdrehen. Die neuen Zeitkörner setzten sich also aus alten Zeitkörnern zusammen, und nichts vergeht, nichts bleibt, nichts folgt. (Egger 2010, 499)

Oswald Egger versucht sich an der Zeit mit einer wahrhaft paradoxen Grundfigur: Er verzichtet auf alles, was gemeinhin mit Zeitlichkeit in Verbindung gebracht wird. Trotz der mehrfach wiederholten Behauptung, die kleinen Texte einem kalendarischen Rhythmus folgend geschrieben zu haben (vgl. Egger 2010, 179, 539 u. ö.), gibt es kein Anzeichen einer kalendarisch skandierten Zeit. Im Kalender kann die ganze Zeit auch nicht auftauchen. Es ist eine Figur der Mystik, durch den Rückzug der Zeit („NICHTS TUN“: Egger 2010, 359) die Zeit zu gewärtigen. So wird das Zählen der Tage „belanglos“ (s.u.), die im entleerten Kalender sich zeigende Zeit wird in jedem Moment zur ganzen. Darüber verwandelt sich der Kalender zum Immerwährenden: Daß mit den zerronnenen Tagen zusammen und unzusammen alle „Wochen“ 24 mal 7 Tage, 19 (18) mal 8 Tage und 5 (6) mal 9 Tage abhakten, ist bei der stets gleichen Anzahl von Werktagen belanglos, da ja keine Zeit-Einteilung, sondern nur eine Partition des Tuns entsprechend dem tempus des modus zum Tagewerk in „Wochen“ führen mußte, ein Prinzip, das in metapoetischer Intervention fast metaschematische Gedichtegedichte coexistierend

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arrangiert – ich meine meinen hierin immerwährenden Kalender, der um ein Wort für Wort aufs Spiel ums Spiel setzt bald, die ganze Zeit (zu keiner). (Egger 2010, 539)

Wenn die Tage zwar gezählt sind, aber so, dass ihr Dasein immer „jetzt, im Nu, mit ihrer unbeständig gleichen Einzahl von Unbegebenheiten, oszillierend an denselben Pendel-Stellen jeden Datums“ (Egger 2010, 179) die bloße Selbigkeit des Zählens zum Ergebnis haben – die iterierte Eins –, dann führt das Zählen der Zeit zum Verlust der Zeitsynthesen, aber eben deshalb zum Hervortreten der ganzen Zeit jenseits ihrer Funktionsbestimmungen, zu denen letztlich auch die drei Zeitmodule (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) gehören. Oswald Eggers poetisches Nachsinnen über Zeit ist denkbar radikal. Würde man sich auf das close reading seiner in Die ganze Zeit enthaltenen Vierzeiler und Prosagedichte einlassen, so würde man überraschenderweise die Erfahrung machen, dass die Texte einer intensiven Lektüre standhalten und einer nach dem anderen komplexe Figuren der poetischen Selbstreferenz entfalten. Die ganze Zeit aber tatsächlich in dem Sinne zu lesen, dass nicht allein die Entleerung der Zeit meditativ erfahren, sondern tatsächlich die komplexe Textualität entziffert wird, wäre eine Lebensaufgabe. Sie würde alle Zeitmöglichkeiten sprengen. Die Zeitform Kalender wird von Egger entschieden außer Kraft gesetzt, indem die Ordnungsfunktion des Zählens immer wieder auf die Selbstidentität der Eins zurückfällt und somit alle Synthesefunktionen unterläuft, die dem Kalender erst die konstituierende Form geben. Das Egger aber gerade aus dieser Entleerung den Begriff des immerwährenden Kalenders ableitet, ist eine überraschende Pointe. Sie invertiert die Zeitform so sehr, dass die Zeit überhaupt erst die Möglichkeit hat, in der Weise eines Entzugs hervorzutreten. Es handelt sich um eine Figur ähnlich der negativen Theologie, worüber einiges zu sagen wäre. An dieser Stelle mag genügen, dass Eggers poetische Zeitphilosophie exakt den Punkt trifft, der geeignet ist, die Zeitform Kalender zu subvertieren. Wo keine Zeitsynthese gebildet wird, ist kein Kalender und eben deshalb ein immerwährender.

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Honold, Alexander. Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800. Berlin: Vorwerk 8, 2005. Honold, Alexander. Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur. Basel: Schwabe, 2013. Honold, Alexander. „Kalender-Astronomie“. Enzyklopädie der Genauigkeit. Hg. Markus Krajewski, Antonia von Schöning und Mario Wimmer. Konstanz: Konstanz University Press, 2021. 232 – 243. Jullien, François. Über die „Zeit“. Elemente einer Philosophie des Lebens. Zürich/Berlin: Diaphanes, 2004. McTaggart, Ellis und John McTaggart. „Die Irrealität der Zeit“. Klassiker der modernen Zeitphilosophie. Hg. Walther Ch. Zimmerli und Mike Sandbothe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 32007, 67 – 88 [zuerst englisch in der Zeitschrift Mind, 1908]. Previšic, Boris (Hg.). Die Literatur der Literaturtheorie. Bern: Lang, 2010. Schmidt, Arno. Bargfelder Ausgabe. Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung. Bargfeld/Zürich: Haffmanns, 1986 ff. [zitiert nach BA, nach Werkgruppen].

Zeitvorstellungen und Zeitwahrnehmung

Hans Richard Brittnacher

Die Iden des März: Jeder Verrat hat seine Zeit

Im 34. Gesang des Inferno sind Dante und sein treuer Reisebegleiter Virgil, nach der Begegnung mit Dieben und Lügnern, Advokaten und Ehebrechern,Wucherern und Falschspielern, Meuchelmördern und Menschenfressern, die alle bereitwillig Auskunft über ihre Taten gaben, endlich am Ziel ihrer Reise angekommen, am finstersten und kältesten Ort der Welt. Es ist der spitze Winkel jenes Kraters, den der Sturz der abtrünnigen Engel in die Erde hinterlassen hat. An der tiefsten Stelle des Kegels, der in neun Terrassen die verdammten Seelen aufnimmt, säuberlich nach Ausmaß und Art ihrer Schuld voneinander getrennt, treffen die Jenseitsreisenden endlich auf den „Herrscher dieses schmerzensvollen Reiches“ (Dante 34/28). Er ist nicht länger der Lichtträger, der Sohn des Morgens, der schönste der Engel – sein Hochmut, wie Gott zu sein, sich mit diesem die Anbetung durch die Menschen teilen zu wollen, hat ihn der göttlichen Güte, die fast alles verzeiht, unerreichbar weit entrückt. Satan gilt seither als die Seele der Apostasie, als Geist des maßlosen Eigensinnes, einer widergöttlichen Verstocktheit. Er muss seinen Abfall – wie die anderen Sünder auch – gleichsam anschaulich büßen: Das Ausmaß seines Hochmuts erklärt die Erbarmungslosigkeit seiner Strafe. Dante und Vergil sehen ihn bis zur Brust eingefroren: unverrückbar gebannt im Eis, das ihn in einer Felsspalte festfriert, erinnert die äußere Kälte seines Kerkers ihn an die seelische Kälte seiner Selbstsucht. Mit ihr ist er fortan allein, fern von Gott, dem Quell der Liebe und der Wärme, von dem er sich aus freien Stücken losgesagt hat. Der Verlust seiner Schönheit und seines Selbst spiegelt sich in seiner Vervielfältigung und seiner Verhässlichung: Statt des schönen Antlitzes wachsen aus seinen Schultern, über den mächtigen Schwingen, wie als Verspottung der göttlichen Trinität, drei hässliche Fratzen heraus: „War er so schön einst, wie er häßlich jetzt“ (34). Eines der Gesichter ist scharlachrot, eines weißlichgelb, das dritte schwarz. Zu den drei Antlitzen gehören drei Augenpaare, aus denen der Fürst der Finsternis, seinen Abfall bereuend, bittere Tränen vergießt: „[…] er weinte aus sechs Augen, und drei Kinne / trieften von Tränen und von blutgem Speichel.“ (34/53 – 54.) So aufrichtig die Reue des dreiköpfigen Satans auch sein mag: Ihm wird nicht vergeben, sowenig wie den drei Sündern, die von seinen Klauen ergriffen, in die drei Mäuler gestopft, durchgekaut und wieder ausgespien werden – eine „an Verachtung nicht zu überbietende Grausamkeit“ (Teppe 2021, 143), die vielleicht Dantes Empörung wegen seiner ungerechten Verbannung aus dem geliebten Florenz bezeugt und die Rachefantasien des Vertriebenen wiehttps://doi.org/10.1515/9783110773750-012

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dergibt. Die im ewigen Eis Gefolterten, Zerkauten und Ausgespienen sind Judas, Cassius und Brutus – jene drei, die wie Luzifer selbst das Verbrechen schlechthin, den Verrat, begangen haben. Die Verräter im tiefsten Pfuhl der Verworfenheit, der nach Judas benannten Giudecca, sind verstummt: „Anders als die meisten Insassen der Hölle, denen die Wanderer begegnet sind, sprechen die Erzverräter nicht über ihre Taten.“ (Bahners 2021, 148) Die Schweigsamkeit der Sünder ist ein erster Hinweis auf die Vergeblichkeit jeder Hoffnung auf Verzeihung. Der Verrat ist mehr als nur das schlimmste der Verbrechen – er ist vielmehr seine Voraussetzung, der erste Akt beim Zerfall der Kultur. Rowan Williams, einst Erzbischof von Canterbury, hat in seinem Kommentar zum 34. Gesang des Inferno den Verrat als das schlechthin unkommunikative Handeln bezeichnet, „die Auflehnung gegen das mit jedem Wort gegebene Versprechen der Verlässlichkeit, ‚de[n] Selbstmord der Sprache‘“ (vgl. Bahners 2021, 148 – 149). Verrat, der auflöst, was verbunden sein soll, setzt den Solidaritätsgedanken, mit dem Religion, Gemeinschaftssinn und Kultur Menschen aneinanderbinden, außer Kraft. Der Verrat verneint die Liebe, entwertet die Freundschaft, zersetzt die Gemeinschaft, verhöhnt den Staat. Kein Verbrechen ist schlimmer: Rechtens gebührt dem Verräter der unterste Kreis der Hölle, das finsterste Loch in der Eishöhle der Verdammnis, als Wohnort angewiesen. Einer der drei Verräter, die Satan zermalmt, ausspeit und erneut durchkaut, ist Judas, der „Erzschelm“, wie ihn Abraham a Santa Clara nannte, der Jünger, der aus nichtigen Gründen und für schäbigen Lohn seinen Herrn, den Sohn Gottes, verriet: „Die Seele dort, der ward die größte Strafe, Judas Ischariot ist es“, sprach der Meister, „drin ist sein Kopf, die Beine strampeln draußen.“ (Dante 34, 61– 63)

Was nach einer Marter klingt, die den Sünder straft, indem sie dem Hochmut des abtrünnigen Geistes die Jämmerlichkeit seines malträtierten Körpers gegenüberstellt, das groteske Bild des Zerkauten und in den Schlund Hineingewürgten, dessen zappelnde Beine noch aus dem Maul des Ungeheuers hängen, ist zugleich ein Sinnbild des Verrats, dessen zersetzende Kraft an Judas selbst physisch vollzogen wird: In der Auflösung jener Koordination, die den Kopf mit der Peripherie des Körpers verbindet, durchleidet Judas in alle Ewigkeit, was sein Verrat an Zwist und Trennung in die Welt brachte. Der Kopf der andern beiden hängt nach unten, der aus der schwarzen Fratze hängt ist Brutus, Sieh nur, wie er sich krümmt, doch keinen Laut gibt. (Dante 34, 64– 66)

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Cassius, des zweiten Cäsarmörders, wird nur noch mit einem verächtlichen Hinweis auf den einst so kraftvollen Körper gedacht: „Der andre mit den starken Gliedern Cassius.“ (Dante 34, 67) Die Cäsarmörder sind die Paladine des Judas, zusammen bilden sie das Triumvirat des Verrats, des religiösen und des politischen Abfalls. Während des Judas Beine, ihres Nervenzentrums beraubt, besinnungslos strampeln, hängen die Häupter von Brutus und Cassius aus den beiden anderen Mäulern Satans, ihre Beine stecken noch im Schlund des Ungeheuers, in den seine schrecklichen Krallen sie gestopft haben. So sehr des Brutus Leib sich auch in Schmerzen krümmen mag – er gibt keinen Laut von sich: „Vedi come si storce! E non fa motto!“ –, und reproduziert mit seinem stummen Leiden spiegelbildlich seine Tat: Er hat sich, um den Erfolg der bösen Tat nicht zu gefährden, zu eisernem Schweigen verpflichtet, gute Miene zum bösen Spiel gemacht, Cäsars Entourage im guten Glauben seiner Harmlosigkeit gelassen. Dieses erbitterte Schweigen wird nun, Zeichen seines Verrats, auch zur ewigen Pein: Sogar das Grundrecht des Gemarterten auf den Schrei bleibt ihm versagt. Die Körperkraft des ‚gliederstarken‘ Cassius, des unermüdlichen Antreibers beim Mord an Cäsar, nützen dem kopfüber aus dem Maul hängenden Verräter nichts mehr. Er, der den Regenten des römischen Weltreichs, das Zentrum der Macht, ermordete, um sich selbst zu krönen, hängt als das ohnmächtige Schandmal seines Ehrgeizes im Maul des Satans. Den in der Lautlosigkeit des ewigen Eises zur Stummheit verurteilten Brutus hat Shakespeare dreihundert Jahre später zum Sprechen gebracht, als den Helden einer Tragödie, die er jedoch nicht nach dem Täter, sondern seinem Opfer benannte: Julius Cäsar. Wegen der Unentschiedenheit der Frage nach dem eigentlichen Helden der Tragödie gilt das wahrscheinlich 1599 entstandene Stück als einer der am kontroversesten diskutierten Texte Shakespeares. Es geht um die Vorbereitungen zum Attentat auf Cäsar, um die Durchführung der Tat und um den sich anschließenden Bürgerkrieg. Am Beginn des Dramas steht die Apotheose Cäsars, der nach Pompejus̕ Tod beim Volk zum geliebten Herrscher aufgestiegen ist, am Ende die Apotheose des bei Philippi gefallenen Cäsarmörders Brutus. Die angesichts der steigenden Macht und Popularität Cäsars besorgten Republikaner suchen Brutus für ihr Vorhaben eines Attentats auf Cäsar zu gewinnen. Seine Beteiligung würde das Unternehmen adeln, denn er gilt als Muster republikanischer Tugend, ein Stoiker und Idealist, Erbe eines klangvollen Namens der römischen Frühgeschichte, ein Nachkomme des Stammvaters Lucius Iunius Brutus, der als erster praetor maximus die etruskischen Könige aus Rom vertrieb. Noch die achtfache Epipher, mit der Antonius nach der Ermordung Cäsars bei seinem glanzvollen forensischen Auftritt Brutus als Cäsarmörder bezichtigt, bestätigt ex negativo des Brutus untadeligen Ruf: „For Brutus is an honorable man.“ (Julius Cäsar III,2) Achtmal wird der ehrenvolle Ruf des Brutus bekräftigt, achtmal

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wird der Mord schmählich genannt: Die Rhetorik des Antonius formuliert ein Paradoxon, das eine außerordentliche Lösung verlangt. Brutus, den eine Freundschaft mit Cäsar verbindet, steht vor einem tragischen Konflikt: Soll er wegen seiner persönlichen Bindung Cäsar die Treue halten oder ihn aus Sorge um das Schicksal der Republik verraten? Cäsar andererseits wird zwar durch sein Machtbewusstsein charakterisiert, aber Epilepsie, Schwerhörigkeit und das Versagen beim Wettschwimmen mit Cassius empfehlen ihn eher dem Mitleid des Zuschauers – zumindest liefert der Text kaum Indizien für die Sorgen der Republikaner, in ihm den Tyrannen zu fürchten, der auf den rechten Moment wartet, die Macht vollends an sich zu reißen. Unter den Gegnern Cäsars ragt der ambitionierte, temperamentvolle und eifernde Cassius hervor, von dessen Hagerkeit Cäsar auf einen missgünstigen Charakter schließt: „Yond Cassius has a lean and hungry look. / He thinks too much; such men are dangerous.“ (I,2) Er will lieber korpulente Menschen um sich, deren Substanzialität Ausdruck einer umgänglicheren Gemütsverfassung ist. Den Republikanern gelingt es dank des Einfallsreichtums von Cassius, den lange zaudernden Brutus zu gewinnen und so kommt es schließlich zum Attentat: Tullius gibt, als er dem Imperator die Toga von den Schultern zieht, das Startsignal für den kollektiv begangenen Mord. Bei Plutarch lesen wir von der Ermordung Cäsars als eines Gemetzels mit dreiundzwanzig Stichen – alle Verschwörer sollten zustechen, damit nicht einer allein der Tat bezichtigt werden konnte (vgl. Plutarch 1954, 207). Shakespeare macht daraus zunächst einen einzigartig lakonischen Vorgang, der in der Theatergeschichte wohl seinesgleichen suchen dürfte: eine kleine Regiebemerkung, mehr nicht: „They stab Caesar.“ Der sterbende Cäsar darf noch, vom Bühnenenglisch ins Latein wechselnd, seine Enttäuschung über den Verrat des Freundes, vielleicht des Sohnes, artikulieren:¹ „Et tu, Brute?“ Mit seinen resignierenden letzten Worten wechselt er wieder ins Englische: „Then fall Caesar!“ Schon die nächste Regieanweisung meldet Vollzug: „Dies.“ Nicht nur die Belanglosigkeit des an sich beispiellosen Vorgangs eines kollektiv, vor dem Kapitol, vor aller Augen begangenen Mordes irritiert. Auch die numerische Korrektur der tatsächlichen dreiundzwanzig zu den poetischen dreiunddreißig Messerstichen, vielleicht um die Nähe des römischen Märtyrers Julius Cäsar mit dem Märtyrer schlechthin, mit dem er auch die Initialen teilt, mit Jesus Christus, zu insinuieren, befremdet. Es scheint aber auch, als wolle sich der

 Brutus̕ Mutter, Servilia Caepionis, war eine Geliebte Cäsars und nach einigen Quellen soll Cäsar Brutus̕ wahrer Vater gewesen sein, was dem Attentat eine besondere dramatische Relevanz verleiht.

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Autor apriorisch von jeder Inszenierung, die so unbeteiligt nicht verfahren kann wie der Text, distanzieren. Unweigerlich müssen die Verschwörer, sieben an der Zahl, wenn ihre Verabredung gültig sein soll, auf der Bühne das Messer in Cäsar versenken – dem engen Raum des elisabethanischen Theaters entsprechend: einer nach dem anderen (vgl. Sehrt 1978, 68). Aber die blutige Realität des Vorgangs geben weder die einsilbige Sprache der Verschwörer noch die dürren Didaskalien, die ihr Handeln beschreiben, wieder. Auch dass Cäsar seine überlieferten Worte hervorgehoben und in Latein spricht, signalisiert überdeutlich den Zitatcharakter des Dramas: Das historische Drama stellt sich als ästhetisches Nachspiel eines geschichtlich überlieferten Vorgangs dar. Die ästhetische Stilisierung des archaischen Gemetzels sensibilisiert für die anthropologische Dimension des Konflikts, nicht für die politische. Die Frage ‚Freiheit oder Tyrannei‘ tritt in den Hintergrund, die nach dem Verrat der Freundschaft rückt als tragischer Grundkonflikt ins Zentrum. Dass Brutus immer wieder als unehelicher Sohn Cäsars betrachtet wurde, erlaubt es, den Tyrannenmord als Parricid zu begreifen, mit dem ein Bastard Rache nimmt für die ihm vorenthaltene rechtliche Anerkennung. Andererseits hat das diskrete Gemetzel ein blutrünstiges Nachspiel: Denn der ‚ehrenwerte‘ Brutus ist darauf bedacht, die Tat nicht in der Funktion von Mördern, sondern in der von Opferpriestern begangen zu haben: Schon in II.1 hat Brutus bei einem Planungstreffen der Verschwörer seine Idee vorgetragen: „Let’s be sacrificers, but no butchers.“ Der Stilisierung des Mordes zum Opfer, der Messermörder zu Priestern, entspricht nach vollbrachter Tat die Anweisung zu einer kollektiven Zeremonialisierung, mit der die Verschwörer das Schauspiel eines kultischen Vorgangs liefern: Stoop, Romans, stoop And let us bathe our hands in Caesar’s blood Up tot he elbows, and besmear our swords: Then walk we forth, even to the market-place, And waving our red weapons o’er our heads Let’s all cry: “Peace, freedom and liberty!” (III,1)

Der gewiefte Cassius erkennt sogleich die Brauchbarkeit der Performance für das kollektive Gedenken der Nachwelt: How many ages hence Shall this our lofty scene be acted over, In states unborn, and accents yet unknown. (III,1)

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Wird diese Szene theatralisch realisiert, müssen spätestens jetzt, nach vollbrachter Tat, wenn nicht schon bei der Ermordung selbst, mindestens sieben Attentäter – nochmals: der Reihe nach – sich mit Blut beschmieren (vgl. Sehrt 1978, 68), um so dem Anspruch zu ästhetischer Evidenz zu verhelfen, es habe sich um einen kultischen Vorgang, keinen Mord, gehandelt, als seien die Attentäter Opferpriester, keine Schlächter. Mit der Korrektur des Gemetzels zur kultischen Handlung liefert der Autor das Paradebeispiel einer Sakralisierung der Gewalt, die uneigennützig, im Auftrag einer höheren Macht zu handeln vorgibt. Das ganze Getümmel auf der Bühne, Cäsars zerrissene Toga, die Messerstiche, die auf dem Bühnenboden sich ausbreitende Lache, das feierliche Blutbad sind nur das kultische Klimbim, mit dem sich eine große Lüge tarnt. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Lakonie des „They stab him“ ihren grausamen Realismus zurück. The Tragedy of Julius Cäsar ist das Drama zweier großer Männer, die sich beide fatal überschätzen. Cäsar, der Herrscher des größten Weltreichs der Antike, wird dem Zuschauer in seiner Schwäche vorgeführt: als Epileptiker, den Zuckungen heimsuchen, als hochmütiger Athlet, den beim Schwimmen im Fluss die tobenden Fluten zu verschlingen drohen. Der kalte Stratege der Macht, ein Feldherr wie kein zweiter, ist abergläubisch, vertraut den Deutungen der Auguren und einer Ammengeschichte über die Möglichkeit, seiner Frau Calpurnia zu Nachwuchs zu verhelfen, aber meint zugleich, die mehrfachen Warnungen des Wahrsagers „Beware the Ides of March“ (I,2) selbstherrlich missachten zu können; er gibt vor, sich nicht vor Cassius zu fürchten, obwohl der Zuschauer Zeuge seines Unbehagens wurde, und glaubt an die Loyalität des Brutus – und täuscht sich auf ganzer Linie. „Er zeigt in seinen Worten das kosmisch geweitete Bild des unerschütterlichen Herrschers – und fällt im nächsten Augenblick als tote Kreatur zu Boden.“ (Kytzler 1963, 105) Durchaus ähnlich liegt der Fall bei dem von ihm charakterlich so verschiedenen Brutus: „It must be by his Death“ (II,1) – mit diesen Worten hat Brutus sich selbst zu einem Präventivmord an einem Tyrannen überredet, dem der lebende Cäsar gar nicht entspricht, der er allenfalls, sollte der arglistige Cassius recht behalten, noch werden kann. Brutus glaubt in maßloser Selbstüberschätzung, andere zu durchschauen, aber lässt sich von Cassius mit gefälschten Dokumenten täuschen. Gegen den Rat des Cassius, den Antonius, Cäsars Protegé, keinesfalls am Leben zu lassen – „I think it is not meet / Mark Antony, so well belov’d of Caesar, / Should outlive Caesar“ – rettet er ihn, aber wird von Antonius, der unversehens Demagogentalent entfaltet, öffentlich gedemütigt. Gegen jede Vernunft und gegen den Rat des militärisch versierteren Cassius drängt Brutus überhastet zur Schlacht – und unterliegt. Statt Cäsar zu töten, hat Brutus, den Gesetzen dramatischer Ironie und politischer Mythenbildung folgend, ihm erst zu ideeller Unsterblichkeit verholfen. Cäsar und Brutus, der Pragmatiker der Macht und der Idealist der Freiheit, sind beide gleichermaßen

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unfähig, die Realität zu begreifen. „Beide bieten theatralisch ihr Leben dem römischen Volk an; beide werden vom Schicksal in fürchterlicher Weise beim Wort genommen.“ (Kytzler 1963, 105) Das Drama liefert, wie Stephen Greenblatt in Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert gezeigt hat, „auf völlig neue Weise ein Bild politischer Unsicherheit, Verwirrung und Blindheit“ (Greenblatt 2018, 172). Es führt aber auch unmissverständlich am Beispiel seiner beiden Helden die Anmaßung der Souveränität vor. Angesichts der pathetischen Übersteigerung von Subjektivität, der Verabredung der freiheitsliebenden Römer zu Mord und Verrat, begehrt die kosmische Ordnung auf: Mit mehrtägigem „thunder and lightning“ und anderen Unheilszeichen warnt sie vor dem Angriff auf die Autorität der Weltordnung. Der mythische Aufruhr steht im Einklang mit der ominösen Kompetenz des Kalenders, der besondere unheilschwangere Tage kennt. Der mit der Verkündung mythischer Prophezeiungen beauftragte Wahrsager („Soothsayer“) rät Cäsar zweimal, sich vor den Iden des März zu hüten: „Beware the Ides of March“ (I,2), aber scheitert trotz Cäsars sonst so bereitwilligen Glaubens an Zeichen und Prophezeiungen an des Imperators Verstocktheit: „He is a dreamer. Let uns leave him.“ Im Gespräch mit Cicero liefert Casca seine Deutung der aufgewühlten Natur als Rache der Götter an den verstockten Menschen: But never till to-night, never till now, Did I go through a tempest dropping fire. Either there is a civil strife in heaven, Or else the world, too saucy with the gods, Incenses them to send destruction. (I,3)

Dem skeptischen Cicero liefert Cascas Erzählung noch weitere apokalyptische Einzelheiten: Die Hand eines Sklaven fing Feuer, das er nicht spürte, ein Löwe streifte durch die Straßen Roms und warf Junge vor aller Augen, eine Gruppe von Frauen schwor, Männer in Flammen durch die Straßen laufen gesehen zu haben, ein Nachtvogel saß um die Mittagszeit auf dem Marktplatz und schrie und krächzte, Schlachtenlärm ertönte und Gräber öffneten sich (vgl. II,2). Angesichts einer solchen Überfülle warnender Zeichen verbiete sich jede beschwichtigende Erklärung: „For I believe, they are portentous things / Unto the climate that they point upon.“ (I,3) Es ist die Aufgabe des Mythos, nicht nur von unsäglichen Gräueln zu erzählen, sondern auch von der Unordnung in der Natur als ihrer Folge und als Menetekel auf bevorstehendes Unheil: Als der rachsüchtige Atreus dem Bruder Thyest die Söhne zum Mahl vorsetzt, kehrt die Sonne aus Entsetzen in ihrem Lauf um. Der Aufruhr der Elemente und die vielen Prophezeiungen und Zeichen, mit der die mythische Ordnung auf den Skandal des bevorstehenden Verrats reagiert,

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werden von Cäsar nicht ernst genommen, von den Verschwörern hingegen perspektivisch, im eigenen Interesse, als Reaktion der Natur auf das Machtstreben Cäsars ausgelegt. Wenn die mythische Ordnung mit Orakeln, Omina und einer empörten Natur nicht überzeugen kann, sendet sie im Traum Gesichte. Dreimal hat Calpurnia, Cäsars Gattin, im Schlaf aufgeschrien, weil sie dessen Ermordung vorhersah, wie dieser Decius berichtet: She dreamt to-night she saw my statue Which like a fountain with an hundred spouts Did run pure blood, and many lusty Romans Came smiling, and did bathe their hands in it. (II,2)

Calpurnias Traum von ihrem Gatten als Märtyrer, einer mit Verletzungen übersäten majestätischen Erscheinung, in deren Blut fröhliche Römer ihre Hände badeten, nimmt in gleichsam allegorischer Präzision Cäsars Ermordung und das Entschuldigungsszenario seiner Mörder vorweg. Cäsars Auftritt in III,1 vor dem Kapital leitet den Beginn der Peripetie des Dramas mit einem Trompetenstoß („Flourish“) und den berühmten Worten ein: „The Ides of March are come.“ (III,1) Cäsars Worte bestätigen dem Mythos, in der Res publica angekommen zu sein – und dem Verrat seine Zeit und seine alles korrodierende Kraft. Es scheint, als seien die seit Cäsars Ermordung sprichwörtlich gewordenen Iden des März – ihnen entspricht im gregorianischen Kalender die Monatsmitte, der 13., gelegentlich auch 15. März – zugleich auch eine bevorzugte Zeit des Verrats: Es ist die Zeit des Frühlingsäquinoktiums, in dem Tag und Nacht einem Ausgleich zustreben, bis sie zeitweilig gleich lange dauern, bevor das Licht stärker wird und die Nacht verdrängt. Wenn die Tage wärmer werden, lockt dies freilich auch die Schlangen hervor: „It is the bright day that brings forth the adder.“ (II,1) In diesem Augenblick, in dem die Zeit der Schwärze, der langen Nacht zu Ende geht, rafft sich die Niedernacht zu ihrem schwersten Delikt auf, dem Verrat, der rasch noch begangen werden muss, bevor das Licht des Tages den Abtrünnigen zu entdecken droht. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die jüdisch-christliche und die römische Kultur, so grundlegend auch ihre Differenzen sein mögen, die Zeit des Verrats auf den schmalen Zeitraum zwischen dem Ende des Winters und dem Beginn des Frühlings festgelegt haben: ‚Der warme Tag, der die Natter hervorlockt‘, ist das alarmierende Signal zum Verrat. Den Iden des März entsprechen, mit nur leichter zeitlicher Verschiebung, das Pessachfest der Juden und das Osterfest der Christen. Trotz der Warnungen seiner ängstlichen Jünger hat Jesus beschlossen, mit ihnen das Pessachfest, die Erinnerung an die Befreiung des jüdischen Volkes aus der langen Nacht der ägyptischen Gefangenschaft, in Jerusalem zu feiern. Zu dieser

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Feier zählen das gemeinsame Brotbrechen, das gemeinsame Weintrinken, das gemeinsame Beten, das Waschen der Füße. Es ist die Situation, in der das ‚unum vestrum‘ gesprochen wird, die Prophezeiung, dass es einer aus dem engsten Kreis sein wird, der den Herren verrät. Es ist der Zeitpunkt, den Judas, aus welchem Grund auch immer, für seine Tat wählt. Wie kein anderer hat dieser Vorgang, das Nebeneinander von Intimität und Verrat, von brüderlicher Eintracht und tückischem Abfall, als Pathosformel seines Selbstverständnisses, das Christentum geprägt. Allenfalls der Kuss des Verräters im Garten Gethsemane, mit dem Judas der Schar aus Hohepriestern und Ältesten den Gesuchten identifiziert, hat eine vergleichbare ikonografische Prägnanz: Noch bei den Mafiafilmen des 20. Jahrhunderts bleibt die ikonische Kraft eines unentscheidbaren Moments von Beginn und Abfall, Zuneigung und Verrat, Kuss und Verachtung, oft das eine ikonologisch in das andere spiegelnd, spürbar. Es ist wohl kein Zufall, dass Judas, der Erzverräter, seinen Weg zu den Hohepriestern, um seinen Meister zu verraten, im Anschluss an das gemeinsame Pessachmal antritt.² Warum er den Verrat begeht, lassen die Evangelien im Dunkeln: Ihre „irritierende Ruhe“ bei der Beschreibung des Judas,³ die sich nachdrücklich vom eifernden Antisemitismus der zweitausendjährigen Geschichte des Christentums unterscheidet, hat vielen, auch wohlwollenden, Deutungen von Judas Verrat Anlass gegeben, selbst der, im Auftrag des Verratenen, des ans Kreuz geschlagenen Jesus aus Nazareth, gehandelt zu haben.⁴ Aber bei allen Differenzen sind sich die Ankläger des Judas und seine Apologeten einig in

 Gründe für den Verrat werden nicht deutlich. Nur das Matthäus-Evangelium spricht von einer lächerlich geringen Summe, den sprichwörtlichen dreißig Silberlingen, die anderen synoptischen Evangelien machen keine Angaben zu einem Kopfgeld. Die Abfolge der Perikopen legt einen Unmut des Judas über das verschwenderische oder eitle Gebaren Jesu bei der Salbung in Bethanien nahe. Die Literatur, die seit einigen Jahrhunderten nach plausiblen Gründen für das theologische Rätsel des Verrats sucht, hat eine Rivalität – wegen der Begünstigung anderer Jünger, wegen einer Liebschaft mit Maria Magdalena – konjiziert, einen politischen Dissens zwischen dem rebellischen, der Sekte der Essener nahestehenden Judas und dem eher zu appeasement gegenüber den römischen Besatzern neigenden Jesus angenommen, oder sogar einen Versuch vermutet, mit dem Judas den zögerlichen Messias zur Selbstoffenbarung nötigen wollte (vgl. dazu ausführlicher Brittnacher 2015).  Mit diesen Worten hat der Theologe Karl Barth auf die Differenz zwischen den vergleichsweise neutralen Evangelien und dem wütenden Antijudaismus des Christentums hingewiesen: „Man muß wohl vor allem die merkwürdige Ruhe beachten, in der das Neue Testament von Judas Ischarioth berichtet. […] Genau genommen wird kein einziger Stein auf Judas geworfen.“ (Barth 1942, 509 – 511)  Diese Überlegungen werden etwa bei Borges 1982, Jens 1975 und Saeger 2008 literarisch durchgespielt.

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der kalendarischen Platzierung der Tat, mag sie nun als Verrat schlechthin oder als dialektische Volte einer intrikaten Heilsgeschichte verstanden werden. Eine Reihe von Übereinstimmungen zwischen dem Bild von Cäsar und dem von Jesus, zwischen den Iden des März und dem Passionsgeschehen, zwischen dem Verrat des Jesus und dem Attentat auf Cäsar erlauben es, von einer Analogie der beiden Vorgänge zu sprechen. Das gemeinsame Mahl vor dem Verrat (in II,2) und der Kuss des Brutus im Senat – wenn auch auf die Hand Cäsars, nicht auf seine Wange (III,1) – lassen hinter dem Drama des Staatsstreiches das Modell des Urverrats durchscheinen (vgl. Koppenfels 1970, 10). Den Mord an Cäsar begleiten Donner, Blitze und Getöse, nach Jesu Tod zerreißt der Vorhang im Jerusalemer Tempel mitten entzwei und eine mehrstündige Finsternis breitet sich schon am Tag über der Erde aus (Lk 23,44). Die Auslegung des Decius von Calpurnias Traum von der blutenden Statue verleiht Cäsar einen Christus vergleichbaren theologischen Status: It was a vision fair and fortunate. Your statue spouting blood in many pipes […] Signifies, that from you great Rome shall suck Reviving blood […]. (II,2)

Seine Deutung ruft die Worte des Erlösers auf, dass sein Blut vergossen werde zur Vergebung der Sünden der Menschen. Der ermordete Imperator und der gekreuzigte Messias gelten als gleichermaßen göttlich Ausgewählte, die ein Martyrium auf sich genommen haben. Die gegenständlichen Zeichen dieses Martyriums gelten als Reliquien: wie das Gewand Jesu, um das die Schergen würfelten, wie die zerrissene und blutbefleckte Toga Cäsars, die Antonius in einem demagogischen Bravourakt als forensisches Beweisstück zur Anklage der Mörder benutzt: Look, in this place ran Cassius’ dagger through See what a rent the envious Casca made: through this the well-beloved Brutus stabb’d. (III,2)

Die Verschwörer, die sich um den erstochenen Cäsar scharen und ihre Hände in sein Blut tauchen, erinnern an den händewaschenden Pilatus, der seine Unschuld beteuerte, aber auch an die trotzige Reaktion der jüdischen Menge angesichts Pilatus’ Beschuldigung: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Mt 27,25) Was der Volksverführer Brutus kann, vermag der Demagoge Antonius allemal: Das vergossene Blut Cäsars dient nicht nur den Mördern zur Selbstentschuldigung als Priestern, sondern auch dem Ankläger der Mörder als emotionssteigernde Möglichkeit, die segenreiche Kraft von Cäsars Blut zu preisen, dessen sich die Mörder in frevelhafter Absicht bemächtigt haben:

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[…] they would go and kiss caeser’s wounds and dip their napkin in his sacred blood, Yea, beg a hair of him for memory, And dying mention it within their wills. (III,2)

Das Osterfest feiert die Auferstehung Jesu, am Ende von Shakespeares Julius Caesar steht die Apotheose des Brutus: „This was the noblest Roman oft hem all.“ (V,2) Der Auferstehung muss die Kreuzigung, der Apotheose Cäsars und Brutus’ muss die Ermordung des einen und der Selbstmord des anderen vorangehen. Die Iden des März, das Pessachfest, der beginnende Frühling, la primavera, le sacre du printemps: Die Sonne bringt es an den Tag, aber sie verhilft zuvor der Kälte zu ihrem letzten Sieg. Die Verratenen steigen in den Himmel auf, nehmen ihren Platz am Firmament ein, die Verräter steigen ab in den Tartarus, in das Eisloch Satans.

Quellen und Literatur Quellen Abraham a Santa Clara (d.i.: Johann Ulrich Megerle): Judas der Ertzschelm / für ehrliche Leuth/ oder: Eigentlicher Entwurff und Lebensbeschreibung des Iskariothischen Bösewicht. Salzburg 1668. Borges, Jorge Luis: „Drei Fassungen von Judas (Tres Versiones de Judas, 1944)“. Ders.: Fiktionen. Erzählungen 1937 – 1944. Frankfurt am Main: Fischer, 1982. 139 – 145. Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. Übersetzung Ida und Walther von Wartburg. Zürich: Manesse, 1963. Jens, Walter: Der Fall Judas. Stuttgart: Kreuz, 1975. Plutarch: Die großen Griechen und Römer. Doppelbiographien. Übers. Konrat Ziegler und Walter Wuhrmann. Zürich/München: Artemis, 1954. Saeger, Uwe: Die gehäutete Zeit. Ein Judasbericht. Rostock: Hinstorff, 2008. Shakespeare, William: Julius Caesar. Englisch/Deutsch. Übersetzung und hg. von Dietrich Klose. Stuttgart: Reclam, 1976.

Literatur Bahners, Patrick: „Das Schweigen der Verräter“. Dantes Verse. Hg. Birte Förster. Göttingen: Wallstein, 2021. 145 – 149. Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik II/2. Zürich: Theologischer Verlag, 1942. 509 – 511. Brittnacher, Hans Richard: „Judas oder: Die Unvermeidlichkeit des Bösen. Literarische Lösungsversuche eines theologischen Rätsels“. Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert. Motive, Sprechweisen, Medien. Hg. Robert Walter-Jochum und Tim Lörke. Göttingen: V&R unipress 2015. 17 – 32.

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Hans Richard Brittnacher

Greenblatt, Stephen: Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde des 21. Jahrhunderts. München: Siedler, 2018. Koppenfels, Werner von: „Plutarch, Shakespeare, Quevedo und das Drama der Ermordung Cäsars“. GRM 20 (1970): 1 – 23. Kytzler, Bernd: Julius Cäsar. Dichtung und Wirklichkeit. Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein, 1963. Sehrt, Thomas: „Julius Cäsar. Brutus“. Sympathielenkung in den Dramen Shakespeares. Hg. Werner Habicht und Ina Schabert. Fink: München, 1978. 65 – 71. Teppe, Ralf: „Des Teufels Kaugummi“. Dantes Verse. Hg. Birte Förster. Göttingen: Wallstein, 2021. 141 – 144.

Robert Stockhammer

Das keineswegs ganz regelmäßige Bauernjahr: Über den Zusammenhang von Schreiben und Ackerbau Früher, so heißt es, sei immer alles seinen jahreszeitlich geregelten Gang gegangen. Von der sogenannten Natur schien, vor dem Klimawandel, zu erwarten, dass sie, jedenfalls in mittleren Breiten, auf die astronomische Regelmäßigkeit mit einer ebensolchen reagiere, also Singvögel zwitschernd das Frühjahr begrüßen, Bienen im Juni die Lindenblüten abgrasen, die Trauben im Herbst reif werden und im Winter Schnee den Acker bedeckt. In den beiden Wochen vor dem ersten Sonntag im Oktober beschritt man, vor Corona, die Theresienwiese, um dort das – freilich gegenüber seinem ursprünglichen Anlass deutlich verlängerte und in der konkreten Ausgestaltung stark modifizierte – Erntedankfest zu begehen. Da liegt es nahe, die menschliche Arbeit nach dem jahreszeitlichen Verlauf zu takten, also etwa Beiträge zu Festschriften in der vorlesungsfreien Zeit zu schreiben, weil sie, zur Unzeit und am Unort – nämlich ‚zwischen den Jahren‘ in tropischer Hitze – geschrieben, so ungeschliffen zu bleiben drohen wie der vorliegende. Erst recht empfiehlt sich die Beachtung des jahreszeitlichen Verlaufs bei der Arbeit an der ‚Natur‘, also bei derjenigen Arbeit, welche im Lateinischen, gerade umgekehrt, als ‚Kultur‘ par excellence gilt (colere bedeutet im engeren Sinne: ‚Feldbau treiben‘). Dementsprechend verspricht schon der Titel der ältesten erhaltenen Schrift aus dem Bereich der Georgik (wörtlich: ‚Erd-Bearbeitung‘) eine Kopplung von Werken und Tagen, also eine Anleitung zum Zeitmanagement. Zwar bezeichnen die beiden Substantive in dem unter diesem Titel (Ἔργα καὶ ἡμέραι) überlieferten Lehrgedicht Hesiods zwei Teile desselben, unter denen der zweite, sehr viel kürzere, die ‚Tagwählerei‘ im engeren Sinne behandelt, also etwa die Anweisungen, Eber und Stiere am achten Monatstag zu kastrieren, Maultiere hingegen erst am zwölften (vgl. 789 – 790).¹ Diese taggenaue Orientierung an Mondzyklen im letzten Zwölftel des Textes erschien vielen Lesern so wenig zum Hauptteil des Textes zu passen, dass sie den Passus für unecht erklärten. Aber auch im Hauptteil regiert  Zitate und referierte Passagen aus allen antiken Texten werden hier wie im Folgenden nach altphilologischem Usus mit den üblichen Einheiten (bloße Verszahlen bei Hesiod; Buch, Kapitel und ggf. Unterabschnitt bei Columella und Palladius; Buch und Vers bei Vergil; Buch, Kapitel und Unterabschnitt bei der ‚Bibel‘) belegt, um sie auch in anderen als den hier verwendeten (im Literaturverzeichnis angeführten) Ausgaben nachprüfbar zu halten. https://doi.org/10.1515/9783110773750-013

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nicht nur die permanente Aufforderung an den faulen Leser (hier als Bruder des Sprechers figuriert), gefälligst mehr zu arbeiten, sondern auch diejenige, es rechtzeitig zu tun, wobei sich dieses ‚rechtzeitig‘ vor allem auf Sonnenzyklen bezieht. Die allgemeine Warnung vor der procrastinatio – „Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe weder auf morgen noch auf übermorgen“ (freie Übersetzung von 409) – droht mit Sanktionen, die vom jahreszeitlichen Verlauf diktiert werden: Besonders das Pflügen, die in der ganzen georgischen Tradition als am schwersten markierte Arbeit, dürfe nicht zu spät erfolgen, ohne den ganzen Jahresertrag zu gefährden (vgl. 457– 477). Als ein zentraler Satz des ganzen Textes kann wohl gelten, dass „die rechte Zeit […] in allem das Beste“ (693) sei – wobei das Wort καιρός, das hier als „rechte Zeit“ übersetzt ist, schwerlich schon mit den philosophisch-theologischen Bedeutungen aufgeladen ist, die man heute in es hineinzuhören geneigt ist, sondern wohl einfach den optimalen Zeitpunkt für die Intervention ins Wachstumsgeschehen bedeutet. Dieser Akzent auf geeignete Zeitpunkte durchzieht die gesamte Tradition der poetischen und nicht-poetischen Schriften zur Landwirtschaft. In ihrem mit Abstand wirkungsmächtigsten Text, Vergils Georgica, wird beispielsweise schon an der Schwelle vom ersten zum zweiten Vers angekündigt, er handle unter anderem davon, „quo sidere terram / vertere“, also unter welchem Sternzeichen die Erde zu pflügen sei. Die Anordnung der agrarischen Arbeiten nach dem jahreszeitlichen Verlauf liegt so nahe, dass es umgekehrt fast überraschend erscheint, wenn der älteste überlieferte Text, der diesem Verlauf einigermaßen – aber um dieses ‚einigermaßen‘ wird es im Folgenden gehen – konsequent in der Darstellung dem kalendarischen Verlauf folgt, erst um 400 n.Chr. verfasst wurde: Palladii Rutilii Tauri Aemiliani viri illustris opus agriculturae, also das Werk des berühmten Palladius über die Landwirtschaft, welches in einer Neuübersetzung den unmittelbar plausiblen Titel Das Bauernjahr trägt. In der Zählung der ‚Bücher‘ – also jener in der Überlieferung üblichen Einheiten, deren Umfang nach schriftmaterialen Vorgaben eigentlich ungefähr gleich groß sein sollte, mit Rücksicht auf inhaltliche Parameter aber dann doch stark changiert – wären mit diesem Titel immerhin zwölf (von fünfzehn) beschrieben, die eben der heute noch üblichen Aufteilung in Monaten folgen. Innerhalb der einzelnen Bücher wiederholt sich dann ein Gliederungsschema mit sehr wenigen Abweichungen: Jedes beginnt mit Abschnitten über Acker-, Garten- und Obstbau und endet mit Angaben zur Zeitmessung (also zur Länge der ‚Stunden‘, die im Jahresverlauf ebenfalls schwankt, weil diese Einheit als Zwölftel des Tages zwischen Sonnenauf- und -untergang festgesetzt ist); dazwischen stehen für die meisten Monate Abschnitte zu Tierhaltung und/oder Imkerei, manchmal ein vom Übersetzer mit „Sonstiges“ überschriebener.

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Bei den übrigen drei Büchern, also immerhin zwanzig Prozent des Ganzen, versucht der Autor hingegen gar nicht erst, sie in die kalendarische Folge zu bringen. Für eine erste Beschreibung des Buchaufbaus ist es instruktiv, welche verschiedenen Lizenzen dafür in Anschlag gebracht werden. Zugleich lässt sich damit, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, bilanzieren, wie viele Aufgaben des dort beschriebenen Geschäfts dann doch anderen als jahreszeitlich vorgegebenen Zeitstrukturen folgen. Vor dem Januar-Buch steht eines mit „Grundsätzliche[m]“ bzw. „Grundlagen“ (so der Titel, einmal in der Überschrift, einmal im Kolumnentitel der zitierten zweisprachigen Ausgabe). Der Status der hier versammelten Anweisungen schwankt extrem zwischen Transzendentalien, Voraussetzungen des Gewerbes und einem Sammelsurium an Details. Der Leser erfährt hier Grundsätzliches über die Landwirtschaft (etwa dass sie, mit einer kleinen Korrektur der Elementenlehre, aus Luft, Wasser, Erde und – Fleiß [industria] bestehe [vgl. I.2]), Grundlegendes etwa über die beste Lage des Hofes (vgl. I.16) oder, innerhalb desselben, der Tenne (vgl. I.36), aber auch Mittel für den Kampf gegen Ungeziefer (vgl. I.36) oder Angaben zu „Dichtmassen für Warm- und Kaltwasser“ (vgl. I.40). Das Buch versammelt also Wahrheiten und Anweisungen, die entweder zeitlos gültig sind (über das ‚Wesen der Landwirtschaft‘) oder genau einmal berücksichtigt werden müssen (bei der Anlage der Einrichtungen), oder aber, in kontingenter Häufigkeit, je nach Bedarf (bei der Schädlingsbekämpfung) – in keinem der drei Fälle besteht ein Bezug zum jahreszeitlichen Verlauf. Unter den beiden nach dem Dezember-Buch eingeschalteten Bücher gilt das erste der „Tiermedizin“, zu deren Patienten, im ersten Abschnitt, auch die rustici, also die menschlichen Landarbeiter (im Regelfall natürlich Sklaven) gerechnet werden. Zur Vorbeugung gegen Krankheiten, von der hier zunächst gehandelt wird, werden Maßnahmen empfohlen, die regelmäßig, ohne jahreszeitliche Varianz einzusetzen sind (vgl. z. B. XIV.4.1). Ganzjährig vorzuhalten sind ungefähr einhundert Medikamente, von Kräutern bis beispielsweise einer in Öl ertränkten Spitzmaus, die in einer Liste aufgezählt werden (vgl. XIV.3). Wenn Krankheiten (wie die pestilentia, vgl. XIV.5) oder Verletzungen (etwa durch Schlangenbisse, vgl. XIV.18) eintreten, so kann dies offenbar zu jedem beliebigen Zeitpunkt im Jahr geschehen. Die Zeitstrukturen dieser Anweisungen lassen sich also als kontinuierlich, permanent oder je einmalig kontingent beschreiben – wiederum wird keiner der Fälle vom Kalender diktiert. Ganz anders, nämlich nicht mit dem Dargestellten, sondern mit der Textur der Darstellung, ist schließlich die Sonderstellung des letzten Buches motiviert: Hier nämlich handelt es sich, im Unterschied zu allen vorausgegangenen Büchern, nicht mehr um Prosa, sondern um ein Gedicht; Palladius selbst unterscheidet die Prosa der vorangegangenen Bücher mit der Metapher „silente pedum“ („mit

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stummen Versfüßen“) vom Schreiben in „strictos numeris“ der gebundenen Verse (XV.4– 5). Das Verfahren, ein agrarisches Prosatraktat mit einem Gedicht abzuschließen, stammt von Columella, der in seiner umfangreichen einschlägigen Schrift aus der Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts seinerseits die Lizenz in Anspruch nahm, dass Vergil in seiner Georgica nicht vom Gartenbau gedichtet hatte, was er, Columella, deshalb in Versen nachtragen könne (vgl. X. Praef. 3). Palladius’ fünfundachtzig Verspaare gelten dem thematisch scheinbar eng beschränkten Teilbereich der Baumveredelung, vulgo des ‚Pfropfens‘. Darauf ist zurückzukommen. Zunächst ist aber der Hauptteil der Schrift (von Buch II für Januar bis XIII für Dezember) darauf zu prüfen, ob wenigstens er sich vom versprochenen, alljährlich wiederkehrenden Gang der Arbeit leiten lässt bzw. eher: zu ihm anleitet. Auch hier jedoch macht schon ein erstes Durchblättern der Schrift stutzig. Beim Abzählen der Seiten stellt sich heraus, dass die ersten drei Monate zusammen nahezu genau so viel Schriftraum einnehmen wie die neun folgenden zusammen – und dies, obwohl doch die Zeit von Januar bis März, selbst unter den hier anzunehmenden mittelitalienischen Bedingungen, schwerlich diejenige ist, in der die meiste Arbeit anfällt. Für dieses Ungleichgewicht verantwortlich sind im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen wird vieles, was allgemein über bestimmte Pflanzen und die mit ihnen verbundenen Arbeiten zu sagen ist, dort notiert, wo diese Pflanzen erstmals Gegenstand der Arbeit werden – der besonders große Umfang des Februar-Buches erklärt sich etwa hauptsächlich daraus, dass dort erstmals Weinstöcken Aufmerksamkeit gewidmet wird und Palladius anlässlich ihrer Pflanzung alles anführt, was er über Rebsorten und Anbaumethoden mitzuteilen für nötig hält (vgl. III.9 – 16). Zum anderen sind viele agrarische Tätigkeiten eben doch nicht so alternativlos an den jahreszeitlichen Verlauf gebunden, wie die kalendarische Reihenfolge der Anweisungen nahelegt. Der große Umfang des Januar-Buches ist dementsprechend vor allem darauf zurückzuführen, dass dort bestimmte Tätigkeiten genauer beschrieben werden, die in diesem Monat erstmals, aber auch zu anderen Zeitpunkten ausgeführt werden können. Lattich etwa solle man im Januar oder Dezember aussäen oder irgendwann sonst (vgl. II.14.1), Rauke jetzt oder irgendwann anders (vgl. II.14.5) – und beim Kohl karikiert Palladius nachgerade sein eigenes kalendarisches Prinzip, insofern er im Januar-Buch erklärt, dass man ihn in diesem Monat besser nicht aussäen solle (vgl. II.14.5). Die Bücher zu manchen anderen Monaten fallen hingegen arg knapp aus.Wer etwa im Dezember seinen Sklaven nur dasjenige anordnete, wozu das entsprechende Buch auffordert, würde ihnen in diesem Monat Gelegenheit geben, auf aufrührerische Gedanken zu kommen. Wiederum andere Bücher erreichen nur deshalb halbwegs durchschnittlichen Umfang, weil in ihnen Informationen vermittelt werden, die man eher im allgemeinen ersten Buch erwarten würde.

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Machmal ist die Gliederung dabei ungefähr so plausibel, wie es diejenige eines Baumarkts wäre, in dem die Sanitärabteilung unter ‚August‘ firmiert. Denn unter diesem Monat erhält der Palladius-Leser genaue Angaben zur Einrichtung von Brunnen und Wasserleitungen, bis hin zu „Maße[n] und Gewichte[n] von Bleiröhren“ (vgl. IX.8 – 12). Gerechtfertigt wird diese Position einzig damit, dass es in diesem Zeitraum mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Wassermangel kommt als in anderen Monaten. Überdies wird die eindeutige Zuordnung von Tätigkeiten zu Monaten durchgängig durch Unschärfen getrübt, die teils auf klimatische Varianz, teils auf einen nicht weiter begründeten Ermessensspielraum zurückzuführen sind. „An heißen Orten werden wir im April Brustbeerbaum pflanzen, an kalten aber im Mai oder Juni.“ (V.4.1, vgl. a., zur allgemeinen Formulierung dieser Anpassung ans Klima, I.34.8) Schon im ersten Buch war zudem eine Varianzbreite für die Datierung der einzelnen Arbeitsschritte von plus/minus fünfzehn Tagen festgelegt worden (vgl. I.6.15), und wenn man nicht annimmt, dass sich alle Datierungen der MonatsBücher auf die jeweils exakte Monatsmitte beziehen, folgt daraus, dass der mögliche Zeitrahmen für die jeweils dort beschriebenen Handlungen grundsätzlich in den vorangegangenen oder folgenden Monat hineinreicht. Dementsprechend reagiert Palladius auf Verletzungen des procrastinatio-Gebots etwas gelassener als Hesiod: Im sonst eher ereignisarmen August beispielsweise kann man, jedenfalls wenn nicht gerade der Bau einer kompletten Bewässerungsanlage ansteht, noch Arbeiten nachholen, die man im Juli zu erledigen versäumt hat (vgl. IX.7). Zusätzliche Komplikationen drohen durch die dem Abendland eingeschriebene Konkurrenz der beiden von ihm ererbten Modelle des Sonnen- und des Mondkalenders. Schon im spätantiken Christentum, dem Palladius übrigens nicht zuzurechnen ist, waren die begabtesten Rechner damit beschäftigt, das widerspenstige Osterfest zu terminieren, von dessen Datum noch die meisten von uns aufgrund der Sommer- und Mondkalender kombinierenden Definition (am ‚Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühling‘) jedes Jahr von Neuem überrascht wird (vgl. Borst 1990, 29 – 37). Bei Palladius kommen Anweisungen wie diejenigen, Aussaaten grundsätzlich bei zunehmendem, Ernten bei abnehmendem Mond durchzuführen (vgl. I.34.8), zwar nicht zwingend in Konflikt mit den jeweils vorgeschriebenen Monaten, weil sich in jedem von ihnen Phasen mit abund solche mit zunehmenden Mond finden lassen werden, schränken die möglichen Zeiträume jedoch deutlich ein. Und schließlich ist mit mehrjährigen Zyklen zu rechnen, also mit Fruchtwechsel und Brachejahren, um die Erschöpfung der Böden zu vermeiden. Palladius gibt dazu zwar erstaunlich wenige konkrete Anweisungen; diese Notwendigkeit ist aber der ganzen georgischen Tradition bewusst, die sich gelegentlich

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sogar mit der These auseinandergesetzt hatte, die Erde ‚ermüde‘ im Lauf der Zeit in unumkehrbarer Zwangsläufigkeit (vgl. z. B. Columella, Praef. 2– 3). Und jedenfalls beim Kauf von Land schärft Palladius dem Leser ein, darauf zu achten, ob dessen „Fruchtbarkeit“ nicht durch den Vorbesitzer „verschwendet“ worden sei (I.7.1). Insofern dieser Traktat – anders als etwa Vergils Georgica – durchaus als Anleitung für einen Gutsbesitzer oder dessen Verwalter intendiert ist, kann man die Lektürepraktiken durchspielen, die dieser anwenden muss, um alles aus ihm zu erfahren, was er zum jeweils richtigen Zeitpunkt befolgen muss: Er muss permanent hin- und herblättern – soweit er die Schrift in der seinerzeit noch verhältnismäßig jungen Form des Codex, also mit gebundenen Blättern, besitzt, sonst gar, noch umständlicher, wie leider inzwischen wieder an Computerbildschirmen: hin- und her(sc)rollen –, um sicherzugehen, dass er im Juni nicht vergisst, was ihm Mai als eine Tätigkeit empfohlen worden war, die auch noch im vom Mai aus gesehen kommenden Monat ausgeführt werden könne. Selbst wenn er etwa über die von Kai Brodersen besorgte Ausgabe verfügte, und damit über Querverweise, wäre die kalendarische Ordnung nicht zuverlässig, da Querverweise ja nur von Erwähnungen zu anderen Erwähnungen gesetzt werden können, hier jedoch Hinweise des Typs ‚Im Monat x wird die Arbeit y durchgeführt, besser aber noch im Monat x+1‘ im Kapitel über den Monat x+1 eben nicht immer wiederholt werden. Man müsste also zusätzlich viele Startpunkte für Querverweise händisch einfügen, für die „mensibus, quibus volueris“ anzusäende Rauke (I.14.5, vgl. oben) etwa in allen Monats-Büchern außer dem Januar. Man wird bei der Lektüre immer wieder springen müssen, und dies entspricht nicht dem Ideal der Lektüre eines Kalenders, der stets nur an einer vom Zeitverlauf diktierten Stelle aufgeschlagen ist. Hätten sich diese Probleme mit optimierten Darstellungsverfahren lösen lassen? Ich behaupte, dass sie vielmehr Symptome einer ganzen Kultur sind, und will dies, spekulativ und doppelt anachronistisch, begründen, in Anknüpfung an eine aktuelle Debatte einerseits, im Rückgang auf frühgeschichtliche Entwicklungen andererseits. Diese Unregelmäßigkeiten, jedenfalls die hier genannten, werden nicht auf die ‚Natur‘ zurückgeführt, sodass es irreführend wäre, für sie so direkt den Klimawandel verantwortlich zu machen, wie dies eingangs nur spielweis und ex negativo angedeutet wurde. Durchaus jedoch lassen sie sich, hinlänglich vermittelt, auf Debatten über das Anthropozän beziehen. Dies gilt jedenfalls, wenn man den Vorschlag William F. Ruddimans in Betracht zieht, den Beginn des Anthropozäns nicht, wie derzeit von der dafür beauftragten Gruppe bevorzugt (vgl. Waters et al.), auf die Zeit der ‚großen Beschleunigungen‘ um die Mitte des

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vergangenen Jahrhunderts zu datieren, sondern, sehr viel früher, in das Neolithikum. Nach Ruddiman (2013) bewirkte die zunehmende Intensivierung der Landwirtschaft ab ungefähr 5000 v.Chr. bereits Klimaveränderungen im globalen Maßstab. Die menschliche Bevölkerung auf der Erde, die davor über Jahrzehntausende hinweg ungefähr gleichgeblieben zu scheint, stieg ab diesem Zeitpunkt exponenziell an: Schätzungen gehen von einer Vervielfachung um den Faktor 34 in den letzten fünftausend Jahren vor unserer Zeitrechnung aus (vgl. Scott 2017, 7). Zwar lebten im Vergleich mit der heutigen Erdbevölkerung immer noch ‚sehr wenige‘ Menschen auf der Erde, doch verbrauchten diese angesichts des niedrigen Wirkungsfaktors der zur Verfügung stehenden Verfahren relativ viel Ackerfläche und fällten entsprechend viel Wald (vgl. Ruddiman 2013, 51– 54). Dies führte zu einem Anstieg von CO2 und CH4 in der Atmosphäre (wenngleich freilich nicht in der extremen Beschleunigung wie durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe vor allem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts). Damit ging zwar kein Temperaturanstieg, aber immerhin eine Schwächung desjenigen Temperaturrückgangs einher, der ohne diesen menschengemachten Faktor aufgrund des üblichen Verlaufs glazialer Zyklen erwartbar gewesen wäre; womöglich wurde durch diese Jahrtausende währende Entwicklung sogar die nächste Eiszeit aufgehalten, die sich andernfalls inzwischen schon angekündigt hätte (vgl. Ruddiman 2013, 63). Wie brauchbar diese Thesen für die Neudefinition geologischer Epochen sind, muss hier nicht diskutiert werden, und wenn ich sie hier ‚in Betracht ziehe‘, will ich mich damit nicht für diese Datierung statt für eine andere ‚entscheiden‘, die in anderen Argumentationszusammenhängen produktiver erscheinen könnte. Im vorliegenden Kontext besonders relevant ist ein veränderter Umgang mit Zeit: „Unter den sesshaften Ackerbauern wie auch bei den nomadisch umherziehenden Viehhirten gehörte es zu den lebenswichtigen Fertigkeiten, die Zeichen der Zeit gut lesen und ihre Abläufe klug vorwegnehmen zu können.“ (Honold 2013, 13) Eben: Dies galt erst für Ackerbauern, mehr noch als für Hirten, die, als Kain und Abel figuriert, einen Binnenantagonismus von kompetitiven Lebensformen austrugen, nachdem ihre Eltern aus dem Paradies der Sammler und Jäger vertrieben worden waren. Wenn sie danach, mit Gottes vielzitiertem Richterspruch, im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot essen sollten (vgl. 1 Mose 3,19), dann ist daran nicht nur die Anstrengung der Nahrungsbeschaffung, sondern, damit eng verbunden, auch das Nahrungsmittel selbst neu, also noch keineswegs als pars pro toto für ‚Nahrung überhaupt‘ etabliert (wie es heute meist verstanden wird): Paradeiser oder Eicheln konnten einfach gepflückt, das Brot hingegen muss mühevoll hergestellt werden. Die griechisch-lateinische Antike bestätigt diese schlichte agrarhistorische Lektüre der ersten Abschnitte der Genesis mit ihren Bildern vom Goldenen Zeitalter, in dem die Natur ungepflügt alles von selbst

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hergegeben habe (αὐτομάτη [Hesiod 118]; ipsaque [Vergil I. 127]), wohingegen sie erst im Eisernen gepflügt werden muss. Ein botanisches Detail verdeutlicht nicht nur die damit verbundene Arbeit, sondern auch die damit einhergehende Veränderung des Zeitregimes. Das Wildgetreide hatte bröcklige Ähren aufgewiesen, die beim Reifen der Körner zerbrachen, sodass die Körner zu Boden fielen. Sammler konnten diese Körner entweder leicht aus den Ähren pulen oder sie neben dem Halm aufklauben. Für die systematische Pflanzung wurde jedoch die seinerzeit seltene, heute allgemein verbreitete, offenbar nur in einem Gen abweichende Mutation ausgewählt, bei der die Ähren die Körner so fest umschließen, dass diese ohne Dreschen nicht aus jenen herausgelöst werden können. Diese Mutation wäre, da die Körner nicht von sich aus in die Erde fallen, ohne gezielten Eingriff eines anderen Akteurs nicht fortpflanzungsfähig. Es handelt sich also bei dieser Pflanze um eine ‚Kulturpflanze‘ in der strengen Bedeutung, dass sie als Art (statt nur als seltenes, jeweils folgenloses Individuum) einzig in dieser gegenseitigen Abhängigkeit von einem menschlichen Akteur existiert (vgl. Scott 2017, 72– 76). Dieser muss sich jetzt mit Ähren herumschlagen, welche Körner nur nach mühseligem Dreschen auf einer Tenne freigeben, die ihrerseits permanent gegen die terrae / monstra (verschiedenste Schädlinge als „Monster der Erde“; Vergil I. 184– 185) geschützt werden muss. Und dies alles nur, um das Korn einem Zeitregime zu unterwerfen, in dessen Rahmen alle Pflanzen auf einem Feld gleichzeitig gesät, geerntet und gedroschen werden können. Das Zeitregime, das mit der Unterwerfung eines Korns unter menschliche Kontrolle installiert wurde, zeitigte weitreichende Folgen. Viele Institutionen und Berufe bildeten sich erst in den größeren, arbeitsteilig organisierten agrarischen Gemeinschaften heraus: Handwerker etwa, die für die Verfertigung der Tongefäße zuständig waren, in denen die Getreidekörner aufbewahrt wurden, und nach deren Gestalt ganze Phasen und Areale des Neolithikums benannt werden (z. B. Bandkeramik oder Schnurkeramik). Und auch die Schrift – dies ist der aus philologischer Perspektive relevanteste Faktor – entwickelte sich in agrarischen Gemeinschaften und in enger Beziehung zur landwirtschaftlichen Tätigkeit. Die nach heutigen Begriffen ältesten vollausgebildeten Schriftsysteme – ein ideografisches zuerst, eine syllabische Keilschrift etwas später – entstanden um 3000 v.Chr. in dem Agrarstaat Mesopotamien. Lange zuvor schon waren in derselben Region gekerbte Objekte hergestellt worden, deren Funktion offensichtlich darin bestand, landwirtschaftliche Produkte und Nutztiere zu archivieren (vgl. Schmandt-Besserat 1996). Die hitzige Debatte darüber, ab welchem Entwicklungsstadium dieser Kerbungsverfahren von ‚Schrift‘ zu sprechen ist, kann hier ausgeblendet bleiben; dass diese Entwicklung sich parallel zu derjenigen der Landwirtschaft vollzog, scheint evident zu sein.

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Diese metonymische Beziehung wird von einer metaphorischen verstärkt oder jedenfalls repräsentiert. Die agrarische, in die Erde eingrabende Tätigkeit ist eine graphische – denn wenngleich vielleicht nicht all diese gra-Silben etymologisch verwandt sind, ist jedenfalls die Grundbedeutung von γράφειν ‚ritzen‘, und eine Verwandtschaft mit dt. graben wäre damit auch semantisch plausibel. Zu den Metaphern der griechischen Grammatiker – Schriftkundigen im weitesten Sinne – gehört etwa der Ausdruck βουστροφηδόν, ‚nach der Art, wie die Ochsen beim Pflügen sich wenden‘, für eine (wohl nicht älteste, aber jedenfalls alte) Verlaufsrichtung der (nicht nur) griechischen Schrift, bei der die Zeilen abwechselnd von links nach rechts und umgekehrt geschrieben wurden. Vielleicht treibt auch Vergil schon in den ersten beiden Versen der Georgica ein Spiel mit dem Doppelsinn von vertere (‚Erde umdrehen‘ für ‚pflügen‘ und ‚Verse dichten‘, vgl. Goodman 2012, 556). Palladius jedenfalls spielt diese Metaphorik in einer innovativen Variante aus. Er schreibt nämlich sein Gedicht – im Unterschied zur gesamten bis dahin existierenden Lehrdichtung, georgischer (Hesiod, Vergil) und anderer (etwa Lukrez’ De rerum natura), die ausnahmslos in Hexametern abgefasst ist – in elegischen Distichen, die eine stärkere Bindung als bloße Hexameter mit sich bringen, insofern die Hexa- und Pentameter dabei Paare bilden und man beispielsweise keine ungerade Zahl von Versen dichten kann. „Geformt“ hat Palladius diese Verspaare nach eigener Aussage mit einem bidens, wörtlich ‚Zweizahn‘: „carmina […] inter formata bidentes“ (XV.169). Dabei handelt es sich um eine zweizahnige Harke, deren Verwendung Palladius auch in nicht-metaphorischen Zusammenhängen empfiehlt (vgl. II.10.2 oder VIII.5). Und diese Verse gelten mit dem Pfropfen (de insitione) thematisch nicht umsonst einer wichtigen Schnittstelle – mit einem schon von Wirth (2011, 12) verwendeten Wortspiel – zwischen Natur und ‚Kunst‘ (im Sinne von ‚Kulturtechniken‘), die Palladius ausdrücklich als solche ausweist: „Ipse poli rector […] naturam fieri sanxit ab arte novam“ („Der Herrscher des Kosmos selbst […] gestand zu, dass die Natur durch Kunst erneuert wird“; XV.21 und 26). Dies ist der Hauptsatz einer sich über drei Distichen hinziehenden Periode, in deren Mittelstück ausgeführt wird, dass jener rector selbst schon Bäume mit gemischten Früchten erschaffen hätte können, dies jedoch bewusst „unserer [menschlichen] Arbeit […] überlassen“ habe (XV.25). Mit dem Zusatz „[menschlichen]“ markiert der Übersetzer der verwendeten Ausgabe prägnant, dass neben dem Pflügen vor allem auch das Pfropfen als genuin anthropozänische Tätigkeit zu fassen ist. Und wenn antike georgische Gedichte in Pflanzenverbindungen schwelgen, die nach heutigem botanischen Kenntnisstand unmöglich sind – ähnlich wie bei Vergil (vgl. II.32– 34) werden auch bei Palladius etwa Birnenreiser in Eschen und Kastanien eingesetzt (vgl. X.55 – 72) –, so muss dies nicht zwingend auf dichterische

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Freiheit zurückzuführen sein, da in Prosatraktaten durchaus ähnlich unwahrscheinliche Verbindungen für möglich erachtet werden (vgl. Ross 1980). Als ‚widernatürlich‘ erscheinen solche Verbindungen höchstens aus heutiger Perspektive; dabei werden dann pejorative Konnotationen rückprojiziert, die der Vorgang des Pfropfens, zumal in seiner metaphorischen Verwendung, erst seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts annahm (vgl. Schmieder 2011, 36). Anachronistisch wäre es deshalb etwa auch, das Gedicht über das Pfropfen als ein dem Prosatext ‚aufgepfropftes‘ zu bezeichnen, selbst wenn Palladius von eben dieser Tätigkeit bereits in kalendarisch angeordneter Prosa gehandelt hatte (vgl. III.17, IV.10.6 u. ö.). Wie das Pflügen wurde auch das Pfropfen mit dem Schreiben in Analogie gebracht (vgl. Wirth 2011, 20, im Anschluss an Derridas Bemerkungen zum Wortfeld um frz. greffe, das neben ‚pfropfen‘ auch eine Schreibkanzlei bedeutet). Diese Analogien gelten auch für die Umgestaltung von Zeitstrukturen: Wie die schriftliche Fixierung mündlicher Rede diese aus ihrem einmaligen linearen Verlauf entkoppelt und nachlesbar, nachschlagbar macht, so werden auch Korn und Baum einem menschlichen Zeitregime unterworfen. Landwirtschaft ist wesentlich mit dem Projekt identisch, Die Zeit nicht nur zu lesen, sondern eben auch zu schreiben (um nebenbei den Titel eines oben schon zitierten Buches einzuflechten), ja: sie dabei überdies demjenigen, was nur noch irreführenderweise ‚Natur‘ genannt wird, vorzuschreiben. Bauern lebten noch nie einfach ‚im Einklang mit der Natur‘, höchstens vielleicht im Einklang mit der von ihnen selbst je schon „durch Kunst erneuert[en]“ (XV.26). Damit aber kommt das kalendarische Schreiben, das diesen Gang eher vorschreibt, als ihm folgt, zugleich an die Grenzen seines Organisationsprinzips.

Literatur Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2017. Borst, Arno. Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas [1990]. Berlin: Wagenbach, 3 2004. Columella, Lucius Iunius Moderatus. De re rustica libri duodecim/Zwölf Bücher über die Landwirtschaft. Lateinisch/deutsch. 3 Bde. Hg. und übersetzt von Will Richter. München: Artemis, 1981. Goodman, Kevis. „Georgics“. The Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics. Hg. Roland Greene, Stephen Cushman, Paul Rouzer, Jahan Ramazani und Clare Cavanagh. Princeton: Princeton University Press, 42012. 556 – 557. Hesiod. Werke und Tage. Griechisch/deutsch. Hg. und übersetzt von Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam, 1996.

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Honold, Alexander. Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur. Basel: Schwabe, 2013. Palladius, Rutilius Taurus Aemilianus. Das Bauernjahr. Lateinisch/deutsch. Hg. und übersetzt von Kai Brodersen. Berlin/Boston: de Gruyter, 2016. Ross, David O., Jr. „Non sua poma: Varro, Virgil, and Grafting“. Illinois Classical Studies 5 (1980): 63 – 71. Ruddiman, William F. „The Anthropocene“. Annual Review of Earth and Planetary Sciences 41 (2013): 45 – 68. Schmandt-Besserat, Denise. How Writing Came About. Austin: Texas University Press, 1996. Schmieder, Falko. „Vom Lobpreis der Veredelung zum Prospekt der Vernichtung. Aspekte einer Problemgeschichte der Pfropfmetapher“. Pfropfen, Impfen, Transplantieren. Hg. Uwe Wirth. Berlin: Kadmos, 2010. 29 – 49. Scott, James C. Against the Grain: A Deep History of the Earliest States. New Haven/London: Yale University Press, 2017. Vergil. Georgica /Vom Landbau. Lateinisch/deutsch. Hg. und übersetzt von Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam, 1994. Waters, Colin et al. [Subcommission on Quaternary Stratigraphy: Working Group on the ‚Anthropocene‘]. Results of binding vote by AWG. 2019. http://quaternary.stratigraphy. org/working-groups/anthropocene. Wirth, Uwe. „Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell: Prolegomena zu einer Allgemeinen Greffologie (2.0)“. Pfropfen, Impfen, Transplantieren. Hg. Uwe Wirth. Berlin: Kadmos, 2010. 9 – 27.

Simon Aeberhard

Sub specie aeternitatis: Scheintodnarrative als Grenzfälle der Zeitwahrnehmung (Dante, Stricker, Boccaccio) In Die Zeit schreiben entfaltet Alexander Honold (2013, 7– 8) zunächst die philosophiehistorischen Grundlagen der menschlichen Zeitwahrnehmung, bevor er die mannigfaltigen kulturellen Semantiken von Zeit in ihren modernen literarischen Ausprägungen analysiert. Zwei spezifische Ereignisse bleiben unserer individuellen Zeitwahrnehmung streng genommen unverfügbar: die eigene Geburt (die kein Davor kennt) und der eigene Tod (nach dem es kein Danach gibt). Dass Zeit eine Vorbedingung unserer Wahrnehmung ist (eine Anschauungsform nach Kant), zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich ausgerechnet am Anfang und am Ende unserer ureigenen Geschichte begrifflich inkohärente Schichten dazwischenschummeln. In Zeitgemäßes über Krieg und Tod schreibt Sigmund Freud 1915: „Der eigene Tod ist ja auch unvorstellbar, und sooft wir den Versuch dazu machen“, das eigene Totsein mittels Einbildungskraft in ein Vorstellungsbild zu überführen, „können wir bemerken, daß wir eigentlich als Zuschauer weiter dabeibleiben“ (1974, 49). Den eigenen Tod aber aus der Position eines irgendwie übrigbleibenden, unbeteiligten Beobachters imaginär nachzuvollziehen, ist als Vorstellung inkohärent (und unheilbar narzisstisch). Doch auch der Tod Dritter, mit dem wir doch, wenn schon nicht täglich, so doch regelmäßig konfrontiert werden, stellt uns vor ein unlösbares Zeitparadox. Thomas Macho bringt in seiner Studie zu Todesmetaphern die Absurdität des Todes auf den Punkt: Auf der einen Seite ist die Leiche ganz offensichtlich identisch mit einem bestimmten Menschen: wir wissen genau, wer da liegt und gestorben ist; auf der anderen Seite aber ist dieselbe Leiche – ebenso offensichtlich – nicht identisch mit diesem Menschen. Wie sollen wir das Rätsel lösen, die Verdoppelung erklären? (1987, 409)

In der Leiche mutiert die Person, die wir wiederzuerkennen meinen, zu einem bloßen Gegenstand. Wo ist die Person hin, die wir geliebt, mit der wir uns vielleicht auch gestritten haben, die unseren täglichen Umgang geprägt hat? In der Kondensationsform der Leiche wirft der Tod also Fragen auf, welche die Hinterbliebenen beantworten müssen: individuell, in der Form psychischer Trauerarbeit, vor allem aber auch als Gemeinwesen, als Trauergemeinde und als https://doi.org/10.1515/9783110773750-014

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Gemeinschaft der Verlassenen. In diesem Sinne hat der Tod als Ereignis außerhalb von jeder Zeit eine kulturbegründende Funktion, wenn er unablässig Rituale und Zeremonien, Semantiken und Metaphern, Denk- und Trostbilder, religiöse Jenseitsvorstellungen und Tabus, Gedenkorte und architektonische Bestattungsanlagen als provisorische Antworten erzeugt, die gesellschaftlich ‚verbindlich‘ (im doppelten Sinne) wirken. Gerade weil der Tod weder individuell noch kollektiv fass- oder erfahrbar ist (weil nur Lebendige sich Gedanken über den Tod machen können, der aber nicht eintritt, solange sie noch darüber nachdenken), hat er eine kulturbegründende Funktion, ist er „Kulturgenerator“ (Assmann 2003, 2): Das individuell-menschliche Wissen um die eigene Sterblichkeit und Zeitlichkeit erzeugt unablässig Artefakte; die Erfahrung des Todes anderer generiert, weil sie alle Zeitvorstellung inkohärent zu machen droht, fortlaufend soziale und kulturstiftende Bräuche und Rituale, mit denen ein Gemeinschaftsmitglied betrauert und aus der Gesellschaft der Lebendigen verabschiedet wird; das Nichtwissen darüber, was uns im und nach dem Tod erwartet, produziert anhaltend Vorstellungen, Bilder und Mythen von ebendiesem Jenseits. Zu den dabei entstehenden Kulturgütern, welche viel über die Funktionsweisen einer Gesellschaft verraten, gehören auch die Geschichten von Toten, die, wie sich herausstellt, gar nicht wirklich tot sind. Geschichten vom Scheintod sind ein Gefäß, so lautet die hier zugrundeliegende These, mithilfe derer Gesellschaften diesen Zusammenhang reflektieren und über eine ihrer fundamentalsten Grenzen nachdenken können, ohne in den Selbstwiderspruch, in das zeitliche Beobachter- oder Leichenparadox zu geraten. Ist der Tod an sich gesellschaftlich und individuell nicht vor- und deswegen auch kaum darstellbar (was erklären mag, warum die Ikonografie des Todes, von wenigen Ausnahmen abgesehen, stereotyp bleibt), kann der scheinbare Tod die Funktion einer asymptotischen Annäherung an diesen blinden Fleck übernehmen. Das literarische Gedankenspiel der kontrafaktischen Fiktion ist es, welches potente Vorstellungen zum Überschreiten der undurchdringlichen Grenze des Todes liefert. Weil Todesfälle, die sich später als nur scheinbar herausstellen, theoretisch niemals völlig ausgeschlossen werden können, existieren Geschichten von Scheintoten, in denen sich eine Gemeinschaft über ihre letzten Grenzen verständigt, in der westlichen Kulturgeschichte spätestens, seit die griechische Antike diese Form von Erzählung als Gefäß von metaphysischen Spekulationen entdeckt hat. Anlass zur Sorge bieten die Scheintodmythen der Antike nicht, weil dort weder der Tod noch das Sterben als schreckensvolle Szenarien ausgemalt werden. Jahrhunderte christlicher Literatur kultivieren und propagieren späterhin das christlich gedämpfte Bild eines Todes, dessen schicksalhaftes Eintreten in Seelenruhe, ja als metaphysisches Glück hinzunehmen ist: „Media vita in morte sumus“, gießt der St. Galler Mönch Notker im 9. Jahrhundert diese nur an der

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Oberfläche tröstliche Haltung in eine prägnante Formel: (Schon) mitten im Leben sind wir vom Tod umfasst. Ein Glück ist dieser Tod, weil er nach Paulus’ Brief an die Korinther (vgl. 1 Kor 15,50 – 58) als Eingangstor ins ewige Leben dient. „Deshalb ist der Christ verpflichtet, sich freudig den Tod zu wünschen, als eine Art Wiedergeburt“, schreibt Philippe Ariès über das Paradigma des mystisch „gezähmte[n] Todes“ – „eine charakteristische Einstellung zum Tode […], die Einstellung einer sehr alten und sehr dauerhaften Zivilisation, die bis in die Vorzeit zurückreicht und sich in ihren letzten Ausläufern bis heute erstreckt“ (Ariès 1980, 13, 23). Ein Meilenstein dieser Form von mystischer Jenseitsliteratur, die kulturhistorisch hochwirksame Bilder für eine Welt jenseits dieser Welt liefert, liegt mit der Divina Commedia vor. „In der Hälfte auf dem Pfad, der unser Leben ist“, so beginnt der primo canto von Dante Alighieris Epos recht wörtlich übersetzt, „fand ich mich in einem dunklen Wald wieder, weil der direkte Weg sich verloren hatte.“ Nel mezzo del cammin di nostra vita mi ritrovai per una selva oscura, ché la diritta via era smarrita. (1994, I)

Der nicht näher spezifizierte Icherzähler, in dem später Dante selbst zu erkennen ist, artikuliert im hohen Ton der danteschen Terzinen seine metaphysische Orientierungslosigkeit, indem er sie in das allegorische Bild einer finsteren Gegend gießt, in die er sich verirrt habe. Er hat sich dabei nicht nur von der Hauptstraße des Lebens entfernt, ist also sozial isoliert, sondern er ist auch vom ‚rechten Weg‘ abgekommen, wandelt also ohne Ziel auf seiner Lebensbahn. Tief verängstigt versucht das Ich, dem irdischen Irrwald zu entkommen, fasst Mut, als es einen sonnenbeschienenen Hügel entdeckt, den zu besteigen es beschließt, um Überund damit neue Zuversicht zu gewinnen im Blick auf das Jammertal, dem zu entrinnen es im Begriff ist. Doch dem Aufstieg stellt sich ein ganzes Bestiarium an Sünden in den Weg. Auf der Flucht vor diesen tierischen Schreckgespinsten stürzt der Icherzähler „in basso loco“ (V. 61), in die Tiefe der Unterwelt. Dort trifft er im römischen Dichter Vergil auf seinen ersten Jenseitsführer. Mit ihm zusammen besichtigt er die Ewigkeit („loco etterno“,V. 112). Die postmortale Jenseitsreise, die aller Zeit enthoben ist, kann beginnen. Die beiden bereisen nacheinander das Inferno mit seinen neun Kreisen und das Purgatorio mit seinen sieben Terrassen. Das erzählerische Ich hat dabei Gelegenheit, verschiedene Kategorien von Sündern, aber auch illustre Persönlichkeiten aus der näheren und ferneren Geschichte beim peinlichen Abbüßen ihrer Vergehen zu beobachten. An der Grenze zum Paradiso muss Vergil als Heide umkehren; der Erzähler wird an seine verstorbene Geliebte weiterverwiesen, die

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ihn bis vor Gottes Thron führt, wo das Epos im Lobgesang auf die Dreifaltigkeit endet (übrigens ohne dass der Wanderer jemals wieder an die Oberwelt und damit in eine nicht allegorische Wörtlichkeit gelangen würde). Dante arbeitete an seiner Commedia, die ein Stück Weltliteratur allerersten Ranges werden sollte (der Zusatz göttlich stammt nicht von ihm, sondern ist bewundernder Ausdruck der Nachwelt), ab ca. 1300 bis kurz vor seinem Tod 1321 in Florenz. Die christliche Jenseitsvision, die er in einhundert Gesängen und vierzehntausendzweihundertdreiunddreißig Versen als Scheintodnarrativ ausgestaltet, ist eine sinnbildliche Antwort auf die Frage, was uns am Ende jener Straße erwartet, die unser Leben ist. Von einem ganz anderen Zuschnitt, wiewohl nur knapp dreißig Jahre später und wie die Commedia in Florenz abgefasst, sind die durchwegs dem Diesseits verpflichteten Scheintodgeschichten, die Giovanni Boccaccio in seine Novellensammlung Il Decamerone aufnimmt. Auf der Kontrastfolie der moralischen und metaphysisch orientierten Jenseitsfahrt Dantes nehmen sich Boccaccios thematisch einschlägige Novellen als geradezu lakonischer Umgang mit dem Tod als Schwelle zu einem moralisch ausgleichenden Jenseits aus. Was ist geschehen, das den deutlichen Wechsel in der kulturellen Semantik des Todes zwischen 1321 und 1353, zwischen Dante und Boccaccio erklären könnte? – Die Rahmenerzählung des Dekamerons legt eine Spur für eine umfassende Antwort auf diese Frage: In der „Darlegung des Autors, warum die später auftretenden Personen zusammenkamen“ (Boccaccio 1999, 11), wird geschildert, daß seit der heilbringenden Menschwerdung des Gottessohnes eintausenddreihundertachtundvierzig Jahre vergangen waren, als in die herrliche Stadt Florenz, die vor allen anderen in Italien schön ist, das tödliche Pestübel gelangte, welches – entweder durch Einwirkung der Himmelskörper entstanden oder im gerechten Zorn über unseren sündlichen Wandel von Gott als Strafe über den Menschen verhängt – einige Jahre früher in den Morgenlanden begonnen, dort eine unzählbare Menge von Menschen getötet hatte und dann, ohne anzuhalten, von Ort zu Ort sich verbreitend, jammerbringend nach dem Abendlande vorgedrungen war. (Boccaccio 1999, 14)

Der Grund für das neue Bild des Todes liegt in einer Pandemie, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts eine neue Form von Sterben erfahrbar macht und damit eine neue Zeit einläutet. Es ist die mors repentina, der unerwartet und übereilt eintretende Tod, welcher die freudig oder immerhin „willig hingenommene Notwendigkeit“ eines christlichen Todes als Übergang der Seele in die Ewigkeit überlagert und verstört (Ariès 1980, 19). In der Übereiltheit seines Eintretens verhindert er die eingespielten medizinischen, kultisch-rituellen, sozialen und seelischen Brauchtümer der Todesvor- und ‐nachbereitung und setzt damit „die Ordnung der Welt, an die jedermann glaubte, außer Kraft, absurdes Instrument

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eines zuweilen als Zorn Gottes sich verkleidenden Zufalls. Ebendeshalb wurde die mors repentina als schimpflich und beschämend aufgefasst“ (Ariès 1980, 20): weil ein unvorbereitet eintretender Tod ohne Beichte, ohne Letzte Ölung und ohne versöhnlichen Abschied die Garantie auf Unsterblichkeit und Auferstehung infrage stellt. Für Boccaccios Rahmenerzähler bleibt unklar, ob eine besonders verhängnisvolle Planetenkonstellation dafür verantwortlich ist oder die Pest nicht doch eine (übrigens explizit ‚gerechte‘) Kollektivstrafe Gottes darstellt. Klar ist aber, dass das absurde, sinn- und ziellose Dahinsterben, das sich nicht ankündigt und alle ohne Unterschied trifft, das den sterbenden Seelen keine Zeit zum Bereuen ihrer Sünden und zum Empfangen der Sterbenssakramente oder auch nur zum Sichfügen ins Unvermeidliche lässt, dass ein solches Sterben einer humanitären Katastrophe allerersten Ranges gleichkommt und einer Erklärung bedarf. Und diese Erklärung wird, anders als noch bei Dante und den zahlreichen christlichen Büchern über die ars moriendi, nicht mehr im Jenseits und in einem alle Zeiten beendenden Tag des Jüngsten Gerichts gesucht, sondern: in der Welt selbst. Die Vorstellung, mit der sich noch Dante über den Tod seiner Geliebten hinwegtrösten konnte, wonach nämlich das moralische Konto im Jenseits ausgeglichen werde, erweist sich bei Boccaccio angesichts des vor Augen stehenden, aber über alle Sinne gehenden Unglücks als ein zu schwacher Trost. Doch der Wandel in der Semantik des Todes schlägt sich in der Mitte des 14. Jahrhunderts in der Literatur nicht nur nieder, er schlägt mitunter in Literatur um: Erzählen ist nun nicht mehr nur eine Kulturtechnik, die sich (unter anderem) für den Tod interessiert und spekulativ exploriert, was danach ist, sondern Erzählen wird – am direktesten, deutlichsten und nachhaltigsten bei Boccaccio – zu einer Tätigkeit, die sich hauptsächlich und wesentlich gegen den nahen Tod und die Zeitlichkeit des Menschen richtet. 1347 breitet sich der Schwarze Tod auf dem Gebiet der heutigen Türkei mit rasendem Tempo aus, gelangt ein Jahr später über die Handelsrouten nach Griechenland, Italien und an die spanische Mittelmeerküste, von wo aus er in den folgenden Jahren nordwärts zieht und geschätzte fünfundzwanzig Millionen menschliche Opfer fordert – ein Drittel der Bevölkerung Europas. Florenz trifft es dabei besonders früh und besonders hart: Nur ein Fünftel der ca. einhunderttausend Einwohner überlebt die vier verderblichen Monate von März bis Juli 1348. Der tiefbittere, hässliche und erbarmungslose Tod ist in den einleitenden Zeilen der des Decamerone allgegenwärtig: Er wütet blind und trifft ohne Unterschied alle sozialen Schichten, alle Quartiere, alle Geschlechter, Kinder wie Alte gleichermaßen, löscht binnen weniger Tage ganze Großfamilien aus und verschont, genauso grund- und sinnlos, vereinzelt andere. Boccaccio (1999, 14– 15) beschreibt, wie sich die Situation im Frühling 1348 eskalativ verschärft: Gegen „die ansteckende Kraft dieser Seuche“ hilft, so wird den Stadtbewohnern nach und

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nach klar, „keine Klugheit oder Vorkehrung, obgleich man es daran nicht fehlen und die Stadt durch eigens dazu Beamte von allem Unrat reinigen ließ, auch jedem Kranken den Eintritt verwehrte“. Auch die Medizin ist mit ihrem Latein am Ende, zumal sich die Pest nicht, wie noch im Orient, durch „Nasenbluten“ als „offenbares Zeichen unvermeidlichen Todes“ zeigt (welches als signum mortiferus immerhin Anlass geboten hätte, die seelsorgerischen Sterbevorbereitungen in Angriff zu nehmen). Eine solche über alle Vorstellung gehende, buchstäblich überirdische Gewalt, die in einer Gemeinschaft schrecklich ‚waltet‘, ohne dass eine Ursache identifiziert werden könnte, zerstört unweigerlich auch das soziale Gefüge. Die Sitten in Florenz verrohen angesichts einer Macht, die Menschen dahinrafft „ohne allen ärztlichen Beistand und ohne Pflege eines Dieners, auf Straßen und Feldern wie in ihren Häusern, ohne Unterschied bei Tag und Nacht, nicht wie Menschen, sondern fast wie das Vieh“ (Boccaccio 1999, 21). Boccaccio beschreibt den Zerfall selbst ‚natürlicher‘ Banden gesellschaftlichen Miteinanders mit der Extremfigur der Ironie, die vorzuenthalten vorgibt, was sie dann doch zu erzählen sich gezwungen sieht: Wir wollen davon schweigen [lasciamo stare], daß ein Mitbürger den anderen mied, daß der Nachbar fast nie den Nachbarn pflegte und die Verwandten einander selten oder nie besuchten; aber mit solchem Schrecken hatte dieses Elend die Brust der Männer wie der Frauen erfüllt, daß ein Bruder den anderen im Stich ließ, der Oheim seinen Neffen, die Schwester den Bruder und oft die Frau den Mann, ja, was das schrecklichste ist und kaum glaublich scheint: Vater und Mutter weigerten sich [schifavano: ,sie ekelten sich‘], ihre Kinder zu besuchen und zu pflegen, als wären es nicht die ihrigen. (1999, 17– 18)

Doch nicht nur im täglichen, ja stündlichen Umgang mit dem Tod und den Toten verrohen die Sitten, auch andere Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders werden – verständlicherweise – durch die Plage in Mitleidenschaft gezogen. „Fleischeslust“, „ausschweifend und schamlos“, soll sich sogar bereits an Klöstern breitgemacht haben, wird in der Rahmenerzählung des Decamerone geraunt. Ziemlich genau in der Mitte der Introduzione ¹ verengt sich der erzählerische Fokus vom generellen und „großen Elend“, das ganz Florenz trifft, und nimmt gezielt eine Gruppe von sieben zwischen achtzehn und achtundzwanzig Jahren jungen Damen in den Blick, die „an einem Dienstagmorgen in der ehrwürdigen Kirche Santa Maria Novella“ zusammenkommen. (Man beachte den Namenszusatz des florentinischen Bauwerks, das in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts

 Im Codex Hamilton 90, einer autografen Handschrift des Decamerone, die in Berlin liegt, ist die Zäsur sogar durch ein großes Initial grafisch markiert (vgl. Flasch 1995, 41).

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fertiggestellt worden war.) Aus ganz konkreter und unmittelbar physischer Selbstsorge, aber auch aus Besorgnis um die eigene Integrität im Angesicht des mit der Pest wetteifernden Sittenverfalls beschließen die Damen nach dem Gottesdienst, gemeinsam auf einen Landsitz zu flüchten. Drei junge Männer bieten sich noch in der Kirche freudig an, ihnen, wie es heißt, „tener compagnia“ (Boccaccio 1999, 22). „Compagnia“ – Gemeinschaft, Gesellschaft, Begleitung oder einfach Gruppe – ist der italienische Terminus, den Boccaccio seinem Erzähler und seinen Figuren zunächst eher in metaphorischem Gebrauch in den Mund legt; bald macht die Rahmenerzählung aber damit ernst, in den flüchtenden jungen Leuten ein Gegenbild zur verkommenden Gesellschaft der geplagten Stadt zu zeichnen. Bereits anderntags reisen die zehn jungen Leute nämlich mit Dienerschaft ab und gelangen bald an einen kleinen Palazzo auf dem Land, wo sie die nächsten Tage verbringen wollen. Die kleine ‚Gesellschaft‘ gibt sich sofort eine Verfassung, die dem regel- und zügellosen Ausnahmezustand des Pestflorenz entgegengestellt ist. Sie bestimmt eine erste Tageskönigin zur Anführerin, die als eine der ersten Amtshandlungen die folgenden, sprechenden Vorkehrungen trifft: „Wir wünschen und befehlen, dass jede und jeder, so lieb ihm unsere Gnade ist, sich schütze, wo immer er geht und steht: dass nämlich keine andere als frohgemute Neuigkeit [novella] uns von außen erreiche, gehört und erzählt werde.“ Die novella, die Neuigkeit ist, so durchschaut offenbar die Tageskönigin, ein potentes Machtinstrument mit weitreichenden gesellschaftlichen Folgen. Deren Kontrolle steht auf derselben Prioritätsstufe wie die sanitätspolizeiliche Anweisung, sich vor Infektionsherden in Acht zu nehmen. Ein solcher Nachrichtenstopp (denn welch gute Botschaft sollte auch aus einer Umgebung kommen, in der die Pest wütet?) erzeugt ein Vakuum, das die umsichtige Tageskönigin, am drückend heißen Nachmittag, wo sich in den Gärten des Landsitzes zu verlustieren eine Qual wäre, unumwunden füllt: Hier ist es, wie ihr seht, kühl und angenehm zu weilen, auch sind Brett- und Schachspiele zur Hand, und jeder kann hier seinen Vergnügungen, wie es ihm am besten dünkt, nachgehen. Wolltet ihr jedoch in diesem Punkte meinem Rate folgen, so vertrieben wir uns die heißen Tagesstunden nicht mit Spielen […], sondern mit Geschichtenerzählen [novellando], da, wenn deren einer erzählt, die ganze Gesellschaft [tutta la compagnia], die ihm zuhört, sich daran ergötzen kann. (Boccaccio 1999, 32)

Dieser Vorschlag findet allgemeinen Beifall, worauf der erste Reigen von zehn Novellen – die drei Herren und die sieben Damen erzählen jeweils eine Geschichte – zum Zeitvertreib, aber auch, wenn nicht gar vor allem, zur Stundung der Entfernung zur allgegenwärtigen Pest und zum sicheren Tod, beginnt.

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Die Verbalform novellare, die im zitierten Abschnitt als Gerundium novellando vorkommt, ist ein Neologismus Boccaccios, der seinen ad hoc-Konstruktionscharakter offensiv hervorzeigt. Deutsche Entsprechungen können dabei die pointierte Betonung des italienischen Originals auf die Performanz des Erzählens, die charakteristische Bündelung von Zeit der Erzählung und Zeit des Erzählens, aber auch die Aufmerksamkeitsverschiebung höchstens ansatzweise abbilden. Als ein Novellare gegen die omnipräsente Todesbedrohung konstituiert sich bei Boccaccio die späterhin in allen europäischen Literaturen ausnehmend wirksame Erzählgattung der Novelle. Nicht nur und noch nicht einmal vornehmlich auf der inhaltlichen Ebene, sondern vielmehr als kulturelle Form und Handlung setzt sich also Boccaccios Literatur mit dem Tod auseinander. Es werden insgesamt – exklusiv der Wochenenden, an denen nicht erzählt wird – zehn Tage sein, welche die kleine ‚Gesellschaft‘ mit Novellenerzählen gegen den sicheren Tod anredet, zehn Tage, die Boccaccios ‚Zehntagewerk‘ ihren Namen geben. In den insgesamt einhundert Novellen spiegeln sich zweifelsohne die einhundert Gesänge von Dantes Commedia wider. Die Novelle von Ferondo im Fegefeuer ist die achte Geschichte, die am dritten Tag erzählt wird: Der Abt eines Benediktinerklosters in der Toskana, „der in jeder Beziehung, den Umgang mit Weibern abgerechnet, ein sehr heiliger Mann genannt werden konnte“, ein „schwerreicher Bauer, namens Ferondo“, der durch „seine[ ] unmäßige[ ] Einfalt und Albernheit“ auffällt, sowie des Letzteren „wunderschönes Weib“ werden nacheinander vorgestellt und erzählerisch eingeführt (Boccaccio 1999, 272); sie spielen die stereotypen Hauptrollen in diesem Schwank. Wegen seiner Schwäche für die Reize des anderen Geschlechts verliebt sich der Abt sofort in die schöne Frau des Bauern, muss aber fast verzweifeln, als er erfahren muss, dass ausgerechnet „Ferondo, der in allem andern so töricht und dumm war, […] vollkommen vernünftig [sei], sobald es sich darum handle, seine Frau zu lieben und zu bewachen“ (Boccaccio 1999, 272). Ein Glück, dass einem Geistlichen andere Mittel und Wege zur Verfügung stehen, sich dem Objekt des Begehrens zu nähern: „Zur großen Freude des Abtes“ gesteht die Frau dem Abt nämlich in der Beichte ihre – nicht nur geistige – Frustration. Der Klostervorsteher fühlt mit der armen Frau mit, die nicht nur „einen Blödsinnigen zum Manne“ hat, sondern der auch „ein Eifersüchtiger“ zur Last fällt. Er verspricht ihr eine „Arznei, die ihn zu heilen vermag“. Der Abt verspricht der schönen (und namenlos bleibenden) Frau, ihre Lage zu verbessern und Ferondo zu läutern. Wenige Tage später wird Ferondo von seiner Frau ins Kloster geschickt. Der Abt holt ein „Pulver von wunderbarer Kraft“, das aus dem „Morgenlande“ stammt, hervor und panscht es in ein Glas „jungen und noch trüben Weines“, den er Ferondo anbietet. „[I]n Gesellschaft einiger anderer

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Mönche“ – das Publikum, das spätere Zeugenaussagen verbürgen kann, ist hier strategisch wichtig – überfällt Ferondo eine so plötzliche und unüberwindliche Müdigkeit, daß er noch im Stehen einschlief und schlafend umfiel. Der Abt stellte sich erschrocken über den Vorfall, ließ ihm die Kleider öffnen und kaltes Wasser bringen, um ihn damit zu bespritzen. […] Als nun der Abt und die Mönche sahen, daß er bei alledem sich nicht erholte, und als sie den Puls, nach dem sie fühlten, regungslos fanden, zweifelte keiner mehr, daß er tot sei. (Boccaccio 1999, 276)

Da Ferondo in einer Weise öffentlich stirbt, die keine begründeten Zweifel an seinem Tod zulässt, werden folgerichtig seine Angehörigen verständigt und eine kurze Trauerfeier wird abgehalten, bevor der ‚Tote‘ in der Gruft des Klosters beigesetzt wird. Das Tempo, mit welchem die ‚Leiche‘ unter den Boden gebracht wird, ist in dieser Szene entscheidend, ebenso wie die Glaubwürdigkeit der öffentlichen Inszenierung. Während Ferondos Frau die trauernde Witwe gibt und den Tod ihres Mannes auf diese Weise rituell begeht, legt der Abt zusammen mit einem Mönch aus Bologna den ‚Leichnam‘ in ein anderes Gewölbe, „worin man gar kein Licht sah und das zum Strafgefängnis für Mönche bestimmt war“. Noch bevor Ferondo aus seiner Ohnmacht erwacht, beehrt der Abt bereits die Witwe in den Kleidern Ferondos mit einem nächtlichen Besuch, was in der Nachbarschaft das Gerücht erzeugt, der „Geist des Ferondo [müsse], um Buße zu tun, in der Gegend umgehen“ (Boccaccio 1999, 276 – 277). Die unheimliche Geistererscheinung im italienischen Dorf ist gewissermaßen ein soziales ‚Nachbild‘ Ferondos, das sich aufgrund seines (vor‐)schnellen Begräbnisses fast zwangsläufig einstellt. Der Spuk ist dabei doppelt motiviert: Einerseits waren Ferondo die Sterbenssakramente, insbesondere die letzte Beichte mit der Reue über die irdischen Sünden und deren Absolution verwehrt geblieben, was auf einer religiösen Ebene erklären mag, warum sein „Geist“ die letzte Ruhe (noch) nicht finden kann. Gerade diesen Aberglauben aber macht sich, andererseits, der lüsterne Abt zunutze, wenn er ja tatsächlich die ehelichen Pflichten des vermeintlich Verstorbenen in der Form einer unheimlichen Stellvertretung übernimmt, derweil dieser parallel dazu in der Unterwelt erwacht und seiner charakterlichen Läuterung zugeführt wird: Als Ferondo in dem dunklen Gefängnis erwachte, ohne zu wissen, wo er sich befand, trat der Bologneser Mönch mit einer fürchterlichen Stimme zu ihm hinein und gab ihm mit einigen Ruten, die er in der Hand hielt, eine derbe Tracht Schläge. Ferondo fragte unter Weinen und Schreien in einem fort: „Wo bin ich?“ „Du bist im Fegefeuer“, antwortete der Mönch. „Wie“, sagte Ferondo, „so bin ich denn tot?“ „Jawohl“, erwiderte der Mönch. (Boccaccio 1999, 277)

War der Tod dort in antiken und christlichen Texten als ein gewichtiger individueller Übergang konzeptualisiert, der mit der irreversiblen Trennung von Körper

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und Geist einherging und nur in metaphysisch begründeten Ausnahmefällen rückgängig gemacht werden konnte, so tritt der Tod in dieser Novelle alleine als soziales und weltliches Konstrukt auf. Mittels geschickter Inszenierungen wird Ferondos Tod als eine soziale Tatsache etabliert (auch und vor allem für ihn selbst). Werden gesellschaftliche Trauer- und Bestattungsrituale glaubwürdig ausgeführt, entfalten sie ihre Performanz auch dann, wenn die Seele noch gar nicht ausgehaucht wurde. In seiner literarischen Verfeinerung des Scheintodstoffes verschiebt Boccaccio also (erzähl‐)strategisch auch das zugrundeliegende Scheintodkonzept: von einem metaphysisch reversibel gemachten Tod hin zu einem theatralen Tod, einem Tod, der einem ganzen Publikum (das Opfer eingeschlossen) unzweifelhaft vorkommt, obwohl er nur geschickt inszeniert ist. Eine Zwischenstufe, nämlich als fiktional gespielter Scheintod, nimmt in dieser Hinsicht eine spätmittelalterliche Variante der Erzählung ein, deren Stoff Boccaccio als Vorbild zu seiner Novelle von Ferondo im Fegefeuer gedient haben könnte. Es handelt sich dabei um eine Geschichte, von der man annimmt, dass sie von einem Wanderdichter stammt, der sich „Der Stricker“ (wohl im Sinne von: ‚Texte weben‘) nannte und in der Zeit von 1220 bis 1250 (also gute einhundert Jahre vor Boccaccio) hauptsächlich im bayerisch-österreichischen Grenzgebiet umherzog. Aus dem mittel- und südostdeutschen, böhmischen und österreichischen Raum (also nördlich der Alpen) sind denn auch die (späteren) Handschriften der paarreimenden Kurzgeschichte überliefert.² Ein (nicht weiter spezifizierter) Mann und seine Ehefrau treten in Ditz mere wie ein wip ihren man / Lebendich begrvb ysan in einen romantischen Wettstreit, wer wen heißer liebt: Ein man sprach wider sîn wîp: „du bist mir liep als der lîp. […] mir ist daz herze und der sin sô sêre an dich geslagen, daz ich dirz niemer kan gesagen.“ (Stricker 2000, 28)³

 Sie findet sich einmal im sog. Wiener Codex 2705, der aus dem dritten Viertel des 13. Jahrhunderts stammt und heute in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt wird, im Codex Palatinus 341 aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts der Universitätsbibliothek Heidelberg und im Codex Bodmer 72, ebenfalls aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts, der sich heute in der Bibliothek in Cologny bei Genf befindet.  In eigener Übertragung: Ein Mann sagte zu seiner Frau: / „Du bist mir näher als ich mir selbst. […] / Mein Herz und alles, woran ich denke, / ist so sehr von dir eingenommen, / dass mir die Worte fehlen, es auszudrücken.“

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Der Ehemann bemüht den rhetorischen Topos der Unaussprechlichkeit, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Doch da Rhetorik bekanntlich billigerweise keine Beweiskraft zu entfalten vermag, fordert seine Frau Taten statt Worte („si sprach: ‚daz lâ werden schîn!‘“) und es entwickelt sich eine Art Sport zwischen den beiden: Sie behauptet allerlei albernes Zeug und er muss es ihr glauben – und sei es noch so absurd. So geht er mittags schlafen, weil sie darauf besteht, dass gerade die Nacht hereingebrochen sei; er steigt in ein kaltes Bad und planscht extralange darin, weil sie ihm vorschwärmt, wie warm und angenehm das Wasser sei usw. Der liebestolle Überbietungswettstreit funktioniert eine Weile lang ganz gut: Je ausgefallener ihre Ideen sind, desto größer wirkt sein Liebesbeweis, und je unverbrüchlicher sein Liebesbeweis ist, desto stärker zeigt sie ihre Gegenliebe. Auch als ein Konkurrent sich in Gestalt eines wenig frommen Gottesmanns – es sind dies alles stereotype Figuren des mittelalterlichen Erzählarsenals – ins etablierte Eheglück mengt, gelingt es der Frau, die Gefahr vorläufig abzuwenden. Sie verweist ihren misstrauisch gewordenen Mann einfach auf seine angeblich unverbrüchliche Liebe und dem damit verbundenen Schwur, ihr alles zu glauben: er sprach: „es ist alles guot, swaz dîn reiner lîp getuot. dîniu wort diu sint elliu wâr. und soldestu leben tûsent jâr, ich gezîhe dich niemer nîhtes mê.“ dô tet si im aber baz denne ê. (Stricker 2000, 33)⁴

Doch der Pfarrer vermag die Liebesglut der Frau bald so zu entfachen, „daz ir erleidete der rehte man“ (Stricker 2000, 34) und er aus dem Weg geschafft werden muss. Listig setzt die Frau ihre Macht über den Gemahl ein, um ihn in ein frühes Grab zu bringen. Als er eines Tages von der Feldarbeit nach Hause kommt, gaukelt sie ihm nämlich vor, er sehe sterbenskrank aus, nötigt ihn, sich hinzulegen und bestellt den Pfarrer (ihren Liebhaber) zur Abnahme der Beichte und zur Verabreichung der Sterbenssakramente. Nachdem die Frau auf diese Weise rituell Abschied genommen hat, durchwacht sie gemeinsam mit ihren Nachbarn die Nacht, trägt ihren Ehemann anderntags zur Kirche, beklagt und betrauert ihn vor dem geistlichen Publikum wirkungsvoll und sieht zu, wie er begraben wird. Der Mann, der die ganze Zeit meint, die Belastbarkeit seiner ewigen Liebe werde wiederum auf

 Er sagte: „Es ist alles gut, was dein von allen Sünden reiner Körper auch macht. / Deine Worte sind ja alle wahr. / Wenn du auch tausend Jahre lebtest – ich werde dich niemals wieder beschuldigen“ / Sie mochte ihn lieber als je zuvor.

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den Prüfstand gestellt, ahnt erst, dass der Liebeswettkampf wohl endgültig aus dem Ruder gelaufen ist, als sein Sarg bereits ins Grab gesenkt wird. Wie sehr er aber auf sich aufmerksam macht, zu helfen ist ihm an dieser Stelle nicht mehr: swaz er gerief und geschrei, sô sprâchen doch disiu zwei, diu dâ westen diu mære, daz es der tîvel wære, und liezen in niht ûzgraben. Den schaden muose er des haben, daz er satzte ein tumbez wîp ze meister über sînen lîp. (Stricker 2000, 36)⁵

Mit dieser Moral, niemals eine eigensinnige Frau allzu dominant werden zu lassen, endet die ‚Mære‘ vom begrabenen Ehemann von Stricker abrupt. Kein weiteres Wort über die späteren Freuden (oder Leiden) der jungen ‚Witwe‘ mit ihrem „Pfaffen“, kein weiteres Wort über das qualvolle Sterben des gehörnten Ehemanns. Man versteht gut, wie sich das mittelalterliche Publikum ob der naiven Einfalt des Ehemanns belustigt hat, und man kann auch verstehen, wie es seinen grausamen Tod im Grab als eine Form von gerechter Strafe für den sinnlosen Liebeswettstreit empfunden hat, den er angezettelt hatte: Mit kulturell etablierten Formen der Uneigentlichkeit hatte er bis zuletzt versucht, seine unverbrüchliche und ewige Liebe unbezweifelbar zu demonstrieren: mit uneigentlichem Sprechen (Rhetorik), mit uneigentlichem Handeln (Theater) und mit uneigentlichem Glauben (er glaubt ihr alles, und betröge sie ihn auch eintausend Jahre lang). Dass seine schließlich eigentlichen Hilfeschreie nicht ernst genommen werden, sollte ihn nicht wundern. Sein Tod ist sogar, wenn auch unter absurd falschen Vorbedingungen, metaphysisch legitimiert: Er hat seine letzte Ölung empfangen, wenn er selbst das auch nur als ein ausgefallenes Liebesspiel seiner Ehefrau empfunden haben mag. Im Unterschied zu den Jenseitsnarrativen, in denen der empirische Tod von einer metaphysischen Instanz rückgängig gemacht wird, ist der Scheintod hier das Resultat einer eskalierten erotischen Fantasie, einer Fiktion, aus der urplötzlich Wirklichkeit wird. Schon bei Stricker also sind es kulturelle Formen der Uneigentlichkeit und der Fiktionalität, die im Laufe eines Liebeswettstreits so lange kultiviert werden, bis der gespielte Tod mithilfe eines Dritten in einen

 Wie er auch rief und schrie, / die beiden andern sagten, / die doch die Geschichte kannten, / dass es der Teufel sei, / und ließen ihn nicht ausgraben. / Er musste den Schaden haben, / dass er ein unverständiges Weib / als Herrin über sich selbst gesetzt hatte.

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schrecklichen eigentlichen umschlägt. Auch Ferondos Tod bei Boccaccio ist nur ein scheinbarer. Anders als bei Stricker ist Ferondo aber das unwissende Opfer einer ausgefeilten Intrige, nicht Anstifter eines unsinnigen Spiels, das sich in einer Eskalationsreihe überraschend gegen ihn wendet, ihm über den Kopf wächst und ihn zuletzt ebendiesen kostet. Wo antike und mittelalterliche Narrative über den scheinbaren Tod noch metaphysisches Wissen zu artikulieren versuchten, nimmt Boccaccios listiger Abt die literarische Technik der Katabasis (des ‚Heruntersteigens‘, zum Beispiel bei Dante) buchstäblich: Sein Fegefeuer liegt nur drei gute Meter unter dem Klosterboden. Die Hoffnung auf metaphysisches Wissen wird zugunsten der Ausleuchtung der inszenatorischen, vor allem der gesellschaftlich-rituellen Mechanismen, mit denen ein solches operiert, fallengelassen. Metaphysik wird damit zu einer Diskursmasse und als solche durch literarischen Einzug eines doppelten Bodens für Manipulationen verfügbar: Metaphysik wird, richtig eingesetzt, zu einem Machtinstrument. Das zeigt sich auch darin, dass der arme und naive Ferondo sich einbildet, als Toter im Fegefeuer Ansprüche über die Geschicke der Welt ableiten zu können, als ihm der Wein nicht schmecken will: Indessen brachte der Mönch ihm etwas zu essen und zu trinken. Als Ferondo das sah, rief er aus: „Mein Himmel, essen denn die Toten?“ – „Ja“, sagte der Mönch, „und was ich dir jetzt bringe, ist dasselbe Essen, welches die Frau, die einstmals die deine war, heute morgen der Kirche geschickt hat, um für deine Seele eine Messe lesen zu lassen. Das kommt dir nun, auf unseres Herrgotts Befehl, hier zugute.“ Darauf sagte Ferondo: „Ach du meine Güte! Na, Gott gebe ihr ein vergnügtes Jahr. […]“ Dann fing er, hungrig und durstig wie er war, zu essen und zu trinken an. Da ihm aber der Wein nicht allzugut vorkam, sagte er wieder: „Herrgott, gib ihr Unglück, sie hat dem Priester doch nicht von dem Fasse an der Wand geschickt.“ (Boccaccio 1999, 277– 278)

Das Jenseits, vermittelt über tradierte Jenseitsvorstellungen, ist nur eine recht beschränkte idée fixe der Kulturgeschichte, mit deren tiefer Verwurzelung in den Köpfen ein geschickter und skrupelloser Drahtzieher spielen kann, so die implizite Moral von Boccaccios Novelle. Ferondo, der glaubt, in Dantes Purgatorio zu brutzeln, fragt seinen Peiniger unter Schlägen, welche ihn „ganz mürbe“ machen, wofür er denn eigentlich bestraft werde. „Weil du eifersüchtig warst“, lautet die Antwort, „obgleich du das beste Weib zur Frau hattest, das weit und breit zu finden war.“ „Ach Gott, ja“, sagte Ferondo, „und das honigsüßeste dazu, köstlicher als Marzipan. Aber ich wußte nicht, daß unser Herrgott es übelnimmt, wenn ein Mann eifersüchtig ist, sonst wäre ich’s nicht gewesen.“ Der Mönch antwortete: „Das hättest du bedenken und dich bessern sollen, während du noch in jener Welt warst. Und sollte sich’s treffen, daß du wieder hinkämst, so gib nur acht, daß du in Gedanken behältst, was ich dir jetzt antue, und daß du nie

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wieder eifersüchtig bist.“ „Ei“, sagte Ferondo, „kommt denn jemals einer zurück, der gestorben ist?“ „Freilich“, entgegnete der Mönch, „wen Gott wieder hinbringen will!“ – „Ach Gott“, sagte Ferondo, „wenn ich jemals zurückkäme, so wollte ich der beste Mann von der Welt sein. Ich wollte sie niemals schlagen, niemals schelten, außer wegen des Weines, den sie heute morgen geschickt hat.“ (Boccaccio 1999, 278)

Nach zehn Monaten, „während welcher der Abt, der sich gar glücklich fühlte, oft genug die hübsche Frau besuchte und sich mit ihr den schönsten Zeitvertreib von der Welt machte“, ist es (zumal sie von diesem ‚Zeitvertreib‘ auch noch schwanger wird) Zeit für die wundersame Auferstehung. Immerhin soll sich Ferondos Läuterung als Scheintodfall im Diesseits auswirken. Der Abt verabreicht Ferondo wieder von dem Schlafpulver und legt ihn zurück in die Gruft. Diesem gelingt es nach seinem Erwachen, sich aus seiner Lage zu befreien. Die Mönche des Klosters, die durch die gespenstischen Geräusche aufmerksam geworden waren, gewärtigen ein Wunder. Der Abt blieb mit seinen Mönchen zurück und bezeigte viel Verwunderung über diese Begebenheit, weswegen er denn in großer Demut das Miserere singen ließ. Ferondo kehrte indes ins Dorf zurück, wo jeder, der ihn sah, vor ihm floh, wie man vor etwas Entsetzlichem flieht. Er aber rief alle zurück und versicherte, er sei auferweckt worden. Die Frau fürchtete sich ebenfalls vor ihm, bis endlich die Leute etwas mehr Zutrauen zu ihm faßten, sich überzeugten, daß er lebendig sei und ihm vielerlei Fragen nach jener Welt stellten. Er antwortete allen, als ob er vernünftiger zurückgekehrt sei, erzählte ihnen Neuigkeiten [novelle] von den Seelen ihrer Angehörigen und erfand sich selber die schönsten Fabeln von der Welt über die Einrichtungen des Fegefeuers. […] Zum Glücke traf es sich, daß die Frau gerade zu der Zeit, welche nach der Meinung der törichten, die sich einbilden, die Frauen trügen genau neun Monate lang die Kinder im Leibe, die richtige war, von einem Knaben genas, der Benedikt Ferondo getauft ward. (Boccaccio 1999, 279 – 280)

Waren es in den antiken Narrativen metaphysische Informanten gewesen, die im Zentrum des erzählerischen Geschehens standen und durch ihren Scheintod ausgezeichnet wurden, so rückt bei Boccaccio eine Trickster-Figur in den Mittelpunkt, die virtuos (wenn auch unter Inkaufnahme ketzerischer Handlungen) mit Inszenierungen des Todes spielt. Der Abt, dessen Nimbus der Heiligkeit durch seinen teuflischen Plan sogar noch gesteigert wird, hantiert souverän mit kulturell tradierten Todesvorstellungen, mit den gesellschaftlichen Ritualen, die sich an einen Todesfall anschließen, und mit der Diskursmasse, die sich um die undurchdringliche Grenze des Todes bildet. Zu keinem Zeitpunkt droht in dieser Geschichte ein wirklicher Tod; das schmutzige Geschäft des Abts besteht einzig darin, den kulturellen Umgang, die gesellschaftlichen Rituale, kulturellen Vorstellungen und psychischen Semantiken, die sich um das Schwarze Loch des Todes ansammeln, inszenatorisch einzusetzen.

Sub specie aeternitatis: Scheintodnarrative als Grenzfälle der Zeitwahrnehmung

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Ein Trost liegt darin nicht – weder für das implizite Publikum dieser Geschichte, das ja mit der schrecklich wütenden Pest in der unmittelbaren Umgebung konfrontiert ist, noch für die Boccaccio-Leserschaft. Im einschlägigen Novellare liegt aber ein kleiner, wenn auch vorläufiger Sieg der Kultur über den Tod. Der frivole Abt in der Geschichte ist nämlich aller moralischen Fragwürdigkeit zum Trotz Vorbildfigur für ein Publikum, das mit seiner eigenen Endlichkeit konfrontiert ist. Die kleine Gegengesellschaft außerhalb Florenz hatte sich vorgenommen, an diesem dritten Tag ihrer Pestquarantäne von Personen zu erzählen, „die durch Scharfsinn [con industria] etwas Heißersehntes erlangten oder Verlorenes wiedergewannen“ (Boccaccio 1999, 205). Der Abt ist es zweifelsohne, der – seiner zwielichtigen Handlungsweise zum Trotz – eben diese industria an den Tag legt, um an sein Ziel zu gelangen. Ihm gelingt es, die Absurdität des Todes zu überbieten, ja recht eigentlich: mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Sein Gewinn, der in kondensierter Form auch der Novellenleserschaft zugutekommt? – Zeit.

Literatur Ariès, Philippe. Geschichte des Todes. Aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen und Una Pfau. München/Wien: Hanser, 1980. Assmann, Jan. Tod und Jenseits im alten Ägypten. München: Beck, 2003. Boccaccio, Giovanni. Das Dekameron. In der Übertragung von Karl Witte, durchgesehen von Helmut Bode. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler, 1999. Dante Alighieri. La Commedia secondo l’antica vulgata. Hg. Giorgio Petrocchi. Firenze: Le Lettere, 1994. Flasch, Kurt. Poesia dopo la peste. Saggio su Boccaccio. Bari: Editori Laterza, 1995. Freud, Sigmund. „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“. Ders. Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main: Fischer, 1974 (Bd. IX der Studienausgabe in zehn Bänden). Honold, Alexander. Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur. Basel: Schwabe, 2013. Macho, Thomas. Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987. Der Stricker. Verserzählungen. Hg. Hanns Fischer. Tübingen: Niemeyer, 52000.

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Goldenes Zeitalter und andere Zeitvorstellungen: Novalis, Heine, Kleist der Mai, der Mozart des Kalenders (Erich Kästner, Der Mai)¹

1 Novalis: Die Christenheit oder Europa Novalis legt seinem Aufsatz, der über weite Strecken Züge einer Rede aufweist, das seit der griechischen und römischen Antike bekannte und im Mittelalter weiter entwickelte triadische Zeitmodell zugrunde, dessen Grundform einen Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellt und dabei voraussetzt, dass das, was war, wieder werden soll. Die christliche Variante imaginiert die Vergangenheit als Paradies, die Gegenwart als eine Zeit des Unglücks und der Gottferne als Folge des Sündenfalls und die Zukunft als Wiederherstellung des Paradieses, als die „Wiederkehr eines ewigen goldenen Zeitalters“ (Novalis 1960, 225). Wie diese drei Phasen der Geschichte zusammenhängen, erläutert die folgende Passage: Ueberdem haben wir es ja mit Zeiten und Perioden zu thun, und ist diesen eine Oszillation, ein Wechsel entgegengesetzter Bewegungen nicht wesentlich? und ist in diesen eine beschränkte Dauer nicht eigenthümlich, ein Wachsthum und ein Abnehmen nicht ihre Natur? aber auch eine Auferstehung, eine Verjüngung, in neuer, tüchtiger Gestalt, nicht auch von ihnen mit Gewißheit zu erwarten? fortschreitende, immer mehr sich vergrößernde Evolutionen sind der Stoff der Geschichte. (Novalis 1968b, 510)²

Anders als Kant, der in Was ist Aufklärung? von einem linearen Fortschritt der Geschichte ausgeht, betont Novalis die Diskontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er nimmt auch eine begrenzte Dauer der Perioden an, in denen Veränderungen vonstattengehen, und beschreibt sie als natürliche Prozesse, als „Wachsthum“ und „Abnehmen“. Darüber hinaus deutet er auch den Wechsel von der Gegenwart zur Zukunft als einen natürlichen Vorgang, als „Verjüngung“. Was vorausliegt, erscheint in der Zukunft in neuer, verbesserter

 Kästner 1998/2003, 305.  Ich zitiere im Folgenden den Europaaufsatz mit Angabe der Seitenzahl im Text. https://doi.org/10.1515/9783110773750-015

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Verfassung. Und wenn der Beginn einer neuen Zeit sogar mit der Auferstehung Christi verglichen wird, so ist evident, dass eine ganz andere, eine gesegnete Welt zu erwarten ist. Bereits der erste Satz des Aufsatzes zeigt, dass die Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem religiösen Horizont verstanden werden muss. Nicht mehr der Antike, wie die Klassik sie sehen wollte, sondern dem Mittelalter wird die Position einer verklärten Vergangenheit zugewiesen: „Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs.“ (507) Novalis feiert das Rom des Papstes als das neue Jerusalem, den Sitz der „göttlichen Regierung auf Erden“ (509), und er nennt den Jesuitenorden eine „friedenstiftende Gesellschaft“, die dazu berufen war, „das Himmelreich zum einzigen Reiche auf dieser Welt zu machen“ (508). Der Aufsatz bietet keineswegs einen Kommentar zur Realhistorie des Mittelalters (Mähl 1985, 280); vielmehr dient die idealisierte Vergangenheit dazu, ein Gegenbild zum beklagenswerten Zustand von Staat und Gesellschaft in der Gegenwart zu entwerfen, zugunsten einer besseren Welt in der Zukunft „eine Annihilation des Jetzigen“ (Novalis 1968a, 469) vorzunehmen. Er ist Ende Oktober, Anfang November 1799 entstanden, und indem er einmal auf Robespierre verweist (518), bezieht er sich direkt auch auf die Französische Revolution, in deren Folge die Armeen Napoleons große Teile Europas eroberten. Um die Religion ist es in diesen Zeiten schlecht bestellt. Schon die Reformation hat den christlichen Glauben erschüttert. Auch die von der Aufklärung forcierte Säkularisierung hat dazu beigetragen, der Religion einen „vernünftigen, gemeinern Sinn zu geben, indem man alles Wunderbare und Geheimnißvolle sorgfältig von ihr abwusch“. (516) Ein „Religions-Haß“ ist entstanden, der alle Bereiche des „Enthusiasmus“, „Fantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit“ in Mitleidenschaft gezogen hat (515). Doch die Zeichen, die auf den weiteren Niedergang der Religion hindeuten, erweisen sich zugleich als die „günstigsten Zeichen“ für ihre Wiederbelebung, ihre „Auferstehung“. Das kann, so versichert Novalis, „einem historischen Gemüte gar nicht zweifelhaft sein“. „Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion.“ Gerade die napoleonischen Kriege in Europa und die ihr folgenden chaotischen Verhältnisse bieten günstige Voraussetzungen dafür, dass die Religion zu einer „neuen Weltstifterin“ werden kann. Schon seit Langem sei an die Stelle von „Glauben und Liebe“ „Wissen und Haben“ getreten (510). Da jedoch auch auf Wissenschaft und Besitz oder Eigennutz in den „neuen staatsumwälzenden Zeiten“ (217) so wenig Verlass sei wie auf die traditionellen Institutionen, besinne sich der Mensch

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wieder auf die Religion. Wenn Novalis schließlich andeutet, das Chaos der Gegenwart sei zu beziehen auf das Tohuwabohu vor der Schöpfung, und hinzufügt: „Der Geist Gottes schwebt über den Wassern“ (1 Mose 1,2), dann sind das gute Aussichten für eine bessere Zukunft. Die religionsferne, zerrüttete Gegenwart produziert nachgerade eine neue Zeit. Auch wenn manche Formulierung es nahelegt, anzunehmen, dass das goldene Zeitalter unmittelbar bevorstehe – eine chiliastische Naherwartung liegt Novalis fern (vgl. Mähl 1985, 287). Die Utopie kann in einem unabsehbar langen Prozess nur angenähert werden. Novalis weiß die „rhetorische Gewalt des Behauptens“ (Novalis 1968a, 269) exzessiv zu nutzen, sie zielt darauf, die Hörer und Leser zu überzeugen und ihren Glauben zu stärken. Dabei setzt er auch auf die literarische Fantasie, die „Wunderkraft der Fiction“, der zuzutrauen ist, das „Nicht Gegenwärtige“ zu vergegenwärtigen oder zu suggerieren: „Das goldne Zeitalter ist hier.“ (Novalis 1968a, 421)³ Im Blick auf die aktuellen Umwälzungen in Europa fragt Novalis, ob nicht alle Versuche, Staaten zu ‚reformieren’, so aussichtslos seien wie die Arbeit des Sisyphus. Sie müssten misslingen, weil sie nicht auf Religion gegründet sind.Weiter heißt es: „An die Geschichte verweise ich euch, forscht in ihrem belehrenden Zusammenhang, nach ähnlichen Zeitpunkten, und lernt den Zauberstab der Analogie gebrauchen.“ (518) Zum einen beschreibt Novalis hier sein ästhetisches Verfahren, Ähnlichkeiten zwischen Zeiten herzustellen, die der traditionellen Geschichtsdeutung unzugänglich sind. Auch die „Wunderkraft der Fiktion“, die Fiktionalisierung historischer Prozesse, kann Einsichten vermitteln, die Historikern fremd bleiben. Zum Zweiten ist allerdings die hier auch den Zeitgenossen empfohlene Herstellung von Analogien insofern fragwürdig, als sie einer Grundannahme dieser Schrift zuwiderläuft, die besagt, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich fundamental unterscheiden. Denn Analogien tendieren dazu, die Diskontinuität des Geschichtsverlaufs zu überspielen. „Wo gehn wir denn hin?“ – „Immer nach Hause.“ (Novalis 1960, 325) Diese Zuversicht trägt auch Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen. Der Lauf der Zeit ist und bleibt auf ein Ziel gerichtet, er geht in ein und dieselbe Richtung und ist unumkehrbar. Und dieses Ziel liegt in der Zukunft.

 Zur Ästhetisierung des historischen Denkens auch bei Novalis vgl. Seeba (2020, 192– 223). – Dass die Niederländer das 17. Jahrhundert das „Gouden Eeuw“ ihres Landes genannt haben, unterstreicht die Attraktivität dieses Begriffs für die Deutung der eigenen Geschichte. In dieser Zeit waren die Niederlande ein europäisches Zentrum der Wissenschaften und der bildenden Kunst (Frans Hals, Rembrandt, Jan Vermeer u. a.) und eine Weltmacht des Handels, auch des Kolonialismus und des Sklavenhandels.

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Novalis’ teleologische Geschichtserzählung endet mit der enthusiastisch verkündeten Vision eines friedlichen Europas ohne Staatsgrenzen, dem sich auch andere Teile der Welt anschließen können. Seinen Mittelpunkt bildet die eine christliche Kirche, die Freiheit verspricht, auch die Freiheit von weltlichen und kirchlichen Repressionen. Sie verbreitet die Überzeugung, dass die „Regierung Gottes auf Erden“, wenn sie denn kommt, im Diesseits ihren Sitz haben wird (vgl. Mähl 1965, 380). Allerdings kann die Frage, wann die neue Zeit beginnt, nicht gestellt werden, weil sie nicht beantwortet werden kann. Die letzten Sätze des Europaaufsatzes sollen aber den Zeitgenossen Anlass zur Hoffnung geben, und sie berufen sich dabei auf das „neue Jerusalem“, das die Offenbarung des Johannes (Offb 20,2) in Aussicht stellt: „Nur Geduld, sie wird, sie muß kommen, die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt seyn wird.“ (524) Das neue Goldene Zeitalter zeichnet sich auch dadurch aus, dass in ihm der Lauf der Zeit zum Stillstand gekommen ist. Dass die Jenaer Freunde wie auch Schleiermacher und, wie zu erwarten, Goethe der „Christenheit oder Europa“ die Zustimmung verweigert haben, lag angesichts der leicht misszuverstehenden Deutungen der Geschichte auf der Hand. Wie Tieck später mitgeteilt hat, fanden die Frühromantiker „die historische Ansicht zu schwach und ungenügend, die Folgerungen zu willkührlich“ (zit. n. Mähl 1965, 376). Demgegenüber gibt Mähl zu bedenken, dass die Idee des Goldenen Zeitalters „auch in der visionär-prophetischen, d. h. dichterischen Vergegenwärtigung des Zukunftszieles noch Ausdruck eines der Gegenwart zugewandten, kulturrevolutionären Willens sein kann“ (Mähl 1965, 385).

2 Heine: Die romantische Schule Heines Romantische Schule ⁴ bietet eine Literatur- und Kulturgeschichte vor dem Hintergrund der Weltgeschichte, die die Eroberung von Byzanz durch die Osmanen im Jahre 1453 ebenso wie den 18. Brumaire Napoleons in den Blick nimmt. Historische Veränderungen entstehen aus Antagonismen; die Romantiker gehen davon aus, dass Geschichte nicht als eine lineare Abfolge von Epochen gedeutet werden kann, sie erzählen vielmehr davon, dass sich das von ihnen gefeierte  Die erste französische Fassung entstand 1833 im Pariser Exil und enthielt eine kritische Antwort auf das vielgelesene Buch De l’Allemagne der Madame de Staël, das 1810 erschienen war. Die deutsche Übersetzung des Buchs kam bereits 1833 heraus, ebenfalls in Paris. Die überarbeitete Fassung wurde schließlich 1835 unter dem Titel Die romantische Schule in Deutschland veröffentlicht.

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Mittelalter vor allem aus seiner Opposition gegen das antike Rom verstehen lasse. Hier die sinnenfrohe Antike, dort das sittenstrenge christliche Mittelalter. „Das Fleisch war so frech geworden in dieser Römerwelt, daß es wohl der christlichen Disziplin bedurfte um es [zu] züchtigen.“ (363)⁵ Das Mittelalter war dazu berufen, die in Rom grassierende Lust nachträglich zu bestrafen. Historische Verläufe werden hier nach dem Muster von Fehlverhalten und Korrektur gedeutet. Die romantische Schule, so heißt es am Beginn der Schrift, war nichts anders als die Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters, wie sie sich in dessen Liedern, Bild- und Bauwerken, in Kunst und Leben manifestiert hatte. Diese Poesie war aus dem Christentume hervorgegangen, sie war eine Passionsblume, die dem Blute Christi entsprossen. […] Es ist jene sonderbare mißfarbige Blume, in deren Kelch man die Marterwerkzeuge, die bei der Kreuzigung Christi gebraucht worden, nämlich Hammer, Zange, Nägel, usw., abkonterfeit sieht […]. (Heine 1976, 361– 362)

Heine wählt hier eine Metaphorik, die sich nicht damit begnügt, einen vagen Zusammenhang zwischen mittelalterlichem Katholizismus und Dichtung zu behaupten. Diese Dichtung sei vielmehr in einem natürlichen Vorgang wie eine Blume gewachsen, genauer: wie eine Blume, an der die Spuren der Kreuzigung Christi noch sichtbar sind und die zu Recht den Namen „Passionsblume“ trägt. Eindringlicher und polemischer lässt sich der Katholizismus der mittelalterlichen Poesie, der die Romantiker fasziniert, schwerlich beschreiben. Ungeachtet entschiedener Vorbehalte hält Heine den Romantikern immerhin zugute, dass sie die in Vergessenheit geratene Dichtung des Mittelalters wiederentdeckt haben. Wie aber beziehen sich Autoren wie Novalis, Friedrich und A.W. Schlegel, Tieck, Wackenroder, Brentano, Arnim, E.T.A. Hoffmann, Görres und andere auf die Gegenwart und die Vergangenheit? Heine verfährt hier zunächst chronologisch und nennt ihre Geburts- und Todesdaten sowie bei einigen auch die Jahre der Konversion (vgl. 381) zum Katholizismus, er skizziert ihre Karrieren und Vorlieben und kommentiert auch einzelne ihrer Werke, so die Tiecks und Brentanos. Er charakterisiert Goethe als Pantheisten und Repräsentanten jener „Kunstperiode“, die später Weimarer Klassik heißt, vor allem aber als entschiedenen Gegner der Romantiker und des katholischen Mittelalters. 1817 war in Goethes Zeitschrift Über Kunst und Altertum Heinrich Meyers Artikel Neu-deutsche religios-patriotische Kunst erschienen, hinter dem Heine Goethe als Verfasser vermutet hat. Mit diesem Artikel „machte Goethe gleichsam seinen 18ten Brümaire in der deutschen Literatur“ (389). Heine vergleicht den Sturz des Direktoriums durch Napoleon am 9. November 1799 mit der Entmachtung des

 Ich zitiere die Romantische Schule hinfort mit Seitenzahl im Text.

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„Schlegelschen Direktoriums“ durch Goethe. Der Literaturstreit zwischen Weimar und Jena ist so bedeutsam und folgenreich, dass er nur mit dem Staatsstreich Napoleons zu vergleichen ist. Heines ironische Übertreibung sollte vermutlich die Selbstüberschätzung sowohl der Brüder Schlegel wie Goethes ins rechte Licht setzen. Dabei hatte Heine Goethe gerade noch bescheinigt, dass er seine Ausnahmestellung in der deutschen Literatur den Brüdern Schlegel verdanke (vgl. 388). Wie ist zu erklären, dass ein Romantiker wie Friedrich Schlegel sich für das katholische Mittelalter begeistert? Es sind Heine zufolge die beklagenswerten politischen Zustände in Deutschland während der Napoleonischen Kriege, die die „christlich-altdeutsche Richtung“ in besonderer Weise begünstigt haben. Für die Deutung dieses komplexen Vorgangs genügt ihm das provokant schlichte Sprichwort: „Not lehrt beten“ (378). Und für ein in Europa so folgenreiches Ereignis wie die Niederlage der napoleonischen Truppen in Russland wählt Heine eben nicht die Perspektive und Diktion eines Historikers: „Gott, der Schnee und die Kosaken“ (379), so heißt es im Schnellgang, haben Napoleons Feldzug scheitern lassen. Friedrich Schlegel habe den Geschichtsforscher einmal „einen umgekehrten Propheten“ genannt. Dieser Satz falle allerdings auf ihn selbst zurück. „Die Gegenwart war ihm verhaßt, die Zukunft erschreckte ihn, und nur in die Vergangenheit, die er liebte, drangen seine offenbarenden Seherblicke.“ Weiter heißt es: „Der arme Fr. Schlegel, in den Schmerzen unserer Zeit sah er nicht die Schmerzen der Wiedergeburt, sondern die Agonie des Sterbens, und aus Todesangst flüchtete er sich in die zitternden Ruinen der katholischen Kirche.“ (408) Indem Schlegel, so Heine, den Blick in eine Zukunft verweigert, die mit Schrecken aufwartet und sich zurücksehnt in eine tote Vergangenheit, verwirft er das triadische Geschichtsverständnis. Er erkennt nicht, dass die zerrütteten Verhältnisse in der Gegenwart gleichzeitig die Vorboten einer besseren Zukunft sein können. An anderer Stelle wird die Mittelalterverehrung der Brüder Schlegel von Heine überdies noch ironisch desavouiert. Für den Fall, dass sich die Romantiker auf der Höhe der Zeit wähnen, merkt er an: „Die Schule schwamm mit dem Strom der Zeit, nämlich mit dem Strom, der nach seiner Quelle zurückströmte.“ (380) Die Rückkehr der Romantiker in die Vorzeit, die gerade Konjunktur hat, ist nicht nur verwerflich, sie steht auch in eklatantem Widerspruch zur Natur; sie ist falsch, denn der Strom der Zeit kennt nur eine Richtung. Eher überraschend stellt Heine im III. Buch der Romantischen Schule die Frage, ob es nicht an der Zeit sei, „eine literarische Astrologie zu schreiben und die Erscheinung gewisser Ideen, oder gewisser Bücher worin diese sich offenbaren, aus der Konstellation der Gestirne zu erklären“ (466). Fakten und ebenso Bücher entständen nicht zufällig, sie gehörten in einen Zusammenhang „mit den

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Kreisläufen von Sonne, Mond und Sternen“, sie entständen womöglich durch deren Einfluss auf die Erde. Wie lässt sich erklären, dass sich die Romantiker in beklagenswerten Zeiten auf die Religion besinnen? Nach der ersten lakonischen Antwort – „Not lehrt beten“ – versucht Heine, wie es scheint, hier eine zweite. Er vermutet, dass in „gewissen Zeiten […] gewisse Ideen“ so wirkungsmächtig werden, dass sie das Handeln und Denken der Menschen verändern. Heine plädiert hier nicht für die Astrologie, er nimmt vielmehr zu Recht an, dass bestimmte Handlungen, Denkmuster und Schreibweisen jeweils zeitgebunden sind. Eine dritte Antwort – auch sie ist ironisch gewendet – besagt, dass Ideen entwickelt werden, um die in der jeweiligen Zeit aktuellen Wünsche und Bedürfnisse, aber auch Verzichtleistungen zu rechtfertigen. So entstehe, wie Heine glauben macht, in Zeiten des Hungers „das Dogma der Abstinenz“ (466). Wenn aber beispielsweise die für Christen bedeutsame „Fastenzeit“ zu Ende gehe, breche dann womöglich schon das „rosige Weltalter der Freude“ an, und auch noch „leuchtend“? „Wie wird die heitere Doktrin die Zukunft gestalten?“ (467) Es überrascht nicht, dass Heine auf solche Fragen, die Schwärmer stellen könnten, die Antwort verweigert.

3 Kleist: Das Erdbeben in Chili Auch Kleists Erzählung thematisiert bekanntlich das triadische Geschichtsmodell, unterzieht es jedoch im Unterschied zu Novalis und Heine einer spektakulären Umdeutung, denn sie ersetzt die Abfolge von idealer Vorzeit, Sündenfall und besserer Zukunft durch die Abfolge Sündenfall, Paradies und Katastrophe. Schon am Beginn lässt Kleist zwei Ereignisse zur selben Zeit stattfinden. Während Josephe als Novizin in einem Kloster das Keuschheitsgelübde gebrochen hat und zum Richtplatz geführt wird, wo sie enthauptet werden soll, trifft ihr Geliebter Jeronimo im Gefängnis die letzten Vorbereitungen, um sich zu erhängen, als plötzlich der größte Teil der Stadt, mit einem Gekrach’, als ob das Firmament einstürzte, versank, und alles, was Leben atmete, unter seinen Trümmern begrub […]. Der Boden wankte unter seinen Füßen, alle Wände des Gefängnisses rissen, der ganze Bau neigte sich, nach der Straße einzustürzen, und nur der, seinem langsamen Fall begegnende, Fall des gegenüberstehenden Gebäudes verhinderte, durch eine zufällige Wölbung, die gänzliche Zubodenstreckung desselben. (Kleist 1990, 192)⁶

 Ich zitiere im Folgenden nach dieser Ausgabe mit Angabe der Seitenzahl im Text.

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Jeronimo überlebt nur, weil zwei Gebäude im gleichen Augenblick sich aufeinander zubewegen und sich so gegenseitig stützen. Kleist greift hier seine Überlegung am Würzburger Torbogen auf, die er Wilhelmine von Zenge am 16. November 1800 mitgeteilt hat. Der Torbogen bricht nur deshalb nicht zusammen, „weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen“ (Kleist 1997, 159). Als ein zweites Beben einsetzt, gelingt es Jeronimo, aus der zerstörten Stadt zu fliehen. Wie kann man von einem Erdbeben, das in einem einzigen Augenblick über eine ganze Stadt hereinbricht und weite Teile in Schutt und Asche legt, erzählen? Lässt sich der eine Augenblick, in dem alles gleichzeitig geschieht und der undarstellbar ist, gleichwohl im Medium der Sprache wiedergeben, die nur ein Nacheinander von Ereignissen vermitteln kann? Kleist wählt ein ungemein rasantes Erzähltempo, das seinesgleichen sucht und das unhintergehbare Nacheinander der Darstellung beinahe vergessen macht: Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn schreckenvoll in eine andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade gehoben, der Mapochofluß auf ihn heran, und riß ihn brüllend in eine dritte. Hier lag ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem Schutte, hier schrien Leute von brennenden Dächern herab, hier kämpften Menschen und Tiere mit den Wellen, hier war ein mutiger Retter bemüht, zu helfen; hier stand ein Anderer, bleich wie der Tod, und streckte sprachlos zitternde Hände zum Himmel. (192)

Die neun jeweils mit „hier“ beginnenden kurzen Sätze erzeugen eine unerhörte Beschleunigung des Erzählvorgangs, die die atemlose Flucht Jeronimos vor den überall und gleichzeitig entfesselten Naturgewalten erfahrbar macht. Auch im Rückblick derer, die das Erdbeben überlebt haben und von den kaum vorstellbaren Ereignissen an einem sicheren Ort berichten, bleibt in der raschen, jeweils mit „wie“ beginnenden Aufzählung noch gegenwärtig, dass sich alles Schlag auf Schlag zugetragen hat: Man erzählte, wie die Stadt gleich nach der ersten Haupterschütterung von Weibern ganz voll gewesen, die vor den Augen aller Männer niedergekommen seien; wie die Mönche darin, mit dem Kruzifix in der Hand, umhergelaufen wären und geschrien hätten: das Ende der Welt sei da! […] wie der Vizekönig in den schrecklichsten Augenblicken hätte müssen Galgen aufrichten lassen, um der Dieberei Einheit zu tun […]. (205)

Jeronimo und Josephe verdanken ihr Überleben einem Erdbeben, das unzählige Opfer fordert. Josephe hat auch ihr gemeinsames Kind Philipp retten können. Mit ihrer Ankunft in einem Tal nahe der zerstörten Stadt beginnt die zweite Periode. Sie glauben sich im Paradies, an einem Ort des Friedens, der Versöhnung und der Liebe, „als ob es das Tal von Eden gewesen wäre“. Zu diesem Eden gehören ein

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„Granatapfelbaum […] voll duftender Früchte“ und die Nachtigall, die „ihr wollüstiges Lied“ singt. Sie leben jetzt, gut rousseauistisch, im Einklang mit der Natur. An die Stelle des einen Augenblicks, in dem alles Schreckliche auf einmal geschah, ist der vertraute gedehnte Rhythmus von Tag und Nacht getreten. Als es Nacht wird, bereiten sich die Liebenden ein „sanftes Lager von Moos und Laub […] und der Mond erblasste schon wieder vor der Morgenröte, ehe sie einschliefen“. In diesem Eden steht die Zeit nicht still. Der paradiesische Ausnahmezustand findet bald ein grauenvolles Ende. Es war, wie sich zeigt, nicht das Paradies, in dem sich Jeronimo und Josephe wiedergefunden haben. Die „schönste Nacht“, die sie erleben, ist eine, „wie nur ein Dichter davon träumen mag“ (201). Dieses Paradies ist nur ein literarisches Fantasiegebilde, es steht unter dem Vorbehalt des „Als-ob“ (vgl. Schneider 1985). Als bekannt wird, dass in der Dominikanerkirche, die als einzige stehengeblieben ist, der Prälat des Klosters eine Messe lesen wird, um, wie es heißt, Gott zu bitten, die Stadt vor weiteren Katastrophen zu verschonen, strömen die Überlebenden in die Stadt zurück, nur Donna Elisabeth äußert Bedenken. Der Prediger verfolgt jedoch andere Ziele. Religiöser Fanatismus treibt ihn dazu, das Erdbeben zum „Vorboten“ des Weltgerichts zu erklären und die Strafe Gottes für die Sittenlosigkeit der Stadt zu beschwören. Ausdrücklich erwähnt er Jeronimos und Josephes Frevel im Klostergarten, die geahndet werden müsse – eine Aufforderung zur Lynchjustiz. Aus der Menge der Kirchgänger wird ein mordgieriger Mob, dem nacheinander Jeronimo, Donna Constanze, Josephe und Juan, der Sohn Fernandos und Elvires, zum Opfer fallen; zudem werden sieben der „Bluthunde“ von Don Fernando erschlagen. Der Sündenfall der ersten Periode, dem das Erdbeben folgt, wirkt in der dritten Periode nach. Die exzessive Gewalt, die die Vergangenheit beherrscht, kehrt in der Gegenwart wieder. Am Eingang in das wiedergewonnene Paradies steht die „physische Erschütterung“ durch das Erdbeben und an seinem Ausgang die „psychische Entladung“, der Ausbruch des gewalttätigen „religiösen Fanatismus“ (Stierle 1985, 65). Die kurze Zwischenzeit der Idylle hat daran nichts geändert. Am Ende heißt es: „Don Fernando und Donna Elvire nahmen hierauf den kleinen Fremdling zum Pflegesohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen.“ Philipp, der Sohn Jeronimos und Josephes, ist nun Don Fernandos und Donna Elviras Kind. Was Don Fernando in diesem Augenblick empfindet, ist für ihn selber wie auch für die Leser ungewiss.⁷ Er freute sich nicht, es war ihm „fast“

 Zur Rätselhaftigkeit oder vielmehr Vieldeutigkeit des Schlusses vgl. Blamberger 2011, 282– 287.

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so, als ob er sich freuen müsste.Was lässt ihn zögern, sich zu freuen? „[M]üsste“ – was könnte ihn zwingen, sich zu freuen? Karlheinz Stierle hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Kleist den Satz nicht mit „als“, sondern mit „wenn“ beginnen lässt. Das „als“ würde im Kontext dieser Erzählung in eine spätere Zeit drängen, die womöglich nichts Gutes verheißt. Dagegen verweist das „wenn“ auf eine „beruhigte“ (Stierle 1985, 65) Zeit nach den furchtbaren Ereignissen. In Kleists Erzählung endet die Geschichte in einer grauenerregenden Katastrophe, einer Katastrophe allerdings, die einen Ausweg in die Zukunft zumindest ahnen lässt.

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Goldenes Zeitalter und andere Zeitvorstellungen: Novalis, Heine, Kleist

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Inka Mülder-Bach

Modern Times im Dreikaiserjahr: Zeitreflexion und erzählerische Zeitgestaltung in Fontanes Roman Die Poggenpuhls Nachdem Annie, die Tochter von Effi und Geert von Innstetten, im sechsundzwanzigsten Kapitel von Fontanes Roman Effi Briest (1895/1896) auf der Treppe gefallen ist und sich die Stirn aufgeschlagen hat, suchen die Bediensteten Roswitha und Johanna nach der „zusammengerollten Binde“ (Fontane 1974, 229),¹ die sich Effi im Winter zuvor nach einem Sturz auf dem Eis zugeschnitten hatte. Sie brechen zu diesem Zweck mit einem „Stemmeisen“ (E 229) den Deckel eines Nähkästchens auf und lassen alles mögliche Zeug herausfliegen. Die Binde ist nicht darunter, so dass Roswitha erklärt, „lieber eine neue Leinwand schneiden“ (E 229) zu wollen. Dafür aber findet sich in dem herausfliegenden Zeug etwas Verbundenes, nämlich ein „kleines Konvolut von Briefen […], von einem roten Seidenfaden umwickelt“ (E 229). Indem Innstetten diesen „roten Faden“ (E 231) abwickelt und die Briefe von Effi und Crampas entdeckt, nimmt die Geschichte ihren romanhaften Lauf. Wenn das „Stemmeisen“ die Gewaltsamkeit des Zufalls figuriert, der in dieser Szene arrangiert wird, dann scheint im Bild der „neue[n] Leinwand“ die Möglichkeit auf, einen neuen Stoff für den Roman aufzuspannen, ein neues Material für ein neues Schnittmuster. In Effi Briest wird diese Option nur angedeutet, um in dieser Andeutung die Katastrophe als Effekt von Gattungskonventionen kenntlich zu machen, die eine Geschichte mit Verwicklungen und Lösungen fordern. Doch bereits in der Entstehungszeit von Effi Briest hat Fontane in seinem Roman Die Poggenpuhls (1895/96) in einem kleinen Format und gleichsam im genus humile mit einer anderen Romanform experimentiert, die dann in größerem Maßstab und auf einem höheren Niveau textueller Komplexität im Stechlin (1897/98) verwirklicht wurde. Sie ist durch den Verzicht auf spektakuläre Ereignisse, die Konzentration auf Alltägliches, die Verabschiedung von plot-Strukturen und eine fast vollständige Verlagerung der Handlung in das Gespräch gekennzeichnet. „Inhalt nicht vorhanden“, so Fontanes (1982, 607) eigene ironische Werbung für Die

 Zitate aus Effi Briest werden künftig nach dieser Ausgabe mit der Sigle E und Seitenzahl belegt. https://doi.org/10.1515/9783110773750-016

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Poggenpuhls, einem „Nichts“², in dem das „‚Wie‘“ für das nichtvorhandene „‚Was‘“ einstehen müsse (Fontane 1982, 635). Mit der Depotenzierung dessen, was traditionell unter einem Roman verstanden wurde, begibt Fontane sich des wichtigsten traditionellen Mittels zur narrativen Gestaltung einer temporalen Folge. Denn es ist seit Aristoteles bekanntlich die Einschreibung einer Kausalität in die Zeitreihe, die aus dem temporalen Aufeinanderfolgen ein intelligibles Auseinanderfolgen mit sinnfälligem Anfang, Mitte und Ende macht und auf diese Weise den „dynamischen Duktus des sukzessiven Laufs mit dem bildhaften Konzept einer figuralen Gestalt“ (Honold 2013, 12) verbindet. Mit ihrem „Mangel an einer in sich geschlossenen Komposition und folgerichtigen Entwicklung“³ entsprachen Fontanes späte Romane den zeitgenössischen Anforderungen an eine solche Gestaltung so wenig, dass es die Zeitschrift Vom Fels zum Meer, in dem der Vorabdruck der Poggenpuhls 1895/96 erschien, für geboten hielt, das Wort „Ende“ auf der letzten Seite hinzuzufügen, ein Wort, das der Autor in den Fahnen selbstverständlich strich, das ihn aber „doch sehr [amüsierte], weil sich darin eine ganz richtige Kritik ausspricht. Kein Mensch kann annehmen, daß das ein Schluß ist und so war es nöthig, dem BlattLeser zu versichern: ‚ja, Freund, nun ist es aus; wohl oder übel.[‘]“ (Fontane 1982, 565). Während die erzählte Zeit der späten Romane Fontanes auch in ihren Anachronismen historisch exakt datiert worden ist und ihre epochale Signatur die Forschung immer wieder beschäftigt hat, hat die Frage, wie sich im Rahmen der neuen Romanform der erzählerische Umgang mit Zeit ändert, vergleichsweise wenig Interesse gefunden. Diese Frage bildet den Ausgangspunkt der folgenden Lektüren, die die Zeitgestaltung und Zeitreflexion in den Poggenpuhls vor der Kontrastfolie von Effi Briest beleuchten wollen.

1 Die Geschichte von Effi Briest wird durch ein Vergangenes, das nicht vergeht, ins Rollen gebracht, am Laufen gehalten und zu Ende geführt. An allen Schauplätzen des Geschehens und allen Einschnitten der Handlung kehrt ein Abgespaltenes oder Verdrängtes wieder, das nicht abgegolten wurde, sondern im kulturellen Imaginären und individuellen Vorbewussten insistiert, um nach Latenzzeiten und

 Fontane, Brief an Georg Friedlaender vom 5. Januar 1897, zit. nach Fontane 2006, Anhang, 160.  Siegmund Schott: Theodor Fontane’s letzter Roman, Allgemeine Zeitung, Beilage, 11. November 1898, zit. nach Fontane 2006, Anhang, 166.

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Aufschüben an die Oberfläche zu treten.⁴ Was diesen Vergangenheiten gemeinsam ist, ist ihr romantisch-romanhafter Charakter. Sie suchen daher nicht nur die Figuren, sondern ebenso die Prosa des realistischen Romans in Form von Motiven und Genres heim, die zu seiner poetischen Vergangenheit gehören: Liebes- und Duellgeschichten, Märchen, Spuk- und Schauergeschichten. Mit der „Geschichte“ (E 12) der Jugendliebe zwischen Geert von Innstetten und ihrer Mutter Luise, die Effi ihren Freundinnen erzählt, setzt sich der Roman im ersten Kapitel eine Vorgeschichte voraus, deren ungelöster Rest in der Figur Innstettens wiederkehrt und zum Movens der Handlung wird. Um eine Vergangenheit, die nicht vergeht, handelt es sich ebenso bei der „Geschichte von dem Chinesen“ (E 48), einer Geschichte voller Lücken, die mit dem Spuk identifiziert wird, der das landrätliche Haus in Kessin heimsucht. Durch die Affäre mit Crampas legt sich Effi das zu, was man eine Vergangenheit nennt, und auch von dieser bleibt ein Rest, der in Form der Briefe aus dem Nähkästchen wiederkehrt. Im Bann der Vergangenheit steht schließlich das Duell, bei dem Innstetten unter Berufung auf ein gespenstisches „Gesellschafts-Etwas“ (E 236) Dienst an einem „Götzen“ betreibt und sich einem atavistischen „Ehrenkultus“ (E 237) unterwirft. Die erzählte Zeit, in der auf diese Weise fortlaufend Vorgeschichten wiederkehren, aus denen die Geschichte entsteht, umfasst eine Spanne von zwölf Jahren, die sich historisch auf den Zeitraum 1877/78 bis 1889/90 datieren lässt (vgl. Aust 1998, 159 – 160). In der Ausgestaltung dieser Spanne überwölben temporale Zyklen mit wiederkehrenden Zeiten und Tagen, die Teil eines übergreifenden Verweisungszusammenhangs sind, den linearen Ablauf der chronologischen Zeit, den der Erzähler wie stets bei Fontane sorgfältig und manchmal geradezu pedantisch registriert. Diese chronologischen Angaben haben unterschiedliche Funktionen. Sie gehören zum realistischen setting und spiegeln die durchgehende Taktung des Alltags im Zeichen von Zugfahrplänen, Schiffsverkehr, Post, Telegrafie, Dienst-, Urlaubs- und Schulzeiten. Zugleich markieren sie die Anfälligkeit der Synchronisierung dieser getakteten Abläufe für Störungen und Verspätungen. Der Umgang mit „Zeit und Stunde“ (E 42) gibt Auskunft über charakterliche Dispositionen von Figuren ebenso wie über momentane Erschütterungen dieser Dispositionen. In Form von Uhrenschlagen und Glockenläuten wird die chronometrische Zeit auch zum akustischen Zeichen, das den Figuren anzeigt, was die

 Die folgenden Bemerkungen zu Effi Briest gehen auf meinen Aufsatz Mülder-Bach 2009 zurück. Grundlegend zum Thema des Spuks im Roman und seinem Verhältnis zur realistischen Poetik ist Begemann 2018; vgl. auch Strowick 2019. Die neue Studie von Zumbusch (2021, hier bes. 215 – 288) arbeitet die zentrale Bedeutung von Vorgeschichten für Fontanes Romanpoetik am Beispiel von Cécile, Effi Briest und Stechlin heraus; zu „Verschleppte[n] Geschichten“ bei Fontane siehe auch Graevenitz 2014, 613 – 618.

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Stunde geschlagen hat (vgl. Grawe 1991). Der „Ticktackschlag einer kleinen Pendule“ (E 52), den Effi in der Stille des ersten Kessiner Tages hört, signalisiert dagegen Gleichförmigkeit. In dieser Monotonie wird die gelebte Gegenwart zu einer Zeit, die nicht vergeht, sondern sich in ihrem eigenen leeren Verstreichen so dehnt, dass man sie sich mit Liebschaften (oder Arbeit) vertreiben muss, um nicht „vor Langeweile“ (E 101) in ihr zu vergehen. Während der Erzähler für die ersten zwei Jahre der erzählten Zeit vierundzwanzig Kapitel braucht, kommt es im fünfundzwanzigsten Kapitel, nach der Übersiedlung nach Berlin, zu einer beispiellosen Beschleunigung. Zunächst werden in wenigen Sätzen knapp zwei Jahre zusammengefasst, in denen die Schatten der Vergangenheit „allmählich“ (E 222) von Effi abfallen, anschließend kommt der Erzähler auf das Thema des ausbleibenden männlichen Nachkommens im Hause Innstetten zu sprechen und überspringt dabei insgesamt fast sieben Jahre: „Effi nahm die Erbfolgefrage leicht […]; als aber eine lange, lange Zeit – sie waren schon im siebenten Jahr ihrer neuen Stellung – vergangen war, wurde Rummschüttel […] zu Rate gezogen.“ (E 223) Der Nebensatz mit der Parenthese stellt syntaktisch dar, was der Erzähler an dieser Stelle tut. Er schiebt wie beiläufig in die erzählte Zeit eine Zeitspanne gelebten Lebens ein, die er nur benennt, um sie zu überspringen und auf diese Weise zu zeigen, dass er nichts von ihr zu erzählen wüsste. Denn in dieser langen Spanne ist die Zeit vergangen, ohne dass sich etwas ereignet hätte, was zu der „ganze[n] Geschichte“ (E 235) beitrüge. Der Erzähler selbst wird im weiteren Verlauf nicht mehr auf die übersprungene Zeit zurückkommen. Das überlässt er Innstetten, der sie durchlebt hat. Als dieser sich nach der Entdeckung der Briefe im Gespräch mit Wüllersdorf fragt, warum er weder Hass noch Rachegefühle empfindet, bemerkt er: „Ich hätte nicht gedacht, dass die Zeit, rein als Zeit so wirken könne.“ (E 235) Im vorletzten Kapitel des Romans kommt Innstetten in einem Selbstgespräch noch einmal auf das Thema zurück. Dort erinnert er sich an das „Glück“, das er „gehabt“ und verloren hat, als „behagliche[s] Abwickeln des ganz Alltäglichen“ (E 285). „Wenn einem die 720 Minuten eines zwölfstündigen Tages ohne besonderen Ärger vergehen, so lässt sich von einem glücklichen Tag sprechen.“ (E 285) In seiner Studie über Menzels Realismus hat Michael Fried (2008, 165 – 192) diese Bemerkungen im Licht der Ausführungen über den Zeitlichkeitsmodus der Ehe in Sören Kierkegaards Entweder – Oder (1843) gelesen. Im Unterschied zur romantischen Passion ist die eheliche Liebe für Kierkegaards Verfasser B durch eine „lange Dauer“ (Kierkegaard 2005a, 681) gekennzeichnet, eine „Extension“ (Kierkegaard 2005a, 684) alltäglicher Zeit, die sich nicht in einem intensiven Moment verdichtet, sondern in dem „jeder kleine Moment von äußerster Wichtigkeit [ist]“ (Kierkegaard 2005a, 679 – 680). In Innstettens Bemerkungen zur „Zeit, rein als Zeit“ geht es allerdings um die Wirkung der zeitlichen Extension auf das „Verzeihen“ (E 235) eines ver-

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gangenen Vergehens, das der Roman nur um den Preis einer Auflösung seines Webmusters restlos ‚verjähren‘ (vgl. E 243) lassen kann. Und die Pointe der Erinnerung an das Glück, das im „Abwickeln des Alltäglichen“ liegt, besteht darin, dass es sich um eine Erinnerung handelt. Denn wo „die 720 Minuten eines zwölfstündigen Tages“ im gelebten Leben spürbar werden, büßt der Alltag seine Behaglichkeit ein. Seine Gleichförmigkeit wird zu einem dysphorischen Modus, in dem die Momente nicht vergehen, sondern sich zu jener bleiernen Zeit dehnen, die Effis Leben in Kessin ebenso beschwert wie die „immer freudloser hinfließenden Tage“ (E 285) Innstettens am Ende des Romans.

2 Wie lässt sich Zeit erzählerisch gestalten, ohne ihr eine Handlung einzuschreiben? Was wird aus Vorgeschichten, wenn es keine Geschichte gibt, die von ihnen zehrt? Warum überhaupt muss ein „Zeitroman“ nach Fontane (1982, 650) auf „Verwicklungen“ und „Lösungen“ verzichten? Welche Folgen hat dieser Verzicht für die Darstellung der Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Wie lässt sich ein „Abwickeln des Alltäglichen“ so erzählen, dass es weder von den erzählten Figuren noch von den Leserinnen und Lesern als dysphorisch erlebt wird? Diese Fragen drängen sich auf, wenn man sich der Zeitreflexion und der erzählerischen Gestaltung der Zeit in den Poggenpuhls von Effi Briest her annähert. Erste Antworten sind dem Romananfang zu entnehmen: Die Poggenpuhls – eine Frau Majorin von Poggenpuhl mit ihren drei Töchtern Therese, Sophie und Manon – wohnten seit ihrer vor sieben Jahren erfolgten Uebersiedelung von Pommersch-Stargard nach Berlin in einem gerade um jene Zeit fertig gewordenen, also noch ziemlich mauerfeuchten Neubau der Großgörschenstraße, einem Eckhause, das einem braven und behäbigen Manne, dem ehemaligen Maurerpolier, jetzigen Rentier August Nottebohm gehörte. Diese Großgörschenstraßen-Wohnung war seitens der Poggenpuhlschen Familie nicht zum wenigstens um des kriegsgeschichtlichen Namens der Straße, zugleich aber auch um der sogenannten „wundervollen Aussicht“ willen gewählt worden, die von den Vorderfenstern aus auf die Grabdenkmäler und Erbbegräbnisse des Matthäikirchofs, von den Hinterfenstern aus auf einige zur Kulmstraße gehörige Rückfronten ging, an deren einer man, in abwechselnd roten und blauen Riesenbuchstaben, die Worte „Schulzes Bonbonfabrik“ lesen konnte. Möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß nicht jedem mit dieser eigentümlichen Doppelaussicht gedient gewesen wäre; der Frau von Poggenpuhl aber, einer geborenen Pütter – aus einer angesehenen, aber armen Predigerfamilie stammend – paßte jede der beiden Aussichten gleich gut, die Frontaussicht, weil die etwas sentimental angelegte Dame gern vom Sterben sprach, die Rückfrontaussicht auf die Kulmstraße aber, weil sie beständig an Husten litt und aller Sparsamkeit ungeachtet zu gutem Teile von Gerstenbonbons und Brustkaramellen lebte. Jedesmal, wenn Besuch kam, wurde denn auch von den großen Vorzügen dieser Wohnung gesprochen, deren einziger wirklicher Vorzug in ihrer

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großen Billigkeit und in der vor mehreren Jahren schon durch Rentier Nottebohm gemachten Zusicherung bestand, daß Frau Majorin nie gesteigert werden würde. (Fontane 2006, 5 – 6)⁵

Der Roman beginnt mit dem Rückgriff in eine Vorvergangenheit, der in denkbarer Kürze über die Voraussetzung der gegenwärtigen „Lage“ (P 8) der Poggenpuhls informiert. Obwohl es sich, wie es im weiteren Verlauf des Kapitels heißt, um den vorläufig letzten Wechsel im „Glück und Unglück des Hauses“ (P 8) handelt, wird über die Übersiedlung der Familie von Pommern nach Berlin nicht mehr gesagt, als dass sie stattfand. Was immer ihre Ursachen waren und was immer ihr vorausging, gehört einer Vergangenheit an, die der Erzähler auf sich beruhen lässt. Die Funktion des anfänglichen Rückgangs besteht nicht im Nachtrag einer verschleppten oder verdeckten Geschichte, sondern darin, das Leitthema des Verhältnisses von Vergangenheit und Gegenwart zu intonieren. Dieses Verhältnis wird im ersten Satz qualitativ als Differenz zwischen neu und alt sowie temporal als Differenz zwischen einer „ehemaligen“ und einer „jetzigen“ Zeit modelliert, wobei die jeweilige Brücke zwischen den Polen in zwei gegenläufigen Bewegungen von sozialem Abstieg und sozialem Aufstieg besteht. Die Differenzen sind allerdings relativ und die Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart kehrt auf beiden Seiten der Unterscheidung wieder. Damit wird die Unterscheidung als ein Verhältnis lesbar, in dem sich eine Gegenwart, in der sich Vergangenheiten schichten, mit einer Vergangenheit verschränkt, die in verschiedenen Graden gegenwärtig ist.⁶ Diese Verschränkung der Zeiten verdichtet sich im Chronotopos des „Eckhauses“. Das Wort dürfte auf Émile Zolas „coin de la nature“ anspielen. Die Ansicht des Hauses ergibt sich bei Fontane allerdings aus den Aussichten, die es bietet, und diese erfordern einen Standpunktwechsel. Nicht nur gibt es ein Vorder- und ein

 Zitate aus den Poggenpuhls werden künftig nach dieser Ausgabe mit der Sigle P und Seitenzahl belegt.  Wie Graevenitz unter Bezug auf die von ihm als „Trilogie“ (2014, 515 – 521) bezeichneten Gesellschaftsromane Frau Jenny Treibel, Die Poggenpuhls und Mathilde Möhring gezeigt hat, sind diese sozialen Romane darin moderne „‚Zeitromane‘, daß sie am Ursprung des sozialen Imaginären die Vielfalt moderner Zeiten darstellen“ (520), die gleichzeitig bestehen. Diese „Gleichzeitigkeiten mehrfach unterschiedener Zeitkulturen“ (546) sind nicht zu trennen von der „sozialen Tatsache des Unterscheidens“ (520), die Standes- und Klassendifferenzen ebenso betrifft wie Unterschiede der Zeiten. Schon Tanzer (1997) hat Die Poggenpuhls und Mathilde Möhring als „Berliner Doppelroman“ verhandelt. Ein nicht unwichtiger Unterschied zwischen den Texten zeigt sich schon im Titel. Protagonist des Romans Die Poggenpuhls ist eine arme adlige Familie und damit eine soziale Formation, die „unterhalb der Standeskategorie und überhalb [sic!] des nur Individuellen“ (Aust 1980, 225) liegt und deren Identität sich wesentlich aus dem speist, was Fontane als „Sippe“ oder „Clan“ bezeichnete (Fontane 1982, 629).

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Hinterfenster, durch die man ganz Verschiedenes sieht. Was in räumlicher Hinsicht eine Aussicht nach vorn eröffnet, bietet in zeitlicher eine Aussicht auf Gräber, während umgekehrt das Hinterfenster auf eine Rückfront mit der Buntreklame einer Bonbonfabrik blickt. Damit nicht genug, gehört diese moderne Rückfront zu der Kulmstraße, deren Name ebenso auf die preußische Militärgeschichte zurückgeht wie der „kriegsgeschichtliche[] Name“ der Großgörschenstraße, an der der „Neubau“ der Nottebohms errichtet wurde. Das gibt dem Erzähler die Gelegenheit, die „eigentümliche Doppelaussicht“ ins Militärische zu überspielen und das Eckhaus in der ironischen Rede von einer „Frontaussicht“ und einer „Rückfrontaussicht“ gewissermaßen in einen Zweifrontenkrieg zu verwickeln. Der öffentliche Raum der Stadt, der in den Namen der Straßen und Bauwerke evoziert wird, ist in doppelter Hinsicht ein geschichteter. Einerseits weist seine jüngere Vergangenheit in architektonischer Hinsicht verschiedene Schichten auf, die durch den Neubau und den 1856 eingeweihten Matthäikirchhof mit seinen pompösen Grabstätten aus der Gründerzeit markiert werden. Andererseits ist er ein Raum des Totengedenkens und ein Gedächtnisraum der preußischen Geschichte, in dem Großgörschen- und Kulmstraße an zwei Schlachten der Befreiungskriege erinnern. Diese erzählerische Arbeit an der Schichtung der Zeit wird im weiteren Fortgang des Kapitels fortgesetzt. Verdrängte, verschleppte oder latente Vergangenheiten, die den Stoff für gespenstische Vorgeschichten bilden könnten, treten dabei nicht zutage.Wohl aber kristallisieren sich unterschiedliche Chronosphären und unterschiedliche Gedächtnis- bzw. Erinnerungskulturen mit jeweils spezifischen Narrationen heraus. Das Gedächtnis der Poggenpuhls ist ein genealogisches. Ihre soziale Identität wird durch das Bewusstsein konstituiert, einem traditionsreichen Adelsgeschlecht anzugehören und Nachkommen männlicher Vorfahren zu sein, die im Siebenjährigen Krieg, in den Befreiungskriegen und im Deutsch-Französischen Krieg auf dem Schlachtfeld ihr Leben fürs Vaterland ließen. Bilder dieser Vorfahren hat die Familie in Gestalt von Ölgemälden und Fotografien täglich vor Augen, in ihre Fußstapfen sollen die zwei Söhne treten, die eine militärische Laufbahn einschlagen, ihr Erbe wird den drei Töchtern bei der Konfirmation der Jüngsten in Form von Broschen übergeben, die aus den vom gefallenen Vater hinterlassenen „Krönungsthaler[n]“ (P 6)angefertigt wurden. Nachdem die Familie von Pommern nach Berlin übersiedelt und in das Haus eines ehemaligen Maurerpoliers eingezogen ist, hat sich ihre Geschichte in der jüngeren Vergangenheit aber mit der einer kleinbürgerlichen Familie verschränkt, die in anderen Zeitsphären lebt und andere Formen der Erinnerung kultiviert. Das veranschaulicht die Rede, die Nottebohm „vor mehreren Jahren schon“ hielt und die der Erzähler unmittelbar im Anschluss an die zitierte Beschreibung des Eckhauses anführt. Darin erinnert Nottebohm sich an den zum Zeitpunkt seiner Rede

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wiederum schon länger zurückliegenden Einzug der Poggenpuhls „zu Michaeli“, als „das Manonchen […] noch ein Quack [war]“, an die „erste Miete“ zu „Neujahr“ und an die seitdem stets pünktlichen Mietzahlungen alle „Vierteljahr“, und bringt die Zusicherung, die Miete nie zu erhöhen, abschließend in Zusammenhang mit der „verfluchte[n] Geschichte“ bei Gravelotte, einer Schlacht im Deutsch-Französischen Krieg, bei der er „ja doch auch mit dabei [war]“, von der er eine Kugel im Körper „als Andenken“ davontrug und in welcher, wie der Erzähler im nächsten Absatz erläutert, „Major von Poggenpuhl […] ehrenvoll gefallen war“ (P 6). Nottebohms Lebensgeschichte ist also ebenfalls mit dem Krieg von 1870/71 verbunden und hat sich schon in diesem Krieg mit dem Schicksal der Poggenpuhls gekreuzt. Doch nicht nur stellt sich ihm das, was den Poggenpuhls zu Ruhm und Ehre gereicht, als eine „verfluchte Geschichte“ dar. Anders als das genealogische Gedächtnis der Poggenpuhls, deren Namen er im Übrigen im „Quack“ Manonchen zur Kenntlichkeit entstellt, sind seine Erinnerungen persönliche. Ihre Reichweite ist begrenzt; sie stützen sich nicht auf väterliche Erbstücke und Porträts längst verstorbener Ahnen, sondern auf leibliche „Andenken“; sie schichten sich nicht nach Maßgabe von Epochen der preußischen Geschichte, sondern richten sich an den wiederkehrenden Feiertagen des christlichen und astronomischen Kalenders aus, auf die die Einzugstermine sowie Fristen und Fälligkeitsdaten von Mietzahlungen im Deutschen Reich abgestimmt sind; und ihr Raum ist der Alltag einer bürgerlichen Ökonomie, in deren Zeichen Familiengeschichten, Mietgeschichten und Kriegsgeschichten nahtlos ineinander übergehen. Mit dem seinerzeit gegebenen Versprechen Nottebohms, „daß die Frau Majorin nie gesteigert werden würde“, wird erstmals im Text auch grammatikalisch ein Bezug zur Zukunft hergestellt. Sie bleibt an dieser Stelle nicht offen, sondern wird durch den Akt und Inhalt des Versprechens von der Vergangenheit her definiert. In der zweiten Hälfte des Kapitels gewinnt die Frage der Zukunftsreferenz zunehmend an Bedeutung. Nach der Zustandsbeschreibung der ersten Absätze werden Zukunftshorizonte ausgelegt und Entwicklungslinien angedeutet. Die Zukunftsentwürfe der Poggenpuhls orientieren sich an der genealogischen Vergangenheit des Hauses. In ihrem Zentrum steht die Karriere der „‚zwei Jungens‘“ (P 11)⁷ Wendelin und Leo, die selbstverständlich in dasselbe Regiment eingetreten sind, in dem schon der Vater „seine Laufbahn“ (P 11) begann. Während das „Erreichen höchster Ziele“ (P 12) im Ministerium oder Generalstab bei dem älteren Wendelin für die nähere  Um die Zitate nicht mit Anführungsstrichen zu überfrachten, werden Figurenrede (die bei Fontane natürlich selbst schon in Anführungszeichen steht) und Erzählerrede in der Regel gleichermaßen in doppelte Anführungszeichen gesetzt. Ausnahmen sind eingerückte Zitate, wo die Figurenrede in doppelte Anführungsstriche gesetzt wird, sowie Ausdrücke, die – wie die „‚zwei Jungens‘“ – in der Erzählerrede selbst als Zitate der Figurenrede angeführt werden.

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Zukunft erwartet wird, ist der jüngere Leo „der Liebling“ und „das Angstkind“ (P 12), denn sein Charme ist der eines Draufgängers und einer Spielernatur. Alles „Dichten und Trachten“ ist daher darauf gerichtet, ihn so lange „vor einer Katastrophe zu bewahren“, bis er „das Zorndorf der Zukunft […] durch entscheidendes Eingreifen“ gewinnt (P 12). Die Söhne und Brüder sind also Träger aller Ängste und Hoffnungen, das „Dichten und Trachten“ der Zukunft aber obliegt den Schwestern. Therese, die Älteste, sieht ihre „Aufgabe“ darin, die „Poggenpuhlsche Fahne hochzuhalten“ (P 9) und verkehrt „in den General- und Ministerfamilien der Behren- und Wilhelmstraße“ (P 9); Sophie, die Mittlere, ist die „Hauptstütze“ der Familie, denn sie hat „Talente“ und kann in die „Anfänge von Kunst und Wissenschaft“ einweisen (P 10); und Manon, die Jüngste, pflegt den Verkehr mit jüdischen Bankiershäusern. Die Rollen im Hause Poggenpuhl sind also zwischen den Geschlechtern ebenso wie zwischen den drei Schwestern klar verteilt. Was diese eint, ist das Bestreben, den „Ruhm der Familie womöglich noch zu steigern“ (P 12). „Steigern“, „höchste Ziele“, „Katastrophe“: Im Horizont der Figuren beziehen sich diese Ausdrücke auf die Furcht vor weiteren Abstiegen und die Hoffnung auf einen neuerlichen Aufstieg. Im Roman fungieren sie zugleich als poetische Signalwörter. Sie schüren Erwartungen, die sich auf Teleologie, Wendepunkt und Fallhöhen und damit auf zukünftige Entwicklungen richten, welche sich an überlieferten plot-Modellen und Handlungsstrukturen orientieren. Diese Modelle und Strukturen werden im weiteren Verlauf des Romans konsequent unterlaufen. Das Zeitbild des ersten Kapitels präsentiert einen Ausschnitt aus einer „modernen Welt“ (P 10), die sich in einem Übergang befindet. Es beschreibt einen gewandelten Zustand und einen „Zustand des Wandels“ (Müller-Seidel 1994, 423). Dieser ist das Resultat einer langen historischen Entwicklung, die sich in dem vorausgesetzten sozialen Abstieg des Adels und dem Aufstieg des Kleinbürgers manifestiert, er befindet sich aber auch selbst in einer Entwicklung, deren Ausgang offen ist. Aus diesem Zeitbild reizt der Roman einen Ablauf heraus, der die Lage in Bewegung bringt. Am Ende wird diese weder gestiegen noch – nach dem Schema der Dekadenzerzählung – gefallen sein, sondern sich ein wenig geändert haben und unverändert offen sein. In seiner eigenen Form stellt der Roman auf Zukunftsreferenz um.

3 „Es war ein Wintertag, der dritte Januar. / Eben kam Friederike von ihrem regelmäßigen Morgeneinkauf zurück […].“ (P 13) Nach dem Zeitbild des Anfangskapitels setzt das chronologische Erzählen im zweiten Kapitel mit einer jahreszeitlichen und kalendarischen Angabe sowie einem Temporaladverb ein, das eine Zeit voraussetzt, die schon begonnen hat. Geschildert wird eine alltägliche Szene, wie man sie aus der

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Genremalerei kennt. Doch während das Genrebild den Alltag in einem Moment verdichtet, geht es Fontane um temporale Abläufe und das sukzessive „Abwickeln des Alltäglichen“. Die von Kierkegaard betonte Ausdehnung alltäglicher Zeit wird dabei nicht in Form einer absolut langen Dauer, sondern durch wechselnde Relationen zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit vermittelt. Der Roman erzählt in vierzehn Kapiteln (das erste nicht mitgerechnet) von einer Zeitspanne von neun Monaten, die an einem dritten Januar beginnt und an einem dreizehnten September endet. Allein für die ersten drei Tage dieser Spanne, in deren Mitte der Geburtstag der Mutter fällt, werden acht Kapitel gebraucht. In den beiden folgenden Briefkapiteln umfasst die erzählte Zeit einen knappen Monat, der Zeitraum Februar bis zweiten September wird in einem Kapitel abgehandelt, die letzten drei Kapitel widmen sich wieder wenigen Tagen. Die erzählte Zeit lässt sich auf das Jahr 1888 datieren,⁸ das sogenannte Dreikaiserjahr. In der Figurenrede werden „Kaisers Geburtstag“ (19), „der alte Kaiser“ (41), „[u]nser Kronprinz“ (21) bzw. „der Kronprinz“ (87) genannt. Die Referenzen sind zwar nicht eindeutig, es gibt überdies Anachronismen, und die zeitgenössisch als Zäsur erfahrenen Ereignisse des Jahres mit dem Tod Wilhelm I., der Thronbesteigung und dem Tod Friedrich III. sowie der Inthronisierung Wilhelm II. werden nicht erwähnt. Doch findet Fontane, wie zu zeigen sein wird, Mittel und Wege, um das nicht genannte annus zu figurieren. Mit dem Auftritt Friederikes wird die temporale Extension der ersten Tage als eine Zeit der Routinen sichtbar. Sie reichen vom Brötchenholen, Einheizen, Staubabwischen und Kaffeekochen bis zu der „jeden dritten Tag wiederkehrenden Meinungsverschiedenheit“ (P 16) mit Therese über den Gegenstand des Ölbilds, das „den historisch bedeutendsten Moment aus dem Leben der Familie darstellte“ (P 14). Es zeigt Major Balthasar von Poggenpuhl, der in aussichtsloser Lage den Kirchhof beim „Ueberfall von Hochkirch“ im Jahr 1758 verteidigte, „bis er mit unter den Toten lag“ (P 14). Mit diesem sogenannten „Hochkircher“ steht Friederike deshalb auf „Kriegsfuß“ (P 15), weil der Nagel, an dem sein Bild hängt, nicht in der Wand halten will, sodass das Bild beim Staubwischen regelmäßig herabgleitet. Das trägt ihr regelmäßig eine Ermahnung der Majorin ein, die sie mit den Worten zurückzuweisen pflegt: „aber wenn er denn so mit einmal rutscht, krieg’ ich immer wieder ’nen Schreck. Un is mir immer, als ob er vielleicht seine Ruhe nich hätte.“ (P 16) Womit Fallhöhe und Abstieg ebenso ins Komödiantische übersetzt wären wie der Spuk, den Therese ihrerseits regelmäßig unter Hinweis auf das „Ruhekissen“ eines guten Gewissens, auf dem dieser Ahne gewiss gebettet sei, als „dummes Zeug“ ärgerlich zurückweist (P 16).

 Vgl. die Erläuterungen der Herausgeberin, P 137– 140.

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Zu den alltäglich wiederkehrenden Begebenheiten gehört auch die Ankunft des Postboten. An diesem dritten Januar bringt er einen Brief von Leo, der als Ereignis gewertet wird und die Routinen unterbricht. Während Therese mit ihrer Replik auf Friederike unfreiwillig bestätigt, dass man den „Hochkircher“ in der Tat auf sich beruhen lassen kann, steht Leo trotz seiner jungen Jahre schon für Vergangenheiten, die nicht vergehen, sondern die Gegenwart in Form von Schulden heimsuchen.Wenn Leo sich meldet, ist es daher an der Majorin, „immer einen Schreck“ (P 17) zu kriegen. Aus dem Brief, den Therese mit zahlreichen Unterbrechungen im Kreis der Familie vorliest, weil er immer wieder zum Gegenstand von Kommentaren wird, erfährt der Leser erstmals von dem bevorstehenden Geburtstag der Mutter, zu dem Leo aus seiner Regimentsstadt Thorn anreisen wird. Diese Mitteilung ist mit einer Kaskade von Zeitangaben verbunden. Zunächst kündigt Leo an, dass er zum Geburtstag am „4. Januar“, was für ihn „übermorgen“ ist, persönlich antreten werde. Dann schildert er, wie seine Reise am „1. Januar“ beschlossen wurde, als Bruder Wendelin ihn morgens „um zehn“ aufsuchte, ihm „drei Zwanzigmarkscheine“ von einem „heute früh“ eingetroffenen Honorar überreichte und ihm die Order gab: „Uebermorgen früh reist du nach Berlin. […] Vier Uhr nachmittags bist du da […] und hilfst am andern Morgen den Geburtstag mitfeiern.“ Was Leo in seinem Brief abschließend bestätigt: „ich werde […] Dienstag nachmittag bei euch eintreffen.Vier Uhr.“ (P 19) Eine Funktion dieser außerordentlich umständlichen Ankündigungen liegt darin, dass sie aperspektivische bzw. objektive Zeitangaben – kalendarische Daten, Uhrzeiten, Wochentage – mit perspektivischen (am anderen Morgen) und temporaldeiktischen Ausdrücken (heute früh, übermorgen früh) verschränkt, deren Verständnis verlangt, sich in die temporale Perspektive des Schreibenden zu versetzen. So führt der Brief vor, welcher Abstimmungen es bedarf, um selbst alltägliche Zeithorizonte zu synchronisieren. Wie schon zeitgenössische Kritiker monierten, scheint der Autor sich dabei selbst verheddert zu haben. Denn das folgende Kapitel beginnt mit dem Satz: „Der nächste Tag kam“ (P 21), während wir tatsächlich immer noch den dritten Januar schreiben. Das ist vermutlich ein Fehler, der sich aus dem Entstehungsprozess erklären lässt⁹ und den Fontane übersehen hat. Aber ist es ausgeschlossen, dass er ihn absichtlich nicht korrigiert hat?

 Vgl. die Erläuterungen der Herausgeberin, P 139 – 140.

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4 Die folgenden Kapitel bestehen fast ausschließlich aus Gesprächen der Familienmitglieder, deren Kreis sich am Geburtstag um den Schwager und Onkel Eberhard von Poggenpuhl erweitert. Der Erzähler zieht sich dabei so weit zurück, dass er es den Figuren überlässt, auch die temporalen Abläufe ihrer Tage in ihren Gesprächen zu strukturieren. Dabei kristallisiert sich ein wiederkehrendes Erzählschema heraus. Ein Beispiel findet sich im sechsten Kapitel, in dem Leo einen Stadtbummel mit Manon plant: „Wir sehen uns das Rezonvillepanorama an (so was verstehn die Franzosen) und sind um zwölf Unter den Linden und sehen die Wache aufziehn mit voller Musik, und wenn wir Glück haben, steht der alte Kaiser am Fenster und grüßt uns. Oder wir können’s uns wenigstens einbilden.“ Unter diesen Worten hatten sich Leo und Manon erhoben. „Kommt nicht zu spät; zwei Uhr,“ mahnte Sophie, was denn auch versprochen wurde. Leo und Manon hielten Zeit und Punkt zwei ging man zu Tisch. (P 41 f.)

Wie in dieser Passage sind die Figuren gesprächsweise immer wieder damit beschäftigt, ein Programm für die Gestaltung eines Tagesabschnitts zu entwerfen und dafür genaue Zeitpläne aufzustellen. Die Erzählung der entworfenen Handlung bleibt jedoch ausgespart. Wir erfahren von ihr nur im Voraus, wenn sie geplant wird, und/oder im Nachhinein, wenn sie stattgefunden hat und besprochen wird. Eberhard Lämmert hat dieses Erzählschema erstmals beschrieben und als ein „Doppelspiel“ charakterisiert: „Alles äußere Geschehen in diesem Roman […] hat überhaupt nur insofern Bedeutung, als die Personen in seiner Planung und späteren Glossierung ein Stück ihrer Welt entfalten. Es genügt aber gleichzeitig, um die Gegenwartshandlung in Gang zu halten und den dünnen Faden der Handlung fortzuspinnen!“ (Lämmert 1991, 230). Zu ergänzen ist, dass damit die Darstellung einer für die Moderne grundlegenden Transformation der Zeitperspektiven verbunden ist, die zugleich eine (von mehreren) Erklärungen dafür bietet, wie die Zeit eines relativ ereignislosen Alltags vergeht, ohne Langweile zu erzeugen. Indem in der erzählten Gegenwart der Gespräche eine zukünftige Handlung entworfen und/oder eine vergangene Handlung besprochen wird, ohne dass die Handlung selbst zur erzählten Gegenwart wird, dehnen sich die Horizonte von Vergangenheit und Zukunft, während die Gegenwart zu deren Differenz wird, zum „Wendepunkt, der den Prozeß der Zeit von Vergangenheit in Zukunft umschaltet“ (Luhmann 1990, 121). Leos Programm für den Stadtbummel ist in syntaktischer Hinsicht eine Aufzählung, in der die einzelnen Etappen in parataktischer Folge – „und […] und […]

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und wenn […] und“ – aneinandergereiht sind. Diese parataktische Syntax prägt den Roman im Großen wie im Kleinen. Sie entspricht dem Verzicht auf Kausalität zugunsten von temporaler Folge (vgl. Demetz 1973, 161) und kommuniziert mit Fontanes Vorliebe für Nebensachen ebenso wie mit seinem Sinn für Überlebsel und Überreste (vgl. Begemann 2018; Strowick 2018; Zumbusch 2021), die gern in Nachsätzen – „übrigens“ (vgl. Zumbusch 2021, 249) – nachgetragen werden. Dass der Roman noch eine andere, in ihren Implikationen entgegengesetzte Form der Reihung benutzt und beleuchtet, wird noch zu zeigen sein. Hier interessiert zunächst ein möglicher Intertext, von dem her sich die Parataxe als ein Darstellungsverfahren von alltäglichem Leben in einem durchaus emphatischen Sinn verstehen lässt. Der Schlüssel zu diesem Intertext ist die Figur von Onkel Eberhard. Er steigt, wie er in der Geburtstagsrunde bekennt, lieber im „Fürstenhof“ am Potsdamer Platz als bei den Verwandten ab, weil dort „das meiste Leben“ sei und es im Hotel „beinahe so aus[sieht], als freuten sich alle, wenn ich komme“ (P 44). Und fährt dann in konsequent parataktischer Syntax fort: Und wenn ich mich da morgens ins Fenster lege, links und rechts ein Sofakissen unterm Arm und die frische Winterluft kommt so vom Hall’schen Thor her – was ich mir wohl gönnen kann, weil ich dran gewöhnt bin, denn von unsrer alten Koppe herunter pustet es noch ganz anders – und ich habe dann so Café Bellevue und Josty vor mir […], und die Pferdebahnen und Omnibusse kommen von allen Seiten heran und es sieht so aus, als ob sie jeden Augenblick ineinander fahren wollten, und Blumenmädchen dazwischen (aber es sind eigentlich Stelzfüße), und in all dem Lärm und Wirrwarr werden dann mit einemmale Extrablätter ausgerufen, so wie Feuerruf in alten Zeiten und mit einer Unkenstimme, als wäre wenigstens die Welt untergegangen, – ja, Kinder, wenn ich das so vor mir habe, da wird mir wohl, da weiß ich, daß ich ‘mal wieder unter Menschen bin, und darauf mag ich nicht gern verzichten. (P 44– 45)

Nach dem „Quack“ Manonchen spielt die „Unkenstimme“, mit der die Extrablätter ausgerufen werden, erneut auf den Namen Poggenpuhl an, der ja nichts anderes als Froschtümpel bedeutet. Diese Stimme aus der Tiefe des Tümpels, die als Neuestes so vom Untergang kündet wie der Feuerruf „feurio“ in alten Zeiten, ist als eine „unheimliche“ gelesen worden (Strowick 2018, 258). Aber nicht nur hielt der Autor Fontane zumindest im Privaten von „Unken-Prophetie“ (Fontane 1979, 312) dieser Art wenig. In der Sache – nicht in der Syntax – dürfte die ganze Passage durch Kierkegaard angeregt sein, und zwar durch die Beschreibung des „Ritters des Glaubens“ in Furcht und Zittern (1843). Damit soll nicht behauptet werden, dass Fontanes Generalmajor a.D. Eberhard Pogge von Poggenpuhl mit dem Abraham des Alten Testaments vergleichbar wäre, von dem diese Beschreibung ihren Ausgang nimmt. Zwar lebt und stirbt Onkel Eberhard in „Adamsdorf“, wo er – darauf wird zurückzukommen sein – eine Kirche ausmalen lässt. Dass er

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das Absurde durch den Sprung in den Glauben ergriffe, ist allerdings nicht zu erkennen. Doch immerhin kommt Kierkegaards pseudonymer Verfasser Johannes von Silentio im Kontext seiner Ritterkunde auf die „Knechte des Elends, die Frösche im Sumpf des Lebens“ zu sprechen und empfiehlt: „Lasst sie ungestört im Sumpf quaken.“ (Kierkegaard 2005b, 219 – 220) Vor allem aber ist der Ritter des Glaubens ganz und gar von dieser Welt und sein Glaube von eminent alltagspraktischer Bedeutung. Er vermag es, das „Sublime absolut im Pedestrischen auszudrücken“ (Kierkegaard 2005b, 219); er sieht aus „wie ein Steuereinnehmer“ und „geht seiner Beschäftigung nach“ (Kierkegaard 2005b, 216). „Geschäftliches […], Hypotheken, Abschreibungen“ führen auch Onkel Eberhard nach Berlin, und diese „Sachen“ nennt er nicht zufällig mit einem in seinen Äußerungen wiederkehrenden Wort „interessant“ (P 44, vgl. auch 46). Denn als „Konfinium zwischen Ästhetik und Ethik“ spielt das „Interessante“ (Kierkegaard 2005b, 274) in Furcht und Zittern eine bedeutende Rolle. So wie Kierkegaard seinen Ritter des Glaubens im Gegenzug gegen den tragischen Ritter der Resignation charakterisiert, erhebt darüber hinaus auch Onkel Eberhard Einspruch gegen die Sprache der Sorge und Entsagung, die seine Schwägerin pflegt (vgl. P 72– 74). Er ist für „heitere Ideenverbindungen“ (P 45) und gleicht Kierkegaards Glaubensritter auch insofern, als dieser sich ebenfalls „an allem [freut]“ und „an allem [teilnimmt]“ (Kierkegaard 2005b, 216) und im Übrigen ebenfalls „eine gute Brust hat“ (Kierkegaard 2005b, 217). Wenn Onkel Eberhard im Fenster liegt und das alltägliche Leben am Potsdamer Platz verfolgt, dann tut er es diesem Ritter nach, von dem es heißt: Er freut sich über alles, was er sieht, über das Menschengewimmel, die neuen Omnibusse, den Sund – begegnet man ihm auf dem Strandweg, sollte man glauben, er sei eine Krämerseele, die sich austobe, gerade so freut er sich […]. Er liegt in einem offenen Fenster und betrachtet den Platz, an dem er wohnt, alles was vorgeht, daß eine Ratte unter ein Brett des Rinnsteins schlüpft, daß die Kinder spielen, alles beschäftigt ihn mit einer Daseinsruhe, als sei er ein Mädchen von sechzehn Jahren. (Kierkegaard 2005b, 217)

5 Woran es Kierkegaards Figur gänzlich mangelt, das ist die Leidenschaft, die nicht etwa dem Glauben, sondern dem Rittertum gilt. In seiner „chevaleresken“ (P 79) Art „sticht“ Fontanes Generalmajor a.D. förmlich „wieder der Hafer“, wenn er an jene „alten Zeiten“ denkt, „wo man selber Krieg führte“ (P 47) – auch wenn er, wie fast alle Poggenpuhls, zur Infanterie gehörte. Auf diese „alten Zeiten“ kommt er im Zusammenhang mit Ernst von Wildenbruchs Drama Die Quitzows zu sprechen, dessen Protagonisten Dietrich von Quitzow er sich so vorstellt „wie etwa den Götz von Berlichingen“ (P 46). Die Gespräche über dieses historische Drama und den

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Theaterabend verlassen die Sphäre des Alltäglichen nicht. Doch sind sie exemplarisch für die Art und Weise, wie Fontane die genau getaktete Zeit der Alltagssphäre durch Spiegelungen und Verweisungen weitet, aus denen eine immer dichtere Textur von farbig schattierten Mustern entsteht. Für den Theaterbesuch am Geburtstagsabend stehen zwei zeitgenössisch belegte Quitzow-Stücke zur Diskussion, das Historiendrama Ernst von Wildenbruchs, das am 9. November 1888 uraufgeführt wurde und zum „zentralen Repräsentationsstück der wilhelminischen Ära“ (Sprengel 1998, 487) avancierte, sowie Martin Böhms „Parodie“ (P 46) des Wildenbruch-Stücks, die im folgenden Jahr zu sehen war.¹⁰ Onkel Eberhard zieht die „richtigen Quitzows“ (P 45) Wildenbruchs vor, und er tut es nicht ohne Grund. Denn mit einer Parodie kann Fontane selbst aufwarten. Parodistische Züge hat zunächst der Titel seines Romans. Er ist in offenkundiger, aber meines Wissens bislang nicht kommentierter Analogie zu dem des Wildenbruch-Stücks gebildet, den Fontane allerdings nur zitiert, um in der Poetik seines Romans die Dramaturgie des Dramas zu konterkarieren. So zentral die Einheit der Szene für diese Poetik ist, so konsequent unterläuft der Roman jeden dramatischen Konflikt. Wo Wildenbruchs „vaterländisches Drama“¹¹ Die Quitzows eine Zeitenwende in wenigen Tagen zusammendrängt und ein Geschlecht von Rittern in hochdramatischen Szenen von Liebe, Bruderzwist, Verrat, Zweikampf, Rache, Mord und Versöhnung im Sterben im Kampf gegen die Hohenzollern untergehen lässt, erzählt Fontane in Die Poggenpuhls von dem Alltag einer verarmten Adelsfamilie, ohne die zeitgenössisch als historische Zäsur gewerteten Tode und Thronbesteigungen des Dreikaiserjahrs explizit zu erwähnen. Parodistisch ist der Titel aber auch, weil er, indem er eine Analogie zwischen den beiden Adelsgeschlechtern herstellt, das Selbstverständnis der Poggenpuhls spiegelt. „Sieh, die Poggenpuhls“, erklärt Onkel Eberhard seinem Neffen, „waren in Pommern so ziemlich dasselbe, was die Quitzows in der Mark waren“ (P 45 – 46). Da der Roman keinerlei Angaben über eine vormoderne Vorgeschichte seines fiktiven Adelsgeschlechts enthält, bleibt offen, wie es – innerhalb der Fiktion – mit dem Wahrheitsgehalt dieser Aussage bestellt ist. Die „Ahnengalerie“ (P 14) reicht nur bis ins 18. Jahrhundert zurück und enthält ausschließlich Momente, in denen die Vorfahren ihr Leben für die Hohenzollern ließen. Ihrem Selbstbild nach haben „die Poggenpuhls“ aber jedenfalls historisch eine Bedeu Vgl. die Angaben der Herausgeberin, P 138. Die Erwähnung der Stücke gehört zu den Anachronismen, die Fontane in die Fiktion der historisch auf die Spanne Januar bis September 1888 datierbaren erzählten Zeit einbaut.  So der Untertitel der Bühnenfassung laut Fontanes überraschend positiver Besprechung der Uraufführung (Fontane 1969, 780 – 784).

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tung, die ihren Namen in der Gegenwart so zu einem Begriff macht, wie es der Name „die Quitzows“ zumal nach dem Erfolg von Wildenbruchs Drama vermutlich für jeden Leser Fontanes war. Der bestimmte Artikel im Romantitel ist daher der ironische Reflex einer Öffentlichkeit, deren Blicke die Poggenpuhls auf sich gerichtet glauben.¹² Er markiert die Rolle, die zu verkörpern der „Ruhm unsres alten Namens“ (P 64)¹³ sie verpflichtet. Die Poggenpuhls, die bei der Aufführung der Quitzows ihre Plätze im Parkett einnehmen, sind also einerseits Teil eines anonymen großstädtischen Theaterpublikums. Andererseits aber spielen sie selbst eine Rolle, sodass sich im Publikum ein Nebenschauplatz öffnet. Auch auf diesem Nebenschauplatz spielt sich ein Geschehen ab, und dieses Geschehen ist fast das einzige, das aus dem Theater berichtet wird. Hier fällt Onkel Eberhard in der Zwischenpause im mehrfachen Sinn aus der Rolle, indem er die Ähnlichkeit zwischen Dietrich von Quitzow und Bismarck kommentiert, sodass Leo sich geniert, weil „man“ (P 48) in benachbarten Reihen zu tuscheln beginnt. Als erzählte Gegenwart ist der Theaterbesuch damit auch schon beendet, im nächsten Absatz hat „man“ (P 48) sich bereits zur Nachbesprechung im Restaurant versammelt. Dort gesellt sich der junge Adlige von Klessentin zu den Poggenpuhls, ein ehemaliger Regimentskamerad Leos, der in dem Stück die Rolle Dietrich Schwalbes spielte. Diesem fällt es zu, den letzten tödlichen Stich in einer Handlung zu setzen, die von der Realgeschichte nicht unerheblich abweicht. Denn während die historischen Quitzows den Aufstand gegen die Hohenzollern überlebten, lässt Wildenbruch sie untergehen. In einer melodramatischen Szene wird der Letzte seines Geschlechts, der sanfte Konrad von Quitzow, der seinen machthungrigen Bruder Dietrich im Zweikampf getötet hat, seinerseits durch Dietrich Schwalbe, den „Bannerträger“ (P 52) Dietrichs, erdolcht. Die Konstellation, die sich daraus mit Blick auf die Poggenpuhls ergibt, ist so gelesen worden, dass diese im Stück ihren eigenen Untergang sehen (vgl. Aust 1980, 232) bzw. von deren bereits eingetretenem Ende her ihre eigene Geschichte im Modus des „‚vorbei‘“, des „passé“ (Strowick 2018, 255) betrachten. Aber die Poggenpuhls sind nicht untergegangen. Und wenn man annähme, dass

 Auch in dieser Hinsicht liest sich Thomas Manns Roman Buddenbrooks (1901) mit seinem artikellosen Titel als eine Auseinandersetzung mit und Antwort auf Fontane.  So Manon in einem Gespräch mit Leo, der das nicht leugnet, aber doch kontert: „[W]er hat heutzutage nicht einen Namen. Und was macht nicht alles einen Namen“ (P 64), um anschließend einen kunterbunten Katalog von Namen zusammenzustellen, der von „Pears Soap“ bis Poggenpuhls reicht und illustriert, wie die Referenz von Namen im Zuge der Entwicklung von Markennamen wechselt, sodass man bei Hildebrand nicht an einen der drei möglichen Künstler, sondern an Pfefferkuchenpakete denkt und die Erinnerung an den militärischen Namensspender einer Rosenzüchtung in dem Rosennamen gleichsam verduftet.

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sich im dramatischen Ende der Quitzows ihre Zukunft spiegelte, würde sich die Frage aufdrängen, wer ihnen den Todesstoß versetzt. Nach Lage der Dinge müsste das Therese sein, die „die Poggenpuhlsche Fahne“ (P 9) so hochhält wie Dietrich Schwalbe das Banner der Quitzows. Wenn in der Vorbesprechung des Theaterbesuchs „die Quitzowschen und die modernen Berliner Zeiten ganz nah zusammen [rücken]“ (Graevenitz 2014, 254), so geschieht das wesentlich in parodistischer bzw. ironischer Absicht. In der Nachbesprechung im Restaurant löst sich dieses Verhältnis auf. Nicht das Stück fungiert in dieser Szene als Spiegel. Inszeniert wird vielmehr ein Spiel im Spiel, in dem das gesellschaftliche Rollenspiel im Allgemeinen und das Rollenspiel der Poggenpuhls im Besonderen in der Figur des jungen Herrn von Klessentin gespiegelt werden, der in der Aufführung die Figur des Dietrich Schwalbe spielte. Das „Aktionsfeld“ (P 51), von dem dieses Spiel im Spiel seinen Ausgang nimmt, ist Wildenbruchs Drama, doch interessiert dieses nicht in seinem eigenen Voranschreiten, sondern im Hinblick auf das berufliche „Avancement“ (P 54– 55) Klessentins, der unter seinem Vornamen bzw. „nom de guerre“ (P 52) Manfred auftritt. Mit diesem „Avancement“ verlagert sich das „Aktionsfeld“ (P 51) von dem Stück zur „Bühnenlaufbahn“ (P 53) des Schauspielers und damit in die Gesellschaft. Die dramatischen Rollen, die Manfred übernimmt, werden zum Reflexionsmedium eines sozialen und binnenfiktionalen Rollenspiels, das sich grundsätzlich auf Nebenrollen beschränkt. Im Allgemeinen, gesteht Klessentin dem General, ist er in „Gruppen und Rubriken“ zu finden, etwa als „Erster Bürger, zweiter Mörder, dritter Pappenheimer“ oder als „die dritte Macbethhexe“ (P 55). Bei einer Gelegenheit hat er auch fast „die ganze Reihe der Falstaffschen Rekruten, also des ‚Kanonenfutters‘, durchgespielt“ (P 56). Die Rolle als Bannerträger Dietrich von Quitzows ist ein Ausnahmefall, hier konnte er sich „von dem eigentlichen Gros um ein geringes abheben“ (P 54). Aber „auch die kleinen Existenzen [haben] ihre großen Momente, so ganz besonders auch beim Theater“ (P 55). Es mag zunächst naheliegen, diese „Geständnisse“ (P 56) einer Nebenfigur des Romans, die auf der Bühne Chargen- oder kleinste Nebenrollen übernimmt, als ein poetologisches Bekenntnis zu lesen, in dem Fontane seine eigene Vorliebe für das Kleine und Nebensächliche zum Ausdruck bringt (vgl. Strowick, 260 – 261). Aber was auf den ersten Blick als Selbstdarstellung des Autors erscheinen könnte, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine Selbstparodie und soziale Satire. Sie beleuchtet das Unterscheiden, die soziale Distinktion als Fundament

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gesellschaftlicher Rollenidentität.¹⁴ Klessentins Gruppen, Rubriken und Reihen sind nicht einfach Ansammlungen von Nebenrollen und kleinstem Personal. Es sind Miniaturmodelle der Gesellschaft, in deren Beschreibung Fontane soziale Klassen und militärische Ränge überblendet. Im Gegensatz zu der rein parataktischen Folge, die die Syntax von Onkel Eberhards Beschreibung des alltäglichen Treibens auf dem Potsdamer Platz regiert, umfassen sie nicht einen und noch einen und noch einen Bürger, Mörder oder Pappenheimer. Ihr Gliederungsprinzip ist das einer sozialen Hierarchie, in der sich Menschen, Gruppen und Klassen als Erste, Zweite, Dritte voneinander abgrenzen. Der erste Mörder mag noch so unbedeutend sein, er weiß sich doch als erster vom zweiten zu unterscheiden. Denn das Kleine ist ebenso ein relativer Begriff wie die Nebensache und auch der kleinste Unterschied macht einen. Man kann sich immer ein „bescheidenes Avancement“ (P 55) vornehmen, und wer als Schauspieler in der Besetzung von Wilhelm Tell von „Meier von Sarnen“ bis zu „Rösselmann“ gelangt oder sich als Dietrich Schwalbe geringfügig vom Gros abheben darf, der hat rollentechnisch einen „schwache[n] Aufstieg“ (P 55) absolviert. „Klessentin spielt also die Rolle der kleinsten Differenz.“ (Graevenitz 2014, 540) In Fontanes Roman springen eine Vielzahl von Differenzen ins Auge, die sich in solchen hierarchisch strukturierten Reihen manifestieren. Sie werden mit viel Witz markiert und reichen – um nur einige wenige Beispiele zu geben – von der „Kunstschöpfung dritten oder vierten Ranges“ (P 14), als die das Gemälde vom „Hochkircher“ bezeichnet wird, über die „vierte Parkettreihe“ beim Theaterbesuch (P 48), „Heinrich dem Vierten, zweiter Teil“ (P 56) und den „dritten Gang“ beim Essen (P 70) bis zur „dritte[n] Klasse“ (P 94) Ringbahn beim Ausflug mit den Bartensteins.Vom Gros der benachbarten Zahlen hebt sich dabei mehr als nur um ein Geringes die Dreizahl ab. Nicht nur in Klessentins Beispielen tritt die „dritte Macbethhexe“ hervor. Schon in der Datierung des Romans, der an einem dritten Januar beginnt, spielt die Dreizahl die Hauptrolle und eröffnet eine Reihe, die parodistisch zu einem vierten und fünften Januartag auf- oder vielmehr absteigt. Darüber hinaus wimmelt es im Roman von Dreiersummen. Das fängt bei den „drei […] Krönungsthaler[n]“ (P 9) an, hört bei dem „Dreiviertel Jahr“ (P 118) der erzählten Zeit auf und umfasst dazwischen Dreiersummen von Pfennigen und Mark, von Stunden, Tagen, Wochen und ganzen Jahren, von Schwestern, Brüdern, Damen und Malern. Ein Jahrzehnt nach Fontane hat Georg Simmel die Triade in seiner Soziologie (1908) als Grundform der Vergesellschaftung analysiert (Simmel 1992, 63 – 159). So weit es soziologisch motiviert ist, weist das Zahlenspiel der

 Grundlegend zur Logik des Unterscheidens in Fontanes Gesellschaftsromanen Graevenitz 2014, 505 – 587.

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Poggenpuhls in eine ähnliche Richtung. Es hat aber eine andere Pointe. Das Datum und die historischen Momente des Dreikaiserjahrs, in dem sein Roman spielt, blendet Fontane aus. In der Dreizahl aber erweist er dem Jahr und den Kaisern gleichsam seine Reverenz. Dass im Übrigen auch Kaiser eine Rolle spielen, bemerkt Onkel Eberhard in dem Gespräch, in dem er die Schauspielerei Manfred von Klessentins gegen die Kritik seiner Schwägerin verteidigt. Dabei erinnert er an das Breitbandgemälde die „Fackeln des Nero‘“,¹⁵ auf dem der römische Kaiser – in Gesellschaft von „zwei goldfarbne[n] Löwen“ und einem „dritte[n] Löwen“ (P 73) – die von ihm angeordnete Verbrennung von christlichen Märtyrern als Schauspiel verfolgt. Onkel Eberhards Moral der Geschichte lautet: „Und nun sieh, dieser selbige Nero, der sich so ’was leisten konnte, der die ganze Welt, ich glaube bis hier in unsre berliner Gegend beherrschte, der sang und spielte auch, gerade so wie dieser Herr von Klessentin, und da frag’ ich mich denn: […] Wenn ein Kaiser spielen darf, warum soll Klessentin nicht spielen?“ (P 73)

6 Nachdem Leo am Tag nach dem Geburtstag nach Thorn zurückgekehrt ist und Onkel Eberhard und Sophie nach Adamsdorf aufgebrochen sind, ändern sich Erzählweise und Zeitgestaltung des Romans. Der Erzähler bleibt unverändert im Hintergrund, das Geschehen besteht weiterhin wesentlich in der Kommunikation der Figuren und dem, was sich daraus entwickelt. Doch die Erweiterung der Schauplätze ist mit einem Wechsel des Kommunikationsmediums vom Gespräch zum Brief verbunden. Das zehnte Kapitel enthält Briefe Sophies von Adamsdorf nach Berlin, die kalendarisch mehr oder weniger gleichzeitig mit der von Manon und Leo im Januar geführten Korrespondenz zwischen Berlin und Thorn sind, welche in den beiden folgenden Kapiteln zu lesen ist. Der Briefwechsel der jüngsten Geschwister ist Zwischenspiel, in dem der Roman Fahrt aufzunehmen scheint. Briefe und Gegenbriefe überholen sich und sind von einem szenischen Stil geprägt, der die Zeit des Schreibens und Lesens der Briefe mitthematisiert. Zugleich wird hier an einem romanhaften Heiratsplot gestrickt. Er sieht vor, dass Leo durch die Verbindung mit einer reichen jüdischen Erbin seine Zukunft und die der Familie sichert, wobei der Briefwechsel wesentlich um die „Esther- und Flora-

 Es handelt sich um das von Fontane auch in anderen Romanen erwähnt Gemälde Die Leuchter des Christentums des polnischen Malers Henryk Siemirádzki, das 1876 entstand und 1877 in Berlin ausgestellt wurde (vgl. die Anmerkungen der Herausgeberin, P 245 – 246).

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Frage“ (P 91) kreist. Wie es die Majorin von Poggenpuhl vorhersagt, verläuft dieser plot nach wenigen Wochen ebenso im Sand wie die Korrespondenz selbst. Leo tritt damit von der Bühne des Geschehens ab und gesellt sich zu Wendelin, der von Anfang an nur in den Kulissen und in absentia präsent ist und von dem Leo zu berichten weiß, dass er an „Familiengeschichte“ (P 88) kein Interesse habe. Dafür rücken mit Adamsdorf und Sophie ein neuer Schauplatz und eine Figur ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die zuvor im Hintergrund blieb und von allen Mitgliedern der Poggenpuhlfamilie die geringsten Gesprächsanteile hatte. Dieser Positionswechsel verdankt sich keinem Rollenwechsel, sondern einem Ausstieg aus dem Rollenspiel. Von der Sphäre der Öffentlichkeit, in der die Poggenpuhls in Berlin auch dann eine Rolle zu spielen meinen, wenn sie nicht im öffentlichen Raum unterwegs sind, wendet sich der Roman in den Adamsdorf-Kapiteln ab, um mit Sophies Briefen „den Unterschied zwischen Öffentlichkeit und privater Existenz fühlbar zu machen“ (Müller-Seidel 1994, 425). So wie die Briefe an die Mutter gerichtet und auf ein Vorlesen im privaten Kreis der Familie angelegt sind, erzählen sie von einem Alltagsleben, das weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Die räumliche Distanzierung Sophies geht so mit einer sozialen einher, in deren Folge der familiäre Verbund sich umstrukturiert. Während die sozialen Distanzen, von denen zuvor im Roman die Rede war, auf einer Vertikalen oder einer hierarchisch gestuften Skala angesiedelt sind und den Abstand zwischen Klassen, Ständen, Rängen und Stellungen betreffen, die sich vorund hintereinander oder über- und untereinander befinden und in die ein „Abstieg“ droht oder ein „Aufstieg“ möglich scheint, führt die Distanzierung Sophies zu einem „Unterschied“ (P 84), der sich in der Horizontalen manifestiert. Es ist eine Distanzierung, die innerhalb der eigenen Familie stattfindet und sich als Individualisierung vollzieht. Damit gehen Transformationen der Erzählweise einher, die sich bereits an Sophies ersten Briefen aus Adamsdorf im zehnten Kapitel ablesen lassen. In der Korrespondenz zwischen Manon und Leo bleibt das szenische Erzählen, das die Gespräche der ersten Romanhälfte dominiert, bewahrt. Die Schreibweise Sophies aber ist nicht szenisch, sondern episch, und dieser epische Duktus prägt auch das auf das epistolarische Zwischenspiel ihrer jüngeren Geschwister folgende zwölfte Kapitel, in dem sich die für den Roman insgesamt prägenden Erzählweisen von Erzählerrede, Figurenrede und Brief verschränken. So gibt es hier direkte Figurenrede und Berichte des Erzählers, Zusammenfassungen von Gesprächen in Adamsdorf und Berlin sowie von Briefen Sophies, und in die Erzählerrede eingeschobene Zitate von und aus Briefen Sophies, in denen ihrerseits zum Teil wörtlich Äußerungen von Tante und Onkel zitiert werden. Der epische Duktus ist seinerseits, wie schon bemerkt, mit einer anderen Zeitgestaltung verbunden, sodass nunmehr ein Kapitel reicht, um einen Zeitraum von Februar bis September zu

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erzählen. Der Begriff der Beschleunigung mag dafür erzähltechnisch richtig sein, er führt aber doch in die Irre. Denn in dieser erzählerischen Gestaltung von Zeit gelangen Ordnungen und Erfahrungen der Zeit zur Darstellung, die sich von denen der Anfangskapitel unterscheiden. Im Alltag des Dorfes in der schlesischen Provinz gehen die Uhren anders als in der Metropole Berlin. Die Zeitordnungen sind synchron, aber sie sind nicht synchronisiert. Der ländliche Alltag ist weniger eng getaktet, er hat andere Rhythmen und weitere Horizonte, die sich nach dem natürlichen Zyklus der Jahreszeiten und dem kulturellen Umgang mit diesen Zyklen richten. Daher gibt es in den Adamsdorf-Abschnitten erstmals im Roman Beschreibungen von Natur und Landschaft. Darauf richtet sich auch das künstlerische Interesse Sophies, die schon in Berlin einige Aquarellbilder ausgestellt hatte (vgl. P 17) und nun in Adamsdorf mit der Aufgabe betraut wird, die protestantische Kirche auszumalen. Sie will die Aufgabe mit Motiven lösen, „worin das Landschaftliche vorherrscht“, und sucht „in der Bibel nach Stoffen mit guter Scenerie“ (P 82). In Gestalt dieses Projekts verschafft sich der Roman ein neues Medium der Zeitreflexion. An die Stelle von heldenhaften Ahnenporträts und heroischen Historiendramen tritt ein hybrides malerisches Genre, in dem biblische Mythologie und Landschaftliches sich verschränken. Was das Mythologische angeht, fällt Sophies Wahl auf Stoffe wie „Sündflut“, „Untergang von Sodom und Gomorrha“ oder „Saul in der Höhle“ (P 92, 94, 97), die es mit Strafe, Untergang und Rettung zu tun haben.¹⁶ Im Hinblick auf das Landschaftliche aber orientiert sie sich an dem, was ihr bei Ausflügen ins Auge fällt oder was sie erinnert. So berichtet der Erzähler unter Bezug auf sommerliche Wanderungen im schlesischen Riesengebirge: „Sophie skizzierte irgendeine Scenerie für ihre alttestamentlichen Bilder und sagte dabei: ‚Das ist Abrahams Grab, das ist der Sinai, das ist der Bach Kidron.‘“ (P 97) Was in diesen scheinbar naiven Identifikationen zum Ausdruck gelangt, sind Vorgehensweisen und Vermögen, die auch für Fontanes Kunstverständnis von zentraler Bedeutung sind. Neben der „Rückbindung des […] Dargestellten an die eigene Anschauung“ (Scheffel 1998, 347) hebt der Text vor allem auf Vermögen des Findens und des Übertragens ab. Sophie erfindet nicht, sie arbeitet mit Vorfindlichem, aus dem eine „kleine neue Schöpfung“ (P 98) entsteht, weil sie etwas als etwas anderes zu sehen, in dem einen ein anderes zu erkennen vermag. Die Übertragung findet in dem zitierten Satz zwischen den Polen von Vergangenheit und Gegenwart statt, zwischen den Namen biblischer Szenerien und den Formationen der Landschaft  Das Thema wird in dem Bericht über den Unfall bei der Hörnerschlittenfahrt, in der Sophie „rettungslos verloren“ gewesen wäre, wenn nicht ein Assessor für „Rettung“ gesorgt hätte (P 81), zunächst für die Bearbeitung in einem anderen plot angeschlagen und in dem Briefwechsel zwischen Manon und Leo parodiert (vgl. P 87, 90).

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des Ausflugs. Die Vermögen, die dabei wirksam sind, treten aber gerade dadurch hervor, dass die Übertragung sich „aufs Landschaftliche“ beschränkt und keinen typologischen Bezug herstellt. Nicht nur ist „der Sinai“ keine Verheißung, die sich in einer Kuppel des Riesengebirges erfüllte. Sophie kehrt auch die typologische Übertragungsrichtung um: Statt im Alten nachträglich eine Präfiguration des Neuen zu sehen, sieht sie in „irgend einer“ Formation der Gegenwart das Vor-Bild für die Darstellung einer mythologischen Landschaft. Das ist strukturell ein Gegenprogramm zu gespenstischen Vorgeschichten und historistischem Vergangenheitskult. Weder kehrt eine unabgegoltene Vergangenheit wieder, noch leitet sich die Gegenwart aus der Vergangenheit ab, noch wird ein biblischer Ort in einer Ansicht der Gegenwart wiedererkannt. Der Kontakt zwischen den Zeiten wird hergestellt, indem eine subjektiv passende, aber kontingente landschaftliche Formation der Gegenwart zum bildnerischen Modell für eine Scenerie der biblischen Frühzeit wird. Auch die landschaftlichen Elemente des Gemäldes von Sintflut und Arche Noah haben ihr Vorbild in der Gegenwart. Und zwar malt Sophie die Gewässer in Erinnerung an einen Ausflug an den Rummelsburger See, der sich beim Ausstieg aus dem hoch gelegenen Bahnhof Stralau „wie eine mächtige Wasserfläche“ vor ihnen ausbreitete: „Der Bahnhof ist der Ararat, der Rummelsburger See die Sündflut.“ (P 94) Die „Idee“ für das Bild aber hat sie von Onkel Eberhard, der sie allerdings auch nicht erfunden, sondern in einer Dorfkirche bei Berlin gefunden hat. Dort sah er vor langer Zeit eine Darstellung der Sintflut, die er so beschreibt: „Und aus der Sündflut ragte nicht bloß, wie gewöhnlich, der Berg Ararat mit der Arche hervor, nein, neben dem Ararat befand sich auch noch in geringer Entfernung ein zweiter Berg und auf diesem zweiten Berge stand eine Kirche. Und diese Kirche war genau die kleine märkische Dorfkirche mit einem Laternenturm und sogar einem Blitzableiter, in der wir uns in jenem Augenblick gerade befanden. Und das hat damals einen so großen Eindruck auf mich gemacht, daß ich dich bitten möchte, du machtest es auch so und ließest auch zwei Kuppen aufsteigen und auf der zweiten Kuppe stände die Kirche von Adamsdorf. Das heißt die protestantische. Wenn sich die Katholiken darüber ärgern, können sie sich ja ihre Kirche auch malen lassen.“ (P 93)

Für Sophie liegt die „tiefe Bedeutung“ dieser Bildidee, über die man „lachen“, aber auch sich „freuen“ könne, darin, dass „das erste“, was nach dem Untergang der „alte[n] Sündenwelt“ als „neu erschien“, die Kirche war „(denn die Tiere waren ja noch aus der alten Welt)“ (P 93). An dieser Stelle wird also ein typologischer Bezug hergestellt. Er greift den Topos der rettenden Arche Noah als Vordeutung des rettenden Schiffs der Kirche auf, wobei die Kirche allerdings die protestantische ist und Sophie die räumliche Juxtaposition des Bildes als Gleichzeitigkeit liest. Was sie dabei ausblendet, ist die Spiegelung des Standorts

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des Betrachters, der auf dem Berg, welcher im Bild neben dem Ararat aus der Flut ragt, die Kirche erblickt, in der er steht. Diese Spiegelung betrifft nicht das Verhältnis von alt und neu, sondern das von oben und unten, Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits, Endlichkeit und Unendlichkeit. Dass das einen so „großen Eindruck“ auf Onkel Eberhard gemacht, dass er die Darstellung in seiner Dorfkirche zu wiederholen wünscht, deutet erneut auf eine Verwandtschaft mit dem Ritter des Glaubens hin. So wie Kierkegaards Figur „das Sublime im Pedestrischen darstellt“, kann der Betrachter, der die irdische Dorfkirche, in welcher er das Bild sieht, in dem Bild als einen Ort erblickt, der in eine himmlische Sphäre erhoben ist, kann das Erhabene im Gewöhnlichen, das Unendliche im Endlichen fassen. Fontanes Leserinnen und Leser können ein Übriges tun. Sie können sich auch über die typologische Idee des Autors freuen, für den alten „Hochkircher“ der Poggenpuhlschen Ahnengalerie, dessen Bild nicht an dem Nagel an der schadhaften „Wandstelle“ (P 15) der Berliner Wohnung hängen bleiben will, in der hohen Kirche des Gemäldes in der Kirche in Adamsdorf eine neue Stelle gefunden zu haben, von der er nicht mehr herunter‚rutschen‘ wird.

7 Mit dem Ausbruch des Typhus bei Onkel Eberhard „am zweiten September“, dem Sedantag (P 98), seinem Tod am „siebenten Tag nach Beginn der Krankheit“ (P 100) und seinem Begräbnis „am zwölften“ September in der „Mittagsstunde“ (P 101) setzen die präzisen und eng getakteten Zeitangaben wieder ein, die man aus den ersten Kapiteln des Romans kennt. Mit diesen Ereignissen kehrt die Erzählung in den Raum der Öffentlichkeit zurück, wo die Bühne für den großen Auftritt der Poggenpuhls bereitet wird. Nachdem die Tante entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt hat, staffiert Therese, die sich zur „Repräsentation der Poggenpuhlschen Familie“ berufen und „bereits in der vordersten Reihe der Leidtragenden“ sieht (P 101), die Damen der Großgörschenstraße mit entsprechenden Kostümen aus und bricht in der Rolle einer „Königinwitwe“ (P 102) mit trauerndem Hofstaat nach Adamsdorf auf. Während Therese damit die „Hauptund Staatsaktion“ (P 101), die sie sich vom Begräbnis erhofft, in dessen Vorfeld im ursprünglichen Sinn einer solchen Aktion als Posse selber aufführt, bietet die Beisetzung keine Bühne der Repräsentation. Aber der Roman weiß Abhilfe zu verschaffen. Und zwar in Form der von der Familie aufgegebenen Todesanzeige für „Eberhard Pogge von Poggenpuhl“, die von Nebelung, dem Portier des Hauses in der Großgörschenstraße, unmittelbar vor der Rückkehr der Majorin und ihrer Töchter in der Zeitung entdeckt und von seiner „fürs Theater“ (P 114) bestimmten Tochter Agnes in einem „dramatischen Vortrag“ (P 115) deklamiert wird. Die

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Anzeige verzeichnet die vollständigen Namen der Familienmitglieder und die Rollen, die diese im Leben des Verstorbenen spielten. Einzelrollen haben „Josephine Pogge von Poggenpuhl geb. Bienengräber […], als Gattin“ und „Albertine Pogge von Poggenpuhl, geb Pütter […], als Schwägerin“, während Wendelin, Leo, Therese, Sophie und Manon sich als „Neffen und Nichten“ in Gruppen oder Rubriken finden (vgl. Strowick 2018, 265 – 266). Anders als der junge Manfred von Klessentin, der nur mit seinem Künstlernamen auf dem Theaterzettel der Quitzows erscheint, stehen sie allerdings mit vollständigen Namen auf der Todesanzeige. Denn das Stück, in dem sie spielen, heißt „Die Poggenpuhls“ und was sie in diesem aufführen, ist nichts anderes als der Name selbst. Die abschließende Gesprächsszene enthält Ausblicke in die Zukunft, in denen zugleich eine Art Bilanz gezogen wird. Sie spiegeln einen Zustand, der unverändert im Wandel ist. Nicht alles ist gleichgeblieben in dem „Dreiviertel Jahr“ (P 118), das seit dem dritten Januar vergangen ist; es hat im Kleinen Bewegungen und Verschiebungen gegeben. Doch die Gesamtlage bleibt eine des Übergangs. Die ökonomische Situation ist weiterhin prekär, aber sie hat sich aufgrund der Vermögensbestimmungen der Witwe von Onkel Eberhard ein klein wenig stabilisiert. Sophie, die während ihrer Abwesenheit von einem Dreivierteljahr so selbstständig geworden ist, dass sie bei ihrer Rückkehr in die Berliner Wohnung bemerkt: „Es ist doch eigentlich ganz hübsch bei euch“ (P 118), wird wieder nach Adamsdorf zurückkehren. Was die Zukunft der 17-jährigen Manon angeht, auf die Therese das Gespräch bringt, so gilt: „alles beim alten“ (P 121) und also offen. Heiratspläne haben keine der beiden Schwestern, Manon wird den Verkehr mit dem Hause Bartenstein beibehalten und setzt ihre Hoffnungen unverändert darauf, dass die Brüder Karriere machen und „wir wieder ein paar andre Größen haben als den Sohrschen und Hochkircher“ (P 121). Worauf die Mutter einwirft: „Du vergißt einen dritten, deinen Vater […].“ (P 121) Nach dem dritten Januar, dem dritten Pappenheimer und der dritten Klasse bilden mit diesem Hinzutritt – nicht: dieser Dazwischenkunft – des Vaters als einer dritten „Größe[]“ auch die männlichen Vorfahren eine Reihe abgestufter Nebenrollen. So wird am Ende das fehlende annus der erzählten Zeit, das Dreikaiserjahr 1888, supplementiert. Im Spiegel der Väterreihe finden sich Wilhelm I., Friedrich III. und Wilhelm II. bei Fontane in einer Rubrik aus erstem, zweitem und drittem Kaiser wieder.

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Inka Mülder-Bach

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Christine Lubkoll

Rhythmus als ‚Tiefenzeit‘: Zum Konnex von Lebensphilosophie und ästhetischer Moderne um 1900 Die Rückkehr sogar in dieses Paris hat mich, nach ziemlich langer Abwesenheit, irgendwie metaphysisch angemutet. – Ich rede nicht bloß von der leibhaften Rückfahrt, dem schwarzen Opfer einer Nacht an das Geratter und Gerüttel. Der beharrende lebendige Körper überläßt sich den toten bewegten Körpern, die ihn dahintragen. Der Schnellzug hat eine fixe Idee: die Stadt. Man ist Gefangener seines Ideals, Spielzeug seiner eintönigen Raserei, Millionen Stöße, die hinter der Szene auftreffen, muß man miterdulden, dazu diese Rhythmen und Rhythmenbrechungen, dieses mechanische Schlagen und Ächzen – das ganze tolle Gelärm von ich weiß nicht welcher Geschwindigkeitsfabrik. Man ist trunken von wirbelnden Spukgestalten,von ins Nichts vergossenem Schauen, von fortgerissenen Lichtern.Wie die Fahrt im Dunkel das Metall schmiedet, träumt man, die Zeit in Person schlage brutal auf die harte und tiefe Entfernung ein und zerstücke sie. Überreizt, zusammengestaucht von Mißhandlungen, erzeugt das Hirn aus sich selber und ohne es zu wissen notwendigermaßen eine ganze moderne Literatur … (Valéry 1965, 39 – 40)

Dieser Text – mag er auch im Kontext von Paul Valérys Monsieur Teste nicht ohne Ironie zu lesen sein – beschreibt symptomatisch eine kulturgeschichtliche Konstellation um 1900, die in engstem Zusammenhang mit der rasant sich vollziehenden Veränderung der Zeitwahrnehmung in der beginnenden Moderne steht. Maschinen geben den Takt vor und beschleunigen das ‚Tempo‘; die neu entstehende Zeitordnung wird als „eintönige Raserei“ und „Geschwindigkeitsfabrik“ beschrieben. Während der monotone Takt (hier vernehmbar als Rattern über die Eisenbahnschienen) personifiziert als brutale Ordnungsmacht und auch als ein buchstäblicher ‚Er-fahrungszertrümmerer‘ gegeißelt wird („… träumt man, die Zeit in Person schlage brutal auf die harte und tiefe Entfernung ein und zerstücke sie“), erscheint der Rhythmus – als Dimension der minimalen Variation und Moment der Störung – als Inspirationsmoment der ‚modernen Literatur‘ schlechthin: Diese, so legt es der Text nahe, nimmt einerseits die neue maschinelle Zeitwahrnehmung geradezu körperlich in sich auf; andererseits ist es gerade der Rhythmus (als das Gegenmoment zum Takt), der eine imaginäre ‚Tiefenzeit‘ in der modernen Literatur hervorbringt. Über den ‚Rhythmus‘ als ‚natürliche‘ Tiefendimension und subversive Gegenkraft gegen die moderne Erfahrung der Beschleunigung und Vertaktung wird um 1900 vielfach nachgedacht: In Anthropologie, Lebensphilosophie, Musiktheorie und Poetologie, aber auch in der Medizin und den Naturwissenschaften werden Modelle entworfen, die auf revolutionäre Weise mit der abendländischen https://doi.org/10.1515/9783110773750-017

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Tradition brechen und ein neues, modernes Rhythmusverständnis etablieren (vgl. Salgaro und Vangi 2016; Gibhardt 2021, 159 – 195)¹. – In der Kulturgeschichte ist eine solche Häufung von Rhythmusreflexionen zwar kein Novum: Immer wieder kommt es – in der Antike, in der Renaissance, in der Aufklärung und der Romantik – zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem anthropologischen und ästhetischen Phänomen des Rhythmus und zu Paradigmenwechseln in der Theoriebildung (vgl. Corbineau-Hoffmann 1992; Seidel 1976; Zollna 1994). Vornehmlich geschieht dies in Phasen von Übergängen: Rhythmusvorstellungen sind Indikatoren für epochale Wahrnehmungsstrukturen; sie dienen der Neuvermessung besonders dann, wenn festgefügte Lebenszusammenhänge sich wandeln, wenn neue technische und soziale Konstellationen veränderte Orientierungsmuster erforderlich machen. Um 1900 stehen Rhythmusreflexionen im Kontext des beschriebenen rasanten Modernisierungsschubs: Sie reagieren – zumeist explizit – auf die zunehmende Mechanisierung, Maschinisierung und Beschleunigung der Lebenswelt. Erstmals in der Kulturgeschichte kommt es dabei zu einer nachhaltigen Oppositionsbildung, zur prinzipiellen Entgegensetzung der Kategorien ‚Metrum‘ und ‚Rhythmus‘: Während das Metrum, der Takt, für die künstliche, messbare Erzeugung von Regelmäßigkeit, ja Monotonie steht, wird Rhythmus als Ordnung einer natürlichen Bewegung definiert, als organische Dynamik, die gerade nicht auf der Wiederholung des Identischen, sondern auf einer variablen Abfolge von Äquivalenzen beruht. Nicht die abstrakte Regel, das Gesetz, wird favorisiert, sondern die harmonische Realisation des Individuellen, der Abweichung im Rahmen einer natürlichen Ordnung.²

 Für den Bereich der Medizin und Psychologie seien vor allem die Arbeiten von Wundt (1880), Bücher (1897) und Sievers (1901) genannt. Für ästhetische Rhythmuskonzepte besonders interessant sind die musiktheoretischen Ansätze von Lussy (1885), Riemann (1903) und Becking (1928).  Insbesondere der Musiktheoretiker Hugo Riemann hat hier durch seine nicht zuletzt lebensphilosophisch inspirierte Rhythmustheorie maßgebliche Impulse gesetzt. Als erster Musiktheoretiker überhaupt unterscheidet er in seiner 1903 erschienenen Schrift System der musikalischen Rhythmik und Metrik die musikalischen Begriffe ‚Takt‘ und ‚Rhythmus‘ prinzipiell (vgl. Riemann 1903/1971). Die musikalische Phrase, die den Takt hinter dem Rhythmus vergessen macht, zeichnet sich durch individuelle Ausgestaltung eines musikalischen Gedankens aus. Natürliche Ausdrucksmittel sind vor allem die zeitliche Verzögerung innerhalb einer Tonfolge (Agogik) und das An- und Abschwellen der Lautstärke (Dynamik). Damit soll der Grundqualität des Rhythmus, dem unregelmäßigen, aber doch stetigen Auf und Ab einer Bewegung, musikalisch entsprochen werden. Riemann spricht in diesem Zusammenhang, analog zu den Formulierungen der Lebensphilosophen, von der Energie, von „Bewegungselementen“, von „Organismen von eigenartiger Lebenskraft“. (Riemann, Hugo: Musikalische Dynamik und Agogik. Lehrbuch der musikali-

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In einer kulturkritischen Perspektive wird so der ‚Rhythmus des Lebens‘, der in allen natürlichen Erscheinungen waltet, subversiv gegen die „eintönige Raserei“ des Maschinenzeitalters ausgespielt (Valéry 1965, 39). Spannend wird diese diskursive Konstellation dadurch, dass ‚natürliche‘ Rhythmen nur aufgrund bewusster oder intuitiver Vertaktungen überhaupt als solche wahrnehmbar sind (was in vitalistischen Rhythmustheorien der Zeit stets eingeräumt wird) – Rhythmus ist ohne eine abstrakte, übergeordnete Struktur nicht denkbar, oder radikaler: Rhythmus existiert nicht an sich, sondern wird erst über kulturelle Ordnungen erfahrbar. Die Paradoxie bzw. Aporie der Rhythmusdebatten um 1900 besteht gerade darin, dass ein natürlicher, organischer ‚Ur-Rhythmus‘ postuliert wird, der einerseits durch die Mechanismen der Kultur verstellt, andererseits aber nur über diese zugänglich ist.³ Die Künste – namentlich die Musik und die Literatur – setzen diese Spannung, diese Konfrontation von mechanistischer, zerstückelnder Welterfahrung und der Utopie eines imaginären Universalrhythmus ästhetisch um. Davon zeugt der eingangs zitierte Text. Er greift mit dem Bild der Eisenbahnfahrt übrigens einen Topos der zeitgenössischen Rhythmustheorie auf.⁴ Dabei wird die Verbindung von Modernitätserfahrung, Rhythmusreflexion und einer Ästhetik der imaginären ‚Tiefenzeit‘ sehr deutlich. Zunächst wird das „Geratter und Gerüttel“ (Valéry 1965, 39) als Movens und Zeichen der modernen Entfremdung beschrieben – es bedeutet die Auslieferung des Körpers an die Maschine, des Geistes an das entmenschlichte „Ideal“ einer „Geschwindigkeitsfabrik“ (Valéry 1965, 39). Aber schon die doppeldeutige Wortwahl zeigt, dass sogleich aus der „eintönigen Raserei“, aus den permanenten „Rhythmen und Rhythmenbrechungen“ (Valéry 1965, 39), etwas anderes entsteht: nämlich – gegen das Bild der ‚harten und brutalen Zerstückung‘ – ein Prozess der phantasmatischen Entdifferenzierung: „tolles Gelärm“, „wirbelnde Spukgestalten“ und ein „überreiztes Hirn“, das – bis ins Unbewusste getrieben – die „ganze moderne Literatur“ (Valéry 1965, 40) gebiert.

schen Phrasierung auf Grund einer Revision der Lehre von der musikalischen Metrik und Rhythmik. Hamburg/Petersburg 1884, zit. n. Seidel 1975, 158) und beruft sich außerdem ausdrücklich auf Nietzsche (vgl. Riemann 1903/1971, VIII). Im Übrigen bezieht er in seine musikalische Artikulationslehre auch physiologische und psychologische Arbeiten zum Rhythmusempfinden mit ein. Namentlich erwähnt werden Bücher (1897), Wundt (1880) und Siever (1901). Vgl. zu Hugo Riemanns Rhythmustheorie und zur Entwicklung neuer musikalischer Umgangsformen mit dem Rhythmus bei Gustav Mahler Lubkoll 2002, 93 – 99.  Die herausragende Bedeutung von Nietzsches Konzept des ‚offenen Rhythmus‘ für die kulturkritische und ästhetische Reflexion kann in diesem Rahmen nicht hoch genug veranschlagt werden (vgl. dazu Günther 2008; Santini 2019; Gibhardt 2020, 159 – 195).  Bei Ludwig Klages etwa bildet es den Ausgangspunkt der Reflexion und dient zugleich der Veranschaulichung der Argumentation (vgl. Klages 1974, 511, 523 – 524 und 546).

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Hier setzen die folgenden Überlegungen an, die den avantgardistischen Umgang mit Rhythmus um die Jahrhundertwende, die Emanzipation des Rhythmus vom Takt als ein Paradigma der Moderne, in einen kulturgeschichtlichen Kontext stellen. Wenn im Folgenden zunächst die Rhythmustheorie der Lebensphilosophie erörtert wird, um von hier aus literarische Rhythmusästhetiken zu untersuchen, so geschieht dies nicht in der Absicht, eine geistesgeschichtliche Einflussforschung zu betreiben, sondern es geht um die erstaunliche Virulenz eines spezifischen Bewältigungsmodells – nämlich des lebensphilosophischen Rhythmuskonzepts – in der Ästhetik der Moderne, eines Konzepts, das in den sehr verschiedenartigen ausgewählten Texten im Sinne einer ‚diskursiven Energie‘ am Werke ist. Exemplarisch soll dies in einem zweiten Schritt aufgezeigt werden, anhand der denkbar weit auseinanderliegenden poetologischen Konzepte von Arno Holz und Rainer Maria Rilke. Beide gelten als wichtige Vertreter einer modernen Rhythmustheorie; beide entwerfen mit ihren Poetologien unterschiedliche Zeitkonzepte. Während Arno Holz auf einer ebenso lebensphilosophisch wie biologistisch inspirierten Basis eine poetische Überbrückung von Zeitschichten (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) in seiner wuchernden ‚Evolution der Lyrik‘ erprobt, geht es Rilke darum, mithilfe der poetischen Sprache eine Zeiterfahrung jenseits der Ordnung, eine Art Metazeit, ins Werk zu setzen. Beide arbeiten damit an der Vision einer imaginären ‚Tiefenzeit‘, die gegen die Mechanisierung und Beschleunigung der Lebenswelt poetisch ein Zeichen setzt.

1 ‚Reine Dauer‘ und ‚pulsende Schwingung‘: Rhythmus im Kontext der Lebensphilosophie um 1900 1.1 Henri Bergson Es kann hier nicht darum gehen, die komplexe Bedeutung des ‚Bergsonismus‘ für die ästhetische Revolution der Moderne aufzurollen (vgl. Deleuze 1989). Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich ausschließlich auf die Dimension des ‚Rhythmus‘ im lebensphilosophischen Konzept Bergsons, die allerdings gerade für die Fragen künstlerischer Gestaltungsformen einen wichtigen Angelpunkt darstellt. Eine Unterscheidung von Metrum und Rhythmus findet sich bei Bergson nicht explizit, im Gegenteil: ‚Takt‘ und ‚Rhythmus‘ werden nahezu gleichbedeutend

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verwendet.⁵ Dennoch ist die Differenzierung zwischen einer messbaren Zeiteinteilung und dem (rhythmischen) Fluss einer organischen Bewegung konstitutiv für den philosophischen Ansatz Bergsons: nämlich in der – im Gesamtwerk immer wiederkehrenden – Entgegensetzung von Zeit (temps) und Dauer (durée). In seinem Essai sur les données immédiates de la conscience (1889)⁶ unterscheidet Bergson kategorial zwischen einer ‚messenden‘ und einer ‚intuitiven‘ Wahrnehmungsweise: Während die Zeiterfahrung (temps) als differenzierendes Bewusstsein, als ‚Einteilung eines Raumes‘ und damit als „Tätigkeit des Geistes sui generis“ beschrieben wird (Bergson 1994, 73), besteht die „reine Dauer“ (durée) aus der Heterogenität und ungeordneten „Mannigfaltigkeit“ (multiciplité) der Empfindungen und wird mit dem ‚Leben‘ gleichgesetzt: Die ganz reine Dauer ist die Form, die die Sukzession unserer Bewußtseins-Vorgänge annimmt, wenn unser Ich sich dem Leben überläßt, wenn es sich dessen enthält, zwischen dem gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen. (Bergson 1994, 77)

Die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Mannigfaltigkeiten (der äußeren, additiven und der inneren, qualitativen) verdeutlicht Bergson am Beispiel der Wahrnehmung entfernter Glockenschläge: Sicherlich gelangen die Glockentöne nacheinander an mein Ohr; es ist aber von zwei Dingen nur eines möglich: entweder nämlich behalte ich jede einzelne dieser sukzessiven Empfindungen im Gedächtnis, um sie mit den anderen in organische Verbindung zu bringen und eine Gruppe zu bilden, die mich an eine Melodie oder einen wohlbekannten Rhythmus gemahnt: in diesem Falle zähle ich die Töne nicht, ich beschränke mich vielmehr darauf, den sozusagen qualitativen Eindruck zu empfangen, den ihre Zahl auf mich macht. Oder aber ich nehme mir ausdrücklich vor, sie zu zählen; und dann muß ich sie aus ihrer Verbindung lösen, wobei diese Dissoziierung sich in irgendeinem homogenen Medium vollziehen muß, in dem die Töne, ihrer Qualitäten entkleidet, und sozusagen ausgeleert, identische Spuren ihres Verlaufs zurücklassen. (Bergson 1994, 68; Hervorh. i.O.)

Der Rhythmus, im Gegensatz zum Takt (den „identischen Spuren“ innerhalb einer Tonfolge), ist bei Bergson das zentrale Medium eines Zugangs zur ‚Dauer‘. ‚Rhythmus‘ ist niemals eine messbare Quantität, sondern die Qualität eines or-

 ‚Rhythmus‘ und ‚Takt‘ (mesure) werden nur geringfügig differenziert: Rhythmus bezieht sich auf die ‚Regelmäßigkeit‘ einer Bewegung, Takt auf ‚periodische Wiederholungen‘. Beiden wird aber im lebensphilosophischen Konzept dieselbe Funktion zugewiesen (vgl. Bergson 1994, 18).  Vgl. Bergson 1959a. Es handelt sich um einen Teil der Dissertation Bergsons aus dem Jahre 1889, die 1911 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Zeit und Freiheit erschien. Im Folgenden wird aus der Neuauflage der deutschen Übersetzung zitiert (vgl. Bergson 1994).

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ganischen Ganzen, die sich vor allem durch eine permanente Dynamik auszeichnet. Damit entspricht die rhythmische Ordnung der Struktur der Empfindungen, als deren konstitutive Eigenschaft Bergson gleich im ersten Kapitel („Von der Intensität der psychologischen Zustände“) eine unaufhörliche Progressivität, die ständige Bewegtheit und ein immerwährendes Werden und Umbilden beschreibt. Die rhythmische Verfasstheit der ‚reinen Dauer‘ bzw. den sympathetischen Zugang zur Dimension der Dauer über die Erfahrung des Rhythmus erläutert Bergson wiederum musikalisch. Er beschreibt die einschläfernde, traumfördernde Wirkung von Pendelschwingungen und begründet diese aus der beginn- und endlosen Bewegung des Ganzen, in der der einzelne, messbare Ton, auch die absolute Regelmäßigkeit der Intervalle, gänzlich unbedeutend ist: Es muß also zugegeben werden, daß die Töne untereinander eine Komposition eingegangen sind und nicht durch ihre Quantität als solche wirkten, sondern durch ihre Qualität, die ihre Quantität aufwies, d. h. durch die rhythmische Organisation ihres Ganzen. Wäre denn auf andere Weise die Wirkung eines schwachen und stetigen Reizes zu verstehen? Bliebe die Empfindung mit sich selbst identisch, so bliebe sie unbegrenzt schwach und unbegrenzt erträglich. Tatsächlich aber organisiert sich jedes Mehr an Reiz mit den vorangegangenen Reizen, und das Ganze macht auf uns den Eindruck einer musikalischen Phrase, die fortwährend im Begriffe steht aufzuhören und sich unausgesetzt in ihrer Totalität durch das Hinzukommen eines neuen Tons modifiziert (Bergson 1994, 81).

Der Zugang zur ‚reinen Dauer‘ eröffnet zugleich den Weg in eine Dimension der imaginären Tiefenzeit. Ziel eines vom ‚Élan vital‘ getriebenen lebendigen Ich muss es sein, die „inneren Zustände wie in ununterbrochener Umbildung begriffene lebende Wesen zu erfassen“ und sich mit dem Ganzen zu verschmelzen (Bergson 1994, 171).⁷ Diese Verschmelzung bewirkt aber zugleich ein Vergessen des Ich, eine (vorübergehende) Auslöschung des differenzierenden Bewusstseins. Möglichkeiten einer Annäherung ans Imaginäre, in dem die Sukzessivität der Wahrnehmungen in eine Simultaneität ganzheitlicher Erfahrung überführt wird, sieht Bergson in der Hypnose und in der Kunst gegeben. Namentlich der „Zauber der Dichtkunst“ besteht darin, dass diese – vermittelt über Rhythmus und Takt – „den normalen Lauf unserer Vorstellungen und Empfindungen“ unterbricht (Bergson 1994, 18) und einen hypnotischen Zustand erzeugt: Wie erklärt sich der Zauber der Dichtkunst? Der Dichter ist ein Mensch, bei dem die Gefühle sich zu Bildern entwickeln, und diese wiederum zu rhythmischen Worten, die sie ausdrücken sollen. Indem wir diese Bilder an unserem Auge vorüberziehen sehen, erleben wir unse-

 Vgl. auch die Ausführungen zum élan vital in der 1907 erschienenen Schrift von Henri Bergson L’évolution créatrice (vgl. Bergson 1959b, 569 – 578).

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rerseits das Gefühl, das sozusagen ihr emotionales Äquivalent war; doch diese Bilder würden sich für uns ohne die regelmäßigen Bewegungen des Rhythmus nicht in gleichem Grade zur Wirklichkeit verdichten; durch ihn eingewiegt und eingeschläfert, gerät unsere Seele in den Zustand traumhaften Vergessens ihrer selbst […]. (Bergson 1994, 19)

Während Bergson einerseits die unendliche, permanent dynamische Mannigfaltigkeit der seelischen Bewegung kategorisch für ‚unaussprechlich‘ erklärt,⁸ ist es andererseits die Materialität der Sprache, ihr rhythmisches Potenzial, das in die Richtung eines ‚anderen Zustands‘, des imaginären „Stillstands“ (Bergson 1994, 19) in der ‚reinen Dauer‘, verweist. Damit bestimmt Bergson den Rhythmus nicht als bloße Erscheinung der ‚Natur‘, sondern als Medium: als Schaltstelle, an der Natur in Kultur übergeht, aber auch Kultur auf Natur zurückverwiesen werden kann (oder zumindest die phantasmatische Vorstellung davon entsteht); als Form, deren Kraft bewirkt, das Imaginäre in der symbolischen Ordnung freizusetzen.

1.2 Ludwig Klages Ludwig Klages rückt die Reflexion über Rhythmus ins Zentrum seiner lebensphilosophischen Weltanschauung; neu ist im Vergleich zu Bergson die rigorose kulturkritische Entgegensetzung von ‚Takt‘ und ‚Rhythmus‘ sowie eine nicht nur anthropologisch, sondern vor allem natürlich begründete Priorisierung, ja Verabsolutierung des Rhythmus. Seine kleine Schrift Vom Wesen des Rhythmus geht auf Hauptgedanken zurück, die der Autor – laut Selbstaussage – seit 1913 entwickelt und bis zur zweiten Auflage 1944 mehrfach vertieft hat.⁹ Sie bildet gewissermaßen die Quintessenz seiner philosophischen Lehre. Ebenso wie Bergson richtet sich Klages gegen die „Mechanisten“, die „naturwissenschaftlichen Lebensforscher“, die „den Lebensvorgang für einen physiko-chemischen Vorgang halten“; seine ‚Logozentrismus-Kritik‘ erstreckt sich jedoch auch umfassender auf die gesamte abendländische Philosophie, die „auf der Verwechslung des Lebens mit dem Geist“ beruhe (Klages 1974, 515). Die Verwechslung von Leben und Geist entspricht, so das Argument, in der abendländischen Tradition der Verwechslung von Rhythmus und Takt. Während

 „[…] unsere Perzeptionen, Empfindungen, Emotionen und Vorstellungen stellen sich unter einem doppelten Aspekt dar: der eine scharf umrissen präzis, doch unpersönlich; der andere verworren, unendlich beweglich und unaussprechlich, weil die Sprache ihn nicht fassen kann, ohne seine Beweglichkeit zu fixieren.“ (Bergson 1994, 97)  Es handelt sich um die ausgearbeitete Fassung eines Vortragsmanuskripts aus dem Jahre 1922, die erste Auflage erschien 1933.

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der Takt lediglich auf einer menschlichen „Einteilungsleistung“ basiere (Klages 1974, 507) und die „regelmäßige Gliederung einer zeitlichen Erscheinung“ bedeute (Klages 1974, 504), ist der Rhythmus eine natürliche Qualität, eine „allgemeine Lebenserscheinung“, an der der Mensch – als Teil der Natur – partizipiert (Klages 1974, 510). Der reine Takt, der – so Klages – dem rationalistischen Denken entspreche, sei ausschließlich mechanisch und damit lebensfeindlich; er vernichte den natürlichen Rhythmus des Lebendigen. Rhythmus dagegen zeichne sich durch eine permanente Bewegung, durch ein ständiges Fließen aus;¹⁰ er beruhe nicht auf identischen (Zeit‐)Abschnitten, sondern auf der Variation von Äquivalenzen: Er erzeuge das „Erlebnis der Ähnlichkeit von übrigens wechselnden Bildelementen“ (Klages 1974, 501). „Der Takt wiederholt, der Rhythmus erneuert“ (Klages 1974, 526) – mit dieser Formel erklärt Klages die strikte Entgegensetzung beider Kategorien und erhebt den Rhythmus zum vitalistischen Prinzip schlechthin. Die Erfahrung von Rhythmus ereignet sich übrigens bei Klages vorwiegend im Schlaf, im Traum, wo „wir völlig bewußtlos den Geschehenscharakter der Welt erleben“ (Klages 1974, 517); sie reicht aber – als Erinnerungsspur – bis in die Sphären des Bewusstseins: So sehr es den heutigen Menschen paradox anmutet, so sehr bleibt es wahr, daß es niemanden gibt, der vom Schlaferlebnis nicht wüßte, mag es auch mancher über den Lärm seines Wollens vergessen haben. Selbst Menschen von immer rechenbereiter Nüchternheit werden sich wenigstens aus ihrer Jugend erinnern, daß es ein Erwachen gibt, wo die Seele sich wie aus schützenden Mutterarmen an das unerbittliche Licht gerissen glaubt und im Gefühl eines rätselhaften Heimwehs der verborgenen Schätze ihres nächtlichen Lebens ahnungsvoll innewird. Der Offenbarungsgehalt solcher Stimmungen ist es, den die Märchen vom verlorenen Paradiese und jenem goldenen und silbernen Zeitalter deuten, wo nach dem Ausspruch des Hesiod die Menschen ewigen Kindern gleichen oder auch der im Boden haftenden Pflanze (Klages 1974, 516).¹¹

Die Erfahrungsdimension des Rhythmus bildet, so Klages, einen permanenten Unterstrom unter dem „Wellenschlag des Wachens“. Dabei kann durchaus der Takt, wie etwa während einer Eisenbahnfahrt, die Wahrnehmung von Rhythmus

 Hier beruft sich Klages auf die Etymologie: Rhythmus kommt von griech. ‚rhein‘ (= fließen; vgl. Klages 1974, 512). In der Rhythmusforschung wird der Begriff übrigens entweder auf griech. ‚rhein‘ oder aber auf griech. ‚rhymoia‘ (= zurückhalten, hemmen, in Obhut halten) zurückgeführt, womit noch in der Begriffsgeschichte die Spannung von ‚Ordnung‘ und ‚Bewegung‘ reproduziert wird.  Klages zitiert hier aus seiner Schrift Bewußtsein und Leben (ebenfalls abgedruckt in Klages 1974, 650).

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befördern; Bedingung hierfür ist aber nicht die maschinell erzeugte Monotonie, sondern das „Erlebnis des Fortbewegtwerdens“ an sich („weil uns das Rattern der Räder von Augenblick zu Augenblick das Zeichen des Dahinsausens ist“; Klages 1974, 523). Rhythmus selbst dagegen ist in seiner Dynamik – trotz der Qualität der ‚gegliederten Stetigkeit‘ – niemals regelmäßig, vielmehr schwanken „innerhalb der freilich unverkennbaren sich abhebenden Perioden […] sämtliche Daten schlechthin unberechenbar“ (Klages 1974, 528). Dieses Postulat bestimmt entschieden die ästhetischen Konsequenzen, die aus der lebensphilosophischen ‚Emanzipation des Rhythmus‘ gezogen werden. „Die tiefaufregende, ja entrückende Wirkung des Rhythmus“ (Klages 1974, 548) gründet gerade in der Schwebe, ja Gegenläufigkeit, die zwischen Ordnung und Bewegung im künstlerischen Gebilde entsteht. So vertraut eine solche Perspektive heute erscheint, so neu ist sie in der Theoriebildung um 1900. Die Ausführungen von Ludwig Klages lesen sich im Kontext der künstlerischen Erneuerungen um 1900 wie ein ästhetisches Manifest: Und immer ist es innerhalb der nur erfühlbaren Schwankungsbreite die merkliche Verschiedenheit der sich in stetigen Übergängen erneuernden Elemente, was die lebendige Leistung vor der maschinellen auszeichnet und dessen Abwesenheit es bewirkt, daß dieser das pulsende Wallen fehlt, das allein erst den gestalteten Gang mit rhythmischen Schwingungen auszufüllen vermag. (Klages 1974, 530)

2 „Inneres Erlebnis“ und „Rhythmus des Hintergrunds“: Die Durchbrechung der Zeitordnung in Poetologie und Poesie um 1900 2.1 Arno Holz Arno Holz verficht in seinen programmatischen Schriften eine radikale Abkehr von traditionellen metrischen Ordnungen und fordert stattdessen ein tiefgreifend neues Verständnis von Rhythmus, das er in seinen Gedichtsammlungen auch praktiziert. Um seine Position und das Problem des Rhythmus in der Moderne entspinnen sich um 1900 heftige Debatten, die in diversen Literaturzeitschriften von Autoren wie Julius und Heinrich Hart, Johannes Schlaf, Franz Servaes, Karl Freiherr von Levetzow, Edgar Steiger und sogar Rudolf Steiner ausgefochten werden (vgl. Ruprecht und Bänsch 1970, 5 – 81). Für den Zusammenhang von Lebensphilosophie und ästhetischer Moderne mag der Naturalist Holz zwar auf den ersten Blick nicht repräsentativ sein; es zeigt

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sich jedoch, dass seine Argumentation von (trivialisierten) Sprengseln lebensphilosophischer Perspektiven durchzogen ist; außerdem ergeben sich in seiner Lyrik Verbindungen zwischen biologischen Modellen (Ernst Haeckel) und dem vitalistischen Rhythmusbegriff der ‚Lebenswissenschaft‘.¹² Dass die Entwicklung der naturalistischen Lyrik in Deutschland unmittelbar auf die Erfahrung der Moderne bezogen ist, macht zunächst Julius Hart in seinem gleichnamigen, 1896 erschienenen Artikel deutlich: „Alles drängt nach den Maschinenzentren hin […]. Die Poesie kann aber gar nicht anders, als solche Bewegungen mitmachen, sie treibt stets im Strome der allgemeinen Kultur-Entwicklungen.“ (Hart 1869/70, zit. n. Ruprecht und Bänsch 1970, 7). In diesen Zusammenhang stellt er auch die innovative Umgangsweise mit dem Rhythmus, den er – gegen die „düstere pessimistische Melodie des 19. Jahrhunderts“ – als Zeichen eines „bacchantische[n] orgiastische[n]“ Fortschrittsoptimismus deutet (Hart, zit. n. Ruprecht und Bänsch 1970, 13): „[…] erst bei den Rhythmen- und Reimschwelgern, den raffinierten Formkünstlern, nahm der naturalistische Subjektivismus das Gepräge des Aestheticismus an.“ (Hart, zit. n. Ruprecht und Bänsch 1970, 14). In seiner „Selbstanzeige“ zum Erscheinen des Phantasus (1897/98) veröffentlicht Arno Holz seine Definition des ‚neuen Rhythmus‘: Ich hatte das alte, das heute noch herrschende, zu definieren gesucht als „ein Streben nach einer gewissen Musik durch Worte als Selbstzweck“. Oder noch besser: „nach einem gewissen Rhythmus, der nicht nur durch das lebt, was durch ihn zum Ausdruck ringt, sondern den daneben auch noch seine Existenz rein als solche freut“. Aus dieser Definition, deren Fassung ich preisgebe, ergibt sich zwingend die neue: eine Lyrik, die auf jede Musik durch Worte als Selbstzweck verzichtet und die, rein formal, lediglich durch einen Rhythmus getragen wird, der nur noch durch das lebt, was durch ihn zum Ausdruck ringt. (Holz 1962, 66 – 67)

Diese Abkehr vom Metrum (nicht vom Rhythmus) verbindet Holz mit einer radikalen Verabschiedung der gebundenen Rede in der Lyrik (regelmäßiges Metrum, Reim und Strophe): „Und gerade dieser Leierkasten ist es, der endlich raus muß aus unserer Lyrik.“ (Holz 1962, 70) In seinen Anmerkungen zum Phantasus (‚Evolution der Lyrik‘) erläutert Arno Holz seine Poetologie zunächst mit einem biologistischen Vokabular: Im Hinblick auf die Form des Gedichts spricht er von einem „rhythmischen Notwendigkeits-

 Siehe zum poetologischen Konzept von Arno Holz insgesamt Specht (2017), vor allem Kapitel 5: Der „große Weg zur Natur zurü ck“. Poetische Programmatik und lyrische Metaphernpraxis bei Arno Holz (hier insbesondere 5.3: Notwendiger Rhythmus. Weiterentwicklungen von Holz’ Poetik beim Erscheinen des Phantasus von 1898/99).

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organismus“ (Holz 1962, 82) und – ganz im Sinne der Darwinschen Evolutionslehre – von einer „Determination“ der künstlerischen Gestaltung (Holz 1962, 84). Den Begriff der „Rhythmik“ definiert er daraufhin folgendermaßen: „Rhythmik, das heißt: permanente, sich immer wieder aus den Dingen neu gebärende, komplizierteste Form-Notwendigkeit, statt, wie bisher, primitiver, mit den Dingen nie oder nur höchstens ab und zu, nachträglich und wie durch Zufall koinzidierender Form-Willkür.“ (Holz 1962, 87) Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang eine Kontroverse zwischen dem Freiherrn von Levetzow (aus dem Umkreis des ‚Neuen Wien‘) und Arno Holz in der Zeitschrift Die Zeit 1898/99. Von Levetzow, der Arno Holz unterstellt, dieser kehre sich polemisch gegen den Rhythmus, erklärt den Rhythmus – wie nach ihm Klages – als das ‚Eigentliche‘ hinter den Erscheinungen, als verborgene Grundlage des Lebens, und leitet daraus die Forderung nach einer entsprechenden künstlerischen Ausdrucksform ab: Ein Kunstwerk ohne Rhythmus ist dagegen nicht denkbar. Form und Rhythmus ist ja im Grunde genommen dasselbe. Und überall ist Rhythmus, in der ganzen Natur, im geistigen und körperlichen Menschen. Die Aetherwelle ist so gut Rhythmus, wie die so merkwürdig regelmäßige Anordnung der Blätter an einem Zweige, wie die Linie und die Massenverteilung des Thier- und Menschenkörpers, wie Tag und Nacht, wie der Herzschlag, wie das Auf- und Abwogen der Stimmungen der Seele. (Levetzow 1970, 41– 42)

Diesem Plädoyer stimmt Holz in seiner übermütigen „Replik“ (Levetzow 1970, 47– 48) voll und ganz zu, obwohl er, wie von Levetzow in einer nochmaligen Replik betont, nicht (wie dieser) einen metaphysischen, sondern einen gleichsam materialistischen Formbegriff vertritt. Angesichts dieser fundamentalen weltanschaulichen Divergenzen ist es jedoch signifikant, wie nah die Sprachregelungen und poetischen Auffassungen – die lebensphilosophische und die naturalistische Orientierung – beieinanderliegen: Der Evolutionsgedanke bestimmt die Dichtung auf eine doppelte, spannungsvolle Weise. Zum einen reproduziert das künstlerische Gebilde die Dynamik eines lebendigen Rhythmus in seiner ‚notwendigen‘ Form; zum anderen unterliegt es aber – als Organismus – selbst einer permanenten Wandlung, ist selbst ‚Evolution‘. Von einem solchen unaufhörlichen, metamorphotischen Prozess zeugt die Entstehungsgeschichte des Phantasus. Dabei beruht die Produktion des „rhythmischen Notwendigkeitsorganismus“ keinesfalls auf einer naturwissenschaftlichen Berechnung, sondern – wie der Selbstkommentar belegt – auf schlafwandlerischer Intuition, einer Auslieferung an die verborgenen Kräfte des Rhythmus. Schon der Titel ist Programm: Phantasus als der Sohn des Schlafes erzeugt durch seine vielfältigen Verwandlungskünste die menschlichen Träume. Obwohl

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also der deterministische, von biogenetischen Theorien motivierte Ansatz von Arno Holz auf den ersten Blick einer lebensphilosophischen Einfügung in die Dimension der ‚bewegten Dauer‘ diametral entgegengesetzt ist, treffen sich beide doch genau hier: in der vitalistischen Priorisierung eines ‚Lebensrhythmus‘, der nicht von Menschenhand ‚gemacht‘, sondern nur intuitiv (re‐)aktiviert werden kann. Die Erfindung eines in diesem Sinne vitalistischen Rhythmuskonzeptes ist bei Holz ganz offensichtlich mit einer lebensphilosophischen Entdeckung einer ‚Tiefenzeit‘ verbunden. Besonders deutlich wird dies schon am Eingangsgedicht des Phantasus, das geradezu programmatisch eine lyrische Überbrückung des Zeitenlaufs, den Zusammenschluss einer Urzeit („Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt“) mit dem Jetzt („Ich“) ins Werk setzt und diese Konstruktion zugleich evolutionär entfaltet (Arno Holz selbst wählt diesen Text in ‚Evolution der Lyrik‘ zur Verdeutlichung seiner evolutionistischen Poetologie). In der ersten Fassung von 1898 lautet der Text folgendermaßen: Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt war ich eine Schwertlilie. Meine Wurzeln saugten sich um einen Stern. Auf seinem dunklen Wasser schwamm meine blaue Riesenblüte (Holz 1924, IX–X).¹³

Die rhythmische Einheit ist hier – wie in allen Gedichten des Phantasus – die Verszeile. Durch die Absetzung von Wörtern und Wortgruppen wird der Prozesscharakter der phantastischen Vision, die Dimension des Werdens, verstärkt; außerdem bilden die Substantive Akzente, die die Stationen der ‚Evolution‘ markieren: Geburt, Schwertlilie, Wurzeln, Stern, Wasser, Riesenblüte. Eine rhythmische Ausgewogenheit wird darüber hinaus durch die „unsichtbare Mittelachse“ erzeugt, die Arno Holz als „Ohrbild eines Gedichtes“ oder „typographische Musik“ bezeichnet (Holz 1962, 94). Trotz dieses schon im ersten Entwurf erprobten Zusammenspiels von ‚Gleichgewicht‘ und ‚Dynamik‘ in einer fantasierten Tiefenzeit erreicht das Gedicht jedoch nicht die Dimension von rhythmischer Bewegtheit, die der Autor später als „Form-Notwendigkeit“ bezeichnet. Deshalb arbeitet er den Text

 Die Entstehungsgeschichte dieses Gedichts ist kompliziert, da es – über die letzte autorisierte Fassung des Autors hinaus – immer wieder von diesem verändert wurde. Die hier zitierte Fassung von 1898 findet sich im Kommentar der Erstausgabe (Holz 1924).

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mehrfach um: 1916, 1922, 1925 und noch nach der Veröffentlichung der vermeintlich letzten Fassung.¹⁴ Er begründet dies in einer Weise, die wiederum die Virulenz lebensphilosophischer Perspektiven vermuten lässt: Weil das Gedicht in seiner primitiven Form eigentlich nichts weiter als nur eine sozusagen „skurrile Behauptung“ bedeutet hatte. Erst dadurch, daß ich diese in einen „psychologischen Rahmen“ faßte, der die Einheit in eine Dreiheit gliederte, wurde seine anfängliche „nur Behauptung“ zu einem mit denkbar letzter Wahrscheinlichkeit gestalteten „inneren Erlebnis“, und erst auf diese Weise erblühte und entfaltete sich, zwingend, ohne jede unkünstlerische Aufdringlichkeit und überzeugend, die ganze von mir mit dieser sozusagen Anfangsvignette beabsichtigte ‚Symbolik‘. (Holz 1962, 131)

Gegenüber der relativ statischen Schwebe der Erstfassung findet in den Umschriften der folgenden Jahre eine zunehmende Dynamisierung des Sprachflusses statt, vor allem durch eine lautmalerische Häufung von Bewegungsverben und über einen sprühenden Klangzauber mittels Assonanzen und Alliterationen. In der von Arno Holz autorisierten Fassung von 1925 kommt es dann zu einem regelrechten dionysischen ‚Rhythmus-Rausch‘: In tiefem bannendem, webendem Nachtschlaf, durch purpurn balliges Gedicht, aus überweltlichen Sphärenlicht ein erdleiblosgelöstes Glanzgesicht, rannte sich mir, kündete sich mir, gestaltete sich mir die Gewißheit ……… Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt war ich eine Schwertlilie. Meine suchenden Wurzeln saugten sich um einen Stern. Aus seinen sich wölbenden Wassern, narbenblattgriffelig, goldpfeilfädenstäubig,

 Vgl. dazu den Kommentar von Hans W. Fischer in der Erstausgabe (Holz 1924), außerdem die editorischen Bemerkungen von Wilhelm Emrich in Holz 1962, Bd. VII, 472– 473.

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traumblau, in neue wallende, werdende, wogende, brauende, brodelnde kreisende Weltenringe wuchs stieg, stieß steilte, teilte, speilte verglühte, zerströmte, versprühte, sich, Flammenkugelmeteore, Kometenkaskaden, Planetenbuntkränze verschwenderisch um sich regnend, verspenderisch um sich segnend, vergeuderisch um sich schwingschleudernd, meine dunkel metallische, halkyonisch, phallische, klingend kristallische Riesenblüten-Szepterkrone! ……. Noch in mein schweres Frühauferwachen, in mein Wiedermenschwerden, in mein Wiedererwachen sturzlachte, sturmjubelte, sturzleuchtete ihre Kraftstolzfreude, ihre Schöpfermutanfeuerung, ihre Zuversicht!¹⁵

Hier wird die Überführung eines naturwissenschaftlichen Modells (der biogenetischen Theorie) über eine lebensphilosophisch inspirierte Rhythmusidee in eine Sphäre der imaginären Tiefenzeit ganz deutlich. Schon die hinzugefügten Anfangsverse verweisen das kommende ‚innere Erlebnis‘ in den Bereich des Traums; der Schlaf wird wie bei den Lebensphilosophen als Erfahrungsraum eines kreatürlichen ‚Ur-Rhythmus‘ aufgerufen, der sich in der poetischen Sprache durch ‚Ballungen‘ (V. 6), durch Parallelismen, durch ein Einsetzen der Worte wie Pendelschläge artikuliert. Der Mittelteil, die ‚Einbruchstelle des Imaginären‘, enthält zwar noch die „skurrile Behauptung“ (Holz 1962, 131), jedoch in einer Form, die das ‚Thetische‘, den semantischen Aspekt der Aussage weit zurückdrängt. Nicht nur verweisen die

 Da die Ausgabe von Emrich eine Fassung aus dem Nachlass druckt, zitiere ich die letzte von Holz autorisierte Fassung aus Evolution der Lyrik: Holz 1962, 129 – 131.

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zahlreichen, geradezu inflationär verwendeten Verben auf eine permanente Dynamik, ein Kommen und Gehen, Geben und Nehmen, Werden und Vergehen; sondern vor allem inszenieren sie diese Bewegung sprachlich, bis hin zu einer Hoch- oder Überspannung der schöpferischen Energie, sodass der Rhythmus selbst zum Gegenstand des Gedichts erhoben wird. Aus der sinnentleerten Potenzierung des Klangzaubers reicht dann eine ‚Erinnerungsspur‘ in den dritten Teil, der mit seinen W-Alliterationen, mit seinen Reihungen (in denen sich die Zahl drei rhythmisch wiederholt) und kühnen Überhöhungen die Wellenbewegung des „inneren Erlebnisses“ (Holz 1962, 131) in eine Art ‚Dauer‘ überführt – in ‚Zuversicht‘ als letztes Wort, das Vergangenes (Erträumtes), die Gegenwart und die Dimension des Werdens in sich vereint.

2.2 Rainer Maria Rilke Rainer Maria Rilke polemisiert bereits 1898 in seinem Aufsatz Moderne Lyrik gegen Arno Holz und Johannes Schlaf, die eher als Programmatiker laut tönten, als dass sie den überzeugenden Weg zu einer neuen Kunst fänden. Über den Rhythmus des Phantasus spottet er: Seine Gedichte muten an, wie eine phantastische sinnliche Prosa, deren Worte bald 20 mannhoch in einer Zeile stehen, dann wieder alleine oder zu zweit, abseits bleiben, ohne, daß man einen genügenden Grund dieser Isolierung zu erkennen vermag. Hört man die Verse lesen, so kommt man gar nicht dazu, dies zu vermuten; was man dann vernimmt, ist eine bunte, teilweise unklare Prosa, in welcher dann und wann eine Alliteration oder eine onomatopoetische Verbindung auffällt, oder durch Wiederholungen eine Störung bewirkt wird.Von dem neuen Rhythmus […] kann ich in diesen Proben nichts finden. (Rilke 1965, 383)

Dagegen plädiert Rilke, der sich seinerseits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts intensiv mit Fragen des Rhythmus beschäftigt, für eine kunstvolle Zusammenführung von rhythmischer ‚Urbewegung‘ und strenger Form – und wirkt damit nicht weniger innovativ. Aus diesem Grund soll sein Modell am Schluss wenigstens noch angedeutet werden. Rilkes Rhythmusreflexionen entspringen einer eingängigen Lektüre Nietzsches; wie der Philosoph begreift er die Musik, den ‚großen Rhythmus des Hintergrunds“, als „freie, strömende, unangewandte Kraft“, als einen „freie[n] Überfluß Gottes“, der in der schöpferischen Fantasie des Menschen als Erinnerung und Sehnsucht wirkt (Rilke 1996a, 161; vgl. Schuster 2011, 47– 61). Auch in der Lyrik, so Rilke, muss die Musik „im Sinne jenes primären Rhythmus des Hintergrundes [aufgefasst werden], mit dessen Erlauschen das lyrische Schaffen beginnt“ (Rilke 1996a, 167). Dabei kann es aber nicht darum gehen – wie Rilke dies

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zeitgenössischen Lyrikern zum Vorwurf macht –, den Rhythmus gleichsam mimetisch nachzubilden, im Sinne einer lyrischen Programmmusik. Stattdessen muss der Rhythmus eingehen in die Form, sich in sie verweben, sodass er im Kunstwerk selbst sich vergegenwärtigt: In der Zeit der rauschenden Rhythmen muß man alle Gefäße bereithalten um die wandernde Kraft schön zu empfangen, alle Stoffe in den Glanz dieser Himmel halten, damit sie die goldenen Fäden durch die Gewebe lenken, welche das Muster festlich vollenden […]. Mit der Stärke der dionysischen Gewalt, d. h. des rhythmisch-flutenden, gestaltenfeindlichen Elementes, muß auch die Schönheit und Strenge der Form ihrerseits wachsen als ein Widerstand (Rilke 1996a, 167 und 169).

Diese poetische Vision, den Versuch, eine „strömende, unangewandte Kraft“ (das nicht differenzielle Strömen eines rhythmischen Hintergrunds) in der ästhetischen Form eines Gedichts zum Erklingen zu bringen, hat Rilke in seinem Gedicht Gong realisiert:¹⁶ Gong Nicht mehr für Ohren …: Klang, der, wie ein tieferes Ohr, uns, scheinbar Hörende, hört. Umkehr der Räume, Entwurf innerer Welten im Frein …, Tempel vor ihrer Geburt, Lösung, gesättigt mit schwer löslichen Göttern …: Gong! Summe des Schweigenden, das sich zu sich selber bekennt, brausende Einkehr in sich dessen, das an sich verstummt, Dauer, aus Ablauf gepreßt, um-gegossener Stern …: Gong! Du, die man niemals vergißt, die sich gebar im Verlust, nichtmehr begriffenes Fest, Wein an unsichtbarem Mund, Sturm in der Säule, die trägt, Wanderers Sturz in den Weg, unser, an Alles, Verrat …: Gong! (Rilke 1996b, 396)

 Eine ausführliche und einleuchtende Auseinandersetzung mit der Klang- und Rhythmuspoetologie des Gedichts liefert Schuster 2011, 305 – 389.

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Mit dem Signifikanten ‚Gong‘ errichtet das Gedicht ein Zeichen für eine vorsprachliche, jenseits aller Differenzierungen, in den ‚Tiefen‘ angesiedelte Klangwelt („wie ein tieferes Ohr …“), in der phantasmatisch-rhythmische Dynamik und Dauer, Präsenz und Absenz, Werden und Verlöschen synthetisiert erscheinen. Möchte man mit Bergson sprechen, so kommt hier die ‚reine Dauer‘ zur Sprache. Diese wird zum einen durch das eingesetzte Instrument selbst eingeholt. Albrecht Riethmüller hat in seinem inspirierenden Aufsatz über das Gedicht darauf aufmerksam gemacht, dass es sich hier um das Tamtam handelt, ein Instrument, das keine bestimmte Tonhöhe hat, also ein „Klanggemisch“ erzeugt, das außerdem einer unvorhersehbaren Schwankung in der Lautstärke unterliegt (Riethmüller 1996, 187– 189). Dieser archaischen, nicht differenziellen Klangwelt steht die strenge metrische Ordnung des Gedichts gegenüber. Durchgehend wird ein daktylisches Versmaß verwendet; alle Zeilen sind dreihebig strukturiert – mit Ausnahme der Zeilen 14 und 21, in denen – als zusätzlicher Schlag, nach einer Pause – der Gongklang ertönt und sich ausbreitet. Eine Verwischung der metrischen Markierungen findet allerdings im Gedicht nicht nur durch den ‚Hintergrundrhythmus‘ der unbestimmbaren Gongschläge statt, sondern ist auch in der rhythmischen Ordnung selbst angelegt: Das strenge Metrum wird immer wieder durch eine Gegenläufigkeit von abstrakter Struktur und phrasierender Realisierung, durch Enjambements und schließlich durch zweideutige Lesarten gelockert (wie in der achtzehnten Zeile, die auch als vierhebiger Trochäus gelesen werden kann). Damit erhält das Gedicht eine fließende Bewegung, die nur durch den ‚Widerstand‘ der Form als ästhetische Qualität wahrgenommen wird. Durch die Dynamisierung der Ordnung nähert sich das Gedicht dem undifferenzierten Klang des Gongs an, der – rein formal – ja außerhalb steht, metrisch isoliert ist; andererseits wird der diffuse Klang des Instruments selbst in eine Ordnung gebracht durch die dreimalige Wiederholung des Schlags, die – stellt man sich diese rein akustisch vor – die Einmaligkeit des diffusen Klanggeschehens in eine magische Dauer überführt, die, als Nachklang, noch über das Gedicht hinaus sich ausbreitet. Das regelmäßige Schlagen wirkt aber zugleich auch auf die Sprachgebung zurück: Vor dem Hintergrund des Gesamtrhythmus erscheinen auch die Anfänge der einzelnen Verszeilen sowie die Aufreihung der Bilder wie Schläge, die sich allmählich zu einem Ganzen vermischen (vgl. Riethmüller 1996, 194; Dehn 1954, 196). In Rilkes Gedicht wird damit der Versuch unternommen, die rhythmischen Bewegungen eines ‚Ur-Geräuschs‘ (als ‚Hintergrundmusik‘) so zum Klingen zu bringen, dass sie die Ordnung des Zeitlaufs durchbrechen: „Dauer, aus Ablauf gepreßt.“ Die poetische Sprache erscheint dabei zum einen als ‚Widerstand‘, innerhalb dessen der archaische Klang überhaupt erst in seiner Unbestimmtheit

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vernehmbar wird; zum anderen wird sie aber – als Form – durch die Schwingungen dynamisiert, überschreitet selbst die Ordnung und verwandelt sich die vorsprachlichen ‚Bahnungen und Brechungen‘, ‚die wandernde Kraft‘¹⁷, schöpferisch an. Rhythmus erscheint damit – wie bei Bergson – als das Medium schlechthin einer Annäherung an die nichtdifferenzielle Dimension der ‚bewegten Dauer‘, einer Einheit von Sukzessivität und Simultaneität, einer Utopie der ‚Tiefenzeit‘.

Literatur Becking, Gustav. Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle. Augsburg: Benno Filser, 1928. Bergson, Henri. „Essai sur les données immédiates de la conscience“. Œuvres. Textes annotés par André Robinet. Introduction par Henri Gouhier. Paris: Presses universitaires de France, 1959 (a). 1 – 156. Bergson, Henri. „L’évolution créatrice.“ Œuvres. Textes annotés par André Robinet. Introduction par Henri Gouhier. Paris: Presses universitaires de France, 1959 (b). 487 – 809. Bergson, Henri. Zeit und Freiheit. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1994. Bücher, Karl. Arbeit und Rhythmus. Leipzig: Teubner, 1897. Clare, Jennifer, Susanne Knaller und Rite Rieger (Hg.). Schreibprozesse im Zwischenraum. Zur Ästhetik von Textbewegungen. Heidelberg: Winter, 2018. Corbineau-Hoffmann, Angelika: „Rhythmus“. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Bd. 8. Basel: Schwabe, 1992. 1026 – 1033. Dehn, Fritz. „Zu Rilkes Gong-Gedicht“. Orbis litterarum 9 (1954): 193 – 205. Deleuze, Gilles. Bergson zur Einführung. Hamburg: Junius, 1989. Gibhardt, Boris Roman. „Einzige Welle, allmähliches Meer“. Rhythmus in Literatur und Kunst um 1900: West – Ost. Göttingen: Wallstein, 2021. Günther, Friederike Felicitas. Rhythmus beim frühen Nietzsche. Berlin/New York: de Gruyter, 2008. Hart, Julius: „Die Entwicklung der neueren Lyrik in Deutschland“. Pan 4 (1896): 33 – 40; Wiederabdruck in: Ruprecht, Ernst und Dieter Bänsch. Literarische Manifeste der Jahrhundertwende 1890 – 1910. Stuttgart: Metzler, 1970. 5 – 23. Holz, Arno. Das Werk. Erste Ausgabe mit Einführungen von Dr. Hans W. Fischer. Bd. 1. Berlin: Dietz Nachf., 1924. Holz, Arno. Werke. Hg. Wilhelm Emrich und Anita Holz. Bd. V. Das Buch der Zeit, Dafnis; Kunsttheoretische Schriften. Neuwied: Rowohlt, 1962. Klages, Ludwig. „Vom Wesen des Rhythmus“. Sämtliche Werke. Hg. Ernst Frauchiger, Gerhard Funke, Karl J. Groffmann, Robert Heiss und Hans Eggert Schröder. Bd. 3. Philosophie III:

 Vgl nochmals Rilkes Marginalien zu Friedrich Nietzsche (Rilke 1996a, 167).

Rhythmus als ‚Tiefenzeit‘

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„Mir hat die Sternenuhr die große Zeit geschlagen“: Revolution in Hofmannsthals Großem Welttheater Als zeugende, verschlingende, sich zerstörerisch erneuernde Umwälzung ist die revolutio ein Sinnbild für die ‚wandelnde Zeit‘ (Hölderlin), der alle menschlichen Einrichtungen unterworfen sind. (Honold 2005, 102)¹

Aus jedem „staatspolitischen Ereignis […] [spricht] nur das Grauen eines periodisch nach Art von Naturgewalten sich regenden Zerstörungswillens“ (Benjamin 1974, 268), schrieb Walter Benjamin über das barocke Trauerspiel. In Hugo von Hofmannsthals Trauerspiel Der Turm (dritte Fassung, 1927), das auf Pedro Calderón de la Barcas La vida es sueño (1635) basiert und u. a. durch Benjamins Trauerspielbuch beeinflusst wurde, verkörpert diese Fatalität des geschichtlichen Prozesses der Bolschewist Olivier: „Wer jetzt vor dir steht […] das ist Wirklichkeit: das Jetzt das Hier! […] Wir sind in den Händen einer dunklen Macht: – ich bin ihr Vollstrecker: es ist nichts außer ihr: Sie hat mir die Macht gegeben Sie ist die einzige Macht: die Zeit.“ („Varianten. Dritte Fassung – V/10 H9 [Vorentwurf der Szene Sigismund-Olivier]“, Hofmannsthal 2000, 365)² Während im höfischen Zeitalter die Geschichte noch durch souveräne Subjekte gemacht wurde – so Hofmannsthals sentimentalische Perspektive auf das Barock, das im Turm bereits im Verfall begriffen ist –, sind diese in der Moderne der Zwangsläufigkeit eines historischen Prozesses ausgeliefert. Denn Hofmannsthals Drama folgt seinem Protagonisten Olivier, indem es keine wirkliche Begründung für das Revolutionsgeschehen liefert. Es geschieht wie ein schicksalhaftes Ereignis, als eine bloße Fügung unter die abstrakte Notwendigkeit der Zeit: „Siehst du dieses eiserne Ding da in meiner Hand? So wie dies in meiner Hand ist und schlägt, so bin ich selbst in der Hand der Fatalität“ („Der Turm. Dritte Fassung“, Hofmannsthal 2000, 215). Olivier beschreibt sich als Instrument in der Hand eines Fatums, das nicht mehr – wie in Benjamins Lesart des barocken Trauerspiels – durch einen kreatürlichen Schuldzusammenhang begründet ist, sondern durch einen historischen Deter-

 Mit Dank an Alexander für seinen Esprit, seine Freundschaft und Kollegialität, und auch dafür, mich anlässlich der Tagung „Hofmannsthal und die Salzburger Festspiele“ (2021) und der Basler Ringvorlesung „Theatrum mundi. Das Theater als Weltmodell“ (2021) auf Hugo von Hofmannsthals Großes Welttheater angesetzt zu haben.  Vgl. zu Benjamins Einfluss auf Hofmannsthal und zum Geschichtsfatalismus Oliviers folgenden Artikel, auf den der erste Absatz des vorliegenden Aufsatzes zurückgreift: Gess 2016, 219 – 228. https://doi.org/10.1515/9783110773750-018

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minismus, der nicht auf Fortschritt, sondern auf das Verhängnis ausgerichtet ist: Die Revolution des Bolschewisten ist in Hofmannsthals Turm der Anfang vom „Untergang des Abendlandes“.³ Ich möchte diese Beobachtungen zum Ausgangspunkt nehmen, um ein anderes auf Calderón zurückgehendes Drama Hofmannsthals auf seinen Umgang mit der Figur der Revolution zu befragen: Das Salzburger Große Welttheater (1922), das auf dem Mysterienspiel El gran teatro del mundo (1655) basiert.⁴ Dabei konzentriere ich mich auf die Gestalt des Bettlers und seine Wandlung vom Bolschewisten zum „heilige[n] Eremiten“ (Hofmannsthal 1979a, 289), die beide – wenngleich auf unterschiedliche Weise – eine radikale Veränderung der Welt(‐bühne) anstreben: „Es muß für wahr und ganz ein neuer Weltstand werden“ (Hofmannsthal 1977, 50).

1 „[N]eu werden muß die Welt“ Hofmannsthals Welttheater entlehnt aus Calderóns Mysterienspiel, wie Hofmannsthal in der Vorrede schreibt, „die das Ganze tragende Metapher […]; daß die Welt ein Schaugerüst aufbaut, worauf die Menschen in ihren von Gott ihnen zu-

 Oswald Spengler ging in seiner Kulturzyklentheorie davon aus, dass die westliche Zivilisation das Stadium des Verfalls erreicht habe. Hofmannsthal hatte Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1919, 1922) mit Zustimmung gelesen.  Das Salzburger Große Welttheater wurde für die Salzburger Festspiele geschrieben, über deren politische und ideologische Agenda Wolf und Steinberg Auskunft geben. Hofmannsthal hat „[v]or seinem geistigen Auge […] offensichtlich eine Form der restauratio imperii des vornapoleonischen Alten Reichs“ (Wolf 2014, 78); die Konzeption der Festspiele ist „dezidiert antirationalistisch[], betont konservativ[] und zudem latent deutschtümelnd“ (Wolf 2014, 81). Das alles steht im Zusammenhang mit einer „invention of tradition“ (Steinberg 1990, 16), die u. a. durch Josef Nadlers Barockbegriff geprägt ist. Nadlers geopolitisch ausgerichtete Spekulationen in Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften sind für Hofmannsthal um diese Zeit attraktiv, weil sie ihm nach den Erschütterungen des Weltkriegs, dem Zerfall von Österreich-Ungarn und der Ausrufung der von ihm ungeliebten Republik eine neue Selbstvergewisserung ermöglichen. Nadlers Barockbegriff versah den Schriftsteller mit einer neuen künstlerischen Heimat und einer kulturpolitischen Aufgabe: der Wahrung der Theaterkultur des „bayerisch-österreichischen Stammes“, die wiederum die Erneuerung einer vermeintlich verlorengegangenen Totalität (völkische Ganzheit, Einheit von geistlicher und weltlicher Herrschaft, Theater als Gesamtkunstwerk) ermöglichen sollte, die Nadler anachronistisch dem Barockzeitalter zuschreibt und die Hofmannsthal für die Nachkriegszeit beschwört und über die Salzburger Festspiele wieder wachrufen will. Exemplarisch versucht er das mit seinem einzigen für die Festspiele geschriebenen Stück Das Salzburger große Welttheater zu verwirklichen, das sich generisch und inszenatorisch an Nadlers Barocktheater ausrichtet.

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geteilten Rollen das Spiel des Lebens aufführen; ferner der Titel dieses Spiels und die Namen der sechs Gestalten, durch welche die Menschheit vorgestellt wird“ (Hofmannsthal 1977, 7). Auch die Handlung folgt der barocken Vorlage recht genau. Eine Figur aus Calderons Mysterienspiel verändert Hofmannsthal jedoch grundlegend: den Bettler, den Hofmannsthal als Revolutionär, genauer als „Communist“ und „Bolschewist“ interpretiert und so eine Figur der jüngeren Zeitgeschichte in sein Schauspiel hineinholt (Hofmannsthal 1977, 165, 220 – 221).⁵ Schon die noch ungeborene Seele begehrt auf, als sie die Rolle des Bettlers erhalten soll; das tut sie zwar auch bei Calderón, bei Hofmannsthal geschieht das jedoch sehr viel ausführlicher, drastischer und vor allem grundsätzlicher, insofern die Seele die Rolle nicht nur für sich selbst zurückweist, sondern sie überhaupt für ungerecht erklärt und zugleich unter Berufung auf die Freiheit zur Tat das Prinzip des Schicksals bzw. der göttlichen Vorsehung infrage stellt: „[D]ie Jammerrolle spiel ich nicht! Und es soll sie kein anderer auch nicht spielen!“ (Hofmannsthal 1977, 19) „Nicht denken, daß einer soll verdammt sein, so zu leben!“ (Hofmannsthal 1977, 20) „Gib mir eine Rolle, in der Freiheit ist, so viel als eines braucht, um nicht zu ersticken.“ (Hofmannsthal 1977, 21) „Meine Seele dürstet nach Tat! Wo wäre in dieser jammervollen Rolle der Raum für eine einzige Tat?“ (Hofmannsthal 1977, 21) Zwar schickt sich die Seele schließlich doch noch in ihre Rolle, im Spiel prangert der Bettler dann jedoch erst recht die sozialen Verhältnisse an, in denen die einen an Krieg, Krankheit und Hunger zugrunde gehen, andere sich aber vor diesen Geißeln der Menschheit schützen können oder sogar ihren Profit daraus schlagen. Als Wurzel des Problems benennt er die ungleiche Verteilung des Reichtums, die auf der Ausbeutung des Nächsten basiere. Oder, mit Proudhon gesprochen: Eigentum ist Diebstahl: „Wer reich war, ist davon! Wer sich ein Pferd hat kaufen können, Hat mögen der Seuch aus dem Netz rennen!“ (Hofmannsthal 1977, 32) „Ihr habt, und ich hab nicht – das ist die Red, Das ist der Streit und das, um was er geht! […] Das alles habt ihr und woher? weil ihrs gestohlen, Gebaut das Haus auf Bruders schmählichem Verderbe!“ (Hofmannsthal 1977, 33 – 34) Dabei hat der Bettler nicht nur materielle Güter im Sinn, sondern er kritisiert auch die ungleiche Verteilung der Produktionsmittel. Der Reiche kann das Kapital für sich arbeiten lassen: „Denn jede Stunde, da Ware schneller rollt, Schafft neuen Wert, ist bares Gold“ (Hofmannsthal 1977, 27); der Bauer besitzt Grund und Boden; der Bettler hingegen verfügt nur über seine Arbeitskraft, die er verkaufen muss, um zu überleben. „Ob ihr an Arbeit für mich hätts?“ (Hofmannsthal 1977, 41) –

 Siehe auch den Brief von Richard Strauss an Hofmannsthal, 12. September 1922 (Strauss und Hofmannsthal 1970, 483).

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fragt er den Bauer, dem Hof, Wiesen, Feld und Garten gehören und der auch das „Schlagrecht“ für den Wald besitzt. Das versetzt den Bauer, wie der Bettler kritisch kommentiert, in die Lage, niemals Holz kaufen zu müssen: „Schlagrecht. Kein Klafter Brennholz, Tür und Dach, Nix kaufen, alles aus der eigenen Sach, Nix kaufen, Wiegen nicht und nicht das Hochzeitsbett“ (Hofmannsthal 1977, 43). Der Waldarbeiter hingegen hätte nichts von diesem Holz: „Schaff Holz fürs Bett, im Bett drin wird ein andrer liegen, An andern seine Kinder in der hölzern Wiegen.“ (Hofmannsthal 1977, 43) Überdies sind an das Eigentum des Bauern Rechte geknüpft, etwa das „Hausrecht“ und das „Herrenrecht“, auf das sich der Bauer beruft, um den Bettler in die Knechtschaft zu zwingen. Doch der Bettler dekonstruiert diese Rechte aus einer naturrechtlichen Position heraus: „Dieb! Deine Rechte sind g’stohl’n […] die Rechte sind lumpige Lakai’n, Die allezeit dem Stärkern dienstbar sein.“ (Hofmannsthal 1977, 45) Als der Bettler schließlich zur „Waldpolizei“ des Bauern und damit zum Komplizen der Herrschenden werden soll, setzt er zum gewaltsamen Umsturz an: „Der Weltstand muß dahin, neu werden muß die Welt, Und sollte sie zuvor in einem Flammenmeer Und einer blutigen Sintflut untertauchen, So ist’s das Blut und Feuer, das wir brauchen.“ (Hofmannsthal 1977) „Maul halten mit dem Wehgeschrei. Mach deine Seel fürs letzte End bereit. Jetzt kommt zum Ausgleich der uralte Streit. Fahr hin! Verreck im Straßengraben! Hab ich nix g’habt, sollst du das gleiche haben.“ (Hofmannsthal 1977, 45) Dass Hofmannsthal eine Figur der jüngeren Zeitgeschichte in sein Schauspiel holt, steht im Widerspruch mit dessen Anlage als Mysterienspiel. Im Unterschied zu den allegorischen Figuren Vorwitz, Schönheit, Weisheit, im Unterschied auch zu König, Reicher und Widersacher, die als bloße Typen agieren, bricht der Bettler aus der für ihn vorgesehenen Rolle aus, indem er revoltiert; zudem verfügt er über ein tragisches Einzelschicksal (Hof niedergebrannt, Frau und Vieh getötet, Kinder an einer Seuche gestorben), das eine Anteilnahme erzeugt, die dem Mysterienspiel eigentlich fremd ist. Man kann sich fragen: Was soll das? Warum das barocke Welttheater, wenn man sich mit der russischen Revolution auseinandersetzen will? Oder umgekehrt: warum eine Figur aus der jüngeren Zeitgeschichte, wenn es einem um über- oder außerzeitliche Mysterien geht? Diese Fragen haben sich auch Hofmannsthals Zeitgenossen gestellt. Sie haben zum Beispiel dafür gesorgt, dass weder die Katholiken oder Kapitalisten mit einem Werk, das ihnen Sympathien mit einem Kommunisten zumutete, noch die Kommunisten, die mit der Wandlung des Bettlers zum „heiligen Eremiten“ nicht einverstanden waren, viel anfangen konnten (vgl. Walk 1973, 111). Auch der Regisseur Max Reinhardt hatte Schwierigkeiten mit der Figur des Bettlers, insofern dieser zunächst als Sympathieträger aufgebaut wird, dann aber in seinen Entscheidungen unverständlich bleibt und schließlich durch seinen

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Gang in den Wald, der einem Abtritt von der (Welt‐)Bühne gleichkommt, dem Publikum sogar gänzlich entzogen wird. Dreh- und Angelpunkt dieses Problems ist die überraschende Wandlung des Bettlers vom kommunistischen Revolutionär zum heiligen Eremiten. Reinhardt war der Ansicht, dass sie dem Publikum verständlicher gemacht werden müsste: „[J]edes Argument, das zur Motivierung der plötzlichen Wandlung des Bettlers beiträgt, [ist] ein wesentlicher Gewinn […].“ (Helene Thimig an Hofmannsthal, 7. Mai 1922, Hofmannsthal 1977, 209) Zudem müsse der Bettler näher begründen, „warum er sich der Weltordnung nicht einfügt, nachdem er sie acceptiert hat, warum er vielmehr in die Einsamkeit […] flüchtet“ (Hofmannsthal 1977, 209). Hofmannsthal und Reinhardt greifen dafür auf das später im Turm weiter ausgearbeitete Motiv zurück: Der Bettler weigert sich, zum ‚Vollstrecker der Zeit‘ zu werden. Gemeinsam entwickeln sie die Idee zu einer Replik, in der etwa der König sagen sollte, dass der vom Bettler angedrohte Umsturz die geschmähte Weltordnung nicht ändern würde. (Der Bettler stiege auf den Thron, regierte die anderen mit der Macht des Königs u. der König würde zum Bettler. Die Teilung wäre nicht gerechter, nicht glücklicher […]. (Hofmannsthal 1977, 209)

Hofmannsthal setzt diese Überlegungen 1923 in Form einer kurzen filmartigen Pantomime um, die im Zusammenhang mit einer Welttheater-Aufführung in Amerika geplant war. Sie soll, wie Hofmannsthal schreibt, den geistigen Vorgang in der Seele des Bettlers, der zwischen dem Axt-heben und dem Sinken-lassen des erhobenen Armes liegt, in der Form versinnlichen, dass er blitzschnell in einer filmartig vorüberfliegenden Bilderfolge alles vor sich sieht was eintreten würde wenn er in diesem Augenblick seinen Gedanken zur Tat werden lässt. (Hofmannsthal 1977, 256)

Im Zentrum der Pantomime steht der Gedanke, dass die kommunistische Revolution an der „Truggewalt des Geldes und der Schlauheit“ nichts ändere, insofern der ehemalige Bettler und neue „Führer“ ebenfalls vom Geld des Reichen abhängig werde, der seinerseits „das hermetisch abgeschlossene Land [braucht], um im Innern schrankenlos zu raffen. Er ist die ‚practisch‘ gewordene Revolution“ (Hofmannsthal 1977, 257). (Antikommunismus und Antikapitalismus gehen hier Hand in Hand bzw. verbinden sich mit einer strukturell antisemitischen Figur: dem Geld raffenden Reichen, der sich parasitär bei jeglichem System bedient und dafür schließlich aus dem katholischen Universum des Welttheaters verstoßen wird.) Die Situation mündet am Ende erneut in die gewaltsame Auseinandersetzung, nur steht der ehemalige Bettler diesmal auf der Seite des Reichen und des Militärs: „[E]s erneuert sich die Situation – das streitkolbenartige Scepter in seiner

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Hand verwandelt sich in die Axt – diesmal aber lässt er den Arm sinken …“ (Hofmannsthal 1977, 257). Die Aufführung in Amerika kam nicht zustande. Doch hält Hofmannsthal an dieser Interpretation der Wandlungsszene fest, wie u. a. ein Brief vom Januar 1926 zeigt. Dort schreibt Hofmannsthal von einer Erkenntnis, die ihm durch die zweite Salzburger Aufführung 1925 gekommen sei und die er durch eine Textveränderung kenntlich gemacht habe, deren Zweck ist, die blitzschnelle Durchschauung der Dinge, welche dem Senken der Axt vorangeht und welche bisher in der Brust des Bettlers verschlossen blieb (Umsturz des Bestehenden, Ansichreißen der Gewalt; und was dann? aufs Neue Gewalt! Lenins Lösung), aus dieser Brust herauszunehmen und ins Wort sowie ins mimische Element zu bringen. (Hofmannsthal an Fritz Viehweg, Januar 1926, Hofmannsthal 1977, 220 – 221)

Hofmannsthal lässt in dieser Szene nun nicht mehr nur Weisheit und Bettler miteinander interagieren, sondern alle Figuren inklusive des Widersachers, der den Bettler dazu aufruft, die Krone zu ergreifen und Gewalt und Reich an sich zu reißen. König, Reicher, Schönheit und Bauer sind währenddessen angstvoll vor dem Bettler zusammengesunken; der Reiche hat jedoch das dem König aus der Hand gefallene Schwert an sich genommen und reicht es geduckt dem Bettler hin. Dann kommt es zur Konversion: „Des Bettlers Miene wechselt, ihn erfüllt ein Ekel, indem er auf die ihm Huldigenden hinblickt. Der erhobene Arm sinkt, die Hand wird schlaff, die Axt fällt zu Boden; dann wendet er sich zur Weisheit.“ („Das Salzburger Große Welttheater. Varianten“, Hofmannsthal 1977, 189) Die Situation liefert dem Bettler Einsicht in den „grässlichen Fatalismus der Geschichte“ (Georg Büchner an Wilhelmine Jaeglé, 10. März 1834, Büchner 1999, 377) – mit Georg Büchner gesprochen, dessen Danton-Figur aus Dantons Tod (1835) vor allem für Reinhardts Verständnis der Bettlergestalt prägend war: „Ich weiß wohl – die Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eigenen Kinder.“ (Büchner 2000, 22)⁶

2 „Nun weck ich selber mich“ Dass der Bettler mit seinem Axtschlag zum Vollstrecker einer fatalen zeitlichen Eigenlogik würde, dass sein Handeln keine ‚freie Tat‘ wäre, sondern er – mit dem Bolschewisten Olivier gesprochen – nur „in der Hand der Fatalität“ agierte, wird in der Salzburger Inszenierung auch durch die Engführung der Figur des Bettlers

 Diesen Ausspruch übernimmt Büchner aus Mignet 1824.

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mit der des Todes in der Szene der Entscheidung deutlich. Reinhardts Regiebuch lässt sich entnehmen, dass der Tod als Herr über die Zeit fungierte: In Reinhardt’s prompt book Death not only supervises the actors’ exits, he is responsible for the timing and integration of the entire ceremony. From his position on the upper platform Death announces the entrances and presides over all transitions in the central play by ringing on a small bell that invokes the clockwork principle. (Walk 1973, 100)

In der Tat verglich Reinhardt die Figuren des Schauspiels mit denen alter Turmuhren: „Die Bewegungen, genau eingeteilt und vorgeschrieben, geschehen ruckhaft, steif, primitiv wie bei mechanischen Figuren (etwa den Figuren in alten Turmuhren … entsprechend)“.⁷ Wenn der Tod mit einer kleinen Glocke klingelte, traten die Figuren vor, führten die für sie vorgesehenen Bewegungen aus, begleitet von einfachen, wiedererkennbaren Melodien: „Musik hinter der Scene (zum Puppenspiel)“⁸, „wie von einem Spielwerk“⁹. Erst im Moment der Entscheidung des Bettlers wird dieses unerbittlich weitertickende Uhrwerk plötzlich unterbrochen, indem der Bettler im Axtschlag innehält, gleichsam einfriert: „Bettler die Axt hocherhoben, blicklosen Blickes, steht ihnen allen furchtbar gegenüber […]. Eine Pause. […] Der Bettler steht vor ihr [der Weisheit] wie festgewurzelt“ (Hofmannsthal 1977, 46 – 47). Der Augenblick dehnt sich zu einem Raum der Entscheidung, den Reinhardt den Tod durchschreiten lässt: Tod […] geht im Halbkreis, steht vor dem Bauer mit seinem schwarzen Buch, wendet den Kopf zum Meister fragend, dann, nacheinander mit demselben Spiel tritt er vor die Schönheit, den König … steht schliesslich rechts von der Weisheit zückt mit einem jähen Ruck die Schwertklinge aus der Scheide seines Degens wartet gespannt, regungslos auf ein Zeichen von oben (das nicht kommt).¹⁰

 Reinhardt, Prompt book, Insert recto between Face page 25/Text page 25, zit. nach Walk 1980, 86.  Zit. nach Walk 1980, 86.Walk gibt formal keine eindeutige Quelle an, das Zitat scheint aber aus der Partitur von Einar Nilson, Das grosse Welttheater. Musik mit Benutzung einiger Themen von Händel und Einar Nilson: Partitur zu stammen (von Walk in der Newberry Library, Chicago, Illinois angeschaut), 28 – 34, 39 – 42.  Reinhardt, Prompt book, Insert recto between Face page 25/Text page 25, zit. nach Walk 1980, 86.  Reinhardt, Prompt book, Face page 51 verso, zit. nach Walk 1980, 84. Dieser Anweisung Reinhardts scheint jedoch Hofmannsthals nachträgliche Beschreibung zu widersprechen, nach der der Tod „unbeweglich wie eine Statue, auf einer hohen […] Säule gestanden“ habe, bis er zum „Abholen“ der Figuren „sein hohes Postament“ verlässt (Hofmannsthal 1979b, 307).

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Am Ende befinden sich sowohl der Tod als auch die für das Seelenheil des Bettlers betende Weisheit neben dem Bettler, damit seine Wahlmöglichkeiten symbolisierend. Schlüge der Bettler zu, würde er, wie Walk betont, zu „Death’s untimely agent and executioner“ (Walk 1973, 100). Entsprechend sieht die Weisheit den Bettler, dessen Schlag sie bereits erwartet, auch als Handlanger Gottes: Du [Gott] machst mit einem fürchterlichen Winke Dem anbefohlnen Spiel ein jähes End, Sieh willig uns von deiner Bühne weichen, […] Denn es ist nun an dem […] Daß wir sehr schnell von dieser Bühne schwinden […] Und er, des höchsten Willens arger Bot [d. h. der Bettler], Furchtbar gewürdigt, uns hinwegzurufen – Auch sein Spiel ist vorbei. (Hofmannsthal 1977, 46 – 47)

Schlüge der Bettler zu, agierte er also nur einen höchsten Willen aus; die Revolution wäre nichts als der Auftakt zum tödlichen Ende. Anders als Olivier weigert sich der bolschewistische Bettler jedoch, zum Vollstrecker der Zeit (und damit des Todes) zu werden. Stattdessen tritt er aus der zeitlichen Ordnung und damit auch aus dem Spiel heraus. Der Bettler ist nun in einer anderen Zeit unterwegs, die nicht mehr die der Weltbühne und ihrer Turmuhr ist: „Ich haus mit denen nicht, ich muß woanders hin, Mir hat die Sternenuhr die große Zeit geschlagen.“¹¹ Die große Zeit – das bedeutet hier die Transformation von Zeitlichkeit in den Raum der Ewigkeit: „[I]ch umblitzt von Ewigkeit.“ (Hofmannsthal 1977, 49) „Was weiß ich, wer ihr seid – was weiß ich, wer ich bin? Als wie von Ewigkeit Ist mir der Wald bereit.“ (Hofmannsthal 1977, 49) Der Bettler ist durch seine Wandlung bereits eingegangen in die Ewigkeit („Ich bin bei Gott“ [Hofmannsthal 1977, 50]), darum ist er am Ende auch der Einzige, der den Tod wie einen alten Freund begrüßt: „Bettler: Betrachtet ihn, erkennt ihn, sein Gesicht leuchtet auf. ‚Du!‘ Er breitet die Arme aus.“ (Hofmannsthal 1977, 61– 62) Für die anderen Figuren läuft die Erdenzeit nach der Wandlung des Bettlers zwar weiter, sie wirkt aber wie aus der Balance gebracht. Das beginnt mit einer unerwarteten Raffung der Zeit. Kaum ist der Bettler abgetreten, singt die Welt ein Lied („Flieg hin, Zeit“ [Hofmannsthal 1977, 52]), die Figuren schlafen ein, und die Schönheit muss nach ihrem Erwachen feststellen, dass sie alle stark gealtert sind: „Die Zeit! die Mörderin! die Zeit! Die Zeit ist über uns mit Räuberfaust gefallen, Hat böslich mißgetan an dir und mir und allen!“ (Hofmannsthal 1977, 53) Es folgt „Ein Paukeschlagen“ und „ein Windesrauschen“, mit dem auch die anderen Figuren „wie aus einer Starrheit“ erwachen, ihre Plätze verlassen und „durcheinander“

 „Das Salzburger Große Welttheater“, Hofmannsthal 1977, 50; vgl. dagegen z. B. der König: „Ich gehe mit der Zeit“ (Hofmannsthal 1977, 163).

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treten, „wie Träumende, indem sie jeder für sich sprechen“. (Hofmannsthal 1977, 54) In Reinhardts Inszenierung setzt hier bereits der Totentanz ein: „Ein dumpfer Paukenschlag … Der Tod steht plötzlich in der Mitte mit einer Trommel, er schlägt mit Knochen einen dumpfen Wirbel… Dann setzen Paukenklappern in einem zwingenden Rhythmus ein. Die Gestalten regen sich, kommen nach vorne händeringend im Takt durcheinander.“¹² Dabei stimmen der Paukenrhythmus und das Metrum der Verse zunächst nicht überein; der Effekt ist eine „rhythmic imbalance which also disturbs the pace of the action“, wie Walk schreibt: „The characters lose muscular control and spin around the stage like broken mechanical toys in a wild and erratic dance that leaves them dazed“ (Walk 1973, 103). Meiner Ansicht nach kann der gewandelte Bettler mit seiner temporären Transformation der zeitlichen Ordnung (des Dramas) als Figuration einer anderen Revolution verstanden werden. Fritz Gerlich hatte 1920 in seiner Schrift Der Kommunismus als Lehre vom Tausendjährigen Reich den Bolschewismus als eine „auf das Diesseits gerichtete Erlösungsreligion“ zu erklären versucht (zit. n. Fülöp-Miller 1926, 101). Es ist nicht klar, ob Hofmannsthal die Schrift kannte; sicherlich aber kannte er das allerdings erst 1926 erschienene Buch von René FülöpMiller Geist und Gesicht des Bolschewismus, in dem dieser sich auf Gerlichs Studie beruft, wenn er eine Verwandtschaft zwischen dem Bolschewismus und „den Ideen der russischen Sektierer, der ‚Raskolniki‘“ behauptet (Fülöp-Miller 1926, 105). Nach Ansicht der Sektierer läge der Grund allen Übels – und hier findet sich auch das oben bereits erwähnte strukturell antisemitische Motiv wieder – im „[S]chachern“: „Feindseligkeiten, Kriege, Blutvergießen, Hunger und Elend. Die Ursache aller dieser Schrecken […] sei der Reichtum, welchen nur der Böse brauche, während der Gute seiner nicht bedürfte“ (Fülöp-Miller 1926, 105). Bolschewismus und Sektierertum hätten also gemeinsam, dass sie „in jeglichem Privateigentum etwas Verabscheuungswürdiges, ein Mittel zum Bösen [sehen], und beide streben eine klassenlose Gesellschaft an […]. Auch das ‚Paradies auf Erden‘ ist nicht nur in den Prophezeiungen der Raskolniki enthalten“ (FülöpMiller 1926, 105). Den „Hang zum Chiliasmus, zum Glauben an die Herankunft des Tausendjährigen Reiches“ (Fülöp-Miller 1926, 105) hätten die Bolschewiki demnach von den religiösen Sekten übernommen. Hofmannsthal teilt diese Perspektive auf die kommunistische Revolution. Im Turm lässt sich das zum Beispiel darin wiederfinden, dass die Jehovisten,¹³ die mit  Reinhardt, Prompt book, Face page 59, zit. nach Walk 1980, 102.  Vgl. den Kommentar zu den Sämtlichen Werken, der unter Bezug auf Fülöp-Millers Bolschewismusbuch schlüssig darlegt: „Anregungen gewinnt Hofmannsthal insbesondere aus dem Kapitel ‚Der Bolschewismus im Lichte des Sektierertums‘, in dem Fülöp-Miller herausstellt, daß der Hang zum Chiliasmus, der Traum von einem ‚Paradies auf Erden‘, der die religiösen Brüder-

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Sigismund den Anbruch des Tausendjährigen Reichs gekommen sehen, sich in der Revolte mit dem Bolschewisten Olivier verbinden. Bei den Jehovisten handelt es sich also nicht um Gegner der Revolution, sondern nur um deren religiös bzw. mystisch gefärbte Kehrseite. Blickt man nun zurück auf Das große Welttheater, so eröffnet sich auf die Wandlung des Bettlers eine ähnliche Perspektive. Hofmannsthal hat die Wandlung des Bettlers klar als mystisch-religiös markiert. In der ursprünglichen Fassung ist es noch nicht die Einsicht in den „Fatalismus der Geschichte“, die den Bettler dazu bewegt, die Axt sinken zu lassen. Sondern der Bettler hat eine Epiphanie, die einen „Vorgang der Conversion, der inneren Umkehr, der Läuterung“ (Hofmannsthal an Alfred Roller, 30. März 1922, Hofmannsthal 1977, 206) auslöst: Der Bettler steht vor ihr [der für ihn betenden Weisheit] wie festgewurzelt; sein Gesicht verändert sich ungeheuer. Die erhobene Hand, darin die Axt, sinkt herab. […] Bettler zitternd: „Wo ist der Baum? […] Den ich wie Donner schlug, Der niederkrachend euch und mich begrub! Doch ich – […] was geschah? Wo ist das Licht? […] Das aus der Krone brach, Mit einer Menschenstimme zu mir sprach! War dies zuvor? war dies nachher? Weib – was geschah? Daß ich nicht auf dich schlug!“ […] Engel: „War das nicht Des Saulus Blitz und redend Himmelslicht?“ […] Bettler: „O du mein Gott!“ (Hofmannsthal 1977, 47– 48)

Was für den Regisseur unbefriedigend war, weil es dem Publikum den Inhalt der Vision und damit die eigentliche Motivation für die Umkehr vorenthielt, war für Hofmannsthal gerade der springende Punkt: Was nun in ihm erfolgt, liegt […] außerhalb des Gebietes des eigentlich dramatisch Möglichen und konnte nicht in einem gewöhnlichen Theaterstück, sondern nur in einem Mysterium gewagt werden. Es geht etwas in ihm vor, das einem blitzschnellen trance gleicht: eine Wandlung, ein vollkommener Umschwung. (Hofmannsthal 1979a, 288)

Hofmannsthal ging es gerade nicht um eine psychologisch motivierte Handlung, sondern um das unerwartete Ereignis, das „Wunder“,¹⁴ das den bisherigen Gang der Ereignisse unterbricht und eine radikale Wende einleitet. Der Bettler wird vom Bolschewisten zum „heiligen Eremiten“, bleibt jedoch von der Notwendigkeit einer radikalen Veränderung überzeugt: „Es muß für wahr und ganz ein neuer Weltstand werden, Sonst bleibt dies gar ein ärmlich puppig

schaften in Rußland beherrscht, auch im Mittelpunkt der bolschewikischen Heilslehre steht und daß deshalb beide, Bolschewismus und Sektierertum, gemeinsame Ziele und auch die gleichen Feinde haben“ („Der Turm. Dritte Fassung. Entstehung“, Hofmannsthal 2000, 240).  Brief von Richard Strauss an Hofmannsthal, 12. September 1922 (Strauss und Hofmannsthal 1970, 483 – 484, hier 483).

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Spiel.“ (Hofmannsthal 1977, 50) Entsprechend ordnet er sich nach seiner Wandlung immer noch nicht in dieses Spiel ein, sondern entzieht sich der bestehenden Ordnung sowohl zeitlich als auch räumlich: „[E]r [fügt] sich der Weltordnung nicht ein[], […] er [flüchtet] aus dem Spiel […]; [er entzieht] uns das Schauspiel seiner Wandlung“, so Reinhardt (Helene Thimig an Hofmannsthal, 7. Mai 1922, Hofmannsthal 1977, 209). Es sind nicht mehr die Signale des Todes (Glöckchen, Trommel), die den Bettler in Bewegung setzen, sondern jetzt heißt es selbstbewusst: „Nun weck ich selber mich“ (Hofmannsthal 1977, 50). Der Bettler will „an keinen Hauch der Zeit die innere Himmelsfülle“ (Hofmannsthal 1977, 49) mehr vergeuden; er richtet sich fortan nur noch nach der „Sternenuhr“. Als deren Hirte soll er auch den anderen Figuren eine andere Zeit weisen, insofern der Axt- zum Glockenschlag wird: „Sanft wie der Hirtenstab im Schattensaal Wandle die Axt voraus dem Himmelsstrahl, Und wie die Glocke tönt ihr voller satter Schlag Ins Dorf und melde Herbst und friedereichen Tag.“ (Hofmannsthal 1977, 51) Seine Ankündigung, in sich in der Waldeinsamkeit „den Sinn“ zu entzünden, sodass „um Mitternacht der finstre Wald wird tagen“ (Hofmannsthal 1977, 50), mutet chiliastisch an. Entsprechend wandelt sich auch die Bedeutung des Waldes. War der Wald zuvor Wirtschaftsgut und Rohstofflieferant, erscheint er nun, nach der Läuterung, als heterotopischer Raum der Verheißung, der Gottesnähe und der Versöhnung. Dazu passt auch das Dorfidyll, das hier erstmals auftaucht; zuvor war, vertreten durch die Stände, nur eine stark stratifizierte Gesellschaft sichtbar; nun werden Bilder des Friedens und der Ernte, eine Dorfgemeinschaft vereint im Klang der neuen Kirche aufgerufen. Auch die Sprache des Bettlers wandelt sich. Zeichnet er sich zuvor durch Schweigen und eine äußerst verknappte und imperativische sowie volksnahe Sprache aus, hält er nach seiner Wandlung einen langen Monolog; seine Sprache ist nun bildreich, durchsetzt von mystisch-hermetischer Semantik (z. B. Paradoxien wie „greifst du hart nach ihr, so ist sie jählings fern“, „ein Abgrund, über den sichs herrlich lehnet“ [Hofmannsthal 1977, 50 – 51]). In der Figur des Bettlers verbindet Hofmannsthal also den Kommunisten und den Sektierer, oder anders gesagt: Er kennzeichnet sie als zwei unterschiedliche Figurationen ein- und derselben Forderung nach einer radikalen Veränderung der Welt. Beide wenden sich gegen die vorgefundene Ordnung der barocken Welt(‐bühne), beide begehren auf bzw. treten aus dem Spiel aus, beide fordern den Anbruch einer neuen Zeit – „Der Weltstand muß dahin, neu werden muß die Welt“, „Es muß für wahr und ganz ein neuer Weltstand werden“ (Hofmannsthal 1977, 36, 50). Der kommunistische Bettler denkt dabei jedoch an innerweltliche Rache, Umsturz und Gerechtigkeit („Jetzt kommt zum Ausgleich der uralte Streit“ [Hofmannsthal 1977, 45]); der heilige Eremit hingegen weckt chiliastische Erwar-

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tungen vom Anbruch einer Heilszeit, die an der sozialen Ordnung gleichwohl wenig ändert. Hofmannsthals Drama bleibt – anders als die erste Turmfassung – im Hinblick auf diese Erwartungen jedoch unentschieden. Zwar werden, wie oben gezeigt, zahlreiche Andeutungen gemacht, die eine revolutionäre Lesart rechtfertigen. Gegen sie spricht jedoch, dass der heilige Eremit zugleich Desinteresse am Schicksal der anderen Figuren äußert („in dem Spiel bin ich er Bettler halt, Von dem ich Wesen anhab und Gestalt. Was soll ich denn von denen wollen? Ich kann doch nicht hinein in ihre Rollen! Noch deren Sprüch und Sprüng herein in meine reißen!“ [Hofmannsthal 1977, 50]) Ihm geht es primär um Selbst- als Gotteserkenntnis („Ich war – mein Seel – nicht frei, […] Des bin ich inne worden jäh, […] Ich will in wilden Wald, sie [die Freiheit] völlig zu erkennen – Mich deucht, sie ist von Gott, und bleib ich nur allein, So dringet sie durch Gott schon tief in mich hinein“ [Hofmannsthal 1977, 50 – 51]). Die Wandlung des Bettlers bleibt am Ende auch ohne Konsequenzen; nach der zeitlichen Konfusion fällt das Schauspiel im Laufe des Totentanzes in seine alte Ordnung zurück, in die sich schließlich auch der Bettler integriert. Aus seiner Einsamkeit bringt er die Erkenntnis mit, das Leben als „Gaukelspiel“ durchschaut zu haben: „Alles war Requisit!“ (Hofmannsthal 1977, 63) Die Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit in der Welt wird so umgemünzt in die Erkenntnis einer Freiheit von der Welt. Indem das irdische Leben als unwirklich und scheinhaft qualifiziert wird, entfällt der Veränderungsdruck; die ‚freie Tat‘ erfüllt sich in der Duldung, im ‚Sich-Schmiegen‘ in das von Gott Verfügte (vgl. Hofmannsthal 1977). Hofmannsthal stellt den revolutionären Bestrebungen der Moderne, seien diese kommunistischer oder millenaristischer Art, am Ende also eine Revolution im alten astronomischen Wortsinn entgegen: ein „Zurückwälzen“ der gesellschaftlichen Verhältnisse, hin zu einer barocken Weltordnung und einer renouveau catholique; übertragen auf die Bühne heißt das: die strenge Form des geistlichen Welttheaters, in die die zeitgeschichtlichen Figuren eines radikalen Umsturzes eingepasst und damit entkräftet werden.¹⁵ In diesem Sinne lässt sich Hofmannsthals Welttheater mit seiner Konversionserzählung auch als religiöse Überhöhung einer historischen Situation erklären, die Hofmannsthal als göttlichen Gnadenakt erlebte:

 Das ist noch nicht die „konservative Revolution“, von der Hofmannsthal einige Jahre später in Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1926) sprechen wird, aber das Modell der Umwandlung revolutionärer in reaktionäre, materialistischer in spirituelle/geistige Energie ist hier schon etabliert.

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welche Summe von Glück und Geborgenheit, welche Begnadigung von fast verwirkter Todesstrafe liegt […] in dieser Situation, wenn der effective Bolschewismus […], an den Grenzen Mitteleuropas Halt macht. Man muss solche Sachen im Grossen ansehen – und da haben wir […] früh und spät Gott zu danken. (Hofmannsthal an Georg von Franckenstein, um den 7. Oktober 1921, Hofmannsthal 1977, 196)

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Manfred Koch

Das Gedächtnis im Ohr: Vom Geschlecht des Erinnerns in Rilkes Sonette an Orpheus 1 Ein fliehendes Pferd Auf den ersten Blick spielt das Thema Erinnerung in Rilkes Sonetten keine besondere Rolle. Das Wortfeld ist schwach vertreten: „Erinnerung“ bzw. „erinnern“ kommen in den fünfundfünfzig Gedichten ganze dreimal vor (I.20, I.25, II.6), „vergessen“ zweimal (I.3, II.29). Ein klar identifizierbares autobiografisches Erinnern des lyrischen Ich gibt es nur in einem Sonett (vgl. I.20).Wie lässt sich dieser Befund vereinbaren mit der in der Forschung weithin akzeptierten These, Rilkes Spätwerk sei fundiert in einer Poetik der Erinnerung?¹ Man könnte einwenden, dass das Ausgehen vom Wortbestand zu einer falschen Fragestellung führt. Denn natürlich sind die Sonette Zeit-Dichtung in einem eminenten Sinn. Vergänglichkeit und Tod sind Hauptthemen, sie präsentieren sich schon im Untertitel als „Grab-Mal“, also Gedenkstätte, für die jung verstorbene Tänzerin Wera Ouckama Knoop.² Vom Sänger-Gott Orpheus, dem sie gewidmet sind, heißt es gleich zu Beginn, dass „er kommt und geht“ und deshalb keinen „Denkstein“ benötige (Rilke 1996, Bd. 2, 243). Die Wechselbewegung von Entzug und Wiederkehr, Auflösung und Neugestaltung ist so bestimmend durch den ganzen Zyklus hindurch, dass der Leser auch ohne Nennung der einschlägigen Wörter sich dem Rhythmus von Vergessen und Erinnern überantwortet fühlt. Nicht zuletzt ist der Orpheus-Eurydike-Mythos ja auch als Figuration eines Abstiegs ins Unterreich des Bewusstseins und des Versuchs einer Wiederbelebung der dorthin abgesunkenen Vergangenheit verstanden worden. Orpheus’ fatale Rückwendung zu Eurydike steht dann für das Scheitern des bewussten,  So Annette Gerok-Reiter (1996, 264) in der immer noch maßgeblichen Monografie zu den Sonetten: „Ohne Zweifel ist die Erinnerung die bestimmende poetologische Kategorie des Spätwerks.“  Das Sonett II.18, das Wera direkt anspricht, kreist um die Transformation vergänglicher Bewegung in die bleibende Gestalt der Kunst: „Tänzerin: o du Verlegung / alles Vergehens in Gang“ (Rilke 1996, Bd. 2, 266). ‚Kreist‘ kann hier wörtlich verstanden werden, weil das Sonett durchgängig die Figuration kreisender Bewegung (bis hin zu ekstatischer Rotation) unternimmt. Wie eine Vase auf der rasant sich drehenden Töpferscheibe entsteht (V. 11), so bildet sich – nur sehr viel weniger greifbar – die Vergänglichkeit negierende Tanzfigur, der „Baum aus Bewegung“ (V. 3), aus den „Wirbeln“ der Tänzerin. Das Gedicht realisiert diese Transformation mit den Mitteln der Sprache, deshalb ist bei solchem Über-„Gang“ auch „Gesang“ mitzuhören. https://doi.org/10.1515/9783110773750-019

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zielstrebigen Erinnerns, jene Proust’sche Erfahrung also, dass der intendierte Zugriff auf längst entschwundene Augenblicke der Lebensgeschichte von deren affektivem Gehalt nichts mehr vermittelt. Dennoch ist es sinnvoll festzuhalten, dass die Sonette an Orpheus die herkömmliche Erwartung an so etwas wie ‚Erinnerung im Gedicht‘ enttäuschen. Wer in ihnen Evokation von Vergangenem nach dem Muster der Erlebnislyrik sucht, geht leer aus. Das zeigt gerade das bereits erwähnte einzige Gedicht, das einen konkreten lebensgeschichtlichen Moment benennt und gestaltet: Dir aber, Herr, o was weih ich dir, sag, der das Ohr den Geschöpfen gelehrt? – Mein Erinnern an einen Frühlingstag, seinen Abend, in Rußland –, ein Pferd … Herüber vom Dorf kam der Schimmel allein, an der vorderen Fessel den Pflock, um die Nacht auf den Wiesen allein zu sein; wie schlug seiner Mähne Gelock an den Hals im Takte des Übermuts, bei dem grob gehemmten Galopp. Wie sprangen die Quellen des Rossebluts! Der fühlte die Weiten, und ob! Der sang und der hörte –, dein Sagenkreis war in ihm geschlossen. Sein Bild: ich weih’s. (Rilke 1996, Bd. 2, 250)

Orpheus ‚geweiht‘ wird nicht der ursprüngliche Augenblick: die Begegnung mit diesem Pferd, das sich selbst befreit hatte, bei seinem Aufbruch in die russischen „Weiten“ aber noch den Pflock der Fesselung an der vorderen „Fessel“ mit sich führte. Eine Beschwörung von animalischem „Übermut“, dem offenkundig der Übermut eines Schreibenden entspricht, der sich getraut, einigermaßen salopp auf „Galopp“ die Wörtchen „und ob“ zu reimen. Geweiht wird Orpheus das „Erinnern“ des lyrischen Ich (V. 3), das von der gleichen Plötzlichkeit und Beschwingtheit getragen ist wie dieses Heranstürmen des Pferdes. Dem unverhofften Auftauchen des Schimmels im erinnerten Augenblick korrespondiert die Bewegung der befreiten, ihrerseits schlagartig ins Weite ausgreifenden Erinnerung. Diese Dynamik des Herausspringens aus den Gebundenheiten alltäglichen Wahrnehmens und Handelns im mimetischen Mitvollzug markanter Vorgänge in der äußeren Natur ist das wichtigste Charakteristikum der orphischen Ereignisse, wie sie exemplarisch das erste Sonett vorstellt: „Da stieg ein Baum.“ (Rilke 1996, Bd. 2, 241) Wo eine solche energetische Erfahrung gemacht wird, da „singt“ Orpheus. Und das Gedicht versteht sich eher

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als Vergegenwärtigung, als Hörbarmachen solch erhebender, weitender Kräfte (außen wie innen) denn als Thematisierung realer Vergangenheitsmomente. Die Sonette an Orpheus zielen auf die akustische Gestaltung von Strömungen und Kraftlinien, von Spannungs- und Harmonieverhältnissen im „Weltinnenraum“, das heißt: auf die Wiedergabe von Unsichtbarem durch Entfesselung der asemantischen Sprachenergien von Rhythmus und Klang. Der ‚Pflock‘ der Bedeutung lässt sich zwar nicht gänzlich abschütteln, wird aber gleichsam mitgerissen in das große Kräftespiel einer extrem musikalisierten Sprache. Das kann man, wenn man will, als die Tendenz zur Abstraktion in Rilkes Spätwerk bezeichnen. Dass die Erinnerung und nicht der erinnerte Moment Orpheus geweiht wird, kann, noch radikaler, so verstanden werden, dass es erst die Erinnerung ist, die den eigentlichen, ekstatisch-beglückenden Erfahrungsgehalt schenkt. Es handelt sich dann um jenes kognitive Muster, das Rilke in den ersten Versen eines seiner programmatischen Gedichte aus den Krisenjahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg festgehalten hat: Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen, aus jeder Wendung weht es her: Gedenk! Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen, entschließt im künftigen sich zum Geschenk. (Rilke 1996, Bd. 2, 113)

Was zunächst, im alltäglichen Wahrnehmungsvollzug, als wenig bedeutsam registriert oder auch gar nicht eigentlich bemerkt wird, gewinnt in der Erinnerung überwältigende Präsenz. Und die Aufgabe des Dichters ist dann, wie Sonett I.20 zeigt, die Energie solcher Erinnerungsmomente in ein bleibendes Hör-„Bild“ (V. 14) zu überführen, das sich würdig dem von Rilke geschaffenen orphischen Sagenkreis eingliedert. In der Entwicklung von Vers 3 (Weihe der Erinnerung) zu Vers 14 (Weihe des „Bilds“) reflektiert das Gedicht seine eigene Genese. In den Briefen, in denen Rilke und Lou Andreas-Salomé sich unmittelbar nach der Niederschrift der Sonette im Februar 1922 über das fliehende Pferd ausgetauscht haben, wird zwar deutlich, dass den beiden damals, auf ihrer Russlandreise 1900, das Tier durchaus aufgefallen war. Lou spricht in ihrem Lebensrückblick sogar von ihrer gemeinsamen Fähigkeit, solche „gar nicht außerordentlichen Begebnisse“ spontan zu einer „Art erlebter Mythe“ zu erheben (Salomé 1974, 141). Die Trockenheit, mit der sie genau diese Szene wiedergibt – der „aus seiner Nachtherde entlassene Gaul, der einen strafenden Holzklotz am Fuße trug“ (Salomé 1974, 142) –, spricht aber eher dafür, dass sie als ‚nicht außerordentliches Begebnis‘ verbucht wurde. Rilkes Schreiben vom 11. Februar 1922 – der Brief über den Inspirationssturm, der die Vollendung der Duineser Elegien und der Sonette an Orpheus brachte – ist

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dagegen bemüht, das Herausspringen des Tiers aus dem leeren Raum des Vergessens bis ins Grafische hinein zu gestalten: Und stell Dir vor, noch eins […] schrieb ich, m a c h t e, das P f e r d, weißt Du, den freien glücklichen Schimmel mit dem Pflock am Fuß, der uns einmal, gegen Abend, auf einer Wolga-Wiese im Galopp entgegensprang –: wie hab ich ihn gemacht, als ein „Ex-voto“ für Orpheus! – Was ist Zeit? W a n n ist Gegenwart? Über so viel Jahre sprang er mir, mit seinem völligen Glück, ins weitoffne Gefühl. (Rilke/ Salomé 1989, 444– 445)

Wenige Wochen später, in dem Brief vom 6. März 1922, zeigt sich Lou als verständige Leserin der Elegien und Sonette, indem sie die Art und Weise, wie Kindheits- und Jugenderinnerungen in den beiden Gedichtzyklen evoziert werden, im Schlussvers der Neunten Elegie zusammengefasst sieht: „Überzähliges Dasein entspringt mir im Herzen.“ (Rilke/Salomé 1989, 453) Als habe sie noch Rilkes Schilderung, wie das russische Pferd seiner Herz-Erinnerung entsprang, vor Augen gehabt! Auffällig ist, dass das Sonett sich über eine vorstellbare reale Geräuschkulisse (wie das von Lou erwähnte „Gewieher“ der Pferde) ausschweigt. Es hält sich ganz an die visuellen Details. Hörbar gemacht wird eben nicht, was damals womöglich wirklich zu hören war, sondern Unsichtbares: das Entspringen des Tiers als Erinnerungssprung. Hörbar ist somit vor allem der „Takt des Übermuts“ (V. 9), den das Gedicht durch ein raffiniertes Arrangement von Versgliederung und Reimordnung vermittelt. Zum Übermütigen des Reims Galopp/und ob kommt ja noch hinzu, dass diese Reimwörter stark an „Pflock“ und „Gelock“ der zweiten Strophe anklingen. Die vier Verse, die auf diese Wörter enden – „Pflock“, „Gelock“, „Galopp“, „als ob“ –, sind um zwei bis drei Silben kürzer als die sie umarmenden. So entsteht rhythmisch eine Art Bremseffekt, ein wiederholtes instantanes Stoppen des daktylischen Ausgreifens, das die Verse an ihrem jeweiligen Ende für einen kurzen Moment hart aufprallen lässt: offenkundig eine Evokation des Hufschlags (verstärkt noch durch die o-Assonantik und die g-Alliterationen in Vers 10). Der wirkt anfangs noch „gehemmt“, gerät dann aber in freiere Schwingung, nicht zuletzt dadurch, dass das „Gelock“ der Mähne in seinem euphorischen Taktschlag gegen den Pferdehals klanglich eine ‚Glocke‘ assoziieren lässt. Der freche, an Morgenstern erinnernde Reim „Galopp/und ob“ markiert dann auch stilistisch ein lustvolles Freischwingen aus hemmenden Erwartungshaltungen an ,hohe‘, seriöse Dichtkunst. Natürlich weiß niemand, wie das Paar im Sommer 1900 das Pferd mit dem Holzpflock erlebt hat. Der Eintrag in Lous Reisetagebuch, der zeitlich nächsten

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Quelle, klingt eher nach Mitleid mit dem Tier, das durch den Pflock am ,wahren‘ Springen gehindert wird.³ Wenn in Rilkes Brief das Pferd „mit seinem völligen Glück“, ihm, dem Autor, „ins weitoffne Gefühl“ springt, ist jedenfalls evident, dass die Frage nach der ,Richtigkeit‘ der Erinnerung, nach Wohlbefinden oder Leiden des Tiers, nach den Umständen seiner Flucht etc., keine Rolle spielt. Es geht um das Glück des Zeit-Sprungs, genauer: des Zeit überbrückenden, Vergänglichkeit negierenden Sprungs entschwundenen Lebens in ein inspiriertes Erinnern und Schreiben hinein. Sonett I.20 steht damit im Horizont der von Rilke im Malte formulierten Erinnerungspoetik, die provokant das Vergessen geadelt hatte.⁴ Die einschlägige Passage findet sich nicht zufällig im vorderen Teil des Romans, in dem Rilke, wie er selbst bestätigt hat, vielfach eigene Familienerinnerungen in die erfundene Kindheitsgeschichte seines dänischen Helden verwob. Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. Man muß zurückdenken können […] an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt sind, […] an Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben mit so vielen tiefen und schweren Verwandlungen, an Tage in stillen, verhaltenen Stuben und an Morgen am Meer […] – und es ist noch nicht genug, wenn man an alles das denken darf. Man muß Erinnerungen haben an viele Liebesnächte, von denen keine der anderen glich, an Schreie von Kreißenden und an leichte, weiße, schlafende Wöchnerinnen […] Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht. (Rilke 1996, Bd. 3, 466 – 467)

 „Während wir an der Wolga standen, ertönte in den ganz stillen Abend, Gewieher, und ein munteres Pferdchen trabte schnell, nach vollbrachtem Arbeitstag, der Heerde zu, die irgendwo, weitab, in der Wiesensteppe nächtigte. […] Ein zweites Pferdchen, anderswoher, folgte mühsamer nach einer Weile: man hatte ihm, um es am wilden Springen ins Korn zu hindern, einen Holzblock an das eine Bein gebunden.“ (Andreas-Salomé 1999, 108) Hier hat sich das Pferd also gar nicht losgerissen, sondern wird nur am allzu wilden Galoppieren gehindert.  Darauf hat schon Hermann Mörchen (1958, 179) in seinem Kommentar zu I.20 hingewiesen.

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2 Ein schlafendes Mädchen Das poetologisch aufschlussreichste Gedicht des ersten Teils ist Sonett I.2. Es figuriert die Bewusstseinsprozesse des Wahrnehmens, Erinnerns und kreativen Schreibens in der Gestalt eines „Mädchens“, das sich im Ohr des lyrischen Ich ein Bett bereitet und an diesem exzentrischen Ort ‚die Welt schläft‘: Und fast ein Mädchen wars und ging hervor aus diesem einigen Glück von Sang und Leier und glänzte klar durch ihre Frühlingsschleier und machte sich ein Bett in meinem Ohr. Und schlief in mir. Und alles war ihr Schlaf. Die Bäume, die ich je bewundert, diese fühlbare Ferne, die gefühlte Wiese und jedes Staunen, das mich selbst betraf. Sie schlief die Welt. Singender Gott, wie hast du sie vollendet, daß sie nicht begehrte, erst wach zu sein? Sieh, sie erstand und schlief. Wo ist ihr Tod? O, wirst du dies Motiv erfinden noch, eh sich dein Lied verzehrte? – Wo sinkt sie hin aus mir? … Ein Mädchen fast … (Rilke 1996, Bd. 2, 241)

Die zweite Strophe, die offenbar auf eine spezifische Art des Sammelns und Bewahrens von Eindrücken durch eine ganze Lebensgeschichte hindurch zielt („die Bäume, die ich je bewundert“), ist in der Forschung sehr unterschiedlich kommentiert worden. Alexander Nebrig hebt in einer neueren Interpretation vor allem auf die Nähe zu Sonett I.1 ab, den Übergang also vom „Tempel im Ohr“ zum ,Mädchen im Ohr‘.⁵ Dass diese Grenzgängerin (ein „Mädchen fast“) etwas mit den Prozessen von Erinnerung und Vergessen zu tun haben könnte, wird hier nicht einmal erwogen. In der klassischen (und nach wie vor lesenswerten) Studie von Hermann Mörchen finden wir dagegen folgende, an der Alltagspsychologie orientierte Umschreibung: Die reine Bewunderung, mit der ich mich in den Anblick schöner Bäume versenken kann und die mich auch in der Erinnerung daran noch überkommt, das geheimnisvolle Angezogensein vom Zuge der Ferne, die beglückte Empfindung sonnbeschienener […] Wiesen und jedes derartige Staunen, das mich bis ins Innerste betroffen macht –, dies alles ist nicht mein Wachsein […], sondern „ihr Schlaf“. (1958, 60)

 „Der orphische Gesang versteinert nicht zum Tempel, sondern sucht sich als Mädchen zu personifizieren.“ (Nebrig 2016, 29)

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Mörchen handelt immerhin von Erinnerung, trifft aber deren spezifische Form in Sonett I.2 nicht. Richtig ist, dass der Welt-Schlaf dieses Mädchens ein höherwertiges Wachsein ist,⁶ eine Perzeption, die sehr wohl vieles aufnimmt, aber nicht als Wahrnehmung feststellbarer Sachverhalte durch ein selbstbewusstes Ich. Das innere Mädchen ist die Instanz, in deren Bewusstsein die Subjekt-Objekt-Entgegensetzung noch nicht existiert. Sie vollzieht eine Aufnahme von Welt, die dem, was für Kant Erkenntnis ausmacht – ‚etwas wird als etwas‘ identifiziert und in einer bestimmten Hinsicht begrifflich qualifiziert –, vorausliegt. Die rätselhafte Zeile „und jedes Staunen, das mich selbst betraf“ erklärt sich daraus, dass in solcher Wahrnehmung ja auch kein wissendes Ich vorhanden ist, das sich einer differenzierten äußeren Erscheinungswelt entgegensetzte.⁷ Die Sprache zwingt zur Unterscheidung von Bäumen, Wiesen etc. und betrachtendem Ich, der gemeinte Vorgang ist jedoch Einssein von Natur und Gefühl, gleichsam ein ungeschiedenes Baum-Staunen. Erst in einer nachträglichen Reflexion tritt das Ich als Träger dieses Gefühls vor diesem Naturobjekt hervor, wobei die merkwürdige Formulierung vom Betroffensein zu verstehen gibt, dass es sich nicht als Eigentümer eines solchen Geschehens begreift. Die moderne Psychologie spricht hier von „subliminaler Wahrnehmung“, ein Fachbegriff, der die umgangssprachliche Rede von Erfahrungen, die unterhalb der ‚Schwelle des Bewusstseins‘ verbleiben, nur ins Lateinische überträgt. Auf diese Erinnerungskonstellation hat Rilke großen Wert gelegt. Als besonders fruchtbar gilt ihm der Erinnerungsvorgang, bei dem es gar kein erstes Mal, das ‚ins Gedächtnis gerufen‘ werden könnte, gibt. Das vergangene Erlebnis ist vielmehr erst mit der Erinnerung da,⁸ die – gerade weil nichts bereits Bestimmtes, sprachlich schon ansatzweise Artikuliertes auf der Bewusstseinsbühne erscheint – als besonders beglückend erfahren wird. Diese Dimension des unwillkürlichen Erinnerns übersieht Mörchen, wenn er von einer ersten Versenkung in den „Anblick schöner Bäume“ ausgeht, die dann „auch in der Erinnerung“ noch wirksam sein könne. Das Beseligende des Erinnerungsvorgangs liegt in ihm selbst, in seiner Kreation des ursprünglichen Erlebnisses, nicht in der Reproduktion eines ersten, ‚damaligen‘ Glücks. Es liegt nahe, hier den Bogen zurückzuschlagen zu einem der wichtigsten poetologischen Rilke-Gedichte: Wendung von 1914. Dort taucht im Schlussteil ein

 „Hier ist Schlafen nicht ein gegenüber dem Wachsein gemindertes, sondern ein vollkommeneres Sein: denn es ist Einigsein.“ (Mörchen 1958, 61)  Insofern ist Nebrigs Lesart von Vers 9, nach der hier auch ‚die Welt schläft‘ („Sie schlief, die Welt“), plausibel: Es handelt sich auch um eine noch nicht durchgängig bestimmte, eine noch unartikulierte Welt (2016, 30).  Noch einmal sei auf das Gedicht Es winkt zu Fühlung verwiesen.

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„inneres Mädchen“ als kreative Bewusstseinsfigur auf. In einer durchaus stereotypen Entgegensetzung von männlicher Rationalität und weiblicher Unbewusstheit steht das Mädchen dort für die psychische Instanz, die der „innere Mann“ sich um der künstlerischen Vollendung willen zu eigen machen muss, ein Synonym geradezu für das dem lyrischen Ich aufgetragene „Herz-Werk“: Werk des Gesichts ist getan, tue nun Herz-Werk an den Bildern in dir, jenen gefangenen; denn du überwältigtest sie: aber nun kennst du sie nicht. Siehe, innerer Mann, dein inneres Mädchen, dieses errungene aus tausend Naturen, dieses erst nur errungene, nie noch geliebte Geschöpf. (Rilke 1996, Bd. 2, 102)

Künstlerische Kreativität ist für Rilke eine dezidiert weibliche Gabe.⁹ Wiederholt hat er sein eigenes Talent auf das „Weibliche in mir“ (Rilke/Salomé 1989, 256) zurückgeführt. Begeistert zitiert er in einem Brief die Erzählung des norwegischen Lyrikers Sigbjørn Obstfelder von einem Mann, der, sobald er den Mund aufmachte und berückend sprach, eine Art Geschlechtsumwandlung erfuhr: „als hätte eine Frau in ihm Platz genommen“ (Rilke 1980, 104). Über die Weiblichkeitskomponente in Rilkes Persönlichkeit und Werk ist viel geschrieben worden, Erhellendes (z. B. Kanz 2009) wie wild Spekulatives.¹⁰ Hier gilt es nur festzuhalten, dass Rilke mit dem weltschlafenden Ohr-Mädchen einmal mehr seine große Distanz zu allen Konzepten der literarischen Konstruktion, des poetischen Kalküls ausdrückt. Die ersten zwei Sonette an Orpheus präsentieren sein Gegenmodell der Gedichtentstehung. Ausgangspunkt sind mimetische Naturimpulse, vielfach tatsächlich jene „Signale aus dem Weltraum“, von denen Rilke, wenn auch mit selbstironischem Unterton, gegenüber Nanny Wunderly in dem Jubelbrief über die Elegien- und Sonette-Vollendung handelt (vgl. Rilke und Wunderly-Volkart 1977, 673). Wo mimetisches Erleben das Subjekt eins werden

 „Es ist so natürlich für mich, Mädchen und Frauen zu verstehen; das tiefste Erleben des Schaffenden ist weiblich.“ Rilke 1980, 104 (Brief vom 20. November 1904)  Der Klassiker hier ist Erich Simenauers Studie Pregnancy Envy in Rilke (1954). Sie stützt sich auf Lou Andreas-Salomés Betrachtungen über Rilkes „Mannheit“, die „zum Zeugnis ihrer schöpferischen Kraft beide Geschlechtlichkeiten in sich vereinig[t]“ habe. Die Gefährdung solch doppelgeschlechtlichen Künstlertums liege freilich darin, „in ein undarstellbares Verlangen nach Schwangerschaft“ hineingerissen zu werden (Andreas-Salomé 1988, 46). Daraus konstruiert Simenauer, spiegelbildlich zum weiblichen Penisneid, einen männlichen Schwangerschaftsneid mit dem exemplarischen Repräsentanten Rilke.

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lässt mit bestimmten Natur-Äußerungen – Bewegungsereignissen wie der Flugkurve eines Vogels, dem Aufglühen eines Sterns –,¹¹ da „singt“, wie oben erläutert, Orpheus, und er singt – missverständlich ausgedrückt – außen wie innen. In diesem Sinn wird das Gedicht für Rilke empfangen. Das zweite Sonett führt nun einen wichtigen Aspekt ein, der regelmäßig von denen übersehen wird, die Rilke eine unzeitgemäße Inspirationspoetik attestieren.¹² Um es erneut in der Geschlechtermetaphorik zu formulieren: Auf die Empfängnis folgt ein langes Austragen, das ein beständiges Aufnehmen weiteren gedichtnährenden Stoffes ist. Für die Rezeptivität in diesem Reifungsprozess steht das innere Mädchen, eine Gedächtnisfigur jener subliminalen Wahrnehmung, deren Gehalte, rationaler Kontrolle entzogen, langsam und kontinuierlich in die Gedichtgenese einfließen. Bis dann, steuerbar allenfalls durch Techniken intendierter Unwillkürlichkeit, das wirkliche ‚Gebären‘ einsetzt. So deutlich Rilke allerdings den Akzent auf das hingegebene Empfangen und das geduldige Warten in der Gedichtgenese legt, so unverkennbar kommen doch auch ‚männliche‘ Aspekte ins Spiel. Denn die innere Formung, das möglicherweise sehr lange In-sich-Reifenlassen des werdenden Textkörpers, ist bei ihm, um es mit einem seiner Lieblingsbegriffe zu sagen, auch ein permanentes „Leisten“. Rodins Vorgabe des „toujours travailler“ hat Rilke in der Organisation seines Alltags nur selten in die Tat umgesetzt. In der stetigen Ausrichtung seines Privatlebens auf die unterschwellige „Arbeit“ am werdenden Gedicht hat er ihr dagegen, oft über das psychisch Erträgliche hinaus, genügt. An diesem Punkt erschließt sich die Bedeutung des auf den ersten Blick skurrilen Details, dass das Mädchen im Ohr des lyrischen Ich schläft. Es geht um die Verwandlung von Eindrücken in Klang. Oder besser: um die Klangfähigkeit der schlummernden, d. h. nie explizit als bestimmte Erinnerungen im poetischen Ge-

 Und solche Bewegtheit erfährt Rilke eben auch an Objekten, die nach gängiger Auffassung immobil sind: immer wieder Bäume, die vor seinen Augen nahezu explosiv ‚aufsteigen‘ können, dann auch anorganische Gebilde wie Berge, Türme, Wege.  Der einflussreichste Rilke-Verächter unter den hochgebildeten Lyrikkennern war Hugo Friedrich. Fixiert auf die „Diktate“ von Duino 1912 und Muzot 1922, unterstellt Friedrich für das Werk Rilkes eine naive Inspirationspoetik der reinen ‚Eingebung‘ und schließt ihn deshalb aus dem Kreis der modernen Lyrik aus. Interessant ist, dass auch Friedrich mit der Geschlechtertypologie operiert. Moderne Lyrik ist nämlich, wie wir erfahren, männlich: „Die Verzauberung, die von modernen Gedichten ausgehen kann, ist männlich gezügelt.“ (Friedrich 1985, 161) Dass viele Leser auch nach dem Zweiten Weltkrieg nach wie vor an die „inspirative Ergriffenheit“ glaubten, daran trage die Schuld ein „deutscher Dichter des 20. Jahrhunderts, der künstlerische Größe hat, aber geschlechtslos ist“ (Friedrich 1985, 161). Den nie mit Namen genannten Rilke für ‚weibisch‘ zu erklären, hat Friedrich sich offenbar nicht getraut, deshalb die Verlegenheitslösung „geschlechtslos“.

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dächtnis gespeicherten Erfahrungsgehalte.¹³ An den Sonetten wird abermals deutlich, dass Musizierbarkeit das entscheidende Kriterium dafür ist, was an Gegenständlichem, Weltlichem in Rilkes Lyrik erscheint. In einem Brief an Marliese Gerding vom Mai 1911 hat Rilke exemplarisch am ersten Teil des Stundenbuchs erläutert, wie sein Schreiben vom Wortklang ausgeht und durchgängig an ihm orientiert bleibt.Worte, heißt es, „stellten sich unverhofft ein,Worte, die aus mir austraten und im Recht zu sein schienen“ (Rilke 1980, 280 – 281). Er beginnt, sie aufzuschreiben, zunehmend wird das Ganze nun „Arbeit“ (Rilke 1980, 281), die planmäßig voranzutreiben ist. Die Integration neuer Einfälle und Erinnerungen in den wachsenden Gedichtzyklus vollzieht sich indessen durchgängig als „Eingehen auf eine innere Akustik“ (Rilke 1980, 281; Hervorhebung des Verfassers). Die Verkörperung dieser inneren Akustik wäre das Mädchen im Ohr. Um es etwas zeitgemäßer (und weniger geschlechtermythologisch) zu formulieren: Sie ist die Tontechnikerin in jenem tief verborgenen Aufnahmestudio, das den Rilke-Sound produziert. Auf das Versmelos horchend und ihm jederzeit den Vorzug vor dem Begrifflichen gebend, hat Rilke immer geschrieben (auch in der mittleren Werkphase, die im Zeichen einer Poetik des „Schauens“ steht).¹⁴ Wenn er für sein Spätwerk den ungeheuren Anspruch erhebt, die „Schwingungs-Sphären des Universums“ (Rilke 1980, 898) im Medium seiner vibrierenden Sprache wiederzugeben und damit selbst an diesem umfassenden Schwingungsgeschehen zu partizipieren,¹⁵ dann

 In einer Andreas-Salomé gewidmeten Gedichttrilogie, die Ende 1911 in Duino kurz vor den ersten zwei Elegien entstand, verkündet Rilke sogar programmatisch – und vermutlich gegen die seine Freundin mehr und mehr begeisternde Psychoanalyse gerichtet – seine schriftstellerische Abkehr von der Erinnerung an einzelne, konkrete Momente der Lebensgeschichte. Sie, die ehemalige Geliebte, geht demnach einzig als affektiver „Niederschlag“ in sein Schreiben ein: „Entsinnen ist da nicht genug, es muß / von jenen Augenblicken pures Dasein / auf meinem Grunde sein, ein Niederschlag / der unermeßlich überfüllten Lösung. / Denn ich gedenke nicht, das was ich bin / rührt mich um deinetwillen“ (Rilke 1996, Bd. 2, 18).  Was in diesem Dichten „unter dem Primat der Klangmaterie“ die Stundenbuch-Lyrik von der der Sonette unterscheidet, hat Gerok-Reiter vorbildlich herausgearbeitet (vgl. das Kapitel „Die Sprache der Form“, 68 – 113, sowie die Ausführungen zum „generativen Prinzip“, 121– 126 und 140 – 141). Gerok-Reiter verweist darauf, dass Rilke die anfangs als bloße Beigabe zu den Elegien betrachteten Sonette selbst erst schätzen lernte, als er sie laut vor Hörern vorlas. Was das vieldiskutierte Verhältnis der Sonette zu den Elegien betrifft, darf daran erinnert werden, dass schon der erste Schub der Elegien-Entstehung im Winter 1912 einherging mit einer sturzgeburtartigen Produktion gereimter, metrisch überwiegend regelmäßiger Gedichte: dem Marienleben. Es scheint, als sei die Elegien-Dichtung in ihrer härteren Fügung dadurch möglich geworden, dass ein klangmagischer Grundstrom sie trug.  Zu Rilkes Poetik der „Schwingung“ vgl. den exzellenten Aufsatz von Alexander Honold über die „Schweiz als Klangkörper“ (Honold 2014), der – in diesem Kontext besonders aufschlussreich

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heißt das konkret, für Rilkes Schreibverfahren, ein Ausgehen vom Schwingungsgrad der Wörter, des Klangpotenzials ihrer Phoneme, der rhythmischen Energien ihrer Zusammenstellung in Sätzen, Versen, Strophen.

3 Ein toter Dichter So muss auch das Geschehen in den zwei Terzetten von Sonett I.2 zunächst vor allem gehört werden. Semantisch geht es mit dem abrupten Einsatz in der Schlussstrophe um eine klare Entgegensetzung von ‚Geburt‘ („sie erstand“), schlafendem Leben und ‚Vollendung‘ des Mädchens auf der einen und ihrem „Tod“ auf der anderen Seite. Dem scheint klanglich ein konventioneller Kontrast von heller /i/- in der dritten und dunkler /o/-Vokalität in der vierten Strophe zu entsprechen. Hört man genauer hin, setzt Strophe vier aber ein mit einer oszillierenden Klangbewegung zwischen Hell und Dunkel: „Wo ist ihr Tod? O wirst du dies Motiv“ (o-i-i-o / o-i-u-i-o-i). Hier kommt mit den polaren Paaren Wachen/Schlafen und Leben/Tod auch dasjenige von Erinnern und Vergessen wieder ins Spiel. Und zwar so, dass, wie bei den anderen zwei, die im gewöhnlichen Verständnis eindeutige Polarität sich auflöst in ein verwirrendes Ineinanderübergehen der Gegensätze. Der Schlaf des Mädchens ist ein höheres Wachsein. Erwacht das Mädchen aus diesem Schlaf, büßt es jenes nächtige Einssein mit der Welt ein, das in Rilkes Mythopoesie die beständige – und höchst lebendige! – Arbeit des Todes in den Tiefen des Subjekts ist.¹⁶ So erleidet es als kreative Instanz den Tod. Wo das „Mädchen fast“ in diesem Sinn in den Bereich des Sichfassens, der begrifflichen Reflexion, gerät, wird das poetische Gedächtnis, das eigentlich nichts weiß, zum bewussten Erinnern, das in Wahrheit Vergessen ist: „Wo sinkt sie hin aus mir?“ Die zweimaligen Auslassungspunkte markieren grafisch die Fundierung poetischer Erinnerung in der mächtigeren Dimension des Vergessens. Jederzeit kann entgleiten, was im prekären Modus der Nichtthematisierung in das fürs Schreiben einzig relevante Gedächtnis eingegangen ist.

– auch zeigt, wie die wichtigsten Inspirationslandschaften des späten Rilke (Provence, Toledo, Wallis) sich als Schwingungs-Räume im poetischen Gedächtnis assoziieren.  So erläutert es der bekannte Brief an die Gräfin Sizzo vom 6. Januar 1923, der dazu aufruft, das Wort Tod „ohne Negation“ zu lesen, es also vom physischen Ableben zu unterscheiden und selbst als abgründigen Bestandteil des Lebens zu begreifen: „[W]ie der Mond, so hat gewiß das Leben eine dauernd abgewandte Seite, die nicht sein Gegenteil ist, sondern seine Ergänzung zur Vollkommenheit.“ (Rilke 1980, 806 – 807)

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Das Motiv des Die-Welt-Schlafens als Er-Schlafen des Gedichts hat Rilke zuletzt wieder aufgenommen in seinem Grabspruch: Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern. (Rilke 1996, Bd. 2, 394)

Man kann, ausgehend von der Homofonie Lider/Lieder, diesen berühmten Versen die Aussage entnehmen, dass hier einer ruht – nicht mehr ist, „niemand“ ist – der so viele Lieder hinterlassen hat. Wer das Sonett I.2 im Gedächtnis hat, wird im Grabspruch aber doch mehr entdecken als den Hinweis auf den Todesschlaf eines produktiven Lyrikers. Es ist ein letztes Bekenntnis zum Mädchen in sich als der Instanz, der – jenseits aller tatsächlichen Liebesverstrickungen – die eigentliche „Lust“ dieses Autors galt. Und der deshalb als soziales Wesen, als der Bürger Rainer Maria Rilke, von dem man Verlässlichkeit, Pflichtgefühl und berufliche Tüchtigkeit hätte verlangen können, ein „Niemand“ blieb. In seinen geschlossenen Augen indes: ein „reiner“ Niemand.

Literatur Andreas-Salomé, Lou. Russland mit Rainer. Tagebuch der Reise mit Rainer Maria Rilke im Jahre 1900. Hg. Stéphane Michaud. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft, 1999. Andreas-Salomé, Lou. Rainer Maria Rilke. Hg. Ernst Pfeiffer. Frankfurt am Main: Insel, 1988. Andreas-Salomé, Lou. Lebensrückblick. Hg. Ernst Pfeiffer. Frankfurt am Main: Insel, 1974. Friedrich, Hugo. Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Erweiterte Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1985. Gerok-Reiter, Annette. Wink und Wandlung. Komposition und Poetik in Rilkes ‚Sonette an Orpheus‘. Tübingen: Niemeyer,1996. Honold, Alexander. „Ur-Geräusch und Felsenkessel. Die Schweiz als Klangkörper“. Blätter der Rilke-Gesellschaft 32 (2014): 68 – 90. Kanz, Christine. Maternale Moderne. Männliche Gebärphantasien zwischen Kultur und Wissenschaft (1890 – 1933). München: Fink, 2009. Mörchen, Hermann. Rilkes Sonette an Orpheus. Stuttgart: Kohlhammer, 1958. Nebrig, Alexander. „Sonett I.2“. Über ‚Die Sonette an Orpheus‘ von Rilke. Lektüren. Hg. Christoph König und Kai Bremer im Auftrag des Peter Szondi-Kollegs. Göttingen: Wallstein, 2016, 28 – 31. Rilke, Rainer Maria. Werke. Kommentierte Ausgabe. 4 Bde. Hg. Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski und August Stahl. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel, 1996. Rilke, Rainer Maria. Briefe. Hg. Rilke-Archiv, besorgt durch Karl Altheim. Frankfurt am Main: Insel, 1980. Rilke, Rainer Maria und Lou Andreas-Salomé. Briefwechsel. Hg. Ernst Pfeiffer. Frankfurt am Main: Insel, 1989.

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Kafkas Zeitsätze Kafka hat Zeitlichkeit stets sehr penibel registriert, und dies in den unterschiedlichsten Formen. Über die Zeit des Schreibens etwa, die er aus seinem Tagesablauf herauszuschälen versuchte, heißt es in den Tagebüchern: „Neue Tageseinteilung von jetzt ab! Noch besser die Zeit ausnützen!“ (Kafka 2002, 713) Und dann wieder: „Alles stockt. Schlechte unregelmäßige Zeiteinteilung.“ (Kafka 2002, 728) Wenn es gut ging, konnte er beim Schreiben die Zeit vergessen, wie in jener Nacht, in der er das Urteil schrieb. Zeitangaben markieren aber auch oftmals den Einsatzpunkt seines Erzählens. Man denke an Gregor Samsa, der in der Verwandlung um mehrere Stunden verschlafen hat. Seinen Fünfuhrzug verpasst zu haben ist zunächst seine größte Sorge. Die Köchin von Frau Grubach, so beginnt der Proceß-Roman, kam jeden Tag gegen acht Uhr morgens mit dem Frühstück zu Josef K., nur eben an seinem dreißigsten Geburtstag nicht. „Eines Morgens“ (Kafka 1990, 7) wird er verhaftet, so heißt es im Roman, dabei ist es doch sein Geburtstag. Und diese Diskrepanz in den Zeitangaben setzt sich fort. K. ist von den Ereignissen so überrascht, dass er gleich drei Schnäpse trinkt, aber nur eine Woche später ist er übernächtigt, weil er „wegen einer Stammtischfeierlichkeit bis spät in die Nacht im Gasthaus geblieben war“ (Kafka 1990, 52). K. misst die Zeit genau, er liest sie an Uhren und Kalendern ab, auch wenn die nur selten mit seinem eigenen Zeitsinn übereinstimmen. Zu seiner ersten Voruntersuchung, ein genauer Termin war ihm gar nicht gegeben worden, erscheint er eine Stunde und fünf Minuten zu spät (vgl. Kafka 1990, 59), obwohl er sich fest vorgenommen hatte, pünktlich um neun Uhr einzutreffen. Ebenso aufschlussreich für Kafkas Texte ist jedoch eine andere Form der Zeitlichkeit, die man mit dem Typus des Temporalsatzes beschreiben könnte. Zeitsätze sind in der Regel Nebensätze, die meist mit situativen und zeitlichen Angaben einem Hauptsatz beigeordnet sind, entweder als vorzeitiges, nachzeitiges oder simultan sich ereignendes Geschehen. „Als“, „nachdem“, „bis“, „während“ oder „bevor“ sind einige der häufigsten Konjunktionen, mit denen sich diese adverbialen Zeitangaben an die Hauptsätze heften, so in etwa würde eine deutsche Grammatik die Struktur von Temporalsätzen beschreiben. Die Beschreibung von Satzformen ist allerdings gerade zur Zeit Kafkas nicht nur ein rein grammatikalisches Unterfangen. Satzformen werden auch als logische Aussagen oder aus sprachphilosophischer Sicht behandelt. Der Satz, so schreibt Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus etwa, „bestimmt einen Ort im logischen Raum.“ (Wittgenstein 1984, 25) Um einen Satz zu verstehen, müsse man über ihn hinaussteigen und „sozusagen die Leiter wegwerfen“. Erst dann könne man die Welt https://doi.org/10.1515/9783110773750-020

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„richtig“ sehen (Wittgenstein 1984, 85). Gerade das Verhältnis von Logik und Grammatik wurde zur Zeit Kafkas durchaus kontrovers diskutiert. Wie Anton Marty, ein Schüler Franz Brentanos, in seinen Vorlesungen an der Universität Prag darlegte, suchten sich die Sprachwissenschaften seinerzeit von der Logik abzugrenzen (Marty 1893, 99 – 100). Nicht alle sprachlichen Formen lassen sich auf Regeln bringen. Es könne etwas sprachlich „völlig richtig und dennoch logisch unrichtig sein“ (Marty 1893, 102), ganz zu schweigen von der lautlichen Gestaltung eines Satzes, die auf individuellen Assoziationen beruhen mag (Marty 1893, 107). Die Klassifizierung von Sätzen ist daher niemals eindeutig, da sich syntaktische Strukturen unterschiedlich deuten lassen (vgl. Marty 1950, 17– 18). Doch bevor man derlei diskursgeschichtlichen Kontexten weiter nachforscht, ist zunächst aufschlussreich, dass Kafka auch seine ganz eigene, poetische Satzdisziplin hatte. In seinem Tagebuch unterscheidet er stets zwischen Lauten, Worten und Sätzen: „‚Wenn er mich immer frägt‘ das ä losgelöst vom Satz flog dahin wie ein Ball auf der Wiese.“ (Kafka 2002, 9) Sätze waren für Kafka aber nicht nur eine Art Wortgehege, in denen die jeweiligen Worte zusammenkamen, sondern spezifische Formen des syntaktischen Zusammenhangs, die über ihre innere Form hinaus oftmals Bewegungen evozierten. Konjunktionen waren ihm dabei besonders wichtig.¹ „Dass“-Sätze oder „Wenn-dann“-Sätze etwa finden sich besonders häufig in seiner Prosa, wobei die rein logische Struktur dieser Wendungen ihre poetische Wirkung kaum erschöpfend zu beschreiben vermag. Der Wunsch, Indianer zu werden beispielsweise ist ein „Wenn“-Satz, der zwei „denn“, aber kein „dann“ enthält, gerade darum aber den Rhythmus eines galoppierenden Pferdes evoziert: „Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.“ (Kafka 1994, 32– 33) Das „e“ hat sich aus dem „Wenn“ gelöst, um dann zweimal mit einem „denn“ aufzusetzen. Und der kurze Text Die Bäume, den Kafka direkt unter den „Wunsch“ platzierte, beginnt mit einem „Denn“, dass kein „Wenn“ enthält. Der plötzliche Spaziergang – schon dem Titel nach ein Oxymoron (vgl. Willer 2003, 36; Battegay 2013, 15) – enthält insgesamt zehn Sätze, die mit einem „Wenn“ beginnen und so eine allmähliche Bewegung in Gang bringen. In Auf der Galerie folgt auf die beiden „Wenn“-Sätze, mit denen eine Kunstreiterin in die Manege geführt wird, ein „vielleicht eilte dann“ und schließlich: „Da es aber nicht so ist“ (Kafka 1994,

 Zumal Kafka zu Verwechslungen neigt. Im Tagebuch etwa notiert er den Satz „Bringen Sie die Zeitung, bis sie ausgelesen ist“ – „bis“ statt „wenn“ (Kafka 2002, 722). Siehe dazu Tobias 2009, 123.

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262). Diese Beispiele zeigen, wie bei Kafka aus Satzformen Texte hervorgehen, wobei der logische Einsatz einer Konjunktion oftmals eine bestimmte Form der Zeitlichkeit initiiert. Jedes „Wenn“ scheint zu einer Art Folge zu schnellen, ohne diese immer einzuholen. Meist chronologisch auf einen Zielpunkt gerichtet, folgen diese Sätze einer „prozessualen Syntax“ (Willer 2003, 37), auch wenn der Hauptsatz, den man erwartet, gar nicht mehr kommt. Aus Konditionalsätzen werden Zeitsätze und umgekehrt. Auffällig ist daher auch, dass Kafka in anderen Texten auf diese spezifische Form des Schließens gänzlich verzichtet. In der Strafkolonie etwa finden sich kaum Konditionalsätze, umso häufiger aber die Konjunktion „und“ oder „und auch“, als wollte Kafka das Ineinandergreifen des Exekutionsapparats und das juristische Rechtssystem syntaktisch sichern. Anders als die „Wenn“-Sätze geht es in der Strafkolonie vor allem um die Synchronizität der Vorgänge. In seinem ersten Roman Der Verschollene wiederum sind die zahlreichen Wiederholungen der Konjunktion „während“ besonders auffallend. Auch in diesem Text geht es darum, Vorgänge ins Verhältnis zu setzen, aber anders als das einfache „und“ oder „und auch“ lenkt die Konjunktion „während“ die Aufmerksamkeit in zwei unterschiedliche Richtungen. Was auch immer Karl Roßmann unternimmt, es scheint sich stets und gleichzeitig etwas völlig anderes zu ereignen. Gerade zu Beginn des Romans wird deutlich, dass die adverbialen Zeitbestimmungen dabei oftmals zur Hauptsache werden. Man denke nur an die Eingangsszene, als der Dampfer in New York anlegt, Karl Roßmann aber noch lange nicht ankommt. Bereits während der Einfahrt in den Hafen verweisen die Zeitangaben auf verschiedene Abläufe und Kontexte: Als der siebzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von Newyork einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker werdenden Sonnenlicht. (Kafka 1983, 7)

Karl Roßmann reist mit einer Vorgeschichte nach New York und wirkt seltsam abwesend. Der Satz erwähnt zwei Frauenfiguren, Dienstmädchen und Freiheitsstatue, und auch sein Blick auf die Freiheitsstatue ist verdoppelt: einerseits ist die Freiheitsgöttin „längst beobachtet“, andererseits sieht er sie im „plötzlich stärker werdenden Sonnenlicht.“ Auch die Folgesätze registrieren eine eigentümliche Form der Ungleichzeitigkeit: Karl Rossmann blickt auf die Statue, während er von der Menge schon fortgezogen wird, und als er einem jungen Mann „im Vorübergehn“ etwas erwidert, hat der sich „schon mit den andern“ entfernt (Kafka 1983, 7– 8). Und da er bekanntlich seinen Regenschirm vergessen hat, stellt Roßmann seinen Koffer kurzerhand ab, um wieder ins Schiffsinnere zurückzukehren. Der

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Moment der Ankunft in der neuen Welt und an „der Küste eines unbekannten Erdteils“ (Kafka 1983, 14) ist für Karl Roßmann ein Moment des Auseinanderdriftens. Statt anzukommen, unterhält er sich mit dem Heizer im Innenraum vor allem über ihre Herkunft (vgl. Kafka 1983, 13). Dass sich diese Zeitverschiebungen nicht ohne weiteres überwinden lassen, zeigt sich auch im weiteren episodenhaften Verlauf des Romans, der unterschiedliche Genres miteinander verknüpft (vgl. Boa 2005, 173). Jedes Kapitel erzählt eine neue Station von Roßmanns Amerikafahrt, ohne dass dabei eine Entwicklung zu erkennen wäre. Dies zeigt sich auch in den zahlreichen Temporalsätzen, die vor allem Ungleichzeitigkeiten herstellen, adverbiale Bestimmungen, die den vermeintlichen Hauptsatz nicht genauer bestimmen, sondern, im Gegenteil, sich vom Geschehen lösen. Karl Roßmann bleibt in Temporalsätzen verstrickt. Was immer er unternimmt, der Roman registriert, dass gleichzeitig etwas ganz anderes passiert. Die Konjunktion „während“ findet sich über 130-mal im Text, so oft wie in keinem anderen Roman Kafkas. Es ist daher wenig überraschend, dass auch Karl Roßmann zu Verspätungen neigt. „Alle Entwicklungen gehen hier so schnell vor sich“, sagt ihm der Onkel (Kafka 1983, 68), der ihn zunächst in seine Obhut nimmt, aber zeitiges Aufstehen fällt Roßmann schwer, er leide an „Schlafsucht“ infolge der ereignisreichen Tage (Kafka 1983, 63). Seine Unpünktlichkeit führt schließlich sogar dazu, dass ihn der Onkel alsbald wieder fortschickt. Als Roßmann von einem Wochenende auf dem Land nicht zeitig genug zurückkehrt, übergibt ihm ein Gehilfe des Onkels, Herr Green, einen Brief mit der Aufschrift: „An Karl Roßmann. Um Mitternacht persönlich abzugeben, wo immer er angetroffen wird.“ (Kafka 1983, 122– 123) Das Schreiben ist nicht wie üblich an eine Person an einem bestimmten Ort adressiert, sondern mit einem Zeitindex versehen. Das rigide Zeitregime des Onkels ist auch Grund dafür, seinen Neffen zu verstoßen: „Du hast Dich gegen meinen Willen dafür entschieden, heute Abend von mir fortzugehen, dann bleibe aber auch bei diesem Entschluß Dein Leben lang, nur dann war es ein männlicher Entschluß.“ (Kafka 1983, 123) Die genau terminierte Uhrzeit der Übergabe wird für Karl Roßmann noch zum Streitpunkt. Herrn Green, dem Überbringer des Briefes, wirft er vor, eine vorzeitige Abreise nur darum verzögert zu haben, um ihm pünktlich den Brief überreichen zu können. Green wiederum habe sich nicht hetzen wollen, und überhaupt hätte er Roßmann den Brief dann eben unterwegs aushändigen müssen. Auch hier zeigt sich, dass Roßmanns Zeitsinn nicht mit dem des Geschehens übereinstimmt. Wäre er nur pünktlich abgereist, um viertel vor zwölf, wäre er dem Urteil des Briefes möglicherweise entkommen, so seine Mutmaßung. Allerdings enthält die Adressierung ja gar keine Ortsangabe. Der Zeitpunkt hätte ihn also überall ereilt, solange er nicht um Mitternacht bei seinem Onkel eingetroffen wäre.

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Angesichts dieser nachhaltigen Zeitverschiebungen und Verspätungen fragt sich, wann kommt Karl Roßmann eigentlich an in Amerika? Gelingt es ihm jemals, seinen eigenen Zeitsinn auf seine Umgebung abzustimmen? Eine Szene, die ganz ausdrücklich von einer Ankunft handelt und zudem das Versprechen enthält, dass die Dinge fortan synchron verlaufen könnten, ist das „Naturtheater von Oklahoma“, dem sich Roßmann in einer der letzten Episoden des Romans anschließen möchte. Er wolle „endlich den Anfang einer anständigen Laufbahn finden“ (Kafka 1983, 388), heißt es dort, und die Ausschreibung scheint dafür eine besondere Gelegenheit zu bieten: Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Teater in Oklahama aufgenommen! Das große Teater von Oklahama ruft Euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will melde sich! Wir sind das Teater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt Euch, damit Ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton! (Kafka 1983, 387)

Jetzt oder nie! Nur heute, nur einmal bietet sich diese Gelegenheit, dann sei das Theater „für immer“ geschlossen. Das Plakat ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen verrät es wenig über die tatsächliche Tätigkeit, geschweige denn den möglichen Verdienst, wie Roßmann bemerkt. Das sei der „große Fehler“ der Ausschreibung (Kafka 1983, 387). Umso auffälliger ist daher aber, dass der Text vor allem von einer adverbialen Zeitangabe handelt und sie gewissermaßen zu seiner Hauptsache macht. Man muss sich nicht nur pünktlich einfinden, der Eintritt ins Theater hat auch an sich den Charakter des Übergangs in eine andere Zeitordnung. Wer aufgenommen wird, kann was werden. Im Grunde wiederholt das Plakat noch einmal die Losung, die den Onkel dazu bewogen hatte, Karl Roßmann fortzuschicken: Wenn Du jetzt nicht hier bist, dann geh’ für immer. Gerade darum erweist sich die Ausschreibung aber auch als Bewährungsprobe und Wendepunkt in Karl Roßmanns Werdegang. Als Kafka dieses Kapitel schreibt, vermutlich im Oktober 1914, liegt der Beginn des Romans schon länger zurück. Die Arbeit am Verschollenen hatte er längst für das Urteil, die Strafkolonie und den Proceß-Roman unterbrochen. Es ist daher naheliegend, die Vorgeschichte für das Naturtheater nicht nur in den früheren Kapiteln des Verschollenen, sondern auch in anderen Texten wie dem ProceßRoman zu suchen. Wie angedeutet ist auch in diesem Roman zunächst völlig unklar, wann die Hauptfigur in den Ablauf der Dinge einzutreten vermag. Es scheint rein zufällig, dass Josef K. ausgerechnet an seinem dreißigsten Geburtstag verhaftet wird, zumal ihm die Gründe seiner Verhaftung vorenthalten bleiben. Der

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Roman beginnt mit einem „ohne-daß“-Satz: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (Kafka 1990, 7) Die für K. so verhängnisvollen Ungleichzeitigen werden vollends offenkundig, wenn man die Türhüterlegende in die Überlegungen miteinbezieht. Vor dem Gesetz steht ein Türhüter, zu dem ein Mann vom Lande kommt, um Eintritt in das Gesetz zu verlangen. Der Türhüter sagt: „jetzt nicht“, aber ein späterer Eintritt sei durchaus möglich. Als dann der Mann vom Lande ins Innere des Gesetzes zu blicken versucht, sagt der Türhüter: „Wenn es Dich so lockt, versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehen.“ (Kafka 1990, 293) Nach lebenslangem Warten ist der Mann schließlich am Ende seiner Kräfte, als der Türhüter ihm sagt: „Dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“ (Kafka 1990, 295)² Die Legende wird von einem Gefängnisgeistlichen erzählt, der schließlich auch behauptet, dass die Geschichte gar nicht widersprüchlich sei. „Richtiges auffassen einer Sache und mißverstehen der gleichen Sache“ schließen „einander nicht vollständig“ aus (Kafka 1990, 297), heißt es im Roman. Das „jetzt nicht“ und „nur für Dich“ (Kafka 1990, 295) seien keineswegs unvereinbare Aussagen, vielmehr deute die erste Äußerung des Türhüters auf die zweite hin. Anders gesagt: Dem Gefängnisgeistlichen zufolge hat der Mann vom Lande den „Wenn-dann“Satz einfach missverstanden. „Wenn es Dich so lockt, versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehen.“ (Kafka 1990, 293) Statt diesen Satz als Drohung oder Verbot aufzufassen, hätte er ihn schlicht als konditionalen Satz interpretieren müssen. Die Auslegungen der Geschichte vom Türhüter, die K. und der Geistliche dann noch über mehrere Seiten und bis zur Ermüdung K.s umständlich diskutieren, ist ebenfalls aufschlussreich: K. hat zunächst keinen Zweifel daran, dass der Türhüter den Mann vom Lande getäuscht haben müsse; der Geistliche wiederum versucht zu beweisen, dass der Türhüter seinen „Wenn-dann“-Satz nicht als Täuschung gemeint und pflichtbewusst gehandelt habe. Er sei allenfalls nachlässig gewesen, indem er den „Wenn-dann“-Satz überhaupt geäußert habe. Und überhaupt sei der Türhüter selbst der Getäuschte, weil er, mit dem Rücken zur Tür stehend, gar nicht wissen konnte, was der Mann vom Lande gesehen haben mochte. Aus Sicht des Geistlichen ist der Wahrheitsgehalt einer Äußerung gar nicht ausschlaggebend, sondern einzig und allein deren Notwendigkeit (vgl. Kafka 1990, 303). Anders gesagt: K. solle sich besser auf die Logik der Argumentation beziehen als auf ihren vermeintlichen Sinngehalt. Er würde sonst

 Zur Deutungsgeschichte der Legende und ihren Fallen siehe Honold 1995.

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denselben Fehler begehen wie der Mann vom Lande und die Logik des „Wenndann“-Satzes schlichtweg übersehen.Von dieser Schlussfolgerung des Geistlichen ist K. wiederum nicht überzeugt. Aus seiner Sicht würde das Gebot des Geistlichen – auf die Notwendigkeit zu achten statt auf Wahrheit – die Lüge zur „Weltordnung“ machen (Kafka 1990, 303): „K. sagte das abschließend, aber sein Endurteil war es nicht. Er war zu müde, um alle Folgerungen der Geschichte übersehen zu können.“ (Kafka 1990, 303) Zwei unterschiedliche Auffassungsweisen von Sprache werden hier vorgeführt: Der Versuch, den Türhüter an einem Wahrheitsgehalt zu messen, dem Versuch also, die Aussagen an sich zu überprüfen, und andererseits eine rein logische Rekonstruktion seiner Argumentationskette, bei der die Inhalte der Argumente keine Rolle spielen. Es ist daher kein Zufall, dass sich in diesem Abschnitt wie in keinem anderen des Romans „Denn“-Sätze und „Wenn-dann“-Sätze häufen. Aus dem „Denn-ohne-daß“-Roman wird zumindest in diesem Kapitel ein Roman, der einen „Wenn-dann“-Satz zu ergründen versucht und dabei mit erheblichem Aufwand, und bis zur Ermüdung, dieselbe syntaktische Struktur variiert und wiederholt. Die Verfehlung des jungen Mannes ist im Übrigen durchaus verständlich, zumindest wenn man die Szene mit Anton Marty liest, jenem Schweizer Sprachphilosophen an der Universität Prag, dessen Vorlesungen Kafka besucht hatte. Marty interessierte sich unter anderem für zusammengesetzte Sätze, die mit Konjunktionen verschiedene Aussagen ins Verhältnis setzten. So sei eine koordinierte Aussage ein Satz, der nach dem Muster „A ist, denn B ist“ verfahre, wohingegen der Satz „A ist, weil B ist“ eine subordinierte Aussage sei. Diese Formen der Zusammensetzung seien aber zunächst nur als syntaktische Formen aufzufassen, die nicht unbedingt auch logischen Regeln gehorchen: „Man bedenke, daß es sich um logisch nicht begründete Synsemantika handelt – (logisch begründet sind die Nebensätze in: ‚daß A sei, ist der Grund davon, daß B ist‘) […].“ (Marty 1910, 33 – 34) Im Sprachbewusstsein sei es zwar so, dass viele Sätze als logisch begründet wahrgenommen würden, daraus folge jedoch nicht, dass sie auch den logischen Gesetzen entsprechen. „Die nicht logisch begründeten Synsemantika sind nun einmal da und sind sogar sehr zahlreich vertreten, […] wir könnten sie nicht durch logisch begründete […] ersetzen, ohne die Sprache von Grund aus umzugestalten.“ (Marty 1910, 45) Marty unterschied darum logische Synsemantika von solchen, die eine rein ästhetische Funktion haben, etwa weil sie Inhalte kürzer oder eloquenter vermitteln können. Die „Übergangsprüfung“ in Philosophie, die Marty an der Universität Prag Kafka abgenommen hatte, konnte dieser zwar nicht bestehen (vgl. Haring 2010, 6). Wie die bereits erwähnten Passagen zeigen, dürfte er mit den Grundgedanken von Martys Sprachtheorie aber vertraut gewesen sein (s. auch Allan 2005, 32). In seiner

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Prosa finden sich zahlreiche Schlüsselszenen, in denen unterschiedliche Auffassungen eines Satzes oder einer Satzform die Handlung initiieren. In der Türhüterlegende etwa entscheidet die Fehldeutung eines „Wenn-dann“-Satzes einen ganzen Lebensweg. Dass der junge Mann den Satz nicht interpretieren kann, ist ja erst der Auftakt eines lebenslangen Wartens, mit dem er gewissermaßen die Kluft zwischen der konditionalen Bedingung des Satzes und seines Schlusses füllt. Diese Überführung von vermeintlich logischen Satzstrukturen in ein Zeitproblem ist auch in den bereits erwähnten Betrachtungen ein wiederkehrendes Muster. Im Wunsch, Indianer zu werden ist der Ansporn des Satzes das initiale „Wenn“, aber statt zu einem finalen „Dann“ zu kommen, einer Schlussfolgerung, bricht der Satz mit zwei rhythmisch eingefügten „denn“ ins Ungewisse. Aus grammatikalischer Sicht mag der Satz ein Fragment sein, aus poetischer evoziert er eine Bewegung. Mit Alexander Honold könnte man ihn als einen „werdenden Text“ bezeichnen (Honold 2019, 85). Auch im Plötzlichen Spaziergang geht es vor allem darum, einen Aufbruch in Gang zu bringen. Und in den Aufzeichnungen zum Bau-Konvolut, um einen weiteren „Wenn-dann“-Text zu nennen, dem die Schlussfolgerungen abhandenkommen, bahnt sich der grabende Erzähler im Laufe des Textes immer häufiger mit einem „dann“ den Weg: und dann und dann und dann, ohne dabei einen Ausweg zu finden (Simons 2013). Josef K. scheint es nicht anders zu ergehen. Vermeintlich logische Schlüsse werden in Temporalsätze verwandelt, ohne dabei jemals zu einer Schlussfolgerung zu kommen. Dass es für diese Satzpoetik auch literaturgeschichtliche Vorläufer gibt, ließe sich an Goethe zeigen, eine von Kafkas Lieblingslektüren: „[I]ch lese Sätze Goethes, als liefe ich mit ganzem Körper die Betonungen ab.“ (Kafka 2002, 376) In den Leiden des jungen Werthers etwa sind die zahlreichen Variationen des „Wenndann“-Satzes besonders auffällig: „Wenn das liebe Tal um mich dampft“, so Werther am 10. Mai, einem der meistzitierten Briefe des Romans: Wenn das liebe Tal um mich dampft, […] ich dann im hohen Grase am fallenden Bache hege […]; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen […] wenn’s dann um meine Augen dämmert […] – dann sehne ich mich oft und denke: Ach könntest du das wieder ausdrücken […] – Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen. (Goethe 1981, 9)

Die Forschung hat diese zahlreichen „Wenn-dann“-Sätze als eine generalisierende Syntax gedeutet, mit der Werther vornehmlich auf wiederkehrende Eindrücke verweist.³ Ebenso auffällig ist aber, dass nicht nur am 10. Mai, sondern im

 „Sie haben weniger konditionale als generalisierende Bedeutung, und wir lesen sie so, als ob

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Roman insgesamt ein erlösendes „Dann“ ausbleibt. Die langen Satzperioden vom Romananfang werden zunehmend kürzer, auf das sinngemäße „immer wenn“ folgen allenfalls noch Bindestriche. Goethes Werther ist kein „werdender Text“, ganz im Gegenteil. Die Zeitsätze werden zum Verhängnis, eben weil sie keinen Fortgang zu erlauben scheinen, sondern die Temporalstruktur zu einer Dauer machen. Kafkas Türhüterlegende handelt von einem ähnlichen Zustand der Zeitlichkeit. Für den Mann vom Lande sind die Begegnungen mit dem unerbittlichen Türhüter ein „immer wenn“, das er in keinen Konditionalsatz zu verkehren vermag. Bleibt zu erwähnen, dass diese spezifische Zeitform der Türhüterlegende im Vergleich mit dem Werbeplakat des Naturtheaters geradezu gegensätzlich ist. Während das Naturtheater mit einem „jetzt oder nie!“ für sich wirbt, handelt die Legende von einem „nur jetzt nicht“. Das Naturtheater richtet sich an jedermann, Roßmann wird sogar trotz fehlender Papiere und unter dem falschen Namen „Negro“ aufgenommen, die Legende hingegen ist nur für den jungen Mann bestimmt. In beiden Fällen wird ein Adverbialgeschehen zum eigentlichen Ereignis, allerdings auf diametral entgegengesetzte Weise. Und dementsprechend enden auch die Romane: Josef K. wird am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages abgeholt, um in einem Steinbruch hingerichtet zu werden, als könne der fortwährende Prozess nur gewaltvoll enden. Karl Roßmann wiederum bricht in den Westen auf, um eine neuerliche Reise zu beginnen. Man mag sich vorstellen, dass seine Geschichte, „die allerdings ins Endlose angelegt ist“ (an Felice Bauer am 11. November 1912; siehe Engel 2010, 175), hier erst anfängt. Den Zug nach Oklahoma verpasst er nicht, auch wenn er sich wieder beeilen muss. Mit Giacomo, einem italienischen Liftjungen, der mit ihm die Reise antritt, wollte er „alles erzählen und immer zusammenbleiben“ (Kafka 1983, 413).

Literatur Allan, Neil. Franz Kafka and the Genealogy of Modern European Philosophy: From Phenomenology to Post-Structuralism. New York: Mellen Press, 2005. Battegay, Caspar. „Freundliche Ironie und Plötzlichkeit. Bemerkungen zu Franz Kafkas Der plötzliche Spaziergang“. Kafkas ‚Betrachtung‘. Hg. Harald Neumeyer und Wilko Steffens. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013. 15 – 26. Boa, Elizabeth. „Karl Roßmann, or the Boy who wouldn’t grow up: The Flight from Manhood in Kafka’s Der Verschollene“. From Goethe to Gide: Feminism, Aesthetics and the French and

da stünde: ‚immer dann, wenn ich.‘ Daraus folgt, daß es sich hierbei gar nicht um eine einmalige, sondern um wiederholbare Erlebnisse handelt.“ (Pütz 1983, 66)

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German Literary Canon 1770 – 1936. Hg. Mary Orr und Lesley Sharpe. Exeter: University of Exeter Press, 2005. 168 – 183. Engel, Manfred. „Der Verschollene. Entstehung und Veröffentlichung“. Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. Manfred Engel und Bernd Auerochs. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2010. 175 – 191. Goethe, Johann Wolfgang. Die Leiden des jungen Werthers. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 6. Hg. Erich Trunz. München: Beck, 1981. Haring, Ekkehard W. „Leben und Persönlichkeit“. Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2010. 1 – 28. Honold, Alexander. „Kafka: Die Falle der Subjektion“. Das Argument 37.211 (1995): 693 – 711. Honold, Alexander. „Wie Schreiben geht. Zur Poetik einer riskanten Fortbewegungsart“. Christof Hamann: Gehen, Stolpern, Schreiben. Hg. Andreas Erb. Bielefeld: Aisthesis, 2019. 85 – 98. Kafka, Franz. Der Verschollene. Kritische Ausgabe. Hg. Jost Schillemeit. Frankfurt am Main: Fischer, 1983. Kafka, Franz. Der Proceß. Kritische Ausgabe. Hg. Malcolm Pasley. Frankfurt am Main: Fischer, 1990. Kafka, Franz. Drucke zu Lebzeiten. Kritische Ausgabe. Hg. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Frankfurt am Main: Fischer, 1994. Kafka, Franz. Tagebücher. Kritische Ausgabe. Hg. Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt am Main: Fischer, 2002. Marty, Anton. Über das Verhältnis von Grammatik und Logik. Prag: Tempsky, 1893. Marty, Anton. Zur Sprachphilosophie: die „logische“, „lokalistische“ und andere Kasustheorien. Halle an der Saale: Niemeyer, 1910. Marty, Anton. Satz und Wort. Eine Auseinandersetzung mit der üblichen grammatischen Lehre und ihren Begriffsbestimmungen. Hg. Otto Funke. Bern: Francke Verlag, 1950. Pütz, Peter. „Werthers Leiden an der Literatur“. Goethe’s Narrative Fiction: The Irvine Goethe Symposium. Hg. William J. Lillyman. Berlin/New York: de Gruyter, 1983. Simons, Oliver. „Diagrammatik – Kafka mit Deleuze“. Die Räume der Literatur. Exemplarische Zugänge zu Kafkas Erzählung ‚Der Bau‘. Hg. Dorit Müller und Julia Weber. Berlin/New York: de Gruyter, 2013. 107 – 124. Tobias, Rochelle. „A Doctor’s Odyssey: Sickness and Health in Kafka’s Ein Landarzt“. The Germanic Review 75.2 (2000): 120 – 131. Willer, Stefan. „Der Lauf der Schrift und das Gefälle des Satzes“. Kafkas ‚Betrachtung‘: Lektüren. Hg. Hans Jürgen Scheuer, Justus von Hartlieb, Christina Salmen und Georg Höfner. Frankfurt am Main: Lang, 2003. 34 – 43. Wittgenstein, Ludwig. Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe. Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984.

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Nachts nach dem Krieg: Uhren und Uhrzeiten in Wolfgang Borcherts Prosa 1 Über die Zeit nachdenken. Uhren und Uhrzeiten als literarische Motive, insbesondere in der Kurzprosa der Nachkriegszeit Kürzere Erzähltexte stellen in der unmittelbaren Phase nach dem Zweiten Weltkrieg bekanntlich einen großen Teil der literarischen Produktion dar. Dabei wurden ein Motivkreis und Strukturmerkmal, die diese Kurzprosa nach 1945 stark prägen, überraschenderweise in der Forschung bislang oft übersehen, ja ihre Untersuchung stellt ein literaturwissenschaftliches Desiderat dar: zeitbezogene Angaben wie dezidiert benannte Zeitabläufe, Uhrzeiten, Jahreszeiten, Monate, Wochen, Tage, Nächte, Stunden, Minuten, Sekunden, Augenblicke, zudem Dingmotive wie Uhren oder andere Zeitmesser (zur Sanduhr z. B. bei Ernst Jünger vgl. Honold 2013, 201– 226). Die Relevanz dieser Motive beweist allein schon die Sichtung der Titel solcher kürzeren Prosatexte der späten 1940er und 1950er Jahre. So haben beispielsweise mehrere Erzählungen von Siegfried Lenz aus dieser Phase Titel, in denen direkt oder indirekt Zeitangaben oder andere die Zeit betreffende Substantive vorkommen: Drei Männer und ein Augenblick, Die Nacht im Hotel, Eine Sekunde der Welt, Die Flut ist pünktlich, Versäum nicht den Termin zur Freude oder Jede Stunde hat ihre Gesichter, um nur einige zu nennen. Hinzu kommen zahlreiche explizite Zeitangaben oder zeittypische Motive wie Uhr und Kalender innerhalb der Erzählungen. Hier seien als Beleg drei prototypische Beispiele, erneut von Siegfried Lenz, angeführt: In Die Flut ist pünktlich (1953) wird eine Uhr zum perfekten Mordinstrument. Ein durch den Krieg traumatisierter, depressiver Mann macht jeden Tag einen Gang durch das Watt, während seine an dieser unglücklichen Ehe verzweifelnde Frau bei ihrem Liebhaber Tom ist. Eines Tags verstellt die Frau die Uhr ihres Mannes („‚Seine Uhr, Tom‘, sagte sie, ‚seine Uhr geht heute nach.‘“; Lenz 2006, 156), sodass dieser zu spät zurückgeht und wohl in die rasch einsetzende, eben pünktliche Flut gerät. Die beiden Texte Jede Stunde hat ihre Gesichter (1957) und Eine Sekunde der Welt (1950) hingegen sind als komplementäre Variationen über die Zeit anzusehen. Eine Sekunde der Welt deutet an, was für unterschiedliche Handlungen während einer einzigen Sekunde weltweit stattfinden: Während ein Soldat im übertragenen Sinne die Sinnlosigkeit des Krieges erkennt, finden zeitgleich in https://doi.org/10.1515/9783110773750-021

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Paris, Moskau, Hamburg, Lissabon etc. andere Handlungen statt, von denen aber viele (wie Verwundung, Schlaflosigkeit etc.) indirekte oder direkte Folgen des Krieges sind. Im Zentrum steht ein intertextueller Verweis auf die Reflexionen über die Zeit in Thomas Manns Der Zauberberg („Was ist die Zeit? Thomas Mann ahnte, was es mit ihr auf sich hat, Thomas Mann, ja…, er hätte nach dem Zauberberg eigentlich nichts mehr schreiben sollen… Was wird er jetzt tun? Jetzt, in dieser Sekunde, in diesem bestimmten Augenblick“; Lenz 2006, 44). Jede Stunde hat ihre Gesichter geht erzählerisch den gegenteiligen Weg: Bleibt in Eine Sekunde der Welt die Zeit, d.i. die konkrete Sekunde, dieselbe und der Raum wechselt, so spielt die Handlung von Jede Stunde hat ihre Gesichter an demselben Ort: in einem Zug. Statt auf dessen räumliche Bewegung zu verweisen, beschreibt der Icherzähler, wie sich korrespondierend zur vergehenden Zeit die Besetzung des Zuges verändert – von fünf Uhr morgens, wo sich die Arbeiter der Nacht- und der Frühschicht begegnen, über die in Büros und Geschäften tätigen „Halb-AchtLeute“ und die reichen „Nach-Neun-Herren“, die erst nach neun Uhr Zug fahren müssen und eigentlich auch ihr Auto nehmen könnten, etc. (Lenz 2006, 344 – 345). So geht es fort bis abends. Diese starke Unterlegung des realistischen Schilderns der Nachkriegsgegenwart mit den Motiven Uhr und Uhrzeit sowie der explizite Hinweis auf Thomas Mann zeigen, dass solche Kurzprosa nach 1945 (wie zuvor Thomas Manns Zauberberg) Zeittexte in doppelter Hinsicht sind: einerseits über das Phänomen Zeit philosophisch reflektierend, andererseits zugleich die eigene Gegenwart bilanzierend. Auch über die 1940er und 1950er Jahre hinaus sind, worauf nicht zuletzt Alexander Honold hingewiesen hat, Uhren und Zeitangaben zentrale Motive und Strukturierungsmuster, eben „Taktgeber“ der Literatur seit ihren Anfängen bis heute. Eine sprachliche Erzählung mit ihrer chronologischen Abfolge von Handlungsschritten und Zeichen mag diesbezüglich an sich schon große Verwandtschaft zur „kulturell dominante[n] Vorstellung von einem gerichteten und unumkehrbaren Lauf der Zeit“ haben. Zugleich wirkt Literatur als gestaltete Sprache, als künstlerische Form dem entgegen, indem sie eine „formende, aufhaltende und bewahrende Gegenkraft“ (Honold 2013, 11) entwickelt, beispielsweise die Möglichkeit zum Festhalten des flüchtigen Augenblicks. Blickt man auf das konkrete literarische Motiv der Uhr, so sind Uhren in der ‚Wirklichkeit‘ wie in der Literatur natürlich Objekte, die „für die mechanische Objektivierung von Zeitpunkten und -abständen“ gebaut sind (Honold 2013, 8). Sie stellen sich planend und messend der Inkommensurabilität von Zeit und Welt entgegen (Honold 2013, 13) und sind in ihrem Geltungsanspruch kulturell codiert sowie von ihrem historischen Kontext abhängig, ja das ausführende Organ einer kulturellen Normierung. Im Widerspruch damit steht in der Verwendung von Uhren als literarisches Motiv wie von Zeitläufen als Strukturprinzip oft die sub-

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jektive, emotional geprägte Wahrnehmung von Zeit: „Erlebte und gemessene Zeit gehen einen unterschiedlichen Gang“ (Honold 2013, 8). Die von den Uhren gemessenen und festgelegten Zeitangaben sind damit, vom Träger der Uhr aus betrachtet, „vollständig arbiträr, weil niemand eine Stunde, ja auch nur eine Minute in ihrer Länge oder Besonderheit zu ‚fühlen‘ in der Lage ist“ (Honold 2013, 33). Denken literarische Texte – wie etwa der schon von Siegfried Lenz zitierte Zauberberg Thomas Manns – anhand von Uhren und Zeitabläufen über das Vergehen von Zeit generell nach, so reflektieren sie oft auch einerseits sozusagen das innere ‚Uhrwerk‘ der Figuren, andererseits deren Einbettung in zeitgebundene Umstände und überzeitliche Aktionsmuster. Im Gegensatz zu den unhintergehbaren Zyklen der Natur (Tag/Nacht, Ebbe/Flut, Jahreszeiten etc.) werden literarische Uhren dann mitunter manipulierbar. Wenn die Uhren falsch gehen oder wenn gar jemand an den Zeigern dreht, das heißt: sobald die mechanische Zeitmessung in ihrer Seelenlosigkeit und Willkürlichkeit entlarvt ist, öffnet sich der Blick auf deren Folgen: die subjektive Bedeutung von Zeit für den Einzelnen (vgl. Honold 2013, 17), eine zwanghafte Einbettung in fremdbestimmte Zeitabläufe oder die individuelle Interpretation, mit der jeder Mensch Zeitpunkte und Zeitangaben symbolisch mit Bedeutung versieht. Uhren als literarische Motive werden damit oft mit der Frage nach der Lebenszeit (insbesondere mit „Wahrnehmungs- und Umgangsweisen von und mit Lebenszeit“; Holm 2012, 456) verbunden, häufig gerade im Rückblick auf Vergangenes. Uhren speichern dann paradoxerweise die Vergangenheit bzw. werden von ihren Ablesern als symbolisches Erinnerungsobjekt interpretiert. Ein besonderes Augenmerk kann hier epochengeschichtlich auf Entstehungsphasen radikaler Zeitenwenden bzw. traumatischer Zeiterfahrungen (vgl. Holm 2012, 457) und motivlich auf den stehengebliebenen Uhren liegen. Wendet man sich nun Wolfgang Borcherts Kurzprosa zu, so prägt ein Zeitraum diese auffallend stark: die Nacht. Von den zahlreichen Aspekten, die der Nacht in der Kunst- und Kulturgeschichte zugeschrieben wurden, seien hier einige ausgewählte genannt, die für Borcherts ‚Poetik der Zeit‘ und ‚Poetik der Nacht‘ aufschlussreich sein können. Nacht und Tag sind natürlich traditionsreiche Gegensätze, die aber stets auch aufeinander bezogen bleiben. So ist die Nacht sowohl Widerspruch als auch Ergänzung zum Tag bzw. beides ist Bestandteil des anderen. Mag der Tag in den meisten kulturellen Setzungen die Norm repräsentieren, so repräsentiert die Nacht „die Abweichung, die Entstellung oder Abwandlung der Norm“ (Bronfen 1998, 155). Die Nacht ist somit – ohne ihre autonome Stellung negieren zu wollen – ein „besonderer Schauplatz für Handlungen, Begegnungen und Erkenntnisse […], die einen Kommentar zum Tag bieten“ (Bronfen 2008, 167). Durch fehlende Ablenkung von außen und den Fokus auf sich selbst und das eigene Innere ebenso wie durch eine Verunklarung des am Tag

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leitenden Sehsinns ermöglicht die Nacht, wie nicht zuletzt die Literatur und Bildende Kunst der Romantik zum Thema machten, eine andere Art der Wahrnehmung (vgl. Bronfen 2008, 167) und dadurch eine andere Art der (scharfsinnigen oder stumpfsinnigen?) Erkenntnis. Die objektive Zeitmessung durch Uhren und eine rationale Einteilung in Zeitphasen sind in der Nacht häufig in ihrem Geltungsanspruch reduziert, zudem ist dann die subjektive Erfahrung von Zeit verwandelt. Das nächtliche Erleben von Zeit und auch Raum, vom Vergehen der Zeit und von der Relativität des Raums ist ein intensiveres als an einem von beruflichen Terminen und den Raumvorgaben der Werkbank oder des Schreibtischs durchgetakteten (All‐)Tag. Pointiert formuliert: Es gilt in der Nacht „eine andere Zeitrechnung, eine Zeit ohne Rech[n]ung, eine Zeit der Abrechnungen“ (Bronfen 2008, 11). Räumlich und zeitlich ist die Nacht ein Schwellen- bzw. Interimsphänomen. Der eine Tag ist vergangen, der nächste hat noch nicht begonnen. Das Bewusstsein hat sich aus der Routine des ökonomisch-effizient gestalteten Arbeitsalltags gelöst und eine andere Struktur, ‚Logik‘ und Wahrheit des Halbbewussten in der Nähe des Traums angenommen. Abgrenzungen verschwimmen, Konturen verwischen sich, Gegensätze berühren sich. Elisabeth Bronfen nennt beispielhaft jene Antithesen, die sich des Nachts verschränken: Die Nacht ist sowohl „Schauplatz für menschliches Versagen als auch für die Fähigkeit, das eigene Schicksal zu beherrschen. In ihr spielen sich Phantasieszenarien einer gefährlichen, chaotischen Bedrohung ab, ebenso wie solche, die eine heilende Wiedergeburt versprechen“ (Bronfen 1998, 155; vgl. Bronfen 2008, 11). In dieser Phase der verschwimmenden Abgrenzungen und der anderen Zeitwahrnehmung sind es denn wohl denklogisch auch weniger die exakten Uhrzeiten wie 02:27:31 Uhr als vielmehr die ungefähren Zeitangaben wie ‚halb drei‘, ja eventuell gar gerade solche halben und nicht vollen Stunden, die das Erleben des nächtlich Wachenden strukturieren. Jedenfalls erhärten die kurzen Prosatexte Wolfgang Borcherts diese Vermutung.

2 Die halben Stunden der Nacht. Uhren und Uhrzeiten in Wolfgang Borcherts Prosa Wolfgang Borcherts Kurzprosa ist in Bezug auf die Motivik von Uhren und Uhrzeiten ganz das Kind ihrer Zeit. Borcherts Prosa ist – wie die eingangs erwähnte Kurzprosa von Siegfried Lenz – strukturell und motivlich ebenso stark von Zeitangaben und Zeitphasen bestimmt wie übrigens auch viele seiner Gedichte. Letztere umkreisen Jahreszeiten (vgl. die Gedichte Sommerabend, Winterabend,

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Herbstspruch, Winter, Frühling), Tageszeiten, zumeist den Abend und die Nacht (Abendlied, Nachts, Die Nacht, Abend) oder Zeitpunkte und -räume (Gedicht um Mitternacht, Stille Stunde, Jede Minute). In Borcherts Theaterstück Draußen vor der Tür wird die Zeit ebenfalls facettenreich zum Thema: von Zeitangaben und Zeitphasen über Dingmotive (z. B. Uhren) und Tagesabläufe. Beckmann selbst setzt sein trostloses Leben und seinen dem Tod verfallenen Körper bzw. seine zerbrochene Identität immer wieder symbolisch mit der Uhr in Bezug: „Kchch – Kchch. Hörst du, wie meine Lunge rasselt? Wie der Besen eines Straßenfegers. Und der Straßenfeger läßt die Tür weit offen. Und der Straßenfeger heißt Tod. Und sein Besen macht wie meine Lunge, wie eine alte heisere Uhr: Kchch – Kchch – Kchch …“ (Borchert 2021, 177). Noch an anderer Stelle sagt Beckmann: „Das ist unsere Tür. Dahinter […] kratzt die Uhr mit ihrer heiseren Stimme die unwiederbringlichen Stunden“ (Borchert 2021, 162). Diese In-eins-Setzung von Ding (Uhr) und Mensch zeigt die problematische Verdinglichung des Menschen im Krieg und die unaufhaltbar vergehende Zeit. Im Vorspiel zu Draußen vor der Tür betont der Beerdigungsunternehmer mit tiefer Melancholie oder Sarkasmus die indifferente Zeit, die einfach voranschreitet, egal welche Verzweiflungstaten und Brutalitäten auch geschehen: „Ein Mensch stirbt. Und? Nichts weiter. Der Wind weht weiter. Die Elbe quasselt weiter. Die Straßenbahn klingelt weiter. Die Huren liegen weiter weiß und weich in den Fenstern. Herr Kramer dreht sich auf die andere Seite und schnarcht weiter. Und keine – keine Uhr bleibt stehen. Rums! Ein Mensch ist gestorben. Und? Nichts weiter“ (Borchert 2021, 119 – 120). Die objektive Zeitmessung durch die Uhr und das subjektive Zeiterleben durch den Menschen klaffen auseinander, ja die hier behauptete Indifferenz der Zeit bzw. der Uhr wird – in impliziter Gleichsetzung mit der gewaltigen, überfordernden Macht des Krieges – zum ethischen Problem. Borcherts Kurzprosa nimmt eine solche Zeitmotivik in gesteigerter Weise auf. Die Texte spielen oft nachts und sind häufig von Zeitangaben strukturiert, wobei auffällt, dass es zumeist die halben, nicht die vollen Stunden sind, zu denen die Handlung spielt. Vor allem die Uhrzeiten halb drei, halb fünf, mitunter auch halb sechs oder halb sieben Uhr nachts bzw. morgens kommen in den Texten immer wieder vor. Die Nacht hat dabei für die Figuren eine besondere Bedeutung. Sie ist eine Phase, die – im Gegensatz zu dem von Arbeit, erlittener Fremdbestimmung und Leid geprägten Alltag – Freiräume für Begegnungen und Erfahrungen, auch Humanität und Solidarität bietet. In der Kurzgeschichte Radi kommt nachts ein in Russland gefallener Schulkamerad als Wiedergänger zum Icherzähler. Zwischen beiden findet ein verbindender, tröstlicher Austausch statt, der zu Tagesanbruch „morgens um halb sechs“ (Borchert 2021, 223) dann wieder zu Ende geht. Diese Morgenzeiten beschließen bei Borchert stets die Erfahrung der Nacht, welche

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immer Reste eines tröstlichen Ideals enthält. So fährt in Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck um „6 Uhr 23“ (Borchert 2021, 282) der Zug mit den neu einberufenen Rekruten an die Front ab und beendet damit nicht nur die Nacht, sondern auch die unbeschwerte Jugend, vielleicht gar das Leben der Männer. In der berühmten Kurzgeschichte Nachts schlafen die Ratten doch ist es eine auf das Motiv der Nacht bezogene Lüge (vgl. Schmidt 2008, 66 – 67) des älteren Mannes, der dem Jungen Entlastung und Befreiung zu geben sucht: „Ja, hat euer Lehrer euch denn nicht gesagt, daß die Ratten nachts schlafen?“ (Borchert 2021, 257). Der völlig übermüdete Knabe hatte rund um die Uhr versucht, die Ratten zu vertreiben, die seinen im Bombardement verstorbenen kleinen Bruder aufzufressen drohen. Durch den Hinweis des Alten auf die nachts angeblich schlafenden Ratten könnte, wie sich andeutet, der Junge in der kommenden Nacht endlich ein Interim der Ruhe inmitten des Kriegshorrors finden. Weitere Beispiele für die Wichtigkeit des Motivs Nacht in Borcherts Prosa gibt es zahlreich, etwa in Billbrook, Gespräch über den Dächern, Die Ausgelieferten, Mein bleicher Bruder etc. Im Grunde spielt in fast allen Prosatexten Borcherts die Nacht eine bedeutsame Rolle. In diesem Sinne ist in Borcherts Prosa nicht die Sonne der „Zeitgeber“ und das „Maß aller Dinge“ (Honold 2005, 132; Zitat dort z.T. in Großbuchstaben), sondern die Abwesenheit der Sonne und des Lichts. In Borcherts Prosa, die von einer ‚Poetik der Nacht‘ geprägt ist, ist dabei die Nacht zum einen die Erlebniswelt der kindlich-neurotischen Ängste, Alpträume und Einsamkeit, so heißt es in Die lange lange Straße lang: Wenn bloß die Nächte nicht wärn. Wenn bloß die Nächte nicht wärn. Jedes Geräusch ist ein Tier. Jeder Schatten ist ein schwarzer Mann. Nie wird man die Angst vor den schwarzen Männern los. Auf dem Kopfkissen grummeln die ganze Nacht die Kanonen: Der Puls. Du hättest mich nie allein lassen sollen, Mutter. (Borchert 2021, 289)

Zum anderen ergeben sich zwischen diesen Alpträumen und Ängsten jedoch punktuell gerade und vor allem in der Nacht Augenblicke der Entlastung von den Gräueln des Kriegsalltags: außergewöhnliche Begegnungen voller mütterlicher Fürsorge und Anteilnahme ebenso wie hoffnungsvolle Träume kurz vor dem bitteren Erwachen. Diese beiden Bereiche sind in Borcherts Kurzprosa fast stereotyp mit zwei bestimmten nächtlichen Uhrzeiten verbunden: halb drei Uhr und vier Uhr (mit dem Ende dieser Träume durch ein unsanftes Gewecktwerden um halb fünf Uhr morgens).

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2.1 Halb drei Uhr nachts: Zeit für Menschlichkeit und Mütterlichkeit Halb drei Uhr in der Nacht ist eine Uhrzeit, zu der – wenn man die kulturell durch ökonomisierte, kapitalisierte Arbeitsabläufe codierte Aufteilung von Tagen zugrunde legt – wohl die wenigsten Menschen draußen (auf der Straße) oder drinnen (in der Wohnung) unterwegs sein werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich um diese Uhrzeit zwei Personen treffen, ist daher geringer als zu anderen Tageszeiten. Die meisten Menschen sind nicht noch wach und auch nicht schon wach, sondern liegen im Bett und schlafen. Zu diesem ‚tiefsten Punkt‘ der Nacht treffen sich bei Borchert zwei Menschen in ihrer Wohnung – ganz außerhalb der eingespielten Tagesroutinen. Und (gerade) zu dieser Zeit entwickelt sich zwischen ihnen ein Augenblick der Menschlichkeit und liebenden, mütterlichen Versorgung, der zum momenthaft aufblitzenden humanitären Ideal in einer Welt der Zerstörung, des Leids und der Brutalität wird. Dieses Ideal wird, wie gesagt, in Borcherts Kurzgeschichten oft mit der Uhrzeit des ‚halb drei Uhr nachts‘ verbunden, beispielsweise in Die Küchenuhr und Das Brot. Beide Kurzgeschichten greifen dasselbe Handlungsmuster auf: Um halb drei Uhr nachts stiehlt sich ein Mann heimlich in seiner Wohnung in die Küche, um zu essen. Eine Frau wacht auf; sie geht, anstatt ärgerlich zu werden oder einfach weiterzuschlafen, zu ihm und versorgt ihn mit Nahrung. Dieses Bild einer anteilnehmenden, nährenden Mütterlichkeit ist ein wichtiges ethisches Gegenmodell zum materiellen wie emotionalen Mangel in der Nachkriegszeit. In Die Küchenuhr lernen wir einen vom Krieg traumatisierten jungen Mann kennen. Durch die Erfahrung, dass seine Wohnung mitsamt seinen Eltern durch Bombardierung vernichtet wurde, wird auch der namenlose junge Mann selbst aus dem festgefügten, geordneten Alltag gerissen und zu einem entwurzelten ‚Zwischenwesen‘, zur Hybridexistenz: Er ist zwar noch jung, aber hat „ein ganz altes Gesicht“ (Borchert 2021, 237); er ist zwar der einzig Überlebende, aber versteht sich noch immer als Teil einer Familie; er ist zwar äußerlich unversehrt, aber innerlich schwerst verletzt; er ist zwar innerlich traurig, aber kann nach außen nur lachen. Alle Einrichtungsgegenstände der bombardierten Wohnung sind zerstört, nur ein Objekt ist noch da: die Küchenuhr. Ohne expliziten Vergleich ergibt sich dadurch trotzdem eine Parallele zwischen der Uhr und dem jungen Mann: Beide sind als einzige „übriggeblieben“ (Borchert 2021, 237). Sie scheinen nach außen heil, sind aber im Inneren zerbrochen; über die Uhr heißt es: „Innerlich ist sie kaputt, das steht fest. Aber sie sieht noch aus wie immer. Auch wenn sie jetzt nicht mehr geht.“ (Borchert 2021, 237) Das könnte man auch über den Mann sagen. Für beide – die Uhr und den Mann – stellt sich nun durch ihre gravierende Verletzung

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auch die Frage nach ihrer ökonomisch-kapitalistischen ‚Brauchbarkeit‘ in der Gesellschaft („Aber sie geht doch nicht mehr, sagte die Frau“; Borchert 2021, 237). Diese implizite Parallele von Mann und Uhr zeigt die tragische Verdinglichung des Menschen durch Kapitalismus und vor allem Krieg genauso wie die dadurch phantastische Verlebendigung der Dinge, denn die Uhr wird für ihren Besitzer zum Gesprächspartner, Mutter- und Gemeinschaftsersatz: Während die Umstehenden sich von ihm abwandten, „nickte er seiner Uhr zu“ (Borchert 2021, 238) und sprach mit ihr: „Da sagte er der Uhr leise ins weißblaue runde Gesicht: Jetzt, jetzt weiß ich, daß es das Paradies war. Das richtige Paradies.“ (Borchert 2021, 239; Herv. d. Verf.) Das Dingsymbol der Uhr zeigt auch eine Materialisierung von Zeiterfahrung im doppelten Sinne: In ihr verdichten sich Zeit und Trauma, Gegenwart und Leiden an der Gegenwart. Die Küchenuhr ist um „halb drei“ (Borchert 2021, 238) stehengeblieben, was bei einer analogen Zeigeruhr doppeldeutig ist: nachmittags oder nachts. Der Mann interpretiert diese Zeit jedoch und vereindeutigt sie ganz bewusst. Für ihn ist klar halb drei Uhr nachts gemeint und für ihn ist das dezidiert nicht der Zeitpunkt des Bombenabwurfs, der eigentlich naturwissenschaftlichempirisch der logische Grund für das Stehenbleiben der Uhr wäre. Der junge Mann interpretiert die abstrakte, mehrdeutige Uhrzeit um: Er will darin nicht die negative Zeit der Bomben sehen („Das hat mit den Bomben nichts zu tun. Sie müssen nicht immer von den Bomben reden“; Borchert 2021, 238), sondern die positive Zeit des humanitär-mütterlichen Ideals der Versorgung, Liebe und Geborgenheit. Denn der junge Mann kam früher immer um halb drei Uhr nachts nach Hause; seine Mutter hörte ihn, stand aus dem Bett auf, kam schlaftrunken und frierend in die kalte Küche und machte ihm (mit nur leichtem, liebevollem Tadel: „So spät wieder, sagte sie dann“; Borchert 2021, 238) etwas zu essen. Diese wortlose und unpathetische Szene wird für die Leserinnen und Leser – und nun im Rückblick auch für den jungen Mann – zum Bild für Jugend, mütterliche Geborgenheit, Humanität und Glück (vgl. Große 1995, 55), zum „Paradies“ (Borchert 2021, 239). Im Treffen von Mutter und Sohn um halb drei Uhr nachts in der Küche verbanden sich auch die Gegensätze: die beiden Generationen mit ihren unterschiedlichen Tagesabläufen und Wertvorstellungen, die sich in diesem Moment in wechselseitiger liebevoller Akzeptanz berührten. Das alles ist zerstört, der Mensch wurde durch den Krieg aus dem Paradies vertrieben. Aus den beiden Einzelwesen Mutter und Sohn mit ihren nächtlichen Treffen in der Küche ist ein groteskes Zwitterwesen, der laut lachende und dabei innerlich tieftraurige Sohn, geworden bzw. „übriggeblieben“ (Borchert 2021, 237). Nur die stehengebliebene Uhr zeugt symbolisch als pervertiertes Nunc stans, als ‚Augenblick verweile doch‘ von jenem verlorenen ‚Paradies‘. Die Uhr vermag die Erinnerung daran punktuell wachzurufen oder, genauer gesagt: Der Mann inter-

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pretiert die eigentlich aussagelose, ja sogar mehrdeutige Uhrzeit, um sie zum Symbol erlebter Mütterlichkeit zu ‚erheben‘ und dadurch die vergangene Geborgenheit festzuhalten. Es wird ihm nicht gelingen, denn diese semantische Aufladung einer eigentlich bedeutungsarmen Uhrzeit geschieht vor dem Hintergrund von Leid, Verlust und Trauma. Auch wenn diese Hoffnungslosigkeit und Orientierungslosigkeit („Dann sagte er leise: Und jetzt?“; Borchert 2021, 239) in der Darstellung der Kurzgeschichte Die Küchenuhr nicht geschmälert werden, so wird doch – und das ist charakteristisch für Wolfgang Borcherts ganzes Prosawerk – das (abwesende) humanitäre Ideal im Leser bzw. in der Leserin aufgerufen. Durch die Küchenuhr, ihre eingefrorene Zeit und deren erzählerische Interpretation durch den jungen Mann wird es evoziert – in den Lesenden wie auch innerhalb der Diegese in den zuhörenden Figuren: „Und der Mann, der neben ihm saß, sah auf seine Schuhe. Aber er sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das Wort Paradies.“ (Borchert 2021, 239) Dieses Bild ist ein poetologisches: Trotz aller realistischen Skepsis gelingt es in der Erzählung und in den dort symbolisch aufgeladenen Gegenständen in einer noch so belastenden, entwurzelten Gegenwart, einen kurzen Moment mütterlicher Geborgenheit und Gemeinschaft zu evozieren. Dasselbe gilt für die Kurzgeschichte Das Brot und dieses Ideal ist dort wiederum mit der Uhrzeit halb drei Uhr nachts verbunden. Vielleicht kann sich gerade oder nur zu dieser – im bürgerlichen, ökonomischen Sinne – unwirtlichen oder unwirklichen Zwischenzeit zwischen Wachen und Schlafen ein Augenblick des Ideals realisieren. Die Kurzgeschichte Das Brot beschreibt ein sehr ähnliches nächtliches Zusammentreffen in der Küche, hier aber eher aus Sicht der beteiligten Frau. Wieder ist es „halb drei“ (Borchert 2021, 320) nachts. Eine Frau wacht auf, weil sie ihren Ehemann in der Küche hantieren hört. Dort hat er heimlich, hinter ihrem Rücken und gegen ihre Interessen, Teile der gemeinsamen Brotration aufgegessen. Es wird mehrfach die Uhrzeit wiederholt („Es war halb drei. […] Die Uhr war halb drei. […] Sie standen sich im Hemd gegenüber. Nachts. Um halb drei. In der Küche“; Borchert 2021, 320), um die ungewöhnliche Tageszeit und damit ‚Ausnahme-Situation‘ zu betonen. Zu dieser Zeit, zu der sich das Ehepaar sonst wohl nie in der Küche trifft, kommt es zu einer ethischen Bewährungsprobe für beide Ehepartner und zu einer Nagelprobe für die 39-jährige Ehe. Während der Mann beides nicht besteht (er lügt und versucht seinen Vertrauensmissbrauch zu vertuschen), setzt die Frau – trotz durchaus kritischer, eine gewisse Ehemüdigkeit verratender Blicke auf ihren nun für sie alt wirkenden Ehemann – dem eine positive Ethik entgegen: Auch sie lügt, indem sie vorgibt, das nächtliche Brotessen nicht zu bemerken, und stellt ihrem Mann beim nächsten Abendessen mehr Brot hin als bisher (wieder mit einer Lüge, in der sich Liebe, Altruismus und Empathie verbinden: „Iß du man […] mehr. Ich vertrag es nicht so gut“; Borchert 2021, 322).

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Das Agieren der Ehefrau ist wie das der Mutter in Die Küchenuhr als sinnbildliches Ideal einer quasi ‚mütterlichen‘ Fürsorge, christlichen Ethik des Verzichts und „Geste der Humanität“ zu werten (Große 1995, 47; vgl. auch Winter 2004). Ihr unpathetisches Tun stellt eine tätige Ethik im Alltag dar, die wohl – so suggerieren Borcherts Texte – der einzige mögliche, aber umso wichtigere Akt des Widerstands in überfordernden Zeiten (wie hier des Hungers und Krieges) ist. Wie in Die Küchenuhr materialisiert sich die ethische und psychologische Problematik in einem titelgebenden Objekt, hier dem Brot, und der Uhrzeit „halb drei“, die eine (im gängigen Arbeits- und Familienalltag) außergewöhnliche Zeit ist. Sie erlaubt eine klarere Wahrnehmung und ethische Bewältigung der sonst verdeckten, übertünchten Problemlagen. Die Dingmotive (Küchenuhr, Brot) und das Motiv der Uhrzeit zeigen die problematische Beziehung der Figuren und deren Entwicklung sowie Integration in eine zerstörerische Umwelt (der Kriegserfahrungen und Nachkriegsprobleme) auf, ohne dass eine offene Kommunikation zwischen den Figuren über ihr Miteinander und ihre inneren Verletzungen stattfinden würde. Der Text beschreibt uns ausschließlich Materielles, empirisch durch Sehen und Hören Wahrnehmbares als Stellvertreter für die (ausgesparten, nicht explizit erzählten) inneren Vorgänge, die Emotionen der Figuren. Dazu gehört in besonderer Weise die Uhrzeit, die über ihre Abstraktheit hinaus hier in beiden Texten auch konkret an das Objekt der Küchenuhr gebunden wird. Interessanterweise wird zwar die Uhrzeit „halb drei“ dabei genannt, aber andere wichtige Informationen (die Namen der Figuren, der Ort sowie das Jahr, der Monat, der Tag der Handlung) werden bewusst ausgespart, was – gerade aufgrund der unvollständigen Zeitangaben – das Geschehen trotz einer indirekten Verankerung im Bombardement und Hunger des Zweiten Weltkriegs übertragbar und überzeitlich gültig macht. Eine solche semantische Unterdeterminierung, ein Zurückhalten von Informationen und eine Poetik der Leerstelle und Lakonie bzw. das erst Nach-und-nach-Preisgeben von spärlichen Informationen ist charakteristisch für Wolfgang Borcherts Kurzprosa, die Gattung Kurzgeschichte und die Literatur nach 1945 gleichermaßen.

2.2 Morgens zwischen vier und halb fünf: Zeit für hoffnungsvolle Träume vor dem bitteren Erwachen Knapp zwei Stunden später, nachts um vier bzw. morgens um halb fünf, ist schon wieder manches anders. Es ist, wie Borcherts Kurzgeschichten Unser kleiner Mozart und Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck auf ähnliche Weise erzählen, die Zeit des Umbruchs: Um vier Uhr ist (so betonen beide Texte) der Schlaf besonders traumreich, ja dies ist die Phase der hoffnungsvollen Träume. Nur wenige Minuten

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später, nämlich um halb fünf, geht diese Phase jedoch abrupt zu Ende, denn dann wird der Schläfer unfreiwillig geweckt. Erst Schritt für Schritt erfahren die Leserinnen und Leser von Unser kleiner Mozart, in welcher düsteren, klaustrophobischen Welt diese Erzählung spielt und welche hoffnungslosen Lebensläufe dort versammelt sind. In einer Gefängniszelle wohnen vier Männer ungewollt zusammen: der Icherzähler, der Homosexuelle Paul (diskriminierend als „Pauline“ bezeichnet), Liebig aus Breslau und ein Musiker, genannt der kleine Mozart. Letzterer wird wegen mehrerer Delikte wie Fahnenflucht, Einbruchdiebstählen, Körperverletzung etc. zum Tode verurteilt. Dieser Raum der Macht, die Heterotopie Gefängnis, greift auch nach der Zeit. Dort wird die Uhr zur Waffe und der extern strukturierte Zeitablauf zur Demonstration der Macht. Im Kerker ist die Zeit – die Haftdauer in Jahren und Monaten – die gültige Währung für die Gefangenen; diese Haftdauer wird von außen durch ein gerichtliches Urteil festgesetzt. Ein wichtiges Machtinstrument dafür ist der „Kalender“ (Borchert 2021, 246), der die Zeitspannen von Freiheit und Unfreiheit einteilt. Der Tages- und Wochenablauf im Gefängnis ist für die Gefangenen zudem klar von außen vorgegeben: Es gibt feste Essenszeiten, am Montag wird rasiert (Borchert 2021, 245) etc. Diese Reflexion über Zeit(‐abläufe) als Instrument der Macht prägt die Erzählung Unser kleiner Mozart. In der Nähe des Gefängnisses und in Hörweite der Gefangenen fährt die Stadtbahn – von „morgens halb fünf bis nachts um halb eins“ und „alle drei Minuten“ (Borchert 2021, 243). Ebenso nach Plan ist der Tagesablauf der Gefangenen durchgetaktet, zwischen „morgens halb fünf bis nachts um halb eins“. Dazwischen liegt bleiernes Nichtstun, Statik, innere Leere. Die Durchsagen am Stadtbahnhof werden so zum negativen Mantra, zum „Mühle-Mahle-Alltagslied“ (Borchert 2021, 244), zum Bild einer zerstörerischen Fremdbestimmung und Hoffnungslosigkeit. Ein – an die traditionsreiche Darstellung von Uhren als Marterinstrument in Höllendarstellungen (vgl. Holm 2012, 456) wie etwa in Schottelius’ Grausamer Vorstellung und Beschreibung [d]er Hölle gemahnendes – Symbol dafür ist die Uhr, die Unterfeldwebel Truttner draußen vor der Zellentür „auf dem Schoß“ liegen hat und die das ganze Leben für die Häftlinge bestimmt (Borchert 2021, 245). Diese Uhr ist „dick und laut und abgeschabt“ (Borchert 2021, 245) und erinnert darin an den magenkranken, grimmigen Truttner selbst, was eine ähnliche Gleichsetzung von Uhr und Uhrenbesitzer und damit Zeichen der entmenschlichenden Verdinglichung wie in Die Küchenuhr darstellt. Zugleich ist diese Uhr zusammen mit Truttners preußisch klappernden Absätzen und seiner Pistolentasche (vgl. Borchert 2021, 245 – 246) Insignium seiner Macht. Sucht man nach den Gegenwelten zu dieser zerstörerischen Macht der Uhren und Kalender, so sind es wiederum kleine Gesten der Verbundenheit und Freigebigkeit (etwa wenn der kleine Mozart dem Icherzähler sein Hemd schenkt;

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Borchert 2021, 246 – 247) und eine Gegenzeit: nämlich „morgens um vier“ (Borchert 2021, 245), bevor die Tretmühle um halb fünf (analog zur ersten Fahrt der Stadtbahn) beginnt. Zu dieser Zeit riecht die Natur besonders gut: „Vielleicht roch sie [= die Frau, die am Stadtbahnhof die Durchsagen macht, in der sehnsüchtigen Vorstellung der inhaftierten Männer] auch wie das nasse Gras morgens um vier: So kalt und so grün und so toll und so, ja, und so – –“ (Borchert 2021, 245). Solche Momente der Freiheit und des sinnlichen, erfüllten Lebens sind in der bedrängenden Sphäre des Gefängnisses nur im Traum möglich, und das nur vor dem extern strukturierten Tagesablauf, der um halb fünf durch kollektives Wecken beginnt. Auch Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck beschreibt anhand von Zeitabläufen – hier jedoch vor allem anhand des Jahreskreislaufs mit seinen Monaten und Jahreszeiten – externe Machtstrukturen. Dieser experimentelle Text kontrastiert den poetischen Topos des Kuckucksschreis im Mai als (hier: falsches, frustrierendes) Zeichen der hoffnungsvollen Sehnsucht nach Leben und Glück mit der unausweichlichen Allgegenwart von Gewalt, Krieg, Enttäuschung, Einsamkeit, Angst und Fremdbestimmung. Wie in Unser kleiner Mozart wird der entmenschlichende Kreislauf des Alltags, aus dem ein Ausbrechen unmöglich scheint, durch das Motiv der Straßenbahn und ihrer wiederkehrenden, durchgetakteten Fahrpläne ausgedrückt (vgl. Borchert 2021, 271– 273). Es gibt aber auch hier punktuell Hoffnung und Glück: „Toll sind die Märzmorgende am Strom, man liegt noch im Halbschlaf, gegen vier so.“ (Borchert 2021, 267) Es ist die Phase „in dem letzten Traum vor Tag“ (Borchert 2021, 267) und diese Träume „gegen vier so“ sind besondere Träume: Es sind nicht mehr die einfachen Wunschträume von gutem Essen und Sex (d. h. Träume „von Schwarzbrot und Kaffee und kaltem Schmorbraten“ oder von „stammelnden, strampelnden Mädchen“; Borchert 2021, 267), sondern es sind „die ganz anderen Träume, die ahnungsvollen, frühen, die letzten, die allgewaltigen, undeutbaren Träume, die träumt man an den tollen Märzmorgenden am Strom, früh, um vier so …“ (Borchert 2021, 267). Die frühe Uhrzeit vier Uhr am Morgen vor dem Erwachen der ökonomischen Arbeitsabläufe und externen Machtstrukturen wird hier mit einer analogen Jahreszeit – dem März als Monat des frühen, noch winterlichen Frühlings – und dem Raum der Natur als Ort der Freiheit von zivilisatorisch-kapitalistischen Zwängen kombiniert, um einen (flüchtigen, vergänglichen, aber auch zyklisch wiederkehrenden) Idealzustand aufzurufen. Später in der Erzählung wird diese Übergangszeit zwischen vier Uhr mit der dann gerade noch herrschenden traumschweren Stille, die langsam in erste Geräusche des gegen halb fünf erwachenden Arbeitsalltags übergeht, nochmals in einem Raum der Kultur, einer einfachen Wohnung in einem Mehrfamilienhaus, beschrieben. Es ist die Übergangszeit „morgens vor Tag“ (Borchert 2021, 279):

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Morgen wird es. Es wird schon grau draußen vor den Gardinen. Es wird wohl bald vier sein. Und der Kuckuck ist schon wieder dabei. Die Frau liegt wach. Oben geht schon jemand. Eine Brotmaschine bumst drei- vier- fünfmal. Eine Wasserleitung. Dann den Flur, die Tür, die Treppen: Schritte. Der von oben muß um halb sechs auf der Werft sein. Halb fünf ist es wohl. (Borchert 2021, 279)

Der Kontakt, der sich zu dieser Zeit zwischen Träumen und Reflektieren zwischen einer schon wachen Frau (einer Prostituierten) und einem noch schlafenden Mann (einem Freier) ergibt, ist ein phantastischer, alptraumartig-kämpferischer, zugleich „mütterlich“-anteilnehmender (Borchert 2021, 280). Wieder ist es gerade eine Zwischenphase, in der Wahrheit und Anteilnahme – nur – für Momente möglich sind. Dies lässt sich auch poetologisch lesen und auf das eigene Medium der Dichtung beziehen: Die ganze Erzählung Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck reflektiert durchgehend die Rolle der Dichtung – und dies sehr selbstkritisch. Betrachtet man die hier beschriebenen Träume, die man morgens so gegen vier Uhr träumt, so sind sie poetologisch zu verstehen; in ihnen mag sich abzeichnen, was eine selbst vor der zerstörerischen Wirklichkeit versagende Dichtung doch punktuell zu leisten vermag.

3 Zeittexte in mehrfacher Hinsicht. Von den stehengebliebenen Uhren und halben Stunden in der Kurzprosa nach 1945 Literarische Uhren gehen anders. Auch wenn an Uhren und Uhrzeiten scheinbar objektivierbare, überkulturelle und messbare Zeiteinteilungen abzulesen sind, sind in Wolfgang Borcherts Kurzprosa Uhren und Uhrzeiten stets individuell interpretiert und symbolisch aufgeladen. Sie problematisieren zerstörerische Macht, äußern unausgesprochen unaussprechbare Kriegstraumatisierungen und rufen Ideale von Mütterlichkeit, Humanität und Solidarität auf, auch wenn diese vergangen oder abwesend sind. Es sind gerade die nächtlichen und dort die halben Stunden in ihrer unbestimmten Zwischenzeit aus Wachen und Träumen, die jenseits des ökonomisch-kapitalistischen Arbeitstakts am Tage die Zeit für zwischenmenschliche Anteilnahme und hoffnungsvolle Gedankenentwürfe bieten. Durch die Analogie von Zeit und Erzählen werden solche halben Zwischenstunden und ihre Imagination von abwesenden Idealen zum poetologischen Bild dessen, was Literatur selbst in Krisenzeiten leisten kann – ohne falsches Pathos oder eindeutige Wahrheiten. Es sind die halben Stunden und die vom Krieg zer-

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teilten Menschen, die in ihrer Unvollständigkeit und Vagheit für Momente etwas messen und zeigen können, was keine Uhr abbilden kann. Und es ist gerade die Zeit der Nacht, in der diese andere Wahrnehmung und Imagination möglich wird, ohne die Schrecknisse des anbrechenden Tages zu verharmlosen. Borcherts Kurzprosa, die in dieser Hinsicht für die Kurzprosa auch anderer Autorinnen und Autoren nach 1945 repräsentativ ist, wird so zu Zeittexten in mehrfacher Hinsicht: Sie denken über die Wahrnehmung bzw. das Erleiden von Zeit allgemein sowie ihre Gegenwart der Nachkriegszeit im Besonderen nach. In ihren Dingmotiven wie etwa den Uhren materialisiert sich Zeit, die von den Figuren zudem individuell interpretiert und mit symbolischer Bedeutung aufgeladen wird. Die Kurzgeschichte mit ihren gattungskonstitutiven Merkmalen der begrenzten Erzählzeit und betonten erzählten Zeit, ihrem Zeitbezug und ihrer Überzeitlichkeit, ihren Leerstellen und ihren Dingmotiven, die die Leserinnen und Leser aktiviert und zum Mitinterpretieren einlädt, ist dafür eine ideale Gattung (vgl. Wenzel 2007, 369; Meyer 2014, 19 – 20; vgl. auch Durzak 2002, 1994; Marx 2005). Versteht man mit Baßler zudem die Kurzprosa nicht nur als vagen Überbegriff, sondern zusätzlich als „Restkategorie“ für alle kürzeren Prosatexte, die sich durch ihre Hybridität einer genauen Gattungszuordnung entziehen (Baßler 2007, 371), so sind Spielarten der Kurzprosa generell ideale Kunstformen für jene ästhetischen Halb- und Zwischenzeiten, zu denen Borcherts Handlungen spielen. Insofern greifen die Motive Uhren und Uhrzeiten, die Gattung der Kurzgeschichte, der Zeitbezug der Texte zur unmittelbaren Nachkriegszeit und die individuelle Poetik Wolfgang Borcherts kreativ ineinander, um eine Zeit des neuen, anderen Erzählens über Krisenzeiten zu eröffnen, die an den literarischen Uhren abzulesen ist.

Literatur Baßler, Moritz. [Art.] „Kurzprosa“. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. Harald Fricke, Georg Braungart, Klaus Grubmü ller, Jan-Dirk Mü ller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar. Bd. II: H–O. Berlin/New York: de Gruyter, 2007. 371 – 374. Borchert, Wolfgang. Das Gesamtwerk. Hg. Michael Töteberg unter Mitarbeit von Irmgard Schindler. 100 Jahre Borchert. Limitierte Sonderausgabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2021. Bronfen, Elisabeth. „Nächtliche Begegnungen anderer Art“. Die Nacht. Hg. Haus der Kunst München. Wabern/Bern: Benteli, 1998. 153 – 168. Bronfen, Elisabeth. Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. München: Hanser, 2008.

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Durzak, Manfred. Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart. Autorenporträts, Werkstattgespräche, Interpretationen. Würzburg: Königshausen & Neumann, 32002. Durzak, Manfred. Die Kunst der Kurzgeschichte. Zur Theorie und Geschichte der deutschen Kurzgeschichte. München: Fink, 21994. Große, Wilhelm. Wolfgang Borchert: Kurzgeschichten. Interpretationen. München: Oldenbourg, 1995. Holm, Christiane. [Art.] „Uhr“. Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart/Weimar: Metzler, 22012. 456 – 458. Honold, Alexander. Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur. Basel: Schwabe, 2013. Honold, Alexander. Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800. Berlin: Vorwerk 8, 2005. Lenz, Siegfried. Die Erzählungen. Mit einem Geleitwort von Marcel Reich-Ranicki. Redaktion: Moritz Kienast. Hamburg: Hoffmann & Campe, 2006. Marx, Leonie. Die Deutsche Kurzgeschichte. Stuttgart/Weimar: Metzler, 32005. Meyer, Anne-Rose. Die deutschsprachige Kurzgeschichte. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt, 2014. Schmidt, Marianne. „Zuletzt bleibt nur der Wind. Über Prosatexte von Wolfgang Borchert“. Dann gibt es nur eins! Von der Notwendigkeit, den Frieden zu gestalten. Beiträge der Konferenz anläßlich des 60. Todestages von Wolfgang Borchert. Hg. Heidi Beutin, Wolfgang Beutin, Heinrich Bleicher-Nagelsmann und Holger Malterer. Frankfurt am Main u. a.: Lang, 2008. 63 – 72. Wenzel, Peter: [Art.] „Kurzgeschichte“. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. Harald Fricke, Georg Braungart, Klaus Grubmü ller, Jan-Dirk Mü ller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar. Bd. II: H–O. Berlin/New York: de Gruyter, 2007. 369 – 371. Winter, Hans-Gerd: „Wolfgang Borchert: Das Brot“. Interpretationen. Klassische deutsche Kurzgeschichten. Hg. Werner Bellmann. Stuttgart: Reclam 2004. 23 – 27.

Stefan Hermes

„Es hat sich heut nicht viel ereignet“: Aspekte von Zeitlichkeit in Hans Sahls Exilgedicht Kalenderblatt 1 Zur Einführung Die Erfahrung des Exils ist die Erfahrung eines unfreiwilligen Verlusts der Heimat bzw. eines erzwungenen Neubeginns in der Fremde. Daher liegt es auf der Hand, dass die Dimension des Raums für die Forschung zur ab 1933 entstandenen deutschsprachigen Exilliteratur herausragende Bedeutung besitzt. Gleichwohl wäre es verfehlt, die Dimension der Zeit hier für vernachlässigenswert zu halten. Denn wie in der außerliterarischen Realität sind beide Dimensionen ja auch in literarischen Werken a priori miteinander verbunden; eben dies vermittelt bekanntlich der Bachtinʼsche Begriff des Chronotopos, dessen Konjunktur bis heute anhält.¹ Neben derlei allgemeinen Tatsachen bedarf jedoch ein spezielleres Phänomen der Beachtung: In vielen Fällen ist kaum zu übersehen, dass sich die Zeit im Exil – und in der Exilliteratur – „nicht mehr im Gleichtakt mit der vorexilischen Zeit bewegt“ (Evelein 2006, 102). Demgemäß wird im Folgenden der Umgang mit Fragen der Temporalität in Hans Sahls um 1940 verfasstem Gedicht Kalenderblatt im Zentrum des Interesses stehen.² Damit gilt die Aufmerksamkeit den Versen eines Autors, dessen Œuvre man sich bislang eher im Rekurs auf spatiale Analysekategorien genähert hat: Nicht von ungefähr trägt Andrea Reiters seit eineinhalb Jahrzehnten vorliegende

 Unter einem Chronotopos ist laut Bachtins berühmter Studie, die erstmals 1975 erschien, der „wechselseitige[ ] Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfassten Zeit-und-Raum-Beziehungen“ (Bachtin 2017, 7) zu verstehen.Vgl. aus der neueren Forschung zum Beispiel Ostheimer und Schrage (2016). Allerdings dürfte wenig dagegen sprechen, dass sich eine literaturwissenschaftliche Studie (aus heuristischen Gründen) auf Probleme der Zeit- oder der Raumdarstellung konzentriert.  Ursprünglich hatte Sahl den Text in seinen 1942 in New York publizierten Band Die hellen Nächte. Gedichte aus Frankreich aufnehmen wollen, in dem er aber letztlich nicht enthalten war. Veröffentlicht wurde er erst 1976 in Sahls Sammlung Wir sind die Letzten, und zwar mitsamt der Fehlinformation, er stamme aus Die hellen Nächte. Dass diese Fehlinformation in der hier dennoch verwendeten Edition von Sahls Gedichten unkorrigiert bleibt, moniert Brodersen (2010); vgl. zur Entstehungs-, Publikations- und Rezeptionsgeschichte von Die hellen Nächte Brodersen (2012). https://doi.org/10.1515/9783110773750-022

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Stefan Hermes

Standardmonografie zu Sahls Exilwerk den Titel Die Exterritorialität des Denkens. ³ Wenn nun stattdessen in erster Linie erörtert wird, inwiefern das ausgewählte Gedicht Aspekte von Zeitlichkeit inszeniert, soll dies überwiegend im Modus des close reading geschehen. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den diskurshistorischen Kontexten muss in Anbetracht des vorgegebenen Rahmens also ebenso unterbleiben wie der Versuch, die Relationen zwischen Exiliertendasein auf der einen und literarischer Gestaltung von Zeit(empfinden) auf der anderen Seite systematisch-typologisch zu erfassen.

2 Zu den formalen Charakteristika von Kalenderblatt Ein tiefgreifender Wandel des subjektiven Zeiterlebens vollzieht sich gemeinhin schon auf dem Weg ins Exil, muss dieser – oder auch der Weg von einem Exilort zum nächsten – doch meist im Modus der Flucht bewältigt werden (vgl. Košenina 2021). Davon kündet beispielsweise Sahls autobiografisch gefärbtes Gedicht Marseille IV, in dem unter anderem erwähnt wird, dass sich die aus Hitlerdeutschland Vertriebenen in Frankreich genötigt sehen, „nach Papieren, Stempeln, Scheinen“ zu „jagen“ (Sahl 2009c), um möglichst bald in Richtung Amerika weiterreisen zu können.⁴ Das ihnen zur Verfügung stehende Zeitkontingent schwindet rapide dahin, und eine Beschleunigung des eigenen Handelns erscheint unvermeidlich, wollen sie zumindest die Chance wahren, sich in Sicherheit zu bringen. Folglich sind die „Exilant*innen“ „von früh bis abends auf den Beinen“, ja sie „laufen um die Wette mit dem Tod“ (Sahl 2009c). Allerdings werden sie während dieses entsetzlichen Wettlaufs oftmals massiv behindert; immer wieder müssen sie Phasen des Stillstands durchleben, in denen die Zeit nur quälend langsam verstreicht: „Wir stehen tagelang vor Konsulatsportalen“ und „Wir wissen alle, dass wir warten müssen“, heißt es in Marseille IV, und das

 Inspiriert ist dieser Titel durch mehrere Formulierungen von Sahl selbst (vgl. Reiter 2007, 218 – 232).  Sahls eigene Fluchtgeschichte mit Stationen in Prag, Zürich, Paris, Marseille und schließlich New York skizzieren Kellenter (1989, 804– 810), Skwara (1986, 59 – 88) und Reiter (2007, 12– 14). In die USA gelangte er – wie rund 2000 weitere Personen, darunter Hannah Arendt, André Breton, Marc Chagall, Max Ernst, Lion Feuchtwanger, Siegfried Kracauer, Heinrich Mann, Walter Mehring und Franz Werfel – mithilfe des Emergency Rescue Committee (ERC), dessen Aktivitäten Varian Fry von Marseille aus koordinierte. Sahl selbst war dort zeitweilig Mitarbeiter Frys gewesen (vgl. Reiter 2007, 90 – 97); später widmete er ihm Die hellen Nächte. Einen knappen Überblick zum Wirken des ERC liefert Strempel (2018).

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Verb „warten“ (Sahl 2009c) begegnet noch an zwei weiteren Stellen. Somit vergegenwärtigt das Gedicht eine extrem belastende Situation, die auch in Sahls autofiktionalem Roman Die Wenigen und die Vielen von 1959 und im zweiten Teil seiner Autobiografie, Das Exil im Exil aus dem Jahr 1990, geschildert wird (vgl. Sahl 2010, 322– 327 bzw. Sahl 2008, 331– 352).⁵ Mit Blick auf Kalenderblatt aber sei zunächst festgehalten, dass sich der Titel des Gedichts offenbar auf eines von dreihundertfünfundsechzig (oder dreihundertsechsundsechzig) Blättern eines Tagesabreißkalenders bezieht.⁶ Dies ist der komplette Wortlaut:









Es hat sich heut nicht viel ereignet. Ich stand sehr früh schon auf, besah den Himmel, nahm etwas zu mir und beschloß, was ich geschrieben hatte, zu zerreißen. Dann zählte ich mein Geld. Um zwei gelang mir eine Zeile, die mich freute. Ich mußte mich beeilen. Ein Freund lud mich zum Mittag ein. Ich wartete bis vier und überlegte, ob ich mir eine Luftpostmarke kaufen sollte oder ein Stück Brot. (Ein Hilferuf nach Übersee war schon seit langem fällig.) Ich ging in mein Hotel zurück, aß eine Suppe, die Madame mir brachte und später auf die Rechnung setzte, was mich kränkte. Am Abend fand ein Vortrag statt, den ich mir schenkte. Ich borgte mir von P. fünf Zigaretten, besorgte mir die Marke, schrieb den Brief und warf ihn an der Ecke in den Kasten, der schon fast voll war – wird man ihn je leeren? Dann schrieb ich weiter, ohne aufzuhören, ging spät zu Bett und las die Zeitung, rauchend. Die Lage ist ja wirklich nicht erfreulich. Es hat sich heut bei mir nicht viel ereignet. (Sahl b)

Was hier aus einer nächtlichen Schreibszene heraus (und unter Wahrung der Chronologie) rekonstruiert wird, ist also der Verlauf des nunmehr verflossenen Tages. Ins Auge sticht dabei, dass der erste und der letzte Vers großenteils identisch sind, wobei die lediglich am Ende des Gedichts vorhandene Präpositional-

 Eine eindrückliche Thematisierung erfährt diese Situation überdies in (gleichermaßen autofiktionalen) Marseille-Romanen wie Anna Seghersʼ Transit (1944) und Fred Wanders Hôtel Baalbek (1991).  Die eminente Bedeutung des Kalendarischen für die deutschsprachige Literatur hat Alexander Honold in einigen bahnbrechenden Untersuchungen erschlossen; vgl. vor allem Honold (2005) und Honold (2013).

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ergänzung „bei mir“ den Inhalt der Aussage individualisiert. Jedenfalls sind es zwei besonders exponierte Stellen, an denen das lyrische Ich konstatiert, dass sich seit dem Morgen „nicht viel ereignet“ (V. 1 und V. 20) habe. Dadurch wird diese Einschätzung mit Nachdruck versehen, und der nüchtern-prosanahe Charakter des Gedichts scheint sie zusätzlich zu bekräftigen. Dieser Charakter resultiert vornehmlich daraus, dass Sahl auf eine strophische Gliederung und weitestgehend auch auf Reime verzichtet hat;⁷ zudem besitzen seine Verse kein alternierendes Metrum, sondern sind freirhythmisch gestaltet.⁸ Obendrein ist eine ungewöhnlich hohe Zahl an Enjambements auszumachen, sodass insgesamt der Eindruck entsteht, die angeführten Geschehnisse seien fast nahtlos ineinander übergegangen. Dazu fügt sich die beinahe ohne Metaphorik oder andere Formen bildlicher Sprache auskommende Diktion von Kalenderblatt. ⁹ Doch ungeachtet dieser Diktion bleiben viele Sachverhalte, welche die Sprechinstanz benennt, eigentümlich diffus. Der Informationswert ihrer Sätze ist zum Teil ein auffallend geringer, und mithin drängen sich Fragen auf, zu deren Beantwortung Sahls Text in seiner Kargheit keinerlei Anhaltspunkte liefert: Wie war der in Vers 2 erwähnte Himmel denn eigentlich beschaffen? Woraus bestand das direkt danach angesprochene Frühstück, und welche Art von Manuskript wollte das Ich zerreißen (vgl. V. 2– 4)? Wie lautete die Zeile, die ihm später zu seiner Freude in den Sinn kam (vgl.V. 5)? Dieser Fragenkatalog ließe sich in Bezug auf die folgenden fünfzehn Verse mühelos fortsetzen.

3 Das Problem der Langeweile Demnach gelangt in Sahls Kalenderblatt ein Tag zur Darstellung, der keine denkwürdigen Erlebnisse, sondern im Grunde nur (vermeintliche) Belanglosigkeiten zu bieten hatte. Inszeniert wird ein wenig interessantes Verrinnen der Zeit, ja eine gewisse Monotonie, die sich aus der Limitierung der Handlungsmöglich Einzig die Schlusswörter von Vers 12 und 13, „kränkte“ und „schenkte“, bilden einen unreinen Reim.  Dagegen folgen die meisten Gedichte in Sahls Die hellen Nächte sehr wohl „konventionellen Vers- und Reimmustern, ihr Rhythmus ist streng und doch singend angelegt“ (Skwara 1986, 213). Dies dokumentiert etwa das poetologische Gedicht De profundis, dem ein zutiefst paradoxes Verhältnis von Form und Inhalt eignet: „Ich bin der Zeit und ihrem Reim entfremdet, / Es hat die Zeit mir meinen Reim entwendet“, klagt das Ich darin irritierenderweise, und weiter: „Wo Welten stürzen, Völker sich vernichten / kann sich das Wort zum Reim nicht mehr verdichten.“ (Sahl 2009a) In Sahls späterer Lyrik herrschen dann aber tatsächlich reimlose Gedichte vor.  Allenfalls der „Hilferuf nach Übersee“ in Vers 10 ließe sich als (konventionalisierte) Metapher einstufen.

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keiten des Sprechers unter den widrigen Bedingungen des (französischen) Exils speist. Insofern stützt Sahls Gedicht die von Reiter (2007, 166) vertretene These, der zufolge „die physische Entwurzelung“ eines Menschen in der Regel „eine Vertreibung aus den temporalen Zusammenhängen mit sich“ bringt. Die fehlende Einbindung des Ichs in Arbeitskontexte hat nicht allein seine finanziellen Spielräume, sondern auch den Grad der Resonanz, die es von seinem Umfeld erfährt, signifikant verringert.¹⁰ Dadurch aber ist es offenbar in jene Stimmung versetzt worden, die man gewöhnlich mit dem Ausdruck ,Langeweile‘ zu fassen sucht. Es ist hier weder möglich noch erforderlich, sämtliche Facetten der Langeweile zu beleuchten.¹¹ In jedem Fall bezeichnet der Terminus eine „Dehnung […] der Zeit“ (Hilgers 2020, 209) bzw. einen Überfluss an temporalen Ressourcen, der üblicherweise zu mehr oder minder starkem Unmut Anlass gibt. Mit anderen Worten: Das Gefühl der Langeweile erwächst aus dem (Miss‐)Verhältnis zwischen einer Zeitspanne und ihrem Inhalt; erstere kann schier endlos anmuten, wenn die in ihr zu registrierenden Begebenheiten als quantitativ und/oder qualitativ unbefriedigend wahrgenommen werden (vgl. Bellebaum 1990, 68 – 73). Ist aber die Zeit eines Individuums nicht adäquat ausgefüllt, verspürt es, so Kant (1917, 151) in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1798, eine schmerzliche „Leerheit des Gemüths an Empfindungen“, begreift es sich also selbst als unausgefüllt. Dies trifft zumindest dann zu, wenn es außerstande ist, die gegebene Situation als eine der Muße zu erfahren.¹² Gelegentlich jedoch kann die Langeweile diesem ungleich positiver konnotierten Phänomen durchaus ähneln; zu sprechen wäre dann von einer „schöpferischen Langeweile“, die mit einem erklecklichen Maß an „Offenheit“ und „Empfänglichkeit“ (Doehlemann 1991, 10) für Neues einhergeht – und die unter anderem von Goethe, Nietzsche und Walter Benjamin beschworen wurde (vgl. etwa Völker 1975, 76 – 78; Hilgers 2020, 214– 215).¹³

 Vgl. zur schwierigen beruflichen Lage, in der sich auch der Autor Sahl nach seiner Flucht aus dem ‚Dritten Reich‘ befand, Krause (2010, 161– 164).  Vgl. stattdessen die umfassende wort- und begriffsgeschichtliche Abhandlung von Völker (1975).  Die Relationen zwischen Langeweile und Muße sondieren zum Beispiel Bellebaum (1990, 169 – 171) und Kessel (2001, 27– 29). Einen merklichen Aufschwung hat die Mußeforschung durch den Freiburger Sonderforschungsbereich 1015 erlebt; vgl. etwa den repräsentativen Sammelband von Dobler und Riedl (2017).  Insgesamt unterscheidet Doehlemann (1991, 23) vier Varianten der Langeweile, die „freilich vielfältig miteinander verwoben“ seien. Neben der schöpferischen gibt es ihm zufolge eine „situative[ ] Langeweile“, die sich bei „kurzfristigen Handlungseinschränkungen“ einstellt, eine „überdrüssige[ ] Langeweile“, die aus einem „Mangel an ,anderem‘“ hervorgeht, und eine „existentielle[ ] Langeweile“, die durch eine angebliche „Sinnarmut von Welt“ (Doehlemann 1991, 9 – 10) ausgelöst wird. Gerade die letztgenannte Spielart weist eine recht enge Verwandtschaft mit

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Was aber bedeutet dies in Bezug auf Sahls Kalenderblatt? Wie schon betont, konstatiert das Ich darin gleich zweimal, an dem von ihm geschilderten Tag sei kaum etwas geschehen – bzw. kaum etwas von Relevanz. Denn um Langeweile zu vermeiden, genügt es ja mitnichten, „irgendetwas zu tun“; vielmehr ist es unabdingbar, „sich mit lohnenswert und sinnvoll erscheinenden Dingen zu befassen.“ (Bellebaum 1990, 70) Der Sprecher des Gedichts jedoch lässt die meisten der von ihm rekapitulierten Geschehnisse wie bloße Nichtigkeiten wirken. Das Beobachten des Himmels, die mehrmalige Nahrungsaufnahme, die Fußwege durch die Stadt, das Zu-Bett-Gehen und das Rauchen – all dies sind bei Sahl denkbar unspektakuläre Handlungen, die in ihrer Gesamtheit eine „penetrante[ ] (All‐)Gegenwart von Banalem“ (Doehlemann 1991, 23) konstituieren. Mehr noch: Implizit genährt wird die Befürchtung, dass sich das zähe „Einerlei“ (Doehlemann 1991, 23) am nächsten und am übernächsten und am überübernächsten Tag nahezu unverändert wiederholen könnte. Speziell die Beinahe-Identität des Auftakt- und des Schlussverses von Kalenderblatt suggeriert eine zyklische Verfasstheit der vorgeführten, durch frustrierende „Erlebnisarmut“ (Doehlemann 1991, 53) – wenngleich nicht durch völlige Tatenlosigkeit – bestimmten Lebensrealität.¹⁴

der ,Todsünde‘ der Acedia sowie mit der Melancholie auf (vgl. Völker 1975, 122 – 133; Bellebaum 1990, 15 – 66; Kessel 2001, 20 – 26). Inwiefern die Langeweile darüber hinaus als „Kehrseite“ der Akzelerationsprozesse der Moderne verstanden werden kann, erläutert Rosa (2005, 87).  Prinzipiell scheint die Lyrik als jene literarische Gattung, die sich durch Kürze und Prägnanz auszeichnet – auch in Sahls Gedicht wird ja ein ganzer Tag in stark geraffter Form nachvollzogen –, zur Evokation von Langeweile nur bedingt geeignet zu sein. In der Epik hingegen lässt sich dieses Gefühl nicht selten durch die Ausweitung der Erzählzeit generieren, etwa vermittels ausufernder Deskriptionen. Im Drama wiederum kann ein solcher Effekt bisweilen erzielt werden, indem der Grad an Ereignishaftigkeit sehr gering gehalten wird. Dabei stellt sich allerdings die Frage, welche Radikalität das jeweilige Publikum in dieser Hinsicht verkraftet – und wann es fluchend das Buch beiseitelegt oder türenschlagend aus dem Theatersaal stürmt. Jedenfalls versteht es sich, dass literarische Texte, die das Phänomen der Langeweile thematisieren, nicht ihrerseits als langweilig empfunden werden müssen. Zu den von der Forschung immer wieder behandelten ‚Klassikern‘ in diesem Bereich gehören neben Ivan Aleksandrovič Gončarovs Oblomov-Roman (1859) oder Samuel Becketts Stück En attendant Godot (1952) drei deutschsprachige Werke, denen Alexander Honold grundlegende Studien gewidmet hat, nämlich Georg Büchners Komödie Leonce und Lena (1836) und zwei der großen Romane der Moderne:Thomas Manns Der Zauberberg (1924) und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930 – 1943).Vgl. insbesondere Honold (1995) und Honold (2013, 127– 147 und 189 – 200). Zum Zauberberg bemerkt Honold (2013, 193) einmal: „Die umständliche Beschreibung der Einnahme von Mahlzeiten, die breite Wiedergabe von medizinischen Vorträgen und philosophischen Streitgesprächen hat etwas Einlullendes, gesucht Langweiliges; als wollte der Autor seine Thesen zur beliebigen Dehnbarkeit der Zeit beim Erzählen gleich ausprobieren.“ Im Verlauf des Romans aber „setzt ein merkliches Accelerando ein, der Abbildungsmaßstab von Erzählzeit zu erzählter Zeit wächst beständig, bis schließlich ganze Jahre in wenigen Sätzen durcheilt oder vielmehr übersprungen werden“ (Honold 2013, 193).

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4 Selbstbehauptung (nicht nur) im Schreiben Angesichts dessen wird man Sahl sicher nicht vorhalten wollen, die Härten des Exils, die er in Die Wenigen und die Vielen und in seiner Autobiografie so eindringlich vor Augen stellt,¹⁵ im hier betrachteten Gedicht zu bagatellisieren. Die prekäre Situation des Ichs wird darin ohne Zweifel deutlich – und doch signalisiert eine lakonisch-litotische Formulierung wie „Die Lage ist ja wirklich nicht erfreulich“ (V. 19), dass dieses Ich nach wie vor über die Fähigkeit zur Selbstbehauptung verfügt. Denn als vollkommen unerträglich und gänzlich hoffnungslos bewertet es sein Dasein eben nicht, und immerhin ist es ihm bislang wohl gelungen, in der Fremde einen halbwegs geregelten Alltag aufrechtzuerhalten, ungeachtet aller finanziellen Sorgen und psychischen Belastungen. Im Exil ist das beileibe nicht wenig; vielmehr zeugt es von einem hohen Maß an Resilienz. Analog dazu hat die Sprechinstanz ihren schriftlichen „Hilferuf nach Übersee“ (V. 9) nicht etwa in heller Panik, sondern sogar mit Verspätung abgesetzt, wofür aber keineswegs Fatalismus oder Resignation ursächlich waren. Von beidem findet sich in Kalenderblatt nicht die geringste Spur – und auch nicht von jener „nostalgische[n] Vergangenheitssucht“ (Evelein 2006, 105), die in der Literatur des Exils mitunter begegnet. Eine „Rückwärtsgewandtheit“, welche sich „dem Hier und Jetzt [verschließt]“ und außerdem jeden „Zukunftshorizont“ zum Verschwinden bringt, sodass „der Zeitstrom selber [stagniert]“ (Evelein 2006, 105), ist in Sahls Versen nirgends zu entdecken. Stattdessen indiziert deren spröder Tonfall einen Hang des Ichs zum Understatement bzw. seinen Unwillen, das eigene ‚Weitermachen‘ über Gebühr zu heroisieren. Der bedeutsamste Grund dafür, Kalenderblatt als ein Gedicht über die Selbstbehauptung im Exil zu lesen, ist indes in der darin erfolgenden Ausgestaltung des Motivs des Schreibens zu sehen. So wurde das eigene Schreiben für fast alle aus dem ‚Dritten Reich‘ verjagten Autor*innen zum gravierenden Problem, und entsprechend erörterten sie es in etlichen literarischen und expositorischen Texten. Auf recht typische Weise tat dies Ernst Bloch in seinem Essay Zerstörte Sprache – zerstörte Kultur, den er 1939 in New York als Vortrag präsentierte. „Wie können wir als deutsche Schriftsteller in einem anderssprachigen Land das Unsere tun, uns lebendig erhalten?“, fragt Bloch (1977, 263) darin unter anderem, „[o]der was dasselbe ist (dasselbe sein sollte): Wie können wir hier unseren Mann stehen, unseren Ort finden, unsere Aufgabe erfüllen?“ An tragfähigen Antworten darauf mangelte es freilich, und so scheiterte die große Mehrheit der Exilautor*innen bei dem Versuch, sich in der Fremde ein neues Publikum zu  Vgl. neben den einschlägigen Passagen bei Reiter (2007, 265 – 332) auch Klaiber (2005).

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erschreiben, das ihre einstige Leserschaft in Deutschland zu ersetzen vermochte. Allzu häufig führte dieses Scheitern über kurz oder lang zu einem vollständigen Verstummen. Das Ich in Sahls Gedicht aber lässt sich von den mehr als ungünstigen Verhältnissen mitnichten am Schreiben hindern und verteidigt dadurch seine Identität als Schriftsteller. Zwar hatte es, das sei noch einmal in Erinnerung gerufen, am Morgen die Vernichtung von bereits zu Papier Gebrachtem beschlossen, doch konnte es sich mittags über eine geglückte Zeile für einen seiner (literarischen?) Texte freuen, ehe es abends einen wichtigen Brief verfasste und anschließend „weiter[schrieb], ohne aufzuhören“ (V. 17). Kalenderblatt schildert demnach einen veritablen Schreibtag – und mithin einen Tag, der über weite Strecken von kreativer Betätigung erfüllt war. Obwohl das nicht triumphal ausgestellt wird, ist darin allemal eine Form des Widerstands gegen die ungemein schwierige Lage zu erkennen, in die das Ich ohne eigenes Verschulden geraten ist. Und ein solcher Widerstand verdient es, nicht etwa dem Vergessen anheimzufallen, sondern ihm durch „die formende, aufhaltende und bewahrende Gegenkraft“ (Honold 2013, 11) der Literatur einstweilen entzogen zu werden. Zu bilanzieren wäre, dass Sahls Verse gewissermaßen Einspruch erheben gegen das Los der deutschen Exilant*innen. Zugleich unterminieren sie destruktiv-pessimistische Einschätzungen dessen, was die aus der Heimat Verbannten in der Fremde zu leisten vermögen, und konvergieren folglich mit einer Feststellung, die man in Bezug auf den Autor Sahl getroffen hat: „Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten ließ die Existenznot die zum Schreiben nötige Muße nicht aufkommen […]. Dennoch versuchte er auch in der aussichtslosesten Situation literarisch produktiv zu bleiben.“ (Reiter 2007, 10) Seine Tage wollte Sahl nicht ungenutzt verstreichen lassen; für ihn galt es, weiterzuschreiben, trotz allem. Davon legt Kalenderblatt eindrücklich Zeugnis ab.

Literatur Bachtin, Michael. Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt am Main: Suhrkamp 42017. Bellebaum, Alfred. Langeweile, Überdruß und Lebenssinn. Eine geistesgeschichtliche und kultursoziologische Untersuchung. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990. Bloch, Ernst. „Zerstörte Sprache – zerstörte Kultur“. Deutsche Literatur im Exil 1933 – 1945. Texte und Dokumente. Hg. Michael Winkler. Stuttgart: Reclam, 1977. 346 – 372. Brodersen, Momme. Eine etwas allzu lieblose Edition. Die gesammelten Gedichte von Hans Sahl. www.fixpoetry.com/feuilleton/kritik/hans-sahl/die-gedichte. 2010 (20. Juli 2021).

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Brodersen, Momme. „,Blutige Realität am Leser vorbeiziehen lassen, als läse er eine Story‘. Zu Hans Sahls Gedichtanthologie Die hellen Nächte“. Exil. Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse 32.2 (2012): 5 – 18. Dobler, Gregor und Peter Philipp Riedl (Hg.). Muße und Gesellschaft. Tübingen: Mohr Siebeck, 2017. Doehlemann, Martin. Langeweile? Deutung eines verbreiteten Phänomens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991. Evelein, Johannes F. „Exil und Zeiterfahrung in Lion Feuchtwangers Roman Exil“. Lion Feuchtwanger und die deutschsprachigen Emigranten in Frankreich von 1933 bis 1941. Hg. Daniel Azuélos. Bern: Lang, 2006. 101 – 110. Hilgers, Thomas. [Art.] „Langeweile“. Formen der Zeit. Ein Wörterbuch der ästhetischen Eigenzeiten. Hg. Michael Gamper, Helmut Hühn und Steffen Richter. Göttingen: Wehrhahn, 2020: 209 – 217. Honold, Alexander. Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktionen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München: Fink, 1995. Honold, Alexander. Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800. Berlin: Vorwerk 8, 2005. Honold, Alexander. Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur. Basel: Schwabe, 2013. Kant, Immanuel. „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“. Gesammelte Schriften. 1. Abt., Bd. VII. Hg. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berlin: Reimer, 1917. 117 – 333. Kellenter, Sigrid. [Art.] „Hans Sahl“. Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 2.1. Hg. John M. Spalek und Joseph Strelka. Bern: Francke, 1989: 803 – 825. Kessel, Martina. Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein, 2001. Klaiber, Isabell. „Erzählte Exilerfahrung. Hans Sahls Die Wenigen und die Vielen“. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 46 (2005): 259 – 275. Košenina, Alexander. „,Vor einem halben Jahr hätten wir Deutschland noch verlassen können‘. Ablaufende Zeit in Fluchtromanen von Ulrich Alexander Boschwitz und Erich Maria Remarque“. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 12.2 (2021): 59 – 70. Krause, Robert. Lebensgeschichten aus der Fremde. Autobiografien deutschsprachiger emigrierter SchriftstellerInnen als Beispiele literarischer Akkulturation nach 1933. München: Text + Kritik, 2010. Ostheimer, Michael und Dominik Schrage. „Raum als ästhetische Formung von Zeit. Bachtins Chronotopos-Begriff in Literatur und sozialer Wirklichkeit“. Zeit der Form – Formen der Zeit. Hg. Michael Gamper, Eva Geulen, Johannes Grave, Andreas Langenohl, Ralf Simon und Sabine Zubarik. Göttingen: Wehrhahn, 2016. 83 – 110. Pikulik, Lothar. „Langeweile oder die Krankheit zum Kriege. Bemerkungen zu einem nicht nur literarischen Thema“. Zeitschrift für deutsche Philologie 105.4 (1986): 593 – 618. Reiter, Andrea. Die Exterritorialität des Denkens. Hans Sahl im Exil. Göttingen: Wallstein, 2007. Rosa, Hartmut. Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005. Sahl, Hans. „Das Exil im Exil“. Memoiren eines Moralisten / Das Exil im Exil. München: Luchterhand, 2008. 229 – 500.

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Hubert Thüring

Heute kommt die Sonne etwas früher als gestern: Zeit und Zeitlichkeit in Primo Levis Erzählen Im Jahr 1966 erschien unter dem Titel Storie naturali eine Sammlung von Erzählungen von Damiano Malabaila. Sie handeln, anders, als der Titel verspricht, weniger von Menschen in der Begegnung mit der äußeren Natur, den Tieren, Pflanzen, Steinen usw., sondern mehr von wissenschaftlichen und technischen Forschungen und Erfindungen mit phantastischem, vor allem futuristischem oder Science-fiction-Einschlag. Unter dem Titel Mnemagogien etwa erzählt ein alternder Wissenschaftler einem eben erst promovierten von seiner Erfindung, Erlebnisse als Gerüche zu konservieren und wieder wachzurufen. Der Versifikator ist eine Maschine, mit der ein mehr erfolgsorientierter als talentierter Dichter Gedichte nach Maß produzieren will. In Das Maß der Schönheit kommt ein Kalometer zum Einsatz; Vertamin, so der Titel einer weiteren Erzählung, ist eine chemische Substanz, die Lust- und Schmerzempfindungen umpolt.

1 Gedächtnis der Zukunft In der szenischen Erzählung Dornröschen in der Tiefkühltruhe feiert Patricia im Berlin des Jahres 2115 ihren einhundertdreiundsechzigsten Geburtstag, nachdem sie einhundertvierzig Jahre in der Hibernation in einer Tiefkühltruhe verbracht hat und nur zu besonderen Ereignissen geweckt bzw. aufgetaut worden ist. Solche sind neben dem eigenen Geburtstag etwa Raumexpeditionen, aufsehenerregende[] Verbrechen, Prozesse[], Hochzeiten von Fürsten oder Filmstars, internationale[] Baseballspiele[], große[] Erdbeben und ähnliche Katastrophen: also bei allen Anlässen, die es verdienten, mit angesehen und der fernen Zukunft überliefert zu werden […]. (Levi 1995, 87)

Patricia ist 1975 mit vierundzwanzig Jahren in einer Selektion aufgrund ihrer guten Eigenschaften, zu denen auch die Schönheit gehört, ausgewählt worden und ist seitdem nur die dreihundert Tage älter geworden, an denen sie aufgetaut worden ist, denn die Hibernation setzt den Alterungsprozess aus. Sie erlebt mithin, abgesehen von ihren Geburtstagen, nur sogenannte historische Tage, also Tage, die von der jeweiligen Gegenwart als überlieferungswürdig https://doi.org/10.1515/9783110773750-023

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erachtet und in einem lebendigen Archiv, das sie verkörpert, dem kollektiven Gedächtnis der Zukunft erhalten werden sollen. Nicht nur in dieser äußeren historischen Dimension lebt Patricia ein komprimiertes und intensiviertes Leben, sondern auch persönlich. Denn ihrer Schönheit wegen wird sie jedes Mal von den jungen Männern des Experimentteams umworben. An diesem Geburtstag jedoch nutzt Patricia die Avancen eines Gastes, um sich von ihm befreien zu lassen, und verschwindet dann nach Amerika zu einem hibernisierten Altersgenossen. Die Storie naturali hatten zunächst keinen Erfolg, wie der Autor in einem Radiogespräch 1982 berichtet. Später dann schon, als sie unter dem richtigen Namen des Autors, Primo Levi, herauskamen, denn da war er als Autor von Ist das ein Mensch? und anderen Büchern weltberühmt geworden. In Ist das ein Mensch?, entstanden zwischen Ende 1945 und Anfang 1947, legt Levi von den Erfahrungen der Deportation nach Auschwitz-Monowitz, der zehnmonatigen Gefangenschaft und der Befreiung Zeugnis ab. Das Buch, 1947 erschienen, wurde zunächst nicht wahrgenommen, erst mit der Neuauflage 1958 beim Verlag Einaudi, der es bei der ersten Anfrage abgelehnt hatte, wurde es sehr schnell zu einem der herausragenden Zeugnisse der Shoah.Vom Erfolg beflügelt, schrieb Levi 1962 das Buch Die Atempause, in dem er die odysseehafte und zum Teil auch pikareske Heimreise von Auschwitz über Belarus mit bewussterem Formwillen erzählte. Von da an verfasste Levi viele Fiktionen, Erzählungen und Romane, Essays und Feuilletons, die nicht unmittelbar mit der Shoah zu schaffen hatten, daneben aber auch weiterhin Texte über die Erfahrung des Lagers, zuletzt im großen Essay Die Untergegangenen und die Geretteten, erschienen 1986, ein Jahr vor dem Tod, vermutlich durch Selbstmord. Ein Pseudonym wählte Levi, wie er es 1982 selbst rechtfertigte, deshalb, weil er (auch angeregt durch den Verlag)¹ befürchtete, als Autor von Ist das ein Mensch? und Die Atempause „bestimmte Empfindlichkeiten zu verletzen, besonders die meiner KZ‐Gefährten“, die vor allem das erstere „als ihr Buch ansahen“. Das Schreiben von fiktiven Texten hätte „als ein Verrat“ oder zumindest ein „Abrücken“ von der Solidarität erscheinen können (Levi 1999/1982, 40 – 41).² Levi hat also schon früh einen gewissen Widerstreit oder zumindest eine Spannung zwischen zwei Möglichkeiten des Schreibens empfunden, die er allerdings erst ab 1975 offen problematisierte, als er seinen Brotberuf als Direktor einer Farbfabrik aufgab, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Als er sich 1979, fünfunddrei In einer Recherche von 2019 veröffentlicht Carlo Zanda Zeugnisse, wonach es der Verlag Einaudi gewesen sei, der Levi empfohlen habe, mit Rücksicht auf seinen Status als ‚memoralista‘ ein Pseudonym zu wählen.  Bei den Interviews wird das Entstehungs‐ oder Ersterscheinungsjahr jeweils als zweite Jahreszahl nach dem Schrägstrich genannt.

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ßig Jahre nach der Rückkehr von Auschwitz, noch einmal anschickte, die Erfahrung des KZs und seine Zeugenschaft zu reflektieren (daraus wird dann das Buch Die Untergegangenen und die Geretteten hervorgehen, das 1986 erscheint), fragte er sich, ob er „denn sicher“ sein könne, „daß es wahrhaftige Geschehnisse“ seien, und ob er wirklich darauf „verpflichtet“ sei, oder kann ich sie zum Beispiel so zurechtbiegen, daß sie mir gelegen kommen, oder gar neue erfinden? Gibt es eine klare Grenze zwischen dem Erzähler, der beansprucht und fordert, daß man ihm aufs Wort glaubt, und einem Mann wie Boccaccio, der Novellen zu anderen Zwecken erzählt, nicht mit dokumentarischer Absicht, sondern einfach aus Spaß, zur Erbauung? Das sind Fragen, die ich noch nicht gelöst habe und über die ich weiter nachdenke. (Levi 1999/1979, 158)

2 Erlebte, erzählte und historische Zeit In Levis Problematisierung des Erzählens zwischen Faktualität und Fiktionalität nistet auch die Frage nach der Belegbarkeit und Bezeugbarkeit der Ereignisse der Shoah und nach der historischen Einordbarkeit. Sie hat Levi über das Problem der Literarizität hinaus von Anfang an beschäftigt, zunehmend aber von 1980 an, als sich die historische Distanz im Verschwinden der KZ-Überlebenden und in revisionistischen Diskussionen in der Geschichtswissenschaft und der breiteren Öffentlichkeit manifestiert.³ Damit erscheint die Shoah als Problem der historischen Zeit sowohl in Bezug auf die Kontinuität und Stabilität der historischen Überlieferung bzw. des allgemeinen Bewusstseins als auch in der Bewertung als Ereignis, das sich entweder in die Kausalität oder wenigstens Kontinuität einreihen und so mit anderen Ereignissen verbinden und vergleichen lässt, oder dann als singuläres Geschehen, das die Kausalität und Kontinuität der Geschichte, ja der Zeit selbst unüberwindbar durchbrochen hat. Das kontrafaktische Erzählen, das alternative historische Verläufe ohne Shoah entwirft, kann als Gegenprobe zum Revisionismus betrachtet werden, wie Caspar Battegay (2016) gezeigt hat. Ausgangspunkt ist Friedrich Dürrenmatts Text Das Hirn (1990), in dem das titelgebende Organ die wirkliche und mögliche Evolution und Geschichte selbstreflexiv zu erschließen vermag bis auf die reine Kontingenz und Faktizität des Konzentrationslagers. Anhand der Romane von Stephens Fry, Making History (1996), und Martin Amis, Time’s Arrow, Or the Nature

 Vgl. Biller 2021. Hier werden die Debatten um den Revisionismus das Leugnen im Weiteren nicht aufgearbeitet. Die für Levi damals relevante Debatte findet sich dokumentiert in Augstein 1987.

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of the Offence (1991), sowie des Films Inglourious Basterds (2009) legt Battegay sodann dar, dass das kontrafaktische Erzählen paradoxerweise nicht zu zeigen vermag, „wie es ohne Shoah gewesen wäre oder sein würde“.Vielmehr treiben die analysierten Alternativen den „Punkt der Nicht-Fiktionalisierbarkeit und Unumkehrbarkeit“ erst recht hervor. Das „Trauma der Shoah“ hat die „westliche (und vielleicht auch die globale) Kultur unumkehrbar mit einer Bruchstelle versehen“, welche die historische Zeit selbst betrifft (Battegay 2016, 300 und 296; vgl. Rosenfeld 2005). Aufgrund seiner angeführten Haltung zum Erzählen ist es nicht erstaunlich, dass Levi seine Storie naturali und andere Fiktionen, die, wie die referierte des Dornröschens in der Tiefkühltruhe, durchaus experimentell-kontrafaktisch operieren, nicht direkt auf die Geschehnisse der Shoah bezieht. Denn zunächst konnte es für ihn nur darum gehen, diese Geschehnisse aus der Perspektive des Erlebens überhaupt erzähl- und mitteilbar zu gestalten, was er mit Ist das ein Mensch? wenige Monate nach der Rückkehr im Oktober 1945 unternahm. Dass die narrativ-poetisch Gestaltung des Erlebens ein ‒ zunächst vielleicht unbewusstes oder unreflektiertes ‒ Bestreben war, lässt sich aus der Differenz zu anderen von ihm verfassten Berichten mit klar dokumentarischem Charakter schließen (vgl. Levi 2017). Diesseits des sich bald herausbildenden Topos der ‚Unsagbarkeit‘, den Levi kritisiert hat (vgl. Levi 1987b, 89 und 2004), stellt sich das Problem der Zeitlichkeit schon hier nicht nur hinsichtlich der längerfristigen historischen Überlieferung, sondern auch der Narrativierung des Erlebten, und dies nicht erst im Nachhinein, sondern schon als Möglichkeit des Erlebens in der Extremsituation des Lagers selbst (vgl. Thüring 1992). Giuseppe Stellardi untersucht in seiner Studie „The Point of Time: Structures of Temporality in Primo Levi’s Se questo è un uomo“ von 2019 die narrative Wiedergewinnung und Vermittlung von Zeitlichkeit anhand der Zeitformen der Verben und der zahlreichen Stellen, wo Levi die systematische Zerstörung der Zeitdimension und die Versuche der narrativen Reorientierung thematisiert. Abgeschnitten von der Vergangenheit und ohne jegliche Zukunft unterliegen die Häftlinge der „‚absoluten Gegenwart‘“ einer zugleich monoton zerdehnten und chaotisch verhetzten Welt ohne Außen, die zudem unter der Kontingenz des Todes steht (Stellardi 2019, 708). Die Analyse macht deutlich, wie nuanciert und präzis Levi die duale Situation des „wiedererlebenden Charakters“, der die Auflösung der Zeit und die Momente ihrer Wiederkehr registriert, und des „erinnernden Schreibers“ (ebd. 709), der den Zeitbogen und die Episoden rekonstruiert, und deren vielfältige Interferenz in einer eigentlichen „Chronopoiesis“ zu komponieren und zu reflektieren vermag (ebd. 711). Dass diese Chronopoiesis bis in die erlebte Gegenwart des Lagers selbst hineinwirkt und sich als elementare Kraft erweist, in Ausnahmemomenten durch Erinnerungen, Wahrnehmungen und Ge-

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spräche die „normale Temporalität“ zu generieren bzw. zu regenerieren (ebd. 713), legt Stellardi neben anderen Beispielen am berühmten Kapitel „Der Gesang des Odysseus“ dar (vgl. Levi 1988, 115‒121). Hier erteilt Levi dem Mithäftling Jean Samuel (dem „Pikkolo“, das heißt dem Jüngsten des Kommandos) beim Suppenholen eine Italienischlektion, indem er den betreffenden Infernogesang aus Dantes Divina Commedia rekonstruiert. Die spezifische literarische Temporalität, in der sich die erlebte Zeit und die Zeit des Erzählens verknüpfen und auf eine „unbestimmte Zukunft“ ausgerichtet finden, nennt Stellardi „Exotemporalität“. In ihr bleibe die unvermeidliche „Unsagbarkeit“ (ineffability) eines prekären Erlebens aufgehoben als etwas, was in jeder zukünftigen Gegenwart neu zu interpretieren sei (Stellardi 2019, 716 – 717). Stellardis Ausführungen sind in Bezug auf die Herausarbeitung der zahlreichen Stellen zur Zerstörung der Zeitorientierung durch die Lagergewalt, die subjektive Empfindung der Häftlinge und die narrative (Re‐)Strukturierung der Zeiterfahrung erkenntnisreich. Aber die Analytik bleibt, auch terminologisch, in manchen Belangen doch recht vage und wenig gestützt durch weitere und engere Forschungen, die wahlweise hätten herangezogen werden können: So wären Hinweise auf die basale Arbeit von Paul Ricœur zu Zeit und Erzählung (1983 – 1985) und auf die grundlegende Analyse der „Zerstörung der Zeit“ im Konzentrationslager, die Wolfgang Sofsky in Die Ordnung des Terrors (1993, 106) geleistet hat, durchaus am Platz (und typo- und terminologisch hilfreich) gewesen; oder, schon spezifischer, auf die gedächtnis- und auch zeitspezifische Interpretation des Dante-Kapitels in Harald Weinrichs Lethe (1997) (und weitere)⁴ und auf die Bestimmung der Zeugenschaft von Giorgio Agamben in Was von Auschwitz bleibt (2013), die in engem Zusammenhang mit der Unsagbarkeit steht. Hier hätten die von Levi selbst thematisierten und reflektierten Aporien der (literarischen) Zeugenschaft wenigstens konturiert werden können. Vor allem aber hätte die thematische Verwandtschaft mit mehreren von Levis Texten des Shoahkomplexes und ebenso mit den Zeitfiktionen, die sich nicht direkt auf die Shoah beziehen wie der eingangs referierte über das Dornröschen in der Tiefkühltruhe, wenigstens festgestellt werden können. Natürlich übersteigt eine breitere und tiefere Erarbeitung der Texte und Ansätze in der indizierten Richtung die Möglichkeiten eines Aufsatzes. Im Folgenden soll hier dennoch ein Pfad skizziert werden, der die historische Dimension der Überlieferung und deren revisionistische Manipulation oder, als Gegenstrategie, die kontrafaktische Fiktion mit der Thematisierung und Strukturierung von Zeit in

 Einen erleichterten Zugang zu den zahlreichen Forschungen ermöglicht die Bibliografie des Centro internazionale di studi Primo Levi: http://opac.primolevi.it.

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Levis Lagertext und seinen Zeitfiktionen verbindet. Hier fragt sich im Besonderen, wie die objektivierenden Manipulationen durch die Lagerorganisation und die subjektiven Empfindungen und Gegenstrategien der Häftlinge (in Ist das ein Mensch?) mit den ‚wissenschaftlichen‘ Manipulationen der Zeit und den subjektiven Empfindungen (in den Fiktionen) aufeinander zu beziehen sind. Unterwegs werden ein paar einfache analytische Begriffe entlang der Unterscheidung von chronos und kairos aufgenommen. Auf diese Weise soll deutlich werden, inwiefern die Zeiterfahrung der ambivalente Kern von Levis Schreiben im Kreuzungspunkt von historiografischer Zeugenschaft und fiktionalisierendem Erzählen bildet. Dieser Punkt wird hier gleich noch einmal aufgenommen.

3 Motivationen des Schreibens „Ohne die Zeit in Auschwitz“, die er mitunter auch als sein „Abenteuer“ bezeichnet (Levi 1987a, 35), „hätte ich wahrscheinlich nie ein Buch geschrieben. […] Es war das Erlebnis des Lagers, das mich zum Schreiben zwang“ (Levi 1999/1976, 222), so formuliert Levi den bereits exponierten empfindlichen Nerv seiner Schriftstellerei. Den „Drang“, zu erzählen und sich damit zu „befreien“, vergleicht er mit demjenigen von Odysseus, der erschöpft „am Hof der Phäaken ankommt“ und dennoch „die Nacht damit zu[bringt], seine Abenteuer zu erzählen“. Auch würden diejenigen, die mit diesem „Erzählfieber“ zurückgekehrt seien, während andere nie mehr davon gesprochen hätten, mit dieser Erfahrung „einen nachträglichen Ruhm erwerben“ (Levi 1999/1979, 152). Levi geht so weit, zu erwägen, dass sein „Wille, nicht nur zu überleben […], sondern zu überleben mit dem konkreten Ziel zu erzählen“, bei seinem Überleben, wenn auch nur „in geringem Maß“ angesichts der ungeheuren Systematik und Kontingenz der Vernichtung, vielleicht sogar „mitgespielt“ habe. Es habe ihm dabei geholfen, „stets, auch in düstersten Tagen, in meinen Gefährten und in mir selbst Menschen zu erkennen und keine Dinge und mich somit jener Erniedrigung und Demoralisierung zu entziehen, die viele in den geistigen Schiffbruch geführt hat“ (Levi 1999/1976, 223). Der Erzähldrang sei auch genährt worden durch ein unerklärliches − einmal nennt er es „nahezu pathologisch exaktes“ (Levi 1987b, 229) – „visuelles und akustisches Gedächtnis an die damaligen Erlebnisse […]. Aus einem mir unbekannten Grund ist mit mir etwas Anomales passiert, ich würde beinahe sagen, eine unbewußte Vorbereitung auf die Zeugenschaft“ (Levi 1999/1984, 231– 232). Aus der relativierenden Redeweise, aber auch aus der nachdrücklichen Behauptung der Exaktheit des Gedächtnisses kann man das Unbehagen heraushören, das von diesen mehrfachen Spannungsverhältnissen zwischen historiografischer Zeugenschaft und literarischer Fabulierlust und zwischen zufälligem

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Überleben und psychophysischer Prädisposition herrührt. Dieser Spannungskomplex lässt sich als Zirkel konkretisieren: Für Levi darf Ist das ein Mensch? keine Literatur mit einem ästhetischen oder poetischen Eigenwert sein, weil er damit die Zeugenschaft im Sinn eines faktischen Berichts verraten würde. Die behauptete – und zweifellos gegebene – Außerordentlichkeit des Gedächtnisses erscheint so als Deck‐ oder vielmehr Verschiebungsargument für das literarische Erzählvermögen. Das Argument des Gedächtnisses wird aber seinerseits problematisch, weil es eine gegen alle Wahrscheinlichkeit sprechende Privilegierung gegenüber der überwiegenden Mehrheit der Nichtüberlebenden bedeuten würde. Dagegen bietet Levi wiederum das Argument auf, dass er ohne Auschwitz nicht Autor geworden wäre, was aber wiederum in einem Spannungsverhältnis steht mit dem Umstand, dass nicht alle Überlebenden Zeugnis abgelegt haben. So bleibt der Erzählimpuls, ohne den es keine Zeugenschaft und keinen Autor namens Levi oder Malabaila gäbe, unbegründet, als Rest, übrig.

4 Die Zeugenschaft im Zirkel der Zeit Natürlich ist dieser Spannungskomplex nicht nur für Primo Levis Schreiben konstitutiv, sondern für die literarische Zeugenschaft der Shoah überhaupt und ist in dieser Hinsicht schon vielfältig untersucht worden.⁵ Doch gehören Levis neben Imre Kertészʼ Texten der Zeugenschaft sicher zu denjenigen Werken, in denen sich diese Spannung besonders differenziert artikuliert findet. Dass sich das Erzählen gerade auch aus dieser Spannung speist, zeigen die zitierten früheren Gespräche, also bis Ende der 1970er Jahre, in denen Levi noch einen gewissen spielerischen und lustvollen Umgang damit pflegt. Ab 1980 ist jedoch eine gewisse Zuspitzung zu beobachten. Während dieser Jahre arbeitet er bereits an den Essays von Die Untergegangenen und die Geretteten, in dem er nun nicht mehr Zeugnis ablegt, sondern die Zeugenschaft in ihrer Begründung und Wirkung reflektiert. Dieser Prozess kulminiert im Erkennen einer Aporie, die den Erzählimpuls zu arretieren scheint: Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen. Das ist eine unbequeme Einsicht, die mir langsam bewußt geworden ist, während ich die Erinnerungen anderer las und meine eigenen nach einem Abstand von Jahren wiedergelesen habe. Wir Überlebenden sind nicht nur eine verschwindend kleine, sondern auch eine anomale Minderheit: wir sind die, die

 Vgl. etwa Günther 2002, 43 – 44: Der „Hiatus von Fakt und Fiktion, und das heißt in diesem Fall von Unrepräsentierbarem und seiner Narration“, wird „zur wichtigsten Produktionskraft der Texte“.

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aufgrund von Pflichtverletzung, aufgrund ihrer Geschicklichkeit oder ihres Glücks den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben. Wer ihn berührt, wer das Haupt der Medusa erblickt hat, konnte nicht mehr zurückkehren, um zu berichten, oder er ist stumm geworden. Vielmehr sind sie, die ‚Muselmänner‘, die Untergegangenen, die eigentlichen Zeugen, jene, deren Aussage eine allgemeine Bedeutung gehabt hätte. Sie sind die Regel, wir die Ausnahme. (Levi 1987b, 83)

Giorgio Agamben hat dieser markanten Stelle durch die zentrale Platzierung in seiner Analyse von Was von Auschwitz bleibt? ein zusätzliches Gewicht verliehen. Im Horizont der modernen Biopolitik bestimmt er die Position des Zeugen mit einem Zirkel von Paradoxierungen des Subjekts, des Menschen, der Sprache, der Zeit, der Historie philosophisch wie diskurshistorisch als jenen Rest, den die wissenschaftlichen und philosophischen Lebenskonzeptionen sowie die gouvernementale Verwaltung zwar ermöglicht haben, den aber erst Auschwitz durch die Zuspitzung zum realen Paradox buchstäblich erzeugt hat: „Das Paradox besteht hier darin, daß […] die Identität zwischen Mensch und Nicht-Mensch nie vollkommen ist und daß es nicht möglich ist, den Menschen völlig zu zerstören, daß immer etwas, ein Rest, übrig bleibt. Dieser Rest ist der Zeuge.“ (Agamben 2013, 117) Agamben zufolge hat Levi gerade an dem Punkt, an dem er gleichsam die Kapitulation seiner Zeugenschaft firmiert, indem er die unüberbrückbare Differenz von Muselmann und Überlebendem zu erkennen meint, auch die Untrennbarkeit von Muselmann und Zeuge erwiesen. Gerade weil die Erfahrung des Muselmanns, des Nichtmenschen, nicht erinnert und bezeugt werden kann, bleibt sie durch den erzeugten Rest zu erinnern und zu bezeugen. Der Überlebende als Rest der unvollkommenen Todesproduktion und der eigentliche Zeuge, der Muselmann, bedürfen des Autors, der ihre untilgbare Differenz und untrennbare Zusammengehörigkeit artikuliert. Die Wahrheit der Zeugenschaft liegt Agamben zufolge nicht im Faktischen, das als Unbezeugbares zugleich auch unleugbar ist, sondern in der Artikulation der untilgbaren Differenz von Sagbarem und Unsagbarem und deren untrennbarer Zusammengehörigkeit in der Sprache (vgl. ebd. 137). Im Sinn der Derridaschen différance öffnet Agamben ansatzweise auch die temporale Dimension der Zeugenschaft: Wie viel Zeit auch vergehen mag, die Erfahrung bleibt zu bezeugen, weil ihre Unbezeugbarkeit ständig einen Rest an Zeit erzeugt, in dem noch bezeugt werden muss, bevor die Zeugnisse ad acta gelegt werden könnten. Deshalb bleibt die Shoah, figuriert in der Janusköpfigkeit des Muselmanns und des Überlebenden, die zugleich in die Vergangenheit und in die Zukunft schaut, unarchivierbar. Agamben treibt die Zeitreflexion in eine Richtung, die aufgrund des religiösen Kontextes auch Unbehagen bereiten kann: Die Zeit, die bleibt, die Restzeit, denkt er als messianische Zeit, als Zeit der Ret-

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tung, als Jetztzeit, die potenziell zu jeder Zeit gegeben ist und ergriffen werden kann. Die historische Zeit und das Archiv, das sie materialisiert bewahrt und aus dem sie in jeder Gegenwart potenziell neu entfaltet werden kann, drohen im theologischen Grenzbegriff des Messianischen ebenso zu verschwinden wie das subjektive Erleben und Empfinden der Zeit, die das Erzählen erfahrbar werden lassen. Doch genau dies sind die Dimensionen, die Levi durchmessen hat, um zur zitierten Einsicht zu gelangen, und die in der Kronzeugenschaft, in die ihn Agamben beruft, nicht angemessen ‚aufgehoben‘ scheinen. Die gewaltsame Unterbrechung der kollektiven und der individuellen Zeitlichkeit durch die Shoah führt in der Zeugenschaft und besonders im Erzählen Levis zu einer problematischen Spannung zwischen historischer Linearität und zirkulärem Wiederholen des Gleichen: Die Möglichkeit, Vergangenes in der Gegenwart bedeutsam zu aktualisieren und auf eine Zukunft hin auszurichten, steht im Widerstreit mit dem Bestreben, das Geschehen, dessen Kernerfahrung unbezeugbar ist, gedächtnistreu zu berichten und zu bewahren und in ritualisierten Formen wie Gedenktagen weiterzureichen, die in ein aushöhlendes Kreisen zu geraten drohen.

5 Fiktive Modulierungen von chronos und kairos Die Zeitfiktionen Levis können als Versuch begriffen werden, diesem Dilemma zu entgehen. Gleichzeitig legen sie Spuren zur Erkenntnis, dass und wie die nationalsozialistische Vernichtungspolitik bis in einzelne Aspekte hinein eine Strategie der Zeitvernichtung verfolgt hat. In der fiktiven Normalität der Zeitmanipulation findet die von der Shoah generierte Pathologie der Zeiterfahrung zu einer Kenntlichkeit ihrer faktischen Herkunft aus dem Lager entstellt (vgl. Thüring 1992). Dem in der szenischen Erzählung vom Dornröschen in der Tiefkühltruhe vorgeführten Experiment liegt die Idee zugrunde, den historischen Zeitfluss, den chronos, auszulöschen zugunsten einer Kette von eminenten Augenblicken, von lauter kollektiven kairoi. Kairos wird hier nicht verstanden als faustischer Augenblick der Erfüllung, sondern elementarer als herausgehobener Augenblick, der den Chronos unterbricht bzw. aufhebt. Dabei muss die kairotische Zeit nicht als inexistent gedacht werden, sondern kann auch als verdichtet oder zusammengedrängt oder als in sich kreisend und damit als Minimalform des Zyklischen betrachtet werden. Chronos und Kairos werden hier als Modi verstanden, die Zeit als Basisdifferenz überhaupt erst strukturieren und als solche wahrnehmbar machen. Auf die historische Dimension bezogen versucht das Experiment, die Zukunft der Historie, das heißt das, was in Zukunft als geschichtliche Fakten bewahrt werden soll, als lebendiges Gedächtnis und, weil Patricia ein chiffriertes Tagebuch führt, zugleich auch dokumentarisch festzulegen. Doch dadurch wird für

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Patricia als Individuum die Serie der Kairoi irgendwann selbst zum monotonen Chronos: „Ich bin es wirklich leid, einfrieren, auftauen, einfrieren, auftauen.“ (Levi 1995, 99) Deshalb entflieht sie in die ‚Normalzeit‘ der Gegenwart, die von einem teils ritualisierten, teils kontingenten Wechsel von Chronos und Kairos, von linearen und zyklischen Zeitmodi strukturiert wird. Sie möchte „zum Journalismus“, wie sie sagt, und, nachdem sie ihr eigenes Tagebuch publiziert haben würde, auch die „intimen Tagebücher aller Mächtigen ihrer Epoche veröffentlichen, Churchill, Stalin und so weiter“. Auf die Frage, woher sie denn diese Tagebücher habe, antwortet sie: „Ich habe sie nicht. Ich werde sie schreiben. Anhand von authentischen Begebenheiten.“ (ebd. 95) Während das Experiment als wissenschaftliches darauf abzielt, aus den für relevant erachteten Kairoi einen objektiv bereinigten Chronos herzustellen, möchte Patricia sie subjektiv ausnützen: Als nicht kalkulierter Effekt des Experiments scheint sie sich befähigt zu glauben, souverän über die Zeit in Form der Tagebücher zu verfügen und sie als kairotische Ereignisse kommerziell und reputativ zu verwerten. Wobei die Verfügungsgewalt durch die von ihr supponierten Autoren Churchill und Stalin hinreichend markiert wird. Die szenische Erzählung erkundet damit die beiden extremen Pole des Umgangs mit Zeit in historischer und mnemonischer Hinsicht: die wissenschaftlich-objektivierende Manipulation der prospektiven Geschichte durch Selektion und die literarisch-subjektive Modulierung oder gar Manipulation des Erinnerns durch Erfindung.

6 Reale Vernichtung der Zeit Sensibilisiert von diesem thematisch und motivisch einschlägigen Erzählexperiment, die nicht direkt vom Lagererlebnis und der Erfahrung der Shoah handeln, treten auch die Zeitzüge jener Texte, in denen das Lager und die Shoah zentral sind, deutlicher hervor. Das bedeutet nicht, dass die Zeitthematik der Lagererfahrung nicht auch ohne die Zeitfiktionen wahrgenommen werden können, doch die Zeitfiktionen verleihen der Problematik eine größere Dringlichkeit und der Analyse eine größere Tiefenschärfe. Gewichtige Werke wie La tregua (Die Atempause), Se non ora quando (1982) (Wann, wenn nicht jetzt, 1989), ein Roman vom Widerstandskampf polnisch-jüdischer Partisanen, die sich nach Italien durchschlagen, um nach Palästina zu gelangen, und Ad ora incerta (1975/1984) (Zu ungewisser Stunde, 1998), der Gedichtband, tragen schon im Titel Indizes der Zeit, die sie auch thematisieren und reflektieren, sowie metonymisch verbundene Phänomene und Verhältnisse wie Geschichte, Gedächtnis und das dokumentarische oder literarische Erzählen.

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Dies ist besonders in den anderen Lagertexten der Fall, allen voran Ist das ein Mensch?, wie der referierte Beitrag von Stellardi zeigt. Eine Zeitpassage, die vielleicht erst dem zeitspezifisch geschärften Sinn auffällt, zählt sicher zu den Ur‐ und Elementarszenen von Levis Zeiterfahrung im Lager: Heute und hier besteht der Sinn [des Lebens], das Frühjahr zu erleben. Ein anderes Ziel gibt es jetzt nicht für uns. Morgens auf dem Appellplatz, wenn wir in Reih und Glied endlos der Stunde harren, da es zur Arbeit geht, wenn uns jeder Luftzug unter die Klamotten dringt und Schauer über unsere ungeschützten Leiber jagt, wenn alles grau ist ringsumher, grau wie wir selber; morgens, wenn es noch dunkel ist, suchen wir alle den Himmel im Osten ab, um die ersten Anzeichen der milden Jahreszeit zu erspähen. Der Aufgang der Sonne ist täglicher Gesprächsstoff: Heute kommt sie etwas früher als gestern; heute ist es ein bißchen wärmer als gestern; in zwei Monaten, in einem Monat wird die Kälte von uns ablassen, und wir werden einen Feind weniger haben. (Levi 1988, 78)

Zunächst sollen (an Stellardi anknüpfend) die Strategien und Manöver der Zeitzerstörung durch den Lagerbetrieb und deren Wirkungen auf die Häftlinge betrachtet und dann die thematisierten Gegenstrategien betrachtet werden ‒ beides in gebotener Kürze. Die Zeitmanipulation gehört zu den brachialsten und zugleich subtilsten Gewaltausübungen der Nazi-Konzentrationslager. Sofsky hat sie wie erwähnt in seiner zum Standardwerk gewordenen Studie Die Ordnung des Terrors aus der objektiven Perspektive des Lagerbetriebs (vgl. Sofsky 1993, 88‒97) und der subjektiven der Häftlinge untersucht (vgl. ebd. 98‒111). Zur Ersteren gehören z. B. die einerseits rigide Tagesordnung, die andererseits zwecks Terrorisierung und Manifestation der Souveränität der Lagerbetreiber jederzeit durchbrochen werden kann, die beliebige Stauchung und Dehnung der Zeit durch Hetzen (am Morgen, wenn es zur ‚Arbeit‘ geht) und Wartenlassen (beim Abendappell auf Kosten der Regenerationszeit), die plötzliche, unvermittelte Gewaltanwendung: Das Lager zwingt „die Menschen in eine ewige Gegenwart der Ungewißheit und des Schreckens“ (ebd. 97). Neben der Totalisierung der Gegenwart hebt Sofsky in Bezug auf die „Umformung des inneren Zeitbewußsteins“ (ebd. 103) die initiale Tilgung aller äußeren Persönlichkeitsmerkmale, die unbestimmte Dauer der Einsperrung und die Allgegenwart des Todes hervor. Das sind Manöver, welche die subjektive „Eigenzeit“ (ebd. 98) der Erinnerung, die Zukunftsperspektive und damit das Handeln und die Hoffnung besonders betreffen. Der Appell ist einer der wichtigsten Chronotopoi der Manipulation des Lagers (vgl. Bachtin 2017). Er sei „in unseren Träumen des ‚Nachhinein‘ zum Emblem des Lagers geworden“, schreibt Levi in Die Untergegangenen und die Geretteten. Die Appelle wurden „bei jedem Wetter durchgeführt und dauerten mindestens eine Stunde, aber auch zwei oder drei, wenn die Zählung nicht aufging, mitunter sogar vierundzwanzig Stunden und mehr, wenn der Verdacht bestand, daß einer aus-

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gebrochen war“.⁶ Die ‚Methode‘ ist im Spiegel der Erzählung klar auszumachen: Wenn die Zeitempfindung durch die Modulation des Verhältnisses von Chronos und Kairos nach natürlichen oder künstlichen Gegebenheiten, Zeichen, Praktiken etc. überhaupt erst zustande kommt, dienen der Appell und die zeitdehnenden Strafmaßnahmen (wie das tagelange Stehen beim Lagertor) dazu, den Chronos zu entleeren, indem der kairotische Moment des Appells, der sonst den Chronos des Tages rituell strukturiert, beliebig ausgedehnt wird. Die Häftlinge sind im Stillstand bzw. im Kreisen der kairotischen Zeit gefangen, sodass man dem Appell als Topos der Achronie bezeichnen könnte. Der Appell gehört zwar zu den institutionalisierten zyklischen Tagesstrukturen des Lagers, kann jedoch wie alle anderen jederzeit willkürlich durchbrochen werden durch die Obrigkeiten, unter anderem mittels unvermittelten Gewaltüberfällen. Diese Unterbrechungen oder Markierungen des Chronos bzw. des kreisenden Kairos sind für die Häftlinge absolut kontingent, für die Betreiber sind sie indes Programm. Das groteske Ineinander von Kontingenz und Kalkül der Zeit des Lagers manifestiert sich auch in der bioökonomischen Berechnung von Kosten und Nutzen der Arbeitskraft der Häftlinge, die jederzeit zu Tode gebracht werden durften: „Man sah eine Überlebenszeit von drei Monaten vor“, konstatiert Levi (1993, 38). In Erweiterung des Blicks auf die historische Dimension könnte man ein spezifisch auf die Vernichtung der Juden gerichtetes Zeitkalkül konturieren, denn die Juden gelten auch als ‚Volk‘ der organisierten Zeit: Zu den unauffälligeren Merkmalen, an denen die antijüdische und antisemitische „Intoleranz“ sich erhitzte, war auch die jüdische Beziehung zur Zeit, die in der Diaspora die fehlende Ortsbindung kompensierte: zum einen die im Bund enthaltene Garantie der Ewigkeit, zum anderen die Überlieferung von Erzählgut und drittens „ein eigentümliches und auffallendes Ritual, von dem alle Verrichtungen des Tages durchdrungen waren“ (Levi 1999/1976, 211; vgl. Yerushalmi 1988). Diesen Punkt nennt Levi selbst und meint damit nicht ein bestimmtes Ritual, sondern die jüdische Ritualität als solche. Die chronologischen drei Perspektiven der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft bzw. der Ewigkeit und die kairotische Zeitdimension der zyklischen Ritualität und der als Jetztzeit gestauten Messiaserwartung sind in den wesentlich mnemonischen Praktiken miteinander verbunden. Die Vernichtung der Zeit zielt mithin auf einen besonderen konstitutiven Zug der jüdischen Existenz.

 Levi 1987b, 116 – 117: Die Appelle „wurden als inhaltslose rituelle Zeremonie verstanden“, so fährt Levi fort, „aber das waren sie wahrscheinlich nicht.“

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7 ‚Strategien‘ der Bewahrung und Wiedergewinnung der Zeit Schon die schiere Beobachtung der Sonne und die Gespräche darüber kann man als ‚Gegenstrategien‘⁷ der Bewahrung und Wiedergewinnung der subjektiven Zeit verstehen. Die Sonne erscheint als souveräner Zeitzeiger, den auch die SS nicht auszuknipsen vermag. Das Erzählen findet sich hier gleichsam auf die wörtliche Minimalform des Er-Zählens reduziert („Heute kommt sie [die Sonne] etwas früher als gestern“) und erweist sich als Kern einer Praktik des Widerstands. Die Schilderung der Appelltortur folgt unmittelbar auf den Kapiteltitel „Ein guter Tag“ und den einführenden Gedanken, dass der „Glaube an den Sinn des Lebens […] in jeder Faser des Menschen verwurzelt“ sei (Levi 1988, 78). Gerade der Versuch, die Vernichtung als eine Vernichtung der Zukunft zu artikulieren, zieht auch eine poetische Fluchtlinie, die das ‚normale‘ Verhältnis von Chronos und Kairos wenigstens für Augenblicke retabliert: Seitdem ich im Lager bin, gehen mir dauernd zwei Verse im Kopf herum, die ein Freund vor langer Zeit einmal geschrieben hat: … bis eines Tages es keinen Sinn mehr haben wird, zu sagen: morgen. Hier ist das so. Wißt ihr was im Lagerjargon „nie“ heißt? „Morgen früh.“⁸

Die Verse des Freundes aktivieren eine Erinnerungsspur, die an die Zeit des Vorhers anknüpft, entwerfen aber auch in der semantischen Negation noch ein performatives Nachher und ziehen damit eine Linie des Chronos. Zudem kehren die Verse immer wieder und strukturieren die Zeit zyklisch und, als poetisch herausgehobene Momente, kairotisch. Bei einer Mehrzahl der Zeitstellen stehen die veranstaltete Vernichtung der Zeit und die erlittene Vernichtung durch die Zeit im Vordergrund. Doch bei einigen (teils auch von Stellardi zitierten) Passagen findet sich die Empfindung der Zeitverlorenheit verbunden mit konkreten Versuchen der Orientierung in der Tages-

 Von ‚Strategie‘ kann hier nur in eingeschränktem Sinn die Rede sein, denn für strategisches Denken und Verhalten bedarf es Michel de Certeau zufolge einer Außenposition gegenüber dem Feld der Beobachtung oder Handlung, während Taktik das situative Denken und Verhalten in der Immersion meint (vgl. Certeau 1988, 21‒26). Den Möglichkeiten der Häftlinge wäre der Begriff der Taktik im Unterschied zur Strategie der Lagerbetreiber vielleicht angemessener, doch soll hier der Begriff der ‚Gegenstrategie‘ als ‒ wie geringes auch immer ‒ Widerstandspotenzial gegen die Zeitvernichtung der argumentativen Verständlichkeit halber beibehalten werden.  Levi 1988, 138: „Morgen früh“ im Original deutsch.

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oder Nachtzeit („Ja, das ist die Sirene vom Karbid […], es ist halb fünf“; Levi 1988, 138), in Dauer der Inhaftierung („Wie viele Monate sind seit unserer Einlieferung ins Lager vergangen?“ [ebd. 139]) oder in der Einordnung von Geschehnissen („Doch im August beginnen die Bombardierungen“ [ebd. 123]). Sie können als performierte Rückgewinnung der subjektiven Zeitordnung verstanden werden. Einen ambivalenten Wert haben die Erinnerungen an das Leben vor der Deportation, an die Familie und Freund:innen zu Hause. Denn einerseits bieten sie eine Insel jenseits des Lagerchaos, Momente der Geborgenheit, die Möglichkeit einer anderen Zeit und eine vitale Hoffnung (vgl. ebd. 122). Andererseits aber bergen sie die Gefahr, sich darin zu verlieren, anstatt sich auf den Überlebenskampf in der schieren Gegenwart zu konzentrieren (vgl. ebd. 51). Eine entscheidende Rolle als Zeit-‚Strategie‘ spielt das Gedächtnis indes in Bezug auf die narrative und kommunikative Kompetenz und Performanz. Neben mehreren kleineren Episoden und Szenen, in denen sich das ‚gute Gedächtnis‘ Levis unmittelbar als relativer Vorteil erweist – wie etwa bei der Chemieprüfung (vgl. ebd. 113 – 114) –, ist die bereits angeführte Italienischlektion, die Levi Jean Samuel beim Suppenholen mit der Rekonstruktion von Dantes Odysseus-Canto erteilt, der locus classicus des Komplexes von Zeit, Gedächtnis und Erzählen (vgl. ebd. 115 – 120). Gerade als Extremsituation illustriert er die Tiefe und Reichweite von Ricoeurs Erkenntnis, dass „die Zeit in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie sich nach einem Modus des Narrativen gestaltet, und daß die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird“ (Levi 1 1991, 87). Eine prekäre Zeitbrücke in die Zukunft schlägt der Wiederholungstraum, den viele Häftlinge in ähnlicher Weise träumten und den Levi explizit den „Erzählertraum“ nennt (Levi 1988, 70): Er kehrt aus dem Lager heim in den Kreis seiner Familie und erzählt, eine „Wonnegefühl“ erfüllt ihn, doch er muss bald feststellen, dass ihm niemand zuhört (ebd. 68).

8 Parachronie Auch noch im alptraummäßigen Scheitern der prospektiven Vermittlung des Erlebten bleibt der Erzählimpuls, dem der Traum entspringt, die Möglichkeit erhalten, die Achronie der Gegenwart zu überwinden. Gleichzeitig zeichnet sich darin aber bereits die historische Dimension ab, in der das Erlebte und Geschehene zu bezeugen sein und in seiner ‚Unmöglichkeit‘ angezweifelt werden wird. Diese Haltung, Geschichte nur selektiv nach gewissen Kriterien wahrzunehmen und zu übermitteln, spielt Dornröschen in der Tiefkühltruhe experimentell-humoristisch durch, indem Patricia als Langzeitagentin nur bestimmte Episoden oder Ereignisse erlebt und überliefert. Aber die Serie der Kairoi, die keinem

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Chronos entsprechen, werden zur Gefangenschaft, aus der sie in den Fluss der Zeit entflieht, um dann als Journalistin mit den Tagebüchern berühmter Gestalten Geschichte nachzuerfinden. Eine relative Umkehrung dieses Ausbruchs aus dem Versuch, die Geschichte als Serie von Karoi zu objektivieren, hat Levi in einer im September 1986 ‒ also wenige Monate vor seinem Tod im April 1987 ‒ auf der dritten Seite der Turiner Tageszeitung La Stampa mit der kurzen Erzählung Schach der Zeit veröffentlicht. Der Text experimentiert mit der Möglichkeit, Zeit ad libitum zu dehnen und zu stauchen, lustvolle Augenblicke beliebig zu verlängern und ödes Warten abzukürzen. Ob die Erzählung auch in dieser Zeit entstanden ist, in der Levi die mit Die Untergegangenen und die Geretteten aufgeworfen Fragen im Licht des aktuellen Historikerstreits beschäftigten, ist bislang nicht ermittelt worden. Jedenfalls darf man die Erzählung als Zeugnis eines Humors lesen, den er, zumindest literarisch, auch jetzt nicht zu verlieren scheint. Der Text fingiert in wissenschaftlich-bürokratischem Format und Stil einen Patentantrag an das „Zentrale[] Patentamt“ des „Großherzogtum[s] von Neustrien“ durch den Feldhüter Theophil Skopca, der das Geburtsdatum mit Levi teilt. Die unter dem „eingetragene[n] Warenzeichen PARACHRON“ zu schützende Erfindung erlaubt es, „willentlich in das eigene subjektive Zeitempfinden“ einzugreifen. Den Nutzen leitet der Antragsteller aus den Beobachtungen im Alltag ab, dass das Zeitempfinden je nach Situation und subjektiver Verfassung sowieso relativ ist: „Nach meinen Messungen ist eine vor einer roten Ampel verbrachte Minute durchschnittlich achtmal länger als eine im Gespräch mit einem Freund verbrachte Minute, zweiundzwanzigmal länger, wenn der Freund anderen Geschlechts ist.“ Oder dann, in der Nähe der Lagererfahrung: „Eine unter Bedingungen sensueller Deprivation verlebte Stunde weist schwankende Werte auf, die von wenigen Minuten bis zu fünfzehn oder achtzehn Stunden reichen.“ Die Wirkung der Subjektivierung der Zeit wird durch „Rubidiummaleat-Injektionen extrem niedriger Dosierung in den vierten Hirnventrikel“ erreicht. Zum Beweis der Wirkung führt Skopca sechs Fallbeispiele der Anwendung an. Im sechsten Fall sei es „G. G., 27 Jahre, Doktor der Neustrischen Literaturwissenschaft, zur Zeit jedoch Anstreicher“, gelungen, „[w]ährend der ersten, lang ersehnten Umarmung mit der Frau, die er liebte […], sich auf dem Höhepunkt des Orgasmus in den parachronischen Zustand zu versetzen“ und die „Erregung über eine auf sechsunddreißig Stunden geschätzte Zeitspanne aufrecht [zu] erhalten“. Er habe also das vollbracht, „was Faust so schlecht“ geglückt sei (Levi 1992, 183‒187).

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Hubert Thüring

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Klaus Birnstiel

Zeitzünder: Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän 1 ‚Forty years since‘: Der Mensch erscheint im Holozän und die Generationen der Lektüre (1979, 2022) Verstörungen, Bruchlinien, Relektüren und Wiederentdeckung: Selten hat ein Text Publikumserwartungen und Rezensentenhoffnungen so sehr irritiert wie Max Frischs Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän. Mehrfach angekündigt und zurückgezogen, lancierte sie das Verlagshaus Suhrkamp im März des Jahres 1979 pünktlich zur Leipziger Messe, im Kreis der liturgischen Ordnung des literaturbetrieblichen Kirchenjahrs. Kaum vier Jahre nach der enthusiastisch aufgenommenen, vielfach aber auch als skandalös empfundenen Veröffentlichung des verbrämt autobiografischen (möglicherweise: autofiktionalen) Romans Montauk war Frischs neues Buch mit Spannung erwartet worden. Sämtliche großen Feuilletons rezensierten noch im Frühjahr. Dem Schweizer Großschriftsteller gegenüber ganz überwiegend wohlwollend im Ton, konnten die Kritiker indes erkennbar wenig anfangen mit dem relativ schmalen, nur gut einhundertvierzig Seiten umfassenden Büchlein. Im Zentrum des als „Erzählung“ ausgewiesenen Textes, der als Montage von erzählenden Prosapassagen, handschriftlichen Exzerpten und Sachtextfaksimiles aus verschiedenen Quellen konstituiert ist, steht „Herr Geiser“, ein verwitweter Pensionist aus Basel, der sich im Tessiner Onsernonetal niedergelassen hat. Örtlichkeiten und Topografie waren Frisch selbst, der in der Gegend ein Haus erworben hatte, gut vertraut. Während einer Phase starker Regenfälle zu Hause mehr oder weniger isoliert, ringt der alleinlebende Geiser mit zunehmendem Gedächtnisverlust und Demenz. Bei ausfallendem Strom, ungeplant abtauender Tiefkühltruhe, stetem Regen und Donnergrollen beginnt Geiser ein mnemotechnisches Exerzitium. Der Erosion des eigenen Gedächtnisses, die sich im beständigen Wirken des Wassers vor der Haustür spiegelt, setzt er den Versuch entgegen, sich mittels Lexikon- und Sachbuchwissen der eigenen Stellung in der Welt zu versichern. Geiser exzerpiert (in der Handschrift Max Frischs) geologische Informationen zu den Erdzeitaltern und zu den Gesteinsformationen des Tessins. Aus Lexika, heimatkundlichen und anderen Werken schneidet er erd- und menschheitsgeschichtliche Informationen heraus. Das Sammelsurium der Zettel pinnt er https://doi.org/10.1515/9783110773750-024

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mit Reißnägeln und Klebeband an die Wände seines Hauses. Aus den Lexika und populärwissenschaftlichen Darstellungen zur Geologie und zur Geschichte des Menschen, zu den geologischen Formationen des Tessins, zum Erscheinen und Verschwinden der Saurier und dergleichen entsteht, ganz gegen die Intention seines Schöpfers, ein Mahnmal der Vergänglichkeit. Mit dem Versuch, scheinbar gesichertes Faktenwissen zu bewahren, wehrt sich Geiser gegen den schleichenden Gedächtnisverlust. Ihn aufzuhalten vermag er nicht. Die Erzählung ist dementsprechend auf mehrfache Weise ironisch angelegt. Das Lexikonwissen über die vermeintliche erdgeschichtliche Sonderstellung des Menschen zerfällt in lauter Papierschnipsel, in die Ordnung, die Geiser zu stiften versucht, fährt der Wind des geöffneten Fensters (MH 137).¹ Verdeutlichen die zusammengetragenen erdgeschichtlichen Informationen die lange Dauer der Geologie und die verhältnismäßig extreme Kürze menschlicher Präsenz auf dem Planeten, so wird Geisers kurzfristiger Versuch, aus dem Tal auszubrechen und Richtung der benachbarten Maggia zu wandern, währenddessen in den Bereich rührender Vergeblichkeiten gerückt. Zwar absolviert Geiser die strapazenreiche Wanderung, kehrt aber schließlich in sein Haus zurück, ohne dass sich an seinem zunehmend dissoziativen Selbstverhältnis etwas geändert hätte. Wie die letzten Seiten andeuten, fällt das selbstbestimmte Endspiel aus: Geiser verschwindet buchstäblich aus der Erzählung, Hirnschlag, nicht Heldentod, steht am Ende seines Lebensgangs. Nach dem Ausfall von Erzählsubjekt und -objekt beschließen den Text Fragmente des bereits zuvor Erzählten: „Alles in allem ein grünes Tal, waldig wie zur Steinzeit.“ (MH 143) Obschon umfassend besprochen, war Frischs Erzählung „Mißverständnissen ausgesetzt“ (Hage 1997, 117): Schnell wurde sie unter Kategorien wie „‚Alterstrübsinn‘“ und „‚Autobiografisches‘“ wegsortiert (Kaiser 2003, 46). Einzig der junge Rainald Goetz, „mit meinen 25 Jahren nicht einmal sicher, ob ich zu den Erwachsenen gehöre“ (Goetz 1979, 914), widmete ihr im Merkur eine umfassende Würdigung. Ganz offenkundig liegt Der Mensch erscheint im Holozän quer zu den Leseerwartungen nicht nur der späten 1970er Jahre, sondern auch noch darüber hinaus. Liest man Frischs Erzählung aber gut vierzig Jahre nach ihrem Erscheinen, zeigen sich die Effekte von Vorzeitigkeit, Nachzeitigkeit und überraschendster Zeitgenossenschaft, die literarischen Texte von Rang eignen, auf frappierende Weise: Was den meisten Kritikern der späten 1970er Jahre als selbstbezügliches Nebenwerk eines alternden Schriftstellers nicht weiter von Belang zu sein schien, erweist sich im 21. Jahrhundert auf einmal als verblüffend gegenwartsfähiges literarisches Arrangement. In einer veränderten Optik rückt

 Ich zitiere hier wie im Folgenden direkt im Fließtext nach der Ausgabe Frisch 1979 (Sigle MH).

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der Verlust von Zeit und Gedächtnis aus dem Zentrum der Erzählung, das Einrücken in die Erdgeschichte in ihre gedankliche Mitte. Das „Ineinander von Mythologie, Erdgeschichte, menschlicher Geschichte und Gegenwart des Herrn Geiser“ (Charbon 2009, 20), das Erstlesende so irritierte, unter veränderten Zeitumständen erscheint es in anderem Licht. Der Mensch erscheint im Holozän ist eine Reflexion auf das, was zu Frischs Zeiten vorbegrifflich bleiben musste: eben jenen Gedanken von der Sonderstellung des Menschen in der Erdgeschichte und ihrem möglichen Ende, der im frühen 21. Jahrhundert unter dem Schlagwort vom ‚Anthropozän‘ verhandelt wird. In den Jahrzehnten nach Frischs Tod wird dieses vermeintliche ‚Alterswerk‘ darüber immer jünger. In die Erzählung ist also offenbar ein Zeitzünder eingebaut, der ihre Wirkung erst heute entfesselt.

2 Ichverlust als Zeitverlust: Geisers kalendarische Dekomposition „Herr Geiser hat Zeit.“ (MH 9) Was als lapidare Feststellung der Zeitbedingungen des Pensionistenlebens erscheint, weist bereits ironisch auf die Erzählung voraus. Geiser, der sein Gedächtnis zunehmend verliert, hat keine Zeit, diesen Verlust aufzuhalten, und der Verlust von kalendarischer Zeit stellt das erste Anzeichen für die Auflösung seiner Erinnerung dar. „Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses“ (MH 13), konstatiert die Textstimme. Wenig später vermag Herr Geiser den Wochentag nicht mehr zu bestimmen: „Heute ist Mittwoch. [Oder Donnerstag?]“ (MH 17) Auf seiner Suche nach stabilisierendem Orientierungswissen außerhalb der zerfallenden zeitlichen Ordnung wendet sich Herr Geiser zunehmend den Naturwissenschaften, der Geologie und der Erdgeschichte zu. Wissen von Prozessen und Phasen langer Dauer erscheint ihm fortan wesentlicher als praktisches Alltagswissen: „Wie Flut und Ebbe entstehen, wie Vulkane, wie Gebirge usw., hat Herr Geiser einmal gewußt. Wann sind die ersten Säugetiere entstanden? Stattdessen weiß man, wie viel Liter der Heizöltank faßt und wann der erste Post-Bus fährt, sofern die Straße nicht gesperrt ist, und wann der letzte.“ (MH 27) Im Verlauf der Erzählung löst sich die Wahrnehmbarkeit des Vergehens von Zeit zunehmend auf. Zwar notiert Herr Geiser Auszüge aus der Fahrplantabelle der Schweizerischen Bundesbahnen (MH 59), doch an keiner der Abfahrtszeiten wird er sich orientieren. Die täglichen Abendnachrichten erscheinen ihm als Wiederholungen des immer Gleichen, für die Interesse aufzubringen in der Spätzeit des eigenen Lebens nur noch lohnt, um das Vergehen von Zeit überhaupt erleben zu können: „Das Letzte, was Herr Geiser noch vernommen hat, sind schlimme Nachrichten gewesen, wie meistens, von Attentat bis Arbeitslosigkeit; dann und

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wann der Rücktritt eines Ministers, aber eine Hoffnung, daß es heute gute Nachrichten wären, besteht eigentlich nicht; trotzdem ist man beruhigter, wenn man von Tag zu Tag weiß, daß die Welt weitergeht.“ (MH 37) Die Bestätigung, „daß die Welt weitergeht“, sucht Herr Geiser fortan außerhalb der menschlichen Zeitordnung. Geologie und Erdgeschichte sind die Wissensfelder, die Orientierung ermöglichen sollen.

3 Zeit ohne Menschen, Zeit ohne Zeit: Geologie und Erdgeschichte in Der Mensch erscheint im Holozän Um der eigenen, verrinnenden Zeitlichkeit zu entkommen, wendet sich Herr Geiser einem Wissensraum zu, dessen epistemische Pointe, wenn man so will, gerade seine Zeitlosigkeit ist. Die speziellen narrativen Probleme, die Geologie, geologisches Wissen und Erdgeschichte seit ihrer modernen Formierung im 18. Jahrhundert bergen, ergeben sich aus der Überzeitlichkeit ihres Phänomenbereichs. Geologische Prozesse erstrecken sich über Zeiträume, welche die historische Zeit des Menschen weit überschreiten. Sie spielen sich auf einer zeitlichen Ebene ab, die dem Menschen gegenüber indifferent ist, ja, die überhaupt ohne die menschliche Vorstellung von Zeit auskommt. Die Geschichte ist, wie Julia Enzinger mit Hayden White formuliert, eine menschliche Erzählung, die Darstellung der Erdzeit für die Geschichtsschreibung daher eine besondere Herausforderung (Enzinger 2019, 72– 73; zum Verhältnis von Literatur und Geologie vgl. auch Schnyder 2013). Geisers Versuch der ebenso faktualen wie subjektlosen Notation spiegelt sich in der Montagetechnik von Frischs Erzählung, in die das erdgeschichtliche Wissen aus den Sachtextquellen wortwörtlich als eingeklebt erscheint. Dass die Montage indes ohne ein montierendes Subjekt nicht auskommt, gehört wiederum zur ironischen Gesamtanlage.

4 Erzählzeit und Zeit-Erzählen: Der Mensch erscheint im Holozän als Formsprengung Dem textexternen Monteur Max Frisch ist die Erarbeitung der Erzählung nicht leichtgefallen. Das beweist der Weg der Erzählung durch die eigene Lebenszeit des Schriftstellers hindurch, von erster Idee und Stoffsammlung bis hin zum veröffentlichten Text. Im Max Frisch-Archiv an der ETH Zürich sind eine ganze

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Reihe von Vor- und Überarbeitungsstufen des letztlich veröffentlichten Textes überliefert, deren genaue Beschreibung und genealogische Erschließung noch immer aussteht. Eine erste Durchsicht ließ immerhin erkennen, wie beharrlich Frisch die sperrige Idee durch die Zeit verfolgt und dabei immer verändert hat (vgl. De Vin 1991). Der Holozän-Stoff begleitete Frisch so zuverlässig, dass er an verschiedenen Stellen Eingang ins zwischenzeitlich veröffentlichte Werk fand. So heißt es in Montauk: „[I]ch kann’s nicht lassen, ich habe eine kleine Schreibmaschine gekauft ohne literarische Absicht. (Eine literarische Erzählung, die im Tessin spielt, ist zum vierten Mal mißraten; die Erzähler-Position überzeugt nicht.)“ (Frisch 1975, 631) Besonders irritierend an Frischs Erzählung sind ihre eigentümliche Erzählposition und Zeitgestaltung. Erzählt wird in einem Berichtston, der sich eng an das Erleben Herrn Geisers schmiegt, dessen Horizont aber auch überschreitet. Weder, in der narratologischen Begrifflichkeit Genettes, intern fokalisiert, noch, mit Franz K. Stanzel zu sprechen, auktorial erzählt, scheint die Textstimme Herrn Geiser im Nahfeld seiner Erfahrung zu folgen, ohne sich vollständig mit ihm identifizieren oder von ihm trennen zu lassen. Das Eigentümliche dieser Erzählweise begrifflich dingfest zu machen, ist der Forschung nicht gelungen (vgl. Charbon 2009, 17, Anm. 7). Der flächige Eindruck, den die Erzählung dabei insgesamt macht, ergibt sich auch aus ihrem Umgang mit Zeit. Zwar sind mit der Island- und der Matterhornepisode zwei Textstrecken in den Text eingeschaltet, die sich mit etwas terminologischer Flexibiliät als Analepsen beschreiben lassen könnten. Sie erfüllen aber kaum die dramaturgische Funktion, die Rückwendungen oder Vorausdeutungen gemeinhin zukommt, ja, sie stehen ebenso funktionslos im Text wie gleichzeitig oder zeitdehnend erzählte Erfahrungen des Wetters, des Regens und des Donners. Zwar ergibt sich schon allein aus der Linearität des Mediums Schrift eine Struktur der Sukzession. Indem Frischs Erzählung auf herkömmliche Mittel und Effekte literarischer Zeitgestaltung verzichtet, unterwandert sie jedoch die Geläufigkeiten literarischer Form bis hin zu deren liminaler Auflösung. Wie die klassische strukturale Narratologie des 20. Jahrhunderts vielfach hat zeigen können, lebt literarische Prosa wesentlich von der Bewirtschaftung von Zeit und Zeitverhältnissen. Zeitdehnendes, zeitdeckendes und zeitraffendes Erzählen, Analepsen, Prolepsen und Metalepsen zählen zu jenen sattsam bekannten Kunstgriffen, die in der freihändigen Bearbeitung als real vorzustellender Sachverhalte gegen jede Wahrscheinlichkeit den effet de réel der Prosa fabrizieren. Schon Aristoteles stellt fest, dass die sukzessive Ordnung der Zeit ihre eigene literarische Ontologisierung und Kausalisierung nahelegt. Die scheinbar naturwüchsige Ordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird überführt in eine ebenso scheinbar augenfällige Ordnung des Erzählten und zu Erzählenden. Als Mittel und Form kultureller Selbstdeutung und

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Sinnstiftung ist es erzählenden Texten eigen, etwa den logischen Fehlschluss des post hoc ergo propter hoc als Weltdeutung anbieten zu dürfen: Was zuerst passiert, soll die Basis legen für das Spätere, und dieses Spätere folgt nicht nur auf das Frühere, sondern aus dem Früheren. Die fingierte Installation einer Kausalität da, wo eigentlich bloße Sukzession festzustellen ist, ist einer der wesentlichen Zaubertricks insbesondere im weitesten Sinne realistischer Prosa. Ein alternatives Erzählmodell bietet die primär dramenlogische und deshalb auch mit einem dramentheoretischen Begriff zu bezeichnende Kategorie der Peripetie: Ein ebenso erwartbarer wie plötzlicher Umschwung des Geschehens sortiert die Ereigniskette neu, zerfällt sie in ein Vorher und ein Nachher, ein bis hierhin und ab dann. Realistische Prosa kann diese Modelle endlos variieren. Sie benötigt dazu nicht mehr als ein wie auch immer zusammengewürfeltes Figurenensemble und ein paar plot points, die dem Mix Überraschungseffekte hinzugeben. Es sind gerade der Ausfall des sukzessiven und des peripetischen Erzählmodells, die Der Mensch erscheint im Holozän erprobt und ausstellt. In einer diegetischen Welt, in der sich die erlebende Mittelpunktsfigur aufgrund fortschreitenden Gedächtnisverlusts gegenüber der basalen Ordnung von gestern, heute und morgen zunehmend indifferent verhält, verliert auch die narrative Sukzession an Plausibilität. Ebenso verhält es sich mit der textstrukturierenden Ordnung von Höhepunkt und Peripetie: Herrn Geisers mit allen Mitteln narrativer Dramatik und Eindringlichkeit geschilderter Ausbruchsversuch in Richtung des Maggiatales erscheint als ein im Wortsinn folgenloser Ausflug ohne Konsequenzen, eine erzählerische Finte mit kalkulierter Wirkung. Angesichts der zunehmenden Dekonturierung von Identität und Gedächtnis erweist sich die Alternative einer städtischen Pensionistenexistenz in Basel als nicht weiterzuverfolgende Illusion, die im Fortgang der Erzählung keine Rolle mehr spielt. Der letztendliche Eingang in die Erdzeitalter der Tessiner Natur ist unumkehrbares Ende einer Entwicklung, die nicht teleologisch, sondern vielmehr dissoziativ verläuft, der Schlaganfall ihre Besiegelung. Die Geschichte von Herrn Geiser ist kein Rückentwicklungsroman, sie ist überhaupt kein Roman mehr. Nicht umsonst ironisiert sie den geläufigen Gedanken, im hohen Alter entwickle sich der Mensch als Greis zurück zum Kind, und nicht umsonst verwirft Geiser die Romanlektüre als Möglichkeit des Erwerbs von Orientierungswissen: (Romane eignen sich in diesen Tagen überhaupt nicht, da geht es um Menschen in ihren Verhältnissen zu sich und zu andern, um Väter und Mütter und Töchter beziehungsweise Söhne und Geliebte usw., um Seelen, hauptsächlich unglückliche, und um Gesellschaft usw., als sei das Gelände dafür gesichert, die Erde ein für allemal Erde, die Höhe des Meeresspiegels geregelt ein für allemal.) (MH 14)

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Nicht um „Menschen in ihren Verhältnissen“ geht es Geiser, sondern um die vermeintliche Sicherheit des Faktualen, eine männliche Form der Rückversicherung der Zahlen und Informationen: „Elsbeth hat hauptsächlich Romane gelesen, klassische und andere, Herr Geiser lieber Sachbücher (HELLER ALS TAUSEND SONNEN); das Logbuch von Robert Scott, der am Südpol erfroren ist, hat Herr Geiser mehrmals gelesen, die Bibel schon lang nicht mehr.“ (MH 17– 18). Zwar gewinnt die Erzählung ihre Ironie über die Darstellung der Vergeblichkeit von Geisers Informationssammeltum und seiner vergeblichen epistemischen Praktiken. Ein Plädoyer für das Romanhafte erwächst daraus aber gerade nicht. Schließlich verweigert sich der „Erzählung“ genannte Text den Formzwängen des herkömmlichen Erzählens. Sein Collageverfahren erzeugt eine Literatur ganz eigener, neuartiger Form, die, je nach Begriffsgeschmack, als ‚avantgardistisch‘, ‚spätmodern‘ oder auch ‚postmodern‘ bezeichnet werden kann (vgl. Cohen 2008, Anm. 10, 554).

5 Aus der Zeit treten, in die Zeit treten: Holozän und Anthropozän Frischs Erzählung, obschon seinerzeit passgenau in den literarischen Kalender eingefügt, erweist sich als eine, die sich mit vollem Risiko dem Zeitgeschmack entzieht und dafür von der Kritik entsprechend despektierlich behandelt wurde. Mit Selbstkommentaren und Interviewäußerungen versuchte Frisch zumindest, der Lesart von Alterswerk und Selbstbespiegelung entgegenzuwirken: ein ärgerlicher, weil intellektuell unterfordernder Umgang mit dem Text, der die ästhetische Innovativität der Erzählung einfach überliest. Das eigentliche kinetische Potenzial aber, das der Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän innewohnt, konnte sich erst beim Eintritt in die veränderte kulturelle Debattenlage einer neuen Zeit entfalten. In dem Moment des Holozäns, in dem der Mensch, so Frischs in seiner Ironie unterschätzter Titel, „erscheint“, zeichnet sich der Beginn eines neuen Erdzeitalters ab, das von wissenschaftlicher wie politisch und kulturell interessierter Seite immer öfter den Namen Anthropozän erhält (vgl. Horn und Bergthaller 2019).Verfechterinnen und Verfechter der Anthropozänidee verbinden eine wissenschaftliche Einsicht mit einem aktivistischen Appell. Dass der Mensch nicht nur die Oberfläche, sondern auch das Klima des Planeten seit mehreren Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden nachhaltig und irreversibel verändert, sodass ihm die Rolle eines erdgeschichtlichen Akteurs zugesprochen werden muss, lautet der grundlegende Satz dieser Denkfigur. Daraus ergibt sich eine mit hohen moralischen Ansprüchen unterlegte Forderung nach einem neuen, pla-

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netar-holistischen politischen Denken und Handeln, das dem weltverändernden homo faber die Übernahme entsprechender Verantwortung für das weitere Schicksal des Planeten ans Herz legt. Der Gedanke vom Anthropozän enthält dabei eine oftmals übersehene Dialektik: Ist es, um sich der Wortwahl eines der in Max Frischs Erzählung einmontierten Lexikontexte zu bedienen, die erdgeschichtliche „Sonderstellung des M[enschen]“ (MH 71), die nicht nur zu seiner prägenden Dominanz auf dem Planeten geführt hat, sondern auch dazu, ihn an die damit einhergehenden Verpflichtungen zu erinnern, so legt die Idee vom Anthropozän umgekehrt gerade den Gedanken an einen Verzicht auf diese Sonderstellung nahe: Am Ende aller Erdgeschichte wird auch der Mensch verschwinden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand, wie Michel Foucault in einem (nicht ganz) anderen Zusammenhang formuliert hat (vgl. Foucault 1971, 461). Anerkennung der erdgeschichtlichen Tiefendimension der eigenen Präsenz, Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung und Demut vor der Erdgeschichte als solcher stehen sich im Anthropozängedanken gegenüber. Eine auf das erdgeschichtliche Ganze zielende Verantwortungsrhetorik erzeugt selbstverkleinernde Demutsgesten ebenso wie einen politischen Aktivismus, der die prekäre Identifikation von politischem mit moralischem Handeln immer wieder neu aushandeln muss. Frischs Erzählung scheint demgegenüber eine deutlich ironische Perspektive nahezulegen: Spricht der Titel des Textes davon, dass der Mensch im Holozän „erscheint“, so thematisiert der Gang der Erzählung gerade sein Verschwinden. Zunächst auf einen Einzelnen bezogen, wird deutlich, dass dieses Verschwinden durch Gedächtnisverlust und Tod Teil der conditio humana als Ganzer ist. Die „Sonderstellung des Menschen“, die als Versatzstück der klassischen philosophischen Anthropologie zur leeren Lexikonphrase geronnen ist, wird dementiert von den Anzeichen der Wetter- und Klimakatastrophe, die das Geschehen mitbestimmen, und der zunehmenden Demenz Herrn Geisers. Der Unterbruch der Straßenverbindung in das abgelegene Dorf, das Absterben der vor Jahrhunderten angelegten Kastanienwälder, der Zusammenbruch von Lebensmittel- und Stromversorgung und schließlich Geisers subjektdekonturierendes Verschwinden selbst, all das legt nahe, dass es mit der mantraartigen Beschwörung der Exzeptionalität des Menschen nicht so weit her sein könnte, wie es die scheinbar gesicherten Wissensbestände glauben machen möchten. Die Erdzeit der Tessiner Landschaft, sie kommt ohne den menschlichen Kalender aus.

6 Resümee: auf der Höhe der Zeit erzählen Dass literarische Texte ihre eigene Zeit haben, dass sie innerlich wie äußerlich in vielfachen Zeitbezügen stehen und dass sie gelegentlich warten müssen, bis ihre

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Zeit gekommen ist, mag für eine Plattitüde gehalten werden. In den auf die Erstveröffentlichung folgenden Jahrzehnten bis in die unmittelbare Gegenwart hat Der Mensch erscheint im Holozän aber ein Nachleben entfaltet, wie es nur Literatur von besonderem Rang gelingen kann. Aus dem vermeintlich autobiografischen Alterswerk ist nunmehr ein Stück Literatur geworden, das unter den Schlagworten von Geologie, Erdgeschichte und Anthropozän als gegenwartsfähige literarische Intervention gelesen wird (vgl. Stobbe 2014; Malkmus 2017; Enzinger 2019). Max Frisch, den oftmals mit seiner Zeit und seinen Zeitgenossen Unzufriedenen, würde dies wohl mit Genugtuung erfüllen.

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Anna Karško

Die Zeit als Purgatorium in Lukas Bärfuss’ Hundert Tage (2008): Einige Reflexionen über die Zeitlichkeit

„Es gibt ein Sprichwort, dass Imana, der Schöpfergott, tagsüber das Land verlasse, aber abends wieder heimkommt. Dieser Tag hier, er währt schon hundert Tage, und wir fragen uns, wann der Gott heimkehren wird und ob es jemals wieder Abend wird.“ (Bärfuss 2008, 192) Auf diese Weise nimmt der Gärtner des Hauses, in welchem sich der Schweizer Entwicklungshelfer David Hohl hundert Tage lang versteckt, Anstoß an Gottes Existenz in Ruanda. Er hat einen guten Grund, an dessen abendlicher Heimkehr zu zweifeln, befindet sich das Land zum Zeitpunkt dieser Aussage doch mitten in einem blutigen Genozid, ausgelöst durch den mehrere Jahrhunderte alten Konflikt zwischen den Bahutu und den Batutsi.¹ Der 1994 verübte Genozid, der historische Stoff des Buches Hundert Tage (2008) von Lukas Bärfuss, scheint auf eine Weise die Linearität von Zeit zu überwinden, indem er ein einziges ‚Hier‘ und ‚Jetzt‘ generiert – ein Hier, in welchem der Protagonist des Buches, David Hohl, während jener hundert Tage physisch in Ruanda feststeckt, und ein Jetzt, in welchem er abgespalten von jeglicher Vergangenheit und Zukunft konzentriert auf das schiere Überleben vor sich hinlebt. Schlussendlich wird er, so die These der vorliegenden Reflexion, abgeschnitten von jeglichen Indikatoren des ‚Anderswo‘ und ‚Morgen‘, nicht nur in seinem eigenen Garten gefangen, sondern auch in der Zeit, was durch die markante Konzentration auf Uhren, Tag- und Nachtschemas sowie Jahreszeiten im Text markiert wird. Sein Überleben wird auf diese Weise vor allem von für ihn konstanten Zeitzyklen abhängig, welche sich in der ruandischen Wirklichkeit jedoch als nicht besonders verlässliche Taktgeber entpuppen. Die Zeit oszilliert auf diese Weise zwischen einer Konstante und einer Relativität, welche durch die für David fremd gewordene Umgebung gefördert wird. Auch wenn Hundert Tage eigentlich vorwiegend in Kigali, der Hauptstadt Ruandas und in der Nähe von Bukavu, einer Stadt in der Demokratischen Republik Kongo, spielt, kann man trotzdem behaupten, Bärfuss hätte einen Roman über die Schweiz geschrieben. Worüber es im Text nämlich geht, sei hier zu-

 Ich richte mich an dieser Stelle nach der bantusprachlichen Verwendung der Namen, welche mit dem Präfix Mu- (Singular) bzw. Ba- (Plural) hutu/tutsi/twa einhergeht; vgl. auch Stockhammer 2005, 8. https://doi.org/10.1515/9783110773750-025

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sammengefasst und mit einem historischen Überblick über die Geschichte von Ruanda in seinem Verhältnis zur Schweiz verbunden. Bärfuss’ Geschichte ist im Umkreis des Genozids im Jahre 1994 situiert, in welchem die Mehrheit des Landes, die Bahutu, in hundert Tagen zwischen einer halben Million und achthunderttausend Batutsi und moderate Bahutu umgebracht haben. Ein ambitionierter, junger und voller Illusionen über die Entwicklungszusammenarbeit erfüllter David Hohl reist nach Ruanda, um da „die Menschheit weiterzubringen“ (Bärfuss 2008, 7). Das Land gehörte ab 1963, also bereits knapp ein Jahr nach der Erlangung der Unabhängigkeit von Belgien, zu den Schwerpunktländern der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit. Zwischen 1970 und 1985 hatte die Schweiz in Kigali eine Botschaft errichtet und stellte dem damaligen ruandischen Präsidenten Grégoire Kayibanda Berater/-innen zur Verfügung. Dementsprechend weitete die Schweiz gleichzeitig ihren politischen Einfluss auf das ostafrikanische Land aus, welches zwischen 1884 und 1916 als Teil von Deutsch-Ostafrika dem Deutschen Reich als Schutzgebiet angehörte.² Als einen der frühesten Schweizer Einflüsse auf das Land ist dabei die christliche Mission zu nennen, welche zur Christianisierung von Ruanda beitrug und dabei zum Teil die Batutsi aus klar rassistischen Motiven privilegierte und auf diese Weise den Graben zwischen den Batutsi und den Bahutu nur noch vertiefte.³ Der Mission trat dann später die staatliche Schweizer Organisation DftZ (heute DEZA) gegenüber, welche nach einer der mehreren Bahuturevolutionen nach Ruanda kam und wiederum die gewalttätigen Ausschreitungen der Bahutu gegenüber den Batutsi

 Nach Lukas Zürcher hat die Schweiz auch dem späteren Präsidenten Ruandas bis zum Jahre 1993 hin Präsidentenberater/-innen gestellt. Der letzte war Charles Jeanneret, welcher in den elf Jahren seines Wirkens jährlich rund zweihunderttausend Schweizer Franken verdiente. Er beriet den ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana. Jeannerets Rolle bleibt äußerst ambivalent bewertet, nach dem Genozid 1994 ist er aber praktisch aus der Öffentlichkeit verschwunden. Über sein Verbleiben kursieren mehrere Theorien, bestätigt bleibt dabei keine; vgl. Isler 2013; Lorenz 2018, 441; Zürcher 2014, 20.  Die Missionarinnen und Missionare arbeiteten dabei für verschiedene Arbeitgeber, wie zum Beispiel für die Katholische Gesellschaft der Missionare von Afrika/die Weißen Väter und für das Département missionnaire des Eglises protestantes de la Suisse romande. Der Vorwurf der Polarisierung zwischen den Bahutu und den Batutsi wurde bereits in den 1990er Jahren laut, so zum Beispiel beim Aktivisten Damien Ngabonziza, welcher für die Walliser Zeitung Le Nouvelliste schrieb. Darin kritisierte er den ehemaligen Bischof von Kabgayi, welcher ein Schweizer namens André Perraudin war, dieser hätte zu einem großen Teil am Schicksal der ruandischen Bevölkerung mitgewirkt. Die Batutsi wurden aufgrund ihrer vermeintlich etwas weniger schwarzen Hautfarbe als „europäischer“ wahrgenommen denn die „schwärzeren“ Bahutu (Zürcher 2014, 15 – 20; Stockhammer 2005, 15). Damit hielten sich viele Europäer an die sogenannte „Hamitentheorie“.

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stumm hingenommen hat, obwohl aus den Anfeindungen in der Öffentlichkeit kein Geheimnis gemacht wurde.⁴ Der Schweizer Einfluss vor den 1970er Jahren wurde dabei selten als eine neutrale Hilfestellung verstanden, vielmehr sahen manche Ruander/-innen diesen als eine nahtlose Weiterführung des Kolonialismus, in welcher sich der Westen um den Einfluss des Kommunismus in Afrika stritt (Isler 2013, 35:45 – 36:33). In den 1970er Jahren initiierte die Schweiz in Form der DftZ die Formierung der Banque Populaire du Rwanda und zugleich die Konsumgesellschaft der Bauern und Bäuerinnen Trafipro. Als der ruandische Präsident Juvénal Habyarimana 1973 die Entlassung von Batutsimitarbeitern und -mitarbeiterinnen von Trafipro forderte, tat sich in der DftZ nicht viel, denn in Bern wollte man das Schweizer Vorzeigeprojekt auf keinen Fall gefährden (Isler 2013, 23:24– 25:02). Das Interesse der Schweiz in Ruanda wurde dabei vor allem im Licht der vermeintlichen Ähnlichkeit gesehen, welche anhand der Größe des Landes, aber auch des Vorkommnisses von Kühen im Bild einer „Schweiz Afrikas“ mündete und sich hartnäckig lange hielt. Aber auch hier weist Lukas Zürcher darauf hin, dass Ruanda zu keiner Zeit einer friedlichen „Bergbauerndemokratie“ ähnelte und dass dies vielmehr ein konstruiertes Wunschbild der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit darstellte (Zürcher 2014, 141). Bärfuss’ Erzählung lässt jedoch diese Vorgeschichte aus und setzt erst 1994 an, in dem Jahr, in welchem der Genozid zu einer offenen Tatsache der ruandischen Realität wurde. Aus dem benachbarten Uganda strömten nämlich zuvor verdrängte Batutsirebellen der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) ins Land, um das zu dieser Zeit geschwächte Bahuturegime zu stürzen. Dies wurde vom politischen Regime als Bürgerkrieg und gleichzeitig als Invasion aus dem Ausland verstanden und mit dem Genozid an Hunderttausenden von Batutsi quittiert (Lorenz 2018, 407– 414). Die Gründe für dieses Geschehen werden von Bärfuss nur knapp angedeutet, sie wurzeln nämlich noch in der belgischen Kolonialregierung, welche den Batutsi eine besonders hohe Bildung ermöglichte, um sie später in der Kolonialverwaltung als Vertreter einsetzen zu können, und in der Missionsgeschichte des Landes. Der jahrzehntelange Tribalismus, welcher schlussendlich die Aufhetzung der einen gegen die andere Gruppe zum Resultat hatte, zeigt sich so als eine arbiträre Größe, welche jedoch nicht nur auf die innenpolitische und soziokulturelle Lage in Ruanda selbst zurückgeführt werden kann. An dieser Stelle wird nämlich auch Europa eine Mitverantwortung am ethnosozialen  Die DEZA entstand im Jahre 1961 mit dem Namen DftZ (Dienst für technische Zusammenarbeit); im Jahre 1996 wurde die staatliche Organisation zu DEZA (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) umbenannt (vgl. www.eda.admin.ch/deza/de/home/deza/portraet/geschichte. html).

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Konflikt in Ruanda zugesprochen, die spätestens in der Einführung einer Rassenzuschreibung in den Pässen der belgischen Kolonialverwaltung ihren Niederschlag erfuhr. Durch diese Pauschalisierung, die zum Teil durch eine Volkszählung getragen wurde, welche allen Menschen, die mehr als zehn Rinder besaßen, eine Batutsiidentität zusprach, wurde der systematische Rassismus bürokratisch festgeschrieben (Stockhammer 2005, 18). Das Buch schneidet dabei vor allem die als äußerst ambivalent gewertete Rolle der Schweiz an, welche sich aus Naivität und Ignoranz in den 1990er Jahren ungenügend mit den Möglichkeiten eines Konfliktes auseinandersetzte und das damals vorherrschende Bahuturegime unterstützte – zugunsten von eigenen politischen Interessen, welche eine besonders neutrale Ausstrahlung der Schweiz nach außen vorsah. Die schweizerische und ruandische historische Verwobenheit, welche ihre Wurzeln mit Folgen bis zur Gegenwart bereits in vorkolonialer Zeit hat, wird von Bärfuss gekonnt mit dem persönlichen Schicksal von David Hohl erzählt, welcher erst zum Schluss seiner Geschichte begreift, was die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in Ruanda mit ihrem Helferidealismus angerichtet hat: „Schließlich waren wir es gewesen, die ihnen die Verwaltung beigebracht hatten, das Wissen, wie man eine Sache von dieser Größe angeht, und es spielt keine wesentliche Rolle, ob man Ziegelsteine oder Leichen abtransportiert“ (Bärfuss 2008, 15). Die Erkenntnis, die Schweiz habe dem Bahuturegime ökonomisch, aber auch moralisch zur Schreckenstat verholfen, ließ die Weltgemeinschaft nach 1994 in Betroffenheit und die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit, welche sich eigentlich aufgrund der Neutralitätsbeteuerung erst in Ruanda befand, in ihrer Wirksamkeit degradiert.⁵ Der Roman ist also im Sinne einer historischen Aufarbeitung zu lesen, welche in der Schweizer Gesellschaft bis heute nur einen begrenzten Eingang in den Schulkanon erhalten hat, wobei in

 Diesen Fragen wurde unter anderem in einem Bericht des Bundesrates Flavio Cotti nachgegangen, welcher das Thema mit einer Studiengruppe um Joseph Voyame im sogenannten Voyame-Bericht 1994 aufarbeitete. Darauf folgten zwei Anfragen an den Bundesrat, der den Fragen in umfassenden Antworten nachkam. Der Voyame-Bericht resümiert eine weitgehende Schuldfreiheit der Schweizer/-innen, welche sich zum Zeitpunkt des Genozids in Ruanda befunden hatten. Die DEZA habe den sich anbahnenden Konflikt nicht vorausahnen können und richtig gehandelt. Der Bericht kam seit seiner Veröffentlichung in Kritik und wurde seitdem mehrmals zu widerlegen oder immerhin zu präzisieren versucht. Zum Beispiel zeigt die Dokumentation von Isler (2013) ganz klar, dass der DEZA bereits lange vor dem Genozid Slogans zukamen, welche auf die Planung eines Genozids hinwiesen. Kritisiert wurde die Rolle der DEZA in Ruanda auch von dem Schweizer Ethnologen Christian Scherrer und dem Politikwissenschaftler Peter Uvin, welche beide auf die enge Verbindung von Schweizern und dem ruandischen Staat hingewiesen haben; vgl. auch De Dardal [1996]; De Dardal [1998]; Scherrer 2002; Uvin 1998.

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den letzten Jahren dank der Verortung der Schweiz im postkolonialen Diskurs das Thema ein wenig stärker in den Fokus gerückt ist.⁶ Bärfuss konstruiert dieses verdeckte Schachspiel bewusst anhand einer Liebesgeschichte zwischen David Hohl und seiner mehr oder weniger unerreichbar bleibenden Geliebten Agathe, welche als Tochter eines ruandischen Ministerialbeamten eine Art Hassliebe für David entwickelt:⁷ „Ihre Verachtung betraf nicht die Welt, sie betraf allein mich.“ (Bärfuss 2008, 17) Daraufhin lässt sie sich dennoch auf eine Beziehung mit ihm ein, behält jedoch ihre ihm gegenüber kritische Haltung bei: „Agathe zog an ihrer Zigarette, und ich erkannte in ihrem Blick, dass sie mich für einen jener gewöhnlichen dekadenten Europäer hielt, die Katzen in ihren Betten schlafen ließen und Ratten als Haustiere hielten.“ (Bärfuss 2008, S. 140) Agathe wird im Laufe der Zeit immer feindlicher gegenüber David gestimmt, ihre Ambivalenz gegenüber Davids europäischer Herkunft wird klar in beginnende Feindlichkeit umgewandelt: „Ihr habt vielleicht unser Land kolonialisiert, meinte sie einmal, aber ich werde nicht zulassen, dass du meinen Körper kolonialisierst.“ (Bärfuss 2008, 133) Eine Feindlichkeit, welche sich in der Beziehung wie Schimmel bis zum Schluss des Buches durchzieht. Für diese Beziehung mit der Muhutu bleibt David schlussendlich auch in Kigali, als der Genozid seinen Lauf nimmt, nur um sie zuletzt in einem Flüchtlingslager jenseits der Grenze zu finden, wo die junge Frau auf das Minimum ihrer Existenz zusammengebrochen ist: „Das heißt, ich fand eine Person, von der man behauptete, es sei Agathe, und obwohl ich ihre Sommersprossen erkannte und der Schirm mit dem Entenkopf neben der Pritsche lag, auf der sie mit dem Tod rang, war es schwierig, in dieser von der Cholera ausgedörrten Person meine Liebe zu erkennen.“ (Bärfuss 2008, 206) Agathe wird an dieser Stelle zu Jean Baudrillards Simulakrum, denn was David an der jungen Frau geliebt hat, war eine andere Bedeutung der Person, eine Bedeutung, welche David unabhängig von der Realität selbst generierte (Baudrillard 1991). Der intern fokalisierte, homodiegetische Erzähler David Hohl wird nicht wie seine Schweizer Kollegen und Kolleginnen zu Beginn des drohenden Massakers evakuiert, stattdessen versteckt er sich in den hundert Tagen des Genozids, stellvertretend für die ganze Welt sozusagen, in seinem Haus in Kigali, wo er die Zeit schlussendlich unbehelligt, aber traumatisiert übersteht. Am Anfang seiner

 Zu diesem Thema sei insbesondere auf den Sammelband Postkoloniale Schweiz hingewiesen, welcher sich explizit der Aufarbeitung der vermeintlichen Neutralität der Schweiz widmet, zu Ruanda siehe das Kapitel von Honold; vgl. auch Purtschert, Lüthi und Falk 2012.  Agathe ist die Namensvetterin von zwei politisch wichtigen Frauen Ruandas. Agathe Uwilingiyimana (1953 – 1994), der ehemaligen Premierministerin von Ruanda, und Agathe Habyarimana (*1942), der Präsidentenwitwe.

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Reise hatte David noch äußerst idealistisch über die anscheinend existierenden Parallelen zwischen der Schweiz und Ruanda nachgedacht: „Der wichtigste Grund für unsere Liebe zu diesem Land war nach Misslands [eines Kollegen aus der DftZ] Ansicht die Tatsache, dass es hier keine Neger gab. Die Menschen sahen zwar aus wie Neger, hatten schwarze Haut und krause Haare, aber in Wirklichkeit waren es afrikanische Preußen, pünktlich, die Ordnung liebend, von ausgesuchter Höflichkeit“ (Bärfuss 2008, 53). Dass die durchaus schweizerisch konnotierte Ordnungsliebe hier nur im Sinne einer Simulation oder gar Mimikry existieren könnte, übersteigt an dieser Stelle noch Davids Verständnis, denn er glaubt an eine gewisse fixierte Zuordnungsfähigkeit von Zeichen und Bezeichnetem.⁸ Erst in der Zeitspanne dieser hundert Tage erhält David trotz seines auf die Umgebung des Hauses beschränkten Blickes auch einen augenöffnenden Weitblick, welcher ihm hilft, die Geschehnisse, die in der Zeitspanne davor passiert sind, einzuordnen: „Das Schlimmste ist der Gedanke, den ich in den hundert Tagen immer wieder hatte und der mich bis heute quält, dass es eine Symbiose gab zwischen unserer Tugend und ihrem Verbrechen.“ (Bärfuss 2008, 153) Die hundert Tage werden so nicht in eine zyklische, sondern in eine lineare Ordnung versetzt, welche einen anderen Kurs als Ausgang vorschlägt, als David zu Beginn einnimmt. Die Zeitspanne der hundert Tage wird hier zu einem Purgatorium im Sinne von einer Läuterung umgedeutet, durch welches David quasi ähnliche Angstzustände und Qualen durchleben muss wie die Ruander/-innen um ihn herum – dabei bleibt er mit seinen zum Teil quälenden Gedanken allein, die ihn schlussendlich zu einer geläuterten Auffassung der Wirklichkeit kommen lassen – einer Wirklichkeit, welche im Umfeld der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in Ruanda keineswegs einfach zu erlangen wäre, ist es doch die zeitliche und

 Die Simulationstheorie fußt hier dabei auf einer medienkritischen Theorie von Jean Baudrillard, welche sich mit dem Simulakrum beschäftigt, das anstelle der Imitation (vor der industriellen Revolution) und Produktion (nach der industriellen Revolution) getreten ist. Dieses beherrscht unsere postmoderne Welt und besteht dabei aus einer immer größer werdenden Divergenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem, Schein und Wirklichkeit. So bilden Zeichen nur noch eine „Hyperrealität“ anstatt unserer Wirklichkeit ab. Auf diese Weise lassen sich hier die Beschreibungen der Ruander/-innen als gekonnte Simulationen lesen, welche zwar auf ein bestimmtes Werteprogramm verweisen, dabei aber völlig andere Ziele verkörpern – nämlich die Planung eines Genozids (Baudrillard 1991). Eine weitere Theorie, welche sich mit der Diskrepanz zwischen dem Schein und der Wirklichkeit befasst, ist die Hybriditätstheorie von Homi Bhabha. In dieser formuliert Bhabha das Konzept von Mimikry als einer Subversionsmöglichkeit des kolonialen Subjektes, welche sich in der Differenz zwischen einer Angleichung und einer Abstoßung der Herrschaftsklasse bilde. In diesem Fall ließe sich die äußerliche Angleichung der Ruander/innen an die Schweizer/-innen als eine Subversionsmöglichkeit lesen, welcher aber die Planung des Genozids als produktive Differenz unterläge (Bhabha 1994).

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räumliche Abkapselung, welche David in diesen Zustand der Wahrheitsfindung bringt. Während der hundert Tage ist David auf die Hilfe von Théoneste, dem Gärtner des Hauses, in welchem er lebt, angewiesen.⁹ Dieser verlässt während des Konflikts seinen Beruf des Gärtners und wird zu einem Plünderer, welcher „das Zeug der Toten“ (Bärfuss 2008, 176) im Haus bis zur Decke stapelt – zu dieser Tätigkeit kommt später auch noch die „Jagd auf Menschen“ (Bärfuss 2008, 177) hinzu, bei welcher sich Théoneste zusätzlich noch als Mörder erweist. Unter anderem versorgt er jedoch David mit Frischwasser und hat damit entscheidenden Anteil an Davids Überleben. Interessant wird Théoneste hier, wenn man sich das anfängliche Zitat anschaut, in welchem er die Existenz des ruandischen Schöpfergottes Imana anzweifelt, welcher eigentlich am Abend immer heimkommen müsse. Anders als Gott, welcher die Rückkehr am Abend, wenn es dunkel wird, verpasse, kommt Théoneste jeweils am Vorabend mit seinem Gerümpel, mit Nahrung und Wasser für David und verlässt das Haus wieder, bevor es dunkel wird. Als Théoneste jedoch später beginnt, neben seinen Plünderfahrten für die Ware auch zu morden, bemerkt dies David anhand von Théonestes Ankunftszeit: „Natürlich ahnte ich es bereits, aber ich wollte es nicht wahrhaben, bis er an jenem Samstagnachmittag ins Haus Amsar kam, spät, zu spät eigentlich, wenn er noch vor der Nacht wieder zu Hause sein wollte.“ (Bärfuss 2008, 177) David bemerkt hier mithilfe seines strengen zeitlichen Verständnisses, dass Théoneste sich aus seiner menschlichen Rolle gelöst hat, um in den göttlichen Status eines Lebensrichters hinaufzusteigen – einen Status, welcher es ihm erlaubt, über Leben und Tod zu entscheiden. Dies kann David jedoch nur auffallen, da er sich in einem Zeit-Raum-Vakuum befindet, welches ihn zur Konzentration auf das Zeitliche als solches bewegt. Théoneste kommt an diesem Abend zu spät zu Davids Haus, da er Batutsi getötet und so die Zeit regelrecht vergessen hat. Dass Théoneste eigentlich kein aktiver, sondern eher ein passiver und ganz klar traumatisierter Mitläufer in der Mordmaschinerie ist, scheint hier klar zu sein, denn er „starrte ins Leere“ und scheint auch „überhaupt nichts zu hören“ (Bärfuss 2008, 177), als ihn David darauf ansprechen will. Opfer werden zu Mördern und Mörder zu Opfern, denn der Genozid verändert schlussendlich alle Menschen auf grausamste Art und Weise und macht sie noch ambivalenter, was an der Grenze von Davids Menschenkenntnis liegt. Eine menschliche Ambivalenz, welche sich nämlich in der friedlichen Schweiz noch immer im Dualismus von Gut und Böse auflöst, denn da wüssten die Menschen

 Théoneste ist ein Namensvetter von Théoneste Bagosora (1941– 2021), einem ruandischen Oberst, der als führender Planer des Völkermords galt und 2011 zu 35 Jahren Haft verurteilt wurde.

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noch, „was gut und was schlecht ist“ (Bärfuss 2008, 208). Dieser dualistische Glaube Davids wird während der Geschehnisse in Ruanda auf die Probe gestellt. Auch David sieht sich im Zuge der einhundert Tage verändert, von einem Menschen, welcher stets nur „an das Gute geglaubt“ (Bärfuss 2008, S. 7) hat, zu einem desillusionierten, hoffnungslosen und innerlich zerrissenen Mann, welcher zum Schluss seiner Karriere in Ruanda gar selbst zu einem Komplizen des Völkermords wird. Die Stelle, an welcher David Théoneste den Schergen des Bahuturegimes tatsächlich zum Fraß vorwirft, zeigt nämlich nicht nur die Grausamkeit, welche David hier an den Tag legt, sondern auch die unglaubliche Arbitrarität, mit welcher man entweder der Ethnie der Bahutu oder Batutsi zugeteilt worden ist. Als Théoneste, eigentlich ein Muhutu, eines Tages wieder einmal bei David vorbeikommt, fragt dieser ihn, ob er wisse, wie spät es ist, nur um ihn zu einem Glas Whiskey einzuladen. Théoneste verliert beim freundschaftlichen Gelage seine Identitätskarte mit der Zuschreibung seiner eigenen Sicherheit unter dem Stuhl und David macht keinerlei Anstalten, ihn auf diesen Verlust hinzuweisen. Denn, zerrissen wie dieser gegenüber Théonestes Freundlichkeit und seinen Mordfahrten ist, hat sich David in diesem Moment dazu entschieden, Théoneste an die Bahutu auszuliefern, welche jeweils um die gleiche Zeit bei David aufkreuzen. Als diese endlich ankommen, bekommt Théoneste vor lauter Angst ganz „schwarze Augen“ (Bärfuss 2008, 193), als er bemerkt, dass er seine eigentlich korrekte Identität nicht vorweisen kann. David schreitet hier nicht in das Geschehen ein, was synekdochisch wieder für die vermeintliche Nichtbeteiligung der Schweiz steht: „[…] und ich sah damals nicht ein, warum ich ihn hätte retten sollen, einen Mörder, der Mördern zum Opfer fällt, wilde Tiere, die sich gegenseitig zerfleischen.“ (Bärfuss 2008, 194) Vor allem aber gelingt David diese List aufgrund seines zeitlichen Verständnisses, welches hier klar zu seinem Vorteil gespielt wird – denn die Zeit kann tatsächlich auch für schicksalhafte Begegnungen, welche in persönlichen Katastrophen enden, missbraucht werden. Die Zeit wird hier zur schweizerischen Pünktlichkeit umgedeutet, welche neben Heil eben auch das Böse auslösen kann, weil sie im Sinne des Konfliktes eine absolut neutrale und stabile Einheit bildet, auf welche, von der Seite Davids, absoluter Verlass ist. Théoneste wird schlussendlich abgeführt und hingerichtet – aus Davids Sicht ein absolut unnötiger, jedoch gerechter Tod: „Warum hätte ich einen Mörder retten sollen? Weil ich gerecht sein wollte, wurde ich schuldig, und als ich mich schuldig machte, fühlte ich mich gerecht.“ (Bärfuss 2008, 195) Gerechtigkeit ist in diesem Verständnis nicht mehr an die Schuldfreiheit gebunden, sie ist und bleibt ein Instrument, welches seine nur scheinbar normative Verankerung verliert. Die ruandische Wirklichkeit, wie sie hier von Bärfuss beschrieben wird, weicht an dieser Stelle von der Rousseau’schen Vorstellung eines Gesellschaftsvertrages im Sinne eines friedlieben-

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den Naturzustandes heftig ab – was hier beschrieben wird, soll dabei vielmehr an den Hobbes’schen Naturzustand eines Krieges aller gegen alle erinnern, in welchem sich die Gesellschaft in Rechtlosigkeit ohne jeglichen Sinn für Gerechtigkeit auflöst. Der Genozid, welcher jegliche menschliche sowie justiziell verankerte Vernunft ausschaltet und die Menschen in einem Zustand des Chaos und der Zerstörung belässt, wird hier zu einem Bild umgedeutet, welches durchaus auch im Zuge des Kolonialismus nicht selten im Zusammenhang mit afrikanischen Gesellschaften diskutiert wurde.¹⁰ In Hundert Tage wird auf diese Weise die göttliche Gerichtsbarkeit stark ins Menschliche verlagert, denn jeder Mensch richtet schlussendlich nach seinem eigenen Gutdünken und nach seinem eigenen, nicht selten skrupellosen Rechtsverständnis. Dass David beginnt, in den hundert Tagen selbst als Gott über das Bestehen seines Umfeldes zu richten, hat er der einzigen Konstante zu verdanken, welche ihm noch geblieben ist – der Zeit. Ein kostbares Gut, welches aber eine genaue Beobachtungsgabe und eine exzessive Selbstkontrolle verlangt. Denn Zeit existiert ohne ihre Indikatoren, also mittels Uhren, Jahreszeiten, Tagund Nachtzyklen und am allerdeutlichsten in Gestalt des eigenen Alterungsprozesses, eigentlich nicht und bleibt als unsichtbare, aber unbarmherzige Taktgeberin des Lebens wichtig. David versucht, seiner einzig gebliebenen Konstante in seinem Versteck treu zu bleiben, was er auch dank seiner Armbanduhr tatsächlich tun kann: „Ich rieche den Diesel, es ist so dunkel, dass sich die Leuchtziffern meiner Uhr deutlich vom Zifferblatt abheben.“ (Bärfuss 2008, 168) Die Uhr bleibt ein tickendes Zugeständnis an die Realität, an das Hier und Jetzt seiner Existenz, welche auf ein Nichtstun und untätiges Warten im Versteck reduziert wird – auf ein Warten, welches von Davids Versuch durchbrochen wird, einen verhungernden Vogel zu retten. Diesen pflegt der Entwicklungshelfer gesund, indem er ihm

 Thomas Hobbes (1588 – 1679) hat diesen Naturzustand in seinem 1651 erschienenen Werk Leviathan, or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil beschrieben. Anders als die bis dahin vorherrschende Vorstellung einer göttlichen Gerechtigkeit verortete er die Gerechtigkeit nun im menschlichen Gesellschaftsvertrag, welcher durch einen Souverän die Menschen voreinander schützen sollte. Im Gegenzug dazu sollten die Menschen ihre Selbstbestimmung aufgeben. Ohne diesen Gesellschaftsvertrag, welcher auch die Gerechtigkeit garantierte, würden die Menschen in den sogenannten negativen Naturzustand zurückkehren, welcher eine Selbstsüchtigkeit und Empathielosigkeit ohnegleichen zu Tage fördern würde; vgl. auch Eberl 2021 und Kersting 2011. Für Jean-Jacques Rousseau (1712– 1778) steht der Naturmensch dagegen auf einer von der menschlichen Zivilisation weit entfernten Stufe des friedlichen Zusammenlebens. Er sei von Natur aus gut und werde nur von natürlichen Ereignissen zu einem Gesellschaftsvertrag gezwungen. Dieses Bild des im Einklang mit der Natur lebenden Menschen wurde mit den sogenannten Naturvölkern verbunden, was mit einer weitgehend verklärten Exotisierung und Romantisierung derselben einherging (vgl. Rousseau 2019).

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Kadaver bringt. Somit beginnt David eine Art einseitige Freundschaft mit dem Vogel, welche dann aber relativ abrupt endet, als David bemerkt, mit was sich der Bussard neben seinen Fütterungen zufüttert: „Der Vogel fraß einen Finger, einen menschlichen Daumen.“ (Bärfuss 2008, 188) Darauf hackt David dem Bussard kurzerhand den Kopf ab – und beantwortet dabei abschließend eine Frage, welche das ganze Buch wie ein roter Faden durchzogen hatte: Inwiefern macht man sich als Zeuge und gewissermaßen auch Nutznießer eines Genozids schuldig? Und wie wichtig war die Rolle der DftZ und dementsprechend auch der Schweiz tatsächlich? Davids Abhängigkeit von zeitlichen Strukturen wird jedoch auch auf eine andere Weise festgemacht: Als Théoneste nach einem Streit mit David diesen für eine kurze Zeit nicht mehr mit Wasser versorgt, wird David Zeuge seiner eigenen Abhängigkeiten von den Jahreszeiten. Eine Größe, welche für ihn bis zu seinem einhundert Tage dauernden Verstecken in seinem Haus wohl kaum eine Rolle gespielt hatte, ist er doch zu Hause die gemäßigten vier Jahreszeiten der europäischen Breitengrade gewöhnt. Die sogenannte natürliche Zeit lässt sich durch die drei kosmischen Kreisbewegungen spüren, welche unser Dasein bestimmen: Die Drehung der Erde ergibt den Rhythmus des Tages und der Nacht, der Umlauf der Erde um die Sonne das Jahr und der Umlauf des Mondes um die Erde bestimmt die Monate. Für die Jahreszeiten ist der Sonnenstand verantwortlich (Demandt 2015, 272). Das tropische Klima des globalen Südens kennt zwar auch vier Jahreszeiten, diese sind jedoch viel eher an der Menge des Regens festzumachen als an den Temperaturen, welche in Ruanda meistens konstant mild ausfallen.¹¹ Die Feststellung der Jahreszeiten durch die Regen- bzw. Wassermenge ist dabei vor allem aus landwirtschaftlicher Sicht von zentraler Bedeutung, wie uns das auch vom altpharaonischen Ägypten bekannt ist. Dort ist es der Nil, welcher mit seinen Überschwemmungen die Jahreszeiten Ägyptens bestimmt (Demandt 2015, 274). David hat dabei mit dem doch recht anderen Lebensrhythmus zu kämpfen, wenn er meint, die Schweizer/-innen seien „nicht gemacht für diese Nächte“ (Bärfuss 2008, 12), sie wären vielmehr auf die „Rhythmen des Lichts angewiesen“ (Bärfuss 2008, 12), welche in der Nähe des Äquators den Übergang von Tag und Nacht viel abrupter gestalten. David muss entweder während der großen (Juni bis September) oder der kleinen Trockenzeit (Dezember bis Januar) in seinem Versteck verharrt haben – denn als Théoneste kein Frischwasser mehr bringt, bleibt David ohne Wasser und muss erfahren, dass „nach sechsunddreißig Stunden“ (Bärfuss 2008, 181) sein Durst riesig ist und er sich genötigt sieht, über eine gefährliche Frischwassersuche

 Vgl. www.wetter-atlas.de/klima/afrika/ruanda.php.

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in die Stadt nachzudenken. Sein Wissen über Ruanda wird an dieser Stelle herausgefordert und er muss erfahren, dass Ruanda doch aus viel mehr Andersartigkeit besteht, als er ursprünglich gedacht hatte und welche er sich selbst wohl auch angeglichen hat. Die Relativität der Zeit wird ihm hier schmerzlich bewusst – denn auch wenn die Zeit aus einem eurozentrischen Blickfeld häufig als statisch, konstant und weltübergreifend dargestellt wird, ist sie das tatsächlich nicht. Die Zeitstruktur wird auf diese Weise zu einem kolonialen Produkt umgewandelt, welches sich jedoch in der Praxis als unhaltbar herausstellt, was schlussendlich fatal für David sein könnte. Dieser beginnt, seinen strengen Sinn für die Zeitstruktur zu verlieren. Als er am Nachmittag des nächsten Tages kurz einschläft und dann wieder aufwacht, hat er den Eindruck, sein Zeitgefühl nachhaltig verloren zu haben: Das Tageslicht war unverändert, ich schätze die Uhrzeit nicht später als fünf Uhr abends. Als ich vor das Haus trat und am Tatort das bereits getrocknete Blut und die schwarze Wolke schwirrender Fliegen sah, begriff ich, dass ich eine Nacht und einen Tag verschlafen hatte. Zuerst erschrak ich etwas über diesen Kontrollverlust, vielleicht war nicht nur ein Tag, vielleicht waren sogar zwei vergangen, oder noch mehr, eine ganze Woche, ein ganzer Monat gar. (Bärfuss 2008, 189)

Der drohende Kontrollverlust könnte für David gefährlich werden, da ihn das von dem ‚Hier‘ und ‚Jetzt‘, in welchem er im Moment verharrt, herauslösen und in ein großes Nirwana der Zeitlosigkeit katapultieren könnte. Ein ‚Hier‘ und ‚Jetzt‘, welches tatsächlich auch als relative und relativitätstheoretische Zeitstruktur bestehen muss, wird die im Titel genannte Zeitspanne von hundert Tagen doch erst nachträglich definiert. Dass Davids Zustand in den hundert Tagen letztendlich aber auch auf einer allgemeinen Zeitlichkeit beruht, zeigt die Konzeptualisierung des Purgatoriums oder auch des liminalen Zustandes, in welchem sich David in diesen hundert Tagen befindet. Ein solcher Schwellenzustand soll nach dem Religionsethnologen Victor Turner nämlich immer auch aus seiner zeitlichen Struktur heraus analysiert werden, denn er bestehe meistens aus einer Trennung aus dem ursprünglich sozialen Umfeld, einer Isolation und einer Wiedereinführung in die Gesellschaft (Turner 1969). Auf diese Weise kann auch Davids Verstecken als ein ritueller und demnach zeitlicher Prozess gelesen werden, aus welchem er als ein veränderter Mensch herauskommt und die Folgen all der grausamen Taten ansehen muss, welche in den hundert Tagen verübt worden sind: „Immer wieder traf man auf Leichen, Menschen, die den Strapazen der Flucht erlegen waren, Erschlagene, nur wenig abseits der Straße.“ (Bärfuss 2008, 197) Die Zeit, auf welche sich David in seinem Versteck so verlassen hatte, wurde in der Nebenhandlung für schreckliche Grausamkeiten missbraucht, für einen Genozid, welcher auch dreißig Jahre nach

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diesen einhundert Tagen noch nicht vollständig aufgearbeitet worden ist, wie dies immer neue Entwicklungen zeigen.¹² Zusammenfassend lässt sich über die Zeitlichkeit in Lukas Bärfuss’ Hundert Tage sagen, dass sich die Zeitstruktur in Form des Sonnenumlaufzyklus, der Jahreszeiten und von Davids persönlicher Uhr sich während seines hundert Tage dauernden Versteckens als bestimmend für sein Überleben zeigt, auch wenn dies durch Episoden durchbrochen wird, in welchen David ein Kontrollverlust an seiner streng kontrollierten Zeitlichkeit fast zum tödlichen Verhängnis wird. Die Uhr wird auf diese Weise zu einem Symbol für Davids Sein, welches von seinem klischeehaften Schweizertum durchsetzt wird. Die Zeit, so habe ich zu zeigen versucht, unterscheidet sich stark in ihrer kulturellen Definition und wird in diesem Text dazu verwendet, um diese kulturelle Differenz zwischen David und seinen vermeintlich gleichgestellten ruandischen Freunden und Freundinnen herzustellen. Auf diese Weise durchläuft David Hohl in seiner hundert Tage dauernden Versteckzeit eine Art liminale Läuterung, welche ihn dann in eine Selbsterkenntnis entlässt. Jedoch kommt diese Selbsterkenntnis deutlich zu spät, wie auch die Rahmenerzählinstanz meint, als sie in Davids Augen einen „Hinweis auf innere Zerrüttung“ (Bärfuss 2008, 5) zu suchen versucht. Das ‚Anderswo‘ und ‚Morgen‘ hat in diesen einhundert Tagen nicht existiert, doch jetzt, als sich David wieder in die Gesellschaft wiedereingliedern soll, gelingt ihm dies nicht ganz. Er scheint trotz der für ihn grauenvollen Liminalität seines Erlebnisses immer noch den Zustand der liminalen Phase zu suchen, um das Geschehen verarbeiten zu können. Ob ihm das gelingen wird, bleibt hier dahingestellt – soll die Zeit doch bekanntlich alle Wunden heilen.

 Zum Beispiel wurde Onesphore Rwabukombe erst im Jahre 2015 wegen Mittäterschaft am Genozid vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main zu einer Freiheitsstrafe von vierzehn Jahren verurteilt. Der Angeklagte war am Kirchenmassaker von Kiziguro beteiligt gewesen. 2002 reiste er mit seiner Familie nach Deutschland und beantragte dort Asyl (vgl. auch Pressestelle OLG Frankfurt am Main [2014]). – 2021 erkannte der französische Präsident Emmanuel Macron Frankreichs Mitverantwortung am Genozid an. Der damalige Präsident François Mitterrand habe alle Vorzeichen des Genozids ignoriert und sei mit Präsident Habaryarimana bis zuletzt gut befreundet gewesen. Zudem habe Frankreich in Ruanda seit 1990 Soldaten stationiert, welche unter anderem auch die Armee des damaligen Hutupräsidenten Habaryarimana ausgebildet haben sollen (vgl. www.srf.ch/news/international/frankreich-und-ruanda-macron-anerkennt-mitverant wortung-an-voelkermord).

Die Zeit als Purgatorium in Lukas Bärfuss’ Hundert Tage (2008)

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Beiträgerinnen und Beiträger Aeberhard, Dr. Simon, ist stellvertretender Leiter des Bereichs Hochschulen am Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt. – E-Mail: [email protected] Bartl, Dr. Andrea, ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. – E-Mail: [email protected] Bergengruen, Dr. Maximilian, ist Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Würzburg. – E-Mail: [email protected] Birnstiel, Dr. Klaus, ist Juniorprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Greifswald. – E-Mail: [email protected] Brittnacher, Dr. Hans Richard, war außerplanmäßiger Professor am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. – E-Mail: [email protected] Dean, Martin R., ist Schriftsteller und Essayist, Basel. Weitere Informationem unter www.mrde an.ch Gess, Dr. Nicola, ist Professorin für Neuere deutsche und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel. – E-Mail: [email protected] Gisi, Dr. Lucas Marco, ist Co-Leiter des Diensts Forschung und Vermittlung im Schweizerischen Literaturarchiv und Chargé d’enseignement an der Universität Neuchâtel. – E-Mail: [email protected] Hamann, Dr. Christof, ist Professor für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität zu Köln. – E-Mail: [email protected] Hermes, Dr. Stefan, ist Privatdozent und Oberstudienrat im Hochschuldienst am Institut für Germanistik (Abteilung Literaturwissenschaft) der Universität Duisburg-Essen. – E-Mail: [email protected] Janz, Dr. Rolf-Peter, em. Professor für Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. – E-Mail: [email protected] Karško, Anna, ist wissenschaftliche Assistentin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. – E-Mail: [email protected] Koch, Dr. Manfred, war bis 2021 Titularprofessor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Basel, seitdem im Ruhestand. – E-Mail: [email protected] Lubkoll, Dr. Christine, ist em. Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Friedrich-Alexander-Univerisität Erlangen-Nürnberg. – E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110773750-026

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Beiträgerinnen und Beiträger

Mülder-Bach, Dr. Inka, ist em. Professorin für Neuere deutsche Literatur und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. – E-Mail: [email protected] Parr, Dr. Rolf, ist Professor für Germanistik (Literatur und Medienwissenschaft) an der Universität Duisburg-Essen. – E-Mail: [email protected] Previšić, Dr. Boris, ist Professor für Kultur- und Literaturwissenschaft an der Universität Luzern und Direktor des Instituts Kulturen der Alpen in Altdorf. – E-Mail: [email protected] Schwarz, Dr. Thomas, ist Professor für Germanistik an der Nihon University Tokyo. – E-Mail: [email protected] Simon, Dr. Ralf, ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. – E-Mail: [email protected] Simons, Dr. Oliver, ist Professor of German Studies an der Columbia University in New York. – E-Mail: [email protected] Stockhammer, Dr. Robert, ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. – E-Mail: [email protected] Thüring, Prof. Dr. Hubert, ist Universitätsdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. – E-Mail: [email protected] Weder, Dr. Christine, ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Genf. – E-Mail: [email protected] Wetz, Gary (M.A.), ist wissenschaftlicher Assistent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. E-Mail: [email protected]