Von Giotto bis Matrix: Zur Darstellung und Wahrnehmung von Gewalt in Malerei und Film 9783839465134

Die massive Präsenz affektbesetzter Darstellungen von Gewalt in Filmen wirft die Frage auf, welche historischen Vorausse

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Von Giotto bis Matrix: Zur Darstellung und Wahrnehmung von Gewalt in Malerei und Film
 9783839465134

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Darstellungen von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik
3. Die Auslotung der Grenzen
4. Der Leib, das bewegte Bild und die Flucht des Subjekts vor sich selbst
5. Die Ordnung und ihre Zersetzung
6. Der vergebliche Kampf gegen die Scheinwelt und die Veralltäglichung filmischer Gewalt
Abbildungsliste
Literaturliste

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Hans Zitko Von Giotto bis Matrix

Image Band 219

Hans Zitko (Dr. phil.), geb. 1951, hat im Fach Philosophie promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Ästhetik, Soziologie der Kunst, Religionswissenschaft, Theorie der Wahrnehmung sowie der Geschichte der bildenden Kunst und des Films. Als Gastprofessor für Wahrnehmungstheorie und Mentor der Promovenden war er bis 2018 an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main tätig.

Hans Zitko

Von Giotto bis Matrix Zur Darstellung und Wahrnehmung von Gewalt in Malerei und Film

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Luca Giordano, »Der Heilige Michael«, um 1663, Öl auf Leinwand, 198 x 147 cm, Staatliche Museen zu Berlin. Bildrechte: bpk-Bildagentur, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839465134 Print-ISBN 978-3-8376-6513-0 PDF-ISBN 978-3-8394-6513-4 Buchreihen-ISSN: 2365-1806 Buchreihen-eISSN: 2702-9557 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

1.

Einleitung........................................................................... 7

2.

Darstellungen von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik............... 25

3.

Die Auslotung der Grenzen .......................................................... 71

4.

Der Leib, das bewegte Bild und die Flucht des Subjekts vor sich selbst ........... 135

5.

Die Ordnung und ihre Zersetzung ................................................. 169

6.

Der vergebliche Kampf gegen die Scheinwelt und die Veralltäglichung filmischer Gewalt ................................................................. 235

Abbildungsliste......................................................................... 263 Literaturliste ........................................................................... 267

1. Einleitung

Wer sich dem Medienkonsum moderner Gesellschaften zuwendet, kann an einem bestimmten Phänomen nicht vorbeigehen: dem weit verbreiteten Interesse an Motiven physischer Gewalt. Das quantitative Ausmaß entsprechender Darstellungen ist bekannt und muss durch Statistiken nicht eigens belegt werden. Jeder, der sich an einem Abend durch die Fernsehprogramme bewegt, wird rasch fündig. In unterschiedlichsten Varianten werden Akte des Angriffs auf Personen sowie Verletzte, Sterbende oder bereits in den Zustand des Todes Übergegangene den Blicken präsentiert. Vielfach ist die Frage gestellt worden, was Individuen veranlasst, sich derartigen Sujets stets erneut zuzuwenden. Manche der Kommentatoren erklären, dass man es mit einem Phänomen zu tun habe, das in der menschlichen Geschichte zu allen Zeiten hervorgetreten sei: Immer schon – die Moderne mache hier keine Ausnahme – bildeten Darstellungen physischer Gewalt und des Tötens den Gegenstand einer aus moralischer Perspektive zwar problematischen, gleichwohl stets virulenten, durch die Perfektionierung sozialer Ordnung nicht zu überwindenden Schaulust; die modernen Medien würden diesem dunklen Erbe der Menschheitsgeschichte lediglich auf ihre Weise zur Geltung verhelfen. Macht man sich eine derartige Perspektive zu eigen, so könnte man zugleich auf das Werk des Anthropologen und Religionswissenschaftlers René Girard zurückgreifen, der die Auffassung vertrat, dass sich in sozialen Verbänden immer auch Missgunst, Abgrenzungsbedürfnisse und Rivalitäten zwischen ihren Mitgliedern entwickelten.1 Wo sich derartige Zustände verschärften und in gewalttätige Konflikte übergingen, sei das Bestehen der sozialen Ordnung selbst bedroht. Bei allen Unterschieden im Detail stünden sämtliche Kulturen vor dem Problem, Verfahren zu entwickeln, die geeignet seien, Rivalitäten abzudämpfen und im Interesse des friedlichen Zusammenlebens unschädlich zu machen. Archaische Gesellschaften bewältigten interne Konfliktlagen durch das rituelle Verfahren der Opferung zunächst von Menschen, dann ersatzweise von Tieren oder anderer Substitute. Das Verfahren ist ebenso primitiv wie sozial effizient: Das Opfer fungiere als Sündenbock, als Medium der geregelten Abfuhr akkumulierter Aggressionsneigungen, das die Individuen entlaste und ihnen

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René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a.M.: Fischer 1992.

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die Möglichkeit eröffne, in einer sozialen Ordnung weiter zusammen zu existieren.2 Man könnte vermuten, im lustbesetzten Gebrauch von Bildern physischer Gewalt reproduziere sich die von Girard beschriebene Logik des Opfers; nicht reale Personen, sondern deren mediale Substitute dienten in diesem Fall als Mittel der Abfuhr eines andernorts entstandenen Destruktionsbegehrens. Verbreitet ist das Bild von einem Zuschauer, der sich am Abend vor dem Bildschirm Bedürfnissen hingibt, deren Verwirklichung er sich in seinem Alltagsleben verwehrt. So plausibel diese Deutung auf den ersten Blick erscheinen mag, so unzureichend erweist sie sich bei genauerer Betrachtung. Empirische Studien haben gezeigt, dass die Vorstellung von einem Abbau aggressiver Impulse durch den Konsum von Bildern der Gewalt weitgehend unzutreffend ist: Eine Katharsis der durch düstere Triebregungen belasteten Seele findet im Prinzip nicht statt.3 Damit entfällt die Möglichkeit, das Rezeptionsgeschehen entsprechender Filme als Sonderfall der von Girard beschriebenen Prozesse deuten zu können: Der Gebrauch der Bilder fungiert nicht als symbolischer Ersatz der Opferung von Sündenböcken im Dienste der Befriedung und Reproduktion sozialer Ordnung. Die Antwort auf die Frage nach der Eigenart filmischer Gewalt ist in einer anderen Richtung zu suchen. Dabei gilt: Monokausale Modelle, die die Logik des bildlich Dargebotenen direkt aus Zuständen oder Bedürfnissen des Subjekts herleiten, sind nicht zielführend. Bei der Analyse der hier vorliegenden Zusammenhänge kann man auf Einsichten und Motive der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns zurückgreifen. Medien lassen sich als Systeme begreifen, in denen bestimmte Formen der Kommunikation ablaufen.4 Was sich in diesen Systemen konstituiert, ist eine emergente, eigenen Regeln folgende Sphäre des Sozialen, deren Logik sich von den Zuständen und Eigenschaften der außerhalb dieser Sphäre sich bewegenden Individuen unterscheidet.5 Filme, und das heißt hier deren Wahrnehmung, liefern nicht ein Spiegelbild dessen, was Individuen in ihrem alltäglichen Leben bewegt; sie bieten nicht einen Aus- oder Abdruck der jenseits der filmischen Ordnung platzierten Verfassung ihrer Produzenten oder Nutzer. Entscheidend ist die Einsicht, dass die Logik der medialen Of2 3

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René Girard: Der Sündenbock, Zürich/Düsseldorf: Benzinger 1998. Michael Kunczik und Astrid Zipfel stellen in diesem Sinne fest: »Eine durch das Ansehen violenter Medieninhalte bewirkte Aggressionsminderung aufgrund des Abfließens des Aggressionstriebes erfolgt nicht.« Wirkungsforschung I: Ein Bericht zur Forschungslage, in: Thomas Hausmanninger/Thomas Bohrmann (Hg.), Mediale Gewalt. Interdisziplinäre und ethische Perspektiven, München: Wilhelm Fink 2002, S. 153. Vergl.: Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 11ff. Zum Begriff der Emergenz vergl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 43f. u. 157; Detlef Krause: Luhmann-Lexikon, Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann, Stuttgart: Lucius & Lucius 2001, S. 123.

1. Einleitung

ferten in die Prozesse des psychischen Apparats einzugreifen und diese Prozesse zumindest für die Dauer der Rezeption, wahrscheinlich jedoch auch darüber hinaus zu modifizieren vermag. Diese Möglichkeit besitzen diese Offerten, weil sie an psychische Dispositionen anknüpfen und diese im Interesse der Aufrichtung einer emergenten Ordnung in Dienst nehmen. Systemtheoretischen Vorstellungen zufolge liegt ein Koppelungsverhältnis divergierender Instanzen vor: dem Mediensystem auf der einen und den psychischen Systemen auf der anderen Seite. Sowohl der Rezeptionsprozess eines Films als auch die Geschichte dieses Mediums selbst bilden Produkte eines intersystemischen Geschehens, in dem die beteiligten Instanzen wechselseitig Einfluss aufeinander ausüben. Die Frage nach dem Subjekt der Wahrnehmung ist in diesem Kontext nicht ohne Rekurs auf mediengestützte Prozesse der Kommunikation zu beantworten. Auch das die filmischen Angebote produzierende oder rezipierende Subjekt durchläuft eine Geschichte, in der sich dessen Eigenschaften, Dispositionen oder Interessen verwandeln. Das Subjekt des modernen Films ist nicht mehr das Subjekt der Malerei des 15. oder 16. Jahrhunderts; noch weniger ähnelt es den Mitgliedern archaischer Gesellschaften, für die Rituale des Opfers einen Teil ihrer Lebenswelt darstellten. Wer nach dem Wahrnehmenden fragt, ist also zugleich auf die Logik medialer Kommunikation zurückverwiesen. Auf diese Zusammenhänge hat bereits Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen aufmerksam gemacht. Hier heißt es, dass die symbolische Ordnung nicht nur für die Konstruktion der Objekte, sondern zugleich für die Genese der ins Spiel tretenden Subjekte von Bedeutung sei.6 Von einem dem symbolischen System vorausliegenden, in das System unverändert eintretenden Subjekt könne ebenso wenig gesprochen werden wie von Objekten, die dem System als selbständige Entitäten entgegentreten; Subjekt und Objekt kristallisierten sich erst im Kontext und auf dem Boden symbolischer Operationen.7 Einsichten dieser Art finden sich auch bei Michel Foucault. In seiner in der Archäologie des Wissens vorgestellten Theorie der diskursiven Formationen macht er darauf aufmerksam, dass in diesen Formationen neben den Objekten des Wissens zugleich entsprechende Positionen und Praktiken des Subjekts hervortreten. Die Beantwortung der Frage wer spricht beziehungsweise wer was und wie wahrnimmt setzt in jedem Fall die

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolische Formen, Bd. 3, Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, S. 82f. u. 90. »Denn ein Blick auf die Entwicklung der einzelnen symbolischen Formen zeigt uns überall, dass ihre wesentliche Leistung nicht darin besteht, die Welt des Äußeren in der des Inneren abzubilden oder eine fertige innere Welt einfach nach außen zu projizieren, sondern daß in ihnen und durch ihre Vermittlung die beiden Momente des »Innen« und »Außen«, des »Ich« und der »Wirklichkeit« erst ihre Bestimmung und ihre gegenseitige Abgrenzung erhalten.« Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2, Das mythische Denken, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, S. 186.

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Kenntnis von diskursiven Verhältnissen voraus, in denen sich die involvierten Akteure in unterschiedlichster Weise platzieren.8 Die alte etwa bei Kant vorliegende Vorstellung eines dem Diskursgefüge vorausliegenden, sämtliche Prozesse tragenden und übergreifenden Subjekts wird auch hier zurückgewiesen. Cassirers und Foucaults Einsichten in die Prozesse der symbol- beziehungsweise diskursabhängigen Konstruktion des Subjekts sind auch für die Analyse und Beschreibung von Filmen von Bedeutung. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass bestimmte Zustände und Eigenschaften der Individuen überhaupt nur im Raum des Konsums entsprechender Medien auftreten. Der Film produziert nicht nur bestimmte Hinsichten auf die Welt, sondern zugleich Typen von Rezipienten, mehr oder minder standardisierte Charaktere, die diese Bilder aufzuschlüsseln und sinnhaft wahrzunehmen vermögen. Wechselt man hier wieder in die Systemtheorie, so kann man von einer Ko-Evolution der Eigenschaften des Wahrnehmungssubjekts auf der einen und der Struktur und Eigenart medialer Offerten auf der anderen Seite sprechen.9 Die Theorie ist hier mit einem Zirkel konfrontiert, der von den dargestellten Ereignissen des Films zu ihren Rezipienten und von dort wieder auf diese Ereignisse zurückführt. Dieser Zirkel ist nicht zu durchbrechen; er ist stets im Auge zu behalten, um den Fehler zu vermeiden, die Logik des Films im Rekurs auf ihm vorausliegende transmediale Subjekte oder Objekte zu entschlüsseln. Diese Einsichten gelten in uneingeschränkter Weise zugleich für das Medium der Malerei, denn auch hier konstituieren sich Räume mit eigenen Regeln und Gesetzen einschließlich entsprechender Formen der Darstellung und Rezeption von Gewalt. Die Art, in der destruktive Prozesse in Bildern zur Anschauung gebracht werden und welche Zustände ihnen auf Seiten der Betrachter korrespondieren, ist in hohem Maße zeit- und kulturabhängig. Ebenso wie sich die Gegenstandswelt in der Malerei in den aufeinanderfolgenden Phasen der Stilgeschichte in unterschiedlichster Weise präsentiert, wechselt die Physiognomie der Gewalt und damit der wertende Blick des Wahrnehmenden, der den Bildern korrespondiert. Die Formen einer kognitiven und emotionalen Teilhabe am inszenierten Geschehen bilden Stufen einer geschichtlichen Entwicklung, in der sich alle beteiligten Instanzen sukzessive verändern. Es geht um Sinn und Struktur der Gewalt im Kontext historisch gewachsener Deutungssysteme, die den bestimmenden Rahmen für die Produktion und das Verstehen der Bilder abgeben. Darstellungslogisch betrachtet ist Gewalt keinesfalls stets dasselbe. Man muss von der Vorstellung Abstand nehmen, man habe es im Falle destruktiver Praktiken stets mit gleichen Phänomenen zu tun, eben mit der Gewalt als einer in allem Wechsel beharrenden und gleich

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Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 75-82. Niklas Luhmann spricht im Hinblick auf diese Prozesse auch von einer so genannten Interpenetration, durch die eine Ko-Evolution von Systemen möglich würde.

1. Einleitung

bleibenden Substanz. In Bildern treten Gewalt und deren Folgen in unterschiedlichster Weise in Erscheinung. Nirgends stoßen wir auf eine urwüchsige, jenseits kultureller Entwicklungen angesiedelte Lust an der Grausamkeit. Bilder, die dennoch den Anspruch erheben, archaische Schichten des Seelenlebens offenzulegen, produzieren Fiktionen, welche die genetischen Voraussetzungen der Darstellungsund Rezeptionspraxis verschleiern. Vorliegende Studie befasst sich mit der Darstellung von Gewalt zunächst in der älteren Malerei und dann im Film. Anhand diverser Beispiele bietet sie Einblicke in die Prozesse der Koevolution medialer Offerten und ihrer rezeptiven Verarbeitung. Ziel der Betrachtungen, die bei einem Werk Giottos ansetzen, ist die Herausarbeitung der im Verlauf der Geschichte sich wandelnden Inszenierungspraktiken von Gewalt und der ihnen entsprechenden Zustände beziehungsweise Positionierungen des Subjekts. Das hier gewählte Verfahren bietet die Möglichkeit, die kontingenten Voraussetzungen und Implikationen der Verarbeitung destruktiver Prozesse in besonderer Deutlichkeit in den Blick treten zu lassen. Entsprechende Darstellungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit können nicht ohne Rekurs auf die hier selbst vielfach vorliegenden Bezugnahmen auf eine höhere, transzendente Wirklichkeit analysiert werden. Die Bildkunst positioniert sich im Hinblick auf Motive und Geltungsansprüche von Theologie und Kirche. Entscheidend für Giotto, mit dessen Werk ein neues Kapitel in der Geschichte der Kunst aufgeschlagen wird, ist die Gewissheit von der Existenz Gottes, der dem irdischen Leben Sinn und Ziel verleiht und im Einzelfall die Erlösung unschuldig sterbender Opfer verspricht. Im Kraftfeld dieser Gewissheit arbeitet er an einer Abdämpfung des Grauens, um auf diese Weise einer spezifischen, bildbezogenen Form der Andacht und Frömmigkeit den Weg zu ebenen. Nicht zuletzt die in der Theologie verwurzelte Lehre vom Schönen, die sich die Kunst zu eigen macht, liefert den Boden für einen moderaten, den Schrecken abfedernden Umgang mit Motiven der Gewalt. Unter den Bedingungen der Geltung der Vorstellung von einer göttlichen Schöpfung meidet die Kunst wenn nicht gänzlich, so doch weitgehend Formen des Begehrens, die Akte der Grausamkeit und ihre Darstellung positiv besetzen. Eine Fetischisierung blutiger Gewalt, wie sie vor allem im Raum des modernen Films verbreitet ist, kann sich unter diesen Bedingungen kaum herausbilden, denn die Seele soll zu Gott und nicht in die Abgründe niederer Affekte geführt werden. Im Anschluss an Motive der Theologie macht sich die Malerei ethische Prinzipien zu eigen, um dem Bösen – der ungebremsten Lust an der Grausamkeit – den Zugang zur Welt des Bildes zu verweigern.10 Wo sich die Malerei profanen Themen zuwen-

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Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier nicht um die Politik der Institution Kirche, die bekanntlich nicht selten über Gebühr gewaltsam gegen Abweichler vorging, sondern um die Politik der Bilder, die vielfach eigene Wege beschritt und keineswegs stets den Geist des Klerus spiegelte.

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det und religiöse Referenzen in den Hintergrund treten, sichern Praktiken ästhetischer Sublimierung einen distanzierten Umgang mit Motiven der Gewalt. Selbst Schlachtenbilder, die eine Ahnung des realen Geschehens zu vermitteln versuchen, folgen am Ende kontemplativen Interessen, die das Dargestellte in den Gegenstand einer von Affekten entlasteten ästhetischen Wahrnehmung transformieren. In einem in diesem Kontext bemerkenswerten Gemäldezyklus hat Tintoretto ein Exempel dieses in zwei Richtungen vorgehenden Verfahrens geliefert. Er markierte damit ein für die Malerei bestehendes Problem: Wo der Hang zur Erschließung des Realen eine bestimmte Schwelle überschreitet, steht die Logik des tradierten Bildes selbst auf dem Spiel. Die Entwicklung im Hinblick auf die Darstellung von Gewalt ist komplex. Im Zeitalter des Barock lassen sich unterschiedliche Ansätze unterscheiden. Wichtig sind zunächst die vor allem durch die Gegenreformation forcierten wirkungsästhetischen Strategien, die mit dem Ziel entwickelt wurden, die Distanzen zwischen Werk und Betrachter abzusenken. Motive der Gewalt gewinnen eine neue Physiognomie, die in veränderter Weise auf den Gefühlshaushalt des Subjekts zugreift. Doch auch hier geht keineswegs zwingend kontemplative Gelassenheit und ethisch motivierte Distanz verloren; im Gegenteil, zahlreiche Werke belegen, dass die Imperative der alten Kunst auch unter den veränderten Bedingungen einer Anhebung des affektiven Ausdruckspotentials der Bilder in Geltung bleiben konnten. Beispiele liefern Peter Paul Rubens und Nicolas Poussin, die mythische sowie naturphilosophische Vorstellungen der Antike in den Fokus des Interesses rücken. Bei aller Bewegtheit des Dargebotenen regiert nach wie vor ein auf Distanzen setzender Umgang mit Abgründen und Folgen destruktiver Gewalt. Zumindest bei Rubens ist es das Erbe der stoischen Philosophie, das den Künstler motiviert, den beschworenen Schrecken mit den Mitteln der Malerei einzuhegen und den Betrachter auf diese Weise affektiv zu entlasten. Ziel ist die Entfaltung kontemplativer Gelassenheit angesichts einer jenseits des christlichen Kosmos angesiedelten, die Sinne bestrickenden, dabei nicht selten bedrohlichen Schicksalsordnung. Neben diesen Beiträgen zum Thema, die das auch für die Stoa wichtige Motiv der Ataraxie ins Gedächtnis rufen, ist eine Bildästhetik zu berücksichtigen, die das Spektrum des Ausdrucks deutlich in Richtung des Drastischen verschiebt. Die Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges gaben ausreichend Gelegenheit, die durch die wirkungsästhetischen Perspektiven eröffneten Möglichkeiten für eine kritisch-diagnostische Bestandsaufnahme der Ereignisse zu nutzen. Herausragend sind hier unter anderem Werke von Sebastiaen Vrancx, der unter Verzicht auf traditionelle Verfahren ästhetischer Glättung Opfer der Gewalt in berührender, keineswegs voyeuristischer, sondern im Kern mitfühlender Weise ins Bild setzte. Marodierende Soldaten erledigen ihr blutiges Geschäft unter einem düsteren Himmel, der unübersehbar Zeichen des göttlichen Zornes trägt. Die Bilder präsentieren sich als Anklagen menschlichen Fehlverhaltens in einer irdischen Welt, die ihren höheren

1. Einleitung

Sinn noch nicht verloren hat. Dem antworten gegenläufige Strömungen, denn die Zeit des Barock ist zugleich die Zeit der fortschreitenden Erosion der Deutungsmacht von Theologie und Metaphysik. Diese Erosion ist im Einzelfall auch an Werken zu beobachten, die prima facie auf dem Boden der alten Glaubenslehren zu stehen scheinen. Künstler können in ihren Werken vorderhand ein Bekenntnis zur theologischen Orthodoxie ablegen und in entsprechenden Subtexten dieser Werke zugleich von diesem Bekenntnis Abstand nehmen. Denkbar ist auch, dass ein Abweichen von der obligaten Lehre durch den Künstler nicht bewusst intendiert war, sondern auf einen unbewusst sich durchsetzenden Impuls des Abstandnehmens zurückgeht. Im Verlauf der Neuzeit – bedingt durch entsprechende Innovationen in Kultur und Wissenschaften – nimmt die Bindungskraft von Theologie und Kirche sukzessive ab, was sich nicht zuletzt in der Veränderung der Darstellungen physischer Gewalt niederschlägt. Bei Caravaggio sind deutliche Symptome für diese Entwicklung auszumachen. In seinem Martyrium des Heiligen Matthäus wird das Agieren eines Mörders mit hoher Intensität vor Augen geführt – die Kälte der Tat hat etwas Erschütterndes –, ohne dass der Maler, wie noch Giotto oder Tizian, ein zweifelsfreies Zeichen der begehrten göttlichen Gnade und Gerechtigkeit liefern würde. Caravaggio platziert sich mit diesem Bild an einer spezifischen Grenze; er artikuliert eine Skepsis im Hinblick auf die Tragfähigkeit christlicher Erlösungsvorstellungen, ohne dass er sich bereits jenseits des Diskurses der Theologie im Raum einer atheistischen Gesinnung situieren würde. Der Schrecken, den er in seinem Gemälde artikuliert, ist ein doppelter: Entsetzen vor der blanken Gewalt des Mörders und Erschrecken angesichts der aufkeimenden Ahnung, dass sich Gott aus der Welt zurückgezogen und den Menschen sich selbst überlassen habe. Selbst im Werk von Rubens, der gemeinhin als gläubiger Katholik betrachtet wird, finden sich Anzeichen einer Distanzierung zumindest von der zu seiner Zeit herrschenden gegenreformatorischen Politik seiner Kirche. In einem Engelsturz, der den Heiligen Michael bei der Niederringung des Satans präsentiert, lässt sich eine bemerkenswerte Wende in der Darstellung des unterweltlichen Lebens beobachten. Anders als in der Tradition, die den Teufel einschließlich seines Gefolges als reines, verabscheuungswürdiges Ungeziefer behandelte, erscheint der Unterworfene hier als leidende, in tragischer Weise gestürzte, Empathie fordernde Kreatur. Als erklärter Schirmherr der Gegenreformation wird der Erzengel als Subjekt einer zutiefst problematischen Form der Gewalt in den Blick gerückt. Wenige Jahrzehnte später liefert Luca Giordano mit einer Darstellung des Heiligen Michael einen gänzlich desillusionierten, fast zynischen Blick auf eine inzwischen aus den Fugen geratene religiöse Welt. Der Engel, der herabgeschickt wurde, um die Mächte des Bösen niederzuringen, hat sich hier mit dem Teufel auf eine Liaison eigener Art eingelassen. Er empfindet ein sichtliches Vergnügen beim Traktieren seines Widersacher, der sich seinerseits seinem strengen Herrn bereitwillig ausliefert. Ebenso wie zu-

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vor der gestürzte Luzifer löst sich nun auch der herabgesandte Erzengel von Gott, um sich mit dem Dämon auf ewig einem lustbesetzten Spiel des Quälens und des Gequältwerdens hinzugeben. Luca Giordanos Gemälde ist von erstaunlicher Hellsichtigkeit im Hinblick auf mögliche Entwicklungen im Raum einer Bildwelt, in der sich das Schwinden der Bindungskraft des christlichen Glaubens bemerkbar macht. Mit der im Raum wirkungsästhetischer Strategien möglichen Absenkung des Sublimierungsniveaus geht die Fähigkeit der Malerei zurück, die suggestiven Potentiale ins Bild gesetzter Gewalt zu brechen. So können auf drastische Effekte setzende Inszenierungen von Märtyrerschicksalen, die auf eine Konsolidierung des Glaubens auf Seiten der Adressaten zielen, Wege in Richtung einer Regression auf das Niveau archaischer Vorstellungen vom blutigen Opfer eröffnen. Niedere, zuvor strategisch eingehegte Affekte gewinnen Bedeutung und verhindern die innere, vom Bösen sich abkehrende Erhebung des Gläubigen zu Gott. Die Anhebung der Intensität des Leidens im Bild ebnet nicht zwangsläufig den Weg in eine essentiellere Form religiöser Andacht; im Gegenteil, wo die Wunde zum Fetisch wird – dies zeigen entsprechende Darstellungen des Barock – gerät der Sinn der christlichen Botschaft rasch aus dem Blick. Hier ist an René Girards Einsichten zum Verhältnis des Neuen Testaments zu archaischen Opferkulten zu erinnern. Die Impulse, die sich unter diesen Bedingungen Geltung verschaffen, überschreiten unter Umständen nicht nur überkommene Darstellungskonventionen, sondern rühren darüber hinaus zugleich an Grenzen des Mediums der Malerei. Auf einem Bild von Giovanni Antonio Galli präsentiert Christus, der Erlöser, seine geöffnete Seitenwunde, deren veristische Prägnanz den Eindruck aufkommen lässt, der Stich sei nicht nur dem menschlichen Körper sondern auch dem Bildträger selbst zugefügt worden. Die wirkungsästhetisch verschärfte Darstellung einer Spur von Gewalt sprengt in diesem Fall den Raum des bildlichen Imaginären, der bestimmte Formen der Andacht möglich werden ließ. In diesen Kontext gehört auch die überaus drastische Inszenierung der Blendung Simsons von Rembrandt, von dem anzunehmen ist, dass er streng gläubig war. Der Maler präsentiert den blutigen Akt in einer Form, die neben dem Opfer auch den Betrachter einem Prozess der Blendung unterzieht und dabei zugleich das tragende Medium, das Tafelbild, zum Erzittern bringt. Rembrandt, der hier an eine spezifische Grenze rührt, hat ein solches Experiment wahrscheinlich aus wohlüberlegten Gründen nicht wiederholt. Am Beginn einer neuen Zeit eröffnet Francisco de Goya eine neue Perspektive auf Phänomene der Gewalt. Seine graphischen Blätter aus dem Zyklus der Desastres de la Guerra, die mit der modernen Pressefotographie verglichen wurden, zeigen sich als Produkte eines Verfahren, welches das Grauen des Krieges in den Blick treten lässt, ohne dabei reflexive Distanzen einzuziehen und den Betrachter affektiv zu überwältigen. Die Anklage, die der Künstler mit diesen Bildern formuliert, soll nicht, bedingt durch wirkungsästhetische Anreize, die Lust an dargestellter Gewalt

1. Einleitung

zu erzeugen vermögen, verpuffen. Goya zeigt den Krieg unter einem entgötterten Himmel, unter dem die Opfer kein ewiges Leben zu erhoffen und die Täter kein Jüngstes Gericht zu erwarten haben. Sein bei aller Drastik der Darstellungen immer noch moderater Umgang mit dem Krieg gibt ihm Recht, denn wo Distanzen eingezogen und entsprechende Affekte entfesselt werden, verliert das Subjekt an Autonomie und verwandelt sich in den Spielball eines nicht beherrschbaren Begehrens und das heißt hier der Sucht nach destruktiver Gewalt. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die in der Landschaftsmalerei des späten 18. Jahrhundert hervortretenden Darstellungen eines tätigen Vulkans. So lieferte etwa der englische Maler Joseph Wright of Derby diverse Ansichten des Vesuvs mit einer in den Himmel aufsteigenden Lavafontäne und an den Hängen des Berges hinabfließenden Magmaströmen. Obwohl in diesen Bildern immer noch das Interesse mitschwingt, eine hinter derartigen Ereignissen stehende höhere Wirklichkeit fühlbar werden zu lassen, sind diese Darstellungen doch vor allem eine Apotheose der reinen Kraft, einer quantifizierbaren physikalischen Größe, die ohne Rekurs auf einen göttlichen Willen beschrieben werden kann. Man hat es mit einer mechanischen Gesetzen folgenden Ordnung zu tun, die in entsprechender Weise angeschaut oder ins Bild gesetzt die Eigenschaften des Erhabenen mit sich führt. Genau besehen tritt die in den Fokus der Aufmerksamkeit rückende Kraft an die Stelle des sich zurückziehenden Gottes, mit tiefgreifenden Konsequenzen für die Erfahrung von Natur und Zeit. Unter Bedingungen einer fraglosen Geltung der alten Theologie war das menschliche Leben, wie Luhmann hervorhob, eingespannt in den Dualismus von Ewigkeit und Zeitlichkeit; das Vergängliche hatte einen sicheren Bezugspunkt in einem dem Werden entrückten, aus dem Strom der Zeit herausgehobenen Absoluten. Im Prozess der Genese der Moderne, in der die Instanz der Ewigkeit verschwindet, konstituiert sich die für die Wahrnehmung von Zeit nun entscheidende Differenz von Vergangenheit und Zukunft. Die Gegenwart verliert an Bedeutung, sie zieht sich zusammen und schrumpft, so dass eine elementare Unruhe und Nervosität in das menschliche Leben Einzug hält; das aus den Bindungen zu Gott entlassene Subjekt sieht sich einer Welt ausgesetzt, in der stetige Veränderungen zur alles beherrschenden Größe geworden sind. Diese Entwicklung hat Folgen auch für die Logik des Bildes: Während das im Zustande der Bewegungslosigkeit verharrende Gemälde prädestiniert war, einen wenn auch nur sinnlichen Vorschein von der ewigen Gegenwart Gottes zu vermitteln, zeigt es sich außerstande, prozessuale Veränderungen als solche adäquat wiederzugeben. Kaum zufällig beginnen Künstler in jener Zeit, in der bewegte Phänomene der Natur in den Fokus des Interessen rücken, mit bewegten Bildern zu experimentieren, denn Bilder dieser Art partizipieren an derselben Zeit, die für physikalische Prozesse charakteristisch ist. Mit zunächst einfachsten Mitteln tut die Kunst hier die ersten Schritte in Richtung der Welt des Films.

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Der Entwicklung einer neuen Technologie der Bilder korrespondiert die Genese eines neuen, aus Traditionsbindungen sich herauslösenden Subjekts, dessen veränderte Lebenslage für die Rezeption entsprechender Offerten bedeutsam ist. Während moderne, als aufgeklärt geltende Gesellschaften den Individuen einen Grad an Freiheit und Autonomie bescheren, der in den alten Gesellschaften nicht möglich war, konfrontieren sie dieselben zugleich mit einem entschieden höheren Maß an existentieller Unsicherheit. Wo Gott aus dem Leben des Menschen verschwindet, geht zugleich jener Bezugsrahmen verloren, der seinen Lebensentwürfen Sinn und seinen Handlungsprozessen Legitimität bieten konnte. Religionen – darauf haben entsprechende Einsichten der Religionssoziologie aufmerksam gemacht – bieten einem an Unsicherheit und Angst leidenden Subjekt Orientierung und leisten einen Beitrag zum Aufbau einer mehr oder minder stabilen Existenz. Ein aus diesen Bindungen sich lösendes Subjekt muss seinem Leben ohne Rekurs auf höhere Quellen der Sinnstiftung Form geben. Wo dies nicht gelingt, wo es an den Möglichkeiten eines freien, selbstbestimmten Handelns scheitert, tritt die Frage nach kompensatorischen Maßnahmen auf den Plan. Hier kann die Logik der Kraft ins Spiel treten, die dem Weltschöpfer mit Blick auf die äußere Natur den Rang abgelaufen hat. Die Ästhetik des Erhabenen, die für die Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts von besonderer Bedeutung war, hat entsprechenden Entwicklungen vorgearbeitet; unter bestimmten Bedingungen förderte sie die psychische Fixierung auf leblose, mechanischen Gesetzen unterstehende Prozesse. Mit dem Ziel, die eignen Unsicherheiten abzudämpfen, setzt das Subjekt an Stelle der Verehrung des verschwundenen Gottes Kulte der puren physikalischen Kraft, die eine wenn auch anders geartete Sicherheit suggerieren. Vor allem der Film kann diesem modifizierten Erlösungsinteresse zur Geltung verhelfen, denn er zeigt die Kraft in ihrem essentiell prozessförmigen Dasein. Dabei spielt die in Bildern präsentierte, von Individuen ausgeübte Gewalt eine herausragende Rolle, denn auch in ihrem Fall handelt es sich um Phänomene der Kraft. Es zeigt sich schließlich, dass im Falle des Auftretens von Kräften stets mit einem Verhältnis mehrerer untereinander interagierender Kräfte zu rechnen ist; Kulte der Kraft stellen sich immer auch als Kulte des Kampfes dar, in dem es Sieger und Besiegte, Stärkere und Schwächere gibt. Das hier interessierende Erleben bildlicher Darstellungen kompensiert die Unsicherheit des im Zustand metaphysischer Obdachlosigkeit befindlichen Subjekts in zweifacher Weise: Zum einen kann es sich auf die Seite der dominierenden Energien schlagen und auf diese Weise eine entsprechende Genugtuung entwickeln; zum anderen steht ihm die Möglichkeit offen, die Rolle unterlegener Instanzen einzunehmen. Ein Blick auf den hier bedeutsamen Gebrauch von Bildern zeigt, dass beide Positionen für das wahrnehmende Subjekt über besondere Anziehungskräfte verfügen. So zeigen Katastrophenbilder des 18. und 19. Jahrhunderts erhabene Ereignisse, die für das Subjekt in doppelter Hinsicht attraktiv sind: Stärkt die eine

1. Einleitung

Seite derselben sein Bedürfnis, die eigene Existenz zu reproduzieren, so offeriert ihm die andere Seite den Prozess seines eigenen lustbesetzten Verschwindens. Gemälde von Andreas Achenbach oder John Martin etwa auratisieren die Katastrophe und evozieren mit den dort sich auftuenden Abgründen zugleich ein im Grunde autodestruktives Begehren. Man hat es mit einem inversen Erlösungsversprechen zu tun, das dem Subjekt nicht das ewige Leben, sondern das Nichts als Ausweg aus einem angsterfüllten irdischen Dasein offeriert. Unter diesen Bedingungen sieht sich der Mensch schließlich hin- und hergeworfen zwischen dem Impuls, sein Leben zu bewahren, äußeren Drohungen entgegenzutreten und dem Wunsch, der eigenen Existenz ein Ende zu setzen. Sigmund Freuds Dualismus zwischen Lebensund Todestrieb gewinnt zumindest im Raum der Rezeption entsprechender Bildwelten Bedeutung. War der gläubige Mensch noch der Überzeugung, den Zustand ewigen Friedens im Aufstieg zu Gott erlangen zu können, so sucht sein modernes Pendent diesen Frieden nicht selten in einem Abstieg ins Reich ewiger Finsternis. Derartige Perspektiven stehen im Kontext der in der Moderne angestrengten Versuche, die in der Philosophie Descartes’ abgesteckte Differenz zwischen dem Reich der Seele und der Welt der Objekte aufzuheben; die Grenze zwischen Innen- und Außenwelt soll wenn nicht verschwinden, so doch zumindest durchlässig werden. Mit Charles Taylor gesprochen geht es um die Öffnung des abgepufferten und die Wiederherstellung eines als porös sich erlebenden Subjekts, wie es in vormodernen Gesellschaften verbreitet war. Hier tritt eine für die Ästhetik des Films zentrale Instanz auf den Plan: die menschliche Physis. Theorien des Kinos haben im Anschluss an Einsichten der philosophischen Phänomenologie das Terrain abgesteckt. Die durch Helmuth Plessner oder Maurice Merleau-Ponty zur Geltung gebrachte Unterscheidung zwischen dem von Innen erlebten Leib und dem als Objekt fungierenden Körper ist von Bedeutung auch für die Analyse des Rezeptionsprozesses bewegter Bilder. Wir erleben Filme in der Regel nicht lediglich auf visuelle und auditive Weise, sondern, wie von entsprechenden Autoren gezeigt wurde, unter Beteiligung physischer Sensationen, die uns ins Geschehen eintauchen und dort Position beziehen lassen; die traditionelle Rede von Prozessen der Identifikation des Zuschauers mit den Darstellern von Filmen gewinnt auf dem Boden dieser Einsichten einen präziseren Sinn. In jedem Fall handelt es sich um eine Übernahme offerierter Rollen, die im Falle der Fixierung auf Akte der Gewalt die Funktion der Abblendung von Angst und Unsicherheit erfüllt. Sören Kierkegaard hat sich in seiner Schrift Die Krankheit zum Tode über mögliche Folgen eines Verblassens von Gottesbindungen für den auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen geäußert. Was der Autor im Interesse einer Restabilisierung der Religion seinen Lesern zu denken aufgab, besitzt ebenso Bedeutung für eine säkular argumentierende Theorie des Subjekts. Jener existentiellen Stabilität beraubt, die der Glaube des Christen an höhere Mächte mit sich bringe, falle das Subjekt in Zustände der Verzweiflung. Diese Zustände, die der Unfähigkeit des Men-

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schen entstammen, die eigene Freiheit im Dienste der Herstellung produktiver Lebensentwürfe zu nutzen, haben ein bestimmtes Begehren zur Folge: entweder man selbst sein zu wollen oder nicht man selbst sein zu wollen. Letztere Möglichkeit sei die fundamentalere. Verzweifelt sich loswerden wollen, so der Gedanke bei Kierkegaard, stelle die Grundform aller Verzweiflung dar. Sich selbst loswerden wollen kann jedoch übergehen in das Bedürfnis, ein anderer zu werden, das heißt, ein neues Selbst zu entwickeln. Der Film, der immer auch an das leibliche Erleben des Betrachters appelliert, bietet ein breites Spektrum an Perspektiven, diesem Bedürfnis im Raum des medialen Imaginären nachzukommen. Im leiblichen Eintauchen in das gebotene Geschehen eines Kampfes kann das rezipierende Subjekt nicht nur sich selbst entkommen, sondern zugleich ein anderer werden, sei es in der Position des Siegers oder des Besiegten, des Starken oder des Schwachen. Filme bieten dem Zuschauer die Möglichkeit, in wenn auch nur imaginierter Form und für begrenzte Zeiträume die Identität zu wechseln. Phänomenologisch betrachtet konstituieren sich komplexe Situationsräume, in denen wechselnde Stellungen der beteiligten Akteure möglich sind. Die hier vorliegende, leibliche Empfindungen implizierende Übernahme sozialer Rollen hat wenig mit dem von Plessner beschriebenen Verhalten von Schauspielern zu tun, sondern stellt das Produkt psycho-physischer Obsessionen dar, die eine Schwächung beziehungsweise Ausschaltung exzentrischer Positionalität bewirken. Zuschauer spielen in diesem Fall nicht, sondern folgen einem blind sich durchsetzenden Begehren, das sich reflexhaft, unter weitgehendem Ausschluss einer Distanzen implizierenden Beobachtung Geltung verschafft. Wichtig für die vorliegende Untersuchung sind Erich Fromms Einsichten zur Eigenart und Struktur sadistischer und masochistischer Neigungen. Der Autor, der in seinen Überlegungen zur konstitutionellen Unsicherheit des modernen Subjekts im Übrigen auch auf Kierkegaard Bezug nimmt, macht darauf aufmerksam, dass beide Impulse niemals isoliert, sondern stets gemeinsam auftreten. Aufgrund der sich dabei zeigenden wechselseitigen Abhängigkeit entsprechend disponierter Individuen spricht der Autor zugleich von einem symbiotischen Komplex, in welchem beide Positionen immer auch ineinander übergehen. Fromms Einsichten sind von Interesse für die Betrachtung entsprechender Filme. Dabei ist auch hier von monokausalen Vorstellungen Abstand zu nehmen. Das kinematographische Imaginäre liefert im Hinblick auf den auch hier hervortretenden symbiotischen Komplex kein einfaches Spiegelbild der außerhalb der Filmwahrnehmung vorliegenden psychischen Zustände oder Befindlichkeiten der Zuschauer. Individuen, die sich vor der Kinoleinwand oder dem Bildschirm regelmäßig der Lust an dargestellter Gewalt hingeben, müssen zuvor keineswegs derartige Wünsche entwickelt haben. Ein sado-masochistisches Begehren kann ebenso erst im Raum der Rezeption entsprechender medialer Angebote Gestalt annehmen. Es reicht aus, wenn der Zuschauer in das Erleben des Films Zustände von Angst und existenzieller Unsicherheit einbringt, um den Prozess der Selbstflucht in Richtung des symbiotischen Komplexes

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zum Laufen zu bringen. Dies gilt auch für ein bestimmtes Phänomen, das bereits in vergangenen Jahrhunderten, vor allem in der Kunst des Barock, hervorgetreten war: die Sexualisierung von Tod und Gewalt. Versehen mit erotischen Implikationen entwickeln Akte der Destruktion in den Augen entsprechend initiierter Individuen zusätzliche Attraktionskräfte. Der Exzess, der hier unter Umständen gesucht wird, ist nicht, wie man im Anschluss an Vorstellungen etwa des frühen Nietzsche annehmen könnte, Produkt von Trieben, die aus der inneren Natur des Menschen hervorbrechen, sondern Resultat eines historischen, an sich selbst verzweifelnden Subjekts, das die Grenzen seiner abgepufferten Existenz durchbrechen möchte. Nirgends stößt man auf zeitenthobene Affinitäten des Subjekts zur Gewalt, denn sämtliche Phantasmen, die in diesem Kontext auftreten, sind von kontingenter Art. Man muss nicht auf die alte Vorstellung vom Bösen im Menschen zurückgreifen, um die verbreitete Sucht nach Bildern, die dem symbiotischen Komplex Raum geben, aufschlüsseln zu können. Zwangsmechanismen, das heißt Obsessionen auf Seiten des Subjekts, die in diesem Kontext wirksam werden, sind Produkt einer emergenten Dynamik von psychischen Impulsen und Affekten, die sich auf bestimmte Weise selbst reproduzieren. Bereits im ersten großen, in den Augen zahlreicher Filmhistoriker richtungsweisenden Werk des U.S.-Amerikanischen Kinos – The Birth of a Nation von D.W. Griffith von 1915 – lassen sich zentrale Elemente moderner kinematographischer Gewalt studieren. Der Film, der den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgetragenen Krieg zwischen den Nord- und den Südstaaten zum Thema hat, zeigt militärische Konfrontationen als Prozesse der Zertrümmerung von Ordnung, eines Übergangs gesetzter Strukturen in ein formloses Chaos, vorgeführt in Gestalt eines ästhetischen Spektakels, das sich an die Wahrnehmungslust der Zuschauer wendet. Dass der Regisseur in seinem in der Tat bildgewaltigen Opus zugleich auf symbiotische Mechanismen auf Seiten der Zuschauer setzt, wird nicht zuletzt in der Darstellung des Konflikts zwischen der weißen Herrenschicht und der schwarzen, sozial deklassierten Bevölkerung deutlich. Als explizit rassistisch auftretend und als solcher bis heute massiv kritisiert, wurde der Film dennoch zum Vorbild für zahlreiche folgende Produktionen. Im Zentrum stand dabei das Interesse an den avancierten kinematographischen Inszenierungstechniken, die auch von jenen anerkannt wurden, die die rassistischen Ressentiments des Films zurückwiesen. Grundsätzlich boten diese Techniken einen universell handhabbaren Schlüssel für die Fetischisierung filmischer Gewalt. An die Stelle der dämonisierten Schwarzen konnten anders geartete, nicht weniger geächtete, düstere Figuren treten, die die Einbildungskraft anhaltend beschäftigen und den Einsatz selbst grausamster Praktiken der Vernichtung zu rechtfertigen schienen. Historisch wirkungsmächtig war weniger die problematische Positionierung des Regisseurs in dem bis heute andauernden Konflikt zwischen Weißen und Schwarzen, sondern eher sein Interesse an einer Synthese zwischen dem symbiotischen Komplex auf der einen und

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der pervertierten Differenz von Gut und Böse auf der anderen Seite. Griffith hat, wie es verschiedentlich heißt, das Hollywood-Kino erfunden. Seine Bildpolitik folgt unter anderem Einsichten, wie sie zuvor in der Theorie der modernen Massengesellschaft entwickelt wurden. The Birth of a Nation gibt ein frühes Beispiel für eine Strategie des Films, die auf die magische Kraft von Bildern setzt, um den Zuschauer auf der Ebene der Affekte in den Griff zu nehmen; Distanzen, wie sie in der älteren Malerei für die Struktur und Rezeption des Bildes essentiell waren, werden auf diese Weise eingezogen. Über weite Strecken ist die Geschichte der Darstellung von Gewalt im Film zugleich ein Prozess fortschreitender Entsublimierung; der vielfach regierende Anspruch, dem Realen näherzukommen, lässt den Intensitätsgrad entsprechender Darstellungen sukzessive anwachsen. Hohes Gewicht in dieser Entwicklung besitzt das auf den klassischen amerikanischen Western antwortende Genre des Italowestern. Diverse Kommentatoren hegen die Überzeugung, die hier relevanten Produktionen, die physische Brutalität in einer bis dahin nicht gekannten Form ins Bild setzten, folgten dem Programm einer Entmythifizierung klassischer Heldenbilder, indem sie die in den alten Filmen stets verdrängte Wirklichkeit offenlegten. Ein Blick auf ein exponiertes Bespiel des Genres – Für ein paar Dollar mehr von Sergio Leone – belehrt eines anderen. Betrachtet man die Konstruktion des Werks im Zusammenhang mit möglichen Positionierungen der Zuschauer, so zeigt sich ein im Kern paradoxes Profil, das unterschiedlichen, keineswegs nur kognitiven, kritische Distanz intendierenden Neigungen entgegenkommt. In geradezu idealtypischer Manier liefert der Film ein Exempel für den jenseits der christlichen Theologie situierten Kult der Kraft. Leone feiert den Einsatz von Schusswaffen sowie die mit hoher Geschwindigkeit sich bewegenden, der sinnlichen Wahrnehmung sich entziehenden Projektile, die plötzlich und unversehens den Tod zu bringen vermögen; er scheint dabei zugleich zu reflektieren, dass die durch die präsentierten Schützen virtuos gehandhabte kinetische Energie das Erbe des alten transzendenten Gottes angetreten hat. Die in den Hauptrollen auftretenden Akteure werden ihrer Aufgabe im Dienst einer neuen säkularen Religion des Todes in vollem Umfang gerecht. Die bis an die Grenze des Möglichen getriebene Stilisierung der beiden Kopfgeldjäger, die ihre fiktive, allein im Film mögliche Natur unmissverständlich offenlegt, bietet zunächst Anlass für kritische Absetzbewegungen seitens des Zuschauers: Wo Masken gelüftet werden, so könnte man glauben, müsse sich auch der Zauber des Dargebotenen verflüchtigen. Doch der Film durchkreuzt die selbst angerissene Perspektive durch die an ein entsprechendes Begehren adressierte Inszenierung des Gewalthandelns; Reflexion, wenn sie denn vollzogen wird, koexistiert im Raum der kinematographischen Wahrnehmung mit einem in symbiotischen Mechanismen verankerten Hedonismus der Grausamkeit, ohne dass dem Zuschauer Probleme aus dieser heterogenen Konstellation erwachsen müssten. Hier ist von einem hybriden Subjekt zu sprechen, in dem sich in unterschiedliche Richtungen gehen-

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de Interessen und Bedürfnisse zu einer paradoxen Struktur zusammenschließen. Leone, dem eine Nähe zu Strategien der Postmoderne attestiert wurde, arbeitet mit dem Prinzip der Mehrfachcodierung, allerdings einer unorthodoxen Version derselben, denn die divergierenden Perspektiven sind nicht an unterschiedliche Individuen oder Gruppen, sondern an ein und dasselbe Subjekt adressiert. Wenige Jahre später brachte Sam Peckinpah mit The Wild Bunch einen Film in die Kinos, in dem der Prozess der Entsublimierung noch weiter getrieben wurde. Das Werk, das, wie der Regisseur hervorhob, zur Herausbildung einer aufgeklärten Sensibilität beitragen sollte, bietet drastische, bis dahin geltende Tabus unterlaufende Darstellungen von Tötungsakten. Inspiriert ist der Film offenbar nicht zuletzt durch Praktiken des Surrealismus, die auf die Erzeugung außeralltäglicher Zustände wie der Trance oder des Rausches abzielen. Richtungsweisend wurde er vor allem durch den Einsatz der Zeitlupe bei der Darstellung des Kampfes mit Schusswaffen. Durch die Entschleunigung aufgenommener Bilder werden zumindest die Effekte pulvergetriebener Projektile mit einer zuvor nicht gekannten Detailgenauigkeit wiedergegeben. Der Regisseur präsentiert sich als passionierter Anhänger der kultischen Verehrung der Kraft, deren Präsenz unsichtbar bleibt, während deren desaströse Wirkungen umso spektakulärer vor Augen geführt werden, greifbar vor allem an den von getroffenen Körpern abgegebenen Blutfontänen, die den Eindruck einer unverstellten Authentizität des Gezeigten hervorrufen. Die Dehnung zeitlicher Abläufe, die aus konkreten Gewalterfahrungen bekannt ist, dient in diesem Fall nicht einer Annäherung an reales Erleben, sondern der Erzeugung einer bildbezogenen Hypnose, die die Freisetzung des symbiotischen Komplexes begünstigt. In der hier induzierten Trance gewinnt die in Szene gesetzte Kraft für den Adressaten eine geradezu überweltliche Präsenz. Bei aller Intensität der Bilder ist zu berücksichtigen, dass keines der gebotenen Motive dem Realen wirklich nahekommt, sondern einem Raum von Illusionen angehört, der das Subjekt fesselt, ohne es den bedrohlichen Implikationen realer Gewalt auszuliefern. Peckinpah propagiert den in den emergenten Raum des Films eingeschlossenen sinnlichen Exzess, in dem das selbst- und weltflüchtige Subjekt dem Traum von einer Wiederaufrichtung poröser Existenzverhältnisse nachgehen kann. Bedeutsam für die Geschichte von Bildern der Gewalt ist deren Verhältnis zur Logik des Scheins. Repräsentativ für diesen Zusammenhang sind Werke John Martins, der in seinen im frühen 19. Jahrhundert entstandenen Untergangsvisionen dem an Spezialeffekten interessierten Hollywoodkino Vorbilder lieferte. Anhand seiner Gemälde wird deutlich, dass die Darstellung von Kräften nicht nur stets mit differierenden Potentialen arbeiten muss, sondern sich zugleich in einem Überbietungswettbewerb mit konkurrierenden Werken platzieren muss. Im Dienste der Erzeugung von Aufmerksamkeit wachsen die ins Bild gesetzten Potentiale mit der Folge, dass das Dargebotene irgendwann die Grenzen des in der Realität Bekannten oder Wahrscheinlichen überschreitet. Mit der Intention, den Prozess der Optimie-

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rung von Kraftquanten weiterzutreiben, betritt die Malerei den Raum des Phantasmagorischen und liefert am Ende Bilder visionärer Welten, in denen die Gesetze der Einbildungskraft regieren. In bestimmten Genres des Kinos – wie in ScienceFiction- oder Katastrophenfilmen – setzt sich diese Entwicklung fort. Bemerkenswert ist in diesem Kontext die Matrix-Trilogie der beiden Schwestern Wachowski, zumal in diesem mit Hilfe avancierter Computertechnik produzierten Werk der Dualismus von Realität und Fiktion ins Zentrum des Interesses gerückt ist. Dieser bildgewaltige Film zeigt den Kampf weniger exponierter Individuen gegen die Macht eines außer Kontrolle geratenen Computersystems, das die Menschheit in einer Welt des bloßen Scheins gefangen hält. So elaboriert sich die dargebotene Geschichte in ihren Anspielungen auf klassische Topoi der Philosophie präsentiert – im Fokus stehen Platon, Descartes oder Baudrillard –, so atavistisch erscheinen die Mittel der im Zeichen des Realen geführten Revolte. Nicht der Geist, wie in der Tradition üblich, sondern übermenschliche Gewalt wird gegen das herrschende System der Trugbilder in Anschlag gebracht. Die Verfechter der wahren Welt finden dort zu sich selbst, wo sie schießend, schlagend oder tretend gegen ihre Feinde, die Agenten des herrschenden Systems, antreten. Im Raum entsprechender Bilder verwandelt sich das Subjekt schließlich in ein mit hoher Geschwindigkeit sich bewegendes Projektil, vorläufiger Höhepunkt des Kultes der Kraft. Hier konstituiert sich eine Form von Gewalt, die ihren Zweck genau besehen in sich selbst findet. Präsentieren die Filme der Matrix zum einen die Geschichte von der Befreiung des Menschen aus der Welt der Trugbilder, so fesseln sie den Zuschauer zum anderen mittels suggestiver Darstellungen, die ihm die Freiheit rauben. Man kann angesichts der in diesem populären Werk offerierten Verhältnisse von einer fatalen Dialektik sprechen: Wo sich das Subjekt einer zum Selbstzweck werdenden Tätigkeit des Kampfes hingibt, schließt es sich in eine Welt von Trugbildern ein, aus der es irgendwann kein Entkommen mehr gibt; die Folgen des anhaltenden Gebrauchs bestimmter Computerspiele illustrieren diesen Zusammenhang. Der mit dem Konsum entsprechender Bilder verklammerte symbiotische Komplex liefert die Bindungsenergien, die für die Resistenz der hier hervortretenden Rezeptionspraktiken verantwortlich sind. Nicht alle Filme, die sich der Darstellung von Gewalt verschreiben, präsentieren entsprechende Sujets in spektakulärer Zuspitzung. Blickt man auf die alltäglichen Fernsehprogramme, so stößt man auf die anhaltende Flut der Kriminalserien, die vielfach einen moderateren, gleichwohl nicht weniger implikationsreichen Umgang mit dem Thema pflegen.11 Vor allem in diesem Genre tritt die für sämtliche Inszenierungen von Gewalt kennzeichnende Konstellation divergenter sozialer 11

Vergl. z.B. Alfred Pfabigan: Mord zum Sonntag. Tatortphilosophie, Wien: Residenz 2016; Wolfram Eilenberger (Hg.): Der Tatort und die Philosophie. Schlauer werden mit der beliebtesten Fernsehserie, Stuttgart: Cotta’sche Buchhandlung 2014.

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Rollen hervor: Neben dem Opfer und dem Täter treten dritte Positionen ins Spiel: der Zeuge, der Ermittler sowie auch der Ankläger, der im Rückgriff auf moralische oder rechtliche Prinzipien den Schuldigen bewertet oder verurteilt. Über Mechanismen der Rollenübernahme kann sich der Zuschauer wechselweise diese Positionen zu eigen machen und so unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse befriedigen. Wo der symbiotische Komplex auf den Plan tritt, konstituiert sich ein jenseits jeder Neutralität angesiedeltes instrumentelles Verhältnis des Zuschauers sowohl zur Wahrheit als auch zu Recht und Moral; in die Tätigkeit des Anklägers können sich – dies ist ein offenes Geheimnis – sadistische Impulse einschleichen. Kompensiert werden durch entsprechende Rezeptionspraktiken Zustände existentieller Unsicherheit, Produkt der mangelnden Fähigkeit des Subjekts, die ihm gegebene Freiheit zu nutzen. Verstärkt werden diese Unsicherheiten durch soziale, politische und ökonomische Prozesse, die die Existenz des Einzelnen zusätzlich destabilisieren. In einer zunehmend komplexer werdenden, mit analytischen Mitteln kaum noch zu durchdringenden Welt sieht sich das Subjekt vielfach schutzlos unvorhersehbaren Entwicklungen ausgeliefert. Mit dem Soziologen Ulrich Beck gesprochen leben wir nicht erst seit gestern in einer so genannten Risiko- beziehungsweise Weltrisikogesellschaft. Einem abgründigen Erfahrungsraum, in welchem das Subjekt zunehmend die Orientierung und damit die Basis für eine erfüllte Lebensführung verliert, antwortet die kinematographische Gewalt mit überschaubaren Wirkungszusammenhängen: Der Kult der Kraft, der Ursache-Wirkungs-Verhältnisse zum Gegenstand hat, impliziert lineare Strukturen, die sich kognitiv rekonstruieren und in ihrem Ablauf verstehen lassen; die filmischen Angebote reduzieren Komplexität und liefern dem Subjekt auf diese Weise eine Form von Sicherheit, die ihm in seinem Alltagsleben verloren gegangen ist. Man kann davon ausgehen, dass sich im Raum der Rezeption dieser Filme Wahrnehmungs- und Urteilspraktiken auf Seiten des Zuschauers herausbilden, die sich auch jenseits des Rezeptionsprozesses reproduzieren. Unter Beteiligung des symbiotischen Komplexes beginnt das Subjekt, die unüberschaubar gewordene Alltagswelt auf der Folie der Logik von Täter/Opfer/Beobachter-Verhältnissen in den Blick zu nehmen. Es bildet sich ein bestimmter Typus des gesellschaftlichen Imaginären, in welchem Motive der Ausführung, des Erleidens und der wie immer auch beschaffenen Bewertung von Gewalt ins Zentrum des Interesses rücken. Ohnehin bestehende Konflikte in der Gesellschaft vertiefen sich, neue Konflikte, die dem symbiotischen Komplex Raum zu geben vermögen, treten hervor. Die Rezeption filmischer Gewalt fördert nicht unbedingt die Bereitschaft zur Ausübung realer physischen Gewalt, schürt jedoch einen von Obsessionen geprägten Umgang mit Täter/Opfer-Verhältnissen. Werte der Moral fungieren dabei nicht selten als Waffe, die dem Ankläger die Möglichkeit eröffnen, den schuldig gewordenen Täter mit Behagen niederzustrecken.

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2. Darstellungen von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik

I. Die Geschichte der Darstellung von Gewalt in der europäischen Kunst zeigt unterschiedlichste Praktiken, entsprechende Sujets ins Bild zu setzen. Wer die Logik der Gewalt in modernen Medien, speziell im Film, verstehen möchte, sollte einen Blick auf die alte Kunst zurückwerfen und die Frage zu beantworten versuchen, in welcher Weise sich diese Kunst mit dem Thema beschäftigte. Von herausragender Bedeutung für den vorliegenden Zusammenhang ist zunächst der im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert arbeitende italienische Maler Giotto di Bondone. Wie der Kunsthistoriker Theodor Hetzer bemerkte, lieferte der Künstler mit seinem Werk ein beispielgebendes Modell, das für die abendländische Malerei bis in die Zeit Tiepolos, also bis ins 18. Jahrhundert einflussreich blieb.1 Voraussetzung seines bildlogischen Verfahrens ist die Abschließung des Dargestellten nach außen, nicht lediglich durch den Rahmen oder das Äquivalent eines solchen, sondern zugleich vermöge seiner inneren Struktur, durch die sich das Bild gleichsam auf sich selbst zurückwendet. Alle Elemente des Werks stehen in einem relationalen Verhältnis, in dem jedes Glied seinen wohl definierten Ort findet. Max Imdahl spricht in seiner Studie über den Maler von einer hypotaktisch, komplex relationalen, nämlich »vom Ganzen und nicht vom Einzelnen her« bestimmten »Totalitätsstruktur«.2 Das Bildfeld zeigt eine simultane Überschaubarkeit bzw. Kopräsenz seiner Momente, die sich zu einer austarierten harmonischen Einheit zusammenfügen.3 Was sich im Verlauf der Entwicklung derartiger Praktiken konstituiert, ist ein spezifisches 1

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»Wohl aber ist das Bild wie Giotto es gestaltet, wie er seine Einheit bewirkt, in seiner Art für die kommenden Jahrhunderte bis zu Tiepolo maßgebend geblieben und dabei vom antiken Bild, vom mittelalterlichen und dann wieder von dem des 19. Jahrhunderts grundsätzlich verschieden.« Theodor Hetzer: Giotto. Grundlegung der neuzeitlichen Kunst, Mittenwald: Mäander – Urachhaus 1981, S. 39. Max Imdahl: Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München: Fink 1996, S. 41; dazu Hetzer, ebd., S. 39ff. Hetzer, ebd., S. 36 u. 55.

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Verhältnis zwischen dem ästhetischen Artefakt auf der einen und dem wahrnehmenden Subjekt auf der anderen Seite. An die Stelle einer distanzlosen Teilhabe an der Welt des Sakralen tritt eine von starken Affekten entlastete, kontemplative Erschließung religiöser Botschaften. Giotto setzt, wie Hetzer erklärt, auf einen ruhig und distanziert schauenden und urteilenden Menschen.4 Mit seiner Malerei tritt ein neues Subjekt der Wahrnehmung auf den Plan, dessen Habitus elementare Freiheitsspielräume umfasst, durch welche die Akte der Rezeption in Prozesse einer reflektierenden Aneignung des Gegebenen übergehen können. Dem aus einer Distanz Betrachteten korrespondiert eine Art von Gelassenheit auf Seiten des Adressaten, der durch das Wahrgenommene nicht gefesselt oder überwältigt wird. In jedem Fall stellt sich die kompositorische Einheit oder Ganzheit nicht, wie man glauben könnte, als Zwangsapparat dar, der dem Zweck zu dienen habe, das wahrnehmende Subjekt in die Knie zu zwingen. Diese Zusammenhänge sollte man im Auge behalten angesichts der heute vielfach vertretenen Auffassung, derartige Konzepte ästhetischer Rationalität würden autoritären Verhältnissen den Weg ebnen. Eine Logik des Bildes, die eine von starken Affekten entlastete Rezeptionspraxis fördert, schließt Darstellungen konfliktgeladener Sujets keineswegs aus. Giotto nähert sich in seinen Bildern dem Medium des Theaters. Hetzer spricht mit Blick auf seine Kompositionen von reinen und streng stilisierten Bühnenbildern.5 Man kann die hier relevanten Zusammenhänge anhand der Darstellung des Bethlehemitischen Kindermordes aus dem Zyklus der Fresken der Arena-Kapelle in Padua studieren (Abb. 1). In einer artifiziellen theatralischen Manier bietet das Bild ein im höchsten Maße grausames Geschehen. Links oben zeigt sich die Figur des Herodes, der von einem kanzelartigen Anbau eines Palastes seinen auf dem Platz agierenden Männern die Tötung der Kinder befielt; im rechten Teil der Komposition eine Gruppe verzweifelter Mütter, von denen zwei vergeblich versuchen, ihre noch lebenden Kinder vor dem drohenden Schicksal zu bewahren, das durch die Gruppe der am Boden liegenden Toten zum Ausdruck gebracht wird. Bedeutsam ist das im mittleren Teil des Bildraumes ablaufende Geschehen: Ein hell gekleideter, breitschultriger Mann greift den Unterschenkel eines von seiner Mutter festgehaltenen Kindes, um diesem das in der anderen Hand befindliche Stechinstrument in den Rücken zu stoßen. Gezeigt ist ein stillgestellter Moment eines dramatischen Geschehens, 4

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»Wir stehen draußen, werden nicht mehr gewaltig angerührt, nicht überwältigt, nicht in die Knie und zur Proskynese gezwungen. Wir nehmen teil an den Vorgängen, jedoch in einer stilleren, nachdenklicheren, ruhigeren Weise. In der Freiheit unserer Individualität, als empfindende und fühlende, aber auch als denkende und urteilende Menschen stehen wir der Welt des Bildes gegenüber.« Ebd., S. 43. Hetzer spricht im Hinblick auf diesen Zusammenhang auch von einem befreiteren Gemüte; ebd., S. 98. Ebd., S. 127. Auf die Nähe der Giotto’schen Malerei zum Drama weist auch Ivan Nagel hin: Gemälde und Drama. Giotto, Massacio, Leonardo, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 15-101.

2. Darstellungen von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik

der dem Sterben des Opfers unmittelbar vorausgeht. Betrachtet man diese Szene genauer, so fällt nach einiger Zeit deren streng planimetrische Organisation ins Auge: Der Rand des Kopfes, die Rückenlinie und das vom Mörder gefasste Bein des Kindes bilden das Segment einer Kreisform, während das in Stellung gebrachte Stichwerkzeug dem Arm eines Zirkels ähnelt, den der Akteur an entsprechender Stelle im Rücken des Kindes platzieren will. Im Hintergrund dieser Flächenfigur zeigt sich eine weitere vergleichbare Konstellation. Eingelassen in die Figur des angedeuteten Kreises agiert eine zweite Mutter, die ebenfalls ihr bedrohtes Kind einem Schergen zu entreißen versucht; sie greift das Bein des Opfers, während ihr grimmig blickender Widersacher den Körper desselben zu sich hinzieht, um den tödlichen Stich auszuführen. Auch hier zeigt sich ein Segment eines Kreises, gebildet aus dem emporgereckten Arm des Kindes und dem Arm seines Mörders. Abb. 1, Giotto, Der Bethlehemitische Kindermord, 1304-1306, Padua, Arenakapelle.

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Von Giotto bis Matrix

Die Figur der im Hintergrund agierenden, nach ihrem Kinde greifenden zweiten Frau steht in einem inneren Verhältnis zur ersten, im Vordergrund stehenden geometrischen Konstellation. Ihr erhobener Arm, den sie gegen den Täter richtet, akzentuiert den Radius jenes Kreises, der durch das Bein, die Rückenlinie und den Kopf des vorderen Kindes angerissen wird; Ihre Hand weist dabei auf den Mittelpunkt dieses Kreises und tritt damit in Konkurrenz zur Stichwaffe des vorderen Akteurs, der sich des gerundeten Feldes zu bemächtigen ansetzt. Ein gewalttätiger Konflikt – der ungleiche Kampf zwischen Kindsmördern und Müttern – ist hier in eine komplexe planimetrische Konstellation übersetzt. Die Mütter werden unterliegen, denn das irdische Schicksal der Kleinen ist, wie der biblische Text berichtet, besiegelt. Doch dieses Geschehen, das zu tiefer Verzweiflung Anlass gibt, bildet nur die erste Schicht eines weitergreifenden Dramas: Giotto betritt mit seiner Darstellung zugleich den Boden einer theologischen Deutung der Leidensgeschichte der Gemordeten. Das Motiv des Kreises, das er in der Darstellung der zentralen Figuren ostentativ ins Spiel bringt, hat in der Religionsgeschichte bekanntlich bestimmte Implikationen. In der christlichen Ikonographie fungiert es als Symbol des Vollkommenen, einer entsprechend strukturierten, durch Gott geschaffenen und regierten Welt. Unmerklich für die Beteiligten – die Mörder, die Mütter und deren Kinder – bewegen sich deren Leiber und Gesten in den vorgezeichneten Bahnen einer Geometrie höherer Ordnung. So grausam das Gezeigte sein mag, es spielt sich bereits im Lichte der Erlösung der Opfer durch die sichere Gnade Gottes ab. Nur der Betrachter nimmt anhand der Besonderheiten des Bildes wahr, dass der Tod keine absolute Macht, sondern lediglich eine Durchgangsphase in ein anderes Leben darstellt. Kaum zufällig ähneln die Toten im Vordergrund der Komposition an eine Gruppe schmerzlos und ruhig Schlafender. Darüber hinaus ruft das hintere der beiden Kinder mit dem emporgereckten Arm das Motiv des Kruzifixes in Erinnerung, eine weitere Anspielung auf den tieferen Sinn des wiedergegebenen Ereignisses. Schließlich stellt das im rechten Teil des Bildes präsentierte polygonale Bauwerk eine Taufkappelle dar. Ungeachtet des grausamen Sujets und der dramatischen Zuspitzung des Geschehens zeigt das Fresko eine austarierte, auf Spannungsausgleich setzende Komposition. Es handelt sich hier evidentermaßen nicht um eine realistische Darstellung eines Massakers, so sehr sich Giotto auch, anders als die tradierte Malerei, um eine größere Nähe zur Erscheinungswelt bemühte. Grausamkeit wird eher sinnbildhaft und nicht in ihren tatsächlichen, sinnlich wahrnehmbaren Verlaufsformen in den Blick gerückt. Was den Maler interessiert, sind nicht die empirischen Phänomene des Gewalthandelns, sondern deren Implikationen und Konsequenzen im System einer theologisch gedeuteten Weltordnung, in der am Ende das Gute über das Böse triumphiert. Die ästhetische Strategie der Entschärfung und Harmonisierung des an sich tragischen Sujets hat hier ihre Voraussetzungen. Giotto rührt an das klassische Problem des Verhältnisses zwischen dem Ethischen und Ästheti-

2. Darstellungen von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik

schen; sein Bild bietet berührende Formeln des Grauens, und gießt doch zugleich ein mildes und versöhnliches Licht über dem Geschehen aus, wahrnehmbar einzig für jene, die zu sehen vermögen.6 Diese Strategie hat mit den bekannten Praktiken einer Ästhetisierung der Gewalt in entsprechenden Genres moderner Kunst nichts zu tun, denn dem Maler geht es nicht um einen erleichterten Genuss der Grausamkeit, sondern um deren Überwindung im Glauben an eine himmlische Ordnung, deren Zeichen sich bereits in der sinnlichen Welt auffinden lassen. Giotto reformiert die Kunst, indem er Motive der christlichen Theologie aufnimmt und sie für ein neues Verständnis vom Bild fruchtbar macht, das für die folgenden Entwicklungen von richtungsweisender Bedeutung ist. Theologischen Lehren des Mittelalters zufolge hatte Gott seiner Schöpfung sichtbare Zeichen ihres höheren Ursprungs mitgegeben. Johannes Scotus Eriugena, Robert Grosseteste und Bonaventura vertraten in ähnlicher Weise die bereits in der Antike entwickelte Vorstellung, das Schöne der Natur sei Ausdruck oder Reflex einer übersinnlichen Schönheit, die allein in Gott als der Quelle alles Seienden ihren Sitz habe.7 Irdisches Diesseits und transzendentes Jenseits sind also nicht durch einen unüberwindlichen Graben geschieden, sondern durch ein Band der Teilhabe untereinander verknüpft. Wer die Natur mit Wohlgefallen betrachtete, war nicht zwangsläufig abtrünnig vom wahren Glauben, sondern konnte sich auf diesem Wege dem Absoluten annähern, vom Sinnlichen zum Übersinnlichen fortschreiten. »Gott«, so erklärt Johannes Scotus Eriugena, »verwirklicht sich in der Schöpfung auf eine wunderbare, unaussprechliche Weise; obwohl unsichtbar, macht er sich sichtbar, unfassbar macht er sich fassbar, und verborgen macht er sich offenbar, unbekannt macht er sich bekannt, und obgleich ohne Formen und Gestalt, macht er sich zu einem formvollendeten und wohlgestalteten Wesen.«8 Was dem Menschen im Schönen gegenübertritt, ist eine das Subjekt erhebende Ordnung, die sich durch harmonische Verhältnisse und abgemessene Proportionen auszeichnet. Entscheidend sei der Zusammenschluss sämtlicher Teile des ästhetischen Phänomens zu einem Ganzen, in welchem jedes Element einen ihm vorgesehenen Platz einnehme. Im Hintergrund stehen vielfach zugleich platonisch-pythagoreische Ideen von der Ordnung der Zahlen beziehungsweise der Strukturen der Geometrie, durch welche der Logos des Schöpfers in die sichtbare Welt und den Geist des Menschen Eingang finde. Eine weitere Säule der ästhetischen Theorien

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Hetzer spricht mit Blick auf Giottos Bethlehemitischen Kindermord von einer Schönfarbigkeit der Komposition: »[…] das Grau des mittleren Soldaten, das Gelb des rechten und der lange rosafarbene Mantel der schwer deutbaren aber so bedeutenden mitleiderfüllten Figur links klingen wunderbar zusammen.« Hetzer: Giotto, S. 183. Vergl.: Wladyslaw Tatarkiewicz, Geschichte der Ästhetik, Zweiter Band, Die Ästhetik des Mittelalters, Basel/Stuttgart: Schwabe & Co. 1980, S. 114ff., 255ff. u. 262ff. Zitiert nach: Wladislaw Tatarkiewicz, ebd., S. 123.

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der Zeit bildete die Metaphysik des Lichts, die bereits in der Spätantike entwickelt wurde und vor allem auch in der Kunst der Gotik ihre Spuren hinterließ.9 Da die Natur nicht von Gott geschieden war, sondern in unterschiedlicher Weise die Zeichen seiner Präsenz an sich trug, konnte sich auch die Kunst ohne auf Abwege des Heidentums zu geraten den Dingen der irdischen Welt zuwenden; wer sich dem Sinnlich-Schönen hingibt, wandelt in gewisser Hinsicht bereits auf Gottes Pfaden. Es ist für die Geschichte der Malerei – nicht zuletzt für Darstellungen der Gewalt in Bildern – von zentraler Bedeutung, dass die Entwicklung eines neuen Naturalismus im Mittelalter in erheblichem Maße durch das theologische Denken gefördert wurde. Über lange Zeit konnte sich die in den Bildern in den Blick gerückte Natur als Schauplatz eines auf das Diesseits ausstrahlenden idealen Seins behaupten. Neoplatonische Vorstellungen liefern die theoretische Legitimation für eine Nobilitierung des Bildes wie auch des Malers, der als Produzent des Werks über die nötige Einsicht in die Logik des Schönen verfügt.10 Die Form der Wahrnehmung, die sich hier herausbildet, fungiert als erleuchtende Anschauung, die im Einzelnen und Besonderen das höchste Allgemeine zu erkennen vermag.11 Vorausgesetzt für diese Form der Anschauung ist Ruhe und Gelassenheit, weil nur unter diesen Bedingungen die harmonische Ordnung der Dinge und damit der Widerschein des göttlichen Logos in den Blick treten kann. Die Freiheit von Begierde und damit von entsprechenden Affekten fungiert bei Joannes Scotus Eriugena als Bedingung ästhetischer Wahrnehmung. So bemerkt Wladyslaw Tatarkiewicz: »Er (Johannes Scotus; H.Z.) fragte: Wie verhält sich vor einem schönen Gegenstand, z. B einer schönen Vase, ein Habsüchtiger, und wie ein Weiser? Seine Antwort: Das Verhalten des Habsüchtigen wird von seiner Begierde (cupiditas) geleitet, der Weise jedoch ist frei von Geldsucht, kein Verlangen hat Macht über ihn (›nulla libido‹). In der Schönheit der Vase sieht er nur die ›Verherrlichung des Schöpfers und seiner Werke‹.«12 Dies lässt bereits an die bekannte Formel vom interesselosen Wohlgefallen denken, mit der Kant in der Kritik der Urteilskraft den Zustand des ästhetisch wahrnehmenden Subjekts umschrieben hat.13 Religiöse Gewissheiten und Empfindungen sind

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Vorausweisend war hier die Theologie des spätantiken Platonikers Pseudo-Dionysios, der das Schöne mit Phänomenen des Lichts, der Helligkeit und des Glanzes assoziierte; ebd., S. 41 u. 43f. Ebd., S. 205. Vergl. Rosario Assunto: Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln: DuMont 1996, S. 84. Tatarkiewicz, Geschichte der Ästhetik, S. 115. »Das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurtheil bestimmt, ist«, wie es heißt, »ohne alles Interesse.« Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Kants Werke, Akademie Textausgabe, Bd. V, Berlin: De Gruyter & Co. 1968, S. 204.

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in seiner bis heute einflussreichen postmetaphysischen Theorie der Erfahrung verschwunden; der säkularisierte Blick des ästhetisch Wahrnehmenden hat es lediglich mit einer von allen Transzendenzbezügen abgekoppelten Oberfläche der Erscheinungswelt zu tun. Das hier gegenüber der tradierten Metaphysik erreichte Maß der Freiheit des Subjekts hat jedoch seinen Preis: Abgelöst von den alten Bindungen, mit denen existenzsichernde Gewissheiten verbunden waren, verliert die ästhetische Wahrnehmung an Kraft, das Subjekt von bestehenden Konfliktlagen zu entlasten. Kants Motiv von einem harmonischen Spiel von Einbildungskraft und Verstand, das sich in der ästhetischen Anschauung vollziehen soll, wirkt blass gegenüber den Ideen einer Offenbarung des göttlichen Logos im Schönen der Natur, so sehr sich diese Ideen auch im Reich theologischer Fiktionen bewegen mögen. In jedem Fall bildet die Fusion von ästhetischer Anschauung und religiösem Glauben ein ungleich stärkeres Mittel der Abfederung virulenter Konflikte als die Praktiken einer reinen ästhetischen Wahrnehmung. Hier ist an die Rolle der Gewalt und des Leidens in der christlichen Erlösungslehre zu erinnern: Mit dem Kreuzestod und der in den Evangelien berichteten Auferstehung Jesu beginnt, nach theologischer Lehre, ein neues Zeitalter. Der Akt der Grausamkeit, der eine Schlüsselfunktion in den Texten besetzt, soll, den leitenten Intentionen nach, nicht die Lust an Prozessen physischer Gewalt befriedigen, sondern vielmehr als Bedingung einer von Gewalt entlasteten Ordnung wahrgenommen werden. In der immer wieder dargestellten Figur des Erlösers am Kreuz vollzieht sich in den Augen derjenigen, die sich ihm zuneigen, ein im Grunde paradoxer Prozess: Der Schrecken angesichts der grausamen Tat verwandelt sich in die Hoffnung auf ein befriedetes Dasein. Obwohl es aus heutiger Perspektive nicht leicht fallen mag, man muss das christliche Denken an dieser Stelle ernst nehmen, denn es fordert eine keineswegs ungerührte, aber dennoch distanzierte Wahrnehmung, die Akte der Gewalt nicht aus dem Gesichtsfeld verbannt, bei ihnen aber auch nicht mit einer problematischen Schaulust verharrt. Auf diese Weise kann sich der Schrecken in den Vorschein einer Erlösung von allen Widrigkeiten des Lebens verwandeln. Eben dieser Prozess, in dem ein Extrem in ein anderes Extrem überzugehen vermag, reproduziert sich im Medium einer der christlichen Lehre folgenden Kunst. Sujets der Gewalt werden nicht umgangen, aber dennoch mehr oder minder tiefgreifend transformiert, so dass sie eine gegenüber dem Realen gänzlich veränderte Physiognomie nach außen kehren.

II. Die sich seit dem Mittelalter entwickelnde Malerei liefert unterschiedlichste Varianten der Verarbeitung von Motiven der Gewalt im Medium des Bildes. Psychodynamisch kann man von Phasen der Dämpfung des Grauens durch ein System

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versöhnungsaffiner Darstellungspraktiken sprechen. Wenn diese Praktiken auch keineswegs eine unumschränkte Geltung besaßen – immer wieder lassen sich Versuche beobachten, die Grenzen des Darstellbaren hinauszuschieben –, so blieben sie dennoch bis ins 18. Jahrhundert einflussreich und wirkungsmächtig. Auf welche Weise und in welchem Maße reale Gewalt durch Verfahren der Malerei transformiert werden konnte, lässt sich anhand von Kriegsdarstellungen beobachten, von denen die Kunst der Renaissance und des Barock zahlreiche Beispiele zu bieten hat. Aufschlussreich ist hier das großformatige Fresko Die Schlacht Konstantins an der Milvischen Brücke des Malers Giulio Romano, entstanden zwischen 1520 und 1524, ausgeführt in einem Saal des Vatikan in Rom (Abb. 2).

Abb. 2, Giulio Romano, Die Schlacht Konstantins an der Milvischen Brücke; nach Entwürfen Raffaels, 1520-1524, Rom, Vatikan.

Die panoramatische Darstellung, zu der Raffael wahrscheinlich Vorzeichnungen lieferte, zeigt ein historisch dokumentiertes Geschehen aus der alten römischen Geschichte: den Kampf der Truppen des Kaisers Konstantin gegen die Armee seines Widersachers Maxentius, der in dieser Konfrontation unterlag.14 Der Erstere konnte die Stadt einnehmen, was der Christianisierung Roms den Weg ebnete. Bestand mit Blick auf dieses für die frühe Geschichte des Christentums bedeutsame Ereignis durchaus die Möglichkeit, den Fall der Streitmacht des Maxentius in drastischer Weise ins Bild zu setzen, um so den heidnischen Frevler ein weiteres 14

Der Kampf der Truppen des Konstantin, der den Norden des Reiches beherrschte, gegen die Truppen des Maxentius, der den Süden unterworfen hatte, fand im Jahre 312 n. Chr. an einer Brücke des Tiber statt. Es ist bekannt, dass Konstantin in der Folge zunächst ein Toleranzedikt gegenüber dem Christentum erließ und später selbst zum Christentum übertrat.

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Mal zu demütigen, so erstaunt die moderate, fast mitfühlende Darstellung der im Kampf unterlegenen Partei. Die Schlacht an der Milvischen Brücke wurde wahrscheinlich mit aller Härte geführt, ihre bildliche Verarbeitung verzichtet jedoch auf eine ungeschminkte Präsentation kriegerischen Grauens. Im Auftrag des Papstes arbeitend, ließen die Künstler den verlustreich kämpfenden Feinden eine Spur von Würde, die auch dem im Vordergrund des Bildes ins Wasser des Tiber stürzenden und sterbenden Maxentius nicht vorenthalten wird. Ihre Voraussetzungen findet diese Bildpolitik in entsprechenden Entwicklungen der ästhetischen Sprachmittel der italienischen Kunst des 16. Jahrhunderts. Das Fresko, ein Hauptwerk des frühen Manierismus, präsentiert eine artifizielle, virtuos sich gebende Darstellungstechnik, die sich jenseits des Realen platziert, um dabei nicht zuletzt die Eigenlogik des ästhetischen Artefakts in den Blick zu rücken.15 Das hat Konsequenzen für die Darstellung von Gewalt. Wir haben es nicht mit dem authentischen Geschehen einer Schlacht, sondern mit einem Arrangement kunstvoll stilisierter Figuren in konventionalisierten Haltungen sowie einer ebenso artifiziellen Landschaft zu tun. Mit Blick auf den hier vorherrschenden Umgang mit der menschlichen Figur spricht die Kunstwissenschaft bekanntlich von Pathosformeln, von standardisierten Haltungen und Ausdrucksgebärden, die in der Geschichte nicht selten über lange Zeiträume immer wieder neu aufgegriffen werden.16 Das Fresko verschleiert die Zitationstechnik nicht, sondern arbeitet ostentativ mit historischen Referenzen, um sich auf diese Weise im Raum eines imaginären Gesprächs mit den richtungsweisenden Vorbildern zu platzieren. Auch hier fungiert der Bildraum als Bühne, auf der eine Art Schauspiel für ein gelassen wahrnehmendes Publikum aufgeführt wird. Selbst die sterbenden Opfer posieren mit Anmut, während sich der siegende Konstantin auf seinem Pferd bereits in sein eigenes Standbild verwandelt hat, beschützt von Engeln des Herrn, die ihm den Weg weisen. An die Stelle des Realen tritt eine künstliche Welt, die den konkreten Erscheinungsformen physischer Gewalt den Auftritt verweigert. Alles, was die Sphäre elaborierter Imagination erschüttern könnte, wird den Verfahren forcierter Stilisierung unterworfen; heftige, dem ästhetischen Kalkül zuwiderlaufende Affekte sind tabu. Für eine Malerei mit diesem Profil ist der Krieg lediglich Anlass, die Fähigkeiten zur Produktion feinsinniger, Respekt erheischender Artefakte zu demonstrieren. Hier etabliert sich eine Kunst, die den Anspruch erhebt, der Logik der Form, den souveränen Entscheidungen des Künstlers, der höheren Ehre Gottes und nur bedingt empirischen Phänomenen verpflichtet zu sein. Mit der Ästhetik des Manierismus, in dem die Idee einer Autonomie der Kunst Konturen gewinnt, tritt ein kulturaristokratisches Subjekt in den Vordergrund, das sich in der Welt der Bilder kompetent zu bewegen weiß, Sinn für die stilistischen 15 16

Vergl. John Shearman: Manierismus, Frankfurt a.M.: Athenäum 1988. Der Begriff der Pathosformel ist durch den Kunsthistoriker Aby Warburg entwickelt worden.

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Eigenheiten von Werken besitzt und ästhetische Urteile mit Blick auf die intrinsische Qualität von Artefakten abzugeben versteht; die Kunst hat es in den Augen der entsprechenden Akteure nicht zuletzt mit sich selbst zu tun. Dass die erschreckenden Ereignisse militärischer Konflikte dabei nur in ästhetisch domestizierter Gestalt Eingang ins Werk finden, trifft sich mit den Versöhnungsinteressen der alten Theologie, die der sublimierenden Kraft des Schönen zugeneigt war. Im Falle der Darstellung der Schlacht an der Milvischen Brücke kann der Vatikan den Betrachter glauben machen, dass der Sieg Konstantins über Maxentius ohne ein für die christliche Ethik problematisches Übermaß an Grausamkeit zustande gekommen war; der Klerus profitiert von den Errungenschaften einer eigene Wege beschreitenden Kunst. Einen anderen Blick auf den Krieg liefern Bilder von Jacopo Tintoretto, die ebenfalls dem Manierismus angehören. Von Interesse ist hier der sogenannte Gonzaga-Zyklus, eine Gruppe von acht Gemälden, die im Auftrage des Herzogs von Mantua zwischen 1578 bis 1580, also fast 50 Jahre nach dem Fresko Giulio Romanos, entstanden sind. Die Bilder, die in einem Saal des Palazzo Ducale in Mantua präsentiert wurden, sollten die militärischen Erfolge diverser Repräsentanten der Dynastie für die Nachwelt festhalten.17 Herausgegriffen sei die Darstellung der Schlacht am Taro, die unter dem Kommando von Francesco II Gonzaga im Jahre 1495 südwestlich von Parma gegen ein französisches Heer, wenn auch nicht siegreich, so doch nach zeitgenössischen Berichten mit bemerkenswerten Resultaten ausgefochten wurde (Abb. 3).18 Das großformatige Ölgemälde bietet eine Szene zu Beginn der Kampfhandlungen. Oben links – in Rüstung auf einem Pferd – der Herzog, der mit souverän-gelassener Geste seine Truppen in die Schlacht führt; seinen Anweisungen folgend, begeben sich Reiter und Fußsoldaten in einen Fluss, um den links hinten anrückenden Feinden entgegenzutreten. Auf französischer Seite erkennt man einen Pulk von Reitern, eine Gruppe von Bogenschützen und eine Reihe in Stellung gebrachter Kanonen, die das Feuer eröffnet haben; rechts hinten agiert eine dem Kommando des Herzogs unterstellte Einheit von Venezianern, die auf dem von den Feinden besetzten Terrain Fuß zu fassen versucht. Das Bild bietet ein bewegtes, unübersichtlich sich darstellendes szenisches Arrangement, das es dem Betrachter erschwert, den Stand des Geschehens ruhig und kontemplativ ins Auge zu fassen; der Maler verfolgt offenbar das Ziel, den realen Ablauf einer Schlacht zumindest ansatzweise erfahrbar machen. Der Blick wird unverzüglich in das Kampfgeschehen hineingezogen. Entscheidend sind dabei die strategisch platzierten Repoussoirs, das heißt durch den Bildrand angeschnittene

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Vergl. Cornelia Syre: Tintoretto. Der Gonzaga Zyklus, Herausgegeben von der Alten Pinakothek, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2000. Veronika Poll-Frommel/Jan Schmidt/Cornelia Syre: Francesco II. Gonzaga kämpft in der Schlacht am Taro gegen Karl VIII. von Frankreich, 1495, in: ebd., S. 62-71.

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Objekte oder Figuren, die das Auge in die Tiefe des Kampfplatzes weiterleiten. Bemerkenswert ist das dunkle, vorn in den Bildraum hineinragende Kanonenrohr, an dessen Ende bei genauerer Betrachtung ein Mündungsfeuer sichtbar ist; es wird also gerade in diesem Moment ein Schuss abgegeben. Auf diese Weise thematisiert der Maler die Perspektive eines Kanoniers, der das Zielgebiet seines Geschützes ins Auge gefasst hat. So wird auch der Betrachter selbst aufgefordert, die Position eines Artilleristen zu besetzen und damit die Ereignisse aus der Stellung eines Beteiligten mitzuerleben.

Abb. 3, Jacopo Tintoretto, Francesco II. Gonzaga kämpft in der Schlacht am Taro gegen Karl VIII. von Frankreich, um 1578-1580, Alte Pinakothek München.

Neben der Blickbahn des Kanoniers ist jedoch noch eine weitere Richtungsgröße zu berücksichtigen. Positioniert man sich auf der Seite der in den Fluss sich begebenden Reiter, so nimmt der Raum – dem Verlauf des Flusses entsprechend – die Gestalt eines nach rechts gebogenen Trichters an. Im Mittelgrund öffnet sich dieser Trichter dann in linker Richtung, um den Blick auf die feindlichen Einheiten freizugeben. Der Maler tritt hier jenen Bildräumen der klassischen Renaissance entgegen, die mit Hilfe zentralperspektivischer Verfahren eine klar überschaubare Ordnung der Dinge darboten. Tintoretto konfrontiert den Betrachter mit einem intransparent wirkenden Geschehen, das die Unberechenbarkeiten und nicht zu eliminierenden Risiken eines Waffengangs spürbar werden lässt. Sein Bildraum zeigt sich als inhomogen; er verdankt seine Struktur nicht einer der Komposition zugrundeliegenden Setzung – er fungiert nicht als ein neutrales Gefäß der Ereig-

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nisse –, sondern stellt sich als Produkt der Positionierung von Akteuren im Kontext des Kampfgeschehens dar. Im Sinne von G. W. Leibniz hat man es mit einem relationalen Raum zu tun, der aus einer je spezifischen Anordnung von Personen und/oder Objekten resultiert.19 Das durch Tintoretto gezeigte Schlachtfeld bildet einen speziellen Fall der von Leibniz beschriebenen Verhältnisse. Der Psychologe Kurt Lewin spricht später im Hinblick auf die Struktur von Kriegsgebieten von gerichteten Landschaften, für die Zonen beziehungsweise Gefahrenzonen ausschlaggebend seien, die den geographischen Raum in bestimmter Weise verändern und neu kodieren.20 Im Hintergrund steht seine Konzeption eines hodologischen Raums, dessen inhomogene Struktur aus zweckbestimmten Bahnungen oder Wegen resultiert.21 In gewisser Hinsicht schaffen Kriegshandlungen ihren eigenen Raum, ein Gefüge eingenommener Positionen und Richtungsgrößen, das von den Beteiligten selbst Besitz ergreift, indem es sie veranlasst in entsprechender Weise wahrzunehmen und zu handeln. Sowohl der Verwendung der Artillerie als auch den Bewegungsweisen der Reiterei oder der Fußsoldaten entsprechen je spezifische Formen der Aufmerksamkeit, die bestimmte Momente des Geschehens fokussieren und dabei andere ausklammern.22 In der Schlacht am Taro folgt der Maler der Einsicht, dass eine dem Gegenstand gerecht werdende Wiedergabe militärischer Konflikte Darstellungsverfahren erfordert, die sich von tradierten Ordnungsmustern der Malerei erheblich unterscheiden. Das System zentralperspektivischer, klar und überschaubar strukturierter Räume stößt an eine Grenze, weil dieses System eine Aufmerksamkeitsöko-

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Leibniz wendet sich bekanntlich gegen Newton, der von der Existenz eines absoluten Raumes ausgegangen war, den der Physiker als gleichförmig, homogen und isotrop beschrieb. Leibniz fasst den Raum dagegen als ein System von Relationen. Vergl.: Gottfried Wilhelm Leibniz. Briefwechsel mit Samuel Clark, in: Georg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 58-73; Max Jammer: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960, S. 126ff. Kurt Lewin: Kriegslandschaft, in: Georg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), ebd., S. 129-140. Kurt Lewin: Der Richtungsbegriff in der Psychologie. Der spezielle und allgemeine Hodologische Raum, in: Psychologische Forschung 19/3-4, S. 264f. Vergleichbare Strukturen des Bildraumes bietet Tintoretto auch in anderen Bildern. Wolfgang Kemp, der die Kreuztragung in der Scuola di San Rocco in Venedig analysiert, macht auf die zentrale Funktion von Bewegungsbahnen in diesem Bild aufmerksam: »Bei Tintoretto ist der Weg alles, die Welt nichts«, bemerkt er im Hinblick auf die Struktur des Bildes, die im übrigen der Komposition der Schlacht am Taro ähnelt. Auch in der Kreuztragung gibt es zunächst eine Bewegung, die von links unten nach rechts oben verläuft und sich dann nach links umwendet. Wolfgang Kemp: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München: C.H. Beck 1996, S. 170ff. In ihrer inhomogenen Struktur entspricht diese Welt den Räumen der modernen Topologie. Vergl. Stephan Günzel: (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007.

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nomie unterstellt, die in Situationen einer Schlacht rasch erschüttert wird. Tintoretto ruft anders geartete Spielarten der Wahrnehmung ins Gedächtnis, um dem Subjekt zumindest eine Ahnung dessen zu vermitteln, was es in einem konkreten Gefecht zu erwarten hätte. Düster und beklemmend gibt sich die Atmosphäre des Raums; der Platz des Aufmarsches der Einheiten ist in ein fahles Licht getaucht, das das Geschehen abgründig und unwirklich erscheinen lässt; im Hintergrund sichtbare Rauchschwaden verdunkeln den Horizont, riegeln die Ereignisse nach außen hin ab und heben die Spannung, die sich auf dem Kampfplatz aufgebaut hat. Die im Vordergrund in den grünlichen Fluss steigenden Soldaten liefern ein Bild des trüben Schicksals, das jeden Einzelnen von ihnen treffen kann, denn an der Biegung des Trichters, auf die sie sich zubewegen, warten die feindlichen Geschosse. Ungeachtet des statischen Charakters der bemalten Leinwand zeigt sich das wahrgenommene Bild keinesfalls als unbewegte Momentaufnahme; es hat keine Ähnlichkeit mit einer Fotographie. Als Betrachter gewinnt man vielmehr den Eindruck, an einer Ordnung der Zeit teilzuhaben, die über eine gewisse Ausdehnung verfügt und in der sich die Aktionen der Beteiligten momentan abzuspielen scheinen. Mit Recht hat man mit Blick auf Bilder dieser Art von einem innovativen Typus des Ereignisbildes gesprochen.23 Der Maler macht von der Möglichkeit Gebrauch, Bewegungsabläufe und damit Phänomene der Zeit mit den Mitteln der Malerei auf der Bildfläche zu simulieren; er macht sich dabei die Tatsache zunutze, dass die Wahrnehmung, die in das Dargestellte eindringt, selbst temporale Eigenschaften umfasst. Die auf dem Bildfeld sich zeigenden Prozesse sind jedoch von grundsätzlich anderer Art als jene Ereignisse, die im realen Raum beziehungsweise in der physikalischen Welt verortet sind. Bewegungsillusionen in einem Gemälde sind keine adäquaten Abbilder konkreter zeitlicher Vorgänge, sondern lediglich bloße Anmutungen derselben; dem unbewegten Bild bleibt die Faktizität des Ablaufs einer Schlacht prinzipiell unzugänglich. Entlastet die bildliche Präsentation auf diese Weise den Betrachter, so hat es der kämpfende Soldat mit realen Prozessen zu tun, in denen die eingesetzte Gewalt ihr ungeschminktes Gesicht nach außen kehrt. Über eine Minimierung von Wahrnehmungsdistanzen eröffnet Tintoretto dem Betrachter die Möglichkeit, in ein Gefüge sozialer Rollen einzutreten, das Positionen der Beobachtung, der Ausübung oder auch des Erleidens von Gewalt impliziert. Man fühlt sich bereits an vergleichbare Prozesse in der Rezeption von Filmen

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Cornelia Syre zitiert in einer Abhandlung über Tintorettos Gonzaga-Zyklus eine entsprechende Bemerkung von Werner Hager: »Der Meister«, so heißt es, »hebt in dieser Reihe das Ereignisbild auf eine ungeahnte Höhe. Als Einziger zu seiner Zeit behandelt er die Geschichte in ihrer Form als reinen Vorgang mit der gleichen Aufmerksamkeit und inneren Achtung und gleich hohem Einsatz an Mitteln wie das Religiöse und Allegorische«. Cornelia Syre: »Tutto Spirito, Tutto Prontezza«. Tintorettos Gonzaga-Zyklus, in: dies., Tintoretto, S 23.

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erinnert, bei der entsprechende Formen der Teilhabe beziehungsweise der Immersion des Subjekts auftreten können. Eine entscheidende Differenz bleibt jedoch zu berücksichtigen: Filme liefern in der Tat Abbilder realer zeitlicher Geschehnisse, was Gemälde nicht leisten können. Das heißt wiederum nicht, dass die Malerei nicht auch drastische Darstellungen von Phänomenen der Gewalt zu bieten vermag. Tintorettos Schlacht am Taro zeigt mit Blick auf diese Möglichkeit eine deutliche Zurückhaltung: So tief das Subjekt in das Bildgeschehen eintaucht und sich die Perspektiven beteiligter Akteure zu eigen macht, so entschärft und ästhetisch sublimiert tritt das dargestellte Gewalthandeln in den Blick. Selbst die im Mittelgrund sichtbare Konfrontation der vorrückenden Venezianer mit der feindlichen Artillerie – an sich eine Situation höchster Spannung – wird unter dem Einsatz malerischer Mittel entdramatisiert. Gezeigt sind weniger die Leidtragenden, die Verletzten oder Sterbenden – einzig die niedersinkende Figur im Vordergrund ließe sich als Opfer interpretieren –, sondern die atmosphärischen Qualitäten des Aufeinandertreffens der konkurrierenden Parteien. So kehrt das Schlachtfeld Eigenschaften hervor, die zwar keineswegs im traditionellen Sinne versöhnlich wirken, in denen das Bedrohungspotential des Sujets dennoch signifikant abgemildert ist. In diesem Sinne präsentiert sich das Bild als Schauplatz einer künstlerischen Strategie, die den Schrecken aufzurufen und zugleich zu bändigen versteht. Ein probates Mittel des Letzteren sind wiederum die dem Manierismus eigenen Praktiken einer ostentativen Stilisierung des Dargestellten. Hier zeigt sich die Fähigkeit des Künstlers, Szenen von hoher Artifizialität hervorzubringen; kaum zufällig lässt die Gruppe von anrückenden französischen Reitern an Luftgespinste oder Halluzinationen denken. Das rühmende Andenken an die militärischen Leistungen der eigenen Sippe, das der Auftraggeber im Sinn hatte, mündet in eine phantasmatische Vergegenwärtigung des Vergangenen, die dessen düsterste Seiten einer Umarbeitung unterzieht. Eine andere Spielart des Umgangs mit Gewalt bietet Tizians Kain und Abel, ein Deckenbild, das in den Jahren 1543-1546 für die Kirche Santo Spirito in Isola in Venedig entstanden ist und sich heute in der Sakristei von Santa Maria della Salute befindet (Abb. 4).24 Das annähernd quadratische Gemälde überrascht durch die massive Präsenz der in den Vordergrund gesetzten Figuren, die die Tiefe des Bildraumes nach außen hin abriegeln. Verstärkt wird die durch den Maler verfolgte Strategie durch die Platzierung des Bildes an der Decke des Raumes, was die Schwere der Körper umso intensiver empfinden lässt. Das Opfer – der am Kopf verletzte Abel – scheint fast in den Raum des Betrachters zu stürzen, akzentuiert durch die am Bildrand gezeigte Hand des Sterbenden, die wie hilfesuchend nach unten hin geöffnet ist. Kain und Abel präsentiert sich als Bekenntnisbild, dessen Dar24

Zur Gruppe der Bilder gehört neben dem genannten Bild Die Opferung Isaaks sowie David und Goliath. Vergl. Titian. Prince of Painters, Venice: Marsilio Editori 1990, S. 255ff.

2. Darstellungen von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik

Abb. 4, Tizian, Kain und Abel, 1542-1544, Öl auf Leinwand, 292 x 280 cm, Venedig, Santa Maria della Salute.

stellungsmittel darauf abgestellt sind, das Subjekt in Zustände innerer Erschütterung und Anteilnahme zu versetzen. Tizian verwandelt das biblische Motiv in ein den Betrachter offensiv angehendes Geschehnis, in welchem Phänomene des Zorns, der Schuld und der Verantwortung vor Gott im Vordergrund stehen. Wie aus grauer Urzeit emporgestiegen, präsentieren die Brüder einen bis in die Gegenwart sich verlängernden Schicksalsknoten. Obwohl in der dargestellten Szene Vitalkräfte ausagiert oder verloren werden – Kain zeigt sich als Träger destruktiver Impulse, während bei seinem Bruder der Zustand des Todes bevorsteht –, scheint die Begebenheit dennoch in bestimmter Weise stillzustehen. Das Verhältnis von Opfer und Täter – ein Arrangement einander komplementärer Pathosformeln –

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gibt sich weniger als eine vorübergehende Phase eines Kampfes, sondern eher als eine festgeschriebene, ins Idealtypische erhobene Interaktionsfigur. Der sich aufdrängende Eindruck eines erstarrten Ablaufs hat nichts mit dem Motiv eines stillgestellten, aus dem linearen Zeitablauf herausgehobenen Zeitpunkts zu tun. Dem Maler geht es nicht um einen fixierten Moment, wie ihn etwa die Fotographie darbietet, sondern um einen gefrorenen oder zumindest hier und jetzt gefrierenden Prozess. Im Sinne der Distinktion von Hans Holländer handelt es sich um einen verdichteten Augenblick.25 Der Grund für die Zeitstruktur des Bildes liegt nicht zuletzt in der Art, in der die monumental wirkenden Körper im Format des Gemäldes verankert sind. Kompositorisch regiert ein planimetrisches Schema, das die Szene strukturiert und so auf eine imaginäre Ebene befördert, die jenseits einer linearen Ereigniszeit angesiedelt ist. Das rohe Holz, mit dem Kain zum Schlage ausholt, läuft fast parallel zum oberen Bildrand, was den destruktiven Gestus in der vorliegenden Ausrichtung fixiert, während die Gliedmaßen der Figuren die Bilddiagonalen in unterschiedlicher Weise aufnehmen und abwandeln. Die Kante des Felsens im Vordergrund und der Rauch der Opferfeuer, der im Hintergrund aufsteigt, komplettieren das Netz der szenenstabilisierenden Korrespondenzen. Auf dem Boden dieser Struktur zeigt das Gemälde eine Art von Sinnbild der biblischen Erzählung, die als stetige Mahnung an die Gläubigen adressiert ist. Der Maler folgt offenbar der Auffassung, dass man es bei der in der Genesis des Alten Testaments thematisierten Konstellation mit einem im Grunde zeitenthobenen Urkonflikt zu tun habe, dem sich alle Individuen zu allen Zeiten stets erneut zu stellen haben; entsprechend scheinen die beiden dargestellten Kontrahenten des Bildes in ihrem Kampf auf ewig aneinandergekettet. Der Maler betritt den Boden einer Art von Anthropologie, die von der Vorstellung ausgeht, im Inneren des Subjekts schlummerten dunkle Kräfte, denen durch entsprechende Maßnahmen, vor allem durch gottgefälliges Handeln zu begegnen ist. Wer sich den Kräften des Bösen hingibt, muss mit Interventionen Gottes rechnen. Bemerkenswert an dem Bild ist die sich schräg von rechts unten nach links oben über die Bildfläche ziehende Rauchfahne, die von jenem Feuer aufsteigt, das Kain auf seinem Opferaltar entzündet hatte. Gott nahm die ihm dargebrachte Gabe nicht an, anders als die seines Bruders Abel, dessen Feuer am rechten Bildrand – ohne abgelenkt zu werden – senkrecht zum Himmel lodert.26 Kain verstand die 25

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Hans Holländer unterscheidet zwischen Augenblick und Zeitpunkt. Unter Zeitpunkt versteht der Autor den punktuellen Schnitt durch die Linie der metrischen Zeit, unter dem Augenblick eine verdichtete Wahrnehmung, die dem Subjekt tiefere Einsichten oder Erkenntnisse zu bieten vermag. Hans Holländer: Augenblick und Zeitpunkt, in: Christian W. Thomsen/Hans Holländer (Hg.), Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitsemantik in Kunst und Wissenschaften, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, S. 7-21, sowie Hans Holländer: Augenblicksbilder. Zur Zeit-Perspektive in der Malerei, in: ebd., S. 175-197. Vergl.: Altes Testament, Genesis 4, 1-16.

2. Darstellungen von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik

Missgunst des Herrn und tötete Abel aus Eifersucht gegenüber dem Bevorzugten. Doch der Rauch, der von seinem Ziel abgelenkt wurde und damit den Anstoß für den Brudermord bildete, erscheint zugleich als Zeichen des göttlichen Zorns angesichts der grausamen Tat. Ursache und Wirkung des Gewalthandelns gehen im Bilde fast unmerklich ineinander über, denn Gott steht für Tizian offenbar diesseits und jenseits des entscheidenden Ereignisses; er ist in seinem überzeitlichen Dasein in allen Geschehnissen gleichermaßen präsent. Entsprechendes lässt sich einer weiteren Eigenheit des Gemäldes entnehmen: Die hellen Ränder der schräg nach links aufsteigenden Rauchfahne machen deutlich, dass diese Fahne die am Himmel stehende Sonne verdunkelt hat. Im Kontrast zu diesem Verhältnis stehen die von einem grellem Licht erfassten Körper der Brüder. Dieses Licht, dessen Quelle im dargestellten Geschehen nicht verortet werden kann, lässt die Tat – vor allem das stürzende Opfer – mit scharfer Deutlichkeit in den Blick treten. Tizian bringt die Perspektive eines göttlichen Beobachters ins Spiel, der die Welt mit übersinnlichen Kräften durchdringt und dabei entsprechende Begebenheiten hell, das heißt erkennbar werden lässt. Die Botschaft des Bildes ist eindeutig: Wer seinen Bruder erschlägt, ruft Gottes Zorn auf den Plan. Man hat hier einen zentralen Baustein der jüdisch-christlichen Theologie vor sich, in welcher Gewalt gegen den Nächsten zugleich das Verhältnis des Täters zu seinem Schöpfer tangiert. Tötungsakte sind nicht nur durch irdische Maßnahmen – wie eine profane Rechtsprechung – zu sühnen; sie mobilisieren mehr noch die Tätigkeit eines höheren Gerichts, wenn nicht jetzt, so doch mit Sicherheit später, wenn die Zeit gekommen ist. Gott und damit seine Repräsentanten – die berufenen Theologen – besitzen die Deutungshoheit im Hinblick auf das Gewalthandeln des Menschen. Die christliche Malerei verfährt entsprechend, indem sie die destruktiven Akte des Subjekts mit Blick auf eine transzendente Ordnung behandelt, die dem Guten und Rechten zum Sieg verhilft. Wenn auch keineswegs in seiner historischen Praxis, so kann doch das Christentum seinem theologischen Selbstverständnis zufolge als eine Religion des Friedens gelten. Essentiell sind dabei die Erlösungsinteressen des Einzelnen. Auch in Tizians Gemälde scheint sich eine solche Perspektive zu öffnen: Der niedergeschlagene Abel blutet aus einer Wunde am Kopf, dargestellt durch den bewegten Duktus des Pinsels, der sich von den sonst glatt gemalten Flächen des Bildes abhebt; man fühlt sich an malerische Texturen aus Bildern des modernen Informel erinnert. Die Differenz zwischen dem flüssig gemalten Blut und den fixierten Haltungen der Akteure gibt zu denken: Es ist zu vermuten, der Maler eröffne hier eine Perspektive auf das Neue Testament, auf die Passion Christi, durch die, nach Ansicht der Theologen, ein neues Zeitalter angebrochen sei. Tizian liefert ein Bekenntnis zur Überwindung der Sünden des Menschen. Nichts in seinem Bild kommt den Bedürfnissen des Voyeurismus entgegen, der sich an Darstellungen von Gewalt und am Leiden der Opfer erfreut.

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III. Im artifiziellen Umgang mit Körper und Raum bewegt sich Tizians Gemälde im Kontext des Manierismus.27 Dennoch weist das Pathos dieses Bekenntnisbildes bereits auf die Malerei des Barock voraus, die sich auf dem Boden der Gegenreformation entwickelte. Eine Kunst, die der Politik des katholischen Klerus verpflichtet ist, klare und eingängige Botschaften formuliert, wirkungsästhetisch verfährt und dabei die Überwältigung des Subjekts im Auge hat, eröffnet neue Perspektiven auf Phänomene der Gewalt.28 Man kann dies anhand eines bestimmten Sujets beobachten: Das verstärkte Interesse an der Darstellungen christlicher Martyrien ist bekannt, denn das für den eigenen Glauben sich opfernde Subjekt liefert ein leuchtendes Beispiele für jene Individuen, die in Zweifeln befangen oder auf Abwege geraten sind. In der Kunst des Barock werden die darstellungslogischen Praktiken der Abfederung und Entschärfung drastischer Gewalt in unterschiedlichem Maße zurückgefahren. Doch die auf den Plan tretende Ästhetik des Schreckens, die das Subjekt im Inneren zum Erzittern bringen soll, zieht keineswegs alle Schichten des Imaginären ein, denn eine gänzlich ungefiltert gezeigte Grausamkeit würde die Welt des Gemäldes zum Einsturz bringen. Die Kunst laboriert zunehmend an einer Grenze, die sie nur vereinzelt überschreitet. Reale Gewalt, die das Medium der Malerei in diesem Zeitalter in besonderer Weise herausfordert, wird in der Regel immer noch – wenn auch mit entsprechenden Verwerfungen – ästhetisch domestiziert. In welchem Maße die Prozesse einer Annäherung an das Reale beziehungsweise der gegenläufigen Strategie einer Distanznahme gegenüber demselben ins Spiel treten, ist nicht generell zu beantworten, sondern bedarf empirischer Untersuchungen. In jedem Fall kann man im Hinblick auf Darstellungen der Gewalt von veränderten Sublimierungs- beziehungsweise Entsublimierungspraktiken sprechen. Das Verhältnis von Realem und Imaginärem organisiert sich neu und zwar von Fall zu Fall anders. Die sinnliche Welt wird in bisher unbekannter Form zum Problem – es entsteht ein neuer Realismus –, komplementär beginnt das Phantasmagorische zu wuchern – die Kunst entwickelt Instrumente der Illusionsbildung, um sich von der Wirklichkeit absetzen zu können –, greifbar in den Trompes l’oeil der Kirchendecken, die dem Subjekt einen Weg in eine überirdische Welt zu eröffnen scheinen.

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So Arnold Hauser: Der Ursprung der modernen Kunst und Literatur. Die Entwicklung des Manierismus seit der Krise der Renaissance, München: C.H. Beck 1973, S. 212f. »Mit dem Bedürfnis und Drang nach sinnlichen Emotionen hängt es zusammen«, so Werner Weisbach, »wenn der Barock ein Ausdruckselement in besonderem Maße bevorzugt: das Grausame und Schauerliche.« Der Barock als Kunst der Gegenreformation, Berlin: Paul Cassirer 1921, S. 34. Zum Begriff des Barock vergl. Walter Moser: Stichwort »Barock«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart: J.B. Metzler 2000, S. 578-618.

2. Darstellungen von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik

Abb. 5, Michelangelo da Caravaggio, Martyrium des heiligen Matthäus, 1599/1600, Öl auf Leinwand, 323 x 343 cm, Rom, San Luigi dei Francesi, Capella Contarelli.

Beispiele für die Absenkung der Wahrnehmungsdistanzen und eine Annäherung an das Reale finden sich bei Michelangelo da Caravaggio. Sein Martyrium des heiligen Matthäus in der Cappella Contarelli der Kirche San Luigi dei Francesi in Rom steht auf dem Boden des Barock und nimmt im Hinblick auf die Gegenreformation eine komplexe Position ein, die unterschiedliche Stellungnahmen provozierte (Abb. 5). Der Maler zeigt das Geschehen in einer fast hypnotisch wirkenden Klarheit, durch die Figuren und Dinge eine neue Art von Präsenz gewinnen. Caravaggio hat nicht nur neue Darstellungskonventionen entwickelt, sondern die Stellung des Bildes zur Wirklichkeit verändert. Verglichen mit der Tradition erweckt sein Gemälde den Eindruck, in ihm würde das nackte Reale – unverfälscht durch die Praktiken eines an höheren Werten orientierten Stils – in Erscheinung treten.29 Der

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Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass Caravaggios Kompositionen bei aller Annäherung an das Reale ein nicht geringes Maß an Theatralität besitzen. Vergl.: Sybille Ebert-

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klassischen Renaissance und dem Manierismus tritt eine Kunst entgegen, die die Distanzen minimiert und sich mit hoher Intensität in die Aufmerksamkeit des Betrachters einschreibt. Das zentrale Geschehen, nach rechts aus der Mitte gerückt, wird durch ein pointiert eingesetztes Hell-Dunkel in der Bildfläche hervorgehoben. Der Apostel liegt bereits auf dem steinernen Boden, während der nur mit einem Lendenschurz bekleidete Mörder – über ihm stehend und sich niederbeugend – dessen Handgelenk ergriffen hat, offenbar um das mit der anderen Hand geführte Schwert ins Ziel zu bringen. Schmale Blutspuren auf der Kleidung des Heiligen, die erst auf den zweiten Blick erkennbar sind, zeigen, dass er bereits verletzt oder gar tödlich getroffen ist. Kontrapunktiert wird das Verhältnis zwischen Täter und Opfer durch die rechts platzierte Knabenfigur, die in einer expressiven Bewegung tiefes Entsetzen über die Tat bekundet. Nimmt man den von oben mit der Siegespalme in das Geschehen eingreifenden Engel hinzu, so ist die Kerngruppe des Dramas vollständig. Alle übrigen Individuen säumen als Zeugen das Geschehen, in erregter oder zumindest befremdeter Haltung. Unter ihnen findet sich – im Selbstportrait – der Maler, der gleich links hinter dem Täter platziert, mit sorgenvoller Miene auf das sich Ereignende blickt. Der physische Prozess der Gewalt – die in den Körper eindringende Waffe einschließlich der Spuren, die sie dort hinterlässt – bildet nicht den primären Gegenstand des künstlerischen Interesses; im Vordergrund stehen vielmehr seelische Dispositionen, Zustände und Affektlagen der am Ereignis in unterschiedlicher Weise Beteiligten.30 Wie in anderen Bildern auch betreibt der Maler eine Art phänomenologischer Psychologie, die nach dem Subjekt und seiner inneren Erlebniswelt fragt. Bedeutsam sind die vulgäre Entschlossenheit des Täters, der mit offenem Mund auf den Liegenden hinabblickt, die ostentative Hilflosigkeit des Opfers, das keine Maßnahmen der Abwehr ergreift, das Entsetzen des Knaben, das sich in einem Schrei Ausdruck verschafft, sowie die Haltungen und Stimmungslagen der Zeugen. Eine der Hauptleistungen dieses Bildes liegt in seiner Fähigkeit, Wege in eine Ästhetik des Schreckens zu ebnen, die primär motivations- und affektanalytisch operiert, ohne dabei den Akt der Grausamkeit sowie dessen Resultate direkt und im Detail vor Augen zu führen. Jenseits des rein mechanischen Geschehens der Tötung thematisiert das Gemälde die psychischen Kräfte und Resonanzen, die mit dem Mord verknüpft sind und ihm seinen spezifischen, durch den Betrachter

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Schifferer: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk, München: C.H. Beck 2009, S. 85; zum Werk Caravaggios vergl. auch: Valeska von Rosen, Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600, Berlin/Boston: De Gruyter 2021. Caravaggio hat sich in seinem Werk auch an der Darstellung purer physischer Gewalt versucht, wie an seinem Gemälde Judith und Holofernes abzulesen ist. In diesem Bild wird dem männlichen Opfer mit einem Schwert der Kopf abgetrennt. Vergl. Sebastian Schütze: Caravaggio. Das vollständige Werk, Köln: Taschen 2009, S. 90ff.

2. Darstellungen von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik

zu entschlüsselnden Sinn geben. Man kann geradezu von einer Kartographie seelischer Verfasstheiten sprechen, die den Bildraum über die physische Präsenz der Akteure hinaus strukturieren. Entscheidend sind vor allem die gerichteten Blicke der Figuren, die die Komposition mit einem komplexen Netz von Richtungsbahnen ausstatten. In der zentralen Szene der Komposition stützt sich der Maler bekanntlich auf Tizians Gemälde Tod des Petrus Martyr, das er in spiegelverkehrter Form aufnimmt und zugleich leicht abwandelt.31 Bei einem Vergleich des Matthäusbildes mit dem tizianschen Vorbild wird deutlich, dass Caravaggio im Umgang mit den zitierten Pathosformeln eigene Wege beschreitet, die für die Sprache der Affekte sowie für die Logik der Zeit in seinem Bild von tragender Bedeutung sind. In jener Tradition, der Tizian in seinem Gemälde verpflichtet blieb, gerinnt die physische Geste vielfach zu einer zeitlosen Formel, die den Anspruch der Darstellung auf Zugehörigkeit zu einer Sphäre erhabener Allgemeinheit besiegelt. Caravaggio greift die Pathosformeln auf, löst sie indessen aus dieser normativen Umklammerung und übersetzt sie ein Stück weit in die Wirklichkeit zurück, so dass sie deutlich an Vitalität gewinnen. So erweckt der Mörder, der in einer energischen Geste die Hand des Opfers ergriffen hat, den Eindruck, dem Zustand der Erstarrung entronnen und zu den Lebenden zurückgekehrt, gleichsam auferstanden zu sein. Man könnte denken, der Apoll vom Belvedere hätte sich sein Schultertuch um die Lenden gebunden, ein Schwert zur Hand genommen und sich zur Messe des Apostels begeben, um diesem das Leben zu nehmen.32 Dass der Realist Caravaggio die Rolle des Mörders mit einem ins vulgäre hinüberspielenden Idealbild besetzt, gehört zum ästhetischen Programm des Bildes. Auch das gestürzte Opfer scheint im Moment des Todes eine darstellungslogisch bewerkstelligte Auferstehung zu durchlaufen; sein wehrloses Ausgeliefertsein berührt in einer bis dahin kaum gekannten Intensität. Es geht dem Künstler in diesem Gemälde nicht nur um das Martyrium des Heiligen, sondern zugleich um eine Positionsbestimmung im Hinblick auf den richtigen Weg der Kunst. In diesem Subtext nimmt vor allem der Apostel die Rolle der durch die klassischen Ideale marginalisierten Kreatürlichkeit des Menschen ein. Doch mit dem wiedergewonnenen Leben tritt zugleich eine gegenläufige Instanz auf den Plan: Der im Raum des Bildes auferstandene Apostel ist mit dem Augenblick seines Sterbens konfrontiert. Wie tief dieses Ereignis in die Logik des Bildes 31

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Das Original des Tizianschen Gemäldes ist verloren und durch einen Holzschnitt überliefert. Vergl. Jutta Held: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper, Berlin: Reimer 1996, S. 86. Howard Hibbard hat in seinem Buch über Caravaggio den Holzschnitt seitenverkehrt, also in der von Caravaggio angeeigneten Form abgebildet. Howard Hibbard: Caravaggio, London: Thames and Hudson 1993, S. 106f. u. 298 (Anm. 61). Eine malerische Version aus dem 18. Jahrhundert von Nicolò Cassala befindet sich in der Kirche St. Giovanni e Paolo in Venedig. Der Apoll vom Belvedere gehört bekanntlich zu jenen Idealbildern antiker Plastik, die sich im 16. Jahrhundert großer Anerkennung erfreuten.

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eingreift, wird in dem rechts platzierten Knaben manifest, der sein Entsetzen in einem Schrei bekundet. Die Figur bringt auf dem Schauplatz des Gemäldes nicht nur die akustische Wahrnehmung ins Spiel, sie besetzt darüber hinaus eine Schlüsselfunktion im Hinblick auf den zeitlichen Sinn der Tat. Caravaggio ist offenbar an einem partikularen Moment, einem aus dem Fluss der Ereignisse herausgeschnittenen Jetzt interessiert. Mit der nach rechts ausweichenden und sich dabei umwendenden Knabenfigur – einer figura serpentinata, wie sie sich auch im Manierismus findet – tritt das Motiv eines ausdehnungslosen Zeitpunktes hervor, einer sistierten Präsenz, in der jede Bewegung erstorben ist. Was die Wahrnehmung als ein selbst zeitlicher Prozess nicht kann, suggeriert das Bild: es schafft das Phantasma einer stillgestellten Geste. Diese Geste ist weder Zeichen eines ewigen Seins, noch Resultat eines Prozesses symbolischer Verdichtung, wie er im Falle von Kain und Abel bei Tizian zu beobachten ist, sondern Index eines plötzlich, hier und jetzt sich öffnenden Nichts. Im Sinne der Distinktion von Hans Holländer handelt es sich also nicht nur um einen artikulierten Augenblick, sondern zugleich um den Versuch, der Idee eines Zeitpunkts, eines partikularen Schnitts durch den Zeitablauf zur Geltung zu verhelfen.33 Was die Figur des Knaben in paradigmatischer Form vor Augen führt, strahlt zunächst auf die zentrale Gruppe des Bildes, dann auf die übrigen Anwesenden aus, die durch die gefrorene Gebärde desselben in bestimmter Weise tangiert werden. Man hat es mit einem spezifischen Modus der Temporalisierung von Pathosformeln zu tun. Das kalt wirkende, wie aus einem Scheinwerfer stammende Licht, das die Figuren aus der Dämmerung des Umfeldes heraushebt, akzentuiert dieses Geschehen. Heinrich Theissing spricht in seiner Studie zur Zeit im Bild im Hinblick auf entsprechende Motive von einer »Entleerung von Sein und Zeit«.34 In Zuständen der Erstarrung eröffne sich nicht – wie man meinen könnte – eine von den Prozessen des Werdens unberührte Sphäre höheren Daseins, sondern das Nichts. Der aus dem Zeitstrom herausspringende Moment nimmt den Charakter eines dämonischen Abgrundes an, der das Subjekt mit einer Zeiterfahrung der Hölle konfrontiere.35 Der Maler spielt mit diesem Motiv; die ins Licht gehobenen Partien seines Gemäldes sind in einen dunklen Raum eingelassen, der das sichtbare Sein zu verschlingen droht. In einer Umdeutung der christlichen Epiphanie geht

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Vergl. Hans Holländer: Augenblick und Zeitpunkt, in: Holländer/Thomsen (Hg.), Augenblick und Zeitpunkt. »In der Starre also«, so der Autor, »ist nicht Fülle, sondern Leere. Da ihr das Vor und Zurück fehlt, ist sie ohne Vergangenheit und Zukunft. Beides aber ist Bedingung des Daseins und der Zeitlichkeit. Somit ist eine Entleerung von Sein und Zeit gegeben: Die Erstarrung ist die Tendenz zum Nichts.« Heinrich Theissing: Die Zeit im Bild, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987, S. 95. Ebd., S. 95. Theissing exemplifiziert seine Überlegungen unter anderem am Medusenkopf von Caravaggio; ebd., S. 107ff.

2. Darstellungen von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik

es im Martyrium des Matthäus um die Offenbarung einer nicht auszufüllenden Absenz, die sich durch einen Akt der Gewalt auf dem Schauplatz des Lebens Geltung verschafft. So gehört der stillgestellte Moment nicht der Ordnung Gottes an; er eröffnet keinen Zugang zur Sphäre eines Zeitlos-Ewigen, das in der christlichen Theologie als höchste Seinsfülle beschrieben wurde.36 Man könnte der Ansicht sein, einen Übergang in diese Sphäre ermögliche dennoch – wie in entsprechenden Darstellungen üblich – der von oben in das Geschehen eingreifende Engel, der dem sterbenden Apostel einen Palmzweig hinunterreicht und ihm auf diese Weise ein Zeichen des höheren Lebens übermittelt. Doch auch dieses Motiv wird in subtiler Weise durch das bildliche Arrangement unterlaufen. Noch auf Tizians Tod des Petrus Martyr, jener Komposition, die im Hintergrund des Matthäusbildes steht, schweben in triumphierender Weise zwei geflügelte Putti von oben heran, um dem Sterbenden das Zeichen der göttlichen Gnade zu überreichen. Caravaggios Engel ist von anderer Art, denn er stützt sich mit seiner ganzer Körperschwere auf eine Wolke, die kaum noch atmosphärische Leichtigkeit besitzt. Die Übergabe des Palmzweiges ähnelt einem Vorgang in einem Kulissentheater. Auf einer im oberen Teil der Bühne befindlichen Konstruktion liegt ein verkleideter Knabe in einer für ihn ungünstigen Stellung, die ihn zwingt, seiner Rolle in einer ebenso anmutig wie grotesk wirkenden Drehung seines Körpers Genüge zu tun; auch hier hat man eine figura serpentinata vor sich. Caravaggio eröffnet eine provozierende Perspektive auf das Motiv des christlichen Martyriums, eines Sterbens im Dienste des Glaubens. Der dargestellte Tötungsakt präsentiert sich als Exponent einer Logik der Zeit, in der sich das Nichts auftut, ohne dass dieses Geschehen durch ein glaubwürdiges Erlösungsversprechen konterkariert würde. In welchem Verhältnis steht dieses Bild zur orthodoxen Theologie? Die Profanierung der Palmzweigübergabe könnte als Ausdruck einer atheistischen Position gewertet werden, die vom Grauen Rechenschaft ablegt und dabei die Hoffnung auf Erlösung als bloße Illusion behandelt. Wie immer sich Caravaggio selbst in dieser Frage positioniert haben mag, sein Bild indiziert einen Rückgang des Vertrauens auf die Gnade des Herrn; Gott entfernt sich in unübersehbarer Weise von den Menschen. Man könnte dies, wie verschiedentlich geschehen, als Annährung an Positionen des Protestantismus deuten.37 Dies hat Konsequenzen für den Blick auf Phänomene der Gewalt, vor allem für den Umgang mit der Endlichkeit des Subjekts; mit dem Blick auf das Leben

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Vergl. H. Echternach: Stichwort »Ewigkeit«, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel/Stuttgart: Schwabe 1972, Sp. 840ff. In der Literatur über Caravaggio finden sich unterschiedliche Einschätzungen zur Frage der Stellung des Malers zur Religion. Je nach Deutungsperspektive wurde er als geheimer Atheist, als Repräsentant einer bestimmten Strömung des gegenreformatorischen Katholizismus oder auch als Kryptoprotestant bezeichnet. Vergl. dazu Jutta Held: Caravaggio, S. 14ff.

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wandelt sich auch der Charakter des Sterbens. Caravaggios Gemälde demonstriert einen illusionslosen Zugriff auf das thematische Ereignis; es präsentiert den Hergang mit kalter Akribie und Präzision. Der Geist, der hier hervortritt, hat etwas unerschrocken Sezierendes; er unterläuft die den tradierten Präsentationspraktiken eigenen Formen des Erlösungsglaubens. Dass der Maler sein eigenes Portrait auf der oberen Verlängerungslinie des Mordinstrumentes platziert hat, könnte als Hinweise auf den Charakter seiner Beobachtung gewertet werden, denn sein Blick verfährt selbst auf bestimmte Weise gewalttätig, dringt wie ein Seziermesser ungeachtet bestehender Empfindlichkeiten in Charaktere und Situationen ein. Der Topos von der immanenten Gewalt des Blicks spielt bekanntlich bis heute in der Philosophie und Kulturtheorie eine Rolle.38 Caravaggio entwickelt einen Bildraum, der nicht nur an den visuellen Sinn des Subjekts adressiert ist. Dass der Maler zugleich die akustische Seite des Geschehens im Blick hatte, zeigt über den schreienden Knaben hinaus das in besonderer Weise hervorgehobene Ohr der links im Vordergrund befindlichen Figur, die sich wie ihre Pendants auf der rechten Seite des Bildes für eine Taufe bereitgehalten hatte. Doch nicht nur die akustische Wahrnehmung, auch das taktile Sensorium wird in besonderer Weise mobilisiert. Dies ist vor allem für den Prozess der Gewalt von Bedeutung, denn das Sterben des Opfers setzt den motorischen Einsatz der Waffe voraus. Caravaggio dämpft die Präsenz des Schwertes durch die Verteilung von Licht und Schatten; desto deutlicher lässt er die plastischen Eigenschaften des Körpers des Täters hervortreten.39 Mit der Mobilisierung synästhetischer Prozesse treten zugleich entsprechende Gefühls- und Affektlagen auf den Plan. Was diese Malerei intendiert, ist eine Neustrukturierung des Verhältnisses zwischen den medialen Offerten auf der einen und den mit ihnen verkoppelten Prozessen auf Seiten des Rezipienten; sie bietet nicht nur einen veränderten Blick auf das Reale, sondern eröffnet zugleich neue Perspektiven sowohl auf die psychische als auch auf die physische Verfassung des Subjekts. Von Wichtigkeit ist dabei die unübersehbare Erosion der Glaubens- und Erlösungsgewissheiten, die den Einzelnen in einen Zustand mehr oder minder tiefgehender Irritation und Unsicherheit versetzt. Der Maler betritt einen Raum des wachsenden Zweifels, der in Zustände der Verzweiflung überzugehen vermag. Mit dem Verschwinden eines sicheren Erlösungsversprechens verschiebt sich das alte, durch die Deutungshoheit der Theologie bestimmte Verhältnis von Welt und Unterwelt. Tendenziell von Transzendenzbindungen entlastet, kehrt das Reale selbst den Charakter des Infernalischen hervor: Der sich zurückziehende Gott lässt die Welt als Hölle zurück. In seinem durch scharfe

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Vergl. z.B. Jean Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993, S. 457-538. Auf die Rolle der taktilen Wahrnehmung bei Caravaggio macht Jutta Held aufmerksam; Caravaggio, S. 64ff.

2. Darstellungen von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik

Kontraste bestimmten Umgang mit Licht und Schatten erinnert das Martyrium des Matthäus kaum zufällig an Bilder von Pieter Bruegel oder Hieronymus Bosch. Caravaggio erschließt einen Raum der Imagination, in dem deutliche Anzeichen der künftigen Entwicklung in Richtung Moderne hervortreten. Dennoch bleibt seine Malerei – bei aller Radikalität in den Bildfindungen – in spezifischer Weise traditionellen Kategorien des Denkens und Vorstellens verpflichtet. Der Angriff auf die überkommenen Glaubensgewissheiten wird aus einer Position vorgetragen, die in gewisser Hinsicht selbst noch in den Horizont des theologischen Denkens eingebettet ist. Deutlich wird dies anhand einer für die Struktur und Wirkung des Gemäldes konstitutiven Differenz. Man muss in jedem Fall zwischen zwei untereinander verklammerten Formen des Erschreckens unterscheiden: Auf der einen Seite handelt die Darstellung vom tiefen Entsetzen angesichts der Tötung des Matthäus, auf der anderen Seite artikuliert die Komposition den Schrecken, den das Subjekt ergreift, wenn Gott eine derartige Szene verlässt oder verlassen hat. Beide Formen des Erschreckens stehen im Verhältnis wechselseitiger Verstärkung: Der Mord erscheint umso fürchterlicher, als der Glaube an die göttliche Gnade verschwindet, und das Entsetzen über den Rückzug Gottes verstärkt sich in dem Maße, in dem das Subjekt mit Phänomenen brutaler Gewalt konfrontiert wird. Man kann von einem circulus vitiosus sprechen, der eine gewisse Resistenz theologischer Perspektiven auch jenseits des Glaubens an einen Weltschöpfer voraussetzt. Caravaggios Blick auf die Ereignisse, die sich in eine Art von Hölle verwandelt haben, bleibt bei aller Skepsis in den Raum des christlichen Humanismus eingeschlossen. Der Maler reflektiert nicht nur Strukturen physischer Gewalt, sondern tiefer noch das Entsetzen des Subjekts angesichts der Drohung einer entgötterten Welt, denn in einer solchen Welt haben die Opfer nichts mehr zu hoffen. Das Erschrecken, das er thematisiert, ist demnach nicht mit jenem Erschrecken zu verwechseln, das in der Ästhetik der Moderne nicht selten ohne Geist und Sinn immer wieder zelebriert und gefeiert wird. Heute besitzt die Ästhetik der Intensitäten lediglich die Funktion, Mechanismen des Reizschutzes im Dienste einer lustbesetzten Unterhaltung zu durchbrechen; von derartigen Verfahren war die große Malerei zur Zeit Caravaggios noch weit entfernt. Zeichen einer Erosion theologischer Deutungsmuster lassen sich selbst bei Peter Paul Rubens ausmachen, einem Maler, der zu den bekennenden Katholiken rechnete. Sein in den Jahren 1621/22 entstandener Engelsturz, der sich heute in der Alten Pinakothek in München befindet, liefert zunächst zentrale Motive katholischer Glaubenspolitik zu Beginn des 17. Jahrhunderts (Abb. 6).40 In dominanter Posi-

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Vergl.: Konrad Renger mit Claudia Denk, Flämische Malerei des Barock in der Alten Pinakothek, München und Köln: DuMont 2002; Eveliina Juntunen und Anna Pawlak: »Bellisimo et difficilimo« – Zur Ikonographie von Rubens’ Engelsturz in der Alten Pinakothek in München, in: Eveliina Juntunen/Zita Ágota Pataki (Hg.), Rubens im Blick. Ausgewählte Werke unter Re-visi-

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Abb. 6, Peter Paul Rubens, Engelsturz, 1621/22, Leinwand, 438 x 291,5 cm, Alte Pinakothek München.

tion agiert der mit Schild und Schwert auftretende Erzengel Michael, erwählter Schutzpatron der Kirche, der unter Mithilfe weiterer geflügelter Sendboten Gottes

on, Stuttgart: ibidem 2005, S. 15-47; Willibald Sauerländer: Der katholische Rubens. Heilige und Märtyrer, München: C.H. Beck 2011, S. 44ff.

2. Darstellungen von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik

den Teufel und seine Begleiter in die Unterwelt befördert.41 Gezeigt ist ein Akt höherer Gewalt, ein Strafgericht gegen die Mächte des Bösen, denen die vom wahren Glauben angeblich abgefallenen Protestanten zugerechnet wurden. Ziel des Auftraggebers war es, die eigenen Aktivitäten im Kampf gegen die konkurrierende Konfession durch den Hinweis auf einen durch Gott selbst ergangenen Auftrag zu untermauern. Das Bild, das Rubens lieferte, lässt sich dieser Glaubenspolitik jedoch keineswegs widerspruchsfrei zuordnen. Lieferte die Dämonisierung der Gegner in den konfessionellen Auseinandersetzungen die Rechtfertigung für die Rigidität und Erbarmungslosigkeit, mit der der Konflikt auf den Schlachtfeldern ausgetragen wurde, so zeigt sich diese Dämonisierung – in der Rubens’schen Weise ins Bild gesetzt – als doppelbödiges Mythologem. Der im Auftrag eines konvertierten Landesherren, des Herzogs Wolfgang Wilhelm, für eine Kirche im pfälzischen Neuburg entstandene Engelsturz legt – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – die inneren Probleme der theologischen Legitimationsstrategie offen. Symptomatisch ist zunächst die wirkungsästhetisch optimierte Darstellung der Dämonen im unteren Teil der Komposition. Was diese Figuren auszeichnet, ist ein hohes Maß an aufmerksamkeitsbindender Kreatürlichkeit, einer Empathie fördernden Vitalität, die den Agenten des Himmels sichtlich mangelt; nicht nur Gott, auch das ihm zur Seite stehende Personal wirkt verglichen mit den unterweltlichen Kontrahenten eher matt, kraftlos und formelhaft. Der in zentraler Position platzierte Erzengel erinnert an eine zum Schweben gebrachte Skulptur, die kaum über jene Kraft zu gebieten scheint, die nötig wäre, um die gestellte Aufgabe erfolgreich durchzuführen. Das ikonographische Programm des Bildes stößt an eine Grenze. In ihrer vitalen Präsenz laufen die Dämonen ihren göttlichen Widersachern den Rang des primär Darstellungswürdigen ab. Man könnte entgegnen, vergleichbare Phänomene ließen sich bereits in der älteren Kunst beobachten, in der Dämonen zuweilen prominente, aufmerksamkeitsheischende Positionen besetzten; an der Erhabenheit und Dominanz des Gottesreiches hätte dies nichts geändert. Dieses Argument sticht nur zur Hälfte. Festzuhalten ist zunächst, dass die in der Bildkunst eingesetzten Darstellungsweisen unterweltlicher Wesen einen Prozess der Evolution durchlaufen, in dem sich Rollen und Eigenschaften derselben verändern. Im frühen 17. Jahrhundert ist die Zeit einer glaubwürdigen Darstellung des Teufels und seines Gefolges zu Ende gegangen; das Rubens’sche Bild legt bewusst oder unbewusst von diesen Veränderungen Rechenschaft ab. Der Maler verschiebt das bildliche Interesse von den göttlichen Akteuren auf deren Kontrahenten: den Teufel, den Drachen mit seinen sieben tierischen Köpfen, die skurrilen Mischbildungen zwischen Menschlichem und Animalischem. Man

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Ursprünglich zeigte das Bild oben einen halbrunden Abschluss; das Bildformat wurde in späterer Zeit jedoch verändert.

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Abb. 7, Ausschnitt aus Abb. 6, Rubens, Engelsturz.

kann geradezu von einer der theologischen Orthodoxie zuwiderlaufenden Auferstehung des unterweltlichen Fleisches sprechen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass und in welcher Form affektive Zustände auf Seiten der stürzenden Kreaturen ins Spiel gebracht werden. Auffallend an der hellhäutigen Figur im unteren Teil der Tafel ist das erschreckte, angstverzerrte Gesicht einschließlich der weit aufgerissenen Augen, die dem nach unten blickenden Engel zugewandt sind (Abb. 7). In diesem Verdammten konzentriert sich ein Höchstmaß an Affekten, das der Ungerührtheit des Gottesboten deutlich entgegensteht. Unter der Hand offeriert der Maler einen gestürzten Dämon in der Rolle eines erschreckten und leidenden Opfers, das an das Mitgefühl auf Seiten des rezipierenden Subjekts appelliert. Hatte noch die vorhergehende Malerei die Dämonen als auszutilgendes Ungeziefer behandelt – man denke an den Sturz der gefallenen Engel von Pieter Bruegel42 –, so gewinnen sie bei Rubens eine Art von bestrickendem Dasein, das auf seine Weise Anteilname herausfordert. Damit ist die ins Bild gesetzte Unterwelt nicht schon moralisch legitimiert, sie streift aber den ihr in der Vergangenheit zukommenden Charakter des prinzipiell Unberührbaren ab. Das Verhältnis zwischen Gott, dem höchsten Richter, und dem zu Richtenden wird auf diese Weise verändert. Der Maler war bekennender Katholik; dennoch lieferte er mit diesem Altarwerk das Exempel einer Gesinnung, die mit bestimmten religionspolitischen Vorstellungen der Kirche nicht mehr bruchlos vereinbar war. Auch Martin Warnke macht auf eine entsprechende Distanz zwischen dem Maler und den verschärften Praktiken

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Vergl. Roger H. Marijnissen: Bruegel. Das vollständige Werk, Antwerpen: Mercatorfonds 2003, S. 180ff.

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der Gegenreformation aufmerksam. Im Kontext seiner Erörterung eines für Rubens wichtigen Buches von Hugo Grotius, einer »ebenso humanistisch, wie bereits aufklärerisch argumentierenden Schrift«, stellt Warnke fest: »Es fehlen noch Untersuchungen zum geistigen und theologischen Umfeld des Rubens, um ein endgültiges Urteil zu fällen, doch darf soviel als sicher gelten, daß er persönlich mit einer militanten Gegenreformation nichts gemein hat.«43 Die Rubens’sche Altartafel, die den Triumph der katholischen Kirche über die Protestanten zur Geltung bringen soll, bietet genau besehen eine subtile Absetzbewegung von einer maßlosen Verteufelung der Gegner, die mitverantwortlich war für die mit unnachgiebiger Härte ausgetragenen Glaubenskämpfe. Dem dient auch das in der Komposition offensiv eingesetzte Mittel der Ironie. In seiner malerischen Durchführung zeigt der Komplex stürzender Dämonen unübersehbar Züge des Burlesken und Komödiantischen, die ungeachtet des an sich ernsten Hergangs Heiterkeit auszulösen vermögen. Man könnte auch hier entgegnen, bereits die alte Kunst hat die Dämonen nicht selten mit entsprechen Zügen ausgestattet. Dies ist zweifellos richtig, doch im vorliegenden Fall wird das Burleske in Richtung des diesseitigen Lebens verschoben; es gewinnt dabei eine Form von kreatürlicher Unschuld. Tritt man ein Stück weit zurück und betrachtet das Bild aus der Perspektive moderner Wissenschaften, so fühlt man sich an Vorstellungen der Psychoanalyse erinnert. Die in der Komposition präsentierte Hierarchie lässt an das Freud’sche Modell des psychischen Apparats denken, in dem die Instanzen des Es, des Ich und des Über-Ich in konfliktträchtiger Weise interagieren. Zwischen den Ansprüchen Gottes (Über-Ich) und den dämonischen Kräften (Es) steht der gepanzerte Engel (Ich), der die göttlichen Ratschlüsse gegen die dunklen Triebe zu verteidigen hat. Der Freud’schen Lesart zufolge kennt der Kampf zwischen den Instanzen kein Ende und auch die Rubens’sche Tafel votiert in vergleichbarer Form. Rechts unten, neben dem erschreckt blickenden Teufel, zeigt sich ein eher gelassen sich gebender Gnom, eine Figur aus dem Kreis der Bacchanten, die Rubens in anderen Kompositionen mit erheblicher Sympathie bedachte; das mythische Wesen wartet offenbar ab, bis das himmlische Donnerwetter vorübergezogen ist und es sich erneut seinen Freuden hingeben kann. Rubens erweist sich als Skeptiker im Hinblick auf den Sinn und die Legitimität theologisch verordneter Strafgerichte; er rechnet mit einer Natur des Menschen, die den Forderungen der Kirche nur mit Einschränkungen zu unterwerfen ist. In diesem Sinne partizipiert sein Werk an der allgemeinen Bewegung der Aufklärung. Doch der Maler wirft nicht nur einen distanzierten Blick auf das Verhältnis des Subjekts zur Theologie, er macht zugleich

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In diesem 1627 erschienenen Buch von Grotius mit dem Titel De veritate Religionis christianae versucht der Autor, eine »gemeinsame Grundlage für die Konfessionen auch mit einer Rückbesinnung auf die Urgemeinde zu erarbeiten«. Martin Warnke: Rubens. Leben und Werk, Köln: DuMont 2006, S. 59.

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darauf aufmerksam, dass der blinde Zorn der Institution gegenüber Abweichlern prekäre Folgen nach sich ziehen kann.

Abb. 8, Peter Paul Rubens/Frans Snyders, Haupt der Medusa, um 1617-18, Öl auf Leinwand, 68,5 x 118 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum.

In den Jahren 1617/18, also noch vor dem Ausbruch des dreißigjährigen Krieges, entstand in Kooperation mit Frans Snyders seine kleinere Tafel mit dem abgeschlagenen Haupt der Medusa (Abb. 8).44 Der Maler zeigt sich hier nicht – wie noch Caravaggio – an der listigen Tat des Perseus interessiert, der ein spiegelndes Schild benutzte, um die riskante Tat auszuführen; er richtet den Blick vielmehr auf die Konsequenzen der Enthauptung.45 Der im Erschrecken erstarrten Miene der Gorgo – die nebenbei an das schmerzverzerrte Gesicht des Dämons aus dem Engelsturz erinnert – kontrastieren die aus ihren Haaren wachsenden Schlangen, die von der Tötungsprozedur unberührt bleiben und nun offenbar in ein ungebundenes Dasein entlassen werden. Bemerkenswert sind vor allem die mit akribischer Sorgfalt dargestellten Blutstropfen, aus denen sich weitere Reptilien entwickeln. Die Tötung des Dämons setzt nicht nur die Nattern in seinen Haaren frei, sondern bildet zugleich die Voraussetzung ihrer exzessiven Vermehrung. Der Maler, der hier dem Text aus den Metamorphosen des Ovid folgt, macht auf eine fatale Dialektik in der mythischen Erzählung aufmerksam. Im Text heißt es: »Und wie er über den Sand von Libyen schwebte, der Sieger,/Fielen vom Haupte der Gorgo die 44 45

Vergl. Nils Büttner/Ulrich Heinen (Hg.): Peter Paul Rubens. Barocke Leidenschaften, München: Hirmer 2004, S. 222ff. Die mythische Figur der Medusa, die Schlangen im Haar hatte, verfügte bekanntlich über die Fähigkeit, Menschen allein durch ihren Blick zu versteinern. Perseus griff zu einer List; er benutze einen blankpolierten, spiegelnden Schild, um den Dämon zu enthaupten. Vergl. Christoph Wetzel: Ovids Metamorphosen und die bildende Kunst, Stuttgart: Reclam 2016, S. 152ff.

2. Darstellungen von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik

blutigen Tropfen hernieder,/Welche der Boden empfing und zu bunten Schlangen belebte;/Darum ist jenes Gebiet von Nattern bewohnt und/gefährdet.«46 Perseus konnte zwar dem Leben der Medusa ein Ende setzen, doch die mit ihr im Bunde stehenden Schlangen leben nicht nur weiter, sondern vermehren und verteilen sich über das gesamte Land. Rubens sah in der Tötung des Dämons offenbar nicht die Lösung eines Problems, sondern den Beginn tiefer greifender Verwerfungen; er wusste offenbar, dass man Dämonen oder Akteure, die man für solche hält, nicht ungestraft zur Strecke bringen kann, denn sie haben Wiedergänger, die die Täter heimsuchen. So ist die gefeierte List des Perseus genau besehen eine kurzsichtige Dummheit. Der Maler kündigt, so scheint es, dem antiken Helden den Respekt, der ihm allenthalben entgegengebracht wurde. Übertragen auf den unversöhnlichen Konflikt der Konfessionen kann dies nur heißen: Gewalt sät nicht nur weitere Gewalt, sondern bringt den menschlichen Lebensraum selbst zum Einsturz. Der dreißigjährige Krieg ließ diese Einsicht zur grausamen Wirklichkeit werden. Durch den bereits seit Jahrzehnten in den Niederlanden tobenden achtzigjährigen Krieg, in welchem die spanische Inquisition gegen die Protestanten aktiv war, hatte der Maler ausreichendes Anschauungsmaterial. Im Engelssturz von Rubens geraten die der Kunst diktierten klerikalen Deutungsraster in Bewegung. Die entscheidende Differenz zwischen Ober- und Unterwelt beginnt zu erodieren; es ist nicht mehr eindeutig und zweifelsfrei auszumachen, auf welcher Seite das Gute und das Böse lokalisiert ist. Der Maler, der durchaus Distanz gegenüber den Deutungsansprüchen der Kirche entwickelte, hat sich kaum zufällig auch der Sphäre heidnischer Mythologien zugewandt. Hier findet er anders gelagerte Perspektiven auf die Voraussetzungen und Implikationen von Phänomenen der Gewalt. Bemerkenswert ist in diesem Kontext Die Amazonenschlacht, ein der griechischen Sagenwelt verpflichtetes Historiengemälde, das kurz vor dem Ausbruch des dreißigjährigen Krieges entstanden ist (Abb. 9).47 Das dargestellte Geschehen präsentiert sich in Form von flächenübergreifenden Bewegungsströmen, in welchen die beteiligten Akteure kaum gestalthafte Autonomie und Selbständigkeit gewinnen. Die kämpfenden Männer und Frauen, einschließlich der Pferde, die ein gleichberechtigtes Auftreten haben, fungieren als Repräsentanten einer grenzüberschreitenden Dynamik, die sämtliche Akte trägt und organisiert.48 Aufgenommene Pathosformeln treten dabei als temporäre Zustände 46 47

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Ovid (P. Ovidius Naso): Metamorphosen. Epos in 15 Büchern, Stuttgart. Reclam 2017, S. 143 (Viertes Buch, 615ff.). Das 1618 vollendete Gemälde, das sich heute in der Alten Pinakothek in München befindet, knüpft unter anderem an das Fresko der Schlacht an der Milvischen Brücke von Giulio Romano an, kommt jedoch zu gänzlich anderen Lösungen. In diesem Sinne äußert sich auch Theodor Hetzer, der an einer Stelle bemerkt, dass es bei Rubens »Kräfte gibt, die über den Menschen hinaus das Bild und damit die Welt bestimmen, Kräfte, die vom Menschen Besitz ergreifen. […] Es ist ein Überschuss allgemeiner Bewegungs-

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Abb. 9, Peter Paul Rubens, Amazonenschlacht, um 1618, Holz, 120,3 x 165,3 cm, Alte Pinakothek München.

energetischer Prozesse in Erscheinung. Auf dem Boden eines spezifischen malerischen Stils zeigt das Gemälde den Krieg der Geschlechter als Ausfluss einer allgegenwärtigen Vitalsphäre, die sämtliche Wesen und Dinge durchdringt. Dies hat Konsequenzen für die Handlungsmacht des Einzelnen: Weil sich in seiner Tätigkeit Impulse durchsetzen, die ihm aus dem Hintergrund seines partikularen Daseins zuwachsen, bleibt er ein Getriebener. Die Amazonenschlacht nähert sich einer Position, die die Eigen- oder Selbständigkeit der Individuen als Illusion behandelt; sie bietet die Phantasmagorie eines schicksalhaften Ereignisses, in dem die Beteiligten wie in Trance dem Geschäft der Tötung der Feinde nachgehen; niemand, der hier gezeigt wird, ist im vollen Sinne bei sich; in allen vollstreckt sich ein namenloses Streben. Im Hintergrund der Rubens’schen Darstellung steht ein in der frühen Neuzeit verbreitetes pantheistisches Denken, das die gesamte Natur als einen im Kern beseel-

tendenzen vorhanden, der sich nicht in die Geschlossenheit und Plastik des Körperlichen einfangen lässt […].« Theodor Hetzer: Rubens und Rembrandt, Stuttgart: Urachhaus 1984, S. 128 u. 129.

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ten Organismus begreift.49 Der Maler dürfte hier nicht zuletzt Motive der Philosophie der antiken Stoa aufgenommen haben, die in ihren Ideen von einem kosmischen Pneuma, einem durch alle Dinge hindurchgehenden Lebenshauch, pantheistischen Vorstellungen den Weg ebnete.50 »Das Pneuma«, so Maximilian Forschner, »das das materielle Universum durchdringt, bindet dieses zu einer organischen Einheit zusammen und begründet die Interdependenz und Kommunikation aller Teile (=sympatheia) ebenso wie die Selbstempfindung des Ganzen. Das Pneuma ist die (göttliche) Seele des Kosmos.«51 Entsprechende Vorstellungen lassen sich auch den Rubens’schen Landschaftsbildern entnehmen, die selbst die Sphäre der Mineralien und Pflanzen als Schauplatz vitaler Energien präsentieren.52 Dass sich in der Malerei von Rubens pantheistische Motive reproduzieren, ist deshalb von besonderem Interesse, weil sich in seiner Zeit die moderne Naturwissenschaft etabliert, die traditionelle Formen der Metaphysik und Naturphilosophie verabschiedet. Mit Descartes und Newton tritt das mechanistische Weltbild auf den Plan, in dem der Kosmos als ein unbelebtes, präzise konstruiertes Uhrwerk begriffen ist, das mit den Mitteln der empirischen Beobachtung, des Experiments und der Mathematik aufgeschlüsselt werden kann.53 Die mechanistische Wende hat Konsequenzen für die Beschreibung natürlicher Bewegungen, für den Begriff der Kraft und damit für 49

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Beispielgebend sind hier unter anderem etwa Leonardo, Agrippa und Bruno, die unter anderem auf antike Vorstellungen zurückgreifen. Zur Naturphilosophie der frühen Neuzeit vergl. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 205ff. u. 352ff. Die Philosophie der Stoa war dem Maler nicht zuletzt durch Justus Lipsius bekannt. Rubens hat sich wie man weiß mit seinem Bruder, einer weiteren Person und Justus Lipsius gemeinsam auf einem Gemälde dargestellt. Vergl.: Martin Warnke, Rubens, S. 85ff. Maximilian Forschner: Die Philosophie der Stoa. Logik, Physik und Ethik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2018, S. 117; vergl. zum Begriff des Pantheismus auch S. 93ff. Vergl. Jutta Held/Norbert Schneider: Sozialgeschichte der Malerei vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Köln: DuMont 1993, S. 103ff. Ernst Cassirer hat den Übergang vom alten Verständnis von der Natur als einem beseelten Organismus zum mechanistischen Weltbild eindrucksvoll beschrieben: »Der geschichtliche Gang des Denkens geht nicht von einem mechanischen Bilde des Alls aus, dem die Phantasie nachträglich Leben und Beseelung verliehe; vielmehr ist die ursprüngliche konkrete Einheitsanschauung, die Bewegung und Leben in Eins setzt, die Vorbedingung, aus der durch wissenschaftliche Analyse und Sonderung der Begriff des Mechanismus gewonnen wird.« Mit dem Auftritt der modernen Naturwissenschaft vollzieht sich dann folgender Prozess: »Kraft und Seele, die zuvor synonym als Bezeichnungen und Unterarten derselben logischen Gattung gebraucht wurden, treten […] als begriffliche Gegensätze einander gegenüber. Und derselbe Gedanke spricht sich in verändertem Ausdruck aus, wenn die ›geistige‹ Wirksamkeit von der ›natürlichen‹ scharf geschieden und diese letztere einem eigenen Prinzip und einer selbständigen Gerichtsbarkeit unterstellt wird.« Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Erster Band, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 209 u. 354.

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die Darstellung und Interpretation von Gewalt in Bildern. Der Maler schlägt diesen Weg nicht ein, sondern positioniert sich auf Seiten einer traditionsorientierten Naturlehre, für die die Grenze zwischen dem Belebten und dem Unbelebten noch nicht genau gezogen war. Er präsentiert die Akte der Destruktion als Produkt eines den Menschen ergreifenden Furors, einer aus dem Inneren der Dinge aufsteigenden Energie und nicht als intentional gesteuerte Freisetzung eines mechanischen Kraftquantums. So erscheint der Krieg als metaphysisches Ereignis, als Produkt einer Natur, welche divergierende Instanzen hervortreibt, die gegeneinander antreten. Ein Vorbild für diese Idee lieferte Leonardos Schlacht bei Anghiari, eine dramatisch bewegte Darstellung kämpfender Reiter, die Rubens bekanntlich in einer Zeichnung in Kooperation mit einem anderen Künstler kopierte (Abb. 10).54 Von besonderem Interesse sind in diesem Blatt die aneinanderstoßenden Köpfe zweier Pferde, die sich wie in einem Vexierbild zu einer einzigen, von Leid gezeichneten Physiognomie zusammenfügen; unbemerkt durch die Kämpfenden, macht dieses wie zufällig auftretende Gebilde die latenten Implikationen des gewaltsamen Zusammentreffens erkennbar. Es ist ein Widerstreit im Inneren der einen Natur, die dem Geschehen zugrunde liegt und den Kampf als ein im Grunde widersinniges Phänomen erscheinen lässt. Später hat Arthur Schopenhauer in seiner an pantheistischen Vorstellungen anknüpfenden Metaphysik diesem Motiv noch einmal zur Geltung verholfen. Seine Rede vom Weltwillen, der sich in sich selbst entzweit, kann durchaus als ein Kommentar zu Leonardos Bildidee verwendet werden.55 Rubens hat in seiner mit einem anderen Künstler angefertigten Kopie der Darstellung der Schlacht bei Anghiari das Motiv der Spaltung der einen Substanz in besonderer Weise akzentuiert. Seine später entstandene Amazonenschlacht antwortet auf das Leonardo’sche Vorbild mit leicht modifizierten Implikationen, denn es sind Frauen und Männer, die hier aufeinandertreffen. Man erinnert sich an den Platonischen Mythos der Entstehung der Geschlechter, die einem übergeschlechtlichen Wesen entstammen, das in zwei Hälften zerlegt wurde, die sich nun auf ewig suchen müssen.56 An die Stelle ihrer wechselseitigen Annäherung durch die Kräfte des Eros lässt der Maler den Konflikt treten; er zeigt, dass sich das im Kern Zusammengehörende auf das Schärfste bekämpfen kann. Darstellungsstrategisch

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Vergl. Frank Zöllner: Leonardo da Vinci 1452 – 1519, Band I, Sämtliche Gemälde, Köln: Taschen 2011, S. 164ff. »So sehen wir in der Natur überall Streit, Kampf und Wechsel des Sieges, und werden eben darin weiterhin die dem Willen wesentliche Entzweiung mit sich selbst deutlicher erkennen […] Durch die gesamte Natur lässt sich dieser Streit verfolgen, ja, sie besteht eben wieder nur durch ihn […] (denn wenn der Streit nicht den Dingen innewohnte, so würde alles Eines sein, wie Empedokles sagt) Aristoteles, Metaph. B., 5.« Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Erster Teilband, Zürich: Diogenes 1977, S. 197f. Platon: Symposion, in: Sämtliche Werke 2, Hamburg: Rowohlt 1957, S. 221.

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Abb. 10, Peter Paul Rubens und ein unbekannter Künstler, Kopie nach Leonardo da Vinci, Anghiarischlacht, vor 1550 und um 1603, Schwarze Kreide, Feder, Tinte, gehöht mit Bleiweiß, überarbeitet mit Wasserfarbe, 452 x 637 mm, Paris, Musée du Louvre.

widersprechen die wütenden Gesten der Figuren im Bild nur scheinbar einem metaphysischen Interesse, das unterhalb der auf der Oberfläche der Erscheinungen sichtbaren Brüche und Dissonanzen die Einheit der Dinge freilegen möchte. In jedem Fall schildert der Maler den Krieg als blinden Exzess und nicht als Schauplatz eines an rationalen Zwecken orientierten Handelns freier, selbstbewusster Individuen. Dem kontrastiert die Tatsache, dass sich das Geschehen bei aller inneren Bewegtheit in ästhetisch sublimierter und das heißt konfliktentschärfender Form darstellt; den beschworenen Dissonanzen auf der Ebene der Figuration treten Praktiken der Harmonisierung und des Ausgleichs durch die malerische Textur, das Spiel der Farbe und die geometrische Disposition des Ganzen entgegen. Auf die Neigung zu einer kontemplativen Ruhe und damit zur Aufrechterhaltung entsprechender Wahrnehmungsdistanzen in der Rubens’schen Malerei – speziell auch in der Amazonenschlacht – weist bereits Jacob Burckhardt hin: »In momentan sehr mächtigen Kompositionen«, so der Autor, »genießt der Beschauer, zunächst unbewußt, neben der stärksten dramatischen Bewegung, eine geheimnisvolle optische Beruhigung, bis er innewird, daß die einzelnen Elemente jener nach Kräften verhehlten Symmetrie, ja einer mathe-

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matischen Figur untertan sind […] In der ›Amazonenschlacht‹ dominiert schon die gewölbte steinerne Brücke als ruhige mathematische Form über das ganze Getümmel […].«57 Die Voraussetzungen für die von Burckhardt so genannte geheimnisvolle optische Beruhigung liegen offenbar wiederum in der Annäherung des Malers an Motive der stoischen Philosophie.58 Man kann sagen, die im Stoizismus geforderte Bändigung starker Affekte und die Herstellung des dort intendierten Seelenfriedens würden in der Amazonenschlacht, wie auch in anderen Bildern des Malers, in eine spezifische Form ästhetischer Kontemplation übersetzt. Wer sich in den kompositorischen Organismus vertieft, ist aufgerufen, eine innere Distanz zu den präsentierten Ereignissen und damit zugleich Abstand zu bestimmten Spielarten des eigenen Begehrens zu entwickeln. Dabei ist der erreichte Zustand der Ruhe angesichts des Geschauten keineswegs frei von Emotionen; das stoische Ideal der Apathie meint nicht, wie verschiedentlich unterstellt, einen Zustand purer Gefühllosigkeit, sondern eine geläuterte Verfassung des Subjekts, die frei ist von falschen, der seelischen Gesundheit abträglichen Affekten.59 Eine dem Stoizismus sich annähernde ästhetische Kontemplation kann durchaus mit bestimmten Formen des emotionalen Berührtseins verknüpft sein.60 Bei Rubens, der diesen Weg beschreitet, nimmt das Bild den Charakter eines Erkenntnismediums an, das das Innere der Dinge an der Oberfläche der Erscheinungswelt offenlegt; Malerei präsentiert sich als Spielart der Metaphysik. Dass die in dieser Weise in den Blick gerückte Natur zugleich über ästhetische Eigenschaften verfügt, die mit einer entsprechenden Lust aufgenommen werden können, ist bereits durch Denker der Stoa hervorgehoben worden. Entsprechenden Äußerungen zufolge fungiert das Schöne und Zweckmäßige in

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Vergl. Jacob Burckhardt: Rubens, Wien-Leipzig: Bernina 1937, S. 63f. Vergl. Ulrich Heinen: Peter Paul Rubens. Barocke Leidenschaften, in: Nils Büttner/Ulrich Heinen (Hg.), Peter Paul Rubens, S. 31ff. »Missverständlich wäre«, so Maximilian Forschner, »den zentralen Terminus ›pathos‹ einfach mit ›Gefühl‹ beziehungsweise ›Emotion‹ zu übersetzen und das stoische Ideal der Apathie mit Gefühllosigkeit zu verbinden. Unter pathe versteht die Stoa falsche Gefühle und Impulse, also Affekte, und stellt sie den richtigen Gefühlen, den eupatheiai gegenüber. Nicht für Gefühllosigkeit, sondern für philosophische Aufklärung und Prävention, für Heilung und Befreiung von falschen Gefühlen und Impulsen plädiert die Stoa.« Forschner: Die Philosophie der Stoa, S. 225. Hier ist Martin Warnke zu widersprechen, der die Auffassung vertrat, Rubens habe sich vom stoischen Ideal der Apathie abgewandt: »Auch Rubens hat sich ausdrücklich gegen die stoische Apathie und teilnahmslose Seelenruhe gewandt.« Martin Warnke: Rubens, S. 88. Vergl. dazu auch: Willehad Paul Eckert O. P., Die Darstellung der Affekte im Werk des Peter Paul Rubens, in: Ingrid Craemer-Ruegenberg (Hg.), Pathos, Affekt, Gefühl, Freiburg/München: Karl Alber 1981, S. 103-129.

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den Bildungen des Kosmos als Ausdruck göttlicher Vernunft: »Die Stoa verwies«, so Maximilian Forschner, »[…] bevorzugt auf konkrete Ordnungsmuster, auf Beispiele komplexer, schöner, gewaltiger und zweckmäßiger Naturphänomene, die Gefühle des Staunens, der Bewunderung, der Scheu, der Ehrfurcht und Dankbarkeit erwecken. Das Göttliche, so ihre dabei leitende Idee, ist zwar nicht direkt fassbar, wohl aber seine unverkennbare Manifestation in den Phänomenen der Natur.«61 Die Amazonenschlacht, die keine christliche Erlösungsperspektive eröffnet, präsentiert den Kampf der Geschlechter als Ausfluss eines im Inneren beseelten Kosmos. Das Bild liefert zugleich eine Antwort auf das auch unter diesen Bedingungen drängende Problem des Todes. Eine Schlüsselrolle spielen dabei die beiden links im Vordergrund am Abhang liegenden weiblichen Opfer, die der Maler einem Darstellungsprozess unterwirft, der das Sterben ein Stück weit entdramatisiert. Die ins Gewässer hinabreichenden Arme und Haare der Leichen verwandeln sich in vegetabile Wurzelstränge, das heißt, die Seelen der Verstorbenen wenden sich zu den inneren Quellen der Natur zurück. Man fühlt sich bei diesem Detail an die Geschichte von Apoll und Daphne aus den Ovid’schen Metamorphosen erinnert, in welcher eine vergleichbare Verwandlung der Finger der Flüchtenden in entsprechende Strukturen stattfindet.62 Durch diesen Kunstgriff verleiht der Maler dem martialischen Geschehen Züge des Versöhnlichen. Entsprechendes gilt für die beiden vorn im Wasser befindlichen Amazonen, die ebenso in einer heiteren Darstellung von Badenden hätten platziert werden können. Das Sterben, so die hier lancierte Vorstellung, stellt kein reines Verschwinden dar, es bildet keine absolute Zäsur im Daseinsgefüge, sondern zeigt sich als ein Prozess der Zustandsänderung in einem System vitaler Übergänge und Korrespondenzen. Rubens bleibt bei den Akten der Zerstörung nicht stehen, sondern liefert zugleich eine Perspektive, die dem Subjekt angesichts des Schreckens Trost zu spenden vermag, denn die Natur nimmt die geschundene Seele mütterlich in sich zurück. Die Amazonenschlacht, die neben pantheistischen Motiven auf mythisches Gedankengut zurückgreift, offeriert eine zyklische Ordnung, die jenseits des Raums einer profanen Geschichte platziert ist, die seit dem Zeitalter der Aufklärung in den europäischen Gesellschaften das

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Forschner: Die Philosophie der Stoa, S. 155. In den Metamorphosen des Ovid wird die Leidenschaft Apollons für Daphne beschrieben, die sich seinem Ansinnen durch Cupidos Hilfe, Mittels ihrer Verwandlung in pflanzliches Gewächs, entziehen kann. Der italienische Barockkünstler Bernini hat dieses Motiv bekanntlich in einer Skulptur dargestellt. Vergl. Christoph Wetzel: Ovids Metamorphosen und die bildende Kunst, Stuttgart: Reclam 2016, S. 105ff.

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Denken zu beherrschen beginnt.63 Der Tod besetzt in diesem Gemälde die Einbildungskraft in einer Weise, die dem modernen Subjekt fremd geworden ist, denn hier regieren noch Formen der alten Metaphysik und Mythologie, die der Gewalt und dem Sterben einen spezifischen Sinn unterlegen. Wo die alte Ordnung verschwindet, stellt sich der Tod als ein sinnentleertes Ereignis dar, als ein spurloses Verlöschen der Seele, denn die in dieser oder jener Weise beseelte Natur hat sich vom Schauplatz der Ereignisse zurückgezogen. Rubens macht nicht den Versuch, das Reale einer Schlacht ins Bild zu setzen, sondern bietet eine pantheistische Phantasmagorie, die den Schrecken entfesselter Gewalt ebenso beschwört wie abfedert und das heißt in eine kontemplative Distanz befördert. Entscheidend ist die rhythmische Gliederung der Massen, die Verschleifung der Konturen und Ränder der auftretenden Gestalten, die bewegten Texturen des Pinsels sowie der Umgang mit dem Medium der Farbe. Anders noch als in der Renaissance, in der sich die Komposition als ein Arrangement relativ selbständiger Einheiten darstellte, arbeitet die Malerei nun mit einem integrierten Bildraum, in dem alle kompositorischen Glieder als Attribute einer einheitlichen Substanz auftreten können. Heinrich Wölfflin hat dies bekanntlich als einen Übergang vom Prinzip der Vielheit zum Prinzip der Einheit beschrieben.64 An die Stelle selbständiger Lokalfarben tritt ein komplexes Spiel von Korrespondenzen, Übergängen und Verwandtschaften zwischen den beteiligten Farbtönen. Auf diesem Boden errichtet der Maler eine entsprechende Ökonomie von Stimmungen und Gefühlslagen, die keineswegs, wie verschiedentlich unterstellt, psychischen Phänomenen alltäglicher Art entsprechen. Dem Bild, das eine spezifische Sicht auf die Welt der Handlungen und Dinge eröffnet, korrespondiert ein entsprechender Emotionsraum, eine emergente Ordnung der Empfindsamkeit, die allein in der Wahrnehmung des Bildes ihren Ort hat. In diesem Sinne besitzen nicht nur Werke, sondern auch deren Rezeptionsformen artifiziellen Charakter. Als Maler fluider Zustände verfügt Rubens über elaborierte Strategien der Modellierung, der Umformung, Dämpfung und Stillstellung unterschiedlichster emotionaler Zustände. Wo Gewalt in den Fokus der Aufmerksamkeit tritt, ist sie Objekt kalkulierter Reaktionsbildungen, eines ästhetischen Kalküls, das den Betrachter am Ende versöhnlich zu stimmen vermag. Der Schrecken, den ein Sujet auslösen kann, wird durch ein Spiel formaler Operationen aufgefangen und bearbeitet, um in eine von Ruhe und Gelassenheit geprägte Stimmungslage überführt zu werden.

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Zur Idee zyklischer Weltbilder im Mythos vergl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2, Das mythische Denken, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, S. 137ff. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, Basel/Stuttgart: Schwabe & Co. 1970, S. 181-214.

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IV. Vergleichbare Implikationen finden sich in einem Spätwerk von Nicolas Poussin, einem großformatigen Gemälde mit dem Titel Landschaft mit Pyramus und Thisbe, das auf eine Geschichte aus den Metamorphosen des Ovid Bezug nimmt (Abb. 11). Das literarische Thema ist zunächst geeignet, als tragische Posse zu gelten: Pyramus geht von der – wie sich herausstellt – irrigen Annahme aus, seine Geliebte Thisbe sei von einem Löwen getötet worden und nimmt sich aus Gram selbst das Leben. Im Vordergrund des Bildes liegt der Sterbende, der von Thisbe aufgefunden wird.65 In einer gewissen Entfernung erkennt man einen Löwen, der über das Pferd eines stürzenden Reiters hergefallen ist, während demselben ein anderer, mit einer Lanze bewaffneter Reiter zur Hilfe eilt. Hirten versuchen indessen, ihre Tiere in Sicherheit zu bringen; weitere, ebenfalls vor Ort befindliche Personen haben die Flucht ergriffen. Obwohl die im Bildraum sich verteilenden Figuren als Träger situationsspezifischer Affekte auftreten – auffallend ist das mehrfach wiederholte Motiv des emporgerissenen Armes –, liegt das Hauptgewicht des Ausdrucks dennoch auf der von Architekturen durchsetzen Landschaft, in der ein Gewitter aufgezogen ist. Der Maler zeigt eine düster-melancholische Szenerie, in der das die Liebenden treffende Unglück als Teil eines weitergreifenden Geschehens fungiert. Der Blitz, der in den an zentraler Stelle platzierten Baum einschlägt und damit einen seiner Äste vom Stamm abspaltet, präsentiert sich als Ausdruck einer in der Natur selbst verankerten Schicksalsordnung, der auch Pyramus zum Opfer fällt. Thema ist ein plötzlich und unerwartet auftretendes Ereignis, ein in die Abläufe des Lebens einbrechender Augenblick, durch den nichts so bleibt wie es war. Im selben Moment, in dem der Ast zu Boden sinkt, sieht sich Thisbe mit ihrem am Boden liegenden Geliebten konfrontiert. Die gesamte Komposition kehrt die affektiven Zustände der Beteiligten nach außen; in berührender Weise bieten die vom Sturm gebeugten Bäume ein Bild der von Angst geschüttelten Seelen, die vor der Bedrohung erschreckt zurückweichen. Wie schon Caravaggio befasst sich Poussin mit einem in die Ordnung des menschlichen Daseins einbrechenden Ereignis, das den Ablauf der Zeit zum Zerreißen bringt; durch eine hier und jetzt sich entladende Dynamik öffnet sich ein in den Raum des Lebens nicht integrierbarer Abgrund.66 Doch dieses Motiv bildet nur einen Teil einer komplexeren temporalen Struktur. Mit vergleichsweise zurückhaltenden Mitteln ins Bild gesetzt, tritt im Verlauf des Rezeptionsgeschehens

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»Während sie zaudert, bemerkt sie am blutigen Boden die Glieder/Zittern und zucken; da prallt sie zurück; ihr Gesicht wird noch/bleicher/Als das Holz des Buchsbaums; sie schaudert, dem Meere vergleichbar,/Welches, von fächelnder Brise gestreift, an der Fläche erzittert.« Ovid (P. Ovidius Naso): Metamorphosen, S. 124 (132ff.). Vergl. Heinrich Theissing: Die Zeit im Bild, S. 95.

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Abb. 11, Nicolas Poussin, Landschaft mit Pyramus und Thisbe, 1651, Öl auf Leinwand, 192,5 x 273,5 cm, Frankfurt a.M., Städelsches Kunstinstitut.

der Riss im Daseinsgefüge immer wieder in den Hintergrund. Bedingt durch die malerische Behandlung der Landschaft, in der neben scharfen Kontrasten feinste Übergänge zwischen Tonwerten auftreten, vollzieht sich eine Absenkung der Kraft der ins Bild gesetzten Katastrophe. Die Potentiale der Bedrohung werden angerissen und zugleich entschärft; ein komplexes System von untereinander kommunizierenden Farbvaleurs federt das Grauen ab, bremst die Dynamik der evozierten Affekte und lässt sie sukzessive auslaufen. Was sich unter diesen Bedingungen konstituiert, sind Zustände, die zwischen der Ahnung des Nichts auf der einen und Prozessen ästhetischer Versöhnung auf der anderen Seite wechseln. Das flächenbestimmende Gefüge farblicher Kontraste, Verwandtschaften und Übergänge knüpft den zerrissenen Zeitfaden wieder zusammen. Zeit ist jedoch auch hier nicht die profane, alltägliche Zeit, sondern eine der ästhetischen Wahrnehmung eigene Temporalität. Ausgehend von einem punktuellen Ereignis, präsentiert sich das Gemälde als Schauplatz eines nicht stillstehenden Werdens, das unübersehbar Eigenschaften musikalischer Strukturen zeigt. Poussin hat zur Beschreibung der Logik seiner Malerei selbst auf einen für die Theorie der Musik bedeutsamen Begriff Bezug genommen. In einem viel diskutierten Brief hebt er hervor, dass Bilder einem je spezifischen Modus folgen müssten, einer Grund-Tonart, die dem Charakter des dargestellten Gegenstandes angemessen

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sei.67 Unterschiedlichen Modi entsprächen unterschiedliche Stimmungslagen und Affektmuster; sie implizieren Prinzipien von Maß und Form und garantieren auf diese Weise einen gemäßigten, systemsprengende Extreme vermeidenden Umgang mit dem Motiv. »Dieses Wort Modus«, so sagt der Maler, »bedeutet eigentlich Grund-Tonart oder Maß und Form, deren wir uns bei einer Schöpfung bedienen, die uns vor Überschreitungen bewahrt, indem sie uns zwingt, gewissermaßen alles auf ein mittleres Maß und zu Mäßigung abzustimmen, und dabei ist solches Mittelmaß, solche Mäßigung nichts anderes als eine besondere Art oder eine bestimmte Feste Ordnung, bei deren Anwendung der Gegenstand sein Wesen bewahrt.«68 Es handelt sich um selektive Programme, einen Satz von Regeln, die festlegen, in welcher Art und Weise ein Gegenstand darzustellen ist. Im Hintergrund steht die Vorstellung von einer Struktur des Werks, in der sämtliche Elemente zu einer übergreifenden Einheit zusammentreten.69 Im kompositorischen Gefüge des Gemäldes von Pyramus und Thisbe, das dem lydischen Modus nahesteht, fehlen dabei keineswegs Spannungen und Dissonanzen.70 Man hat es nicht mit einer ungetrübten Harmonie zu tun, sondern mit austarierten Verhältnissen, die von der Brüchigkeit des Daseinsgefüges Auskunft geben. Die Ganzheit, die sich hier konstituiert, ist an die Freisetzung von Konfliktpotentialen gekoppelt, die den Operationen der Vermittlung allererst jene Strahlkraft geben, die das Subjekt in besonderer Weise zu affizieren vermag. In diesem Sinne argumentiert auch Bernhard Stumpfhaus in seinen Überlegungen zur Umsetzung des Moduskonzepts bei Poussin, die er mit entsprechenden Kompositiontechniken bei Claudio Monteverdi vergleicht: »So formuliert beispielsweise Monteverdi in dem Vorwort zu den Madrigali guerrieri ed amorosi, daß sich im Kontrast

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Poussin stützte sich auf Zarlinos Istituzioni harmoniche, eine musiktheoretische Arbeit, die im Jahre 1589 erschien. Vergl. Oskar Bätschmann: Dialektik der Malerei von Nicolas Poussin, München: Prestel 1982, S. 48; vergl. auch Jan Bialostocki: Das Modusproblem in den bildenden Künsten. Zur Vorgeschichte und zum Nachleben des »Modusbriefes« von Nicolas Poussin; in: ders., Stil und Ikonographie. Studien zur Kunstwissenschaft, Köln: DuMont 1981, S. 12-42. Nicolas Poussin, zitiert nach: Bialostocki, ebd., S. 23. Oskar Bätschmann spricht im Hinblick auf den Modus von einer »passion des zusammengestellten Ganzen, er (der Modus, H.Z.) entsteht durch die Entwicklung und Entfaltung der Thematik in die verschiedenen Dinge und Teile und durch die Vermittlung dieser Teile zu einem Ganzen. Ein anderer Begriff für Modus, gebraucht in der Diskussion von Bourdons conférence, ist expression generale, d.h. der Ausdruck der passion des Ganzen […]«. Bätschman: Dialektik, S. 49. Der lydische Modus wurde, wie Bialostocki feststellt, für Klagethemen verwendet; Bialostocki: Das Modusproblem, S. 24.

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die stärkste Wirkkraft auf den Zuhörer entfalte.«71 »Die Moduslehre Poussins«, so heißt es weiterhin, »mag zwar eine die ganze Komposition umfassende Einheit bedeuten, im Sinne der Forderung nach einer expression générale. Doch ist dieser Allgemeinausdruck nicht so zu verstehen, daß sich eine einzige Disposition, entweder Freude oder Trauer, Zorn oder Sanftmut, gleichmäßig über das Gemälde erstreckt. Vielmehr gewährleistet der Modus eine kontrastreiche Vielheit von je verschiedenem Ausdruck. Erst die Anwesenheit aller antagonistischen Affekte bedingt die Vollkommenheit, Schönheit und damit Ganzheit einer Komposition.«72 Weder verleugnet diese Strategie die dunklen Seiten des Daseins, noch gibt sie sich diesen Seiten in einer gegen jede Vermittlungsanstrengung gerichteten Fetischisierung des Schreckens hin; sie nutzt die sich öffnenden Abgründe vielmehr, um die Kraft ästhetischer Operationen zu potenzieren. Dabei gewinnt der ästhetische Schein an intrinsischer Tiefe. Im Rückgriff auf den musiktheoretischen Begriff des Modus umreißt Poussin die Idee einer emergenten Rationalität der Kunst, die die Ordnung des Realen ins Gedächtnis ruft und sich von dieser Ordnung dennoch kategorisch unterscheidet. An den windgepeitschten Bäumen des Gemäldes lässt sich ablesen, dass das Unwetter von der linken Seite der Landschaft zur rechten Seite hinüberzieht. Die auf der rechten Anhöhe platzierten Gebäude sind vom Licht der Blitze grell erleuchtet und heben sich von den dunklen Gewitterwolken wirkungsvoll ab. Über der linken Anhöhe herrscht ein inverses Verhältnis, denn hier präsentieren sich Silhouetten von Bäumen und Architekturen vor einem inzwischen wieder hell gewordenen Himmel. In absehbarer Zeit, so die naheliegende Schlussfolgerung, wird das Unwetter vorübergezogen sein und der Landschaftsraum wahrscheinlich jenen arkadischen Charakter zeigen, der zahlreichen Bildern des Malers eigen ist. Poussin spielt mit dieser zeitlichen Perspektive; er fordert den Betrachter auf, einen Blick vorauszuwerfen auf einen Zustand, der noch nicht eingetreten, aufgrund der Gegebenheiten aber zu erwarten ist. Diese Perspektive ist von zentraler Bedeutung für das Konzept des Bildes: Auch wenn das Gewitter abgezogen, der Löwe erlegt oder vertrieben und der Leichnam des Pyramus bestattet ist, bleibt die Möglichkeit eines Einbruchs dunkler Schicksalsmächte unverändert bestehen; im Übrigen steht der Selbstmord der den Tod ihres Geliebten nicht verwindenden Thisbe noch aus. Soviel ist sicher: Sosehr sie auch erwartet werden mögen, die zurückkehrenden

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»Nichts kann unsere Seele stärker bewegen als Kontraste […] Erst die Anwesenheit aller antagonistischen Affekte bedingt die Vollkommenheit, Schönheit und damit Ganzheit einer Komposition.« Bernhard Stumpfhaus: Modus – Affekt – Allegorie bei Nicolas Poussin. Emotionen in der Malerei des 17. Jahrhunderts, Berlin: Reimer 2007, S. 210. Ebd., S. 210.

2. Darstellungen von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik

Strahlen der Sonne würden den gezeigten Naturraum keineswegs essentiell verändern. Die beiden direkt hinter dem Weiher gegeneinander kämpfenden Stiere bringen die hier wie dort geltenden Verhältnisse auf eine griffige Formel: Auch in Arkadien treten die Wesen gegeneinander an, auch hier regiert der Tod.73 Der Abgrund des Schreckens, der die ästhetischen Phänomene begleitet, tut deren Anziehungskraft keinen Abbruch; im Gegenteil, er potenziert die Kraft des ästhetischen Scheins, die das Subjekt existentiell entlastet. Eine Erlösungsperspektive, wie sie die christliche Theologie und Kunst offerierte, steht nicht mehr zur Verfügung. Das über der linken Anhöhe der Landschaft sichtbar werdende Licht fungiert nicht als Zeichen einer transzendenten, von allen Leidensprozessen befreiten himmlischen Welt. Man könnte den am rechten Bildrand nach links ziehenden, auf einem Esel sitzenden Reiter als einen Abgesang auf die christliche Heilsbotschaft interpretieren. Der Mann, in dem man eine Anspielung auf die Figur Christi erkennen könnte, hält die Hand vor die Augen, um sich vor dem von links kommenden Wind zu schützen, während er mit einem Stock auf das ihn tragende Tier einprügelt. Ein sich derart orientierungslos durch das dramatische Geschehen bewegender Messias würde die durch die biblischen Texte lancierten christlichen Erlösungshoffnungen kaum rechtfertigen. Oberhalb des Reiters hängt im Übrigen ein abgestorbener Ast an einem Baum; hat man es hier mit dem Zeichen eines Todes besonderer Art zu tun? Auch die Landschaft mit Pyramus und Thisbe fordert eine stoische Haltung, in der sich die Fähigkeit zu einer elaborierten ästhetischen Anschauung mit einer entsprechenden Ruhe und Gelassenheit verbindet.74 Ästhetische Erfahrung und entsprechende Imperative der Ethik gehen eine Synthese ein, die nicht in eine kalte Gleichgültigkeit angesichts des in den Blick gerückten Leidens mündet, sondern bei aller inneren Distanz Mitgefühl und Solidarität mit dem gefallenen Wesen impliziert.75 Poussin fordert ein ruhiges, dabei höchst differenzierungsfähiges und empfindsames Auge, das offenbar in der von den Winden unberührten, glatten Oberfläche des Weihers im Zentrum des Bildes thematisiert ist. Oskar Bätschmann

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Hier sei an Poussins Gemälde Et in Arcadia ego erinnert. Erwin Panofsky hat diesen Titel in folgender Weise übersetzt: »selbst in Arkadien gibt es den Tod«. Erwin Panofsky: Et in Arcadia ego. Poussin und die Tradition des Elegischen, in: ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts), Köln: DuMont 1975, S. 352. Dass Poussin zugleich die stoischen Tugenden im Auge hatte, hebt auch Oskar Bätschmann in seiner Betrachtung des Bildes hervor. Vergl. Nicolas Poussin. Landschaft mit Pyramus und Thisbe. Das Liebesglück und die Grenzen der Malerei, Frankfurt a.M.: Fischer 1987, S. 72. Auch Kurt Badt macht auf die Rolle ethischer Prinzipien in der Malerei Poussins aufmerksam: »Der ›Totalton‹ eines Bildes war es in der Tat, um den es Poussin gegangen ist, wenn er den seinem Vorwurf entsprechenden ›Modus‹ bedachte. Für diesen aber war ihm nicht nur die in dem Stoffe selbst enthaltene Stimmung, sondern auch seine ethische Bedeutung wichtig.« Kurt Badt: Die Kunst des Nicolas Poussin, Textband, Köln: DuMont 1969, S. 308.

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sieht in diesem Gewässer eine Anspielung auf den sogenannten Spiegel des Bacchus, der die ganze Welt in ihrer Mannigfaltigkeit, also auch das Erschreckende in ihr präsentiert.76 Wie immer es sich mit dieser möglichen Referenz verhalten vermag, der Blick ins Innere der Dinge, den der Maler offeriert, setzt in jedem Fall ein erhebliches Maß an Unerschrockenheit voraus. Poussins Malerei verfällt nicht den Motiven der Gewalt, sie sieht sich nicht fest in Akten und Phänomenen der Grausamkeit und des Sterbens, wie sich dies in späteren Bildwelten durchsetzen wird; sie behält das Ganze im Blick und entdeckt dabei, dass die ästhetische Welt eine Verführungskraft entfaltet, die dem Subjekt den Schrecken erträglich werden lässt, ohne ihm die Empfindungskraft zu rauben. Philippe Ariès hat in seiner Geschichte des Todes darauf aufmerksam gemacht, dass sich mit der Kultur des 17. Jahrhunderts ein verändertes Verhältnis des Menschen zu den Dingen der sinnlichen Welt etabliert. In den Kulturen des Mittelalters und der Renaissance lässt sich – ungeachtet der hohen Bedeutung einer auf das Jenseits gerichteten Theologie – eine ausgeprägte Liebe zum Leben im Diesseits beobachten.77 Greifbar wird dies anhand der in Bilder vielfach eingefügten Stillleben, die dargestellte Objekte als attraktiv und begehrenswert erscheinen lassen; das Subjekt wirft sich auf die weltlichen und leiblichen Freuden.78 Im 17. Jahrhundert geht diese weltbejahende Haltung verloren: Der Tod, der zuvor gleichsam von außen ins weltliche Geschehen eingegriffen hatte, wandert ins Innere der Dinge ein, die dem Subjekt nun eine verwandelte Physiognomie entgegenkehren. Die Welt scheint in ihrer Substanz von einer Fäulnis betroffen, von einer stetig fortschreitenden Zersetzung; die unaufhaltsam verfließende Zeit macht sich allenthalben bemerkbar, greifbar in den Vanitas-Stillleben, die pointiert auf die Vergänglichkeit des Daseins aufmerksam machen. Das Gefühl der Endlichkeit breitet sich im Alltagsleben aus und bildet die Quelle von Trauer und Melancholie, die das Leben überschatten. »Dieses Gefühl (die Melancholie; H.Z.) beschränkt sich nicht auf die Stunde der Abfassung des Testaments, auf die kritischen Augenblicke, in denen der Lebende seinen Tod bedenkt; es ist diffus und strahlt ins ganze Alltagsleben aus«79 »Diese so liebenswerte, so schöne Welt ist modrig und hinfällig. […] Das Leben und die Welt haben die Funktion des abstoßenden Pols übernommen, die das

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Bätschmann: Nicola Poussin. Landschaft mit Pyramus und Thisbe, S. 59-69. Philippe Ariès: Geschichte des Todes, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1980, S. 166ff. Die Theologie verwendete den Begriff der avaritia, »die nicht das Bedürfnis, Reichtümer anzuhäufen, oder das Widerstreben, sie auszuteilen, meint wie unser Wort avarice (Knauserigkeit), sondern leidenschaftliche, gierige Liebe zum Leben, zu menschlichen Wesen wie zu Dingen […]«. Ebd., S. 169. Ebd., S. 418.

2. Darstellungen von Gewalt im Kontext von Theologie und Metaphysik

Spätmittelalter und die beginnende Renaissance einmütig dem Tode anvertraut hatten. Tod und Leben haben die Rollen getauscht.«80 Poussins Landschaft mit Pyramus und Thisbe muss vor dem Hintergrund dieser mentalitätsgeschichtlichen Entwicklung betrachtet werden. Der Maler folgt den Imperativen einer Ästhetik der Perfektion und den Idealen des Schönen beziehungsweise des Erhabenen, doch die Szenerien, die er darbietet, sind von einer kaum übersehbaren Schwermut durchzogen. Die Zeit will es, dass der Schwund der Daseinsbejahung ästhetisch produktiv werden konnte; die Sprachmittel der Kunst gewinnen an Komplexität, der ästhetische Schein an intrinsischer Tiefe. Weniger die zuvor theologisch propagierten Glaubensvorstellungen, eher das in der Innenwelt des Subjekts sich abspielende Verblassen dieser Vorstellungen bestimmt nun das Denken der Bilder.

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3. Die Auslotung der Grenzen

I. Die in der Neuzeit beginnende Erosion der Bindungskraft des christlichen Glaubens vollzieht sich im Raum der Kunst in einer spezifischen Form. Bilder verfügen über eigene Gesetze und fungieren keineswegs als allein passiv empfangende Transportmittel biblischer Berichte, theologischer Vorstellungen oder klerikaler Interessen. Auch hier gilt die medientheoretische Einsicht, dass entsprechende Artefakte die Objekte oder Motive, auf die sie Bezug nehmen, stets in eine eigene Sprache übersetzen. Jedes in dieser oder jener Weise angefertigte Bild transformiert das ihm vorausliegende Sujet oder Thema; seine Unfähigkeit, den Gegenstand selbst vor Augen führen zu können, wird mehr als kompensiert durch die ihm inhärierenden Möglichkeiten, diesen Gegenstand einer produktiven Deutung beziehungsweise Umdeutung zu unterwerfen. Bildliche Darstellungen eröffnen zuvor nicht bestehende Perspektiven auf ihre Referenzobjekte, seien dies Phänomene der Natur, der Gesellschaft oder Motive und Lehrsätze der Theologie. So entfaltet die Religion im Medium der Bilder nur hier anzutreffende Eigenschaften. Kunst zeigt sich unter Umständen als eine Quelle spezifischer Formen der Andacht und des Bekenntnisses; sie verfügt über besondere Verfahren, die Welt des Glaubens auf ihre Weise zur Anschauung zu bringen, darüber hinaus aber auch über spezifische Formen des Zweifels und des aufkeimenden Unglaubens. In der Neuzeit liefert sie nicht zuletzt Beispiele der fortschreitenden Auflösung des Vertrauens in die christliche Verkündigung. Von Beginn an ist das Bild jedoch niemals nur Magd der Theologie, sondern zugleich auch deren produktive Schwester, die sich der Orthodoxie solidarisch zeigen, aber auch eigene, durch die Lehre nicht gedeckte Wege beschreiten kann. Die vorliegende Gestalt von Werken ist ebenso wenig ein authentisches Produkt des Ausdruckswillens, der psychischen Befindlichkeiten oder kognitiven Zustände des Künstlers. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist mit mehr oder minder tiefgreifenden Transformationsprozessen zu rechnen. Zielgebende Ideen und Vorstellungen, die zu Beginn des Herstellungsprozesses vorliegen, werden im Verlauf der Formfindung in ein werkspezifisches Idiom übersetzt und dabei unter Umständen

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in einem Ausmaß verändert, dass der zunächst beabsichtigte Sinn kaum noch auffindbar ist. Grundsätzlich gilt: Die Anfertigung von Bildern ist keine in jeder Hinsicht transparente Aktivität, sondern von unkalkulierbaren Faktoren durchsetzt, die diese Anfertigung im Einzelfall zu einem unabsehbaren Erfahrungsprozess werden lassen. Dies ist für die Frage nach der Kirchentreue ästhetischer Artefakte von erheblicher Bedeutung, denn das Abweichen eines Werks von theologischen Lehrsätzen und Imperativen kann durch den produzierenden Künstler bewusst intendiert, aber auch auf unbewusste Weise vollzogen worden sein. Dass Letzteres die Verfahren der Interpretation mit gewissen Schwierigkeiten konfrontiert, ist evident. Es ist davon auszugehen, dass sich die Prozesse der Säkularisierung nicht nur in der weltlichen, sondern auch in der sakralen Kunst selbst Ausdruck verschaffen, gegebenenfalls unbemerkt auf Seiten der gläubigen Zeitgenossen. Was jedoch unter bestimmten Voraussetzungen der Wahrnehmung entgleitet, kann später unter veränderten Bedingungen in den Fokus der Aufmerksamkeit treten. In jedem Fall kündigt sich das Schwinden der Deutungsmacht der Kirche früher als auf der Ebene der konventionellen ikonographischen Programme der Bilder an; es sind immer auch deren unterhalb obligater Symbole angesiedelten Subtexte, die zu berücksichtigen sind, um ihre Stellung in der historischen Entwicklung verstehen zu können. In der Malerei der Neuzeit verschieben sich sukzessive die Perspektiven auf Theologie und Kirche. Die christliche Bildwelt wird nicht nur von außen herausgefordert durch profane Sujets, die ihr den Rang in der Gunst des Publikums ablaufen, sie zersetzt sich von innen her, mit bestimmten Konsequenzen für das Verständnis und die Darstellung von Gewalt. Mit dem Verblassen der Leitideen der christlichen Religion konstituiert sich ein veränderter Blick auf Akte der Destruktion. Richtungsweisend war Caravaggio, der seine Skepsis gegenüber den orthodoxen Lehren der Religion thematisiert hat. Ein anders gelagertes Exempel dieser Entwicklung findet sich bei Luca Giordano, der manchen Quellen zufolge als religiöser Künstler im Einvernehmen mit der katholischen Kirche gearbeitet hat.1 Doch auch Bilder, die mit einer derartigen Gesinnung produziert sein mögen, können erstaunliche Perspektiven eröffnen. Sein vermutlich als Altartafel konzipiertes Bild Der heilige Michael aus der Berliner Gemäldegalerie kann als herausragendes Beispiel einer Transformation der Deutung strafender, göttlich legitimierter Gewalt betrachtet werden (Abb. 12).2 Artikuliert Caravaggios Gemälde des Matyri-

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Vergl. Giuseppe Scavizzi: Giordanos künstlerische Tätigkeit von 1682 bis zum Tod, in: Wilfried Seipel (Hg.),Luca Giordano 1634 – 1705, Ausstellungskatalog des Kunsthistorischen Museums Wien, Napoli: Electa 2001, S. 39. Zum Bild von Giordano vergl. Erich Schleier: Der Heilige Michael: ein unbekanntes Hauptwerk Luca Giordanos. Zu einer Neuerwerbung des Kaiser-Friedrich-Museums-Vereins für die Berliner Galerie, in: Pantheon XXIX, 1971, S. 510-518.

3. Die Auslotung der Grenzen

ums des heiligen Matthäus Zweifel an der Existenz der himmlischen Heerscharen, so lässt Giordanos Komposition den Verdacht aufkeimen, ein von Gott gesandter Bote würde unlautere Ziele verfolgen, die kaum mit der göttlichen Heilsordnung zu vereinbaren sind. Gezeigt ist der mit einer Lanze bewaffnete Erzengel Michael, der – ähnlich wie in dem Rubens’schen Gemälde – den Satan als Verkörperung des Verwerflichen attackiert. Im Hintergrund stehen Kompositionen von Raffael und Guido Reni, die der Idee eines über das Böse triumphierenden Guten – in Gestalt eines apollinischen Himmelsboten – bildliche Evidenz bescherten. Auch Giordanos Engel zeigt sich zunächst als Abgesandter einer Lichtwelt, die vom Reich der Schatten, das sich unter ihm auftut, deutlich unterschieden ist. In der Literatur wurde darauf hingewiesen, dass sich der Maler – wie bereits Reni in seiner Komposition – zweier Darstellungsmodi bedient habe, denn er präsentiere den Engel und die Teufelsfiguren in unterschiedlichen Stilarten: den Ersteren zeigt er in einem an Raffael orientierten Modus, beim Letzteren folge er Bildern von Jusepe de Ribera, der einen dramatischen, an Caravaggio orientierten Realismus entwickelte.3 Damit scheint der theologischen Lehre von der Suprematie der Abkömmlinge Gottes über das Böse genüge getan. Doch das Bild von Luca Giordano zeigt etwas anderes; es spielt mit einer stilistischen Differenz und rückt dabei das tradierte System der Wertsphären und ethischer Imperative ins Zwielicht. Das Gemälde spricht eine präzise Sprache: Mit Anmut und Eleganz setzt der Engel einen Fuß auf den Brustkasten des Teufels und bohrt ihm mit der Spitze seiner Lanze in die Seite, während sich der auf diese Weise Traktierte in einer konvulsivischen Bewegung dem Schmerz auszuliefern scheint und dabei seinen überdimensionierten Rachen öffnet. Was prima facie an eine konventionelle Strafaktion erinnert, gibt sich bei genauerer Hinsicht als ein komplexes Interaktionsverhältnis zu erkennen, in dem sich die tradierten Rollenmuster auflösen. Die Art, in der der Engel den Kopf nach unten wendet und den Dämon ansieht, bringt etwas zum Ausdruck, was sich zuvor in anderen Bildern ankündigte, aber kaum in

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Auf diese Differenz in den Darstellungsmodi macht Andreas Haus aufmerksam. Giordano folge hier einer Praxis, die bereits in dem entsprechenden Bild Guido Renis hervorgetreten sei: »Der himmlischen Schönheit des Erzengels (bei Reni; H.Z.) ist der Satan als nicht nur häßlich böses Wesen entgegengesetzt, sondern er erscheint auch in einem geradezu anderen Mal- und Figurenstil. Reni eröffnete hier offenbar eine malereigeschichtlich neue Reflexion über Darstellungsmodi, der sich Giordano anschloß.« Andreas Haus: Luca Giordanos Hl. Michael in der Berliner Gemäldegalerie. Laokoonrezeption und die künstlerische Konstruktion der Moral, in: Jahrbuch der Berliner Museen, 41. Band. (1999), S. 79ff. Zum Modusproblem bei Guido Reni vergl. auch Sybille Ebert-Schifferer: Guido Reni: Klassische Norm, Christliches Pathos und reine Farbe, in: Sybille Ebert Schifferer/Andrea Emiliani/Erich Schleier (Hg.), Guido Reni und Europa. Ruhm und Nachruhm, Schirn Kunsthalle, Frankfurt a.M.: Schirn Kunsthalle 1988, S. 18.

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Abb. 12, Luca Giordano, Der heilige Michael, um 1660-1665, Öl auf Leinwand, 198 x 147 cm, Berlin, Gemäldegalerie.

dieser Deutlichkeit formuliert wurde: Der Abgesandte Gottes empfindet ein sichtliches Vergnügen bei der Niederwerfung des Gegners. Es handelt sich dabei jedoch nicht um die zu erwartende Genugtuung, welche ein Sieg des Guten über das Böse begleiten würde, sondern um eine bestimmte Form sinnlicher Lust am Leiden des Niedergeworfenen. In einer scheinbar gelassenen, entschleunigt anmutenden Bewegung lässt der Engel die Lanze in den Leib des Teufels gleiten, um den quälenden Akt nicht vorschnell zu Ende zu bringen. Der Sieger handelt nicht als unbestechlicher Akteur, der sich bedingungslos in den Dienst des aus übersinnlichen Quellen herrührenden Guten stellt; er hat sich vielmehr in ein eigenwilliges Sub-

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jekt verwandelt, das sich den Kräften seines Kontrahenten ausliefert, denn er ist sichtlich von einer Affinität zu seinem düsteren Widersacher beseelt. Komplementär zu dieser Rollenverschiebung verwandelt sich die Position des Angegriffenen. Giordano geht noch einen Schritt weiter als Rubens in seinem Engelsturz, denn er greift in seiner Charakterisierung des Gestürzten auf ein Motiv der Passion Christi zurück. Der mit der Lanze ausgeführte Stich in die Seite des Niedergeworfenen zitiert einen Verletzungsakt, den auch der ans Kreuz geschlagene Erlöser zu ertragen hatte. Man ist mit der provozierenden Tatsache konfrontiert, dass das Bild dem Teufel Attribute zukommen lässt, die im Neuen Testament mit der Figur des Gottessohnes verbunden sind. Mit seiner blutenden Wunde, für die sich ein unten im Bild platzierter Hund interessiert, wird uns gleichsam die Perspektive einer neuen, inversen Gestalt der Eucharistie in Aussicht gestellt. Man kann feststellen, dass in dieser Komposition Ober- und Unterwelt Eigenschaften, durch welche sie essentiell gekennzeichnet sind, untereinander austauschen. Die tradierte Konstellation zweier, wechselseitig sich ausschließender Instanzen gerät auf diese Weise ins Wanken.4 Satan beziehungsweise Luzifer – der Lichtbringer – war im Übrigen, der biblischen Überlieferung zufolge, selbst ein gestürzter Engel, der aufgrund seiner Hybris, eine ihm nicht gebührende Position in Anspruch nehmen zu wollen, aus dem Himmelsraum verstoßen wurde;5 später übernahm er das Regiment in der Hölle, in der diejenigen zu büßen hatten, denen Gott die Erlösung verweigerte.6 Im Falle des Erzengels Michael bei Giordano wiederholt sich in veränderter Form das Schicksal Luzifers. Selbstvergessen versenkt sich der Gottesbote in ein dem Himmel abgewandtes Reich, ein Reich der sinnlichen Lust, das unübersehbar als Raum nicht nur eines sadistischen, sondern auch eines masochistischen Begehrens in Erscheinung tritt. Die Sexualisierung des gesamten Motivs ist evident. Man fühlt sich an Gian Lorenzo Berninis Skulpturengruppe der Verzückung der Heiligen Theresa in der Kirche Santa Maria della Vittorio in Rom erinnert.7 Die Mystikerin gibt sich dem Zustand einer ekstatischen Versenkung hin, während ein junger, versonnen blickender Egel den Pfeil Amors auf sie gerichtet hat. Der Bildhauer zeigt einen von erotischen Affekten begleiteten Prozess der Erhebung der Seele zu Gott. Bei Luca Giordano hat man es mit einer inversen Konstellation zu tun, denn das Gravitationszentrum des Geschehens liegt nun auf Seiten der Unterwelt. Indem sich der Engel den Praktiken der physischen 4

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»Die pathetische Körperbildung des Luzifer«, so bemerkt Andreas Haus, »gewinnt letztlich ihre Bedeutung dadurch, dass sie das ziemlich genaue gestalthafte Spiegelbild zum Körper des Erzengels ist.« A. Haus: Luca Giordanos Hl. Michael, S. 83. Der Sturz des Luzifer, des Lichtbringers, der der Figur des Satan korrespondiert, findet sich im Alten Testament im Buch Jesaja, 14, 1-21. Vergl. Wolfgang Metternich: Teufel, Geister und Dämonen. Das Unheimliche in der Kunst des Mittelalters, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011, S. 34. Charles Avery: Bernini. Mit Aufnahmen von David Finn, München: Hirmer 2007, S. 146ff.

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Marter hingibt, kündigt er Gott die Gefolgschaft und entfremdet sich seinem Herkunftsort, obgleich er nach wie vor eine Aureole, nunmehr als zweckentfremdetes, in andere Dienste gestelltes Zeichen trägt. Die Komposition lässt nicht nur das überkommene ikonographische Schema kollabieren, sondern nährt darüber hinaus den Verdacht, der über die menschlichen Schwächen angeblich erhabene Engel sei nichts als eine Schimäre, ein Trugbild, dem man den Glauben aufkündigen müsse. Das Gemälde handelt von einer Konstellation zweier aneinandergeketteter Instanzen. Nicht nur der Engel ist seinem Widersacher in libidinöser Weise zugetan, auch der Teufel gibt sich seinem Gegenüber in einer lustbetonten Wendung seines Körpers hin. Losgelöst von Gott, befinden sich beide in einem nach außen sich abschließenden symbiotischen Verhältnis.8 Damit bringt der Maler entsprechende Mechanismen sozialer Herrschaft auf eine einfache Formel; er liefert das Bild einer möglichen wechselseitigen Abhängigkeit von Täter und Opfer. Machtverhältnisse implizieren nicht selten die Bereitschaft oder das Begehren auf Seiten der Beherrschten, den Akten und Imperativen der Machthaber gefügig zu sein. Opfer machen sich ihre Opferrolle zu eigen und tragen auf diese Weise zur Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen bei; auf der anderen Seite agieren die Machthaber, die sich die Bereitschaft der Unterworfenen strategisch zunutze zu machen verstehen. So wird ein soziales Verhältnis unter Umständen auf der Basis einer intersubjektiven Konstellation einander komplementärer Bedürfnisse errichtet und stabilisiert. Dass nun eine derartige Konstellation ausgerechnet anhand eines Engelsturzes exemplifiziert wird, gibt in besonderer Weise zu denken. Zeitgenossen jedenfalls mussten sich fragen: Wenn selbst der Erzengel Michael, Schutzpatron der Kirche, in den Verdacht gerät, den Weg in den Abgrund der Sünde angetreten zu haben, was ist dann von der Kirche und ihren Repräsentanten zu halten, die im Zeichen dieses Engels die frohe Botschaft des Christentums verkünden? Giordanos Gemälde sät Zweifel, die auch vor dem Klerus nicht Halt machen. Am Ende rücken die im Zeichen des Gottgesandten verfolgten, teils überaus rigiden Praktiken gegenreformatorischer Politik in den Fokus eines kritischen Interesses. Was lässt sich in diesem Kontext über die Beziehungen der Priester zu den ihnen anvertrauten Gläubigen sagen? Gelten auch hier jene sado-masochistischen Verhältnisse, die der Maler in seinem Bild in eindrucksvoller Klarheit vor Augen stellt? Giordanos Gemälde bildet die Quelle eines immer weitere Kreise ziehenden Verdachtes, der geeignet ist, die Kirche und ihre Repräsentanten in eine massive Legitimationskrise zu stürzen. Ein solches Werk muss die Aufmerksamkeit der Kleriker auf sich gezogen haben, doch Informationen über Reaktionen von Zeitgenossen liegen leider

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Andreas Haus spricht im Rückgriff auf Motive der älteren Kunst von der Verbildlichung eines innerpsychischen Kampfes. Luca Giordanos Hl. Michael, S. 85.

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nicht vor. Allerdings wird berichtet, der Maler sei in einer Schmährede einer »ketzerischen Schule« zugeordnet worden, die den Weg des rechten Glaubens verlassen habe.9 Luca Giordano war sicher nicht ein der Kirche distanzlos ergebener Künstler, wie verschiedentlich behauptet wurde, sondern ein hellsichtiger Beobachter der zu seiner Zeit bestehenden Praktiken der Religion, ein feinsinniger Analytiker, der in seinem eigenwilligen Engelsturz den Boden einer modernen Psychologie und Religionskritik betreten hat.10 Als sicher kann gelten, dass der Maler Kontakte zu Intellektuellen hielt, die sich gegen etablierte Positionen des Klerus wendeten und denen die Schriften von Descartes, Galilei oder Bacon bekannt waren.11 Die neapolitanische Malerei des 17 Jahrhundert bietet zahlreiche Beispiele von Darstellungen drastischer Gewalt, die einen bis dahin unbekannten Grad an Intensität erreichen. Verschiedene Studien haben sich mit repräsentativen Bildern, unter anderem auch von Luca Giordano beschäftigt.12 Zwei Deutungsansätze sind im vorliegenden Zusammengang von Interesse. Zum einen werden die destruktiven Akte, unter Vernachlässigung der Opfer, in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt; die Analyse arbeitet in diesem Fall täterzentriert. Drastische Gewalt, so heißt es, diene der Abfuhr aggressiver Energien und sei vielfach Projektionsfläche sadistischer Impulse; sie fungiere – psychoanalytisch gesprochen – als Ersatz für ein im Realen unterlassenes Ausleben entsprechender Bedürfnisse und Affektlagen. Vor allem Privatsammler hätten derartige Werke gekauft beziehungsweise in Auftrag gegeben.13 Auf der anderen Seite bilden Darstellungen der Gewalt den Gegen-

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Es handelt sich hier um eine Rede von Francesco Di Maria, in der von einer »ketzerischen Schule« gesprochen wird, die »mit der verdammten Gewissensfreiheit zur Abweichung vom rechten Weg führte«. Zitiert nach: Biagio de Giovanni: Giordanos Philosophen und die Freiheit der Philosophie, in: Wilfried Seipel (Hg.), Luca Giordano, S. 72. Ähnlich äußert sich Andreas Haus, der bemerkt: »Doch deutet sich, wie ich meine, eben in der eigenwilligen Sprache der bildnerischen Motive bei Luca Giordano eine neuartige differenzierte, eher psychologische als philosophische Anschauung der menschlichen Schuldfrage an.« Luca Giordanos Hl. Michael, S. 85. Vergl. ebd., S. 71-75. Vergl. Walther K. Lang: Grausame Bilder. Sadismus in der neapolitanischen Malerei, Berlin: Reimer 2001; Silke Kurth: Das Anlitz der Agonie. Körperstrafe im Mythos und ihre barocke Rezeption, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2009; Salvatore Pisani: Zerrümpft, schrekbar, crudel. Das Schauspiel des Körpers bei Jusepe Ribera, in: Peter Forster/ Elisabeth Oy-Marra/Heiko Damm (Hg.), Caravaggios Erben. Barock in Neapel, München: Hirmer 2016, S. 128-143. In der Arbeit von Walther K. Lang, der die Phänomene des Sadismus ins Zentrum rückt, spielen auch naheliegenderweise Phänomene des Sadomasochismus eine Rolle. Im Prinzip handelt seine Studie von einem in Bildern sich niederschlagenden Fasziniertsein durch Gewalt. Die Voraussetzungen findet er in der neapolitanischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, die ihre lebensweltlichen Probleme selbst noch im Raum der Malerei ausagiert. Ebd., S. 29-69 u. S. 269-279.

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stand opferzentrierter Untersuchungen. In diversen Bildern, so die hier bestimmende Perspektive, sei eine Neigung zu Mitgefühl und Empathie mit den Misshandelten unübersehbar; die innerbildliche Aufwertung des Opfers ginge dabei mit der Herausbildung eines kritischen Blicks auf das brutale Agieren der Täter einher. Ein Beispiel gibt das in der Malerei mehrfach dargestellte Schicksal des durch Apollon geschundenen Marsyas, der durch den Gott des Lichts in grausamer Weise gehäutet wurde.14 Das durch Apollon repräsentierte Ideal-Schöne gerät selbst in Verdacht, mit den Mächten des Bösen im Bunde zu sein.15 Hier geht es – anders als im ersten Fall – um die durch Empathie bestimmte Identifikation des Betrachters mit dem Opfer. Der Engelsturz Giordanos, den die Autoren in ihren Abhandlungen nicht berücksichtigen, lässt sich weder über das eine, noch über das andere Deutungsinteresse aufschlüsseln; weder zeigt er sich als geeignet, sadistische Triebe zu befriedigen, noch kommt er dem Wunsch nach einer Einfühlung in das Opfer entgegen. Das pointiert lasziv daherkommende Bild scheint sich zunächst einem primär affektzentrierten Rezeptionsinteresse anzubieten. Für diesen Zugang spräche die Art der Darstellung physischer Gewalt und ihrer Konsequenzen auf Seiten des Misshandelten, der den Weg einer unorthodoxen imitatio christi beschreitet. Während Christus jedoch die Passion in der Regel in einer eher stoischen Haltung auf sich nimmt, zeigt der Teufel ein Übermaß an Emotionen, greifbar in dem weit geöffneten Rachen, aus dem ein Schrei emporzuquellen scheint. Die Potenzierung der Affekte verschafft dem Prozess der in den Körper eindringenden Waffe eine über das bis dahin bekannte Maß hinausgehende Intensität und Signifikanz; Stich und Schmerz beziehungsweise Lust treten in ein Verhältnis, in dem sich beide wechselseitig anheizen. Dabei verschiebt sich die Beziehung zwischen dem Imaginären und dem Realen. Obwohl der physische Angriff auf den Dämon mit sichtlicher Behutsamkeit ausgeführt wird, zeigt der Akt der Gewalt dennoch eine rhetorische Kraft, die traditionelle Darstellungen des Themas weit überbietet. Im Gegenzug zu dieser Inszenierung verordnet der Maler dem Betrachter eine kühl-distanzierte Wahrnehmung, die von Identifikationsbedürfnissen, sei es mit dem Täter, sei es mit dem Opfer, Abstand hält. Entscheidend ist der am unteren Bildrand platzierte Hund, der als Repoussoir in besonderer Weise an den Betrachter adressiert 14

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Silke Kurth spricht von einer neuen ikonographischen, »tendentiell ›empathologischen‹ Ausrichtung«, die eine »Abkehr von idealer Schönheit« impliziere und dabei eine »neue Unmittelbarkeit und Eindringlichkeit der Bildwirkung« zeige. Kurth: Das Anlitz, S. 49. Wie in den Metamorphosen des Ovid berichtet, fordert der Sartyr Marsyas den Gott Apollon zu einem musikalischen Wettstreit heraus. Der Erstere beansprucht, mit seinem Spiel auf der Flöte gegen den Letzteren, der das Spiel auf der Lyra meisterhaft beherrschte, bestehen zu können. Der Sartyr unterlag in diesem Wettbewerb und wurde als Vergeltung für seinen Hochmut durch Apollon bei lebendigem Leibe gehäutet. Silke Kurth, ebd., S. 163-238; vergl.: Christoph Wetzel: Ovids Metamorphosen, S. 172f.

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ist. Die sich ins Bild schiebende Bestie, die am gestürzten Opfer Interesse nimmt, verkörpert die sinnlichen Neigungen des Subjekts: die Lust an der physischen Einverleibung, den erotisch gefärbten Willen zum Exzess und – markiert durch das weit aufgerissene Auge – das Bedürfnis, Akten blutiger Gewalt schauend beizuwohnen. Der Maler demonstriert die Leistungen einer kritische Seelenkunde, die die genannten Dispositionen als animalische, vorzivilisierte Formen des Bedürfnisverhaltens charakterisiert; er liefert einen vorauslaufenden Kommentar im Hinblick auf mögliche Aneignungspraktiken seines Werks. Was er also fordert, ist ein nüchterner Beobachter, der sein animalisches Begehren in den Griff bekommt und auf den Legitimationsverlust der göttlichen Ordnung nicht mit der Verabschiedung des zivilisierten Verhaltens antwortet. Es geht um eine sinnliche Interessen transzendierende Bewegung, die zugleich über die Fähigkeit verfügt, die im Bild lustvoll aneinander gebundenen Kontrahenten aus sicherer Distanz in den Blick zu nehmen. Der Maler verordnet der christlichen Ikonographie und Lehre ein an der Cartesischen Philosophie inspiriertes Reflexionsprogramm, das den Zweifel an sicher geglaubte Gewissheiten in eine neue Form von Autonomie verwandelt. Die Lektion, die das Bild erteilt, ist luzide, denn sie steht vom Geist her der Aufklärung nahe. Giordanos Gemälde eröffnet den Blick dabei auf eine bestimmte Logik der Zeit. Aneinandergekettet durch einander komplementäre Bedürfnislagen, durchlaufen die beiden Akteure stets erneut die gleichen Prozesse des Marterns und Gemartertwerdens. Die sinnlichen Triebe sind nicht zu sättigen, wie der weit aufgerissene, monumentale Rachen des Teufels dokumentiert. So wird die Lanze – getrieben durch ein unstillbares Begehren – immer wieder in die Seite des Dämons fahren und dieser wird sich bereitwillig in nicht endender Folge den Schmerzen ausliefern. Dass in diesem Bild ein zyklisches Modell der Zeit auf den Plan tritt, wird auch anhand der dunklen Furche der Brust des Dämons deutlich, die dem Segment eines Kreises ähnelt, während die Lanze des Engels zugleich an den Arm eines Zirkels denken lässt.16 Man fühlt sich an Giottos Bethlehemitischen Kindermord in der Arena-Kapelle in Padua erinnert, in welchem sich die Figur eines dem Tod geweihten Kindes einem Kreissegment angleicht, durch welches sich die Rettung seiner bedrohten Seele durch Gott ankündigt (Abb. 1). In der älteren Metaphysik und Kunst war der Kreis, wie schon bemerkt, Symbol des zeitlos Vollkommenen; aufschlussreich ist die Illustration aus einer Bible moralisée, die den Weltschöpfer in der Rolle eines mit einem Zirkel hantierenden Architekten vorführt (Abb. 13). Daneben sind auch ältere, seit dem Mittelalter bekannte Darstellungen von so genannten Glücksrädern zu berücksichtigen, die die Wandelbarkeit des irdischen Le16

Auf diese Analogie verweist auch A. Haus, der bemerkt, dass dieses Motiv der bekannten, aus der Antike stammenden Laokoongruppe entnommen sei. Vergl. A. Haus, Luca Giordanos Hl. Michael, S. 84.

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bens versinnbildlichen; hier finden sich aufsteigende und fallende Individuen, entsprechend dem Einfluss der Fortuna auf das menschliche Dasein.17 Luca Giordano bietet eine eigene Verwendung des Kreises: Nicht mehr Symbol einer höheren Ordnung, auch nicht mehr Zeichen des wechselnden Schicksals, fungiert er nun als Metapher einer zwanghaften, nicht endenden Wiederholung sado-masochistischer Praktiken. Gott, der diese düstere Mechanik durchbrechen könnte, hat sich zurückgezogen, während seine aufeinander fixierten Geschöpfe gemeinsam den Weg in den Abgrund angetreten haben. Bemerkenswert ist dabei, dass das System infernalischer Praktiken selbst noch die an den Ideen des Vollkommenen orientierte Architektur des Himmels imitiert. Vergleichbares kennt man etwa aus Dantes Göttlicher Komödie, in der die Hölle als wohlgestalteter Bau, als ein regelmäßig geformter Trichter mit kreisförmig angelegten Terrassen präsentiert wird, auf denen die Sünder nicht endende Qualen durchleiden müssen.18 Das Gemälde Giordanos entwirft eine Geometrie des gestürzten Menschen. Gott versprach, den Lehren der Theologie zufolge, die Befreiung des Subjekts aus den Fesseln derartiger Verhältnisse. Um sich die Funktion christlicher Erlösungserwartungen zu verdeutlichen, kann man auf einen Theoretiker zurückgreifen, der sich vor allem mit dem Problem der Gewalt eingehend beschäftig hat: René Girard. Der Autor geht von der Einsicht aus, dass in sozialen Verbänden stets ein mehr oder minder hohes Maß an destruktiven Energien auf Seiten der Mitglieder entwickelt wird; Gesellschaften oder Gruppen sind immer auch Schauplatz des Aufkeimens von Abgrenzungsbedürfnissen, Missgunst und Rivalitäten.19 Wo sich derartige Impulse oder Affekte verschärfen, steht die Existenz der sozialen Ordnung selbst auf dem Spiel. Kollektive Gebilde stellen sich als fragile Zusammenhänge dar, die sich bei einem entsprechenden Niveau der Konflikt- beziehungsweise Gewaltbereitschaft ihrer Mitglieder auflösen können. Von Interesse sind die von Girard entwickelten Einsichten in die Folgen entsprechender Prozesse. Der Autor spricht von einer krisenbedingten Zersetzung kulturkonstitutiver Differenzen, das heißt, die sich gegeneinander Wendenden gleichen sich in dem Maße, in dem sie sich der Logik des Kampfes hingeben, über einen mimetischen Prozess sukzessive aneinander an.20 Was in verschärften Konflikten hervortritt, ist ein egalisier17

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So bietet etwa die große, zwischen 1190 und 1225 entstandene Rosette der Kirche San Zeno in Verona ein solches Glücksrad; vergl.: Chiara Furlattini, Die Basilika San Zeno. Geschichte und Kirchenführer, Verona: Associazione Chiese Vive 2018, S. 42ff.; Vergl. auch: J. Poeschke, Stichwort »Rad«, in: Engelbert Kirschbaum, Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 3, Freiburg im Breisgau: Herder 1974, Sp. 492-494. Dietmar Kamper bemerkte im Hinblick auf diese Entsprechung von Paradies und Hölle, dass alle derartigen imaginären Topologien symmetrisch strukturiert seien. Hieroglyphen der Zeit. Texte vom Fremdwerden der Welt, München, Wien: Hanser 1988, S. 38. René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a.M.: Fischer 1992. Ebd., S. 74.

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Abb. 13, Gott als Architekt des Universums, aus einer Bible moralisée. Codex Vindobonensis, um 1250.

tes Gattungssubjekt, in welchem die individuellen Eigenschaften der Beteiligten ausgeblendet sind; man kann von einer wechselseitigen Spiegelung oder symmetrischen Position der Kontrahenten sprechen. Der Kampf münde, so heißt es, in einen Kreislauf der Rache, einen für jegliche soziale Ordnung fatalen Zirkel gewalttätiger Reziprozität.21 »Je länger die tragische Rivalität andauert, desto mehr begünstigt sie die gewalttätige mimesis, desto mehr vervielfacht sie die Spiegeleffekte zwischen Gegnern. Die moderne wissenschaftliche Forschung bestätigt […] die Übereinstimmung der

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durch die Gewalt ausgelösten Reaktionen bei Individuen, die im Prinzip gänzlich verschieden sind.«22 Im Zusammenbruch der sozialen Wirklichkeit tritt eine verwüstete Welt hervor, die sich ebenso monoton wie monströs darstellt.23 Bei allen Unterschieden im Detail stehen Kulturen vor dem nicht einfach zu lösenden Problem, die Rivalität zwischen den Individuen zu kontrollieren und Verfahren zu entwickeln, die geeignet sind, aufbrechende Konflikte unschädlich zu machen. Gesellschaften, die sich erfolgreich am Leben erhalten, verfügen, wie der Autor hervorhebt, über institutionell geregelte Strategien des Umgangs mit kollektiv anfallender Aggression. Archaische Gesellschaften bewältigen entsprechende Konfliktlagen durch rituelle Praktiken der Opferung zunächst von Menschen, dann ersatzweise von Tieren oder anderer Substitute. Ein derartiges AggressionsManagement erweist sich als sozial effizient: Das Opfer besetzt die Rolle eines Sündenbocks, es fungiert als Medium der Abfuhr destruktiver Impulse, um den Opfernden die Möglichkeit zu eröffnen, im sozialen Verband friedfertig weiter zu existieren. Entscheidend für die Opferungsprozedur ist das vergossene Blut, das als rein, sakral und wohltätig angesehen wird:24 »Die Wörter ›Opferung‹, ›opfern‹ (lateinisch sacri-ficium, sacri-ficare) haben eigentlich den Sinn: sakral machen, Sakrales hervorbringen. Was das Opfer sakralisiert, ist der vom Opfernden verabreichte Schlag, ist die Gewalt, die dieses Opfer tötet, es vernichtet und gleichzeitig über alles stellt, es in gewissem Sinn unsterblich macht.«25 Ziel der Opferungspraktiken ist das Aufbrechen und Stillstellen des Zirkels der Rache, die Reinigung (Katharsis) der von negativen Emotionen belasteten Gruppe. Doch der auf diesem Wege wieder hergestellte Frieden ist nicht von Dauer, weil, wie zu erwarten ist, neue Konflikte aufkeimen werden, die weitere Tötungsprozeduren erforderlich machen. In der Folge konstituiert sich deshalb eine zweite zirkuläre Ordnung der Gewalt.26 22 23

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Ebd., S. 74. »Der Zusammenbruch der Institutionen tilgt die hierarchischen und funktionalen Unterschiede oder lässt sie aufeinanderprallen und verleiht so allen Dingen einen zugleich monotonen und monströsen Aspekt.« Girard: Der Sündenbock, Zürich/Düsseldorf: Benziger 1988, S. 25. Das bei alltäglicher Gewalt, bei Unfällen oder Krankheiten vergossene Blut gilt dagegen als unrein. Vergl. Girard: Das Heilige, S. 54-61. René Girard: Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses, Freiburg i.Br.: Herder 1983, S. 234. »Wir haben bereits jetzt gute Gründe zur Annahme, es könnte sich bei der Gewalt gegen das versöhnende Opfer um eine radikale Gründungsgewalt handeln, und zwar in dem Sinne, daß sie den Teufelskreis der Gewalt beendet und gleichzeitig einen neuen einleitet, nämlich

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Girard beschreibt in seiner Theorie des Opfers einen Mechanismus der Stabilisierung sozialer Ordnung, dessen Voraussetzungen und Implikationen von den Beteiligten verkannt oder verleugnet werden; der Ritus funktioniert, weil die Opfernden die kollektive Unaufrichtigkeit ihres Handelns und damit die zweckdienliche Selbsttäuschung nicht in den Blick nehmen.27 In welchem Verhältnis steht nun die Figur Christi zu dieser auf täuschenden Annahmen beruhenden Praxis der Befriedung sozialer Konflikte? Einer entsprechenden Überlieferungsgeschichte zufolge fungiert der Erlöser als Lamm Gottes, das die Sünden der Menschen auf sich genommen und sie damit von ihrem niederen Begehren befreit habe.28 Seinem Blut werden – wie in den Zeremonien des bis heute gefeierten Abendmals – konfliktlösende Eigenschaften zugesprochen. Girard bemerkt, dass sich in der Deutung der Passion Jesu die Logik des archaischen Opfers reproduziert habe, so dass sich im Christentum falsche Annahmen im Hinblick auf den Sinn der christlichen Botschaft gebildet hätten. Christus, so heißt es, wendete sich gegen die bis dahin verbreiteten Vorstellungen über die Natur opfernder Gewalt, indem er deren Unwahrheit durch sein eigenes Schicksal offenlegte, denn er sei für alle sichtbar als Unschuldiger gestorben; das Neue Testament begründe eine auf Wahrheit und nicht auf Täuschung beruhende Ordnung des Sozialen. Theologie und Kirche hätten die Passion dagegen im Sinne traditioneller Verfahren der kathartischen Reinigung des Sozialkörpers durch opfernde Gewalt interpretiert. Auf diesem Wege sei die in den Evangelien beschriebene Hinrichtung Jesu – entgegen ihrer primären Bedeutung – re-sakralisiert worden, während die Texte sie explizit entsakralisiert hätten; die Passionsgeschichte sei auf diesem Wege in einen Fetisch verwandelt worden, mit entsprechenden Konsequenzen für das Selbstverständnis der christlichen Religion.29 Die Lehre sei dagegen von der Logik traditioneller Opferkulte freizuhalten, denn sie unterbreche nicht nur die Zirkel alltäglicher Gewalt, sondern vor allem

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den Kreis des Opferritus, der sehr wohl der Ritus der ganzen Kultur sein könnte.« Girard: Das Heilige, S. 140. Girard: Der Sündenbock, S. 10. Beispielgebend sind das Evangelium des Johannes (Joh.1, 29, 36) sowie die spätere Offenbarung des Johannes, beide im Neuen Testament. Sie (die Theologen, H.Z.) nehmen das Evangelium nicht wörtlich und neigen dazu, aus der Passionsgeschichte einen Fetisch zu machen. Sie spielen also unwissentlich das Spiel ihrer Gegner, aber auch das Spiel jeglicher Mythologie. Sie re-sakralisieren die durch die Evangelien entsakralisierte Gewalt.« Der Sündenbock, S. 185. »Die nichtsakrifizielle Deutung verpflichtet uns, aus allem, was den Tod Jesu Christi und seine Auferstehung betrifft, das Sakrale im Sinne der Gewalt auszuschließen. Das Sakrale spielt beim Tod Jesu keine Rolle. […] Gerade der naturalistische Charakter dieses Sterbens wird betont.« Girard: Das Ende der Gewalt, S. 240.

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auch die Praktiken der Tötung unschuldiger Stellvertreter im Dienste der Sozialhygiene.30 Girards Einsichten im Hinblick auf die Logik der christlichen Verkündung geben Gelegenheit, einen zusätzlichen Blick auf das Gemälde von Luca Giordano zu werfen. In der dargestellten Szene lässt sich zugleich der Ritus einer Opferung ausmachen, in dem in diesem Fall der Teufel die Rolle des Geopferten, das heißt die Position eines Sündenbocks eingenommen hat. Mit der Darstellung der blutenden Seitenwunde ruft der Maler die archaische Regel in Erinnerung, dass das Blut des Geopferten fließen müsse, um der Opferungsprozedur kathartische Kräfte zukommen zu lassen. Durch Girard wissen wir, dass das zunächst als schuldig und unrein betrachtete Opfer durch seine Hinrichtung eine Verwandlung erfährt, durch die es sakrale Eigenschaften gewinnt, denn Vorstellungen von rein und unrein liegen eng beieinander und können unter bestimmten Bedingungen ineinander übergehen. Der Autor erblickt in dieser Verwandlung eine zentrale Voraussetzung für den Glauben an Geister oder Götter, die über außeralltägliche Eigenschaften verfügen und deshalb zu Objekten kultischer Verehrung aufsteigen.31 Was diese Transformation für die Figur des Teufels bedeutet, der hier eine Art von Passion durchläuft, liegt auf der Hand: Zumindest in den Augen entsprechend disponierter Individuen gewinnt er auratische Qualitäten, die ihn über die Sphäre profaner Phänomene hinausheben; der durch den Engel mit der Waffe geführte Angriff verschafft ihm sakrale Eigenschaften. Nicht nur die opfernde Gewalt, sondern auch der Geopferte bildet ein Objekt eines entsprechenden Begehrens. Das Bild handelt von einem Prozess, in welchem die klassischen Transzendenzbindungen verblassen, während zugleich ein neues Interesse an der Darstellung von Akten der Grausamkeit auf den Plan tritt; es zeigt, wie sich in diesem Kontext ein entsprechendes, man könnte sagen diabolisches Begehren konstituiert. Gott hat sich von der Bildfläche zurückgezogen, während der abtrünnige Engel mit einer symbolischen Aufwertung des Teufels beschäftigt ist, die diese Figur am Ende in eine verehrungswürdige Instanz verwandelt. Im Bild von Giordano dokumentiert sich eine tiefgreifende Legitimationskrise des Systems der Kirche. In unmissverständlicher Form macht es darauf aufmerksam, auf welche Weise der Kampf um das Gute, dem sich das Christentum verschrieben hatte, auf die Stufe roher, archaischer Opferungspraktiken zurücksinkt. Der Akt, der sich hier gegen das angeblich Böse wendet, kann genau besehen selbst als satanisch bezeichnet werden. Man braucht nur den Schauplatz zu wechseln und an die seit dem späten 16. Jahrhundert massiv zunehmende Hexenverfolgung

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»In den Evangelien weist nichts darauf hin, daß der Tod Jesu ein Opfer sei, wie immer man dieses Opfer definieren mag: Sühnopfer, stellvertretendes Opfer u.s.w. In den Evangelien wird der Tod Jesu nie als ein Opfer bezeichnet.« Das Ende der Gewalt, S. 187, vergl. auch: S. 232ff. Girard: Der Sündenbock, S. 70ff.

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zu erinnern, um den weitertragenden kritischen Sinn des Bildes zu verstehen. In Inquisitions- oder Gerichtsverfahren, in denen die Verdächtigten – zumeist Frauen – oft grausam gefoltert wurden, ging es stets um die Frage, ob in den unterstellten Verfehlungen der Leibhaftige im Spiel gewesen sei; wo man sich sicher war, dass sich die Hexe dem Teufel verschrieben hatte, wurde sie dem Feuertod preisgegeben.32 Die Zentren der Hexenverfolgung, an der Protestanten einen erheblichen Anteil hatten, lagen bekanntlich im Norden Europas. Aber auch im Falle sonstiger Abtrünniger oder Ketzer wurde die Figur des Teufels bemüht, um Gegner oder Verdächtige als in höherem Sinne schuldig betrachten zu können. Im Rückgriff auf die gestürzte Figur des Luzifer produziert die Kirche ein Heer von Sündenböcken, die sie im Namen des angeblich Guten öffentlichkeitswirksam zur Strecke bringt. Nicht die der Hexerei Verdächtigten, nicht die Abtrünnigen oder Häretiker, sondern die Kleriker selbst waren auf bestimmte Weise vom Teufel besessen. Mit massenhaften Hinrichtungen schuf die Kirche den krisengeschüttelten Gesellschaften ein stetig bereitstehendes Ventil für die Abfuhr akkumulierter Aggression; dass sie sich damit selbst in den Abgrund stürzte, war wohl zunächst nur Wenigen klar. Man geht sicher nicht zu weit, wenn man den Rückgang des Einflusses der Kirchen auf das soziale und kulturelle Leben in der folgenden Zeit unter anderem als Produkt dieser inhumanen Ordnungspolitik betrachtet. Das Bild des Malers ist im Kontext dieser Entwicklung zu betrachten; es stellt sich der Rechtfertigung der Gewalt durch den Klerus entgegen, indem es die Lust an der Quälerei als ein tierisches Vergnügen bloßstellt: Der Hund am unteren Bildrand, der sich als Konterfei der lustvoll opfernden Gruppe, aber auch des mit der Lanze hantierenden Engels verstehen lässt, warnt das rezipierende Subjekt vor dem Abstieg in die dunklen Abgründe der Bösartigkeit. In gewisser Hinsicht erinnert er an die Position des verschwundenen Gottes, denn er motiviert das Subjekt, Abstand zu halten und den Zirkel der Gewalt zum Stehen zu bringen. So affektiv geladen die Komposition zunächst daherkommt, so besonnen und nüchtern ist ihre Botschaft, denn sie rückt eine von sinnlichen Impulsen sich absetzende Vernunft in den Blick; im Kern geht es um die Fähigkeit, eine analytische Distanz gegenüber entsprechenden Phänomenen zu entwickeln. Von Formen religiöser Andacht ist das Bild weit entfernt; es bewegt sich auf einem Reflexionsniveau, das nicht nur an Girards Einsichten zur Rolle des Opfers, sondern zugleich an moderne Theorien des Subjekts denken lässt.

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Vergl.: Wolfgang Behringer, Hexen. Glaube – Verfolgung – Vermarktung, München: C.H. Beck 1998; Rainer Decker, Hexen. Magie, Mythen und Wahrheit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004.

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II. Die Intensivierung der Darstellung von Gewalt in der religiösen Malerei des Barock war zunächst Teil der durch die sakrale Kunst verfolgten Strategien, die Attraktivität der christlichen Botschaft mit wirkungsästhetischen Mitteln zu untermauern. Wo das Leiden und Sterben der Märtyrer in schreckenerregender Form ins Bild gesetzt ist, so die leitende Annahme, konnte die Perspektive einer möglichen Rettung der Seele durch Gott dem Betrachter als umso attraktiver offeriert werden. Ein derartiges Verfahren antwortet auf eine Krise des Katholizismus, die nicht nur in der Reformation und ihren Folgen, sondern zugleich in den allgemeinen Prozessen der Modernisierung neuzeitlicher Gesellschaften ihre Voraussetzungen hat. Nicht zuletzt die Entwicklungen in den Wissenschaften untergraben die Fundamente der Theologie, die gegenüber den Neuerern zunehmend in eine defensive Position gerät. In dieser für sie prekären Lage lancieren die Verfechter des wahren Glaubens ein Verständnis vom Christentum, in dem der alte Geist archaischer Opferkulte verstärkt in den Vordergrund tritt: Fließendes Blut gewinnt an Attraktivität nicht nur in den Vorstellungs- und Bildwelten, sondern auch in den Hinrichtungspraktiken der Inquisitionsgerichte. Doch dieser Prozess, der die erschütterte Glaubenswelt konsolidieren soll, beschleunigt nur die Zersetzung der Legitimität und Anziehungskraft des Systems der Religion. Die über das bis dahin geltende Maß hinausgehende Re-Sakralisierung von Opfer- und Passionsmotiven lässt sich einer auf dem Weg in die Moderne befindlichen Gesellschaft nicht mehr problemlos vermitteln. Bei dem Versuch der Selbstverteidigung durch die authentische Darstellung des Leidens und Sterbens sinkt das Christentum auf eine frühere Stufe der Religionsentwicklung zurück. Gewalt wird zur Ultima ratio eines geschwächten Systems, das den Versuch unternimmt, das im Sinken begriffene Schiff vor dem Untergang zu bewahren. Dass die Verschärfung der Darstellungen von Gewalt weder der Erhaltung der Institution der Kirche, noch überhaupt der Idee des Christentums dienlich war, lässt sich anhand eines Bildes studieren, das dem Maler Giovanni Antonio Galli, gen. Lo Spadarino, zugeschrieben wird (Abb. 14). In diesem Meisterstück des Caravaggismus lässt sich eine aporetische Konstellation ausmachen, die zunächst das Motiv der Passion in den Vordergrund rückt, entsprechende Erlösungshoffnungen ins Gedächtnis ruft, zugleich jedoch eine Perspektive auf das Reale eröffnet, die mit dem Ethos des Christentums kaum zu vereinbaren ist. Dargestellt ist Christus, der den Betrachter herausfordernd anblickt und ihm dabei seine geöffnete Seitenwunde präsentiert. Obwohl mit einer Aureole ausgestattet, entbehrt die Figur jeder Erhabenheit und Größe, die Christusdarstellungen in der Regel auszeichnen. Der profane Charakter der Darstellung ist es nicht, der die religiöse Botschaft kollabieren lässt; entscheidend ist die Art der Präsentation der Wunde, die das Gravitationszentrum der Komposition ausmacht. Die Hände Jesu sind in gegenläufigen

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Abb. 14, Giovanni Antonio Galli, gen. Lo Spadarino, Christus zeigt seine Wunde, um 1625-35, Leinwand, 132,2 x 97,8 cm, Perth and Kinross Council Scotland, Perth Museum and Art Gallery.

Bewegungen um dieses Motiv gruppiert, so dass aufgrund ihres Lageverhältnisses der Eindruck einer strudelartigen Bewegung entsteht, die den Blick des Betrachters stets erneut auf dieses Zentrum hinleitet, unterstützt durch die Wellenstruktur des weißen Tuches, das den Unterkörper des Dargestellten bedeckt. In seinem Zentrum besitzt das Bild, das in einem fast fotographischen Realismus ausgeführt wurde, den höchsten Grad an veristischer Prägnanz. Die Darstellung der Wunde besitzt eine Authentizität und Wirklichkeitstreue, wie sie gemeinhin einem Trompe

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l’oeil in der Malerei zugesprochen wird. Doch damit ist deren Wirkung noch nicht erschöpft, denn die Verletzung mutet zugleich wie eine tatsächliche Deformation der Oberfläche des Bildträgers an, als sei nicht nur der Leib der Figur, sondern zugleich die Leinwand, auf der sie dargestellt ist, mit einer Stichwaffe beschädigt worden (am Original lässt sich dieser Effekt deutlich erkennen).33 Man denkt unwillkürlich an die Concetti spaziali des Italieners Lucio Fontana, Arbeiten aus dem 20. Jahrhundert, in denen der Künstler die Fläche mit unterschiedlichen Instrumenten durchstochen oder aufgeschnitten hat.34 In dem Gemälde von Giovanni Antonio Galli scheint sich das bildliche Imaginäre in Richtung auf das Reale hin zu öffnen, wenngleich dieser grenzüberschreitende Akt selbst nur auf imaginäre Weise – mit Hilfe eines Trompe l’oeil-Effekts – bewerkstelligt wird. Mit der auf diese Weise in Szene gesetzten Seitenwunde kommt auf dem Schauplatz der Malerei eine Instanz zur Geltung, die die Integrität der Bildfläche erschüttert. Die spiralartige Konfiguration der umgebenden Formen, die den Blick ins Zentrum hineinzieht, liefert zugleich die energetischen Bahnen, über die der klaffende Abgrund auf den Darstellungsraum ausstrahlt. Der Maler reflektiert in seiner Komposition, dass der Prozess der fortschreitenden Anhebung des Grades drastischer Gewalt beziehungsweise ihrer Folgen irgendwann mit der Frage nach den Grenzen der Malerei konfrontiert ist; er demonstriert, dass die Strategien der Zuspitzung wirkungsästhetischer Praktiken das Medium des Bildes selbst aufs Spiel setzen. Welche Form nimmt die christliche Botschaft unter diesen spezifischen Bedingungen an? Der suggestive Blick des Dargestellten sowie die Struktur der Komposition veranlassen den Betrachter, die Augen auf die Wunde zu richten. Gefordert ist die Versenkung des Blicks in den Abgrund des traktierten Fleisches. Einem möglichen Abweichen antwortet das Bild durch seine konzentrische Struktur, die den Blick stets erneut auf das exponierte Motiv hinleitet. Mit wirkungsästhetischen Mitteln wird die Distanz zwischen dem Bild und seinem Adressaten deutlich reduziert; die Darstellung greift auf den Betrachter zu, ohne ihm Auswege aus der hier regierenden Perspektive physischen Leidens offen zu lassen. Unter diesen Bedingungen vollzieht sich eine Transformation des überkommenen Christusbildes. Auch zuvor gab es Darstellungen der Figur Jesu, die ihre Wundmale darbietet; überhaupt sind Verletzungen in Bildern der Passion vielfach präsent. Man denke hier an ältere Darstellungen des so genannten Schmerzensmannes, die Galli zweifellos bekannt waren. Hier ist vor allem eine Skulptur von Interesse: die Christusfi-

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Ausgestellt war das Bild auf der Ausstellung »Utrecht, Caravaggio und Europa«, die im Jahre 2019 in der Alten Pinakothek in München stattgefunden hat. Vergl. Bernd Ebert/Liesbeth M. Helmus (Hg.): Utrecht, Caravaggio und Europa, München: Hirmer 2018, S. 207; vergl. auch Ausstellungskatalog Caravaggio & Bernini, Wien und Amsterdam: Prestel 2019, S. 31. Vergl. Thomas M. Messer: Lucio Fontana. Retrospektive, Katalog Schirn Kunsthalle Frankfurt, Ostfildern Ruit: Verlag Gerd Hatje 1996.

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gur von Dello di Niccolò Delli, deren Körperhaltung der Gallischen Figur auffallend ähnlich ist; auch das Bild des Ungläubigen Thomas von Caravaggio, auf dem Christus seine Seitenwunde präsentiert, wird für den Künstler von Bedeutung gewesen sein.35 Doch die traditionelle Kunst und Malerei richtete sich, entsprechend ihren Darstellungskonventionen, eher an ein aus der Distanz sich einfühlendes, den Botschaften sich annäherndes, der Fähigkeit des Nachdenkens mächtiges Subjekt; es gab Spielräume der Andacht und des frei schweifenden Gedankens, die eine eigenaktive Hinneigung des Gläubigen möglich machten. In diesen Kontexten waren die Wundmale in der Regel nur partikulare Momente eines komplexeren Zusammenhangs, in dem das Leiden zwar von Gewicht, nicht jedoch von allein entscheidender Bedeutung war. Die alte Malerei hat es verstanden, aus der Passion ein beseeltes, Empfinden, Geist und Gemüt gleichermaßen bewegendes Ereignis werden zu lassen; sie hat damit eine entsprechende, mit ästhetischen Erfahrungen verknüpfte Form der Frömmigkeit angestoßen und am Leben erhalten. In dem Gemälde von Galli ist von dieser Tradition nichts mehr geblieben. Christus, der zuvor entweder als Mitleid erregendes Subjekt oder als erhabener Überwinder seines Schicksals präsentiert wurde, hat sich auf ein ebenso selbstbezogen wie zwanghaft wirkendes Theater der Darbietung seiner Verletzung zurückgezogen und aus ihr einen bloßen Fetisch gemacht; er lässt dem Adressaten noch nicht einmal Raum für eine mit Empathie und Verständnis verknüpfte Wahrnehmung. Unübersehbar hat das Thema des Opfers beziehungsweise des Geopferten alle sonst noch für die Figur und ihre Rezeption unverzichtbaren Motive aus dem Feld geschlagen. Mit welchen Überlegungen und Intentionen der Maler selbst zu Werke ging, ist schwer zu beantworten.36 Bemerkenswert ist ein nicht sofort auffallendes Detail des Gemäldes: Betrachtet man die Seitenwunde und nimmt dabei zugleich die Brustwarze der Figur sowie die sich zwischen den Fingern der oberen Hand bildende Hautfalte in den Blick, so erkennt man das Segment eines Gesichtes: Die Brustwarze bildet ein Auge – das zweite Auge ist verdeckt –, der Schnitt in der Seite nimmt die Funktion eines geöffneten Mundes an, die Hautfalte schließlich ähnelt einer Nase. Hat

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Das Bild von Galli erinnert vor allem an eine plastische Darstellung Christi, die dem italienischen Künstler Dello di Niccolò Delli zugeschrieben wird und im frühen 15. Jahrhundert entstand. Vergl. https://de.frwiki.wiki/wiki/Dello_di_Niccol%C3%B2_Delli; W. Mersmann, Stichwort »Schmerzensmann«, in: Engelbert Kirschbaum (Hg.), Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 4, Freiburg im Breisgau: Herder 1974, Sp. 87-95, insb. Abb. 1; zum Bild von Caravaggio: Sebastian Schütze, Caravaggio. Das vollständige Werk, Köln: Taschen 2009, S. 164f. Vermutlich ist das Bild für ein Hospital entstanden. »Sculptures and paintings of this subject«, so bemerkt John Cash, »were traditionally located in hospitals, as reminders of Christ’s compassion for, and identification with, sick an suffering humanity, and it may be that the sculptural qualities of the Perth painting reflect that tradition and were devised for such a location.« John Cash: A Carravaggesque ›Christ‹ in Scotland, in: The Burlington Magazine, Vol. 151, No. 1279, Art in Italy (Oct. 2009), S. 682.

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man diese Konstellation einmal entdeckt, so drängt sie sich dem Blick in der Folge immer wieder auf. Im Verhältnis zur unterkühlt wirkenden Darstellungsweise der Figur mutet dieses Detail fast wie ein karnevalesker Kommentar sowohl zur Präsentationsgeste Jesu als auch zu möglichen Dispositionen auf Seiten des Betrachters an. Wie immer auch die Intentionen Gallis ausgesehen haben mögen, sein Gemälde versucht, den in der älteren Kunst bestehenden Konsens aufzukündigen, den Stoff der religiösen Überlieferung im Raum eines vom Realen sich absetzenden bildlichen Imaginären vor Augen zu führen. Mit dem suggerierten Einbruch der kruden Wirklichkeit tritt an die Stelle der tröstenden Kraft des Bildes eine atmosphärische Kälte, die die Botschaft des Neuen Testaments sichtlich durchkreuzt. Die religiöse Malerei seit Giotto inszenierte die biblischen Geschichten nicht nur im Lichte der ewigen Macht Gottes – dessen Zeichen in den Bildern vielfach gegenwärtig waren –, sondern rückte sie zugleich als außeralltägliche, zeitlose Narrative in den Blick. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass entsprechende Motive nicht selten in heimischen Landschaften oder urbanen Räumen präsentiert wurden. Wo sich das Bild dagegen dem Realen annähert – wie in dem Christus von Galli – ergreift eine andere Form der Zeit Besitz von den berichteten Begebenheiten. Der Heiland verharrt nicht mehr in einem imaginären Jenseits, sondern zeigt die Neigung, im Hier und Jetzt leibhaft präsent zu werden; seine Augen dringen offensiv in den Raum des Betrachters ein. Die für die alte Malerei konstitutive Grenze zwischen dem Imaginären und dem Realen wird zwar nicht eingeebnet, aber durchlässiger gemacht. Wo das exklusive Interesse an opfernder Gewalt beziehungsweise an drastischen Darstellungen der Grausamkeit in den Vordergrund tritt, steht das System der traditionellen Malerei zur Disposition, denn dieses System lebt von Prozessen der Sublimierung, die entsprechende Darstellungen möglich machen, andere dagegen ausschließen. Es ist viel über angebliche Mängel und Defizite dieser Konventionen gedacht und geschrieben worden. Man warf ihnen die Verleugnung realer Missstände, die einseitige Parteinahme für Strukturen der Macht und nicht zuletzt die Exklusion der nicht schon Kultivierten und Gebildeten vor. Das Schöne in der Kunst, das zum einen durch antike Vorbilder inspiriert, zum anderen durch die Theologie gestützt wurde, galt nicht wenigen als im Kern korrumpiert, geradezu als Ausdruck des Bösen. Die Hinausschiebung und Schleifung der Grenzen des Imaginären im Interesse der Entsublimierung von Darstellungsverfahren sollten der Kunst Authentizität und Wahrheit bringen, die ihr angeblich im alten System mangelten. Wie weit eine derartige Entsublimierung im Zeitalter des Barock vorangetrieben wurde, lässt sich anhand eines Gemäldes von Rembrandt studieren. Seine Darstellung Die Blendung Simsons von 1636 verarbeitet ein Thema aus dem Alten Testament

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Abb. 15, Rembrandt, Gefangennahme und Blendung Simsons, 1636, Leinwand, 205 x 272 cm, Frankfurt a.M., Städelsches Kunstinstitut.

(Abb. 15).37 Gezeigt ist eine Szene am Ausgang eines dunklen, höhlenartigen Raumes, im dem auch der Betrachter selbst Platz zu nehmen aufgefordert ist. Der erste Eindruck, der sich bei diesem Bild aufdrängt, ist ein leichtes Geblendetsein durch das helle, von links hinten in den Raum einfallende Licht, das das Ereignis kontrastscharf aus dem dämmrigen Kontext heraustreten lässt. Schon zu Beginn sieht sich der Rezipient in einen Zustand der Anspannung versetzt, der aus einer wenn auch nur fiktiven Überforderung des Auges resultiert. Man fühlt sich an Platons Höhlengleichnis erinnert, in dem der Philosoph feststellte, dass derjenige, der sich von der Schattenwelt des Irdischen ab- und dem Reich der Ideen zukehre, aufgrund des hellen Lichts, das ihm entgegenströmt, zunächst Schmerz empfände.38 Doch Rembrandt eröffnet der Seele nicht den Weg in ein Reich höherer Wahrheiten, sondern zeigt den tragischen Abstieg eines Subjekts in eine Welt ewiger Finsternis. Das Bild, das in der Tradition des Caravaggismus steht, bietet eine ausgeklügelte Inszenierung drastischer Gewalt, die dem Betrachter mehr abverlangt als in der

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Die Geschichte von Simson wird erzählt in: Altes Testament, Richter 13-16. Platon: Politeia, Siebentes Buch, 515 c-e, in: Sämtliche Werke 3, Hamburg: Rowohlt 1958, S. 224f.

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Rezeption von Bildern gemeinhin ertragen werden kann. Dargestellt ist ein Moment aus der Geschichte des mit übermenschlichen Kräften ausgestatteten Juden Simson und seiner Geliebten Delila vom Stamme der Philister, die es auf Simson abgesehen hatten, bisher jedoch stets unterlegen waren. Delila, ihre Stammesgenossin, entschlossen, Simson zu Fall zu bringen, konnte sich des Geheimnisses, dem er seine Unbesiegbarkeit zu verdanken hatte, bemächtigen: Es war sein langer Haarschopf, der ihm in der Vergangenheit stets zur Seite stand. Die Folgen des Verrats präsentiert das Bild: Delila steht am Eingang der Höhle, in der linken Hand das Haarbüschel, das sie dem Manne mit einer Schere abgeschnitten hat. Der auf diese Weise seiner Kraft Beraubte war den überzähligen Gegnern hilflos ausgeliefert. Im Zentrum der Komposition regiert ein diabolisches Dreieck, gebildet aus der im Licht stehenden Schere, einem von links kommenden dunklen Spieß und der schlangenförmigen Klinge eines Dolches, die ins Auge des Simson gestoßen wird. Auf derselben Achse wie der Dolch – lediglich in die entgegengesetzte Richtung weisend – befindet sich der angehobene Unterschenkel des Opfers; mit seinen gekrümmten Zehen scheint Simson nach der Frau zu greifen, die jedoch im Begriff ist, mit ihrer Trophäe den Schauplatz zu verlassen.39 Scherenartig sich öffnende Dreiecke finden sich auch an anderen Stellen der Komposition, die auf diese Weise den Schrecken auf der Ebene der planimetrischen Ordnung multiplizieren. Rembrandt zeigt Simson in einer ausweglosen Lage. Ein Philister liegt unter dem Gestürzten und hält ihn von hinten umschlungen, ein zweiter hat das rechte Handgelenk des Opfers mit einer Kette gefesselt und an sich gezogen, während ein dritter, auf der linken Seite des Bildes platzierter Akteur einen Spieß vor sich hinhält, um den Gefesselten von einer möglichen Flucht abzuhalten. Auf diese Weise in die Zange genommen, wird Simson der blutigen Prozedur der Auslöschung seines Augenlichts unterzogen. Bis in mikrologische Details setzt der Maler den Akt in Szene, bemerkbar an den Falten des schmerzverzerrten Gesichts, den fein ziselierten Barthaaren und den Blutstropen, die aus dem Auge emporquellen. Auf den durch das Gegenlicht bereits geblendeten Betrachter kann das Gezeigte umso intensiver zugreifen. Kaum je zuvor ist ein Akt der Gewalt in der Malerei in einer derart schockierenden Weise dargestellt worden. In jedem Fall überbietet der Künstler hier die bekannten, ebenfalls grausamen Darstellungen von Martyrien bei Jusepe de Ribera, Luca Giordano oder Guido Reni.40 Man kann sich der über das pure Sehen hinausgehenden Wirkung des Dargestellten kaum entziehen; das Bild setzt auf synästhetische Prozesse, die zugleich das leibliche Empfinden

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Volker Manuth ist der Auffassung, Delila würde nicht auf den Akt, sondern auf den Betrachter blicken. Die Augen des Sünders – Überlegungen zu Rembrandts Blendung Simsons von 1636 in Frankfurt, in: Artibus et Historiae, Vol. 11, No. 21 (1990), S. 172. Vergl. die bereits zitierten Arbeiten von Silke Kurth: Das Anlitz der Agonie und Walther K. Lang: Grausame Bilder.

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des Betrachters mobilisieren. Rembrandt, so heißt es in der Literatur, sei über das Sehen hinaus grundsätzlich an taktilen Wahrnehmungen interessiert gewesen.41 In der Blendung Simons wird dieses Interesse auf die Spitze getrieben. Der durch das Gegenlicht ohnehin in die Defensive manövrierte Betrachter kann nicht umhin, selbst virtuell in die Rolle des Geblendeten zu schlüpfen; der Dolch, der zum Einsatz kommt, hat nicht nur einen Adressaten. In theologischen Kommentaren wurde Simson als ein von Gott Erwählter mit Christus in Verbindung gebracht. Dennoch galt seine Verstümmelung durch die Philister als Urteil Gottes, denn er hatte sich mit seinem auf Delila gerichteten Begehren schuldig gemacht. Die Strafe, so heißt es, traf das Auge, jenes Organ, das in der christlichen Tradition unter anderem mit den sinnlichen Leidenschaften assoziiert war und damit als Quelle der Unkeuschheit galt.42 Mit der Auslöschung des Augenlichts sollte jener höheren Einsicht der Boden bereitet werden, an der es dem in die Welt der leiblichen Triebe verstrickten Sünder mangelte; wo das irdische Licht verschwand, konnten die moralischen Gesetze ungetrübt ins Bewusstsein treten.43 Dass das atavistische Verfahren der Blendung in den theologischen Kommentaren des Alten Testaments und in den Predigten auch der Rembrandt-Zeit als legitime Strafe Gottes behandelt wurde, um die Menschen zu einem züchtigen Leben anzuhalten, ist als historisches Faktum hinzunehmen.44 Ob sich Rembrandt allerdings derartige Vorstellungen zu Eigen gemacht hat, kann mit Recht bezweifelt werden. Man muss das Bild selbst und nicht die biblischen Texte und deren treue Kommentare sprechen lassen.45 In seiner Darstellung rückt der Maler eine hilflose, auf grausamste Weise traktierte Kreatur in den Blick. Die Art der Inszenierung steht im Dienste des Opfers, das der Empathie des selbst bedrohten Betrachters anempfohlen wird; Zeichen eines Triumphes angesichts einer angeblich gerechten Bestrafung des Sünders sind an keiner Stelle auszumachen. Nicht mehr, aber 41 42 43

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Vergl. Svetlana Alpers: Rembrandt als Unternehmer. Sein Atelier und sein Markt, Köln: DuMont 1989, S. 69ff. Volker Manuth, Die Augen des Sünders, S. 190f. So Simon Schama: »Samson wurde für seine moralische Blindheit bestraft. Nun, da seine Augen erloschen waren, konnte er die Dinge endlich in richtigem Licht sehen.«, Rembrandts Augen, Berlin: Siedler 2000, S. 423. In der konkreten Strafpraxis ist das Blenden, wie Richard van Dülmen bemerkt, seit dem 16. Jahrhundert kaum noch angewandt worden. Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München: C.H. Beck 2010, S. 68. Überzeugender als die orthodox theologische Interpretation ist die von Kira van Lil vertretene Auffassung, Rembrandt habe mit seinem Bild in den Auseinandersetzungen zwischen den nördlichen Niederlanden und Spanien Position bezogen. Simson steht für die zunächst unterlegenen Holländer, denen jedoch – wie dem später geheilten Simson – künftiger Erfolg in Aussicht gestellt wird. Kira von Lil: Malerei des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden, Deutschland und England, in: Rolf Toman (Hg.), Die Kunst des Barock. Architektur – Skulptur – Malerei, Köln: Könemann 1997, S. 448.

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auch nicht weniger als eine hinterhältig eingefädelte und kaltblütig ausgeführte Attacke auf einen Menschen ist im Bild dargestellt. Sollte Gott wirklich, wie unterstellt, für diese Tat verantwortlich sein, so wäre er selbst nur ein düsterer Drahtzieher zwielichtiger Machenschaften. Ähnlich wie in dem Gemälde Giordanos fehlt auch in diesem Bild ein Äquivalent für den höheren Sinn und die Legitimität des Angriffs. Die offen gebliebene Leerstelle muss auch hier durch das rezipierende Subjekt besetzt werden, welches aus der Position des selbst partiell Geblendeten die präsentierte Gewalttat aus kritischer Distanz zu betrachten hat. Die Rezeption bewegt sich zwischen den Extremen eines affektiven, geradezu physischen Involviertseins und einer Reflexion, die sich der Unbarmherzigkeit des Gezeigten zu versichern weiß. Die Blendung Simsons von Rembrandt ist nicht, wie es konservative Theologen möchten, die Darstellung einer legitimen Bestrafung sinnlichen Begehrens, sondern eine Warnung vor primitiven Atavismen. Wie Luca Giordano ist auch Rembrandt auf dem Wege zu einem modernen, selbstverantwortlich wahrnehmenden und urteilenden Subjekt. Neben diesen theologischen oder moralphilosophischen Problemen gibt es einen essentiellen Subtext des Bildes zu berücksichtigen. Das Auge, das im Zentrum des Geschehens steht, eröffnet unter normalen Bedingungen nicht nur den Zugang zur sichtbaren Welt, sondern fungiert zugleich als unverzichtbare Bedingung der Möglichkeit von Malerei, denn das Medium des Bildes ist an das Sehen gekoppelt, das heißt an die Fähigkeit, natürliches Licht zu empfangen. Über die Allianz zwischen Wahrnehmungssinn und Darstellungspraxis ist in der Entstehungszeit des Gemäldes immer wieder nachgedacht worden.46 Die von Künstlern verschiedentlich verwendete camera obscura wurde in diesem Kontext bekanntlich zugleich als ein Modell des menschlichen Auges betrachtet.47 Man kann den höhlenartigen Raum der Blendung Simsons durchaus als Anspielung auf dieses technische Gerät betrachten, in welchem sich Bilder durch das bloße Einfallen von Licht in einen dunklen Raum konstituieren. Wo es an Licht mangelt oder wo dies genommen wird, zieht sich das Wahrgenommene zurück; doch auch ein Übermaß desselben kann, wie die Komposition demonstriert, den Blick auf das Seiende erschweren. Rembrandt macht sich das letztere Phänomen zunutze, um den Prozess des Sehens selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Mit der aus dem Hintergrund einbrechenden Helligkeit, die das Auge des Betrachters blendet, gibt er einen Anstoß zu einer reflexiven Thematisierung visueller Wahrnehmung.48 Die

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Vergl. Svetlana Alpers: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln: DuMont 1985, S. 41ff. u. 79ff. Zur camera obscura vergl. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1996, S. 41ff. Simon Schama bemerkt, Rembrandt habe in späteren Überarbeitungen die Helligkeit des Hintergrundes noch gesteigert. Rembrandts Augen, S. 422.

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im Gegenlicht stattfindende Blendung Simsons verstärkt diese Aufforderung, über die Natur des Sehens nachzudenken. Mit dem Verlöschen der Augen verschwindet indessen nicht nur die sinnliche Welt, sondern zugleich die Fähigkeit, Bilder wahrnehmen zu können. Rembrandts Komposition handelt nicht nur von der Wahrnehmung, sondern zugleich von den Möglichkeiten und Grenzen der Malerei. Dass dem Betrachter dieses Reflexionsprogramm anhand eines derart grausamen Sujets offeriert wird, entspringt offenbar einer spezifischen Einsicht: Wo die Darstellung der Gewalt einen bestimmten Grad des Drastischen überschreitet, beginnt das Medium der Malerei zu kollabieren. Betrachter, die in strategischer Weise zur Identifikation mit einem Geblendeten aufgefordert werden, können die grausame Darstellung evidentermaßen nur eingeschränkt rezipieren; der auch physisch wahrnehmbare Schrecken, den das Motiv auslöst, durchkreuzt einen dem Medium der Malerei angemessenen Modus der Wahrnehmung. Mit wirkungsästhetischen Mitteln praktiziert der Maler einen Angriff auf das bis dahin geltende System ästhetischer Rationalität. Rembrandt geht in der Blendung Simsons bis an eine ganz bestimmte Grenze und demonstriert dabei, was der Kunst verloren geht, wenn sie diese Grenze überschreitet. Kaum zufällig hat er nur ein einziges Mal ein solches Experiment durchgeführt, denn er wusste wahrscheinlich, dass er zu weit gegangen war. Dabei besitzt dieses Experiment einen unbestreitbaren Sinn, denn es zeigt in beispielgebender Weise, was das Medium der Malerei überfordert und letztlich zerstört. Naheliegend ist die Vermutung, Rembrandt habe das Bild gemalt, um zu demonstrieren, dass der in ihm beschrittene Weg in die Irre führt. Der eine oder andere wird das Bild in anderer Weise als Ausdruck einer zukunftsweisenden, kompromisslosen Gesinnung betrachten; doch man muss vorsichtig sein, denn hier geht etwas Entscheidendes verloren. Mit der Anhebung des Grades drastischer Gewalt gewinnen selektive Prozesse im Raum der Aufmerksamkeit an Gewicht, die die Komplexität des Wahrgenommenen deutlich reduzieren. Die in den Vordergrund tretenden Impulse bewirken eine verstärkte Entsublimierung der Produktions- und Rezeptionspraxis, die den Prozessen einer differenzierten ästhetischen Wahrnehmung zuwiderläuft. Rembrandt, dessen Werke ein hohes Maß an innerer Komplexität besitzen, muss dies bemerkt haben; sein Gemälde rückt nicht nur dem Betrachter zu Leibe, sondern lässt zugleich den Schauplatz der Malerei selbst erzittern. So detailliert und präzise der grausame Akt auch dargestellt ist, so schwer fällt es, auf das Geschehen wirklich hinzublicken. An die Stelle einer den Bildraum gelassen erschließenden Betrachtung tritt eine partielle Erblindung, ein verunsichertes, irritiertes, beschleunigtes Sehen, das nicht umhinkann, das Grauen zu registrieren, ohne bei den Einzelheiten des Gezeigten verweilen zu können.

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III. Im Werk Rembrandts bleibt die Darstellung drastischer Gewalt die Ausnahme. Anders verhält es sich später bei Francisco de Goya. Betrachtet man die Radierungen, die der Spanier zwischen etwa 1810 und 1820 zum Thema des Krieges anfertigte und die später unter dem Titel Los Desastres de la Guerra publiziert wurden, so wird deutlich, dass hier das Verhältnis von Bild und Gewalt in neuer Weise bearbeitet wird. Die historische Schlüsselrolle des Künstlers in dieser Hinsicht ist immer wieder hervorgehoben worden. Richtungsweisend waren die Einsichten Theodor Hetzers, der auf das für das Werk charakteristische Verhältnis zwischen dem Verlust religiöser Bindungen auf der einen – Gott hat sich endgültig aus der Welt zurückgezogen – und der Zersetzung beziehungsweise Transformation des tradierten ästhetischen Denkens auf der anderen Seite aufmerksam gemacht hat. War der gläubige Mensch der alten Welt Teil einer sinnhaft strukturierten Schöpfung, so sinkt das aus diesen Zusammenhängen herausgelöste Subjekt buchstäblich ins Nichts.49 Der durch Hetzer diagnostizierte Zustand metaphysischer Obdachlosigkeit war nicht neu, er hatte sich bereits in der vorhergehenden Zeit in dieser oder jener Form bemerkbar gemacht, gewinnt nun indessen ein höheres Gewicht für die Selbstwahrnehmung des Künstlers sowie für die Form und Struktur ästhetischer Artefakte. In der alten Malerei bis in die Zeit Tiepolos lässt sich eine an Ganzheitsimperativen orientierte planimetrische Organisation der Bildfläche ausmachen.50 Tafelbilder waren seit Giotto vielfach an der Idee einer Totalität orientiert, einer synthetischen Einheit des Mannigfaltigen. Daneben traten jedoch auch Darstellungen grausamer Szenen hervor, in denen dieses alte System zu erodieren begann, wie etwa in den entsprechenden Bildern des gefesselten Prometheus oder des Tityos im Werk von Jusepe de Ribera. In diesen Gemälden löst sich die Figur aus ihrer planimetrischen Verankerung und scheint geradezu aus dem Bildfeld zu stürzen.51 Goya geht noch einmal andere Wege; exemplarisch sind die Radierungen aus dem Zyklus Los Desastres de la Guerra.52 Was hier wie auch an anderen Stellen seines Werks hervortritt, ist ein aus Traditionsbindungen sich lösendes Verständnis von kompositorischer Ordnung, mit der sich zugleich das Verhältnis des Bildes zur Bildfeldbegrenzung verändert. Der Rahmen steht nicht mehr – wie in der Malerei 49

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»Goyas Gestalten«, so sagt Theodor Hetzer, »stehen beziehungslos vor dem Nichts; sein Dunkel ist verzweiflungsvoll und beängstigend, von keinem geheimnisvollen tröstenden Licht erhellt […].« Theodor Hetzer: Francisco Goya und die Krise der Kunst um 1800 (Entstanden 1932 – Erstveröffentlichung 1950); in: ders., Zur Geschichte des Bildes von der Antike bis Cézanne, Stuttgart: Urachhaus 1998, S. 147. Vergl. Theodor Hetzer: Giotto, S. 39ff. Silke Kurth, Das Anlitz der Agonie, S. 144 u. 148. Hamburger Kunsthalle (Hg.)Goya. Los Desastres de la Guerra, Stuttgart: Hatje 1992.

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Abb. 16, Francisco de Goya, Amarga presencia, Bittere Gegenwart, aus: Los Desastres de la Guerra, 145 x 170 mm, Radierung.

zuvor – in einer zwingenden Verbindung mit dem auf der Fläche Gezeigten, sondern gibt einen kontingenten, immer auch anders möglichen Ausschnitt aus einem unbegrenzten Raum des Sichtbaren.53 Das heißt nicht, dass die Struktur des Dargestellten beliebig wäre, im Gegenteil: die Radierungen besitzen eine strukturelle Rationalität, eine flächenbezogene Ordnung, der sie ihre expressive Signifikanz verdanken; auch jenseits der klassischen Parameter lebt die Idee einer kompositorisch austarierten Darstellung fort. Ein Beispiel gibt die Radierung Nummer 13 mit dem Titel Amarga presencia, Bittere Gegenwart (Abb. 16). Wie in zahlreichen anderen Blättern bedient sich der Künstler einer skizzenhaften, auf Details verzichtenden Darstellungstechnik; es regiert ein nervös-bewegter, teils fahrig wirkender Strich, der der ins Bild gesetzten Szene eine innere Unruhe vermittelt. Das Druckbild der Platte auf dem Papier lässt den Prozess einer teils rigiden Bearbeitung des Me-

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So macht sich Goya, wie Hetzer bemerkt, »frei von der Anlehnung an die alte Art der Rahmengerechtigkeit. Es wird jetzt sehr deutlich, daß der Rahmen nicht mehr eine geschlossene Welt begrenzt, sondern nur noch die künstlerische Funktion hat, einen Ausschnitt bildmäßig zu bestimmen.« Hetzer: Francisco Goya, S. 160.

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talls spürbar werden.54 In der Mitte der Komposition vor dem dunklen Pfeiler sind zwei Soldaten gezeigt, die sich zu einer um Gnade flehenden Frau herunterbeugen, während auf der linken Seite weitere Figuren platziert sind, deren Rolle nicht näher spezifizierbar ist. Im Hintergrund, unterhalb des rechten Bogens, wird der Sinn der ganzen Darstellung offengelegt; obwohl kaum nennenswerte Details geboten werden, begreift der Betrachter sofort, was sich ereignet: In zugespitzter formaler Verknappung präsentiert der Künstler die Vergewaltigung einer Frau. Auffallend ist der Hut des Mannes, der aufgrund der parallel verlaufenden Strichlagen einem rotierenden Kreisel ähnelt; die auf diese Weise angedeutete Vibration des Kopfes fungiert als Zeichen entsprechender Bewegungen des männlichen Körpers. Der neben ihm befindliche Kopf der Frau ist dagegen zu einer dunklen, amorphen Masse zusammengeschmolzen. So wirft das im Hintergrund ablaufende Geschehen ein Licht auf die im Vordergrund platzierte Szene und lässt sie umso grausamer erscheinen, denn man weiß nun, dass die von der Frau erflehte Gnade verweigert werden wird. Es ist ähnlich wie in dem Bild von Rembrandt, das ebenfalls eine für das Opfer ausweglose Situation darbietet. Die agierenden Philister sind vom gleichen Schlage wie die französischen Besatzungssoldaten, die über die wehrlosen Frauen hergefallen sind. Goyas graphischer Zyklus liefert Bilder, in denen sich die höheren Mächte aus dem irdischen Geschehen zurückgezogen haben; Erlösungsperspektiven für die Opfer stehen nicht mehr zur Verfügung.55 Das System der alten, im Raum der Kunst sich reproduzierenden Theologie lieferte einen Deutungsrahmen, in dem das Leben des Menschen im Lichte entsprechender Wert- und Zielvorstellungen betrachtet wurde. Gott selbst besaß das Monopol, die irdische Existenz im Hinblick auf den Endzweck der Schöpfung zu durchleuchten und Entscheidungen über das Schicksal der Seelen zu treffen. Die Theologie unterlegte der menschlichen Existenz einen Sinn, der an Perspektiven ewiger Gerechtigkeit festgemacht war. Wo dieses System verschwindet, verwandelt sich nicht nur der Mensch, sondern auch das Wesen der Gewalt. Auf diese einschneidende Veränderung antworten die Radierungen der Desastres. In Blatt 13 der Folge fällt nur noch ein fahles, sinnentleertes Licht auf eine Szene, in der die Vergewaltigten keine Hilfe durch Gott, und die Täter kein letztes Gericht zu erwarten haben. Unter diesen Bedingungen konstituiert sich ein neues Subjekt, das fortan, ohne sich gegenüber einer höheren Macht verantworten zu müssen oder auf eine derartige Macht setzen zu können, auf sich allein gestellt ist. Akte der Grausamkeit können nun als Zeichen einer in jeder Hinsicht ungebrochenen Souveränität des Handelnden ausgelegt werden. Goya stellt

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Im vorliegenden Blatt setzt der Künstler neben dem Verfahren der Ätzung die sog. Kaltnadeltechnik ein. Darüber hinaus kommen Grabstichel, Polierstahl und Lavis zum Einsatz. Goya. Los Desastres, S. 172. Hetzer: Francisco Goya, S. 147.

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nicht nur die Grausamkeiten des Krieges dar, sondern er macht zugleich darauf aufmerksam, wie sich unter den Bedingungen einer entgötterten Welt die Deutung und der Blick auf Gewalt zwangsläufig verändert.

Abb. 17, Sebastiaen Vrancx, Die Plünderung des Dorfes Mommelgem, um 1620, Öl auf Eichenholz, 55,6 x 85,4 cm, Düsseldorf, museum kunst palast.

Es ist zweckmäßig, hier noch einmal ein Beispiel aus der älteren Malerei ins Gedächtnis zu rufen. Blickt man auf das Gemälde Die Plünderung des Dorfes Wommelgem, das der Maler Sebastiaen Vrancx um 1620 produzierte, so zeigt sich eine Situation, die sich deutlich von Goyas Bildwelt unterscheidet (Abb. 17). Man sieht einen Dorfanger, auf dem Soldaten mit der Jagd auf die Bewohner beschäftigt sind.56 Den bereits Getöteten werden die Kleider vom Leib gerissen, offenbar um sie für Zwecke der Truppe zu nutzen. Entscheidend ist die spezifische Atmosphäre des Bildes: Vrancx zeigt den Überfall unter einem dämmrigen, zerklüftet wirkenden Himmel, von dem ein düsteres Licht auf das tragische Geschehen ausstrahlt. Das 56

Vrancx thematisiert ein Ereignis aus dem achtzigjährigen Krieg zwischen den nördlichen Niederlanden und den spanischen Habsburgern, die in den südlichen Niederlanden herrschten. Gezeigt ist ein 1589 ausgeführter Angriff von Truppen der Generalstaaten auf das in der Nähe Antwerpens gelegene Dorf Wommelgem. Vergl. Hermann Nöring/Thomas F. Schneider/Rolf Spilker (Hg.): Bilderschlachten. 2000 Jahre Nachrichten aus dem Krieg. Technik – Medien – Kunst, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 125f.

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Vorgehen der Soldaten ist nicht weniger brutal als das Agieren der Mörder auf Goyas Kriegsbildern. Was das Gemälde von den Graphiken allerdings unterscheidet, ist die Tatsache, dass in ihm das tragische Geschehen im Horizont einer theologisch gedeuteten Welt vor Augen geführt wird. Während einige der noch lebenden Bewohner sich dem Gebet hingeben, steigt gelblicher Rauch von der im Hintergrund brennenden Kirche wie das Zeichen eines verdichteten Flehens um Gnade zum Himmel auf; selbst der weitgehend entlaubte Baum im Mittelgrund der Darstellung scheint den Himmel auf seine Weise anzurufen. Der Angriff trifft Menschen, die als misshandelte Kinder Gottes präsentiert werden, als Gläubige, die auf Erlösung hoffen können, denn in dem Gemenge der Wolken und der Rauchschwaden scheint sich bereits der Zorn des himmlischen Vaters zusammenzubrauen. Die mordenden Soldaten rücken in die Rolle von Sündern vor dem Herrn, die sich für ihre Untaten zu verantworten haben. Ungeachtet des Grauens regiert die Gewissheit des Bestehens einer transzendenten Ordnung, die die irdische Welt überragt und den Ereignissen einen mehr als nur endlichen, profanen Sinn unterlegt. Goya, der sich derartigen Perspektiven verweigert, transformiert das bildnerische Denken, indem er neue Darstellungsverfahren entwickelt. Im Effekt erreicht er Wirkungen, die dem Realen näherkommen, näher jedenfalls als es in der überkommenen Kunst möglich oder wünschenswert war. Ähnlich wie bei Caravaggio gewinnt man zuweilen den Eindruck, die Arbeiten des Künstlers hätten einen trübenden Schleier von den Dingen abgezogen und auf diese Weise einen von Illusionen gereinigten Blick auf das Reale möglich gemacht. Zweifellos hat sich das Verhältnis zwischen dem Realen und dem bildlichen Imaginären verschoben; doch diese Verschiebung bedarf einer näheren Betrachtung. Es ist verschiedentlich bemerkt worden, der Künstler antizipiere in seinen Radierungen Bildwirkungen, die der Fotographie oder dem Film eigen sind.57 Analogien dieser Art sind zweifellos zu bemerken, doch man muss mit diesen Analogien vorsichtig umgehen, um nicht auf falsche Wege zu geraten. Die einfache Vorstellung, Goyas Graphiken bildeten eine Stufe in einem Prozess der Annäherung an das Reale, der dann von der Fotographie und vom Film fortgeführt wird, ist so nicht zu halten, denn der Eindruck, 57

Fred Licht vergleicht die Blätter der Desastres mit der modernen Pressefotographie. »In mancher Hinsicht erinnert Goya in seinen Desastres […] stärker an die wenigen genialen und leidenschaftlichen Photoreporter des 20. Jahrhunderts als an irgendeinen seiner Zeitgenossen und Vorgänger« So tritt an die Stelle von Harmonie »bei Goya jetzt die Unmittelbarkeit des Augenzeugenberichts.« Fred Licht: Goya. Beginn der modernen Malerei, Düsseldorf: claassen 1985, S. 135ff. u. 138. Werner Hofmann bemerkt gar, die »82 Radierungen der ›Desastres de la Guerra‹, Szenen aus den Kriegs- und Hungerjahren 1810 – 1812, laufen wie ein Film ab. Goya nimmt die Techniken vorweg, die erst hundert Jahre später von den Pionieren des bewegten Bildes – Wsewolod Pudowkin, Sergej Eisenstein – als Mittel der dramatischen Verdichtung wiederentdeckt wurden.« Werner Hofmann: Goya. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, München: C.H. Beck 2003, S. 206.

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den sie von ihren Gegenständen liefern, ist zu einem nicht unerheblichen Teil Produkt konstruktiver Operationen. Die Radierungen – darauf ist ebenfalls hingewiesen worden – sind in stetiger Auseinandersetzung mit der bildlichen Tradition entstanden; ihnen liegen nicht unbedingt eigene Erfahrungen des Künstlers zugrunde; die Authentizität, die sie nach außen kehren, ist von artifizieller Natur.58 Ungeachtet seiner Radikalität bleibt der Künstler in gewisser Weise Traditionalist, denn er weigert sich, Gewalt ohne Prozesse einer ästhetischen Transformation ins Bild zu setzen. Den Sinn dieser Transformation begreift man, wenn man sich die möglichen Folgen des Prozesses der Auflösung der theologischen Deutungshoheit im Hinblick auf die Darstellung von Phänomenen der Gewalt vor Augen hält. Man könnte sagen, die ästhetische Rationalität, an der Goya festhält, bilde einen Ersatz für die verschwundene Transzendenz, die die Grausamkeit in bildlichen Darbietungen abmilderte. Goya versucht offenbar zu verhindern, dass sich der Betrachter an Phänomenen der Gewalt festsieht und in die Haltung eines lustgetriebenen Voyeurs abgleitet; er entwickelt einen Darstellungsmodus, in dem Gewalt in weiterhin sublimierter Form als Gegenstand einer distanzierten Wahrnehmung auftreten kann. Das ästhetische Verfahren impliziert Prozesse des psychodynamischen Aufschubs. Werner Hofmann hat gar von einer »bannenden Abwehr« des Schreckens durch eine »strenge Form« gesprochen.59 Auf dem Boden der gegenüber dem Sujet aufgerichteten Distanz kann sich die Reflexion des Betrachters etablieren. Das ungefilterte Reale ist es jedenfalls nicht, was zur Erscheinung kommt, sondern das Produkt einer reflektierenden Interpretation, die die in den Blick genommene Gewalt ästhetisch transformiert. Goya verwandelt den Gegenstand, um ihn nicht zu einem sinnlichen Faszinosum für das Subjekt werden zu lassen; er mobilisiert die Kräfte der Form, ohne den dargestellten Phänomenen der Grausamkeit die kalte Physiognomie zu nehmen; Tote, Verletzungen oder Wundmale können auf diese Weise nicht – wie etwa in dem Christus-Bild Gallis – in Fetische verwandelt werden. Auf diese Weise eröffnen die Desastres nicht nur einen neuen Blick auf das Reale, sondern bieten darüber hinaus eine veränderte Gestalt des bildlichen Imaginären. Der graphische Blick ist dabei parteiisch, denn er nimmt Stellung gegen die gewissenlos agierenden Täter. Obwohl die Blätter zunächst den Charakter

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Auf dieses Vorgehen Goyas macht Werner Busch aufmerksam. Vergl. ders.: Goya, München 2018, S. 108ff. Gwyn A. Williams bemerkte sogar: »Das ist in keinem Sinne ›Reportage‹. Die ganze Serie ist eine sorgfältig komponierte Übung.« Goya, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 17. »Es ist, als verspürte Goya die Notwendigkeit, gegen die abscheuliche Bestialität die bannende Abwehr einer strengen Form zu setzen«. Werner Hofmann, Goya, S. 217; vergl. auch Oliver Jehle: Ornamente des Erleidens. Über Goyas »Grausamkeit des Krieges«, in: Anna Pawlak/ Kerstin Schankweiler (Hg.), Ästhetik der Gewalt – Gewalt der Ästhetik, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2013, S. 186ff.

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unbestechlicher Dokumente mit sich führen, verfügen sie über expressive Eigenschaften, die sich an die Empfindsamkeit und Empathie des Betrachters wenden. Goya unterläuft strategisch die Mechanismen der Identifikation des Betrachters mit dem Subjekt der Gewalt; er liefert keine Helden, die zur Identifikation Anlass geben.60

IV. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts tritt ein Sujet in der Malerei auf den Plan, anhand dessen ein zentrales Problem in der Entwicklung moderner Bildkonzepte studiert werden kann: Der Ausbruch eines Vulkans. Künstler machten sich auf den Weg an den Golf von Neapel, um ein derartiges Naturschauspiel vor Ort studieren zu können. In exemplarischer Form zeigt ein zwischen 1780 und 1790 entstandenes Gemälde des englischen Malers Joseph Wright of Derby den Vesuv zu nächtlicher Zeit mit einer glühenden Lavafontäne einschließlich eines die Abhänge hinabfließenden Magmastromes; im Vordergrund platzierte Personen beobachten das Geschehen aus einer gewissen Entfernung (Abb. 18).61 Den Kontrapunkt zu dem bewegten Spektakel bildet der im linken Teil des Bildes am Himmel stehende Mond, der ein fahles Licht auf die unter ihm liegende Landschaft wirft. Dargestellt ist ein Moment der Entfesselung tellurischer Kräfte. Bis in die atmosphärischen Phänomene der Landschaft ist der transitorische Charakter des Geschehens kenntlich gemacht. Der Mond, der als Fixpunkt der Komposition fungiert, bildet dabei genau besehen keine Ausnahme, denn der informierte Betrachter weiß, dass er in Kürze seine Stellung geändert haben und auf seiner Bahn weitergewandert sein wird. Auch die Erde, auf der sich das Ereignis abspielt, ist keineswegs unbewegt, sondern ändert stetig ihren Ort in ihrem Umlauf um die Sonne. Diese Assoziationen drängen sich auf angesichts eines Bildes, dessen Schöpfer mit der modernen Naturwissenschaft, vor allem auch der Physik Isaac Newtons vertraut war.

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Mit der Zurückdrängung des Einflusses der Theologie und Kirche verliert auch die Figur des traditionellen Helden für die Malerei an Bedeutung. Vergl. dazu Werner Busch: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München: C.H. Beck 1993, S. 24-180. Wright of Derby hat etwa 30 Ansichten dieses Vulkans hervorgebracht. Vergl. hier Susanne B. Keller: Die Aneignung des Vulkanausbruchs zwischen Wissenschaft und Kunst, in: Markus Bertsch/Jörg Trempler (Hg.), Entfesselte Natur. Das Bild der Katastrophe seit 1600, Petersberg: Imhoff 2018, S. 45-57; Jörg Trempler: Katastrophen. Ihre Entstehung aus dem Bild, Berlin: Wagenbach 2013; Susanne B. Keller: Naturgewalt im Bild. Strategien visueller Naturaneignung in der Kunst und Wissenschaft 1750 – 1830, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2006, S. 280ff.

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Abb. 18, Joseph Wright of Derby, Vesuvausbruch, um 1780-1790, Öl auf Papier auf Holz, 45 x 58 cm, Hamburg, Galerie Hans.

Ein anderes Gemälde aus seinem Werk zeigt ein von mehreren Personen betrachtetes Tischplanetarium, ein dreidimensionales, bewegliches Modell des Planetensystems einschließlich des Himmeläquators, des Wendekreises des Krebses und des nördlichen Polarkreises.62 Der technische Apparat präsentiert die wechselnden Positionen der Planeten und ihrer Trabanten in ihrem Verhältnis zueinander und zur Sonne. Im Fokus der Betrachtung steht eine Welt, deren mechanische Prozesse mit den Mitteln physikalischer Theorie präzise erfasst werden. Die aufgeklärte Wissenschaft war sich einig, dass man keineswegs auf Kategorien der traditionellen Theologie zurückgreifen müsse, um die Eigenart und Struktur des kosmischen Geschehens begreifen zu können. Doch der Maler war, wie Werner Busch vermutet, kein Atheist, sondern von der Existenz einer ersten, übersinnlichen Ursache der Natur überzeugt: Im Hintergrund seines Denkens steht wahrscheinlich die im 18. Jahrhundert einflussreiche, mit dem Deismus verknüpfte Physikotheologie, die von der Annahme ausging, dass man von der beobachtbaren Ordnung der Welt 62

Vergl. dazu Werner Busch: Das unklassische Bild. Von Tizian bis Constable und Turner, München: C.H. Beck 2009, S. 159-178, bes. S. 170ff.

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durchaus auf einen göttlichen Schöpfer derselben schließen könne.63 Ein über entsprechende Kenntnisse verfügender Uhrmacher musste – so die Idee – das große Uhrwerk des Kosmos konstruiert und in Gang gesetzt haben, obwohl es nun ohne weitere Eingriffe seines Konstrukteurs seinen Dienst leistete. Für bestimmte Repräsentanten des aufgeklärten Denkens im 18. Jahrhundert schlossen sich moderne Naturwissenschaft und Gottesglaube keineswegs aus.64 Das Bild des nächtlichen Vulkanausbruchs entstand also vermutlich in der Absicht, die Kompatibilität von Naturwissenschaft und Theologie auf ästhetische Weise plausibel zu machen.65 Dabei tritt ein für die damalige Kunst zentrales Phänomen ins Spiel: das Erhabene.66 Wenn Gott auch – aus deistischer Sicht – das Weltgeschehen sich selbst überlassen habe, so galt das Erhabene gleichwohl als ein unmissverständliches Zeichen seiner überragenden Weisheit und Größe.67 Mit physikotheologischen Argumenten wurde die mit dem Anbruch der Moderne sich weitende und zunehmend unüberschaubarer werdende Welt theologisch neu ausgelotet. Dem unendlichen, durch Newton beschriebenen Raum wuchsen in der Schule der Cambridger Platonisten, wie Ruth und Dieter Groh bemerken, die essentiellen Prädikate des Weltschöpfers zu: unum, simplex, aeternum, a se existens,

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Physikotheologische Argumente finden sich bereits bei Platon, gewinnen allerdings in der Neuzeit eine neue Virulenz. Vergl. S. Lorenz: Stichwort »Physikotheologie«, in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe & Co., Bd. 7, Sp. 948 – 955; Vergl. auch Ruth Groh/Dieter Groh: Weltbild und Naturaneignung. Zur Naturgeschichte der Kultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 109-140. Zur Position von Wright of Derby: Werner Busch, Das unklassische Bild, S. 171 u. 174f. sowie: Werner Busch: Materie und Geist. Die Rolle der Kunst bei der Popularisierung des Newtonschen Weltbildes, in: Herbert Beck/Peter C. Bol/Maraike Bückling (Hg.), Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildende Kunst der Aufklärung, München: Klinkhardt & Biermann 1999, S. 401-418. Vergl. auch Werner Busch: Joseph Wright of Derby, Das Experiment mit der Luftpumpe. Eine Heilige Allianz zwischen Wissenschaft und Religion, Frankfurt a.M.: Fischer 1986. Bedeutsam war hier der so genannte Deismus, eine Form des theologischen Denkens, das an der Existenz Gottes festhielt, ohne die Vorstellungen des traditionellen Offenbarungsglaubens zu übernehmen. Vergl. Stichwort »Deismus«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Hans Dieter Betz u.a. (Hg.), Bd. 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2020, Sp. 614ff. Von besonderer Bedeutung waren hier entsprechende Abhandlungen von Edmund Burke und Immanuel Kant. Vergl. Jörg Heininger: Stichwort »Erhaben«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart: J.B. Metzler 2001, S. 275-310; Ruth Groh/ Dieter Groh: Weltbild, S. 92-149. So bemerken Ruth Groh und Dieter Groh: »Das Erschrecken der Menschen angesichts eines grenzenlosen Weltalls, das mit Begriffen wie ›Barockpessimismus‹, ›kosmische Verlorenheit‹ und Bedrohung durch einen ›kosmischen Nihilismus‹ beschrieben wird, konnte aufgefangen werden durch die Vorstellung eines unendlichen, allgegenwärtigen Schöpfergottes«. ebd., S. 121ff.

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omnipraesens etc.68 Schreckenerregende, als formlos geltende Erfahrungsgegenstände wie hohe Gebirge, tiefe Abgründe, Meeresstürme, Vulkanausbrüche, wüste Landschaften und dergleichen galten nun nicht mehr als Symptome einer aus den Fugen geratenen Ordnung, sondern als Bestandteile einer sinnvoll geordneten, auf Gottes Macht zurückweisenden Welt. Mit dem Erhabenen gewinnt seit dem 17. Jahrhundert eine Kategorie in den ästhetischen Debatten an Bedeutung, die für den Umgang mit Phänomenen der Kraft in Bildern, in weiterer Folge für die Darstellungen von Prozessen der Gewalt von zentraler Bedeutung ist.69 Immanuel Kant unterscheidet bekanntlich zwischen einem Dynamisch-Erhabenen und einem Mathematisch-Erhabenen. Unter Ersterem versteht der Autor eine Macht beziehungsweise Gewalt der Natur – genannt werden etwa Stürme oder Vulkane –, die den Menschen niederringen kann und deshalb als furchterregend wahrgenommen wird.70 Dem DynamischErhabenen kontrastiert das Mathematisch-Erhabene, das in Objekten hervortritt, die die Vorstellung des schlechthin Großen zu evozieren vermögen.71 Wright of Derbys Gemälde, das aus Kantischer Perspektive beide Spielarten des Erhabenen verbindet, thematisiert im Inneren der Erde schlummernde, mit Macht an deren Oberfläche tretende Kräfte, die in den Kontext weiterer, wenn auch auf andere Weise bewegter Phänomene eingebettet sind. Von zentraler Bedeutung ist dabei der am Himmel sich zeigende Mond, der wie eine Kanonenkugel durch den leeren, unendlichen Raum wandert und auf diese Weise zugleich das MathematischErhabene zur Geltung bringt. Folgt man den Vorstellungen der Physikotheologen, so hätte man in diesem Bild Indizien einer allmächtigen göttlichen Vernunft vor sich. Hier gilt es innezuhalten. Liefert der Maler wirklich ein tragfähiges Beispiel für das Programm einer Annäherung der modernen, mechanistischen Naturanschauung an die monotheistische Religion? Auf dem Boden einer an der Barockmalerei geschulten Darstellungstechnik setzt der Künstler seinen Gegenstand wirkungsästhetisch in Szene. Doch die malerische Durchführung des Themas bleibt einen überzeugenden Verweis auf einen im Hintergrund stehenden Weltschöpfer schuldig. Die zweifellos erhaben anmutende Naturkatastrophe – ein Übermaß an freigesetzten Energien, eingebettet in eine unendliche Leere – eignet sich kaum, dem in die Defensive geratenen Gott der Theologie wieder auf die Füße zu helfen. Von der im linken Teil des Bildes lokalisierten Kirche ist jedenfalls nichts zu erwarten, denn sie steht auf unsicherem Terrain. An dieser

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Ebd., S. 123. Als klassischer Text zu diesem Thema gilt Edmund Burkes Abhandlung: Vom Erhabenen und Schönen, Berlin: Aufbau Verlag 1956. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Berlin: De Gruyter 1968, S. 260ff. Ebd., S. 248.

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Situation ändert auch die Tatsache nichts, dass Phänomene des Erhabenen sakrale Eigenschaften zu entfalten und das Subjekt in die Knie zu zwingen vermögen. Bekanntlich war der Raum der modernen Physik, der den endlichen Kosmos des christlichen Mittelalters ersetzte, für zahlreiche Zeitgenossen eine im Kern bedrohliche und erschütternde Vorstellung.72 Wright of Derbe legt in seinem Bild entweder bewusst oder unbeabsichtigt Rechenschaft über diesen Zusammenhang ab. Der auf die rötliche Lava des Vulkans antwortende Mond wirkt kalt und eignet sich nicht zu einer religiösen Versenkung. Dass der Schöpfer des Himmels hier keinen Auftritt mehr hat, könnte vom Standpunkt einer antitheologisch gesinnten Aufklärung begrüßt werden, würde das Bild nicht – wie zahlreiche anderer seiner Art – einer problematischen Entwicklung Vorschub leisten. Im Prinzip wird das Erhabene der Natur darstellungsstrategisch auratisiert und damit selbst in den Gegenstand einer kontemplativen Andacht verwandelt: Phänomene des entseelten Raumes und der entseelten Kraft beginnen, das Bewusstsein des Menschen zu beherrschen; wie Kant bemerkte, verfügen diese Phänomene über eine eigene Form der Anziehungskraft.73 Der Philosoph vertrat kaum zufällig die Auffassung, Gegenstände des Erhabenen hätten lediglich die Funktion, die menschliche Vernunft an ihre eigene Erhabenheit zu erinnern; er weigerte sich, Dingen der Natur – und seien sie über alle Maßen einnehmend und beeindruckend – Macht über das Subjekt zuzugestehen.74 Die Entstehung des Gemäldes von Wright of Derby fällt in eine historische Phase, in der die Erfahrung von Zeit einschneidende Veränderungen durchlief. Niklas Luhmann hat in seiner Theorie sozialer Systeme die Voraussetzungen und Implikationen dieser Transformation auf seine Weise verständlich gemacht. Zeit, wie immer sie auch wahrgenommen oder gedacht werden mag, ist, so der Autor, stets eine durch einen in je spezifischer Weise disponierten Beobachter konstruierte Größe; nirgends stoßen wir auf eine von sozialen und kulturellen Faktoren unabhängige temporale Wirklichkeit. Die Wahrnehmung und der Umgang mit Zeit sind

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So erklärte Pascal: »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.« Blaise Pascal: Über die Religion (Pensées), Heidelberg: Lambert Schneider 1963, S. 115 (III, 207). Zur Genese der modernen Sicht auf den Kosmos vergl. auch: Peter Sloterdijk, Sphären II, Globen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Kant macht darauf aufmerksam, der Anblick derartiger Phänomene »wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns in Sicherheit befinden; […]« Kritik der Urteilskraft, S. 261. »Wir können nicht mehr sagen«, so Kant, »als daß der Gegenstand zur Darstellung einer Erhabenheit tauglich sei, die im Gemüthe angetroffen werden kann; denn das eigentliche Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft: welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen läßt, rege gemacht und ins Gemüth gerufen werden.« Ebd., S. 245.

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Luhmann zufolge durch Prozesse der Setzung von Unterschieden bestimmt, die für die Eigenart und Struktur zeitlicher Phänomene verantwortlich zeichnen. In den vormodernen europäischen Gesellschaften regierte die an theologische Motive gekoppelte Unterscheidung von Zeitlichkeit und Ewigkeit, tempus und aeternitas, durch welche sämtliche Ereignisse in den Horizont eines zeitlos-übersinnlichen Seins gerückt wurden.75 Gesellschaften des Mittelalters besaßen eine zentrale Semantik, die alle Sektoren des sozialen Lebens in eine sinnhafte Einheit zusammenfügten. Mit dem Anbruch der Neuzeit und Moderne übernimmt die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft sukzessive die Führung in der Wahrnehmung und im Nachdenken über Zeit; die Instanz des Ewigen löst sich auf zugunsten einer alles durchdringenden, permanenten Veränderung. Entscheidend ist dabei, dass in diesem Prozess keineswegs die überkommene Gestalt der Vergänglichkeit in den Vordergrund tritt, denn mit dem Verschwinden Gottes verwandelt sich auch der Charakter des Werdens. Auf dem Boden der neuen Unterscheidung wird die Gegenwart zum Problem: Sie schrumpft, wie der Autor feststellt, verliert jede positive Qualität, während sie in traditionsorientierten Gesellschaften als Bastion gegen die Flüchtigkeit der Existenz ins Spiel gebracht wurde.76 Der Autor spricht von einer Verzeitlichung der Gegenwart, mit der eine nicht abzuarbeitende Unruhe und Irritabilität in das soziale und psychische Leben einbricht.77 »Die Ewigkeit«, so heißt es, »hatte der Zeit, die lange der kurzen Gegenwart eine Art zeitlose Sinngarantie gegeben. Die Perfektionsform der Zeit war selbst zeitlos gedacht und die Zeit daher in Raumform zur Anschauung gebracht worden. Diese Semantik verliert jedoch im auslaufenden Mittelalter mehr und mehr ihre Beziehung zu dem, was in der Gesellschaft, zum Beispiel in der Wirtschaft oder in den Ereignissen an den Fürstenhöfen, als Zeit fungiert. Insbesondere der Vermittlungsbegriff des aevum fällt

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Niklas Luhmann: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: ders., Soziologische Aufklärung 5, Konstruktivistische Perspektiven, 3. Auflage, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 115; vergl. auch Armin Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 189ff. Die Gegenwart wird, so Luhmann, »zum Problemort – im Unterschied zu allen älteren Gesellschaften, die gerade in der Gegenwart wegen der hier unbestreitbaren Weltgleichzeitigkeit ihre Sicherheit gefunden hatten. Deshalb zerbricht auch die Unterscheidung von tempus und aeternitas, von Zeit und Ewigkeit, mit der sich, wenn man so sagen darf, die Gegenwart gegen ihre eigene Flüchtigkeit gewehrt hatte. An die Stelle dieses Duals tritt die Notwendigkeit einer einheitlichen Weltzeit, die die Gegenwart nur noch durch die Differenz von Vergangenheit und Zukunft und eben nicht mehr zugleich durch die Differenz von zeitlicher und ewiger Gegenwart markiert.« Niklas Luhmann: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, S. 115. Niklas Luhmann: Temporalisierung von Komplexität: Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie moderner Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 260f.

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einer zunehmenden Radikalisierung des Zeitproblems zum Opfer; er wird sozusagen subjektiviert, wird in die Form der Unruhe, Angst, Langeweile gebracht. Die bereits temporalisierte Gegenwart schrumpft und verliert schließlich ihren Realitätsgehalt.«78 Innerweltliche Prozesse beschleunigen sich, während sich das Denken und die Aktivitäten des Subjekts vorzugsweise der Zukunft zuwenden, die eine Optimierung individueller und sozialer Verhältnisse zuzulassen verspricht. Von konstitutiver Bedeutung für die Moderne ist die Idee des Fortschritts, in der das Bestehende stets zugunsten eines zu erwartenden Neuen zur Disposition gestellt wird. Unter diesen Bedingungen vollzieht sich, wie etwa Karl Löwith zeigte, die Säkularisierung der alten christlichen Eschatologie.79 Auch die Malerei ist von diesen Veränderungen betroffen. Das alte System des Bildes, das im Zeitalter des Barock in eine Krise gerät, bot dem Subjekt die Möglichkeit, den dargestellten Begebenheiten Sinn und Gewicht über entsprechende Zeichen des Bestehens einer höheren Wirklichkeit zu verschaffen; narrartive Szenen, Objekte in Stillleben oder Landschaften waren in unterschiedlichem Maße mit Spuren des Absoluten durchsetzt. Inszenierten Veränderungen, so sehr sie auch in den Vordergrund gerückt wurden, kam dabei eine nur relative Bedeutung zu, denn das zeitlose, ewige Sein galt als in jedem vorübergehenden Moment gleichermaßen präsent. Das Subjekt konnte von der Gewissheit ausgehen, die Darstellungen eines Bildes sowie alle Phasen der Wahrnehmung desselben stünden in einem Verhältnis der Gleichzeitigkeit mit dem in ewiger Gegenwart verharrenden Gott. Der Gläubige musste also nicht über das jetzt Vorliegende in die Zukunft schreiten, um sich der Existenz des Weltschöpfers versichern zu können, denn das Sein Gottes und das Sein der endlichen Phänomene standen in einem Verhältnis der Synchronizität. Mit der anbrechenden Moderne sieht sich die Malerei vor eine gänzlich veränderte Situation gestellt. Sofern sie sich zum Ziel setzt, die nunmehr als alternativlos geltenden temporalen Qualitäten des Realen zu erschließen, sieht sie sich mit einem Dilemma konfrontiert, denn zeitliche Prozesse der Veränderung liegen außerhalb ihrer Darstellungsmöglichkeiten. Die scheinbaren Bewegungen auf der Bildfläche, wie die fließende Lava und die atmosphärischen Fluktuationen bei Wright of Derby, sind bloße Ersatzbildungen, Produkte der mit den bildlichen Texturen interagierenden Einbildungskraft des Betrachters; sie gehören nicht der Sphäre objektiver Vorgänge an, sondern einer eigenen, im ästhetischen Raum

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Niklas Luhmann, Temporalstrukturen des Handlungssystems. Zum Zusammenhang von Handlungs- und Systemtheorie, in: ders., Soziologische Aufklärung 3, Soziales System, Gesellschaft, Organisation, 4. Auflage, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 163. Vergl. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart: Kohlhammer 1990

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konstituierten Temporalität. Wenn Gott verschwindet, verwandelt sich das zeitliche Geschehen von einer lediglich akzidentellen Größe in ein alles beherrschendes Phänomen; die Kräfte der Natur nehmen die Rolle erster Substanzen ein; stabile Verhältnisse sind – wenn sie sich denn herausbilden können – nur noch von akzidenteller Bedeutung. Der Zusammenbruch der tradierten Kodierung der Zeit wird im Bild des Vulkanausbruchs virulent; hier stößt das traditionelle bildliche Imaginäre an eine Grenze: Der von Gott abgelöste Raum des ewigen Werdens bleibt dem Bild verschlossen, denn es kann reale Bewegungen mit den ihm eigenen Mitteln nicht wiedergeben. Unterschiedlichste Wege sind mit Blick auf dieses Dilemma beschritten worden. Zwei Wege sind in diesem Kontext von Interesse. Zum einem steht der Malerei die Möglichkeit offen, ihren Mangel in eine Tugend zu verwandeln; sie kann Darstellungsstrategien entwickeln, die geeignet sind, einen ephemeren Moment der prozessförmigen Natur im Bild einzufangen. Man denke an Bilder des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die den Wolkenhimmel zu bestimmten Tageszeiten und Witterungsverhältnissen wiedergeben.80 Stärker als je zuvor tritt dabei das Flüchtige im Natureindruck in den Blick, so dass man sagen kann, hier würde der Versuch unternommen, die Logik des Augenblicks in Richtung eines bloßen partikularen Zeitpunkts zu verschieben.81 Hier wird die aufgrund neuer Differenzierungsakte schrumpfende Gegenwart zum Thema. Gezeigt sind Situationen, die in ihrer ostentativen Kontingenz einen Ausschnitt aus einem weitergefassten zeitlichen Geschehen darbieten; später hat der Impressionismus diese Strategie perfektioniert. Der zweite Weg führt über die Grenzen des Mediums der Malerei hinaus. Ein bemerkenswertes Beispiel gibt ein Künstler, der sich wie Wright of Derby für Phänomene der Natur, nicht zuletzt für katastrophische Vorgänge interessierte: Philippe Jacques de Loutherbourg. Der in Frankreich ausgebildete und später in England tätige Maler beginnt in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts mit bewegten Bildern zu experimentieren. Das Produkt seiner Bemühungen, das so genannte Eidophusikon, eine Art Guckkasten mittleren Formats, lieferte den Zuschauern ein für ihre Zeit suggestives Spektakel.82 Zu den bevorzugten Motiven gehörten ein 80

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Werner Busch: Alles Unvollständige ist der Zeitlichkeit unterworfen. Der Anteil des Betrachters an der »Vervollständigung« der Kunst um 1800, in: Thomas Kisser (Hg.), Bild und Zeit. Temporalität in Kunst und Kunsttheorie seit 1800, München: Fink 2011, S. 177-192. Zur Differenz von Augenblick und Zeitpunkt vergl. noch einmal Hans Holländer: Augenblick und Zeitpunkt. Eidophusikon bedeutet so viel wie »Nachahmung der Natur«. Der Guckkasten hatte eine Breite von etwa zwei Metern und eine Höhe von etwa einem Meter, bei einer Tiefe von 2,70 m. Vergl. Rüdiger Joppien: Philippe Jacques de Loutherbourgs Eidophusikon. Ein darstellerloses Miniaturtheater. In: Bärbel Hedinger/Inés Richter-Musso/Ortrud Westheider (Hg.), Wolkenbilder. Die Entdeckung des Himmels, Bucerius Kunst-Forum und Jenisch Haus, München: Hirmer 2004, S. 134f.

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Sonnenaufgang über einer Stadt, das von Sturm bewegte Meer, über den Himmel ziehende Wolken oder der Ausbruch eines Vulkans. Inspiriert durch die Bühnentechnik des Theaters bediente sich der Künstler mechanischer Vorrichtungen, verwendete wechselndes künstliches Licht und setzte zugleich akustische Effekte ein. Richtungsweisend für diese ästhetischen Praktiken waren das Theater und die Oper des Barock, die mit Hilfe teils aufwendiger Maschinen nicht nur den Wechsel von Kulissen bewerkstelligten, sondern auch die Szenenbilder selbst in Bewegung versetzten.83 Die erste, im Jahre 1781 in London gezeigte Vorstellung trug den Titel: Aurora: oder Morgendämmerungsstimmung mit einer Ansicht Londons von Greenwich Park aus. Die Präsentation lieferte dem Publikum Ansichten von wechselnden Zuständen der Natur im Ablauf der Zeit.84 Mit Recht ist festgestellt worden, dass de Loutherbourg mit seinem populären Apparat einen zukunftsweisenden Weg beschritt, der in weiterer Folge zum modernen Kino hinführte.85 Der Künstler sprengt die Grenzen der Malerei, indem er mechanischen Prozessen im Inneren des Bildes selbst zur Geltung verhilft. In ähnlicher Weise verfuhr man im deutschen Fürstentum von Anhalt-Dessau. Der kunstsinnige Landesvater ließ einen kleinen Vulkan in seinem Wörlitzer, an englischen Vorbildern orientierten Park errichten, den man mit Hilfe von Feuerwerkskörpern in Betrieb setzten konnte.86 Dieser Feuer speiende Felsen, genannt Der Stein, ist in das artifizielle Gefüge eines Landschaftsgartens integriert, der von Beginn an auf bildhafte Wirkungen hin angelegt war; indem sich der Betrachter durch dieses Arrangement bewegte, eröffneten sich ihm stets neue pittoreske Ansichten. So bildeten auch die pyrotechnischen Veranstaltungen Momente einer spezifischen Form des Imaginären.87 Man stößt hier bereits auf

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Vergl. Klaus-Dieter Reus: »Das Operntheater erfordert etwas Großes in der äußerlichen Vorstellung« – Barocke Bühnentechnik, in: Ulf Küster (Hg.), Theatrum mundi. Die Welt als Bühne, Haus der Kunst München: Edition Minerva 2003, S. 30-33. Francis D. Klingender gibt folgende Beschreibung der Aufführung wieder: »Wenn sich der Vorhang hob, war die Bühne in jenes geheimnisvolle Licht gehüllt, das der Vorläufer des Tagesanbruchs ist, so naturgetreu, daß die Einbildungskraft des Zuschauers die süße Morgenluft witterte. Ein schwaches Licht erschien am Horizont; die Szene nahm eine dunstartige Tönung von Grau an; nach einer Weile ging ein safrangelber Schimmer in jene reinen, vielfältigen Töne flockiger Wolken über, die im Morgennebel zergehen, nach und nach wurde das Bild heller, die Sonne erschien und vergoldete die Wipfel der Bäume und die höchsten Spitzen der stattlichen Gebäude und ließ die Wetterfahnen auf den Kuppeln erstrahlen […]«. Im Anschluss daran folgten die Szenen »Mittag«, »Sonnenuntergang« und »Mondschein«, die romantische Orte am Mittelmeer darstellten. Beendet wurde die Vorstellung mit dem Bild eines Sturmes auf dem Meer und einem Schiffbruch. Francis D. Klingender: Kunst und industrielle Revolution, Dresden: Verlag der Kunst 1974, S. 87. In diesem Sinne äußert sich auch Klingender; ebd., S. 87. Vergl. Norbert Eisold: Das Dessau-Wörlitzer Gartenreich. Der Traum der Vernunft, Köln: DuMont 1993, S. 127f. Vergl. Rüdiger Joppien: Philippe Jacques de Loutherbourgs Eidophusikon, S. 134f.

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eine Konstellation, die für das Medium der bewegten Bilder bis heute von Bedeutung ist. Mit dem Ziel, der Wirklichkeit nahezukommen, produziert die mit technischen Mitteln angetriebene Darstellung lediglich eine Illusion realer Prozesse. In gewisser Hinsicht gleicht diese Strategie dem Trompe l’oeil des Barock, das dem Auge ebenfalls täuschende Substitute der Wirklichkeit liefern sollte. Dies ist von erheblicher Relevanz für die spätere Entwicklung bewegter Bilder, denn diese folgen – wie im Film deutlich wird – vielfach dem Ziel, dem Realen immer ähnlicher zu werden, ohne dieses je erreichen zu können. So schließen Bilder, die unbewegte durch bewegte Darstellungen ersetzen, das Subjekt genau besehen in eine neue Form des Imaginären ein. Die Bewegungen im inneren des Bildes sind real, im Hinblick auf den wiedergegebenen Gegenstand jedoch ein bloßes Phantasma. In gewisser Hinsicht ersetzt dieses Phantasma den verschwundenen Gott.

V. Mit der Kultur der Moderne tritt ein Subjekt auf den Plan, das verglichen mit den Individuen traditionsorientierter Gesellschaften über größere Freiheitsspielräume verfügt, dabei jedoch mit einer entsprechend erhöhten existentiellen Unsicherheit konfrontiert ist. Unter den Bedingungen fortschreitender Säkularisierung geraten psychische, soziale und politische Verhältnisse zunehmend in Bewegung. Die dabei in die Defensive gedrängte Religion lieferte dem Einzelnen ein mehr oder minder stabiles Rahmensystem für den Zugang zur Welt und die Bewältigung lebenspraktischer Probleme. Aus der Gewissheit, dass Gott in ewiger Gegenwart die irdische Existenz des Menschen begleite und auch seinem Sterben einen tieferen Sinn gäbe, bezog das Subjekt existentielle Orientierung; Krisen, Irritationen und Bedrohungslagen konnten im Rekurs auf diese überzeitliche Instanz überwunden oder zumindest erträglicher gemacht werden. Bestimmte Positionen der Religionssoziologie sehen in dieser Leistung eine zentrale Funktion der Religion. Ulrich Oevermann geht von der Einsicht aus, dass das menschliche Dasein grundsätzlich mit einem erheblichen Maß an Unsicherheiten behaftet ist.88 Das instinktentlastete, aus der Natur herausgetretene, über die Freiheit der Wahl verfügende Subjekt steht vor dem Problem, Entscheidungen treffen zu müssen, die sich im Nachhinein als richtig, aber auch als falsch, womöglich als existenzbedrohend herausstel-

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Ulrich Oevermann: Ein Modell der Struktur von Religiosität. Zugleich ein Strukturmodell von Lebenspraxis und sozialer Zeit, in: Monika Wohlrab-Sahr (Hg.), Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt a.M./New York: Campus 1995, S. 27-102. Vergl. auch Ulrich Oevermann: Strukturelle Religiosität und ihre Ausprägungen unter Bedingungen der vollständigen Säkularisierung des Bewusstseins, in: Christel Gärtner/Detlef Pollack/Monika Wohlrab-Sahr (Hg.), Atheismus und religiöse Indifferenz, Wiesbaden: Springer 2003, S. 339-387.

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len können. Dass Entscheidungen Risiken mit sich bringen, setzt den Entscheider unter entsprechende Begründungs- und Rechtfertigungszwänge. Vom Auftreten derartiger Probleme kann niemand – auch nicht die in traditionsorientierten Gesellschaften lebenden Individuen – befreit werden. Oevermann sieht in den hier gegebenen Konfliktlagen die bestimmende Voraussetzung für die Entwicklung religiöser Systeme oder Überzeugungen. So unterschiedlich sich die Glaubenssysteme im Einzelnen darstellen mögen, sie antworten sämtlich auf die Probleme einer durch Freiheit bedingten Unsicherheit angesichts der Frage nach dem richtigen Leben und Handeln. In diesem Kontext treten sogenannte Bewährungsmythen ins Spiel, Interpretationsmuster, die diese Frage beantworten, indem sie das Leben des Subjekts in eine übergreifende Perspektive von Herkommen und sinnhaft ausgelegter Zukunft rücken; sie geben Antworten auf drei zentrale Fragen: Wer bin ich (sind wir)? Woher komme ich (kommen wir)? Wohin gehe ich (gehen wir)?89 Religion absorbiert Unsicherheit, beruhigt den irritierten Menschen, indem sie ihn von Entscheidungs- und Rechtfertigungszwängen zumindest ein Stück weit entlastet. Vergleichbare Einsichten entwickelt der Religionssoziologe Martin Riesebrodt, der in den Religionen institutionalisierte Praktiken der Kontingenzbewältigung, genauer der Abwehr von Unheil, der Bewältigung von Krisen und der Heilsstiftung erblickt.90 Der Einfluss der jüdisch-christlichen Theologie auf das psychische und soziale Leben geht in der Moderne sukzessive zurück; die Virulenz jener Faktoren, die der Entwicklung religiöser Glaubenssysteme zugrunde liegen, ist davon nicht betroffen. Im Gegenteil: Aufgrund der wachsenden Freiheiten des Subjekts und einer zunehmend komplexer werdenden Welt gewinnen die Bewährungs- und Rechtfertigungsprobleme an Schärfe und Brisanz. »Je weiter der universalhistorische Rationalisierungsprozeß vorangeschritten ist«, so Oevermann, »je stärker das Spannungsband zwischen Individuum und Gesellschaft gestrafft ist, desto mehr muß diese Bewährungsdynamik ins tägliche Bewußtsein des Subjekts der Praxis treten.«91 Eingespannt in eine weltliche lineare Zeit, die über der Differenz von Vergangenheit und Zukunft errichtet ist, nimmt der Mensch sein Schicksal fortan – ohne auf höhere Führung und Zuspruch vertrauen zu können – selbst in die Hand. Von regulativer Bedeutung ist dabei der in der frühen Neuzeit sich ausbildende Begriff eines technischen, sozialen und politischen Fortschritts, mit dem sich die

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Oevermann: Ein Modell, S. 64. »Alle religiösen Liturgien enthalten Versprechen, was Religionen zu leisten in der Lage sind. Generell reklamieren Religionen in ihren Liturgien für sich die Fähigkeit zur Abwehr von Unheil, Krisenbewältigung und Heilsstiftung durch Kommunikation mit übermenschlichen Mächten. Systematisiert man diese Selbstdarstellung von Religionen, so enthalten sie eine hinreichende Grundlage für die Erklärung von Religion.« Martin Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München: C.H. Beck 2007, S. 109; vergl. auch S. 241. Oevermann: Ein Modell, S. 62.

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alte Idee einer nur in Gott lokalisierten Vollkommenheit in eine der Zukunft vorbehaltene Perfektionierung der irdischen Lebensverhältnisse verwandelt.92 Hatte sich zwar im Christentum bereits die Vorstellung von einer linearen Zeit herausgebildet, so blieb doch diese Zeit – aufgrund der eschatologischen Lehre von einem sicheren Ende der Welt – in zyklische Strukturen zurückgebunden.93 Erst in der Neuzeit konstituiert sich die Idee einer prinzipiell offenen Zukunft, die dem wachsenden Anspruch des Menschen auf eine umfassende Beherrschung seiner Lebensverhältnisse Raum geben konnte. An die Stelle der überkommenen Bewährungsmythen treten Leistungsimperative, die die Vervollkommnung des Individuums und der gesellschaftlichen Zustände zu befördern haben.94 Projiziert werden die nun wachsenden Bedürfnisse auf ein zunächst positiv besetztes Noch-Nicht, in dem das Neue, noch nicht Dagewesene Gestalt annehmen sollte. Doch das Versprechen, das mit der Entdeckung einer offenen Zukunft einhergeht, zeigt in dem Maße, in dem die Geschichte voranschreitet, auch dunkle, nicht selten erschreckende Züge. Man lernt schnell, dass die hoch gespannten Erwartungen an die Vervollkommnung der irdischen Verhältnisse enttäuscht werden können, denn unübersehbar häufen sich die Kollateralschäden der Rationalisierung: die Verelendung bestimmter Bevölkerungsgruppen sowie die destruktiven Folgen der Industrialisierung für Mensch und Natur.95 Derartige Probleme sind nur der sichtbarste Ausdruck für eine hybride Lebenspraxis, die sich mit der Idee des Fortschritts und der eigenverantwortlichen Formung sämtlicher Lebensverhältnisse auf eine schiefe Ebene begeben hatte. Zukunft wird in der modernen Gesellschaft, wie Luhmann an einer Stelle bemerkt, als Risiko vergegenwärtigt.96 In den Gesellschaften der Moderne treten zunehmend die unkalkulierbarer werdenden Folgeprobleme von unzureichend begründeten Entscheidungen in den Blick. Der der Entwicklung von Religion zugrundeliegende Zustand der Unsicherheit kehrt in der Moderne nicht nur zurück, sondern potenziert sich in dem Maße wie die Autonomisierung des Subjekts voranschreitet.

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Reinhart Koselleck: Stichwort »Fortschritt«, in: Otto Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart: Cotta’sche Buchhandlung 1975, S. 371 ff.; Joachim Ritter (Hg.): Stichwort »Fortschritt«, in: ders. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel, Schwabe 1972, Sp. 1037ff. Vergl. Günter Dux: Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 328ff. Wie Max Weber in seinen Protestantismus-Studien zeigte, haben diese Leistungsimperative ihre ersten Voraussetzungen bereits in bestimmten Entwicklungen der christlichen Religion. Francis D. Klingender hat diese Zusammenhänge eindringlich beschrieben. Kunst und industrielle Revolution, S. 93ff. Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos, Berlin: De Gruyter 2003, S. 45.

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Von Beginn an produziert die Kunst der sich entwickelnden Moderne Bilder des katastrophischen Scheiterns von Zukunftsentwürfen.97 Für eine wache, zur Kritik fähige Gesellschaft wäre dies nicht weiter verwunderlich. Dass derartige Bilder ein spezifisches Attraktionspotential entwickeln – Darstellungen von Katastrophen erfreuen sich bekanntlich hoher Beliebtheit –, bedarf indessen der Erklärung. Es wäre verfehlt, vorschnell auf anthropologische Invarianten zu setzen und die These zu vertreten, destruktive Geschehnisse hätten die Individuen immer schon in besonderer Weise angezogen. Eine genauere Betrachtung zeigt vielmehr, dass die Konjunktur derartiger Darstellungen in den letzten Jahrhunderten als Produkt einer im Kern paradox anmutenden Kompensation jener Unsicherheiten gelten kann, die für das moderne Subjekt kennzeichnend sind. Man kann dies bereits anhand des Gemäldes einer Schiffskatastrophe studieren, die an das Schicksal der Titanic, jenen im 20. Jahrhundert verbreiteten Mythos vom Scheitern technischer Utopien erinnert. Andreas Achenbachs Der Untergang der »President« von 1842 versammelt diverse in diesem Kontext relevante Motive (Abb. 19). Anlass der Entstehung des Bildes war das spurlose Verschwinden des bis dahin größten Passagierschiffes der Welt im Nordatlantik ein Jahr zuvor. In einer fiktiven Szene zeigt der Maler das bereits halb gesunkene Schiff, das in wenigen Momenten gänzlich von einem von Eisbergen durchsetzen, stürmisch bewegten Meer verschlungen sein wird; das Schicksal der sich auf die emporragende Heckpartie flüchtenden Passagiere ist also besiegelt. Schiffsuntergänge haben in der abendländischen Malerei eine weiter zurückreichende Tradition. Wegweisend waren die holländischen Künstler des 17. Jahrhunderts, die dem Thema in dramatischen Kompositionen zur Geltung verhalfen. Doch in diesen Bildern herrscht ein anderer Geist als in dem Gemälde von Achenbach. Betrachtet man die Seestürme und Schiffsuntergänge etwa von Willem van de Velde d. J. oder Ludolf Backhuysen, so wird deutlich, dass hier das Geschehen in einem Naturraum platziert ist, in welchem strategisch eingesetzte Spuren einer höheren Realität vernehmbar bleiben. Wie im Modell der alten Physikotheologie erscheint die Natur, wie Lawrence O. Goedde hervorhebt, als ein Buch Gottes.98 Die in Aufruhr begriffenen Elemente 97

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Über Katastrophenbilder vergl. Jörg Trempler: Katastrophen, ihre Entstehung aus dem Bild, Berlin: Wagenbach 2013; Markus Bertsch/Jörg Trempler (Hg.): Entfesselte Natur. Das Bild der Naturkatastrophe seit 1600, Ausstellungskatalog der Hamburger Kunsthalle, Petersberg: Imhoff 2018. Der Autor bemerkt im Hinblick auf das in den holländischen Seestücken vorliegende Verhältnis von Menschen und Natur: »Dieser Einklang zwischen den Menschen, ihren Schiffen und den Naturgewalten ist bedeutsam, insofern als er die Übereinstimmung des Menschen mit jenen kosmischen Urkräften zum Ausdruck bringt … […] Der Kosmos war durch Gott geordnet, und dieses göttliche Gefüge konnte – weithin bekannt als ›Buch der Natur‹ – die Menschen unterweisen, gleich einer göttlichen Offenbarung parallel zur Heiligen Schrift.« Lawrence O. Goedde: Das Seebild als Historie und Metapher, in: Jeroen Giltaij/Jan Kelch (Hg.), Herren der

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Abb. 19, Andreas Achenbach, Der Untergang der »President«, 1842, Öl auf Leinwand, 180 x 225 cm, Privatbesitz.

zeigen jene Physiognomie, die sie zu einer organisch bewegten, von latentem Sinn durchpulsten Natur werden lässt. Die Bilder sprechen eine Sprache, die angesichts des Grauens zwar bewegt ist, aber nicht vollständig verzweifelt anmutet. Nichts davon lässt sich in dem Gemälde des Schiffsuntergangs von Achenbach ausmachen. Obwohl die Komposition in der Ausführung jenen älteren Vorbildern der Barockmalerei ähnelt, verweigert sie sich in ihrer kalten Farbigkeit einer an theologischen Narrativen orientierten Versöhnungsperspektive. Was immer auch der Maler bei seiner Arbeit gedacht haben mag, sein Bild liefert eine als drastisch zu bezeichnende, eiskalt wirkende Zuspitzung des unabwendbaren und folgenlosen Verschwindens. In Einheit mit dieser posttheologischen Intention fungiert es als Schauplatz eines ästhetischen Raffinements, das die Gewalt des Meeres in den Gegenstand einer bestimmten Lust verwandelt. Über eine an barocken Idiomen orientierte Theatralisierung des Grauens entfaltet die Darstellung eine beträchtliche sinnliche Anziehungskraft; die ins Bild gesetzte Katastrophe bestrickt und verführt das rezipierende Subjekt. Zur Attraktivität erhabener Gegenstände in der Meere – Meister der Kunst, Das holländische Seebild im 17. Jahrhundert, Museum Boijmans Van Beuningen Rotterdam, Staatliches Museum Berlin, 1997, S. 71.

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Kunst ist viel gesagt worden. Edmund Burke zufolge setzen entsprechende Phänomene ein gewisses Entferntsein des Subjekts vom wahrgenommenen Gegenstand voraus: »Wenn Gefahr oder Schmerz zu nahe auf uns eindringen, so sind sie unfähig, uns irgendein Frohsein zu verschaffen; sie sind dann schlechthin schrecklich. Aber aus einer gewissen Entfernung […] können sie froh machen – und tun es wirklich, wie wir alle Tage erfahren.«99 Zunächst auftretende Zustände der Erschütterung verwandelten sich in eine Art von Lust, weil der Betrachter durch das gebotene Grauen nicht betroffen sei. Nicht weniger wichtig als das hier zur Geltung gebrachte Motiv der Distanznahme ist die Tatsache, dass das Subjekt vielfach zugleich innere Beziehungen zu den Phänomenen des Erhabenen unterhält. Burke selbst hebt in seiner Abhandlung hervor, dass neben den stärksten Wirkungen des Erhabenen – einem Erschauern des Subjektes – niedere Wirkungen zu beobachten seien, die als Bewunderung, Verehrung oder Achtung bezeichnet werden könnten.100 Diese spezifischen Reaktionen sind für den vorliegenden Zusammenhang von erheblicher Bedeutung; sie sind um weitere Motive zu ergänzen. Was hier vor allem interessiert, sind affektgeleitete Praktiken der Fixierung des Subjekts auf Prozesse der Kraft. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Prozesse das Subjekt nicht nur zu fördern, sondern ihm auch zu schaden vermögen, tritt es in ein intimes Verhältnis zu denselben, weil es in ihnen etwas findet, was ihm in seiner eigenen Existenz mangelt. Hier ist noch einmal die religionssoziologische Einsicht in die NichtStillstellbarkeit von Bewährungsproblemen ins Auge zu fassen, mit denen der Mensch in der Moderne stetig konfrontiert ist. Kennzeichnend für seine Existenzlage sind Zustände der Unsicherheit und Angst, die nicht mehr über Bewährungsmythen älteren Typs abgefedert werden können. Aufgrund dieses Mangels hält das Subjekt Ausschau nach Ersatzbildungen, die drückende Kontingenzen reduzieren und das instabile System der Wahrnehmungs- und Handlungspraxis zu restabilisieren vermögen. Aufgewertet durch die Ästhetik des Erhabenen, treten die Kräfte der Natur als geeignete Anwärter für eben diese Rolle auf den Plan, denn sie besitzen, was dem modernen Menschen fehlt: Macht, die sich über alle subjektiven Zweifel erhaben zeigt; im Bereich der mechanischen Prozesse gibt es keine Entscheidungsprobleme und die mit ihnen verknüpften affektiven Irritationen. Die entfesselte Kraft, die sich als ungebrochen souverän präsentiert, versorgt das Subjekt mit den gewünschten Sicherheiten, wenngleich dieselben dem Leben

99 Edmund Burke: Vom Erhabenen und Schönen, S. 73. 100 »Erschauern ist also, wie ich gesagt habe, die höchste Wirkung des Erhabenen; die niederen Wirkungen heißen Bewunderung, Verehrung und Achtung.« Ebd., S. 91.

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nicht unbedingt förderlich sind. Doch noch in ihren unüberbietbaren Vernichtungspotentialen wärmen die entfesselten Naturkräfte das in die Eiswüste der Freiheit entlassene Subjekt. Die durch die Physikotheologie möglich gewordene Auratisierung des Erhabenen hat dieser als paradox zu bezeichnenden Entwicklung vorgearbeitet. Weil Gott von der Bildfläche verschwunden ist, kann die rein mechanische Gewalt zum Gegenstand eines bestimmten Begehrens aufsteigen; in letzter Konsequenz gewinnt sie selbst sakrale Eigenschaften sowohl in ihren konstruktiven als auch in ihren destruktiven Effekten. So weit sind die hier sich etablierenden Verhältnisse vom alttestamentarischen Bild des belohnenden und strafenden Gottes nicht entfernt. Burke hatte die Rolle des Erhabenen als einer Macht nicht zufällig anhand der stets auch erschreckend-bedrohlichen Macht des Schöpfers erläutert.101 Was sich im Übergang zur Moderne im Raum der Bilder konstituiert sind Kulte der Kraft, die eine entsprechende Fixierung seitens der psychischen Prozesse voraussetzen. Bewährungs- und Rechtfertigungsprobleme, die für die Freiheit des neuzeitlichen Subjekts charakteristisch sind, treten unter diesen Bedingungen zumindest temporär in den Hintergrund. Mit den Vorstellungen von einer Macht der Natur wird die leer gewordene Position christlicher Bewährungsmythen auf neue Weise besetzt. Die Welt, wie sie sich nun darstellt, besteht aus einem unübersehbaren Komplex von Kräften, in welchem quantitative Differenzen von tragender Bedeutung sind: Kraft gegen Kraft, denn das Wesen einer Kraft tritt vor allem in der Konfrontation mit einer gegenläufigen Kraft in Erscheinung.102 Stets stellt sich – gemäß den Verfahren moderner Wissenschaft und Technologie – die Frage nach einem Mehr oder Weniger verfügbarer Energien. Das Gemälde von Achenbach spricht hier eine deutliche Sprache, denn es konfrontiert mit einem asymmetrischen Verhältnis: Auf der einen Seite das mit einer Dampfmaschine angetriebene, im Sinken begriffene Schiff, auf der anderen Seite die tobende See, die sich als dominante Größe präsentiert; die aus dem Schornstein kommende, annähernd waagerecht nach links ziehende Rauchfahne gleicht einer Kapitulationserklärung des Menschen angesichts einer übermächtigen Natur. Wie ähnliche Darstellungen des Genres positioniert das Bild den Betrachter in sicherer Distanz. Welche Rolle spielen die Schiffbrüchigen im ästhetischen Kalkül des Bildes? Zwar lässt das 101 Ebd., S. 105f. 102 Man denke hier an Friedrich Nietzsche, der in einer Schrift aus dem Nachlass in programmatischer Weise bemerkt: »Und wißt ihr auch, was mir ›die Welt‹ ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt […] als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und Vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte […]« Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre, in: Werke IV, Karl Schlechta (Hg.), Frankfurt a.M. – Berlin – Wien: Ullstein 1969, S. 916.

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Gemälde an der bedrohlichen Lage der Opfer keinen Zweifel; die Inszenierung des kochenden Ozeans einschließlich der sich auftürmenden Eisberge besitzt indessen eine rhetorische Kraft, ein Maß an sinnlicher Energie, das das trübe Schicksal der Ertrinkenden in den Hintergrund treten lässt. Edmund Burke räumte ein, dass die Darstellung bedrohter Menschen auf der Seite des Betrachters Lust erzeugen könne; der Grund für diese Lust liege allerdings nicht in der Schadenfreude, sondern in einer Form des Mitleidens, das durch derartige Darstellungen hervorgerufen würde: »Ich bin überzeugt« so heißt es, »dass in uns bei den wirklichen Unglücksfällen und Schmerzen anderer Menschen ein gewisser Grad von Frohsein vorhanden ist – und zwar kein geringer. […] Nun sind wir weder bei wirklichen noch bei erdichteten Nöten anderer Menschen gerade deshalb froh, weil wir uns frei von diesen Nöten wissen: in meinem Gemüt kann ich nichts dergleichen entdecken. […] Und da unser Schöpfer bestimmt hat, dass wir durch das Band der Sympathie vereinigt sein sollen, so hat er dieses Band durch ein wechselseitiges Frohsein verstärkt, – und zwar dort am meisten, wo unsere Sympathie am notwendigsten ist: nämlich bei den Nöten anderer.« 103 Der Autor möchte sich von einer Gesinnung absetzen, die entsprechenden Ereignissen oder Darstellungen mit einer ethisch-moralischen Indifferenz begegnet; Gleichgültigkeit oder gar Schadenfreude gegenüber dem Leiden anderer sei nicht hinzunehmen und entspräche auch nicht der Natur des Menschen, der ein Trieb zur Empathie eingepflanzt sei.104 Kritiker haben dem Philosophen mangelnde Glaubwürdigkeit bei dem Versuch der Aufwertung des Mitleidens vorgeworfen; auch bei ihm ließe sich, so heißt es, eine unter der Maske der Sympathie verborgene Indifferenz, ja eine geradezu sadistisch gefärbte Haltung in der Theorie des Erhabenen wahrnehmen.105 Wie immer man die Burke’sche Position in dieser Frage bewerten mag, das Gemälde von Achenbach liefert ein erhellendes Exempel zumindest für jene Indifferenz im Hinblick auf das beobachtete Leiden anderer. In einem Blick auf die malerische Durchführung des Themas wird deutlich, dass die Natur nicht nur auf der narrativen Ebene, sondern zugleich in ästhetischer Hinsicht den Sieg über das bedrohte Leben davonträgt; der düstere Himmel und das aufgewühlte Meer sind die beherrschenden Instanzen in einem Kampf, dem das ins Bild gerückte Subjekt bereitwillig geopfert wird; die erhabenen, suggestiv in Szene gesetzten Elemente marginalisieren die Ertrinkenden. Hier bricht ein Graben zwischen ästhetischen und moralischen Interessen auf. Die Malerei entfernt sich von den Imperativen des Guten und beschreitet den Weg einer Valorisierung

103 Edmund Burke, Vom Erhabenen und Schönen. S. 79, 82 u. 80. 104 Vergl. Carsten Zelle: »Angenehmes Grauen«. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schreckens im 18. Jahrhundert, Hamburg: Meiner 1987, S. 171ff. u. 196f. 105 Ebd., S. 198ff.

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verschlingender Natur, weil diese Natur das Subjekt von drängenden Bewährungsproblemen entlastet. Man stößt hier auf eine sublimierte Form des Masochismus. Das Begehren des Subjekts, der eigenen Unsicherheit zu entkommen, gestaltet sich als paradoxes Unterfangen, weil hier die Suche nach existentieller Stabilität die Neigung zum eigenen, durch fremde Mächte verursachten Untergang impliziert. In der hier eröffneten Perspektive beginnt das Bild des Todes eine bestimmte Attraktivität zu entwickeln. Aufgrund seiner malerischen Behandlung artikuliert das Meer ein Erlösungsversprechen, das nicht mehr das ewige Leben, sondern den Abgrund des Nichts in den Blick treten lässt. Unter diesen Bedingungen konstituiert sich ein Habitus, der über einem elementaren Widerspruch errichtet ist. Die Prozesse der Kraft eröffnen dem Subjekt eine Perspektive bei dem Versuch, den genannten Bewährungsproblemen zu entkommen; dabei tritt jedoch zugleich eine weitere, anders gelagerte Spielart existentieller Verunsicherung hervor. An die Stelle der Irritationen angesichts des Entscheidungs- und Rechtfertigungsdrucks rückt eine psychische Dynamik, in der das Subjekt zwischen dem Bestreben, sein Selbst zu erhalten, und dem gegenläufigen Begehren, dieses Selbst fahren zu lassen, hin und hergerissen ist. Hatte der Mensch unter dem schützenden Mantel der Theologie noch die Möglichkeit, eine innere Ruhe mit Blick auf die Idee eines ewigen Lebens zu erlangen, so ist er fortan von einer Nervosität befallen, angesichts derer nur noch der Tod ewigen Frieden verspricht; versetzt in den schrumpfenden Raum zwischen Zukunft und Vergangenheit entbehrt er mehr denn je einer stabilen Existenzlage. Im psychischen Geschehen treten nun neben Gefühlen der Hoffnung und Zuversicht zunehmend Fatalismen und Untergangssehnsüchte auf den Plan. Auch in der alten Theologie findet sich die Vorstellung von einem Kampf in der Innenwelt des Subjekts; doch der hier ausgetragene Konflikt zwischen einem höheren, dem ewigen Leben sich zuneigenden Begehren und den Kräften der Finsternis besitzt einen anderen Charakter, denn die Seele sollte auf- und nicht absteigen. Mit dem Zurücktreten des Gottesglaubens erfahren die psychischen Prozesse eine tiefgreifende Verwandlung. Im Zeitalter des Barock zeichnet sich diese Transformation bereits in groben Umrissen ab. Die durch die christliche Theologie verurteilte sinnliche Natur des Menschen rückt sukzessive in den Fokus eines von tradierten Denkmustern sich absetzenden Erkenntnisinteresses. Bereits die Figur des Teufels im Gemälde von Rubens liefert unübersehbare Zeichen für diese Entwicklung (Abb. 6 u. 7). Weiter geht Luca Giordano mit seinem heiligen Michael, der den Teufel mit einer Lanze traktiert (Abb. 12). Die aus der göttlichen Ordnung sich lösende Engelsfigur tritt in einen Kampf mit ihrem Widersacher ein, dem sie in lustvoller Hingabe verfällt, denn Satan gebietet über eine Kraft der Verführung, der sich selbst der Gesandte Gottes nicht zu widersetzen vermag. In der Konstellation, die neben den Impulsen des Sadismus ein masochistisches Begehren umfasst, wird die Auseinandersetzung in gegenseitigem Einvernehmen auf Dauer gestellt, denn beide Seiten geben sich

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der Macht der jeweils anderen Seite hin. Der Konflikt zwischen den beteiligten Instanzen kennt außer dem Verschwinden des Subjekts im Zustand des Todes keinen möglichen Stillstand. Festzuhalten bleibt jedoch: Es gibt keine strikt deterministisch wirkenden Zwänge, welche die Entwicklung in diese Richtung treiben würden; auch andere Wege stehen offen. Dennoch ist davon auszugehen, dass diese Struktur in den medialen Welten der Moderne eine zentrale Rolle besetzt. Die sich mit der Moderne entwickelnde Idee des Fortschritts will es, dass die Potentiale der Kraft durch entsprechende Strategien ihrer Domestikation in den Dienst der Optimierung der allgemeinen Lebensverhältnisse gestellt werden. Wie Sigfried Gideon bemerkte ist der Fortschrittsglaube im 19. Jahrhundert an die Prozesse der Mechanisierung gebunden.106 Auch hier gilt: Kraft gegen Kraft, denn die zweckgerichtete Beherrschung von Kräften ist stets an weitere, leichter durch den Menschen handzuhabende oder zu manipulierende Kräfte gebunden. Technischer Fortschritt erwächst in der Regel auf dem Boden eines allgemeinen, unter entsprechenden ökonomischen Bedingungen ausgetragenen Konkurrenzkampfes. Im Prinzip geht es dabei um den Einsatz und die Mobilisierung immer leistungsfähigerer Potentiale. Die Erfindung der Dampfmaschine, die gegenüber der vorhergehenden Technik einen Quantensprung bedeutete, hatte ein richtungsweisendes Beispiel geliefert. Doch der auf die Zukunft gerichtete Umgang mit Kräften ruft nach mehr und noch mehr Kraft; auf diese Weise wird das in der Natur angelegte Aufeinandertreffen energetischer Potentiale in die Ordnung der Geschichte überführt. Über die Sphäre des Technisch-Physikalischen hinaus dient der Begriff der Kraft schließlich als universell einsetzbare Metapher, die in fast alle Bereiche des gesellschaftlichen und psychischen Lebens einwandert. Aus den Gottesbindungen entlassen, imaginiert sich der Mensch als Träger einer Aufgabe, die den Einsatz entsprechender Potentiale erfordert, seien dies Potentiale des Denkens, des Handelns, der Kreativität und dergleichen mehr. In jedem Fall stellt sich der Einsatz von Kraft als Bedingung der Möglichkeit eines stetig sich fortschreibenden Überbietungswettbewerbs dar. Mit dem der Sprache des Militärs entlehnten Begriff der Avantgarde zeigt sich, dass auch die Entwicklungsdynamik der Kunst auf entsprechende Weise thematisiert wurde. Die Vorhut ist schneller, ihr Auftritt effizienter, ihr Erfolg gewisser, weil sie über größere, den Gegnern überlegene Kräfte verfügt.

106 »Der Fortschrittsglaube des achtzehnten Jahrhunderts, wie ihn etwa Condorcet formulierte, ging von der Wissenschaft, der des neunzehnten Jahrhunderts von der Mechanisierung aus. Die Industrie, die diese Mechanisierung vollzog, hatte mit ihren immer neuen Erfindungen zweifellos etwas Wunderbares, das die Phantasie der Massen erregte, besonders in der Zeit ihrer größten Popularität und Ausbreitung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts.« Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt a.M.: Athenäum 1987, S. 51.

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So ist die Rhetorik der modernen Kunstliteratur durchsetzt von Metaphern, die die historische Entwicklung als ein implizit energetisches Geschehen behandeln.107 Die Malerei – dies zeigt sich in der Ästhetik des Erhabenen – ist zunächst an beobachtbaren Prozessen interessiert. Wo sich die Kunst die Darstellung von Naturkräften zur Aufgabe macht, sieht sie sich zugleich mit der Forderung konfrontiert, diese Kräfte einschließlich ihrer Wirkungen fassbar und überzeugend, mit höchster Evidenz in Szene zu setzen. Sämtliche Produzenten von Bildern stehen untereinander in einem Wettbewerb, in welchem um den höchsten Grad bildlicher Suggestion gerungen wird; hier regieren die Imperative des Noch-Stärker, Noch-Eindringlicher, Noch-Überwältigender. Auf diese Weise antwortet der Konkurrenzkampf auf die wachsenden existentiellen Entlastungsbedürfnisse des Publikums, das nach stets intensiveren Reizen Ausschau hält. Unter diesen Bedingungen verschiebt sich das Verhältnis des bildlichen Imaginären zum Realen: In den fortgesetzten Versuchen, die Suggestivität des Gezeigten über das jeweils erreichte Maß hinaus anzuheben, entstehen schließlich gänzlich fiktive Darstellungen. Das in der Realität Mögliche erweist sich irgendwann als Barriere, und muss in Richtung einer phantasmagorischen Ordnung überstiegen werden, weil nur auf diesem Wege die Bedürfnisse nach einer fortschreitenden Intensivierung in Szene gesetzter Energien zu befriedigen sind. Hatte sich die Malerei zunächst konkreten, in der Natur vorfindlichen Phänomenen der Kraft zugewandt, so betritt sie nun – getrieben durch die Entlastungsinteressen des Subjekts – den Raum irrealer Geschehnisse. Auch hier ist die Kunst des Barock vorangegangen. Von Interesse ist vor allem die im Kontext gegenreformatorischer Anstrengungen entstehende Deckenmalerei, die dem Kirchenbesucher hypertrophe Illusionen einer überirdischen Wirklichkeit lieferte. Dem möglichen Zweifel an der Legitimität katholischer Theologie antwortet eine auf avancierte Täuschungstechniken setzende Inszenierung entsprechender Sujets.108 Doch diese Darstellungspraxis ist selbst bereits ein Symptom der schwindenden Kraft christlicher Verkündigung. Die Deckenbilder feiern mit Emphase den Triumph des Glaubens; bei genauerer Hinsicht zeigen sich jedoch feine Risse zwischen den eingesetzten ästhetischen Praktiken und den im Spiel befindlichen Lehren der Theologie, denn in ihrer artifiziellen Machart beginnt die Kunst, eigene Wege zu beschreiten. So präsentieren sich die Werke als das, was sie sind: raffinierte Arrangements, die die Möglichkeiten der Malerei, vor allem die virtuosen Fähigkeiten des Malers ins Licht setzen. Von Interesse sind

107 Zur Rolle des theoretischen Diskurses für die Kunst vergl. Hans Zitko: Kunstwelt. Mediale und systemische Konstellationen, Hamburg: Fundus 191, Philo 2012, S. 125. 108 Die Malerei entwickelt im Barock bekanntlich die Fähigkeit, auf gekrümmten Gewölbefeldern von Kirchen perspektivisch korrekte Scheinräume zu realisieren. Vergl. David Ganz: Barocke Bilderbauten. Erzählung, Illusion und Institution in römischen Kirchen 1580 – 1700, Petersberg: Imhoff 2003, insb. S. 58-67.

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die Deckenbilder im vorliegenden Zusammenhang deshalb, weil sie der folgenden Entwicklung Beispiele einer dezidiert fiktionalen, antiempirischen Gesinnung bieten. Positionen der Bildkunst, später auch des Films, die sich dem Programm einer fortschreitenden Intensivierung der Darstellung von Kräften verschrieben haben, konnten hier anknüpfen; ihr Weg in den Raum ästhetischer Phantasmagorien ist durch Strategien des Barock vorweggenommen.

Abb. 20, John Martin, The Great Day of his Wrath, 1852, Öl auf Leinwand, 196 x 302,7 cm, London, Tate Gallery.

Man kann dies anhand von Arbeiten des englischen Malers John Martin studieren. Seine Gemälde und Druckgraphiken, die vielfach Katastrophen zum Gegenstand haben, zeigen das deutliche Bestreben, das Wirkliche und empirisch Mögliche zugunsten des rein Fiktiven hinter sich zu lassen. Der Künstler, der zunächst als Glasmaler ausgebildet wurde, interessierte sich für unterschiedlichste Medien der Erzeugung optischer Illusionen wie die Laterna magica, das Diorama, das Panorama und das von Loutherbourg entwickelte Eidophusikon.109 In seinem Spätwerk The Great Day of His Wrath von 1852, das zu einem dreiteiligen Zyklus gehört, präsentiert er eine im wahrsten Sinne aus den Fugen geratene Welt, in der ganze Gebirgszüge einschließlich städtischer Siedlungen einem dunklen Abgrund entgegenstürzen; im vorderen Teil des Bildraumes, an den abschüssigen Hängen, sind 109 Vergl. Barbara C. Morden: John Martin. Apocalypse now, Camarthen: McNidder & Grace 2015, S. 8ff.

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zahlreiche Menschen zu erkennen, die der Katastrophe vergeblich zu entkommen versuchen (Abb. 20). Das Bild nimmt Bezug auf die Eröffnung des 6. Siegels aus der Offenbarung des Johannes.110 Im Hintergrund steht also ein Text aus dem Neuen Testament, der dem Kreis religiöser Endzeitvisionen angehört. Erzählt wird von einem Gottesgericht, durch das eine sündig gewordene Menschheit durch den Weltenrichter der Vernichtung preisgegeben wird. Martin übersetzt das biblische Motiv in eine Bildsprache, die auf Vorstellungen erhabener Dimensionen und Kräfte zurückgreift und dabei zugleich ein gehöriges Maß an inszenatorischem Raffinement aufbietet. Zur Zeit des 18. Jahrhunderts hatten in England, wie Werner Busch feststellte, die christlichen Vorstellungen von einem in der Zukunft zu erwartenden Weltgericht kaum noch Bedeutung; aufgrund des Einflusses eines an den Prinzipien der Aufklärung orientierten Denkens waren derartige Befürchtungen weitgehend aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden.111 Doch die bereits im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert auftretenden Kollateralschäden des politischen und technologischen Fortschritts für das soziale Leben und die Natur ließen die Bilder vom Endgericht wieder aufsteigen. Francis D. Klingender spricht mit Blick auf die seelische Verfassung der Betroffenen von einem Zeitalter der Verzweiflung.112 Angesichts von Landschaften, in denen die mit Kohle betriebenen Öfen der Eisenhütten mit ihrem schwarzen Rauch den Himmel verdunkelten, fühlten sich manche Beobachter an die alten Bilder der Hölle oder der Apokalypse erinnert.113 Gläubige sahen in den erschreckenden Szenarien die Zeichen eines göttlichen Zorns, der auf den hybriden Zugriff der Menschen auf die Natur antwortete. Dass der Fortschritt – kaum dass er begonnen hatte – derart bedrohliche Züge hervorkehrte, war Anlass für eine Wiederbelebung religiöser Vorstellungen. Die Verwerfungen im Raum gesellschaftlicher und wissenschaftlich-technischer Rationalisierung hatten, wie

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Christopher Jones: John Martin, London: Academy Editions 1974, S. 26. In der Offenbarung des Johannes 6, 12 – 13 heißt es: »Und ich sah: Das Lamm öffnete das sechste Siegel. Da entstand ein gewaltiges Beben. Die Sonne wurde schwarz wie ein Trauergewand, und der ganze Mond wurde wie Blut. Die Sterne des Himmels fielen herab auf die Erde, wie wenn ein Feigenbaum seine Früchte abwirft, wenn ein heftiger Sturm ihn schüttelt. Der Himmel verschwand wie eine Buchrolle, die man zusammenrollt, und alle Berge und Inseln wurden von ihrer Stelle weggerückt […].« Werner Busch: Das sentimentalische Bild, S. 281-294. Francis D. Klingender: Kunst und industrielle Revolution, S. 93-116. Vergl. auch Barbara C. Morden: Apokalypse Now, S. 37 u. 52ff. Klingender zitiert hier unter anderem eine Passage aus Blakes Milton, wo es heißt: »O Satan, du mein Jüngster,/bist du nicht Fürst der Sternenscharen/Und Himmelsräder? Und schuftest/in Fabriken Tag und Nacht? …/Mach Dich an Deine Arbeit in Fabriken/und überlaß mich meinem Zorn …/Dein Werk ist ewiger Tod, mit Öfen/und mit Kesseln und Fabriken.« Ebd., S. 106; vergl. auch S. 111ff.

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Werner Busch bemerkte, eine Remythisierung entsprechender Phänomene und Entwicklungen zur Folge.114 Im Raum der Imagination wird die mit der Moderne auf den Plan getretene säkulare, lineare Zeit wieder durch eine auf zyklischen Vorstellungen ruhende christliche Eschatologie ersetzt.115 Martins Gemälde ist in diesem Kontext zu verorten. Ob er selbst an ein bevorstehendes oder bereits eingetretenes Weltgericht glaubte, ist nicht entscheidend; wichtig ist vielmehr, dass er einer Erfahrung im Bild zur Geltung verhelfen wollte, die in entsprechenden Kontexten der religiösen Überlieferung eine Rolle spielt. Man kann hier an Einsichten des Religionswissenschaftlers Rudolf Otto erinnern, der in seiner klassischen Studie Das Heilige bemerkte: »Das Erhabene und das nur Magische sind, so stark sie auch wirken mögen, immer doch nur indirekte Darstellungsmittel für das Numinose in der Kunst. Direkte Mittel hat sie bei uns im Westen nur zwei. Und die sind bezeichnender Weise selber negativ; sie sind das Dunkel und das Schweigen.«116 Wo indessen das Moment des ›tremendum‹ (des Schauervollen) hervortritt, dort fährt, wie es bereits im Alten Testament zum Ausdruck kommt, der ›Gottes-Schrecken‹ dem Menschen wie ein Dämon »lähmend in die Glieder«.117 Auch in der neutestamentarischen Eschatologie leben, wie der Autor hervorhebt, derartige Vorstellungen im Hinblick auf entsprechende Ereignisse fort.118 Martin greift in seinem Gemälde des Endgerichts auf die Ästhetik des Erhabenen zurück, um jenen Schrecken greifbar zu machen, der den von diesem Ereignis Betroffenen in die Glieder fahren mag. Der Maler besaß offenbar einen Begriff von der Dignität sakraler Phänomene in der alten Religion, denn mit den bewegten Pathosformeln der im Vordergrund des Bildes Platzierten rückt er die innere Erschütterung der Verdammten unmissverständlich in den Blick. Doch für die Befindlichkeit des Betrachters, dem das Geschehen aus der Distanz entgegentritt, gewinnen derartige Zustände keine Bedeutung, denn die in Szene gesetzte Gewalt hat für ihn gänzlich andere Implikationen. In der vorliegenden Darstellung verliert die Apokalypse im Grunde ihren Schrecken; sie verwandelt sich in ein wirkungsästhetisch aufbereitetes, dabei im Kern entschärftes Spektakel. Der im Zentrum des Bildes sich auftuende Abgrund, in den die Verdammten versinken müssen, eröffnet dem Betrachter die Perspektive einer inversen, im reinen Nichts sich erfüllenden Erlösung. Was hier auf den Plan tritt, ist nicht mehr das gläubige Subjekt der christlichen Religion, sondern der moderne, an spezifischen Existenzproblemen laborierende Zuschauer. Man hat weniger ein religiöses Ereignis, eher ein

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Werner Busch, Alles Unvollständige ist der Zeitlichkeit unterworfen, S. 185. Vergl. Günther Dux: Die Zeit in der Geschichte. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München: C.H. Beck 1991, S. 88. Ebd., S. 14f. Ebd., S. 102 u. 106.

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pathetisch daherkommendes Bühnenspiel vor sich, in welchem der Künstler seine inszenatorischen Fähigkeiten demonstriert. Das Gemälde liefert ein erhellendes Bespiel für eine Entwicklung, in der die ästhetischen Strategien der Bündelung von Kräften in einen phantasmagorischen Raum einmünden. Eine an empirischen Erfahrungen orientierte Darstellung wäre kaum imstande, Energien von der Art, wie sie hier ins Spiel treten, wiederzugeben. In diesem Sinn erschließt der Kult der Kraft eine dem Realen kontrastierende Gegenwelt. Wie bereits entsprechende Darstellungen des Barock, die für John Martin offenbar richtungsweisend waren, zeigt auch sein Gemälde eine Disproportion zwischen seiner ästhetischen Machart und der ins Spiel gebrachten religiösen Überlieferung. Der Maler, so wird berichtet, war ein frommer Mann und stand wahrscheinlich dem Deismus nahe, einer auf Vernunft gegründeten Gestalt des Monotheismus.119 Man muss jedoch unterscheiden zwischen der religiösen Gesinnung des Künstlers und seinem Produkt. Dass die Komposition das apokalyptische Geschehen als ein artifizielles Spektakel präsentiert, hat Folgen für das Verhältnis des Bildes zur Theologie. Was sich in der Kunst des Barock bereits ankündigt, nimmt hier den Charakter einer kaum noch zu bezweifelnden Tatsache an: Der Geist des Theaters übernimmt die Steuerungsmacht im Verhältnis von Bild und Theologie; die ästhetische Welt koppelt sich von traditionellen Transzendenzbezügen ab. Man kann darüber streiten, wie weit dieser Prozess in dem Gemälde von Martin vorangeschritten ist, dass sich in ihm das Verhältnis des Bildes zur Theologie verschoben hat, ist kaum zu bezweifeln. Der Text aus dem Neuen Testament liefert zwar noch das Motiv des Weltgerichts, das Bild arbeitet jedoch mit einem imaginären Ersatz des Weltschöpfers, dem nunmehr die Aufgabe zufällt, künstlich anmutende Felsmassen in der Art eines Kulissenschiebers in Bewegung zu setzen; Gott schrumpft zu einem Akteur in einer den Unterhaltungsinteressen dienenden Bühnenmaschinerie. Dass unter diesen Bedingungen nach wie vor religiöse Motive weiterleben, widerspricht dem nur scheinbar. The Great Day of His Wrath gibt ein Beispiel für eine Bildwelt, aus der sich die höheren Wesen zwar zurückgezogen haben; als depotenzierte mediale Wiedergänger können sie gleichwohl erneut auf den Plan treten. Gott verwandelt sich in einen darstellungslogischen Joker, der immer dann eingesetzt werden kann, wenn wirkungsästhetische Zuspitzungen einer bestimmten Art gefordert sind. In seiner Struktur antwortet das Gemälde auf die im Zeitalter der Moderne sich ausbildenden Bemühungen des Subjekts, die freiheitsbedingten Irritationen und Unsicherheiten zu kompensieren; es rechnet mit einer masochistischen Disposition, die in der ästhetisch aufbereiteten Apokalypse ihre Erfüllung findet. Eine in dieser Weise sich ausrichtende Inszenierung will nicht zu einer theologischen Gesinnung passen, der zufolge ein Gottesgericht die betroffenen Individuen mit 119

Morton D. Paley: The Apocalyptic sublime, Yale University Press: New Haven and London 1986, S. 122f.

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einer höheren, jedes menschliche Maß übersteigenden Ordnung konfrontiert. Essentielle Erfahrungen im Kontext der Religion, soviel Gerechtigkeit muss man traditionellen Formen der Frömmigkeit widerfahren lassen, sind von anderer Art und Dignität als jenes Erhabene, das den Untergangssehnsüchten des verunsicherten Subjekts entgegenkommt. Zu Recht ist festgestellt worden, dass die Malerei von John Martin Bildwirkungen antizipiert, wie sie später im modernen Kino auftreten. Regisseure haben sich nicht zufällig von seiner Malerei anregen lassen. Im Falle von The Great Day of His Wrath denkt man an den Blockbuster San Andreas von Dwayne Johnson, in welchem ein gewaltiges Erdbeben im Westen der Vereinigen Staaten geschildert wird. Ebenso wie entsprechende Filme treten die Gemälde den Weg in einen Raum phantasmagorischer Ereignisse an. Andere Filme nehmen auf andere Bilder John Martins Bezug. Ein signifikantes Beispiel gibt Intolerance von D. W. Griffith, entstanden im Jahre 1916, in welchem eine aufwendige Filmkulisse Martins’sche Bildfindungen zitiert.120

VI. Mit dem Schwinden des Einflusses der christlichen Religion in Zeiten fortschreitender Säkularisierung tritt auf Seiten der Individuen ein erhöhtes Maß an existentieller Irritation und Unsicherheit hervor; die Entkoppelung des Subjekts von bindenden Traditionen hat ihre Kosten.121 Ein Mittel zur Absenkung derartiger Unsicherheit liefern Kulte der Kraft, die dem Subjekt Perspektiven entscheidungsentlasteter Erfahrungen eröffnen. In der Natur begegnet ihm eine Sphäre blinder Notwendigkeit, in der die drückenden Probleme der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit nicht auftreten können. Hier liegen Voraussetzungen für die affektive Besetzung von Motiven des Erhabenen, denn die Emotionen, die die wahrgenommenen Energien evozieren, dämpfen die Angst, an der das Subjekt leidet. Doch diese Kompensationsbewegung produziert selbst wiederum Unsicherheiten, allerdings einer anderen Art. Erlöst von der Forderung, frei handeln zu müssen und damit unkalkulierbare Risiken auf sich zu nehmen, sieht sich das Subjekt nun mit dem Konflikt zwischen dem Begehren, das Selbst aufzugeben – sich den erhabenen Objekten auszuliefern – und den nach wie vor bestehenden Bedürfnissen der Selbsterhaltung konfrontiert. Man hat es mit einer Struktur zu tun, die an den von 120 »In this way«, so bemerkt Barbara C. Morden, »John Martin’s techniques and repertoire of images were to be sustained through the later nineteenth century into early cinema. Epic history was realised in D.W. Griffith’s The Birth of a Nation, which in 1915 was a grand idea charting the process by which America had emerged from the Civil War as a unified nation. Of greater import, however, is his film of 1916, Intolerance.« Barbara C. Morden: John Martin, Apocalypse now, S. 96f. 121 Vergl. noch einmal: Ulrich Oevermann: Ein Modell.

3. Die Auslotung der Grenzen

Sigmund Freud ins Spiel gebrachten Dualismus zwischen Lebens- und Todestrieb erinnert.122 Der vorliegende Antagonismus ist jedoch nicht – wie bei Freud – von universeller Bedeutung, sondern als Produkt der Kompensation einer Problemlage zu betrachten, die vor allem für die Stellung des modernen Subjekts kennzeichnend ist. Charles Taylor hat die Entwicklung dieses modernen Subjekts in seinen Überlegungen zu den Prozessen der Säkularisierung in der Neuzeit als einen Übergang von einem porösen, nach außen hin offenen zu einem abgepufferten, nach außen hin abgeschlossenen Selbst charakterisiert.123 In den Augen des vorneuzeitlichen Menschen, für den die Existenz Gottes eine über jeden Zweifel erhabene Tatsache war, bestanden keine festen Grenzen zwischen der Seele und jenem Geschehen, das ihr in der Außenwelt begegnete. Magischen Kräften, Geistern oder Dämonen, die landläufigen Vorstellungen zufolge in der Welt präsent waren, wurde die Fähigkeit zugesprochen, in den Innenraum der Seele einzudringen und so Einfluss auf den Menschen zu nehmen; in der bekannten Rede, dass ein Mensch vom leibhaftigen Teufel besessen sei, kommt diese Vorstellung zum Ausdruck. »Zutage tritt die Porosität der Grenze hier in der ›Besessenheit‹, deren diverse Erscheinungsformen von der völligen Inbesitznahme der Person (beispielsweise eines Mediums) bis zu verschiedenen Arten der Beherrschung durch einen Geist oder einen Gott oder der partiellen Verschmelzung mit ihm reichen. Auch hier ist die Grenze zwischen Selbst und anderem verschwommen, durchlässig. Und dies darf nicht als etwas ›Theoretisches‹ oder als ›Glaubenssache‹ gesehen werden, sondern es muß als Tatsache begriffen werden, die im Erleben, in der Erfahrung gegeben ist.«124 Erst im Zuge der Säkularisierung, in der das mechanistische Denken das Bild von einer beseelten Natur ersetzt, konstituiert sich ein Subjekt, das in der Gewissheit lebt, über eine Innenwelt zu verfügen, die durch eine unüberschreitbare Grenze von ihrem Umfeld abgetrennt ist. In Descartes’ Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa kommt diese Neuorientierung in paradigmatischer Weise zum Ausdruck. Geist und Natur treten sich als zwei, mit gänzlich unterschiedenen Eigenschaften ausgestattete Sphären gegenüber, zwischen denen wie immer auch geartete Übergänge ausgeschlossen sind. Mit dem Verschwinden einer beseelten beziehungsweise verzauberten Welt wird der Weg frei für die Entwicklung eines auf Autonomie pochenden Subjekts, das nicht nur an der Beherrschung seiner selbst, sondern zugleich an der Perfektionierung der Unterwerfung äußerer Natur

Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, in: ders., Studienausgabe, Bd. III, Psychologie des Unbewußten, Frankfurt a.M.: Fischer 1975, S. 213-272, bes. S. 246ff. 123 Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2012, S. 51-78. 124 Ebd., S. 74. 122

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interessiert ist. Voraussetzung für die nun folgende Entwicklung waren Disziplinarpraktiken, die die Kolonisierung der inneren Natur im Dienste einer an Vernunftprinzipien ausgerichteten Lebensführung möglich machten.125 Dass die auf diesem Wege konstituierten Strukturen der Persönlichkeit selbst zu einer Quelle des Leidens werden können, ist immer wieder festgestellt worden. Die im Namen der Vernunft zwischen Innen- und Außenwelt aufgerichtete Grenze befördert das Subjekt in einen Zustand schmerzhafter Einschließung; was Freiheit und Würde verhieß, gibt sich als eine neue Version der Knechtschaft zu erkennen. In beispielgebender Weise ist dieser Zusammenhang in der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer beschrieben worden. »Furchtbares«, so heißt es an einer Stelle, »hat die Menschheit sich antuen müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.«126 Die Aufrichtung einer stabilen, von der Natur sich absetzenden Persönlichkeit werde möglich, so heißt es, durch den Prozess einer Introversion des Opfers.127 Das moderne, von den Praktiken der Religion und Magie sich emanzipierende Subjekt zeigt sich als Produkt verinnerlichter Gewalt, durch welche entsprechende Anteile der Natur des Menschen abgespalten und der Verdrängung anheim gegeben werden. Taylor knüpft zweifellos auch an diese Motive an. Zentral sind für ihn Prozesse, die dem Bedürfnis des Subjekts Ausdruck verleihen, die zwischen Mensch und Welt aufgerichteten Grenzen wieder durchlässig zu machen: »Die Membran der Selbstbezogenheit«, so sagt er, »müsse von außen durchstoßen werden, […] Im Erlebnis des Erhabenen durchbricht etwas Größeres unsere einseitige Beschäftigung mit einer zu engen Form der Befriedigung.«128 Die in der Neuzeit hervortretende Sehnsucht nach dem Tod bildet zweifellos einen Baustein der Revolte gegen das abgepufferte, nach außen hin abgeschottete Selbst. Diese Sehnsucht richtet sich auf die Wiederherstellung der Porosität, die dem Subjekt Auswege aus dem Kerker einer an Vernunftprinzipien orientierten Existenz bahnen soll.129 Unter diesen Bedingungen kehren die durch den Cartesianismus zurückgedrängten Geister – allerdings in verwandelter Form – zurück. Das Phantasma eines erlösenden Todes ist Produkt und Motor des Programms einer Wiederverzauberung der Welt; im anvisierten Sterben glaubt das Subjekt, ei125

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Michel Foucault hat diesen Prozess in seinen Untersuchungen zur sog. Disziplinargesellschaft analysiert. Vergl.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam: de Munter 1968, S. 47. Ebd., S. 70f. Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, S. 569 u. 578. Taylor erblickt in der Affinität des Subjekts zu erhabenen Phänomenen ein Bestreben des Subjekts, die »Membran« der Selbstbezogenheit zu durchbrechen. Ebd., S. 569, vergl. auch S. 578.

3. Die Auslotung der Grenzen

nen neuen Zugang ins Reich der fremd gewordenen Dinge gefunden zu haben. So verbindet sich die Idee des Todes mit Vorstellungen einer aus den Kategorien der instrumentellen Vernunft herausgelösten Natur. Exponenten der Romantik arbeiteten an einer Wiederbelebung des alten, bereits überwunden geglaubten Bildes von einem beseelten Kosmos. Im Fokus steht die Annäherung an entsprechende Energien, die nicht nur in der Außenwelt, sondern – so will es das Programm – zugleich in der Innenwelt des Subjekts präsent seien.130 An die Stelle der Differenz von Subjekt und Objekt tritt ein System von Resonanzen, durch das sich das Innen im Außen beziehungsweise das Außen im Innen wiederfindet.131 Das Begehren richtet sich auf einen über jedes partikulare Dasein hinausgreifenden Lebensstrom – verschiedentlich werden pantheistische Vorstellungen entwickelt –, an dem die Dinge der Welt ebenso partizipieren wie die Seelenräume der Menschen.132 So gewinnt das Subjekt die Möglichkeit, sich selbst als Teil einer kosmischen Ordnung zu begreifen. Motive der alten Metaphysik kehren zurück, exemplarisch greifbar in den Philosophien Schellings und Schopenhauers, die die Überzeugung vertraten, dass selbst die anorganische Welt von Vitalkräften durchpulst sei.133 Aufgrund des Flüssigwerdens von Vorstellungen und Begriffen können sich Leben und Tod zu einer einzigen Denkfigur zusammenschließen. Im Kampf gegen das abgepufferte Selbst rührt das Subjekt an die Idee einer zyklischen Ordnung, mit der archaische Vorstellungen ins Gedächtnis treten. Man fühlt sich an die an die Philosophie der Stoa anknüpfende Darstellung der Amazonenschlacht im Werk von Rubens erinnert (Abb. 9). Bei Novalis hingegen ist das Begehren auf einen Zustand der mit Wollust verknüpften unio mystica mit der toten Geliebten beziehungsweise mit Christus jenseits des Raums der Lebenden gerichtet.134 Erst in der ewigen Nacht des 130 »Das Vorrangige ist die Stimme im Innern oder – nach anderen Varianten dieser Auffassung – der Elan, der die Natur durchströmt und unter anderem in der inneren Stimme zum Vorschein kommt.« Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Subjektivität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 645. 131 Vergl. Taylor: Ein säkulares Zeitalter, S. 578. 132 »Im Erlebnis des Erhabenen«, so Taylor, »durchbricht etwas Größeres unsere einseitige Beschäftigung mit einer zu engen Form der Befriedigung. Dieser Durchbruch kommt gleichsam von außen. Im Fall der Wiedergewinnung unserer inneren Triebe kommt der Durchbruch von innen. Es liegt jedoch auf der Hand, daß es sich hier nicht um schlichte Alternativen handelt. Viele Autoren der Romantik und aus späteren Epochen sind der Ansicht, die Bewegung gehe in beide Richtungen zugleich: Die Wiederentdeckung dessen, was ich in meinem Inneren eigentlich bin, wird durch den Widerhall ermöglicht, den ich als von dem großen äußeren Strom der Natur herkommend empfinde.« Ebd., S. 578. 133 Vergl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung; Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 3, 1804-1806, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 141-587. 134 Vergl. Walther Rehm: Orpheus. Der Dichter und die Toten. Selbstdeutung und Totenkult bei Novalis – Hölderlin – Rilke, Düsseldorf: L. Schwann 1950, S. 99-148; vergl. auch Thomas Macho:

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Totenreichs öffnet sich für den Dichter ein Zustand höchsten Erfülltseins; hier begegnet er dem zeitlosen, allen irdischen Brüchen und Differenzen vorausliegenden chtonischen Ursprung der Dinge, letztlich der Mutter, aus der alles hervorgeht und in die alles am Ende zurückkehren muss.135 Der ersehnte eigene Untergang stellt sich als Ultima ratio eines heimatlos gewordenen Subjekts dar, das mit aller Macht gegen die Grenzen fixierter Identität aufbegehrt. Der nächtliche Abgrund lockt, er verfügt über magische Kräfte, denen sich das Subjekt ausliefert, denn das Leiden am abgepufferten Selbst produziert ein Begehren, dem eigenen Verschwinden näherzukommen. So heißt es in den Hymnen an die Nacht von Novalis: »Ich fühle des Todes/Verjüngende Flut,/Zu Balsam und Äther/Verwandelt mein Blut/Ich lebe bei Tage/Voll Glauben und Mut/Und sterbe die Nächte/In heiliger Glut.«136 Wo sich assoziative Verknüpfungen zwischen dem Motiv des Todes und vormodernen, metaphysischen Vorstellungen vom Leben herausbilden, tritt unter Umständen eine weitere Instanz auf den Plan: die Sexualität. Wie Philippe Ariès feststellte, lässt sich in der Neuzeit eine fortschreitende wechselseitige Annäherung von Eros und Thanatos beobachten. Bereits im frühen 16. Jahrhundert finden sich erste Anzeichen für eine derartige Entwicklung.137 Doch es bedurfte noch eines längeren Zeitraums bis in die Epoche des Barock, in der sich eine neue Sensibilität kristallisierte, in der die Einheit von Tod und sexueller Begierde explizit und unverstellt in den Blick treten konnte. Nicht nur Phänomene der Gewalt, sondern der Zustand des Leblosen kann bereits zum Anlass eines Lustgewinns werden: »Die Verwechslung von Tod und Wollust geht soweit, dass jener das Hochgefühl nicht unterbricht, sondern im Gegenteil noch steigert. Der tote Körper wird seinerseits zum Gegenstand der Begierde.«138 Hier entsteht eine neue, zuvor unbekannte Schönheit des Todes, der entsprechende Formen sinnlicher Lust korrespondieren. Die Genese einer mit sexuellen Konnotationen verbundenen Nekrophilie, mit der eine Wiederkehr des Sadismus einhergeht, bildet eine bedeutsame Variante der Suche des Subjekts nach Quellen der Erlösung abseits der überkommenen Religiosität.139 Offerierte die christliche Metaphysik den Gläubigen eine hierarchische Ordnung, in der die sinnlichen Triebe einer auf übersinnliche Wahrheiten gerichteten Frömmigkeit zu weichen hatten, so wird diese Hierarchie nun in ihr

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Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 270f. sowie Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1970, Bd. 1, S. 49. Thomas Macho, ebd., S. 246; Rehm, ebd., S. 115 u. 119. Novalis: Monog – Die Lehrlinge zu Sais – Die Christenheit oder Europa – Hymnen an die Nacht – Geistliche Lieder – Heinrich von Ofterdingen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1963, S. 58. Philippe Ariès: Geschichte des Todes, München: Deutscher Taschenbuchverlag 2009, S. 471-481. Ebd., S. 476. »In der Welt des Imaginären«, so der Autor, »sind Tod und Gewalt auf die Begierde getroffen.« Ebd., S. 478.

3. Die Auslotung der Grenzen

Gegenteil verkehrt. Luca Giordano präsentierte in seinem Engelsturz eine dementsprechende Szene: Der von oben herabkommende Himmelsbote senkt sich auf seinen Widersacher – den Teufel – herab, nicht um ihn kompromisslos niederzuwerfen, sondern um mit demselben in eine Symbiose einzutreten, die den unterweltlichen Mächten schließlich zur Dominanz verhilft (Abb. 12). Entscheidend für das Abfallen des Erzengels von Gott sind jene Kräfte, die in die Welt der Finsternis hinabführen. Man muss diese Struktur im Auge behalten, um die folgende Entwicklung begreifen zu können. In der im Barock hervortretenden Allianz von Eros und Thanatos reproduziert sich ein Baustein christlicher Ethik, die das sinnliche Begehren als Schauplatz dämonischer Instanzen behandelte; die Wiederverzauberung der Welt lässt das Vergangene mit veränderten Vorzeichen wiederkehren. Die Motive des Todes gewinnen durch erotische Konnotationen eine zusätzliche Anziehungskraft für das erlösungsbedürftige Subjekt; der sinnliche Exzess gilt nun als möglicher Schlüssel, der die Grenzen des abgepufferten Selbst zu öffnen vermag. An dieser Stelle ist an einen Theoretiker zu erinnern, der sich ebenfalls für die Nachtseite der menschlichen Psyche interessierte: Friedrich Nietzsche. Bereits in seinem Frühwerk Die Geburt der Tragödie liefert der Autor eine Theorie der Kunst, in welcher der Prozess einer lustbesetzten Auflösung personaler Identität im Fokus des Interesses steht.140 Voraussetzung seiner Überlegungen bilden zwei in Wechselwirkung stehende psychische Prinzipien. Den im Dienste der Aufrechterhaltung der Ich-Grenzen stehenden apollinischen Impulsen antworten die Kräfte des Dionysischen, die gegen diese Grenzen gerichtet sind und den Menschen in die Einheit der Gattung, letztlich ins Innere der Natur zurückzuführen versprechen.141 Zentral für die Charakterisierung der Letzteren ist selbst ein Widerspruch: Nicht nur die Lust, sondern auch der Schmerz wird im Zuge der Grenzüberschreitung in höchsten Intensitäten freigesetzt.142 Dionysos war in der Antike nicht nur ein Symbol bacchantischer Ausschweifungen, sondern auch Gott der Toten.143 Entsprechend ambivalent stellt sich die Reaktion des Subjekts angesichts der Schleifung der Grenzen der Ich-Identität dar.144 Doch der Autor fordert keinesfalls die unlimitierte Entfesselung dionysischer Potentiale; im Gegenteil, er ist an der Stabilisierung eines zur 140 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 1, Hg. von G. Colli und M. Montinari, München: De Gruyter, Deutscher Taschenbuchverlag 1980. 141 »Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohn, dem Menschen.« Ebd., Bd. 1, S. 59. 142 »In jedem Moment«, so der Autor, » ist der Wille zugleich höchste Verzückung und höchster Schmerz.« Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 199. 143 Vergl. Thomas Macho: Todesmetaphern, S. 375. 144 Vergl. Hans Zitko: Nietzsches Philosophie als Logik der Ambivalenz, Würzburg: Königshausen und Neumann 1991, S. 7-36.

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Kontemplation fähigen, Distanzen wahrenden Subjekts interessiert. Ziel der von ihm favorisierten Kunst ist ein Gleichgewicht der ins Spiel gebrachten Kräfte. Auf die Entfesselung des Dionysischen antworten die apollinischen Impulse; explizit spricht der Autor von einer Paarung beziehungsweise »einer strengen wechselseitigen Proportion« der Instanzen: Es darf »von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur so viel dem menschlichen Individuum in’s Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann, so dass diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetz der ewigen Gerechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind.«145 Die dionysisch-apollinische Synthese steht im Dienste der Aufrechterhaltung eines Zustandes, der das Subjekt vor dem eigenen Verschwinden bewahrt, dasselbe aber dennoch mit der Einsicht konfrontiert, dass sein partikulares Dasein über einem Abgrund errichtet ist, der durch die Welt des Scheins nur notdürftig den Blicken entzogen ist. Das Drama liefert in diesem Sinne eine »apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen«.146 Zentral ist dabei die Annahme, dass das organisierte Zusammenspiel der Kräfte eine Intensivierung der Wahrnehmung zur Folge habe. Wo sich die Instanzen paaren, treten die Ereignisse mit einer Wirkungsenergie in den Blick, die der klassischen, auf Ruhe und Gelassenheit ausgerichteten Kunst unbekannt ist. Die moderne Oper, die der Autor im Auge hat, erreicht, »bei jener prästabilierten Harmonie, die zwischen dem vollendeten Drama und seiner Musik waltet«, einen »höchsten, für das Wortdrama sonst unzugänglichen Grad von Schaubarkeit«.147 In emphatischen Wendungen versichert der Autor, dass in den dionysischen Zuständen nicht weniger als der »innerste Grund des Menschen, ja der Natur« emporsteigen würde.148 Entgegen diesem Selbstverständnis muss man den Zeitkern dieser Theorie freilegen. Anders als unterstellt, handelt es sich im Falle des dionysisch-apollinischen Antagonismus nicht um eine gattungsübergreifende Struktur, sondern um eine psychodynamische Konstellation, die einer Problemlage entstammt, an der das abgepufferte Subjekt laboriert. Die als dionysisch bezeichneten Kräfte sind Ausdruck des Begehrens, das poröse Subjekt wiederauferstehen zu lassen. Das Bild einer versöhnenden Natur, das der Autor in rhetorischen Formeln beschwört, ist ein bloßes Phantasma, das dem Menschen die Erlösung von den

145 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 155. 146 Ebd., S. 62. An anderer Stelle heißt es: »Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schließlich die Sprache des Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist.« Ebd., S. 140. 147 Ebd., S. 137. Die Musik, so Nietzsche an anderer Stelle, » reizt zum gleichnisartigen Anschauen der dionysischen Allgemeinheit, die Musik lässt sodann das gleichnisartige Bild in höchster Bedeutsamkeit hervortreten«. Ebd., S. 107. 148 Ebd., S. 28.

3. Die Auslotung der Grenzen

Zwängen der Disziplinargesellschaft verspricht. Damit stellen sich die bei Nietzsche im Spiel befindlichen Triebe als Produkte der Konstruktion einer spezifischen, in der Neuzeit sich herausbildenden psychischen Wirklichkeit dar. Entsprechende Einsichten finden sich in der Theorie des Subjekts bei Andreas Reckwitz. Im Hinblick etwa auf das romantische Subjekt bemerkt der Autor, dass die hier hervortretenden Strukturen nicht einfach aufgefunden, das heißt durch eine Analyse freigelegt, sondern in Praktiken der Selbstbeobachtung allererst produziert werden.149 Man muss sich auch im Hinblick auf die Struktur des psychischen Apparats von anthropologischen Generalisierungen verabschieden. Nietzsche dagegen mythisiert zeithistorische Verhältnisse und verschleiert auf diese Weise die in den allgemeinen Prozessen der Rationalisierung liegenden Voraussetzungen der von ihm beschriebenen Phänomene. Dennoch liefert er erhellende Einsichten in die Logik wirkungsästhetischer Prozesse, die um die Motive vitaler Natur, ekstatischer Sexualität, lustbesetzter Grausamkeit und nicht zuletzt den Tod zentriert sind.

149 Es handelt sich, so der Autor »nicht um das ›Auffinden‹ einer realen Struktur des Ichs, sondern um die kulturelle Produktion dieser Ichstruktur in den Praktiken der Selbstbeobachtung, um die ›performative‹ Hervorbringung von Subjekteigenschaften, die dann als ›immer schon vorhanden‹ erscheinen können«. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück 2010, S. 237; vergl. auch: S. 34 u. 210ff.

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4. Der Leib, das bewegte Bild und die Flucht des Subjekts vor sich selbst

I. Im Kontext der in der Moderne unternommenen Anstrengungen, den Dualismus von Subjekt und Objekt zu unterlaufen, tritt eine Instanz in den Fokus der Aufmerksamkeit, die für die ästhetische Erfahrung, vor allem für den später entwickelten Film von Bedeutung ist: Der Leib beziehungsweise der Körper. Richtungsweisend ist hier unter anderem die Metaphysik Arthur Schopenhauers. Als erklärter Gegner einer philosophischen Lehre, die die kognitiven Leistungen des Subjekts als sichere Basis für eine selbstbestimmte Existenz behandelt, richtet er sein Interesse auf den dunklen, nur schwer auszulotenden Hintergrund des Bewusstseinslebens. Der Intellekt bildet für ihn lediglich das Werkzeug einer ausnahmslos allen Erscheinungen zugrundeliegenden, jenseits jeder Vernunft angesiedelten Triebkraft, die er als Willen bezeichnet. Doch nicht nur der Mensch, auch die übrige organische und anorganische Natur partizipiert an dieser spezifischen Energie, die das kosmische Geschehen trägt und durchdringt. Auf dem Boden einer vitalistischen Metaphysik, die an Vorstellungen des pantheistischen Denkens anknüpft, wirft der Autor einen Blick auf die somatische Realität des Menschen, die sich ihm in zweifacher Weise darstellt. Auf der einen Seite steht der Körper, der der Sphäre der Vorstellungswelt angehört und einen Gegenstand der Anschauung bildet; auf der anderen Seite die für jedes Individuum unmittelbar zugängliche Wirklichkeit des eigenen Leibes: »Dem Subjekt des Erkennens, welches durch seine Identität mit dem Leibe als Individuum auftritt, ist dieser Leib auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: ein Mal als Vorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unter Objekten, und den Gesetzen dieser unterworfen; sodann aber auch zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet.«1

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Nicht das denkende und vorstellende Bewusstsein, sondern der von innen zugängliche und erfahrene Leib ist es, der dem Menschen den Zugang zu den letzten Wahrheiten des Seins eröffnet. Die für die klassische Erkenntnistheorie maßgebliche Differenz zwischen dem Ich und seinem Gegenstand, zwischen Subjekt und Objekt verliert ihre Bedeutung. Entscheidend ist nicht das Denken, sondern die vitale Empfindung: In der affektiven Erschlossenheit des Leibes als dem primären Organ des Willens fallen Erkennen und Erkanntes auf bestimmte Weise zusammen.2 Schopenhauer unterläuft mit seinem Modell den cartesischen Dualismus von res cogitans und res extensa. Nach der säkularisierungsbedingten Entfremdung des Subjekts von der Welt kann sich der Einzelne erneut als Teil einer kosmischen Ganzheit begreifen, in welcher ein einziges Prinzip regiert und alles mit allem zusammenhängt. Im Raum des in leiblicher Form sich manifestierenden Willens öffnet sich der Kerker der Selbstheit, so dass an Stelle der undurchlässigen Grenze zwischen Subjekt und Objekt eine Kontinuität zwischen Innen- und Außenwelt tritt. In entsprechenden Spielarten der Anschauung kann das Subjekt selbst noch in Phänomenen der zunächst als unbelebt erscheinenden Natur jene Kräfte erkennen, die es in der Sphäre des eigenen leiblichen Daseins vorfindet; der im Inneren wirksame Wille fungiert so als »Schlüssel« zur »Erkenntnis des innersten Wesens der gesamten Natur«3 . Der Philosoph, der sich dem animistischen Denken annähert, arbeitet an einer Wiederverzauberung der Welt, in der die Prozesse der Säkularisierung des Subjekts und der Kultur deutlich zurückgenommen sind. Theodor W. Adorno spricht im Hinblick auf diesen vitalistischen Ansatz sogar von einem Wiederaufflackern der Dämonenfurcht.4 Schopenhauer rekonstituiert Vorstellungen wie sie für ein poröses, dem magischen Denken verpflichtetes, vorneuzeitliches Subjekt kennzeichnend waren. Die Instanz Gottes, die eine Erlösung des Subjekts im Zeichen des Guten in Aussicht stellte, findet dabei keine Wiederauferstehung; im Gegenteil, der verschwundene Schöpfer hinterlässt eine von dunklen Trieben bestimmte Welt, in der die Prinzipien des Bösen regieren.5 Bereits mit sich selbst zerfallen, manifestiert sich der Weltwille in Form permanenter Konflikte, Konfron-

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Der Begriff »Wille ist der einzige, unter allen möglichen, welcher seinen Ursprung nicht in der Erscheinung, nicht in bloßer anschaulicher Vorstellung hat, sondern aus dem Innern kommt, aus dem unmittelbarsten Bewußtseyn eines Jeden hervorgeht, in welchem dieser sein eigenes Individuum, seinem Wesen nach, unmittelbar, ohne alle Form, selbst ohne die von Subjekt und Objekt, erkennt und zugleich selbst ist, da hier das Erkennende und das Erkannte zusammenfallen.« Ebd., S. 157. Ebd., S. 154. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 370. Vergl. Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 80-98.

4. Der Leib, das bewegte Bild und die Flucht des Subjekts vor sich selbst

tationen und Vernichtungskämpfe.6 Als Schauplatz nicht abreißender Schandtaten erscheint die Geschichte jedoch zugleich als Ort der unmittelbaren Bestrafung der Schuldigen, als irdische Hölle, »welche die des Dante dadurch übertrifft, daß Einer der Teufel des Anderen seyn muß […]«.7 Schopenhauer versucht, Positionen wiederzubeleben, die durch die Kantische Kritik in den Raum unbeweisbarer Fiktionen verbannt wurden. Sieht man von seinen problematischen naturphilosophischen Generalisierungen ab, so bleiben dennoch Motive, die vor allem für die Kunst und Ästhetik von Bedeutung sind. Bemerkenswert ist zunächst eine Vorstellung, welche die Eigenart und Struktur des Willens betrifft: »Jeder wahre Akt des Willens« eines Menschen, so heißt es, »ist sofort und unausbleiblich auch eine Bewegung seines Leibes: er kann den Akt nicht wirklich wollen, ohne zugleich wahrzunehmen, daß er als Bewegung des Leibes erscheint.«8 Der essentiell triebabhängige Mensch, dessen Struktur im Raum der klassischen Dualität von Subjekt und Objekt nicht aufgeht, befindet sich in stetiger Bewegung. Man hat eine Art von blind operierender Maschine vor sich, in der die bereitstehenden Potentiale des Seienden immer schon in ihre prozessförmige Entfaltung übergegangen sind; das Subjekt vollstreckt unwillkürlich und unkontrolliert, was ihm durch seine Willensnatur vorgegeben ist. So bricht Gewalt aus dem Inneren hervor, ohne dass der Täter über die Möglichkeit verfügte, in das eigene Triebgeschehen modellierend einzugreifen, denn im Raum seines Verhaltens regiert ein strikter Determinismus.9 Schopenhauers atheistische Anthropologie versenkt den Menschen in eine abgründige Schicksalsordnung, die ihm jede Hoffnung nimmt, im irdischen Leben Glück und Gerechtigkeit zu finden. Der einzige Ausweg, der aus den Zirkeln der weltlichen Verdammnis herausführt, ist die Ausschaltung des Willens, in neueren Begriffen der Aufschub beziehungsweise die Verdrängung der Triebkräfte. Einer derartigen Operation entspringt die ästhetische Erfahrung beziehungsweise die Kunst, die von der Möglichkeit kündet, das Weltgeschehen aus einer temporär eigenommenen, triebentlasteten Distanz in den Blick zu nehmen. Hier konstituiert sich ein »reines, willensloses, schmerzloses, zeitloses

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So ist der Streit in den Dingen »selbst nur die Offenbarung der dem Willen wesentlichen Entzweiung mit sich selbst«. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Erster Teilband, S. 198. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zweiter Teilband, S. 676. »Der Willensakt und die Aktion des Leibes«, so heißt es weiter, »sind nicht zwei objektiv erkannte verschiedene Zustände, die das Band der Kausalität verknüpft, stehn nicht im Verhältnis der Ursache und Wirkung; sondern sind Eines und das Selbe, nur auf zwei gänzlich verschiedene Weisen gegeben: ein Mal ganz unmittelbar und ein Mal in der Anschauung für den Verstand.« Die Welt als Wille und Vorstellung I, Erster Teilband, S. 143. Vergl. Arthur Schopenhauer: Preisschrift über die Freiheit des Willens, in: Über die Freiheit des menschlichen Willens. Über die Grundlage der Moral, Kleine Schriften II, Bd. 6, Zürich: Diogenes 1977, S. 43-142, bes. 134ff.

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Subjekt der Erkenntnis«, ein »klares Weltauge«, das in die inneren Strukturen des Seienden einzudringen und letzte Wahrheiten offenzulegen vermag.10 Ästhetische Wahrnehmung und Kunst befreien das Subjekt von den Schrecken der irdischen Hölle; sie berichten vom düsteren Wesen der Dinge und gewinnen demselben dabei selbst noch versöhnliche Züge ab. Schopenhauer propagiert eine Kontinuität der Wesen und Dinge, um das ästhetisch kontemplierende Subjekt dennoch aus dieser Kontinuität herauszuheben; seine Theorie der Kunst steht im Zeichen radikaler Sublimierung. Er unterscheidet dabei zwei Typen ästhetischer Metaphysik: Die oberen Tiefenschichten der Welt erschließt die bildende Kunst, die nicht schon den Weltwillen selbst, sondern dessen auf Dauer gestellte Objektivationen – der Autor spricht von zeitlosen Ideen – zur Anschauung bringt.11 Hier ist es der optische Sinn, der für die Leistungen entsprechender Werke maßgeblich ist. Schopenhauer bewegt sich mit seinen Vorstellungen von der Malerei und Skulptur auf dem Boden einer neoplatonischen Ästhetik. Die Situation ändert sich allerdings, wenn er die Leistungen der Musik in den Blick nimmt, denn dieses künstlerische Medium unterscheidet sich seiner Auffassung nach von den übrigen Künsten, weil es nicht die Ideen, sondern den Willen selbst zum Gegenstand hat.12 Kaum zufällig ist es eine an den Hörsinn gebundene Zeitkunst, der die Fähigkeit attestiert wird, die letzten Wahrheiten über den Willen, jenen formlosen und blinden Drang, jenes finstere, dumpfe Treiben, auszusprechen.13 Keine fixierte Gestalt, keine unbewegte Form kann vom Innersten des Seienden beziehungsweise des Menschen Auskunft geben, denn nur in seinen Äußerungen, d.h. in Gestalt von Prozessen gibt der Wille seine Geheimnisse preis. Doch auch die Musik liefert, wie es heißt, lediglich Bilder, nicht Ur-Bilder, wie im Falle der zeitlosen Ideen, sondern Abbilder der ersten Substanz, die sämtlichen Erscheinungen, einschließlich den platonischen Ideen, zugrunde liegt.14 Thema jeder ernst zu nehmenden Musik seien die willensbestimmten Kämpfe und Konflikte, die den Grund des Daseins ausmachten. Was die musikalische Komposition darbietet, ist jedoch nicht ein ungefilterter Blick in die Abgründe, sondern das Produkt einer Transformation, welche die untereinander ringenden Instanzen auf ihre Weise zur Versöhnung führt. Wie die übrigen künstlerischen Medien vermag auch die Tonkunst

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Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Erster Teilband, S. 232 u. 240. »Ich verstehe also unter Idee jede bestimmte und feste Stufe der Objektivation des Willens, sofern er Ding an sich und daher der Vielheit fremd ist, welche Stufen zu den einzelnen Dingen sich allerdings verhalten, wie ihre ewigen Formen, oder ihre Musterbilder.«. Ebd., S. 177. »Die Musik ist also keineswegs, gleich den anderen Künsten, das Abbild der Ideen, sondern Abbild des Willens selbst […]«. Ebd., S. 324. »So sehn wir denn hier, auf der untersten Stufe, den Willen sich darstellen als einen blinden Drang, ein finsteres, dumpfes Treiben […].« Ebd., S. 201. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, Zweiter Teilband, S. 529ff.

4. Der Leib, das bewegte Bild und die Flucht des Subjekts vor sich selbst

Trost zu spenden, der das Subjekt von den Verwerfungen des Lebens entlastet.15 Mehr als in anderen Medien stehen dabei Stimmungslagen und Affekte im Fokus der Aufmerksamkeit; es handelt sich dabei indessen wiederum nicht um ungefilterte Willensäußerungen, sondern um Zustände höherer Allgemeinheit, um Affekte in abstracto beziehungsweise um Formen ohne Stoff.16 Mit Recht wendet sich der Autor gegen die verbreitete Vorstellung, Musik sei ein direkter Ausdruck innerer Zustände oder Befindlichkeiten. Welche Rolle spielt nun der Leib in der Wahrnehmung der Musik? Die von Schopenhauer postulierte Einheit von Leib und Willen legt die Vermutung nahe, dass auch die Musik, die auf den Willen Bezug nimmt, in dieser oder jener Weise mit leiblichen Prozessen zu tun habe. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass der Autor die Möglichkeit eines physischen Aktivwerdens bei der Rezeption musikalischer Werke kategorisch zurückweist. Er stellt fest, dass das Subjekt zwar durchaus den Hang entwickele, die durch die Musik wachgerufenen Affekte mit »Fleisch und Bein zu bekleiden, also dieselben in einem analogen Beispiel zu verkörpern«;17 doch dies befördere »im Ganzen genommen« nicht das Verständnis der Musik, »noch ihren Genuß, giebt ihr vielmehr einen fremdartigen, willkürlichen Zusatz: daher ist es besser, sie in ihrer Unmittelbarkeit und rein aufzufassen.«18 Ähnlich wie bei Kant, der die ästhetische Wahrnehmung als Schauplatz eines uninteressierten Wohlgefallens betrachtete, bleibt die Wahrnehmung von Kunst auch bei Schopenhauer eine vom Leib sich ablösende, dem kontemplierenden Geist vorbehaltene Aktivität. »Wir sehn also hier«, so erklärt er im Hinblick auf die musikalische Sprache, »die Willensbewegungen auf das Gebiet der bloßen Vorstellung hinübergespielt, als welche der ausschließliche Schauplatz der Leistungen aller schönen Künste ist; da diese durchaus verlangen, dass der Wille selbst aus dem Spiel bleibe und wir durchweg uns als rein Erkennende verhalten.«19 Wohl um die versöhnliche Kraft der Kunst angesichts des dunklen Triebgeschehens zu rechtfertigen, weigert sich der Autor, die leibliche Dimension ästhetischer Wahrnehmung in den Blick zu nehmen. Doch gerade dies wäre im Hinblick auf die entsprechenden Strategien der Moderne, das

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Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, Erster Teilband, S. 335. Die Musik, so heißt es, »drückt daher nicht diese oder jene einzelne und bestimmte Freude, diese oder jene Betrübniß, oder Schmerz, oder Entsetzen, oder Jubel, oder Lustigkeit, oder Gemüthsruhe aus; sondern die Freude, die Betrübniß, den Schmerz, das Entsetzen, den Jubel, die Lustigkeit, die Gemüthsruhe selbst, gewissermaßen in abstracto, das Wesentliche derselben, ohne alles Beiwerk, also auch ohne die Motive dazu.« Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Erster Teilband, S. 328 u. 326; ders. Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zweiter Teilband, S. 529. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Erster Teilband, S. 328f. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zweiter Teilband, S. 529. Ebd., S. 531.

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Abgepuffertsein des Selbst abzumildern und auszuschalten, von Interesse. Schopenhauers Metapher vom klaren Weltauge, vom reinen Subjekt der Erkenntnis ist ein unzureichendes Instrument ästhetischer Theorie. Dennoch bietet seine Einsicht in das doppelte Gegebensein des Leibes – zum einen als Objekt unter Objekten, zum anderen als unmittelbar zugängliche Seinssphäre – einen Schlüssel für eine Beschreibung entsprechender ästhetischer Phänomene. Bedeutsam ist sie vor allem für die Darstellung und Analyse von Gewalt in bewegten Bildern, deren Spuren im Subjekt kaum vollständig objektivierbar, das heißt in den Raum der Vorstellung zu übersetzen sind. Das zweifache Gegebensein der somatischen Realität des Menschen ist später – in der Phänomenologie und Anthropologie – zum Gegenstand detaillierter Untersuchungen gemacht worden. Helmuth Plessner, der die von innen erschlossene Physis als den Leib bezeichnet, benennt deren materielle, gestalthafte Seite mit dem Begriff des Körpers.20 Vermittelt sind beide Sphären durch das nicht objektivierbare Ich, das als selbst nicht fassbarer Fluchtpunkt der Innenwelt des Menschen fungiert. Vermittlung meint dabei indessen nicht eine Synthese oder Versöhnung des Unterschiedenen in einer höheren Einheit, sondern impliziert vielmehr die Evidenz eines Widerstreits, der das Subjekt umtreibt, ohne je einer Schlichtung oder Auflösung zugeführt werden zu können. Die Einheit, um die es hier geht, so heißt es, sei selbst der »Bruch, der Hiatus, das leere Hindurch der Vermittlung«.21 Mit dem Ich besitzt der Mensch eine ihm essentiell zukommende Instanz, die ihm die Möglichkeit eröffnet, von seiner leiblichen und körperlichen Existenz Abstand zu nehmen und aus einer imaginären Distanz auf sich selbst zurückzublicken. In programmatischer Weise spricht der Autor von einer exzentrischen Positionalität, welche die Fähigkeit des Individuums begründet, sich von sich selbst abzusetzen und sich gleichsam von außen in den Blick zu nehmen. Bedingt durch diese Struktur stehe der Mensch, wie Plessner bemerkt, »nicht mehr im Hier und Jetzt, sondern ›hinter‹ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts, geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann«.22 Die Ablösung aus jeder ungebrochenen Unmittelbarkeit, die für das tierische Leben kennzeichnend ist, ermöglicht dem Individuum das Erlebnis seiner selbst, denn es weiß nun um sich;23 es erlebt aber auch eine Ort- und Zeitlosigkeit im Sinne eines außerhalb seiner selbst Stehens.24

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Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin – New York: De Gruyter 1975, S. 294ff. Ebd., S. 292. Ebd., S. 292. Ebd., S. 290. Zum Begriff der exzentrischen Positionalität vergl. auch Joachim Fischer: Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner, Weilerswist: Velbrück 2016, S. 115-145. Plessner: Die Stufen, S. 292.

4. Der Leib, das bewegte Bild und die Flucht des Subjekts vor sich selbst

Der Gewinn reflexiver Distanz hat einen Preis: Sich selbst exzentrisch zu sein bedeutet, im Zustand einer konstitutiven Heimatlosigkeit existieren zu müssen.25 Einmal mehr hat man die auch für die Entstehung religiöser Glaubenssysteme zentrale Zustandsform des Menschen vor sich, jene prekäre Verfassung, die auf die Befreiung desselben aus den Zwängen der Natur zurückgeht.26 Von Interesse ist die Plessner’sche Theorie, weil sie die konstitutionelle Heimatlosigkeit des Menschen mit Blick auf sein leiblich-körperliches Dasein thematisiert. Entscheidend ist zunächst die Distanz, die das ortlose Ich von der somatischen Seite der Existenz abschneidet, denn diese Distanz eröffnet dem Menschen die Möglichkeit, affektive und physische Zustände und Aktivitäten als solche wahrzunehmen und zu objektivieren. Mit dem Medium des Wissens, das auf diese Weise in die innere Natur des Menschen einwandert, wird ihm die eigene Natur jedoch zum Problem. Aus dem Zustand des bruchlosen Eingelassenseins in sein physisches Dasein herausgesetzt, sieht er sich mit einer widerständigen körperlich-leiblichen Existenz konfrontiert. Die sich konstituierende Spaltung zwischen Außenfeld, Innenfeld und Bewusstsein verlangt Stellungnahmen, Positionierungen und Entscheidungen, denn Leib und Körper sind nicht mehr problemlos gegeben oder verfügbar, sondern müssen durch entsprechende Strategien und Techniken allererst angeeignet, dienstbar gemacht, mit Blick auf kulturelle oder subjektive Erwartungen modelliert werden; dies geht nicht ohne Verwerfungen, Widerstände und Unpässlichkeiten vonstatten. »Der Mensch liegt eben«, so Plessner, »mit seinem Körper im Streit, auch wenn er weiß, dass es sein eigener Leib ist, der ihm dazwischenkommt.«27 So präsentiert sich der mit dem Körper assoziierte Leib dem Ich als ein sperriger Komplex, der das Individuum vor die Aufgabe stellt, gegen Widerstände der eigenen Existenz Konturen zu geben. Nichts ist selbstverständlich, denn das Subjekt muss das ihm aufgrund seiner exzentrischen Positionalität fehlende Gleichgewicht allererst herstellen.28 Was auf diese Weise entsteht, ist – weit davon entfernt, natürlich zu sein – ein artifizielles Produkt, das die Aufgabe erfüllt, das Dasein stabil werden zu lassen und dem Menschen damit eine zweite Heimat zu geben.29 Dass die Zustandsformen sowie die Beziehungen von Leib und Körper abhängig sind von kulturellen Wertsystemen und Praktiken, ist von erheblicher Bedeu25 26 27

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Ebd., S. 309. Vergl. hier noch einmal: Ulrich Oevermann, Ein Modell, S. 291. Helmuth Plessner: Anthropologie der Sinne; in: Anthropologie der Sinne, Gesammelte Schriften III, Frankfurt a.M. 1980, S. 369. »Mein eigenes Körper-Sein stellt sich mir, dem Subjekt, als ein Konflikt dar, dessen Unlösbarkeit mit der Subjekt-Objekt-Spaltung gegeben ist.« Ebd., S. 369. Plessner: Die Stufen, S. 310. »Existentiell bedürftig, hälftenhaft, nackt ist dem Menschen die Künstlichkeit wesensentsprechender Ausdruck seiner Natur. Sie ist der mit der Exzentrizität gesetzte Umweg zu einem zweiten Vaterland, in dem er Heimat und absolute Verwurzelung findet.« Ebd., S. 316.

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tung für eine Theorie der Gewalt in den Medien. Betrachtet man die Probleme der mit dem Auftreten der Moderne propagierten Zurückdrängung des porösen zugunsten des abgepufferten Selbst auf der Folie der Theorie des Somatischen, so zeigen sich folgende Verhältnisse: Grundsätzlich sind Leib und Körper durch den Prozess der Säkularisierung und der damit einhergehenden Aufrichtung eines modernen Subjekts in besonderer Weise betroffen. Sowohl die Porosität als auch die Abschließung des Subjekts nach außen werden in leiblicher Form erlebt und finden in entsprechenden Bildern des Körpers ihren Ausdruck. Die Konstruktion einer modernen Identität bedarf, wie Michel Foucault gezeigt hat, spezifischer Disziplinarpraktiken, die sich vor allem an Prozesse des Leibes beziehungsweise an den Einsatz des Körpers richten. Der Autor, der diese Praktiken unter dem Begriff einer Mikrophysik der Macht zusammenfasst, macht deutlich, dass sich auf dem Boden dieser Praktiken bestimmte Strukturen von Raum und Zeit etablieren.30 Dem disziplinierten Körper entspricht zum einen ein analytischer Raum, der einer Logik der Parzellierung gehorcht, die im Dienste effizienter Beobachtung und Kontrolle Seinsbestände voneinander abgrenzt und in ein rationales Verhältnis bringt.31 Auf der anderen Seite konstituieren sich Rythmen der Zeit, die an Prinzipien einer linearen Temporalität und den Ideen eines allgemeinen Fortschritts orientiert sind. Ziel ist die Zurichtung des Leibes und Körpers für die Zwecke politischer, sozialer, ökonomischer und technischer Rationalisierung. Obwohl sich dieses System unter anderem die reglementierte Lebensführung der alten Klöster zum Vorbild nahm, fehlt jede Bezugnahme auf eine transzendente Ordnung, die den konditionierten Praktiken einen höheren Sinne geben könnte.32 Der Mensch wird – greifbar in den Exerzitien des Militärs sowie in den abgezirkelten Arbeitsabläufen der Industrie – in einen selbstgesteuerten, an profanen Aufgaben ausgerichteten Apparat verwandelt.33 Über einen längeren historischen Zeitraum konstituieren sich besondere, in einem bestimmten Umgang mit Leib und Körper fundierte Habitusformen, die die offenen Strukturen des porösen Selbst ersetzen. Doch der Blick auf die Geschichte lehrt, dass die Konstruktion dieses neuen Sozialcharakters ein Wiedererstarken der zurückgedrängten Seinsweise des Subjekts zur Folge hat; die Logik des magischen Denkens lässt sich durch Aufklärungsprogramme und Disziplinarregime nicht einfach beseitigen. Bereits das in der Neuzeit aufkeimende Interesse an der Ästhetik des Erhabenen zeigt, dass die sich konsolidierende Moderne stets mit ihrem Ande-

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Vergl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 173-219. Ebd., S.  183ff. Ebenso wie bereits Max Weber vergleicht Foucault die modernen Disziplinarregime mit den Lebensformen in den mittelalterlichen Klöstern. Ebd., S. 176 u. 181f. Ebd., S. 173f.

4. Der Leib, das bewegte Bild und die Flucht des Subjekts vor sich selbst

ren zu rechnen hat. Hier tritt unter anderem der Leib in einer spezifischen Form auf den Plan. Die Moderne erlebt spätestens seit der Romantik eine Aktualisierung der physischen Natur des Menschen.34 Dies ist für die Ästhetik des Films von Bedeutung. In der Theorie der Kunst spielt zunächst die Musik eine exponierte Rolle bei den Bemühungen, die Rolle des Leibes in der ästhetischen Wahrnehmung zur Geltung zu bringen. Schopenhauer, der die Tonkunst einer mit dem Leib assoziierten Willensnatur des Menschen zuordnet, weigert sich, die damit eröffnete Erkenntnisperspektive für eine Theorie der Musik fruchtbar zu machen. Plessner dagegen entwickelte bereits in seiner frühen Schrift Die Einheit der Sinne Vorstellungen über das innere Verhältnis von musikalischen Abläufen und leiblichen Aktivitäten. In der Wahrnehmung von Musik, so der Autor, ließen sich spezifische Prozesse der Angleichung von Leibeshaltungen an die sinnhaften Strukturen des geformten Klangmaterials beobachten.35 Entscheidend sei dabei die menschliche Stimme, die über die Fähigkeit verfüge, Töne hervorzubringen. Jedes musikalische Ereignis ließe sich auf der Skala der Möglichkeiten dieses leiblichen Organs abtragen. So entspricht jedem Ton eine »gewisse Lage im phänomenalen Leibesraum, diejenige nämlich, in der wir den gleichen Ton stimmlich erzeugen müßten«.36 In paradigmatischer Weise greifbar würde diese »Adäquation der Ausdrucksbewegung zum Ausdruckssinn« im Tanz oder auch in den Akten des Dirigierens eines Musikstücks.37 Der Autor spricht im Hinblick auf dieses Phänomen von einer so genannten Akkordanz der Leibeshaltung zur musikalischen Form.38 In dieser Akkordanz liege nicht weniger als die Bedingung der Möglichkeit des Verständnisses musikalischer Gehalte, deren Rezeption stets bestimmte physische Aktivitäten einschließe. Damit wird die Musik nicht in ein rein körperliches Geschehen verwandelt, wohl aber gezeigt, dass der Geist dieser Kunst somatische Implikationen habe. Doch nicht nur in der Musik, auch in der Rezeption von Filmen lassen sich Plessner zufolge leibliche Aktivitäten beobachten. In diesem Fall habe man es jedoch nicht mit Vorgängen der Angleichung leiblicher Ausdruckshaltungen an ein sinnhaftes ästhetisches Geschehen zu tun, sondern mit einfachen physischen Reaktionen auf wahrgenommene Phänomene. So kann ich, wie der Autor bemerkt, durch den Anblick von bewegten Objekten selbst in einen Bewegungszustand geraten: »Unwillkürlich lehne ich 34 35 36 37 38

Zur Entdeckung des Leibes vergl. Hermann Schmitz: Der Leib, System der Philosophie II, Teil 1, Bonn: Bouvier 2005, S. 572ff. Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes, in: Anthropologie der Sinne, Gesammelte Schriften III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. S. 221-248. Ebd., S. 234. Ebd., S. 222. Akkordanz meint also »[…] die Einfügbarkeit der körperlichen Haltung in die Formen der Musik, die Eingepaßtheit der Töne, Klänge und Klangverbindungen in die körperliche Haltung […]«. Ebd., S. 236.

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mich«, wie es bei den Bildern einer Eisenbahnfahrt geschieht, »fester an die Rückwand meines Stuhls«, weil ich »glaube, mit dem ganzen Saal auf dieser Strecke zu fahren«; eine Akkordanz im Sinne des Eingefügtseins der leiblichen Haltung in das Wahrgenommene konstituiere sich in diesem Falle nicht.39 Lediglich um die Rezeptionsdynamik der Musik von der des Films abzuheben, tut der Autor hier in dieser 1923 erschienenen Schrift erste Schritte in Richtung einer Ästhetik des bewegten Bildes. Im Folgenden ist die Frage zu beantworten, ob das Verhältnis bewegter Bilder zur leiblichen Aktivität des Subjekts nicht doch enger zu fassen sei als Plessner hier annimmt. Festzuhalten ist, dass die Bezugnahme ästhetischer Prozesse auf leibliche Empfindungen keineswegs in jedem Fall der Wiederherstellung einer porösen Konstitution des Subjekts förderlich ist; sie kann unter entsprechenden Bedingungen ebenso im Dienste der Abpufferung von Persönlichkeitsstrukturen stehen. Hier gilt, dass die Zustände der Abpufferung über Mechanismen der Selbstreproduktion und Selbststabilisierung verfügen, die den gegenläufigen Impulsen der Grenzüberschreitung Widerstände entgegensetzen; auch die Logik der Einschließung ist mit bestimmten Formen der Lust verknüpft. Der prekäre Status des ortlosen Ichs wird durch die Tatsache verschärft, dass sich der Leib selbst noch als Ort eines Dramas präsentiert, in welchem unterschiedliche Impulse gegeneinander auftreten. So ist das Ich des Menschen nicht allein ortlos, dem Nichts ausgesetzt, sondern zugleich einem physischen Sein ausgeliefert, das selbst von inneren Widersprüchen gezeichnet ist. Dabei sind auch Konflikte zwischen den Instanzen von Leib und Körper zu berücksichtigen, denn die einander komplementären Perspektiven eines durch Empfindungen erschlossenen Innen und eines objekthaften Außen sind nicht in einer bruchlosen Synthese zu versöhnen.40 Beide Hinsichten kollidieren vielfach, folgen je eigenen Prinzipien, die das Subjekt vermitteln muss, um eine Dissoziation der personalen Identität zu verhindern. Ein Leben zu führen heißt, ein Integrationsmanagement aufrecht zu erhalten, das die Abgründe überbrückt und die Fliehkräfte des Daseins auf ein erträgliches Maß reduziert; wo dies nicht gelingt, resultieren Pathologien. Konnte der Einzelne in den traditionsorientierten Gesellschaften noch problemlos auf die konfliktreduzierenden Narrative der Religion zugreifen, so entzieht ihm die Moderne diese Kompensationsinstrumente und setzt ihn gleichsam ungeschützt den schwankenden Fundamenten seines Daseins aus. Man hat die im Inneren des Subjekts sich öffnenden Abgründe ins Auge zu fassen, um die Rolle der Gewalt im Film verstehen zu können. Ein weiterer Theoretiker kann helfen, die Voraussetzungen für eine entsprechende Analyse bereit-

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Ebd., S. 224f. »Die wahre Crux der Leiblichkeit«, so sagt Plessner, »ist ihre Verschränktheit in den Körper, eine Verquerheit, die den Tieren erspart bleibt, weil sie sich nicht subjektivieren und somit auch nicht objektivieren können.« Anthropologie der Sinne, S. 368.

4. Der Leib, das bewegte Bild und die Flucht des Subjekts vor sich selbst

zustellen: der Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard. Der Autor, der sich mit der komplexen Situation eines aus religiösen Bindungen gelösten Subjekts befasst, skizziert die Lage dieses Subjekts in einer für die vorliegenden Probleme richtungsweisenden Form.41 Der Mensch, so heißt es in seiner Schrift Die Krankheit zum Tode in einer ersten Wendung, sei Geist, der ein Selbst sei. Das Selbst jedoch bilde ein Verhältnis und zwar ein solches Verhältnis, »das sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht ein Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.«42 Unter dem Begriff des Verhältnisses rangieren zunächst Beziehungen, »Synthesen« zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen, dem Zeitlichen und dem Ewigen, zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Zu einem Selbst – zum Geist – würden diese Verhältnisse erst dann, wenn sich diese Verhältnisse zugleich zu sich selbst verhielten. Es geht also nicht lediglich um Beziehungen zwischen jeweils zwei einander zugeordneten Instanzen – dem Endlichen und dem Unendlichen etc. –, sondern zugleich um die reflexive Bezugnahme dieser Beziehungen auf sich selbst. Man könnte von einer Beobachtung der unterschiedlichen Verhältnisse sprechen, welche ein Bewusstsein über diese Verhältnisse impliziert. Kierkegaard bringt nun einen weiteren Faktor ins Spiel, indem er die Möglichkeit offeriert, dass dieses reflexive Verhältnis selbst noch durch ein Anderes, eine weitere Instanz gesetzt, das heißt hervorgebracht sei.43 In dem hier sich konstituierenden dritten Verhältnis fragt der Autor nach der Beziehung des Einzelnen zu Gott, denn wo das Selbst durch ein Anderes gesetzt sei, verhalte es sich in seinem Selbstverhältnis zugleich zu seiner externen Voraussetzung, einer höheren Ursache, von der es in seinem Dasein abhängig sei. Im anderen Fall, in welchem das Selbst nur durch sich und nicht auch durch ein anderes gesetzt sei, fiele diese externe Quelle des Daseins fort. Bereits zu Beginn seiner Erörterungen bringt der Autor seine Überzeugung zum Ausdruck, dass das Selbst nicht durch sich allein, das heißt in reiner Selbständigkeit in Zustände des Gleichgewichts und der Ruhe kommen könne, sondern »nur dadurch, daß es sich, indem es sich zu sich verhält, zu dem verhält, welches das ganze Verhältnis gesetzt hat«.44 Die Möglichkeit des Selbst, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit oder Freiheit und Notwendigkeit sinnvolle Synthesen zu bilden und diese Synthesen zu sich in ein Verhältnis zu setzen, ist für den Autor also von der Möglichkeit abhängig, eine höhere Quelle dieser Verhältnisse anzuerkennen. Wo dieses dritte Verhältnis nicht bestehe oder durch welche Gründe auch immer gestört oder unterbrochen sei, resultierten Zustände der Verzweiflung: Kierkegaard nennt neben einer uneigentlichen zwei eigentliche Formen derselben: »Hätte der Mensch sich selbst gesetzt, dann könne nur von einer Form ›eigentlicher Verzweiflung‹ die Rede

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Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, Frankfurt a.M.: Syndikat/EVA 1984. Ebd., S. 13. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14.

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sein, von der, nicht man selbst sein wollen, sich selbst loswerden wollen […].« Im anderen Fall – des Gesetztseins durch ein anderes – kommt die zweite Form der Verzweiflung zur Geltung, nämlich »verzweifelt man selbst sein zu wollen«.45 Im Grund könnten, so heißt es zunächst, alle Formen der Verzweiflung, also auch die erstere in die zweite »aufgelöst und auf sie zurückgeführt werden«.46 Verzweiflung, so Kierkegaard, sei nicht nur ein Mangel, sondern zugleich ein Vorzug des Menschen, etwa gegenüber dem Tier, denn dieser Zustand deute auf die Möglichkeit einer unendlichen Aufgerichtetheit oder Erhabenheit, auf die Tatsache, dass der Mensch eben Geist sei. Es gehöre zu den Vorzügen eines Christen, so heißt es weiter, auf diese Krankheit aufmerksam zu sein; in ihrer Überwindung liege die Seligkeit eines Christenmenschen. Als Zustand der Verlorenheit markiert die Verzweiflung das Verhältnis einer niederen Stufe des Seins zum Seinkönnen; sie weist auf ein noch nicht Erreichtes, aber Mögliches, in dem die tiefe Verlorenheit des Subjekts überwunden wird.47 Verzweiflung ist dabei keineswegs stets bewusst, sondern kann das Subjekt auch unbewusst ergreifen und sich in unterschiedlichen Affekten, Befindlichkeiten und Stimmungslagen im Leben des Einzelnen bemerkbar machen: »Wie der Arzt wohl sagen kann, daß vielleicht nicht ein einziger Mensch lebt, der ganz gesund ist, so könnte man, wenn man den Menschen recht kennte, sagen, nicht ein einziger Mensch lebe, ohne daß er doch etwas verzweifelt sei, ohne daß doch im Innersten eine Unruhe wohne, ein Unfrieden, eine Disharmonie, eine Angst vor etwas Unbekanntem oder vor etwas, womit er nicht einmal Bekanntschaft zu machen wagt, eine Angst vor einer Möglichkeit des Daseins oder vor sich selbst […].«48 Kierkegaard liefert in seiner Krankheit zum Tode eine Theorie psychischer Zustände, die sich auf dem Boden der christlichen Glaubenslehre bewegt.49 In der Verzweiflung verhalte sich der Mensch zum Ewigen, das er nicht loswerden könne und das, wenn er versuchte es zu vergessen, wiederkehrt, »in jedem Moment, in dem er verzweifelt ist«.50 Doch die Kierkegaard’sche Diagnose hat nicht nur Bedeutung für das Schicksal der von Zweifeln geschüttelten christlichen Seele, sondern zugleich für jenes säkulare Subjekt, das sich seinem Selbstverständnis nach von religiösen Bindungen abgekoppelt hat. Die Theorie der Verzweiflung besitzt, wie

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Ebd., S. 14. Ebd., S. 14. Ebd., S. 14. Ebd., S. 21. Vergl. Konrad Paul Liessmann: Sören Kierkegaard. Zur Einführung, Hamburg: Junius 1993, S. 121f. Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, S. 17.

4. Der Leib, das bewegte Bild und die Flucht des Subjekts vor sich selbst

Michael Theunissen feststellte, einen historischen Kern; der Zustand, den sie zum Thema hat, ist nicht zuletzt das Produkt des Verblassens der Idee höherer Wahrheiten im Raum einer Kultur, die sich von jeher durch das Verhältnis zu diesen Wahrheiten definierte; die Tiefe des sich auftuenden Zweifels hat ihr Maß am Absolutheitsanspruch der Theologie, die gegenüber jedem Zweifel erhaben war: »Ein totalisierender Zweifel ist das Gegenteil des Glaubens im christlichen Verstande, eines Glaubens, der seinerseits aufs Ganze geht. Eben als Negation eines solchen Glaubens ist er an eine Epoche gebunden, der die Möglichkeit, auf das Ganze glaubend auszugreifen, bereits eröffnet ist.«51 Dass sich Gott zurückzieht beziehungsweise verschwindet, hinterlässt im Inneren der betroffenen Individuen eine tiefgreifende Identitätskrise: Herausgelöst aus möglichen Transzendenzbindungen, entbehren sie nun jene Voraussetzungen, an denen gelungene Synthesen des Selbst bis dahin festgemacht waren. Es resultieren Zustände der Verzweiflung, der Verzweiflung, man selbst sein zu wollen, oder der Verzweiflung, nicht man selbst sein zu wollen. Doch Kierkegaards Reflexion macht deutlich, dass die erste Variante genau besehen in der zweiten, verzweifelt nicht man selbst sein wollen, verwurzelt ist, denn wenn wir verzweifelt wir selbst sein wollen, dann wollen wir ein Selbst sein, was wir nicht sind, also wollen wir unseren momentanen Zustand loswerden und nicht sein, was wir sind.52 Verzweifelt sich loswerden wollen ist deshalb die Grundformel für alle Verzweiflung.53 Präzisere Konturen gewinnt die Kierkegaard’sche Analyse, wenn sie unterschiedliche Spielarten der Verzweiflung voneinander abhebt. Entscheidend ist dabei der Gedanke, dass die durch den Menschen zu leistenden Synthesen in dieser oder jener Weise misslingen können. Im Blick der Betrachtung steht zunächst das Verhältnis zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit und damit jener Impulse, unendlich von sich selbst fortzukommen und zugleich unendlich zu sich selbst zurückzukehren. Während in einer gelungenen Synthese beide Instanzen in einem austarierten Verhältnis stehen, zeigen misslungene Synthesen ein Ungleichgewicht derselben: Wo die Unendlichkeit dominiert, tritt die Endlichkeit in den Hintergrund oder verschwindet gar; das Subjekt gibt sich in diesem Falle dem Phantastischen und Grenzenlosen hin, es betritt unter Umständen den Weg nicht endender, substanzloser Reflexionen und verliert dabei sein Selbst aus dem Blick. 51

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Michael Theunissen: Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. »Das, was Kierkegaard mit fortvivelse meint, kann es erst unter Bedingungen geben, die eine Totalisierung des Zweifels erlauben. Es setzt demzufolge das Christentum voraus.« Ebd., S. 68. »Ein Verzweifelter«, so Kierkegaard, »will verzweifelt er selbst sein. Aber wenn er verzweifelt er selbst sein will, dann will er sich ja nicht los sein. Ja so scheint es; aber wenn man näher hinsieht, erkennt man doch, daß der Widerspruch der gleiche ist. Das Selbst, das er verzweifelt sein will, ist ein Selbst, das er nicht ist […]« Die Krankheit zum Tode, S. 20. Vergl. Theunissen: Der Begriff der Verzweiflung, Anm. 31.

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Bereits in diesen Aktivitäten lauert der Abgrund: »Jede menschliche Existenz, die angeblich unendlich ist oder es nur sein will, selbst jeder Augenblick, in dem eine menschliche Existenz unendlich ist oder es nur sein will, ist Verzweiflung.«54 Der Autor macht auf die nicht zuletzt für die moderne Medienkultur bedeutsame Tatsache aufmerksam, dass exzessive Phantasie- oder Reflexionstätigkeiten in einer Flucht aus einer als defizitär empfundenen Identität ihre Voraussetzung haben. Das an sich selbst leidende Subjekt will nicht mehr sein, was es ist, es nimmt sich nicht an und weicht in künstliche Realitäten aus. Ebenso dem Selbst abgewandt operiert die komplementäre Spielart der Verzweiflung. Die Leugnung des Unendlichen zugunsten einer als absolut gesetzten Endlichkeit produziert eine Borniertheit, die den Horizont des Subjekts auf fatale Weise beschneidet. Gegenüber einer Lebensführung, die die Unwägbarkeiten im Raum der Erfahrung produktiv zu nutzen versteht, schließt sich der Mensch in diesem Fall in bequemen und behaglichen, dabei strikt fixierten Strukturen ein; jedes Wagnis und Risiko ausklammernd, präsentiert er sich »abgeschliffen wie ein Kieselstein, gebräuchlich wie eine gangbare Münze«.55 Auch hier flüchtet ein verzweifelndes Subjekt vor der eigenen Existenz, weil es sich der Aufgabe der Herstellung austarierter Synthesen verweigert. Ihre Funktion für die Herstellung des Selbst erfüllt die Synthese zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit dann, wenn sie sich zugleich zu sich selbst verhält, wenn diese Synthese also von einem entsprechenden Bewusstsein begleitet ist. Erst unter diesen Bedingungen öffnet sich dem Menschen der Raum der Freiheit. In diesem Kontext gewinnt ein weiterer Dualismus an Bedeutung: Das Subjekt ist mit der Forderung konfrontiert, die Instanzen der Möglichkeit und der Notwendigkeit in ein produktives Verhältnis zu setzen; wo es dieser Forderung nicht nachkommen will oder kann, resultiert wiederum Verzweiflung.56 So führe etwa die Missachtung der Notwendigkeit zugunsten des Möglichen in einen Zustand der Bodenlosigkeit, der das Selbst zum Verschwinden bringe. Mit Blick auf diese Spielart der Identitätsflucht entwickelt der Autor folgende Überlegung: Die Zeit, die dem Subjekt zur Erfahrung der Wirklichkeit zur Verfügung steht, werde immer kürzer, so dass der Eindruck, den wir von der Wirklichkeit erhalten, »immer augenblicklicher und augenblicklicher« wird.57 Das Reale verliert an Interesse, die erlebten Zeiträume schrumpfen, während das Gewicht fiktiver Perspektiven stetig anwächst. An die Stelle des Realen tritt eine Kette selbst immer schneller ablaufender Phantasmagorien, die die fatale Suggestion mit sich führen, alles und jedes sei möglich; das

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Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 29. Ebd., S. 32. Ebd., S. 34. »Aber zum Schluß wird die Zeit, die für die Wirklichkeit gebraucht werden sollte, immer kürzer, alles wird immer augenblicklicher und augenblicklicher.« Ebd., S. 34.

4. Der Leib, das bewegte Bild und die Flucht des Subjekts vor sich selbst

weltflüchtige Subjekt verwandelt sich in eine bloße Fata Morgana.58 Kierkegaard beschreibt hier eine Erfahrung von Zeit, die in gegenwärtigen Diskussionen mit dem Begriff der Gegenwartsschrumpfung bezeichnet wird.59 In knapper Form liefert der Autor erhellende Einsichten in die Risiken, mit denen der Mensch angesichts der lockenden und attraktiven Dimension des Möglichen konfrontiert ist. Der »Spiegel der Möglichkeit«, so bemerkt er, »ist kein gewöhnlicher Spiegel, er muß mit der äußersten Vorsicht gebraucht werden. Denn von diesem Spiegel gilt es im höchsten Sinne, daß er unwahr ist«.60 In der bloßen Möglichkeit, in der das Selbst noch weit von sich entfernt ist, kann es in die Irre gehen; deshalb bedarf es der Dimension der Notwendigkeit, um entworfenen Perspektiven konkrete Gestalt zu geben. Erst in einer Synthese mit dem existentiell Notwendigen werden die destruktiven Potentiale der Möglichkeit entschärft und im Dienste der Selbstwerdung fruchtbar gemacht. Doch auch der Umgang mit der Seite der Notwendigkeit ist mit Risiken behaftet, denn dort, wo sich der Raum der Notwendigkeit in einseitiger Weise zuungunsten von Möglichkeiten in den Vordergrund schiebt, gerät das Subjekt wiederum in Zustände der Verzweiflung. Eine Fixierung auf das sich als notwendig Darstellende manifestiert sich in der Gesinnung des Fatalismus und in entsprechenden Motiven des Determinismus.61 »Das Selbst des Deterministen kann nicht atmen, denn es ist unmöglich, einzig und allein das Notwendige zu atmen, welches bloß und alleine das Selbst des Menschen erstickt. Der Fatalist ist verzweifelt, hat Gott verloren und damit sein Selbst; denn wer keinen Gott hat, der hat auch kein Selbst. Der Fatalist hat aber keinen Gott, oder, was dasselbe ist, sein Gott ist Notwendigkeit; […]«62 Man muss Kierkegaards radikaler Position nicht folgen, dass allein ein gottesgläubiges Subjekt ein tragfähiges Selbst entwickeln könne. Seine Vorstellung, im Falle des Determinismus sowie des Fatalismus sei die Instanz der Notwendigkeit an die Stelle Gottes getreten, ist jedoch kaum von der Hand zu weisen. In kritischer Intention benennt der Autor die verbreitete Neigung des Subjekts, sich selbst Prozessen und Abläufen in Geschichte und Natur in passiver Hingabe auszuliefern. Die angesprochenen Dispositionen überschneiden sich darüber hinaus mit der in der Moderne verbreiteten Wertschätzung des Ästhetisch Erhabenen. Mit Kierkegaard lässt sich die Apotheose von Kräften der Natur als Folge einer Verzweiflung begreifen, in der das Subjekt nicht mehr sein möchte, was es ist. In der exemplarisch in der

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Ebd., S. 35. Vergl. dazu Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 131ff. Ebd., S. 35. Ebd., S. 38f. Ebd., S. 38f.

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Romantik auftretenden Affinität des Subjekts zum Tode findet die vom Autor genannte stumme Unterwerfung ihren radikalisierten Ausdruck: »Die Gottesverehrung des Fatalisten ist deshalb als Maximum eine Interjektion, und wesentlich ist sie Stummsein, stumme Unterwerfung; […]«.63 Doch auch die anderen der genannten Spielarten der Verzweiflung – der Endlichkeit, der Unendlichkeit oder auch der Möglichkeit – verfügen über entsprechende Korrelate im Raum der ästhetischen Wahrnehmung. Weit verbreitet sind in der Kunst die Strategien nicht limitierter Grenzüberschreitung, angeblich im Dienste der Befreiung des Subjekts aus Strukturen der Fremdbestimmung. Wo die Kategorien der Unendlichkeit oder des Möglichen ins Feld geführt werden, ist Vorsicht geboten, denn das Subjekt könnte sich mit einem partikularen Blick auf derartige Ideale selbst zum Verschwinden bringen. Vor allem im Raum der modernen Unterhaltungskultur sind derartige Prozesse zu beobachten. Kierkegaard liefert Einsichten, die es möglich machen, die hier relevanten Zusammenhänge besser zu verstehen; nicht zuletzt eine Theorie des Films kann von seiner Theorie des verzweifelnden Selbst profitieren.64

II. Mit dem Medium des Films gewinnt das an den psycho-physischen Folgen der Säkularisierung laborierende Subjekt ein neues Instrument zur Bearbeitung und Abfederung existentieller Problemlagen. Bedeutsam ist dabei zunächst die nur scheinbar triviale Tatsache, dass dieses Medium prozesshafte Phänomene in ihren sukzessiven Veränderungen darstellbar macht. Bereits das gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Philippe Jacques de Loutherbourg entwickelte Eidophusikon diente dem Zweck, Bewegungen in der Natur – einen Sonnenaufgang, ein aufziehendes Gewitter oder den Ausbruch eines Vulkans – wiederzugeben.65 Im Hintergrund dieser oder vergleichbarer Erfindungen stand nicht zuletzt das wachsende Interesse am Verhalten physikalischer Kräfte; wo Gott als zeitlose Bezugsgröße aus dem Raum des Denkens und der Anschauung verschwindet, gewinnt die Materie einschließlich ihrer dynamischen Qualitäten eine zuvor ungeahnte Bedeutung. Bilder, die dem gerecht werden wollten, mussten sich auf das essentielle Bewegtsein der Dinge einlassen und dementsprechende Darstellungen liefern. Die alte Theologie, die die irdische Welt in den Horizont eines ewig Seienden rückte, brauchte keine bewegten Bilder, denn in jedem möglichen Augenblick war Gott gleichermaßen präsent. Es ist sicher kein Zufall, dass das Medium des Films in

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Ebd., S. 39. Auf die Relevanz der Kierkegaard’schen Analysen für eine Theorie moderner Medien macht auch Konrad Paul Liessmann aufmerksam; Sören Kierkegaard, S. 126. Vergl. Rüdiger Joppien: Philippe Jacques de Loutherbourgs Eidophusikon, S. 134ff.

4. Der Leib, das bewegte Bild und die Flucht des Subjekts vor sich selbst

einer Epoche des zunehmenden Gottesverlustes hervortrat. Bilder entsprechender Geschehnisse konnten sich dem von Irritationen und Ängsten geschüttelten Subjekt als Gottesersatz anbieten. Mit Kierkegaard kann man von einer Verzweiflung der Notwendigkeit sprechen, die die Entwicklung derartiger Darstellungsformen begünstigte. Im Hintergrund steht das Phantasma einer blinden Gewalt der Natur, der sich das geschwächte Individuum in dem Wunsch, neuen Halt zu gewinnen, ausliefert. Doch die Beziehungen desselben zu Phänomenen der Kraft erschöpfen sich nicht in der Bereitschaft zur Hingabe an übermächtige Instanzen. Ein anderes Verhältnis stellt sich ein, wenn das Subjekt Potentiale der Kraft eigenen Zwecken unterwirft; ein bloßer Empfänger verwandelt sich in einen zielgerichtet handelnden Akteur. So umfassen bereits die in der Moderne sich exzessiv ausweitenden Praktiken der Naturbeherrschung ein bestimmtes Kräftemanagement, in welchem Kräfte gebunden, aufgehalten oder in vorgefasste Bahnen gelenkt werden. Auch physische Gewalt mit destruktiven Absichten erfordert den Umgang mit und den Einsatz von geeigneten Energien. Ebenso wie im Hinblick auf die bewegte Natur bietet der Film auch hier entsprechende Darstellungsmittel, denn er kann Akte der Zerstörung in ihrem konkreten Ablauf detailliert ins Bild setzen. Auch derartige Darbietungen fungieren als möglicher Ersatz für die verlorene, ehemals Trost spendende Metaphysik. Im Effekt hat man es, um wiederum mit Kierkegaard zu sprechen, mit den Folgen der Verzweiflung der Notwendigkeit zu tun. Doch um die Implikationen eines im Raum des Films angesiedelten Gewalthandelns zu verstehen, ist ein weiteres Motiv der Kierkegaard’schen Betrachtungen ins Spiel zu bringen: Man erinnere sich, dass der Wille, nicht man selbst zu sein, sich selbst zu vergessen, übergehen kann in das Bestreben, ein anderer zu werden, das heißt ein neues Selbst zu entwickeln.66 Es handelt sich nicht nur um die bloße Negation der Identität, sondern um den Wunsch ihres Austausches; eine Verwandlung des Selbst soll den Zustand des prekären Daseins überwinden helfen, ein Wunsch, der, wie der Autor feststellt, zum Lachen Anlass gäbe, denn entsprechende Individuen glaubten, sie könnten ihre Identität einfach auswechseln wie ein Kleid.67 Gleichwohl spielt das Begehren, ein zur Last gewordenes Selbst durch ein anderes zu ersetzen, in den psychischen Prozessen des modernen Subjekts eine nicht 66

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»Diese Form der Verzweiflung ist: verzweifelt nicht man selbst sein wollen, oder noch niedriger: verzweifelt nicht ein Selbst sein wollen, oder am allerniedrigsten: verzweifelt ein anderer sein wollen als man selbst, ein neues Selbst sich zu wünschen.« Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, S. 51. »Sehr häufig ist ein so Verzweifelter unendlich komisch. Man denke sich ein Selbst […] und dann, daß das Selbst den Einfall bekommt, ob es sich nicht machen ließe, daß es ein anderes würde als es selbst. Und doch liebt ein derartiger Verzweifelter, dessen einziger Wunsch diese wahnsinnigste von allen wahnsinnigen Verwandlungen ist, er liebt die Einbildung, daß die Veränderung ebenso leicht vor sich gehen sollte wie die, ein anderes Kleid anzuziehen.« Ebd., S. 51f.

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zu unterschätzende Rolle. Diesem Begehren kommt das Medium des Films mit eigenen Mitteln entgegen. Während im Falle der alten Malerei die Distanz zwischen dem Betrachter und dem kontemplierten Objekt mehr oder minder aufrechterhalten wird, offerieren die bewegten Bilder einen sinnlichen Raum, den das Subjekt in bestimmter Weise selbst zu betreten vermag. Greift man auf die Kierkegaard’sche Metapher zurück, so könnte man sagen, der Film ähnele einem magischen Kleid, das wir anziehen, um für bestimmte Zeiträume in eine andere Welt und eine andere Identität einzutauchen. Derartige Verwandlungen werden möglich, weil die in Bewegung gesetzten Bilder nicht allein die visuelle Wahrnehmung, sondern in hohem Maße zugleich das physische Empfinden des Zuschauers affizieren. Obwohl über lange Zeit die optische Seite des Films im Zentrum der theoretischen Interessen stand, sind die leiblichen Implikationen der Wahrnehmung filmischer Werke früh bemerkt worden. Plessners Hinweis auf entsprechende Reaktionen angesichts der Darstellung einer Eisenbahnfahrt geht die ersten Schritte.68 Später hat Siegfried Kracauer darauf aufmerksam gemacht, dass die Darstellung von Bewegung im Film einen Widerhall in körperlichen Tiefenschichten finde; der Autor spricht von einem leiblichen Resonanz- Effekt, den die Bilder auf Seiten des Zuschauers auslösten; es geht um nicht weniger als um kinästhetische Reaktionen, wie Muskelreflexe, motorische Impulse oder ähnliches.69 In den letzten Jahrzehnten sind dann die leiblichen Implikationen im Gebrauch dieses Mediums verstärkt ins Zentrum entsprechender Untersuchungen gerückt.70 So greift Vivian Sobchack mit Blick auf die synästhetischen Implikationen bei der Wahrnehmung von kinematographischen Bildern auf die phänomenologische Theorie des Leibes von Maurice Merleau-Ponty zurück.71 Die Rezeption von Filmen müsse als eine verkörperte gedacht werden und impliziere intermodale Prozesse, die über die Grenzen einzelner Sinneskanäle hinausgriffen. Wegweisend ist die Einsicht, dass die unterschiedlichen Sinne – das Sehen, das Hören und das Tasten – auf einer elementaren Ebene der Physis eine

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Die Plessner’sche Bemerkung findet sich, wie bereits bemerkt, in der Abhandlung Die Einheit der Sinne, Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes, die zuerst 1923 erschien; in: Plessner, Anthropologie der Sinne, S. 224f. »Der Eisenbahnfilm«, so bemerkt Thomas Morsch, »ist ein erster und wichtiger Schritt des Kinos in der Aneignung von Bewegung, Geschwindigkeit und beschleunigter Raum- und Zeiterfahrung […].« Medienästhetik des Films. Verkörperte Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung, München: Fink 2011, S. 215. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964, S. 216. Zum Gesamtkomplex von Film und Leib vergl. Drehli Robnik: Körper-Erfahrung und FilmPhänomenologie, in: Jürgen Felix (Hg.), Moderne Film Theorie, Mainz: Bender 2003, S. 246-280; Thomas Morsch, Medienästhetik des Films. Vivian Sobchack: What my Fingers Knew. The Cinesthetic Subject, or Vision in the Flesh, in: dies, Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture. Berkeley, CA: University of California Press 2004: S. 53-84.

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Einheit bildeten: Ebenso, »wie es innerhalb eines jeden Sinnes seine eigene natürliche Einheit aufzudecken gilt«, so erklärt Merleau-Ponty, »werden wir eine ›Urschicht‹ des Empfindens freizulegen haben, die der Teilung der Sinne vorgängig ist«.72 In dieser Urschicht liegen die Voraussetzungen synästhetischer Phänomene, jener intermodalen Prozesse, in denen die einzelnen Sinne wechselseitig aufeinander Einfluss nehmen, so dass etwa visuelle Reize akustische Wahrnehmungen oder akustische Reize taktile Wahrnehmungen beziehungsweise leibliche Empfindungen zu modifizieren beziehungsweise sogar auszulösen vermögen.73 Das bestimmende Medium derartiger Prozesse bildet der Leib als ein synergisches System, in dem alle Momente in bestimmter Weise ineinandergreifen.74 Doch der Leib fungiert nicht nur als Ort der Kommunikation divergenter sensorischer Vorgänge, er bildet zugleich die bestimmende Basis für die Zuwendung des Menschen zur Welt: Nicht erst über mentale Vorstellungen oder Akte des reflektierenden und zwecksetzenden Bewusstseins nimmt das Subjekt auf Gegenstände der Erfahrung Bezug. Von tragender Bedeutung ist die leibliche Motorik, die über eine eigene Form der Intentionalität verfügt. Merleau-Ponty distanziert sich von einer philosophischen Tradition, in der Prozesse des Handels als Aktivitäten gedacht werden, die durch ein souveränes Ich angestoßen und in ihren konkreten Abläufen von diesem durchgehend gesteuert würden. Repräsentativ war das Bild vom Körper als einer Art von Marionette, deren Fäden im Zentrum eines kontrollierenden Bewusstseins zusammenliefen.75 Nichts dergleichen lasse sich, wie der Autor hervorhebt, im Falle der konkreten Handlungsvollzüge ausmachen. Mit einer eigenen Intentionalität ausgestattet, verfügt der unterhalb des Ich-Bewusstseins lokalisierte Leib über ihm eigene Formen des Wissens und Bekanntseins mit den Dingen und Handlungskontexten; er selbst versteht und trägt die Bewegung: »Mein Leib hat seine Welt oder begreift seine Welt, ohne erst den Durchgang durch ›Vorstellungen‹ nehmen oder sich einer ›objektivierenden‹ oder ›SymbolFunktion‹ unterordnen zu müssen.« »Der Körper ist es, wie man häufig genug schon bemerkt hat, der die Bewegung ›erfaßt‹ und ›versteht‹. Der Erwerb einer Gewohnheit ist die Erfassung einer Bedeutung, aber die motorische Erfassung einer Bewegungsbedeutung.«76 So ist das Bewusstsein »ursprünglich nicht ein ›Ich denke zu …‹, sondern ein ›Ich kann‹«; die Motorik ist »unzweideutig als eine ursprüngliche Intentionalität« zu

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Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter 1966, S. 266. Ebd., S. 264-275. Ebd., S. 273. »Die Motorik steht also nicht solcherart im Dienste des Bewußtseins, als transportiere sie den Leib an einen Raumpunkt, den wir uns zuvor vorgestellt hätten.« Ebd., S. 168. Ebd., S. 170 u. 172.

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verstehen.77 Im Falle des leibgestützten Handelns hat man es mit einer präreflexiven Ordnung zu tun, in der antrainierte Verhaltensgewohnheiten und habitualisierte Bewegungsabläufe den Ton angeben.78 Der Autor, der sich gegen die duale Ontologie des Cartesianismus wendet, entwickelt zugleich bestimmte Einsichten in die Struktur des konkreten sinnlichen Erfahrungsraumes. Raum fungiert zunächst nicht – wie in der klassischen Geometrie – als ein leeres Gefäß, in welchem Dinge und Geschehnisse platziert wären, sondern stellt sich als ein relationales Gefüge dar, das in intentionalen Akten und Perspektiven seine Voraussetzung hat; man hat es mit sinnhaft strukturierten Situationen zu tun, in denen alle Momente in eine spezifische Einheit zusammentreten. Im Prinzip ist die Struktur des Erfahrungsfeldes Produkt interessierter Wahrnehmungen, engagierter Bewegungen und Handlungsvollzüge, die je eigene Reichweiten und Horizonte besitzen. Auf dem Boden dieser Verhältnisse konstituiert sich ein so genannter Situationsraum, den der Autor von einem Positionsraum abgrenzt, den das Subjekt allererst konstruiert, wenn es von der Leibzentriertheit seines Daseins absieht und einen objektivierenden Standpunkt bezieht.79 Eingelassen in konkrete Situationen, verfügt der Mensch zugleich über die besondere Fähigkeit, fiktive Situationen zu entwerfen und in diesen auch zu agieren.80 Was sich auf dem Boden so genannter abstrakter Bewegungen konstituiert, ist ein virtueller Raum, der es dem Subjekt möglich macht, innere Distanzen zu entwickeln, mit Selbstbildern zu experimentieren, Rollen zu wechseln und den Raum in eine Bühne artifizieller Inszenierungen zu verwandeln.81 Explizit spricht der Autor von den Aktivitäten des Schauspielers, der sich selbst entwirklicht, um etwa einen Soldaten spielen zu können: »Der normale Mensch und der Schauspieler nehmen imaginäre Situationen nicht für wirkliche, sondern lösen umgekehrt ihren wirklichen Leib aus der Situation des Lebens, um ihn im Imaginären atmen, sprechen, ja sogar weinen zu lassen.«82 Die Distanznahme von konkreten, zweckbestimmten Situationen ist an das Vermögen gekoppelt, den Raum in den Schauplatz eines zweckfrei ablaufenden Spiels zu verwandeln, eine Sphäre des Möglichen aufzurichten, die hier explizit als ein Nicht-sein qualifiziert wird: »In die volle Welt, in der die 77 78 79 80

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Ebd., S. 166. Ebd., S. 172ff. Ebd., S. 125. Merleau-Ponty verdeutlicht diesen Zusammenhang anhand der Darstellung einer Krankengeschichte. Ein Mann, der unter so genannter seelischer Blindheit leidet, kann mit der Hand auf eine Aufforderung hin seine eigene Nase greifen; vermag allerdings nicht auf dieselbe zu zeigen. Der Autor schließt aus dieser Beobachtung, dass man zwischen zwei unterschiedlichen Intentionen, einer Greif- und einer Zeigeintention unterscheiden müsse, denen jeweils unterschiedliche Räume entsprächen. Ebd., S. 130 u. 134. Ebd., S. 130.

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konkrete Bewegung sich abspielt, gräbt die abstrakte Bewegung eine hohle Zone der Reflexion und Subjektivität, sie überschiebt dem physischen Raum einen virtuellen oder menschlichen Raum.«83 Dass der Autor den virtuellen Raum zugleich als einen menschlichen Raum bezeichnet, ist von zentraler Bedeutung. Merleau-Ponty trifft sich mit Plessner, der das menschliche Sein an jene exzentrische Positionalität bindet, mit der das Subjekt Distanz zur inneren wie auch zur äußeren Natur entwickelt. Bemerkenswert ist dabei, dass auch Plessner der Person des Schauspielers besondere Aufmerksamkeit zukommen lässt, denn dessen Fähigkeit, auf der Bühne eine Rolle zu verkörpern, ohne in dieser Rolle gänzlich aufzugehen, exemplifiziert in idealtypischer Form jene Exzentrizität, die den Menschen als Menschen auszeichnet.84 Bereits in alten Kulturen ließen sich dem entsprechende Praktiken beobachten. In diesem Fall seien es Priester oder vergleichbare Akteure, die durch Kostüm und Maske Dämonen und Götter re-präsentierten; es gehe dabei um die Verkörperung einer Instanz oder Figur mit dem eigenen Leibe.85 Plessner hat jedoch nicht nur darstellerische Praktiken im Auge, die im Raum des rituellen Handelns, des Theaters oder vergleichbarer außeralltäglicher Aktivitäten anzutreffen sind. Bereits in seiner Frühschrift Grenzen der Gemeinschaft von 1924 entwickelt er die Einsicht, dass ein friedfertiges Zusammenleben der Menschen in Sozialverbänden insgesamt die Pflege derartiger Praktiken voraussetze; im Interesse ihres Fortbestehens bedürften Gesellschaften grundsätzlich eines Distanzen involvierenden Verhaltens ihrer Mitglieder. Der Schlüssel liege in der Fähigkeit der Individuen, den Boden eines ritualisierten Handelns zu betreten, in der Macht eines gesellschaftlichen Zeremoniells, das bestehende Konflikte absenkt und ein friedfertiges Zusammenleben möglich macht.86 Entscheidend ist die Distanz zwischen den Kommunikationspartnern, die durch das Tragen von Masken aufrechterhalten wird. Der Einzelne hält sein Inneres zurück, verbirgt sich ein Stück weit, schlüpft in eine Rolle und trägt auf diese Weise zur Stabilisierung des sozialen Lebens bei. Plessners Position, die gegen die aufziehenden Gemeinschaftskulte des deutschen Nationalismus gerichtet ist, favorisiert eine Gesellschaft, deren Mitglieder über einen tänzerischen Geist, ein Ethos der Grazie und damit über die Fähigkeit einer spielerischen Kommunikation verfügen.87 Später hat Richard Sennet 83 84

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Ebd., S. 137. Die »Darstellung im Material der eigenen Existenz«, so der Autor, verrät »eine Abständigkeit des Menschen zu sich«. Helmuth Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, in: ders., Ausdruck und menschliche Natur, Gesammelte Schriften VII, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 407. Ebd. Vergl. Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 59-94. »Und wir kennen auch diesen tänzerischen Geist, dieses Ethos der Grazie: das gesellschaftliche Benehmen, die Beherrschung nicht nur der geschriebenen und gesatzten Konventionen,

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vergleichbare Perspektiven entwickelt. Eine Gesellschaft, wie die der fortgeschrittenen Moderne, die die Fähigkeit des theatralischen Handelns weitgehend verloren habe, münde, so der Autor, in eine Tyrannei der Intimität.88 Anders als Plessner stellt Kierkegaard die Frage nach einem authentischen Selbst. Sein verzweifelndes Subjekt, das nicht es selbst sein, sondern ein anderes werden möchte, verlangt nach einer Umwandlung, nicht nur, um sich vor den anderen, sondern vor allem auch um sich vor sich selbst zu verbergen. Man könnte glauben, Kierkegaard erinnere an die Voraussetzungen und Kosten eines auf die Kraft der Maske setzenden Zeremoniells, das Plessner in seiner Sozialethik proklamierte: Eine Theatralisierung des Handelns im Dienste eines konfliktfrei ablaufenden Gesellschaftslebens, so der mögliche Verdacht, befördere jene Praktiken der Verdrängung existentieller Probleme, wie Kierkegaard sie beschreibt. Zweifellos fungieren auch rituelle Praktiken des Austausches – Formen des Zeremoniells – als Mittel der Kompensation von Angst und Verzweiflung. Kierkegaard selbst hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Selbstflucht des Subjekts durchaus ein formalisiertes Sozialverhalten zur Folge haben könne; Risiken und Konflikte, die den sozialen Frieden bedrohen, werden auf diese Weise planmäßig umschifft.89 Es wäre jedoch grundsätzlich verfehlt, Kierkegaards Theorie des Selbst gegen Plessners Ethik auszuspielen, denn die Entscheidung, im Interesse der Reduktion sozialer Verwerfungen Masken zu tragen, ist keineswegs zwingend Produkt eines gescheiterten Subjekts, das seine ungeliebte Identität loswerden möchte. Nur unter bestimmten Bedingungen tritt das Zeremoniell in den Dienst der von Kierkegaard beschriebenen Existenzlagen. Wo dies geschieht, bricht das Subjekt auseinander, denn der Verzweifelte möchte sein Selbst gegenüber anderen nicht nur verbergen, sondern er möchte dieses Selbst hinter sich lassen und dem Vergessen anheimgeben. Plessner hat auf die Probleme einer derartigen Strategie im Hinblick auf die Tätigkeiten des Schauspielers aufmerksam gemacht. Der Darsteller, so der Autor, der »sich selbst in sich selbst« spaltet, bleibt während der Aufführung unter normalen Bedingungen in einer Position, in der er das Bild der Figur, die er verkörpert, kontrollieren kann, ohne sich dabei aufzugeben.90 »Er darf«, so heißt es, »der Aufspaltung nicht verfallen, wie etwa der Hysteriker oder der Schizophrene, sondern er muß mit der Kontrolle über die bildhafte

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die virtuose Handhabung der Spielformen, mit denen sich die Menschen nahekommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen. Die Liebenswürdigkeit ist ihre Atmosphäre, nicht die Eindringlichkeit; das Spiel und die Beobachtung seiner Regeln, nicht der Ernst ist ihr Sittengesetz.« Ebd., S. 80. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a.M.: Fischer 1993. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 32 u. 39. Plessner: Anthropologie des Schauspielers, S. 407.

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Verkörperung den Abstand zu ihr wahren. Nur in solchem Abstand spielt er.«91 Der Verzweifelte bei Kierkegaard dagegen zielt nicht auf ein Schauspiel, in dem die von Plessner genannten Bedingungen erfüllt sind; er verfällt in tragischer Weise der Aufspaltung, denn es geht ihm nicht um ein spielerisches Handeln, das von der konstitutiven Doppelung von Rolle und Rollenträger lebt. Der klassische Schauspieler betreibt keine Selbstflucht, er spielt Theater und kommt in der Rolle, die er dem Publikum präsentiert, als Schauspieler zu sich selbst; sein Agieren gehört einer imaginären Ordnung an, deren artifizieller Charakter für die Adressaten in jedem Moment offenliegt und einsichtig ist. Im Falle der Selbstflucht soll der Identitätsersatz dagegen nicht nur als Kostüm oder Maske, nicht als Produkt inszenatorischer Kunst, sondern als Resultat einer essentiellen Verwandlung des Subjekts wahrgenommen werden; mit ihm soll sich vor allem auch eine neue Welt den Blicken darbieten. In diesem von Kierkegaard exponierten Begehren liegen entscheidende Voraussetzungen für das verbreitete Interesse an der Darstellung physischer Gewalt im Film. Vor allem die leiblichen Zustände bei der Wahrnehmung entsprechender Bilder fördern das Eintauchen des Subjekts in ein artifizielles Geschehen, das dennoch Züge des Realen trägt. Stets lebt der Film, wie vielfach festgestellt wurde, von dem Eindruck des Zuschauers, nicht nur mit fiktiven Darstellungen, sondern mit der Wirklichkeit selbst konfrontiert zu sein.92 Auf dem Boden physischer Partizipation kann das Subjekt einen wenn auch nur eingebildeten und temporären Wechsel der Identität bewerkstelligen; während es an den gebotenen Geschehnissen teilnimmt, wird es ein anderes, vergisst sich selbst. Aufgrund seines leiblichen Involvierterseins überspringt der Zuschauer die für traditionelle Medien geltende Differenz von Subjekt und Objekt. Er leiht den bewegten Bildern, wie Christiane Voss bemerkt, seinen eigenen Körper, um sich von den dramatischen Ereignissen, die ihm auf der Leinwand geboten werden, absorbieren zu lassen.93 Entschei-

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Ebd., S. 408. So bemerkt etwa Christian Metz: »Zu den Problemen der Filmtheorie zählt als eines der wichtigsten das des Realitätseindrucks, den der Zuschauer vor der Leinwand empfängt. Stärker als der Roman, das Theaterstück oder das Bild eines gegenständlich malenden Künstlers vermittelt uns der Film das Gefühl, direkt an einem gewissermaßen realen Ereignis teilzunehmen […] Der löst beim Zuschauer einen Prozeß der ›Partizipation‹ aus, der in gleicher Weise die Wahrnehmung und die Gefühle betrifft […].« Semiologie des Films, München: Fink 1972, S. 21. »Meine These ist«, so die Autorin, »dass es der Zuschauerkörper in seiner geistigen und sensorisch-affektiven Resonanz auf das Filmgeschehen ist, […] was der Leinwand allererst einen dreidimensionalen Körper leiht und somit die zweite Dimension des Filmgeschehens in die dritte Dimension seines spürenden Körpers kippt. Der Betrachter wird somit selbst zum temporären Leihkörper des audiovisuellen Leinwandgeschehens und damit seinerseits zum konstitutiven Bestandteil des kinematographischen Settings insgesamt.« Christiane Voss: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion, München, Fink 2013, S. 117.

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dend ist dabei, dass unterschiedliche filmische Sujets und Darstellungspraktiken in unterschiedlicher Weise Prozesse der Selbstverwandlung des Zuschauers möglich machen. Fragt man nach der historischen Entwicklung des Films, so zeigt sich, dass dabei Motive der Gewalt eine prominente Rolle besetzen, denn die Lust an der Grausamkeit in Bildern ist weit verbreitet und vor allem in erstaunlicher Weise resistent.94 Kierkegaards Einsichten in die existentielle Situation des modernen Subjekts macht es möglich, das anhaltende Interesse an Motiven der Gewalt als Ausdruck eines chronisch gewordenen Bedürfnisses der Selbstflucht zu deuten, jenes Willens, ein anderer zu werden als der, der man ist. Dass das an Existenzproblemen laborierende Subjekt derartige Präferenzen entwickeln kann, hat der Psychoanalytiker Erich Fromm in seinen Analysen in aller Deutlichkeit demonstriert. Die Neigung zu Sadismus und Grausamkeit geht, seiner Einsicht zufolge, auf eine als schmerzlich empfundene Ohnmacht und Schwäche des modernen Menschen zurück.95 Im Hintergrund stehe die verbreitete Verunsicherung angesichts der Freiheit, die das Subjekt in Zustände der Angst befördere. Der Autor verweist nebenbei auf Einsichten Sören Kierkegaards; »Visionäre Denker des 19. Jahrhunderts haben die Lage, in der sich der einzelne heute befindet, bereits vorausgesehen. Kierkegaard beschreibt das hilflose, von Zweifeln geplagte und zerrissene Individuum, das vom Gefühl seiner Einsamkeit und Bedeutungslosigkeit überwältigt ist.«96 Fromm hat offenbar auch Kierkegaards Schrift Der Begriff der Angst im Auge, in der eine auf konkrete Ursachen nicht zurückzuführende Irritation und Verunsicherung beschrieben wird, die der Erfahrung der Freiheit des Menschen vielfach korrespondiert, einer Freiheit, die durch den Einzelnen nicht selten nur schwer ertragen werden kann.97 Über Motive der Gewalt verschaffen bewegte Bilder dem gestürzten Subjekt Entlastung von Zuständen der Angst und Unsicherheit. Voraussetzung dafür ist ein Koppelungsverhältnis zwischen dem psycho-physischen System und den medialen Offerten, die an das synästhetische Erleben, vor allem auch an die leibliche Intentionalität des Zuschauers appellieren. Wie in der von Plessner beschriebenen Akkordanz von Tonmaterial und evozierten Leibeshaltungen in der Wahrnehmung von 94

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Niklas Luhmann hat im Hinblick auf die modernen Massenmedien einen Satz von so genannten Selektoren zusammengestellt, für das Publikum attraktive Themen, unter denen Motive wie Neuheit, die Darstellung von Konflikten, hohe Quantitäten (in unterschiedlichster Hinsicht) an oberster Stelle rangieren. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 58ff. Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1990. Ebd., S. 101. »Was ist es also? Nichts. Aber welche Wirkung hat das Nichts? Es gebiert die Angst.« Sören Kierkegaard: Der Begriff der Angst, Frankfurt a.M.: Syndikat/EVA 1984, S. 40. Der Kierkegaard’sche Begriff der Angst hat bekanntlich tiefe Spuren in der Philosophie auch des 20. Jahrhunderts hinterlassen. Man denke etwa an Martin Heidegger oder Jean-Paul Sartre.

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Musik hat man es mit einem Zusammenstimmen bildlich gebotener Handlungsvollzüge mit imaginierten physischen Aktivitäten zu tun.98 Es handelt sich nicht nur um eine Einfühlung des Zuschauers in den Ablauf des Films und seine Figuren, sondern um eine komplexe Form der wechselseitigen Durchdringung von medialen Offerten und leiblich-psychischem Engagement.99 Eine Schlüsselrolle spielt dabei der Transfer der leiblichen Intentionalität des Zuschauers auf die Körper der filmischen Figuren, die durch diesen Transfer ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben zu entwickeln beginnen. Prozesse der Identifikation des Zuschauers mit gezeigten Akteuren gewinnen auf dem Boden der hier sich vollziehenden Interpenetration von Bild und Betrachter eine entsprechende Tiefe. Filmische Darstellungen von Gewalt treffen auf Seiten des im Kierkegaard’schen Sinn verzweifelten Subjekts auf fruchtbaren Boden, denn sie versprechen ihm eine Souveränität, die ihm aufgrund seiner existentiellen Gebrochenheit mangelt. Das Interesse richtet sich zunächst auf den instrumentellen Einsatz von Zwangsmitteln im Dienste der Verwirklichung spezifischer Ziele. Die entsprechenden intentionalen Akte und die mit ihnen verkoppelten Phantasmen der Kraft treten dabei selbst verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit. Wie bereits im Falle der Kontemplation des Erhabenen in der älteren Malerei werden mechanische Energien und deren teils destruktive Wirkungen fetischisiert. Die Kulte der Kraft erstrecken sich also zugleich auf die durch das Subjekt selbst entfesselte Gewalt, sei es durch eigenleibliche Aktivitäten oder durch den Einsatz entsprechender Instrumente beziehungsweise Waffen. In den Vordergrund rückt auch hier die Lust an energetischen Vorgängen, die von einer optimalen Zerstörungsmacht Zeugnis ablegen. Die hier zur Geltung kommende Gewalt ist von sadistischer Natur, denn das handelnde Subjekt genießt nicht nur die Überwältigung eines Kontrahenten, sondern zugleich das eigene Vermögen, sich selbst in eine Position souveräner Herrschaft zu befördern. Derartigen Zwecken kommt das kinematographische Bild in besonderer Weise entgegen, denn es kann den Ablauf des Kampfes des Subjekts um Souveränität und die Vernichtung seines Gegners minutiös und detailgenau wiedergeben. Doch die intentionale Entfesselung von Kräften im Dienste eines Souveränitätsgewinns ist nur die eine Seite des hier relevanten Geschehens, denn die Ästhetik des Erhabenen demonstriert, dass auch die passive Hingabe einschließlich der Negation der eigenen Existenz als erlösend vorgestellt werden kann. Kommt auf der einen Seite die leibliche Intentionalität in prototypischer Form zur Geltung – Gewalt ist gerichtetes Handeln par

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Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne, S. 236. Im Hinblick auf das Actionkino bemerkt Thomas Morsch: »Akteur und Zuschauer« seien »selbst durch ein sensomotorisches Band miteinander verbunden; die Rezeption der Actionkörper weist eine Dimension somatischer Rückkoppelung auf […]« Medienästhetik des Films, S. 193.

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exzellence –, so wird diese Intentionalität auf der anderen Seite zur Disposition gestellt beziehungsweise unterlaufen. Man hat hier zwei Varianten der Selbstflucht vor sich, die sich zwar ausschließen, aber dennoch in der Regel gemeinsam auftreten. Dies trifft sich mit entsprechenden Einsichten der Psychoanalyse. Erich Fromm hat darauf hingewiesen, dass masochistische und sadistische Tendenzen, die, seiner Auffassung nach, beide dem Zweck dienten, der eigenen Ohnmacht zu entrinnen, »stets miteinander verquickt« seien:100 »Mag es sich auch oberflächlich betrachtet um Widersprüche handeln, so wurzeln sie doch ihrem Wesen nach im gleichen Grundbedürfnis. Die Menschen sind nicht sadistisch oder masochistisch, sondern sie befinden sich in einem ständigen Schwingungszustand zwischen der aktiven und der passiven Seite des symbiotischen Komplexes, so daß es oft schwerfällt zu entscheiden, welche Seite in einem bestimmten Augenblick am Werk ist.«101 Der Autor, der sich in seiner Untersuchung mit den Folgen der gesellschaftlichen Rationalisierung in der Neuzeit und Moderne beschäftigte, war davon überzeugt, dass sich »sadistische und masochistische Charakterzüge bei allen Menschen« finden ließen.102 Von einem sado-masochistischen Charakter im engeren Sinne will er indessen nur im Falle von Personen sprechen, »deren ganze Persönlichkeit von diesen Charakterzügen beherrscht wird«.103 Es handelt sich um divergierende Grade der Ausprägung und Virulenz entsprechender Begehrlichkeiten und Dispositionen. In diesem Zusammenhang fällt auch der Begriff des autoritären Charakters, mit dem Individuen bezeichnet werden, die sado-masochistische Strukturen zeigen, ohne sich dabei Perversionen hinzugeben oder ein neurotisches Verhalten im engeren Sinn zu entwickeln.104 Sado-masochistische Strukturen fänden sich, so heißt es in der bereits 1941 in New York erschienenen Schrift, vor allem auch auf Seiten von Personen, die sich durch die Ideologie des Nationalsozialismus angezogen fühlten. Sowohl sadistischen als auch masochistischen Bestrebungen liegt eine zwanghafte Abhängigkeit des Individuums von entsprechenden Referenzobjekten zugrunde: Erstere implizieren eine Fixierung des Subjekts auf ein Opfer, dessen Unterwerfung die Fiktion, über Freiheit und Macht zu verfügen, befördern kann; Letztere setzen eine mit Lust gepaarte Fixierung des Opfers auf den Täter voraus. Fromm 100 »Sowohl die masochistischen als auch die sadistischen Strebungen dienen dazu, dem Betreffenden zu helfen, seinem unerträglichen Gefühl von Einsamkeit und Ohnmacht zu entrinnen.« Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, S. 113. Vergl. auch Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997. 101 Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, S. 119. 102 Ebd., S. 121. 103 Ebd., S. 121. 104 Ebd., S. 122.

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spricht von Zuständen der Symbiose beziehungsweise von einem symbiotischen Komplex, der über die besondere Eigenschaft verfügt, dass in ihm beide Bestrebungen ineinander übergehen beziehungsweise sich abwechseln können.105 Die Einsichten des Autors sind für eine theoretische Beschreibung der Darstellung und Rezeption ausgeübter und erlittener Gewalt im Film von erheblicher Bedeutung. Von monokausalen Erklärungsmustern ist allerdings Abstand zu nehmen, denn das in entsprechenden kinematographischen Genres Präsentierte ist nicht einfach Ausdruck oder Spur der psychischen Verfassung der Rezipienten, so dass man sagen könnte, das Kino spiegele existentielle Zustände bestimmter Teile moderner Gesellschaften einfach wider. Wie schon im Falle der alten Malerei hat man von einer Koevolution der Struktur medialer Offerten auf der einen und der Verfasstheit des rezipierenden Subjekts auf der anderen Seite auszugehen. Es handelt sich auch hier um ein emergentes, systemübergreifendes Geschehen, in das psychische Prozesse und Dispositionen einfließen, das jedoch zugleich auf diese Prozesse und Dispositionen zurückzuwirken vermag. Zunächst ist festzustellen, dass Zustände der Ohnmacht und Verzweiflung keineswegs zwingend sadistische beziehungsweise masochistische Bestrebungen nach sich ziehen, denn es stehen dem Subjekt prinzipiell andere Möglichkeiten der Kompensation, der Bearbeitung und der produktiven Bewältigung derartiger Zustände offen. Erst unter bestimmten Bedingungen geht die Selbstflucht in eine Fetischisierung physischer Destruktionsprozesse über. Hier spielt das Medium filmischer Bilder eine gewichtige Rolle. Individuen, die zu den passionierten Zuschauern kinematographischer Genres rechnen, in denen Akte der Destruktion zelebriert werden, müssen nicht schon vor ihrem Eintritt in den Kreis der Rezipienten Interesse an der Darstellung von Gewaltakten entwickelt haben. Möglich ist ebenso, dass sich erst im Verlauf der Rezeption entsprechender Bilder das Begehren der Wahrnehmung von Gewalt eingestellt hat. Der Film verfügt über Darstellungsstrategien, die die Herausbildung derartiger Präferenzen begünstigen. Neben Lust an gezeigter Gewalt mobilisiert beziehungsweise verstärkt er nicht selten zugleich auch Zustände existentieller Ohnmacht, die das Subjekt zu jener Selbstflucht antreiben, die der Besetzung von Phänomenen der Kraft vorausgeht. So ruft die mit filmästhetischen Mitteln induzierte Verunsicherung des Zuschauers ein Interesse an kompensatorischen Maßnahmen hervor, die der Film selbst anbietet. Unter derartigen Bedingungen können die destruktiven Geschehnisse, die medial präsentiert werden, dem Subjekt als umso attraktiver

105 »Ich schlage vor, die Absicht, die sowohl dem Sadismus als auch dem Masochismus zugrunde liegt, Symbiose zu nennen. In diesem psychologischen Sinn bedeutet Symbiose die Vereinigung eines individuellen Selbst mit einem anderen Selbst (oder mit irgendeiner anderen Macht außerhalb des eigenen Selbst) und zwar auf solche Weise, daß jeder dabei die Integrität des Selbst verliert und beide in eine völlige Abhängigkeit voneinander geraten.« Ebd., S. 118.

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entgegentreten. Das filmische Erleben bietet also einen Raum für den Anstoß und die Reproduktion einer Verkettung zwischen den Zuständen existentieller Instabilität, den Impulsen der Selbstflucht und den Bildern der Kraft und Gewalt, die Erlösung versprechen. Dabei liefert die evozierte Unsicherheit gleichsam das Maß jener Befriedigung, die das Subjekt angesichts von wahrgenommener Gewalt empfindet; je tiefer der Abgrund, der sich öffnet, desto begehrenswerter zeigen sich die Ereignisse, die auf diesen Abgrund antworten. Bestimmte Darstellungspraktiken des Films machen sich einen für das moderne Subjekt bedeutsamen Mechanismus der Kompensation existentieller Unsicherheit zunutze; sie fungieren als Katalysator für die Aufrichtung, Verstärkung und Verbreitung des von Fromm beschriebenen symbiotischen Komplexes, in welchem das Subjekt zwischen den Bedürfnissen der Selbstermächtigung und den Neigungen zur Selbstauflösung alterniert. Dieser Prozess vollzieht sich unter Bedingungen der wechselseitigen Durchdringung psycho-physischer Zustände auf der einen und medial in Szene gesetzter Geschehnisse auf der anderen Seite; auch hier ist von einer Symbiose, wenn auch anderen Typs zu sprechen. Die Dynamik der Rezeption steht im Zeichen der Wiederherstellung eines porösen, nach außen hin durchlässigen Selbst; in ihren unterschiedlichsten Varianten führt die Darstellung von Gewalt einen Angriff auf das abgepufferte Subjekt und damit auf die cartesische Ontologie.106 Zu berücksichtigen ist dabei die gegenüber den traditionellen Bildmedien vollzogene Verwandlung des Verhältnisses zwischen dem Imaginären und dem Realen. Filme können vor allem auch deshalb in genannter Weise in den psychischen Apparat eingreifen, weil sie nicht so sehr in ihrer fiktiven Natur, sondern als Verlängerung der Wirklichkeit selbst wahrgenommen werden; der artifizielle Charakter des Gezeigten gerät aus dem Blick. Dabei schrumpfen die Distanzen, so dass sich das rezipierende Subjekt weniger als Zuschauer, eher als Teilnehmer eines Dramas empfindet, aus dem es nur um den Preis eines gewissen Reflexionsaufwandes auszusteigen vermag. Gleichwohl spielen auch hier Distanzen eine Rolle, denn die ins Bild gesetzten Geschehnisse – namentlich die Akte der Gewalt – werden immer auch aus der Position eines Beobachters erlebt, denn wir sehen zu, wenn dargestellte Protagonisten destruktiv agieren und wenn deren Opfer verletzt oder vernichtet werden. Gewalt im Film impliziert den Zeugen oder den Voyeur, dessen Stellung in den Ablauf der geschnittenen und montierten Bilder integriert ist. Kameraaufnahmen liefern keinen neutralen, unbeteiligten Blick auf die Geschehnisse, sondern bieten perspektivische Sichten, die einen in dieser oder jener Weise interessierten Beobachter voraussetzen. Die dabei ins Spiel gebrachten beobachtungskonstitutiven Distanzen sind Produkte der filmischen Dramaturgie, die den Zuschauer keineswegs aus der Illusion, Teilnehmer des dargestellten Geschehens zu sein, entlassen. Der Rezipient kann durchweg ein intimes Verhältnis sowohl zu 106 Vergl.: Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter.

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den Figuren als auch zum dramatischen Geschehen insgesamt aufrechterhalten. Im Rahmen einer leibgestützten Identifikation verwandeln sich die wahrgenommenen Akteure in Repräsentanten von Kräften, die in der Interpenetrationszone von Bild und Betrachter ihren Auftritt haben. Am Ende ist es die eigene psychische Dynamik, die dem Rezipienten in Gestalt der Schauspieler, ihrer Verhältnisse und Konflikte gegenübertritt; innere Strukturen werden externalisiert, das heißt nach außen verlegt. Mit der Herausbildung und Konsolidierung des symbiotischen Komplexes – sei es in der Rezeption von Filmen oder auch im Alltagsleben – übernehmen Zwangsmechanismen die Regie im psychischen Apparat. Die Möglichkeiten eines freien Wahrnehmens und Handelns, die das Subjekt beunruhigt und zur Selbstflucht veranlasst hatten, fallen dem Vergessen anheim. Im masochistischen Begehren der passiven Auslieferung an einen Täter wird das Interesse an Freiheit evidentermaßen aufgekündigt. Doch auch die aktive Seite der Symbiose, der Sadismus, der sich gegen den Zustand der Ohnmacht richtet, steht auf einem brüchigen Fundament, denn der Impuls, der ihn antreibt, blockiert ein zwangsentlastetes Wahrnehmen und Verhalten. Was der Einsatz von Gewalt dem Täter unter Umständen einbringt, sind Positionen sozialer Dominanz sowie die lustbesetzte Gewissheit, Niedergeworfenen überlegen zu sein. Freiheit ist auch auf diesem Wege nicht zu gewinnen.107 Es ist wichtig auf diesen Sachverhalt hinzuweisen, weil sich in der Literatur zum Thema in dieser Hinsicht problematische Vorstellungen finden lassen. So spricht etwa Wolfgang Sofsky im Hinblick auf das Erleben von Gewalttätern von einem Zustand absoluter Souveränität und kennzeichnet diesen Zustand zugleich als einen von absoluter Freiheit. »Der Täter«, so heißt es in seinem Traktat über die Gewalt, »gerät in das Fieber der Euphorie, in einen Taumel wilder Freude. Er begeistert sich an sich selbst […] Am Leid und Tod des Opfers erlebt der Täter absolute Souveränität, absolute Freiheit von den Lasten der Moral und Gesellschaft. Diese Freiheit ist unersättlich.«108 Euphorie beziehungsweise ein Taumel wilder Freude finden sich zweifellos auf Seiten des Sadisten, auch ein gewisses Gefühl des Ungebunden- und Freiseins mag ihn beseelen, wenn er sein Opfer quält und Befriedigung über die eigene Hand-

107 Darauf macht auch Erich Fromm aufmerksam. »In beiden Fällen (im Falle des Masochismus und des Sadismus; H.Z.) aber gehen Individualität und Freiheit verloren.« Die Furcht vor der Freiheit, S. 119. 108 Und an anderer Stelle heißt es: Das »Massaker ist jene wiederkehrende Form der Gewalt, in welcher die Menschen all ihre Destruktivkräfte entfesseln dürfen, um für kurze Zeit den langersehnten utopischen Zustand zu verwirklichen, den Zustand absoluter Freiheit und Gleichheit, Einheit und Ganzheit.« Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt, Frankfurt a.M.: Fischer 2005, S. 56 u. 190.

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lungsmacht empfindet.109 Was aus der Perspektive des Täters und eines mit ihm solidarischen Zuschauers wie Freiheit anmuten mag, ist es aus einer externen, unabhängigen Beobachterperspektive mitnichten, denn der Täter handelt getrieben durch obsessive Impulse. Sofskys Begriff der Freiheit ist defizitär, denn er ist von der Idee einer auf physische Gewalt setzenden Herrschaft nicht abzugrenzen; dies ist jedoch erforderlich, um den Begriff vor Missverständnissen zu bewahren. Wer andere aus Gründen des Macht- und Lustgewinns misshandelt und niederwirft, macht sich zwar von bestimmten Werten, Normen und Konventionen unabhängig, ist deshalb jedoch noch lange nicht frei, sondern ein durch psychische Zwangsmechanismen Getriebener. Die Absenz von Freiheit im Raum des symbiotischen Komplexes findet ihre Fortsetzung in bestimmten Darstellungspraktiken des Films. Die Strukturen szenischer Abläufe, die untereinander verketteten Situationen, die als Momente oder Phasen übergreifender narrativer Zusammenhänge auftreten, fungieren als Organe eines zwanghaften Wahrnehmens und Verhaltens. Unter den Bedingungen eines bestimmten Rezeptionsinteresses entfalten die Bilder eine Art von magischer Kraft, die die Wahrnehmungs- und Empfindungstätigkeit des Zuschauers subkutan steuert; es handelt sich um eine imperativische Struktur, egal ob sie das Subjekt zur Auflösung oder zur gewaltaffinen Selbstermächtigung antreibt. Im Anschluss an Motive Kierkegaards kann man von einer Verabsolutierung der Notwendigkeit sprechen, denn die Möglichkeiten, dem Geschehen entgegenzutreten und das Gezeigte aus einer inneren Distanz zu betrachten, werden darstellungsstrategisch konterkariert und unterlaufen.110 Dass dem Film als solchem bereits – also vor jeder motivischen Ausrichtung – eine spezifische Gewalt inhäriert, ist früh bemerkt worden. Mit Blick auf dadaistische Praktiken vergleicht etwa Walter Benjamin die Wirkung bewegter Bilder mit einem Geschoss, das vor allem an die taktile Wahrnehmung des Zuschauers adressiert ist. Der dynamische Ablauf, der ständige Wechsel der Eindrücke absorbiert die Aufmerksamkeit und macht eine kontemplative, Distanzen implizierende Rezeption unmöglich.111 Als einer Kette bewegter

109 Eine Verbindung zwischen Freiheit und Gewalt findet sich auch bei Trutz von Trotha: »Das Spezifische der Körpererfahrung der Gewalt wird dadurch konstituiert, daß die Gewalt eine Erscheinung der menschlichen Freiheit ist, aber diese Freiheit geteilt ist, vereinseitigt auf den Vergewaltiger, der das Opfer in die Wirklichkeit der Notwendigkeit zwingt.« Trutz von Trotha: Zur Soziologie der Gewalt, in: ders. (Hg.),Soziologie der Gewalt, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1997, S. 31. 110 Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, S. 36ff. 111 »Aus einem lockenden Augenschein oder einem überredenden Klanggebilde wurde das Kunstwerk bei den Dadaisten zu einem Geschoß. Es stieß dem Betrachter zu. Es gewann eine taktile Qualität. Damit hat es die Nachfrage nach dem Film begünstigt, dessen ablenkendes Element ebenfalls in erster Linie ein taktiles ist, nämlich auf dem Wechsel der Schauplätze und Einstellungen beruht, welche stoßweise auf den Betrachter eindringen.« Walter Benja-

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Bilder wohnt dem Film selbst bereits ein Moment von Gewalt inne, weil er auf das Wahrnehmungs- und Erlebnisgeschehen in rigider Weise zugreift. Das sich in den Vordergrund schiebende Prinzip alternativloser Notwendigkeit findet seinen Ausdruck in einer Logik der Intensitäten, die für die Koppelung von medialen Offerten und psychischer Dynamik von tragender Bedeutung ist. Symptomatisch ist das für die fortgeschrittene Neuzeit und Moderne kennzeichnende Interesse an Phänomenen des Erhabenen, des Schreckens und des Schocks.112 Die Wirkungsästhetik des Barock erweist sich von hier aus als Beginn einer epochenübergreifenden Entwicklung bildlicher Darstellungspraktiken, die im Film ihren vorläufigen Höhepunkt findet. Doch eine Kunst, die an einer fortschreitenden Intensivierung von Eindrücken arbeitet, bewegt sich auf eine spezifische Grenze zu, denn wo der von medialen Artefakten ausgeübte Zwang ein bestimmtes Maß überschreitet, kollabiert die ästhetische Wahrnehmung, die selbst nur unter Bedingung des Bestehens von Spielräumen der Möglichkeit aufrechterhalten werden kann. Rembrandt hatte sich auf dem Gebiet der Malerei mit seiner drastischen Darstellung Die Blendung Simsons bereits an diese Grenze vorgetastet.113 Er hat ein derartiges Experiment, kaum zufällig, nicht wiederholt. Problematischer noch als der Angriff auf die ästhetische Wahrnehmung ist die Demontage der exzentrischen Positionalität auf Seiten des Betrachters. Plessner selbst hat Entsprechendes in einer kurzen Betrachtung der Rolle des Filmzuschauers festgestellt: Die Fotographie – gemeint ist in diesem Fall der Film – verstärke, so der Autor, »den Realitätscharakter der Menschen und Dinge, die sie zur Anschauung bringt. Sie sprengt den Bühnenrahmen, sie vernichtet die Szene, sie versetzt den Zuschauer mitten in die Ereignisse, ohne sie an seine Entrücktheit – die Bedingung seines Genusses – zu erinnern«. »Der Spieler soll nicht merken lassen, daß er den Blick des Zuschauers auf sich gerichtet weiß, und der Zuschauer soll sich als Zuschauer und Zuhörer vergessen.«114 Prinzipiell verfügt der Mensch aufgrund seiner exzentrischen Position über die Möglichkeit, nicht nur dieses oder jenes zu erleben, sondern sein Erleben selbst zu erleben, sich selbst beim Zusehen zuzusehen.115 Doch die Wahrnehmung bewegter Bilder erschwert den Übergang zu einer Beobachtung höherer Stufe, ein Sehen des Sehens. Dies gilt in besonderer Weise für Darstellungen der Gewalt, wenn sie mit einem symbiotischen Begehren seitens

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min: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 502. Vergl.: Carsten Zelle, Stichworte »Schrecken/Schock«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart: J.B. Metzler 2003, S. 436-446; Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München Wien: Hanser 1978. Vergl. Kap 2 der vorliegenden Abhandlung. Helmuth Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, 406 u. 407. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 292.

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des Rezipienten verkoppelt sind. Hier erodiert zugleich die von Merleau-Ponty beschriebene Fähigkeit des Menschen, sich selbst in einem virtuellen Raum platzieren zu können.116 Die Idee des Virtuellen, mit der der Autor arbeitet, ist nicht mit jenem gleichnamigen Prinzip zu verwechseln, das in den Theorien neuer Medien hervorgetreten ist. Es geht ihm nicht lediglich um künstliche, virtuelle Welten, um wirklichkeitsferne Phantasiegebilde, sondern um einen Raum der Möglichkeiten, der den Menschen aus dem Zustand reiner Unmittelbarkeit erlöst und ihn allererst zu einem menschlichen Wesen werden lässt. Vor allem die kinematographischen Genres, die dem symbiotischen Komplex gehorchen, befördern die Regression auf Zustände eines von seinen Möglichkeiten abgeschnittenen Daseins, auch wenn sich die entsprechenden Bilder als Produkte der wildesten Phantasietätigkeit darstellen mögen. Produktive Potentiale ästhetischer Wahrnehmung kommen auf diese Weise nicht in den Blick, denn diese Wahrnehmung impliziert erweiterte Spielräume kognitiver und sinnlicher Prozesse, wie in den klassischen Theorien des Ästhetischen immer wieder bemerkt wurde. Ästhetische Prozesse stehen, wenn sie in einer nicht reduzierten Form zur Geltung gebracht werden, jenseits einer Verselbständigung reiner Notwendigkeiten, nicht zuletzt deshalb, weil in ihnen das Subjekt Distanzen zur eigenen Wirklichkeit aufrichtet. Das viel gescholtene interesselose Wohlgefallen besitzt bei aller Überzogenheit zweifellos einen wahren Kern, weil es gegen einen pycho-physischen Determinismus gerichtet ist, der die ästhetische Rationalität zerstört. Mit dem symbiotischen Komplex wandern blind sich durchsetzende, dem wahrnehmenden Subjekt intransparent bleibende Impulse in den Raum der Bilder ein. Obwohl die hier gezeigten Darstellungen die Realität selbst zu treffen scheinen, unterscheiden sie sich dennoch in zentraler Hinsicht von der jenseits des Mediums sich öffnenden Wirklichkeit. Das Kino liefert keine Bilder realer Gewalt und versetzt den Zuschauer auch nicht in Situationen, die realen Konfliktlagen äquivalent wären. Es bietet artifizielle Produkte mit eigener Logizität, der entsprechende, selbst jenseits realer Verhältnisse platzierte Bedürfnisse und Dispositionen korrespondieren; auch die Stimmungen und Affekte, die in diesem Kontext auftreten, sind Produkte der emergenten Prozesse der Wahrnehmung von Filmen. Die Wirkungsintensität der Bilder, der Schrecken, den sie auslösen sollen, dient dem Zweck, affektive Bindungen an das dargestellte Geschehen wahrscheinlicher zu machen. Auf dem Boden dieser Verhältnisse konstituiert sich ein autistisches Erleben, in dem das Subjekt vorzugsweise sich selbst, das heißt den eigenen psycho-physischen Impulsen begegnet. Getrieben durch ein entstelltes Begehren, teilnehmend an fiktiven Geschehnissen, verliert es die Fähigkeit, sich selbst aus der Distanz zu beobachten. Luca Giordano hat in seinem Gemälde des heiligen Michael, in dem dieser dem Teufel genüsslich eine Lanze in die Seite bohrt, 116

Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 134 u. 137.

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das Verhältnis zwischen einem sadistischen Akteur und einem sich masochistisch hingebenden Opfer in gestalthaft fassbarer Form in Szene gesetzt (Abb. 12).117 Mit analytischem Feinsinn legt die Darstellung die innere Zusammengehörigkeit der beiden Figuren offen. Im Falle des Films hat sich das rezipierende Subjekt in die Welt des Bildes selbst begeben, um die Positionen von Opfer und Täter wechselweise selbst zu besetzen; ein distanzierter Blick auf den symbiotischen Prozess, der dem Betrachter des Gemäldes vergönnt ist, bleibt ihm verwehrt, weil der Zustand affektgesteuerter Immersion die Möglichkeiten einer bewussten, Distanzen implizierenden Wahrnehmung beschneidet. Doch die Bereitschaft zur bruchlosen Teilhabe an einem derartigen Rezeptionsgeschehen kann im Verlauf eines Films erlahmen. Phasenweise meldet sich das Interesse des Zuschauers, den Film als solchen in den Blick zu nehmen. Auf diesem Wege können sich intersubjektiv geltende Normen und moralische Wertsetzungen im filmischen Geschehen etablieren und den Blick auf das gesamte Geschehen verändern. Doch auch dieses Aufkeimen wertender Perspektiven ist nicht zwangsläufig eine Leistung des rezipierenden Subjekts, denn es sind nicht selten die Filme selbst, die für die Einnahme entsprechender Standpunkte eintreten: Narrative Strukturen und Darstellungspraktiken offerieren dem Zuschauer die Möglichkeit, Akte und Folgen der Gewalt moralisch zu bewerten. Es wäre allerdings kurzsichtig, hier in jedem Fall eine effiziente pädagogische Maßnahme zu vermuten, denn die zur Geltung gebrachten Motive entlasten lediglich das wachgewordene Gewissen, ohne die primär wirksamen Impulse dabei anzutasten. Mit dem Einfließen moralischer Wertsetzungen in die symbiotischen Prozesse der Wahrnehmung von Filmen wiederholt sich das von Kierkegaard beschriebene Phänomen: Das Subjekt will nicht sein, was es ist, es begibt sich erneut auf die Flucht und schafft sich dabei eine weitere künstliche Identität, die Position des Beobachters oder Anklägers, mit der es ebenfalls bestehende Defizite zu kompensieren versucht. Ein derartiger Perspektivwechsel ist jedoch keineswegs in der Lage, die Mächte der Finsternis zu brechen. Man kann davon ausgehen, dass die im Film auftretenden moralischen Wertsetzungen vielfach als Bausteine eines filminternen Kalküls fungieren, der primär der Aufrechterhaltung und Reproduktion des symbiotischen Komplexes verpflichtet ist. Das sich zunächst wechselseitig Ausschließende geht unter bestimmten Voraussetzungen paradox anmutende Gemengelagen und Synthesen ein. Im Einzelfall bedient sich das Eintreten für an sich legitime Werte der Moral sadistischer Impulse.118 Momente des symbiotischen Komplexes fungieren als Motor für die Aufrichtung und Durchsetzung von Geltungsansprüchen, die als solche gegen einen lustbesetzten Einsatz von Gewalt gerichtet sind. 117 118

Vergl. Kap 2 der vorliegenden Abhandlung. Eine ähnliche Beobachtung findet sich bei Benjamin Moldenhauer: Ästhetik des Drastischen. Welterfahrung und Gewalt im Horrorfilm, Berlin: Bertz + Fischer 2016, S. 232.

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Im kinematographischen Raum schmieden das Gute und das Böse nur scheinbar unmögliche Allianzen: Die Moral lässt sich auf den Sadismus ein, weil er ihr die Durchsetzung ihrer Prinzipien verspricht, und der Sadismus kann unter der Maske des Guten seinem düsteren Geschäft ohne nagende Zweifel nachgehen.119 Derartige Konstellationen des sich Widerstreitenden sind in der Welt des Films weit verbreitet. Die fortgesetzte Selbstflucht des Subjekts, die in diesem Medium ideale Bedingungen findet, mündet in einer Haltung, die den Sinn für jene Unterschiede verliert, die für das moralische Handeln von konstitutiver Bedeutung sind. Es entwickeln sich doppelbödige Strukturen und Phänomene, die zunehmend schwerer durchschaubar sind. Am Ende bringt das vor der Freiheit fliehende Subjekt die Möglichkeiten wahrer Einsichten zum Verschwinden, denn sein Interesse besteht in der Aufrichtung eines Systems von Täuschungen. Der Teufel, so hatte die Kirche des Mittelalters gelehrt, sei höchst wandlungsfähig und könne in unterschiedlichsten Formen und Gestalten auftreten, so auch in der Verkleidung des Schönen, Guten und ethisch Geläuterten.120 Dieses religiöse Motiv behält unter den Bedingungen der modernen Medienkultur zweifellos seine Bedeutung, denn hier maskiert sich das Böse, um dem Subjekt die Möglichkeit eines von Zweifeln entlasteten Auslebens seines düsteren Begehrens zu erleichtern. Die Darstellungen fungieren als Systeme von Verkleidungen, in die der Zuschauer hineinschlüpfen und so dem Programm der Selbstverleugnung nachgehen kann.

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Erich Fromm weist darauf hin, dass sadistische Impulse keineswegs als solche bewusst sein müssten: »Jemand kann völlig von sadistischen Strebungen beherrscht sein und trotzdem bewußt der Überzeugung sein, alles nur aus Pflichtgefühl zu tun. Es kann sogar sein, daß er keine offenen sadistischen Handlungen begeht, sondern seine sadistischen Triebe unterdrück, daß er oberflächlich betrachtet als ein nicht-sadistischer Mensch erscheint.« Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, S. 122. 120 Der Teufel, so bemerkt Wolfgang Metternich, »war für den mittelalterlichen Menschen eine furchtbare Realität, der nicht allein am Ende der Zeiten für immer Gewalt über die dann im Jüngsten Gericht Verworfenen erlangen würde, sondern bereits zu Lebzeiten den Menschen in jeder nur denkbaren Form nachstellte, um sie in Versuchung zu führen und zur Sünde zu verleiten.« Der Teufel konnte die Menschen »in nahezu jeder Gestalt heimsuchen«. Geister und Dämonen. Das Unheimliche in der Kunst des Mittelalters, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011, S. 33 u. 39.

5. Die Ordnung und ihre Zersetzung

I. In seiner Darstellung der Schlacht am Taro hat Tintoretto das Thema des Krieges in einer historisch vorausweisenden Form verarbeitet (Abb. 3). Das Gemälde, das die Logik des klassischen Perspektivraumes durchbricht, zeigt eine militärische Konfrontation aus der Sicht eines teilnehmenden Soldaten, eines Kanoniers, der eine sich öffnende Blickschneise nutzt, um einen Schuss aus seiner Kanone abzugeben. Das Bild versetzt das rezipierende Subjekt in die Position eines Kämpfers, dem sich das Schlachtfeld als ein schwer überschaubares Gefüge synchron ablaufender Ereignisse darbietet; man fühlt sich bereits an entsprechende Strukturen des modernen Films erinnert. Tintorettos Zugang zum Phänomen des Krieges ist für die Malerei seiner Zeit keineswegs repräsentativ. Ein scharfer Kritiker seiner Malerei, Giorgio Vasari, lieferte für den großen Saal des Palazzo Vecchio in Florenz gänzlich anders ausgerichtete Beispiele des Genres.1 Die großformatigen Wandbilder – ebenfalls dem Manierismus angehörend – zeigen den Krieg bei aller Komplexität der Geschehnisse in einer überschaubaren, ästhetisch geglätteten Gestalt (Abb. 21).2 Es regiert ein Darstellungsverfahren, das das Grauen planmäßig abblendet und die aufeinandertreffenden Akteure in die Einheit eines transparenten kompositorischen Gefüges zusammenzwingt. In diesen Gemälden, die von bekannten Pathosformeln ausgiebigen Gebrauch machen, gerinnen die Ereignisse einer Schlacht zum gefälligen Ornament. Im Interesse einer sozialen Elite, die ihren politischen Rang nicht zuletzt über erfolgreich ausgetragene Waffengänge definierte, leistet der Künstler Beihilfe zur Konstruktion eines historischen Gedächtnisses, in dem die Wahrheit über das blutige Geschehen hinter einem Schleier bloßer Fiktionen verschwindet. Ein anderer Blick auf die Struktur des Krieges findet sich bei Pieter Snayers, einem Spezialisten auf diesem Gebiet, der in zahlreichen Bildern auf Ereignisse des 1 2

Vasari hat sich höchst polemisch über die Malerei von Tintoretto geäußert; vergl.: Cornelia Syre: »Tutto Spirito, Tutto Prontezza«, S. 24. Das Bild zeigt die Niederlage französischer Truppen bei Marciano Val di Chiana am 2. August 1554.

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Abb. 21, Giorgio Vasari und Assistenten, Schlacht bei Marciano im Chiana Tal, 1555-1572, Florenz, Palazzo Vecchio.

Abb. 22, Pieter Snayers, Die Schlacht bei Kirkholm, 1605, 142 x 231 cm, Schloss Sassenage.

5. Die Ordnung und ihre Zersetzung

achtzigjährigen wie auch des dreißigjährigen Krieges Bezug nimmt. Seine Schlacht bei Kirkholm (Kirchholm) 1605, die eine Konfrontation eines schwedischen Heeres mit einer polnisch-litauischen Armee im heutigen Lettland zum Gegenstand hat, präsentiert das Kampfgeschehen in einer panoramatischen Übersicht aus der Vogelperspektive (Abb. 22). Die pointierte Distanz, in die der Betrachter gegenüber dem Gezeigten gerückt ist, steht weniger im Dienste einer Ästhetisierung des Gegebenen, sondern folgt eher dem Interesse einer präzisen Darstellung dessen, was sich auf dem Kampfplatz faktisch ereignet. Anders als zahlreiche seiner Zeitgenossen präsentiert Snayers den Krieg mit geradezu wissenschaftlicher Akribie; sein Ziel ist die detailgenaue Wiedergabe des möglichen Verlaufs einer Schlacht.3 Auf der linken Seite rücken die polnisch-litauischen Verbände an, von rechts kommen ihnen die schwedischen Einheiten entgegen. Entsprechend den Konventionen der Kriegsführung der Zeit betreten Fußsoldaten und Reiter den Kampfplatz in geschlossenen, den Prinzipien der Geometrie folgenden Formationen; nur die Kommandeure verfügen über eine gewisse freie Beweglichkeit. Eine in dieser Weise sich präsentierende Armee besitzt unübersehbar Eigenschaften des Erhabenen; die Masse gleichgerichteter Akteure bietet ein signifikantes Exempel akkumulierter Energie. Noch bevor der Kampf begonnen hat, greifen die Strategien einer mit wirkungsästhetischen Mitteln verfahrenden Einschüchterung des Gegners. Auf die bloße Darbietung von Kampfkraft folgt die physische Konfrontation: Mit mikrologischem Feinsinn notiert das Gemälde unterschiedliche Phasen der auf dem Schlachtfeld ablaufenden Prozesse der Zertrümmerung beziehungsweise des Zerfalls einer anfänglich bestehenden Ordnung. Unter dem Einsatz von Spießen, Lanzen, Schwertern und Feuerwaffen reißen die Soldaten die Blöcke des Feindes auf. Das Ziel eines Angriffs, so die Botschaft, die der Darstellung zu entnehmen ist, besteht in der Fähigkeit der Angreifer, gegnerische Strukturen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln aufzulösen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass zahlreiche Akteure aus den schwedischen Blöcken ohne zu kämpfen die Flucht nach hinten angetreten haben. Auf dem Boden liegen die Elenden, auch die verwundeten und sterbenden Pferde, die offenbar keineswegs geschont werden. Snayers mag den Sieg der polnisch-litauischen Armee akzentuiert haben – von dieser Seite kam der Auftrag für das Gemälde –, seine Darstellung folgt jedoch keineswegs dem Programm einer den Schrecken ausblendenden Idealisierung militärischer Operationen. Auf dem Schlachtfeld, so lässt sich seine Phänomenologie des Krieges zusammenfassen, regiert nicht zuletzt die Angst auf Seiten der Beteiligten. Dies entspricht durch-

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Roland Sennewald/Pavel Hrnčiřík: Pieter Snayers. Schlachtenmaler 1592 – 1667, Berlin: Zeughaus Verlag 2018.

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aus den Einsichten von Militärtheoretikern, die darauf aufmerksam machen, dass immer nur ein gewisser Teil der aufgestellten Soldaten wirklich kampffähig sei.4 Die Darstellung bewegt sich zwischen zwei extremen Zuständen militärischer Massen: ihrer Aufstellung in geschlossenen, kristallinen Formationen auf der einen und chaotischen, jeder festen Struktur entbehrenden Verhältnissen auf der anderen Seite. Als Brücke zwischen diesen Extremen fungiert die Gewalt. Mit analytischer Schärfe legt der Maler einen elementaren Dualismus in der Welt des Militärs offen. Armeen, die aufgrund entsprechender Disziplinarpraktiken als feingeschliffene soziale Kristalle auftreten, dienen dem Zweck, gegnerische Ordnungen zum Einsturz zu bringen. Eine derartige Konstellation erfordert entsprechende Mittel der Darstellung. Traditionelle Formen der Malerei, die eine harmonisierende Vermittlung der am Geschehen beteiligten Elemente anstreben, stoßen dabei rasch an ihre Grenzen, denn die chaotischen Zustände, die sich in einer Schlacht zwangsläufig einstellen, lassen sich von einem auf Integration und Ausgleich setzenden Darstellungsmodus schwerlich einfangen. Das Bild von Snayers, das das Drama aus einer fiktiven Obersicht präsentiert, macht gar nicht erst den Versuch, die konfrontativen Impulse und deren Effekte kompositorisch zu versöhnen. Es gleicht einem wissenschaftlichen, die Ereignisse nüchtern dokumentierenden Tableau; hier kündigen sich nicht nur die seriellen Verfahren der modernen Kunst, sondern auch deren Gegensatz, die Programme radikaler Ordnungsverweigerung an. Ein Interesse an Phänomenen des Zerfalls von Ordnung findet sich auch bei Sebastiaen Vrancx, bei dem Pieter Snayers in die Lehre gegangen ist. Sein Gemälde Plünderung eines Gepäckzuges, das wahrscheinlich auf entsprechende Begebenheiten des dreißigjährigen Krieges Bezug nimmt, zeigt eine unübersichtliche Situation nach einem Überfall auf einen Konvoi von Planwagen (Abb. 23).5 Die entscheidenden Ereignisse haben bereits stattgefunden. Tote und Verletzte – Menschen wie Pferde – liegen weit verstreut am Boden; die Angreifer jagen die letzten Überlebenden und bemächtigen sich der Kleidung der Opfer, die nackt oder halbnackt zurückbleiben, während der Anführer der Überfallenen im Mittelgrund links abgeführt wird. Auch Vrancx macht keinen Versuch, das dissonante Geschehen in die Einheit einer harmonischen, Brüche überspielenden Komposition zu überführen; im Gegenteil: Er akzentuiert die Effekte des Angriffs. Sein Bild, 4

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Randall Collins hat auf diese Zusammenhänge aufmerksam gemacht. Mit Bezug auf den U.S.Amerikanischen Kriegsberichterstatter und Armeehistoriker S.L.A. Marshall weist er darauf hin, dass in der Regel nur ein kleiner Teil der Soldaten in der Lage sei, die Waffe einzusetzen. In der U.S.-Armee waren dies während des 2. Weltkrieges lediglich 15 bis 25 % der Infanteristen. In den meisten Fällen führe Angst zur Kampfunfähigkeit. Randall Collins: Dynamik der Gewalt, Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg: Hamburger Edition 2011, S. 70. Vergl. Helge Siefert: Zum Ruhme des Helden. Historien- und Genremalerei des 17. Und 18. Jahrhunderts aus den Beständen der Alten Pinakothek, München 1993, S. 118f.

5. Die Ordnung und ihre Zersetzung

Abb. 23, Sebastiaen Vrancx, Plünderung eines Gepäckzuges, Eichenholz, 59,8 x 87 cm. Aschaffenburg, Galerie Aschaffenburg.

das ein heterogenes Gefüge von Fragmenten einer Ordnung präsentiert, macht die Folgen des Zerstörungsprozesses zum bildbestimmenden Programm. Das Einzige, was die Szene noch zusammenhält, ist das trübe Licht, das auf dem Geschehen lastet; in ihm reflektiert sich die Melancholie eines Subjekts, das mit Empathie auf die Opfer blickt und den Siegern den Respekt verweigert. Entscheidend ist das Kolorit, die tonale Gestimmtheit des Gegebenen, die die Tragik des Geschehens in besonderer Weise hervortreten lässt. Man kann auch hier im Sinne der entsprechenden kunsttheoretischen Debatten der Entstehungszeit des Gemäldes von einem spezifischen Modus der Darstellung sprechen, mit dem der Maler seinen Gegenstand präsentiert.6

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Der aus der Musiktheorie entlehnte Begriff Modus, der zunächst Grund-Tonart, Maß oder Form bedeutet, ist vor allem für Deutungen von Bildern von Interesse, die nicht nur nach dem was, sondern nach dem wie der Darstellung fragen. Vergl. die Ausführungen über Nikolas Poussin in der vorliegenden Abhandlung. Zum Begriff des Modus: Jan Bialostocki, Das Modusproblem in den bildenden Künsten.

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II. Wenn die Malerei auch Bewegungen im Raum des Dargestellten in gewissem Maße zu suggerieren vermag, so bleiben ihr doch zeitliche Veränderungen in der Gegenstandswelt als solche verschlossen; erst der Film überschreitet diese dem unbewegten Bild gesetzte Grenze. Für eine Kunst, die sich den Eigenschaften physikalischer Kraft im Allgemeinen oder Phänomenen physischer Gewalt im Besonderen zuwendet, ist die Erfindung des kinematographischen Bildes von überragender Bedeutung, denn dieses eröffnet die Möglichkeit, energetische Prozesse in ihrer zeitlichen Entfaltung wiederzugeben. Von früh an hat sich der Film diese Perspektiven zunutze gemacht und an Praktiken der Darstellung von Phänomenen der Kraft beziehungsweise Akten der Destruktion gearbeitet. Als Gründungsurkunde des Hollywoodkinos gilt kaum zufällig ein Werk, in dem ein mit militärischen Mitteln ausgetragener Konflikt im Fokus des Interesses steht: The Birth of a Nation von D.W. Griffith. Dieses monumentale, über drei Stunden dauernde Epos, das bereits 1915 in die Filmtheater kam, beschwört die Einheit der U.S.-Amerikanischen Nation und liefert derselben zugleich einen Raum ihrer medialen Selbstverständigung.7 Obwohl er die Unterdrückung und Ausgrenzung der Schwarzen offen befürwortet, gilt der Film – aufgrund seiner avancierten Machart – als wegweisender Beitrag in der Geschichte des Kinos.8 Sein Thema ist der amerikanische Bürgerkrieg, der in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit aller Härte ausgetragen wurde; im Zentrum stehen dabei zwei freundschaftlich untereinander verbundene Familien: die den Abolitionisten – den Kritikern der Versklavung der Afroamerikaner – angehörenden Stonemans aus dem Norden und die Camerons, Sklaven haltende Baumwollfarmer aus dem Süden. Mit dem Ausbruch der Kampfhandlungen der Nord- gegen die Südstaaten finden sich die Söhne der Familien als Kontrahenten auf dem Schlachtfeld wieder. Der Film, der hohe Anerkennung erntete, ließ alles,

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Vergl. Elisabeth Bronfen: Hollywoods Kriege. Geschichte einer Heimsuchung, Frankfurt a.M.: Fischer 2013, S. 59-65; Günter Giesenfeld: Griffith und die Geburt der amerikanischen Nation, in: Augen-Blick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft. Heft 12: Amerika! Amerika? Bilder der neuen Welt. Bilder aus der neuen Welt, (1992) S. 6-17. »The Birth of a Nation«, so bemerkt Clyde Taylor, »represents two historical landmarks: an incomparable racial assault and a major breakthrough for subsequent filmmaking technique. The impact of the film on the art-culture system might best be summarized by quoting Lewis Jacob’s observation that it foreshadowed the best that was to come in cinema technique, earned for the screen its right to the status of art, and demonstrated with finality that the movie was one of the most potent social agencies in America – and, I might, add, the modern world. The Birth of a Nation instantly became the object of compelling national and international attention for all classes at the same socio-historical moment. The outcry against the film’s racism, led by African American activists, was also massive, as has been frequently observed.« Clyde Taylor: The Re-Birth of the Aesthetic in Cinema, Rutgers University Press.

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was im Medium des bewegten Bildes bis dahin bekannt war, weit hinter sich. Siegfried Kracauer bemerkte noch in seiner 1960 erschienenen Theorie des Films, dass die gezeigten Schlachtenszenen »niemals wieder erreicht, geschweige denn übertroffen worden« seien.9 Der Regisseur liefert Bilder vom Krieg, die sich zwischen zwei Extremen bewegen. Kennzeichnend ist zunächst der Versuch, den Ablauf einer Schlacht des 19. Jahrhunderts mit akribischer Genauigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick zu rücken. Phasenweise gewinnen die Bilder, die unter dem Einsatz zahlreicher Statisten teils an Originalschauplätzen entstanden sind, den Charakter reiner Dokumente, die das Geschehen nüchtern zu protokollieren scheinen. Griffith konnte an Vorbilder aus dem Bereich der Kriegsfotographie anknüpfen. Vom amerikanischen Bürgerkrieg, in dem das Medium des fotographischen Bildes zum ersten Mal als Instrument der Kriegspropaganda Verwendung fand, existieren zahlreiche Aufnahmen, die mit dem Anspruch angefertigt wurden, einen möglichst ungeschminkten Eindruck der Ereignisse zu liefern.10 Bemerkenswert ist die Tatsache, dass auch Stereobilder entstanden, die es dem Betrachter möglich machten, in die dargestellten Situationen gleichsam einzutauchen.11 Gerhard Paul bemerkt in seiner großen Studie über Kriegsbilder, dass hier ein neuer »Blick auf das Geschehen und eine qualitativ neue Ikonographie und Ästhetik des Krieges« entwickelt wurde, die man als »fotographische Destruktionsästhetik beschreiben« könne.12 Das bekannteste Beispiel bildet die im Jahre 1863 entstandene Aufnahme A Harvest of Death. Gettysburg von Timothy O’Sullivan, die eine mit Leichen übersäte Bodenfläche zeigt (Abb. 24).13 Griffith lässt sich offenbar durch derartige Aufnahmen inspirieren, denn neben den Kämpfenden werden im Film zugleich Verwundete und Tote deutlich sichtbar auf dem Schlachtfeld präsentiert. Im Zentrum seiner Ästhetik des Krieges stehen gleichwohl die bewegten Kampfszenen, die mit dem Anspruch auftreten, eine authentische Darstellung einer militärischen Konfrontation zu bieten. Vor allem ein Motivkomplex ist dabei von Bedeutung: Auffallend ist der durch die bewegten Einheiten aufgewirbelte Staub, der Pulverdampf von Gewehren und Kanonen sowie der Rauch von Feuern, der sich in dünnen oder dichten Schwaden teils über die

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Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 10. Zeitweise waren, wie Gerhard Paul bemerkt, »über 500 Kriegsreporter im Einsatz.« Gerhard Paul: Bilder des Krieges. Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn/ München: Schöningh/Fink 2004, S. 66. Ebd., S. 67. Ebd., S. 67. Vergl. auch Bernd G. Längin: Der Amerikanische Bürgerkrieg. Eine Chronik in Bildern Tag für Tag, Augsburg: Bechtermünz 1998, S. 111, 135, 138, 160, 179., 211 u. 264.

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Abb. 24, Timothy O’Sullivan, A Harvest of Death, Gettysburg, 1863, aus: Gardners Photographic Sketch Book of the War, Plate 36.

gesamte Bildfläche zieht. Griffith zeigt sich als Virtuose der Darstellung ephemerer Phänomene, des sich temporär Zusammenballenden, partiell Verdichtenden und wieder Zersetzenden beziehungsweise Verschwindenden. Sein Film bietet ein Panorama materieller Prozesse, einer offenen, über jede fixierte Einheit hinausgreifenden Dynamik, in der neben den aufeinandertreffenden Akteuren vor allem atmosphärische Phänomene ihren Auftritt haben. Beispielgebend war hier wahrscheinlich unter anderem die bereits 1898 entstandene kurze Filmsequenz Shooting Captured Insurgents, die eine Exekution kubanischer Kämpfer durch spanische Soldaten im Spanisch-Amerikanischen Krieg wiedergibt. Signifikant tritt hier der Pulverdampf der abgefeuerten Gewehre in den Vordergrund. Kommentiert wird dieser Filmstreifen im Katalog, in dem er verzeichnet ist, mit folgender Bemerkung: »The flash of rifles and drifting smoke make a very striking picture.«14 Fungieren Phänomene wie Staub oder Qualm als natürliche Bestandteile einer Schlacht, so ändern sie auf dem Boden der filmischen Inszenierung immer wieder ihren Charakter; in dem Maße, in dem der Regisseur derartige Phänomene in den Vordergrund spielt, rückt die Härte des Kampfgeschehens tendenziell in den Hintergrund. Die Vorbilder für diese Darstellungspraxis liegen nicht zuletzt

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Zitiert nach Christof Decker: Der amerikanische Film, in: ders. (Hg.), Visuelle Kulturen der USA. Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika, Bielefeld: transcript 2010, S. 179. Die Filmsequenz ist einsehbar auf der Website der Library of Congress: http s://www.loc.gov.

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in der Fotographie, genauer im sogenannten Piktorialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Man denke an entsprechende Aufnahmen etwa der Stadt New York von Alfred Stieglitz, in denen atmosphärische Erscheinungen wie Reflexe von Licht, Wolkenformationen, Nebel oder der Rauch von Schornsteinen als bildbestimmende Faktoren auftreten.15 Ebenso wie die von ihm geförderten Zeitgenossen verfolgte der Begründer des Periodikums Camera Work das Interesse, die Fotographie als autonome Kunst zur Geltung zu bringen und sie gegenüber dem Vorwurf zu verteidigen, sie liefere lediglich Abbilder des Realen.16 Entsprechende Aufnahmen, die durch Gemälde des Naturalismus, des Symbolismus oder auch des Impressionismus inspiriert waren, glichen in auffallender Weise diesen Vorbildern. Griffith übersetzt den Piktorialimus der Fotographie ins bewegte Bild und folgt dabei offenbar der gleichen Intention, den Film von reproduktiven Verfahren abzugrenzen und als Kunstform eigener Art zur Geltung zu bringen. Dass er unter anderem die Malerei des Impressionismus im Blick hatte, ist unübersehbar. So lässt die Szene, die V. Stoneman, Ben Cameron und seine Schwester mit Sonnenschirm vor einem Baumwollfeld zeigt – im Hintergrund arbeitet eine Gruppe von Sklaven – an vergleichbare Bilder Monets denken; der Regisseur erweist dem Impressionisten seine Referenz, mit dem er das Interesse an atmosphärischen Erscheinungen teilte.17 Im Übrigen hatte sich Monet selbst bereits etwa in seiner Serie der Fassade der Kathedrale von Rouen in die Richtung eines filmischen Denkens bewegt.18 Griffith behandelt den Krieg als Anlass komplexer bildnerischer Experimente; sein Werk, das sich dem Realen annähert, steht zugleich im Zeichen einer ästhetischen Transformation des Schreckens. Entscheidend ist dabei, dass er die dem fotographischen Piktorialismus entlehnten Strategien in zentralen Sequenzen seines Films radikalisiert. Phasenweise – wenn der sich verdichtende Qualm die gesamte

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Vergl. Friederike Baum: Stieglitz’ New York. Sein Bild der Stadt im Wandel, Berlin: parthas 2011, S. 65 u. 71. Vergl. Anne Hammond: Naturalismus und Symbolismus. Die piktorialistische Fotographie, in: Michel Frizot (Hg.), Neue Geschichte der Fotographie, Köln: Könemann 1998, S. 293-310; Peter C. Bunnel: Für eine moderne Fotographie. Die Erneuerung des Piktorialismus, in: ebd., S. 311326. Möglicherweise hat Griffith sogar auf den Piktorialismus der Fotografie explizit Bezug genommen: Im Hintergrund des Vorzimmers der Bibliothek der Stonemans steht eine kleine Reproduktion einer antiken Venus; die Dienerin des Hauses, eine Schwarze, wird mehrfach mit dieser Figur zusammen gezeigt. Clarence H. White, der in New York seit 1910 unterrichtete und ab 1914 über eine eigene Fotoschule verfügte, veröffentlichte bereits 1908 in Camera Work eine Fotographie, die ebenfalls eine Frau mit einer derartigen Figur ins Bild setzte. Alfred Stieglitz: Camera Work. The complete Photographs, Köln: Taschen 2008, S. 283. Vergl. Robert Gordon/Andrew Forge: Monet, Köln: DuMont 1985, S. 172ff.

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Abb. 25, Filmstill aus: D.W. Griffith, The Birth of a Nation.

Abb. 26, Filmstill aus: D.W. Griffith, The Birth of a Nation.

Leinwand beherrscht – scheint der Krieg in ein abstraktes beziehungsweise gegenstandsloses Geschehen überzugehen. Stieglitz, der als ein aufmerksamer Beobachter der Entwicklung der bildenden Kunst auftrat, war bereits der Überzeugung,

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Abb. 27, Filmstill aus: D.W. Griffith, The Birth of a Nation.

Abb. 28, Filmstill aus: D.W. Griffith, The Birth of a Nation.

dass der Sprache der Abstraktion die Zukunft gehöre. In diversen Aufnahmen, die Strukturen kubistischer Bilder reproduzieren, hat er selbst erste Schritte in die-

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se Richtung unternommen.19 Griffith geht entschieden weiter; seine Ästhetik des Atmosphärischen tastet sich bis zum Informel und zu reinen, malerisch wirkenden Farbfeldern vor (Abb. 25-28). So verwandeln sich die Prozesse einer Schlacht sukzessive in gegenstandslose Ereignisse, greifbar vor allem in den Nachtaufnahmen, in denen sich der Krieg als ein visuelles Spektakel darbietet, das auf die psychedelischen Lichtinszenierungen der Popkultur der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts vorausweist. Entscheidend ist der wiederholte Einsatz von Farbe – bestimmend sind rötliche Töne, Violett oder auch Blau –, der auf eine Einfärbung des in schwarz/weiß vorliegenden Filmmaterials zurückgeht. Mit der Aneignung von Sprachmitteln der Malerei hat der Regisseur die Tore für eine zukünftige Entwicklung des Kinos weit aufgestoßen. Die Betrachtung des Werks bleibt unvollständig, solange man nur die Bilder und nicht zugleich deren musikalische Begleitung berücksichtigt, für die der Komponist Joseph Carl Breil verantwortlich zeichnet.20 Unter Verwendung von Zitaten aus dem klassischen Genre, populären Melodien der Zeit sowie speziell für den Film geschriebenen Kompositionen entstand eine über die gesamte Länge des Films sich erstreckende Partitur, die auf das bildliche Geschehen abgestimmt ist. In der heute verfügbaren Version des Werks mit Tonspur lässt sich das ästhetische Konzept ohne Probleme nachvollziehen.21 Griffith denkt an intermediale Verhältnisse, wie sie aus der Oper bekannt waren. Zwar evozieren bereits die geschnittenen Aufnahmen als solche Stimmungslagen und Affekte, in ihrer akustischen Untermalung treten jedoch Faktoren ins Spiel, die die Wahrnehmung der optischen Daten nicht nur zu intensivieren, sondern auch erheblich zu verändern vermögen. Regisseur und Komponist sind an synästhetischen Verhältnissen interessiert, in denen die Sinneskanäle wechselseitig aufeinander Einfluss nehmen. Dem Ablauf der Bilder korrespondiert eine Folge von getragenen, melancholischen, dramatischen, heroischen, aber auch heiteren oder burlesken musikalischen Sequenzen; selbst

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Bereits 1912 schrieb Stieglitz an seinen Kollegen Heinrich Kühn in Österreich: »Mir scheint, daß die zeitgenössische Kunst im Abstrakten (Gegenstandslosen) besteht, so wie bei Picasso, und im Fotographischen. […] Nun, da wir an der Schwelle zu einer neuen sozialen Ära stehen, stehen wir auch in der Kunst vor einem neuen Medium des Ausdrucks – dem wahren Medium (der Abstraktion).« Zitiert nach Peter C. Bunnell: Für eine moderne Fotographie, S. 319; vergl. auch die hier abgedruckten Aufnahmen von Stieglitz; ebd., S. 324 u. 325. »Although The birth of a Nation is commonly regarded as a landmark for its dramatic and visual innovations, its use of music was arguably no less revolutionary. […] For The Birth of a Nation, Composer Joseph Carl Breil created a three-hour-long musical scor that combined all three types of music in use at the time: adaptions of existing works by classical composers, new arrangements of well-known melodies, and original composed music.« Aus: Wikipedia engl.: The Birth of a Nation. Empfohlen sei die Version in der arte Edition von 2008, vertrieben von der Absolut Medien GmbH.

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Trompetensignale, mit denen die Kommandanten ihre Befehle auf dem Schlachtfeld kommunizieren, finden Verwendung. Ähnlich wie Richard Wagner arbeitet Breil mit so genannten Leitmotiven, die im Ablauf des Films mehrfach wiederkehren. Man hat es mit einer aus unterschiedlichen Elementen zusammengesetzten Toncollage zu tun, die den Zuschauer zu einem stetigen Wechsel der Einstellungen, Befindlichkeiten und Emotionen veranlasst. Hier sei an das durch Plessner beschriebene Phänomen der Akkordanz erinnert, jene Korrelation zwischen dem akustischen Material und entsprechenden leiblichen Aktivitäten des Subjekts.22 Jede Sequenz repräsentiert, um den entsprechenden Begriff aus der Musiktheorie wieder aufzunehmen, einen Modus, eine spezifische Art, etwas darzustellen beziehungsweise zum Ausdruck zu bringen; unterschiedlichen Modi korrespondieren unterschiedliche mentale, affektive beziehungsweise leibliche Zustände des Subjekts.23 In jedem Fall fungiert der auditive Part des Films als ein zentrales Instrument der Sinnstiftung, weil er die visuellen Daten in dieser oder jener Weise lesbar werden lässt. Doch bereits die Filmbilder als solche verfügen aufgrund ihrer Machart, ihres Aufgenommen-, Geschnitten- und Montiertseins über einen je spezifischen Modus, der den Zuschauer auf seine Weise affiziert. Griffith folgt den alten Gepflogenheiten der Malerei, die über den Stil, die Art der Inszenierung ihrer Sujets etwas mehr oder minder Bestimmtes zum Ausdruck zu bringen vermochte.24 Die Beziehungen des bewegten Bildes zur Filmmusik sind komplex. Festzuhalten ist dabei, dass zeitgleich auftretende visuelle und akustische Sequenzen des Films nicht unbedingt von gleicher modaler Art sein müssen, sondern in ihren Ausdruckscharakteren mehr oder minder stark differieren können. Im einfachsten Fall erscheint das einer Szene unterlegte Musikstück dem gezeigten Geschehen angemessen; düster-melancholische Klänge harmonieren mit der Darstellung einer um den gefallenen Sohn trauernden Familie. In anderen Fällen gehören parallel ablaufende Bild- und Tonsequenzen unterschiedlichen Stimmungswelten an, greifbar etwa in der Darstellung einer Feldschlacht zwischen Truppen der Nord- und der Südstaaten. Mehrfach wird hier eine dramatisch beziehungsweise heroisch bewegte Musik durch einen heiter beschwingten Militärmarsch unterbrochen. Aufgrund seiner größeren Nähe zum Affekthaushalt des Subjekts gewinnt der musikalische Part vielfach eine bestimmende Rolle in der emotionalen Bewertung der visuell präsentierten Ereignisse. Mit dem während der Schlacht zeitgleich verlaufenden Wechsel vom ernsten zum heiteren Modus im Klangraum wird das Gezeigte in signifikanter Weise umgedeutet: Das Gemetzel verliert seinen Schrecken. Doch nicht

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Vergl. Kap. 3 der vorliegenden Arbeit sowie Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne, S. 236. Vergl. Jan Bialostocki: Das Modusproblem in den bildenden Künsten. Eine idyllische Landschaft spricht uns auf andere Weise an als ein stürmisches Gewitterbild, in dem entsprechende Seelenzustände artikuliert werden.

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erst der Übergang zu beschwingter Musik, bereits die dramatisch-heroischen Sequenzen, die den Geschehnissen adäquat zu sein scheinen, sind für eine im Kern problematische Transformation der Darstellung von Gewalt verantwortlich. Der Modus der Musik, der den Ernst der Lage zur Geltung bringen soll, verschleiert genau besehen die Botschaft, die man den Bildern entnehmen könnte, wenn man sie ohne eine derartige akustische Untermalung wahrnehmen würde. Kooperativ eröffnen Griffith und Breil eine Perspektive auf den Krieg, die das Grauen der Ereignisse tendenziell unkenntlich werden lässt. Die durch den Film freigesetzten Affekte machen es möglich, dass das rezipierende Subjekt ein hedonistisches Verhältnis zu den Bildern entwickelt, das eine psycho-physische Fixierung auf derartige Darstellungen begünstigt.

Abb. 29, Filmstill aus: D.W. Griffith, The Birth of a Nation.

Auf dieser Linie liegen auch die Bilder einer in Brand gesetzten Stadt – es handelt sich offenbar um Atlanta – einschließlich des Schicksals ihrer Einwohner (Abb. 29). Griffith rückt hier das Schicksal der Zivilbevölkerung in den Blick, die mit der Zerstörung ihrer Lebenswelt konfrontiert ist. Gezeigt sind zu Fuß oder zu Pferde flüchtende Personen, die schemenhaft aus dichten, rötlich illuminierten Rauchwolken auftauchen, während im Hintergrund vom Feuer erfasste Gebäude sichtbar werden, die an Kulissen eines Theaters erinnern. Man hat es in dieser Sequenz, die mit wirkungsästhetischen Mitteln die Bedrohungslage der Betroffenen akzentuiert, mit einem Meisterstück des in den Film übersetzten Pictorialismus zu tun, einem wohlkalkulierten visuellen Drama, das einmal mehr den Einfluss des Im-

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pressionismus, aber auch der Malerei William Turners zeigt. Mit der begleitenden Musik tritt ein weiteres Ausdrucksregister ins Spiel, das für die Wahrnehmung der gezeigten Bilder von zentraler Bedeutung ist. Über die gesamte Sequenz, die die katastrophische Zersetzung eines urbanen Raums vor Augen führt, läuft der letzte Satz der Peer Gynt Suite von Edvard Grieg, entstanden für eine Szene aus dem gleichnamigen dramatischen Gedicht von Henrik Ibsen. Thema ist der von Peer Gynt phantasierte Besuch der Halle des ihm feindlich gesonnenen Bergkönigs.25 Der Held, den Angriffen von Gnomen und Kobolden ausgesetzt, kann sich vor der Bedrohung retten und aus der Höhle entkommen, während der Berg über seinen Verfolgern zusammenbricht. Grieg entwarf, inspiriert durch diesen Stoff, ein mytho-poetisches Klanggemälde, das zwischen dionysischer Exaltation und ironischer Posse oszilliert. Im Film wird die Komposition in einen gänzlich anderen Kontext gestellt, mit tiefgreifenden Wirkungen für die Rezeption und Bedeutung der Bilder. Unterlegt mit der rhythmisch bewegten Musik nähert sich das hektische Agieren der vor dem Feuer Flüchtenden einem Tanz mechanischer Puppen, der auf einer von hinten beleuchteten Guckkastenbühne aufgeführt wird; was sich auf der Ebene der visuellen Eindrücke als lebensbedrohliches Ereignis darstellt, kippt in eine burleske Inszenierung um. Die Darbietung erinnert entfernt an Totentänze des Mittelalters, in denen der Mensch mit der Tatsache des ihm sicher bevorstehenden Endes konfrontiert wird. Doch Griffith und Breil geht es offenbar nicht um die dem Subjekt dort verordnete kontemplative Einkehr angesichts des Sterbens, sondern eher um die Auslotung wirkungsästhetischer Praktiken im Dienste der Verführung und Überwältigung des Zuschauers. Die vorliegende Sequenz kommuniziert mit dem Symbolismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der den Tod, ähnlich wie bereits die Romantik, in den Gegenstand diffuser Sehnsüchte verwandelte. In diesem Sinne eröffnen die hier über die Individuen hereingebrochenen Energien der Zersetzung zugleich Perspektiven der Erlösung, einer Entlastung des Subjekts von den Bürden des irdischen Daseins. The Birth of a Nation setzt Prozesse der Destruktion – sei es aus der Perspektive der Opfer oder der Täter – effektiv in Szene. Der Film nutzt die Koppelung von Bild und Ton, um Szenen des Angriffs, der Niederlage oder der Flucht in Gegenstände einer spezifischen Wahrnehmungslust zu verwandeln. Sowohl die Darstellungen der Ausübung als auch des Erleidens von Gewalt folgen einer Strategie, die symbiotische Mechanismen auf Seiten des Zuschauers zu induzieren oder zu verstärken vermag.26 Je nach momentaner Disposition des Subjekts kann ein und dasselbe Ereignis in den Dienst sadistischer oder masochistischer Impulse treten. Täter und Opfer sind dabei, wie Fromm hervorhebt, in tragischer Weise aneinandergekettet. Griffith besaß offenbar selbst einen Begriff von diesen Verhältnissen. Bereits zu 25 26

Edvard Grieg hat sein Musikstück im Jahre 1867 komponiert. Vergl. Kap 3 der vorliegenden Arbeit.

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Beginn des Krieges sterben zwei der Söhne der befreundeten, auf unterschiedlichen Seiten stehenden Sippen gemeinsam den Heldentod auf dem Schlachtfeld. Duke Cameron, der ansetzt, einen bereits am Boden sterbenden Feind mit dem Bajonett zu erledigen, erkennt in demselben den alten Kameraden Tod Stoneman, lässt ab von seiner Aktivität, wird selbst von einem Geschoss getroffen und sinkt nieder; den Sterbenden umarmend, scheidet auch er dahin. Die berührende Szene, die die Einheit der gespaltenen Nation beschwören soll, besitzt eine darüber hinausgehende Bedeutung. Man erinnert sich an eine Begegnung der beiden Männer im Hause der Camerons, in der sie sich spaßeshalber wechselseitig provozieren und entzweien, um sich dann wieder versöhnlich in die Arme zu sinken. Tod Stoneman und Duke Cameron pflegten zu Lebzeiten ein sichtlich ambivalentes Verhältnis. Was sich als heiteres Beziehungstheater präsentiert, steht bereits auf dem Boden des symbiotischen Komplexes, in welchem Interaktionsprozesse mit dem lustbesetzten Einsatz oder dem Ertragen von Gewalt verbunden sind. Der Regisseur, der diese Konstellation in einer Schlüsselszene – dem gemeinsamen Sterben der Freunde – thematisiert, entwickelt eine Ästhetik des Kinos, die den symbiotischen Prozessen auf ihre Weise zur Geltung verhilft. Angeschlossen an die visuellen und akustischen Daten des Films kann das rezipierende Subjekt ein entsprechendes eigenes Begehren aufbauen, pflegen oder verstärken. An die Stelle des unterworfenen oder unterwerfenden Partners treten dessen Repräsentanzen im Raum der kinematographischen Ereignisse, die dem Subjekt zugleich die Möglichkeit eröffnen, zwischen der aktiven und der passiven Seite der Symbiose zu wechseln; so kann es sich bedarfsweise mit dem Opfer oder mit dem Täter identifizieren, stets unter der Prämisse, dass hier die für das alte Bild konstitutive Differenz zwischen Subjekt und Objekt unterlaufen wird. Was bei Luca Giordano in Form einer aus sicherer Distanz zu betrachtenden Konstellation zweier Figuren begegnet, wird bei Griffith in eine sukzessive, das rezipierende Subjekt involvierende Ordnung überführt (Abb. 12). Eine Warnung vor dem symbiotischen Komplex, wie sie der Maler in Gestalt des Hundes im unteren Teil seiner Komposition platzierte, sucht man vergebens.27 Über eine spezifische Verknüpfung von Bild- und Tonsequenzen konstituiert sich ein kinematographisches Idiom, das seine Kraft nicht zuletzt aus einem auf Seiten des Publikums mobilisierten sado-masochistischen Begehren zieht. Dies wird vor allem im zweiten Teil des Filmes deutlich, der den Konflikt zwischen den Weißen und den afroamerikanischen Knechten mit falschen Vorzeichen in manipulativer Weise in Szene setzt. Griffith arbeitet mit einer Vertauschung von Täter- und Opferpositionen. Nach dem militärischen Sieg der Nordstaaten und der Ermordung Lincolns setzt ein Prozess der politischen Emanzipation der Schwarzen ein, den der Regisseur

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Zu Luca Giordano: Kap 2 der vorliegenden Arbeit.

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als Ausbreitung barbarischer Zustände brandmarkt. Eine Schlüsselrolle im filmischen Kalkül spielen zwei weibliche Figuren: Flora Cameron, die jüngste Tochter der Südstaatenfamilie, und Elsie Stoneman, ihr Pendant aus dem Norden. Gut gelaunt begibt sich die Erstere in einen Wald, um mit einem Eimer an einer Quelle Wasser zu schöpfen, während ihr der in der Armee beförderte Afroamerikaner Gus unbemerkt folgt. Die sich den versöhnlichen Eindrücken der Natur Hingebende wird aus dem Zustand ihrer Beglückung gerissen, als der Mann unerwartet vor sie hintritt und ihr einen Heiratsantrag unterbreitet. In panischer Angst flüchtet die Umworbene, verfolgt durch den Antragsteller, um sich in einer für sie ausweglos erscheinenden Situation von einem Felsen zu stürzen, während sich der erschreckte Freier ängstlich entfernt. Der älteste Bruder, der bereits zuvor die Suche nach ihr aufgenommen hatte, findet sie sterbend und kann ihr eben noch den Grund ihres Unglücks entlocken. Begleitet wird die gesamte Sequenz von Musik, zunächst von heiter-beschwingten, dann melancholisch-getragenen sowie düster-dramatischen Passagen. Mit den Formen der Empathie und des Mitleids, die hier evoziert werden, treten zugleich affektive Zustände auf den Plan, die dem symbiotischen Komplex angehören. So nehmen die Bilder der zunächst Glücklichen, dann Fliehenden und schließlich Sterbenden sukzessive den Charakter von Zeichen eines masochistischen Begehrens an, das das Unglück keineswegs gering achtet. Der Reinheit der weißen Frau – die Quelle, die sie aufsucht, um Wasser zu schöpfen, ist Programm – kontrastiert das düster gezeichnete Bild des Afroamerikaners, in dem das Ressentiment des Regisseurs seinen Ausdruck findet. Mit der Fixierung der Herrenmenschen auf dieses Phantasma können dieselben bereitwillig in die Rolle des selbst auratisierten Opfers schlüpfen. Der Graben, der die Schwarzen von den Weißen trennt, zeigt sich als unüberwindbar; er manifestiert sich in dem textförmigen Kommentar, der der melodramatischen Sterbeszene folgt: »For her who had learned the stern lesson of honor we should not grieve that she found sweeter the opal gates of death«. In seinem verachtenden Blick auf die Schwarzen lässt der Film an eine Beobachtung denken, die Alexis de Tocqueville in seiner klassischen, bereits im frühen 19. Jahrhundert erschienenen Studie über die Demokratie in Amerika niederschrieb: »In den Vereinigten Staaten unserer Tage beginnt, wie ich sehe, die gesetzliche Schranke zwischen den beiden Rassen in gewissen Teilen des Landes zu fallen, nicht aber die der Sitten; ich sehe, dass die Sklaverei zurückgeht; das Vorurteil, dem sie entspringt, bleibt unerschüttert […] Das Rassenvorurteil scheint mir in den Staaten, die die Sklaverei abgeschafft haben, stärker als in jenen, wo die Sklaverei

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noch besteht, und nirgends erweist es sich so unduldsam wie in den Staaten, wo die Knechtschaft immer unbekannt geblieben ist.«28 Die bei Griffith hervortretende Gesinnung spricht für die Hellsichtigkeit der Tocqueville’schen Diagnose; sein Film feiert den Einsatz brutaler Gewalt gegen die ethnisch und sozial Deklassierten. Das Schicksal Flora Camerons, präsentiert als Märtyrertod für die bedrohte Kultur der Weißen, fungiert als erster Akt einer weiterführenden narrativen Konstellation. Der Bruder, der die eben Dahingeschiedene in den Armen hält, erhebt den Blick und sinnt bereits auf Rache: Der Tod der Unschuldigen, so votiert die Darstellung, fordert eine unmissverständliche Antwort. Hier tritt der Ku-Klux-Klan ins Spiel, der nach einem Scheinprozess, in welchem ein Todesurteil ausgesprochen wird, das blutige Geschäft erledigt. So düster und verrucht der Schwarze geschildert wird, so lauter und erhaben treten die selbst ernannten Richter in Erscheinung. Dieser Dualismus bildet auch das tragende Element einer weiteren Sequenz, in der Elsie Stoneman in eine ähnliche Lage gerät wie Flora Cameron. Lynch, der neue afroamerikanische Gouverneur ist fest entschlossen, Elsie zu heiraten, die sich ebenfalls diesem Ansinnen verweigert. Im Verfahren der Parallelmontage zeigt der Regisseur Bilder der gegen ihren Willen im Amtssitz des Bewerbers Festgehaltenen, mehrfach unterbrochen durch Darstellungen des sich formierenden, anrückenden und Hilfe bringenden Ku-Klux-Klan.29 Die rote Einfärbung entsprechender Bildfolgen, die darüber hinaus mit der Musik zum Ritt der Walküren von Richard Wagner unterlegt sind, lassen an der filmischen Intention keinerlei Zweifel aufkommen. In seiner martialischen Selbstdarstellung, orientiert an den Ritterorden des Mittelalters, präsentiert sich der Ku-Klux-Klan als charismatischer Verband, der den Prinzipien des Guten gegenüber den Mächten des Bösen zur Geltung verhilft.30

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Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1976, S. 397f. Griffith hat in der Geschichte des Films angeblich zum ersten Mal das Verfahren der Parallelmontage zum Einsatz gebracht: Begebenheiten an verschiedenen Schauplätzen werden wechselweise präsentiert. Clyde Taylor stellt fest, dass den Schwarzen – anders als den Weißen – eine ästhetische Darstellung verweigert wurde: »It goes unnoticed that virtually all of the film’s formal achievements – its editing, closeups, iris shots, manipulation of crowds, camera movements, scenic setups, literary titles etc. – are deployed in the cause of aestheticizing and sentimentalizing the principal characters as White people […] This becomes all the more clear when we see that Blacks in the film are not involved in this aestheticization, but are consistantly incorporated within contra-aesthetic film language. This separate and unaesthetic representation of Blacks does more than provide grounds for complaints of stereotypic imagery. The devide between the aesthetic portrayal of Whites and un-aesthetic portrayal of Blacks reveal a ›crack‹ through which the artistic overlay of the film ca be penetrated, its meaning more fully clarified.« The Re-Birth of the Aesthetic in Cinema, S. 22f.

5. Die Ordnung und ihre Zersetzung

Griffith greift auf den alten Dualismus zwischen dem Himmelreich als dem Sitz des Gottes und der Unterwelt als dem Reich des Diabolischen zurück. Doch dabei wird das theologische Modell, das den Menschen zur Abkehr von den Mächten der Finsternis und zur Hinwendung zu höheren Wahrheiten motivieren sollte, geradezu in sein Gegenteil verkehrt; dem Regisseur bleibt der tiefere Sinn der in Anspruch genommenen Zweiwelten-Lehren verschlossen. Sein Film setzt zunächst auf ein masochistisches Begehren, um dann die sadistischen Impulse als alternativlose Konsequenz dieses Begehrens ins Spiel zu bringen; er baut eine kausale Brücke zwischen dem passiven und dem aktiven Teil des symbiotischen Komplexes: Wo unschuldig gelitten wurde, muss sühnende Gewalt folgen. So bildet der kinematographisch inszenierte Rassismus die Quelle einer triebhaft ablaufenden zirkulären Rezeptionsdynamik, in der die Wege reflexiver Distanznahme verschlossen sind. Die zur Geltung gebrachte Lichtwelt ist nur ein Trugbild dessen, was die alte Theologie sich unter dem Gottesreich vorstellte, denn im Rekurs auf dieses Reich würde sich dem Subjekt die Möglichkeit eröffnen, aus den symbiotischen Prozessen auszuscheren. Griffith selbst verzichtet keineswegs auf die Inszenierung religiöser Praktiken sowie auf die Präsentation entsprechender Symbole. Der Vater der Camerons betet innig in Gegenwart seiner Frau und seiner Töchter, während der letzte, ihm noch gebliebene Sohn auf dem Schlachtfeld steht. Auf der Rückwand der Eingangshalle seines stattlichen Hauses, flankiert von aufsteigenden Treppen, prangt darüber hinaus ein ovales Fenster, Zeichen des göttlichen Auges, das für die Bewohner offenbar von erheblicher Bedeutung ist. Doch diese Referenzen bleiben Bekenntnisse ohne Gewicht, denn die Welt, die mit ihnen verbunden ist, hat sich vom Schauplatz des filmischen Geschehens zurückgezogen. Griffith ähnelt dem Engel bei Luca Giordano, der sich von Gott abgewandt und den eigenen sinnlichen Gelüsten ergeben hat.31 Die hier hervortretende Gesinnung kann bestimmten Entwicklungen im Protestantismus geschuldet sein. Erich Fromm hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Reformation des 16. Jahrhunderts bei der Herausbildung entsprechender psychischer Dispositionen durchaus eine Rolle spielte.32 Die durch Luther und Calvin angestrengte Revolte gegen die katholische Kirche hatte den Gläubigen eine bis dahin unbekannte Freiheit von institutionellen Zwängen beschert; doch diese Freiheit hat ihre Tücken. Mit der nun in den Vordergrund tretenden Lehre vom deus absconditus gewinnt ein christlicher Gott an Bedeutung, der sich verborgen hält und auf dessen Gnade der Mensch durch Frömmigkeit und gottgefälliges Handeln keinen Einfluss auszuüben vermag. Wie Max Weber bemerkte, beförderte die theologische Lehre von der Prädestination den Menschen in Zustände einer inneren Isolation, einer nur schwer zu bewältigenden Angst, Unsicherheit und Verzweiflung, auf 31 32

Vergl. Kap 3 der vorliegenden Arbeit. Vergl. Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, S. 43, 62, 64, 68 u. 85.

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die das protestantische Subjekt mit einer disziplinierten, rastlosen Berufsarbeit antwortete.33 Aus ökonomischem Erfolg, so wollte es zumindest die calvinistische Orthodoxie, konnte die Gnade des Herrn herausgelesen werden.34 In den Habitusformen, die sich unter diesen Bedingungen herausbildeten, erblickte Weber bekanntlich eine der Wurzeln des modernen Kapitalismus. Fromm fand in dem auf sich zurückgeworfenen, in Angst und Ohnmacht existierenden Subjekt eine erhöhte Bereitschaft, Instanzen der Macht auf diese oder jene Weise zu besetzen. Hier lägen, so heißt es, entscheidende Voraussetzungen für den autoritären Charakter beziehungsweise den symbiotischen Komplex. Die Rolle des Knechts, die Luther und seine Nachfolger dem Gläubigen reserviert hatten, bringe das Subjekt in eine instabile Lage, die sich, wie der Autor hervorhebt, in Feindseligkeit und Hass gegenüber schwachen und machtlosen Individuen niederschlagen könne.35 Dass der Geist der protestantischen Sekten für die Entstehung der U.S.-Amerikanischen Kultur, vor allem für ihren ökonomischen Aufstieg eine zentrale Rolle spielte, ist bekannt.36 Mit ihm etabliert sich ein von Gott abgeschnittenes, seinem Schicksal überlassenes Subjekt, das nach Möglichkeiten der Absenkung und Überwindung eigener Unsicherheiten Ausschau hält. Die ästhetische Strategie von Griffith kommt diesen Kompensationsbemühungen entgegen. Sie setzt dabei nicht zuletzt auf die Kraft sozialer Kollektive. Auffallend ist das filmische Interesse an Massenszenen, greifbar in den Bildern der Bereitstellung und des Abmarsches der Soldaten, im Aufeinandertreffen der feindlichen Verbände auf den Schlachtfeldern oder in der Selbstinszenierung des als Großgruppe ins Bild gesetzten Ku-Klux-Klan. Zwei Extreme bestimmen das Spektrum der Ereignisse: Auf der einen Seite stehen amorphe, chaotische Prozesse, die

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»In ihrer pathetischen Unmenschlichkeit«, so Weber, »mußte diese Lehre nun für die Stimmung einer Generation, die sich ihrer grandiosen Konsequenz ergab, vor allem eine Folge haben: ein Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums. In der für die Menschen der Reformationszeit entscheidendsten Angelegenheit des Lebens: der ewigen Seligkeit, war der Mensch darauf verwiesen, seine Straße einsam zu ziehen, einem von Ewigkeit her feststehenden Schicksal entgegen.« Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1988, S. 93f.; vergl. auch: Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: ebd. S. 207-236. Bei Calvin ist der berufliche Erfolgt ein sicheres Indiz für die Tatsache, dass Gott dem Gläubigen wohlgesonnen ist; vergl.: Max Weber, Die protestantische Ethik, ebd., S. 110. So sagt Erich Fromm, »daß eine gleichzeitige Liebe zur Autorität und ein Haß gegen die Machtlosen typische Merkmale des ›autoritären Charakters‹ sind«. Die Furcht vor der Freiheit, S. 66; vergl. auch Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1977, S. 325ff. Vergl. Richard Münch: Die Kultur der Moderne, Bd. 1, Ihre Grundlagen und ihre Entwicklung in England und Amerika, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 257-273.

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an die in der Physik beschriebene Brownsche Bewegung denken lassen, an jenes gänzlich regellose Verhalten materieller Entitäten in molekularen oder atomaren Kontexten. Auf der anderen Seite finden sich Einheiten koordiniert handelnder Akteure beziehungsweise strikt organisierter Verbände mit einer teils kristallin anmutenden Struktur. Der Regisseur eröffnet einen Blick auf soziale Phänomene, wie sie Gustave Le Bon in seiner klassischen Abhandlung Psychologie der Massen analysiert hatte.37 In dieser für die Sozialpsychologie richtungsweisenden Schrift, die zur Entstehungszeit des Films auch in den Vereinigten Staaten rezipiert wurde, bemerkt der Autor in programmatischer Weise, dass wir vom Zeitalter der Fürstenoder Adelsherrschaft in ein Zeitalter der Massen eingetreten seien.38 Entscheidend sei die Tatsache, dass Personen in sozialen Zusammenhängen ein Verhalten zeigten, welches sie – auf sich selbst gestellt – keineswegs entwickeln würden.39 Le Bon macht darauf aufmerksam, dass kollektive Verbände verunsicherten und an Selbstzweifeln laborierenden Individuen die Möglichkeit eröffneten, ihr prekäres Dasein zumindest phasenweise zu vergessen: »In den Massen verlieren die Dummen, Ungebildeten und Neidischen das Gefühl ihrer Nichtigkeit und Ohnmacht; an seine Stelle tritt das Bewußtsein einer rohen, zwar vergänglichen, aber ungeheuren Kraft.«40 Vor allem in der Darstellung des Ku-Klux-Klan liefert Griffith ein Exempel für die von Le Bon beschriebene Entfesselung kollektiver Energien. In den durch den Raum beschleunigt sich bewegenden Reiterstaffeln setzt sich darüber hinaus ein Interesse an der Ästhetik des Erhabenen durch. Gezeigt wird eine homogenisierte Gruppe, in der sich ein hohes Maß an kinetischer Energie zu verdichten scheint (Abb. 30). Le Bon war der Überzeugung, dass derartige Massenphänomene Zustände bei den Beteiligten hervorriefen, die der Hypnose vergleichbar seien; der Autor nimmt auch auf Praktiken der Magie oder der Zauberei Bezug.41 Griffith trifft sich mit den Einsichten Le Bons, denn er zeigt den Ku-Klux-Klan als charismatischen Verband, der seinen Zusammenhalt zugleich über magische Praktiken

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Gustave Le Bon: Psychologie der Massen, Hamburg: Nikol 2009. Der U.S.-Amerikanische Präsident Theodor Roosevelt traf Le Bon im Jahre 1914, also ein Jahr bevor der Film von Griffith auf die Kinoleinwände kam. Vergl. Serge Moscovici: Das Zeitalter der Massen. Eine historische Abhandlung über die Massenpsychologie, Frankfurt a.M.: Fischer 1986, S. 87. Bekanntlich hat sich auch Sigmund Freud durch die Le Bon’sche Schrift inspirieren lassen. Serge Moscovici, ebd., S. 82. Gustave Le Bon: Psychologie der Massen, S. 54. »Sorgfältige Beobachtungen«, so Le Bon, »scheinen nun zu beweisen, dass ein einzelner, der lange Zeit im Schoße einer wirkenden Masse eingebettet war, sich alsbald – durch Ausströmungen, die von ihr ausgehen, oder sonst eine noch unbekannte Ursache – in einem besonderen Zustand befindet, der sich sehr der Verzauberung nähert, die den Hypnotisierten unter dem Einfluss des Hypnotiseurs überkommt,« Ebd., S. 36 f; vergl. auch S. 98 u. 122f.

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Abb. 30, Filmstill aus: D.W. Griffith, The Birth of a Nation.

konstituiert und stabilisiert: Den Feldzug gegen die inzwischen politisch emanzipierten Afroamerikaner eröffnet Ben Cameron mit einem düsteren Ritual, in welchem eine Fahne angeblich in das Blut einer getöteten weißen Frau eingetaucht wird.42 Der Regisseur demonstriert nicht nur einen entwickelten Sinn für die Bindungsenergien bestimmter sozialer Gruppen, sondern zugleich für die magische Kraft bewegter Bilder, die ein entsprechendes Verhalten auf Seiten des Zuschauers auslösen beziehungsweise zu verstärken vermögen. Griffith hat zweifellos verstanden, dass die Wirkungen des Kinos den Zuständen der Hypnose verwandt sind; er nutzt die mit unterschiedlicher Musik unterlegten Bilder für Zwecke der Verzauberung des Subjekts. Auch hier berührt er sich mit Le Bon, der auf die zentrale Funktion der Bilder für die Seele der Massen aufmerksam gemacht hat: »Beim Studium der Einbildungskraft fanden wir, dass sie namentlich durch Bilder erregt wird. Diese Bilder stehen einem nicht immer zur Verfügung, aber man kann sie durch geschickte Anwendung von Worten und Redewendungen hervorrufen. Werden sie kunstgerecht angewandt, so besitzen sie wirklich eine geheimnisvolle

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Hier wird an Traditionen des alten Schottland erinnert und die arische Einheit beschworen. Eine der Säulen der Le Bon’schen Theorie bildet, nebenbei bemerkt, der Begriff der Rasse, einer biologisch verankerten Disposition, die »alles Fühlen und Denken der Menschen beherrscht«. Ebd., S. 56.

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Macht, die ihnen einst die Adepten der Magie zuschrieben. Sie rufen in der Massenseele die furchtbarsten Stürme hervor und können sie auch besänftigen.«43 Der Regisseur ersinnt eine mit psychodynamischen Prozessen verklammerte Logik des Kinos, die auf dem Boden der pervertierten Differenz zwischen Gut und Böse errichtet ist. Über eine stetige Konfrontation von Szenen, in der beide Instanzen gegeneinander ausgespielt werden, veranlasst er den Zuschauer, ein symbiotisches Begehren zu entwickeln beziehungsweise freizusetzen. Je nach Interesse positioniert sich der Zuschauer auf Seiten der Täter oder der Opfer. Aufgrund des stetigen Wechsels von Situationen und Schauplätzen können die Übergänge von einer zur anderen Position rasch und abrupt vollzogen werden, ohne dass das zwecksetzende Bewusstsein ins Spiel treten würde. Le Bon hatte auch diese Prozesse in seiner Massenpsychologie thematisiert: »Nichts ist also bei den Massen vor bedacht. Sie können unter dem Einfluss von Augenblicksreizen die ganze Folge der entgegen gesetzten Gefühle durchlaufen. Sie gleichen den Blättern, die der Sturm aufwirbelt, nach allen Richtungen verstreut und wieder fallen lässt. […] Unter dem Einfluss einer der verschiedenen in ihrem Verstand aufgespeicherten Ideen folgt die Masse dem Zufall des Augenblicks und wird infolgedessen die verschiedenartigsten Taten begehen.«44 In der rhythmischen Aufeinanderfolge unterschiedlicher Hinsichten liegt eine Quelle für hypnotische Zustände, die sich auf Seiten des Rezipienten einstellen und für ihn zu einem Gegenstand des Begehrens aufsteigen, denn sie eröffnen ihm die Möglichkeit, aus den Grenzen des alltäglichen Daseins herauszutreten und ein anderer zu werden. Griffith, der das Kino als Massenmedium begreift, liefert dem Publikum Perspektiven einer innerweltlichen Erlösung auf Kosten der sozial exkludierten Gruppe der Afroamerikaner; die Wahrheit über das Reale bleibt dabei auf der Strecke. Der Masse, so hatte Le Bon bemerkt, mangele es an der Fähigkeit, zwischen Wahrheit und Fiktion zu unterscheiden, denn Unwahrheiten würden unter bestimmten Bedingungen rasch als Wahrheiten wahrgenommen werden. So hätten etwa die Kreuzfahrer nur aufgrund eines sich verbreitenden Gerüchts die Gestalt des Heiligen Georg auf den Mauern Jerusalems gesehen.45 Es ist sicher kein Zufall, dass Griffith am Ende seines Films einen mit einem Schwert bewaffneten, von einer größeren Gruppe von Personen umgebenen Reiter präsentiert, der sich nach einer gewissen Zeit in Nichts aufzulösen beginnt. Nachdem an seiner Stelle Christus erschienen ist, eröffnet sich für Ben Cameron und 43 44 45

Ebd., S. 98. Ebd., S. 42 u. 63. »Bevor der heilige Georg allen Kreuzfahrern auf den Mauern von Jerusalem erschien, war er sicher zuerst nur von einem von ihnen wahrgenommen worden. Durch die Beeinflussung und Übertragung wurde das gemeldete Wunder sofort von allen angenommen.« Ebd., S. 45.

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die gerettete Elsie Stoneman der Blick auf eine Idealstadt, in der unschwer das himmlische Jerusalem zu erkennen ist. Le Bon lieferte mit seiner Abhandlung eine hellsichtige Diagnose, die von der folgenden Psychologie und Gesellschaftstheorie – unter anderem durch Sigmund Freud – aufgegriffen wurde. Griffith macht sich entsprechende Einsichten in die Dynamik der Kollektivseele zu eigen, um seinem Werk eine breite Massenwirksamkeit zu verschaffen. Er hat in jedem Fall verstanden, dass der Film ein ideales Medium für Techniken der strategischen Manipulation des Subjekts beziehungsweise der Gesellschaft darstellt. Die kritische Auseinandersetzung mit The Birth of a Nation darf nicht bei dem hier hervortretenden Bild der Afroamerikaner stehenbleiben, sondern hat zugleich die auf entsprechende psycho-physische Prozesse des Subjekts zugeschnittene Syntax des Films ins Auge zu fassen. Falsch wäre es, lediglich die moralischen Entgleisungen des Werks anzuprangern und dennoch an den angeblich avancierten ästhetischen Verfahren desselben festzuhalten. Georg Seeßlen hat mit Recht von einer Fehlgeburt des Mediums gesprochen.46 Es hat vielfach an kritischer Distanz im Hinblick auf die filmästhetischen Praktiken dieses Werks gefehlt. Allenthalben finden sich Strategien, die an Strukturen dieses Films anknüpfen und damit auf die Produktion oder Reproduktion der symbiotischen Mechanismen setzen. Unter den Erben von The Birth of a Nation finden sich Schöpfungen wie Alien oder Star Wars, in denen es stets um den Kampf des angeblich Guten gegen die Mächte der Finsternis geht. In den für das Kinderzimmer entwickelten Jedi-Rittern stehen nicht mehr die gesellschaftlich perhorreszierten Afroamerikaner im Fokus, sondern die Repräsentanten der dunklen Kraft, gegen die die Berufenen mit Laserschwertern zu Felde ziehen. Ohne das Böse läuft nichts und wenn es an einem solchen fehlt, muss es ersonnen werden. Die Filmindustrie demonstriert dabei eine unerschöpfliche Erfindungsgabe. Alien zeigt sich für ein entsprechend interessiertes Publikum als Glücksfall, denn die monströsen, klebrigen Organismen sind kaum aus der Welt zu schaffen; wer glaubt, sie vernichtet zu haben, erkennt irgendwann, dass sie nur temporär aus dem Blickfeld verschwunden sind.

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»David W. Griffith hat hier vielleicht zum ersten Mal nicht nur die Kamera, sondern das Kino gehandhabt. Eine Bildergleichung ist aufgemacht zwischen story und history. Und schon war alles, während es überwältigend und neu war, falsch und vergiftet. Nicht nur die rassistische Aussage, nicht nur die melodramatische Montage, die zu Identifikation und Abwehr zwingt, nicht nur das pathetische Bild einer geschlossenen Komposition. Sondern einfach wirklich: alles. Das Kino an sich.« Georg Seeßlen: Fehlgeburt eines Mediums, in: Jungle World (https://ju ngle.world/artikel/2008/36/fehlgeburt-eines-mediums, 5.12.2022).

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III. Betrachtet man die Entwicklung des Films, so zeigt sich ein sukzessive sich verstärkendes Interesse an Darstellungen der Gewalt, nicht nur an ihren Ursachen, Zielen oder Effekten, sondern vor allem auch an ihren konkreten, raum-zeitlichen Abläufen. Im Fokus stehen Profile und Strukturen von Prozessen der Vernichtung, das heißt die je spezifische Physiognomie von Akten der Destruktion. Aufgrund seiner Nähe zu bestimmten Formen der Malerei bleibt der Film von Griffith in der Darstellung physischer Gewalt moderat; der Regisseur zeigt ein Interesse an ästhetischer Stilisierung, die das Grauen abfedert. Was auf ihn folgt, lässt sich als ein Prozess fortschreitender Entsublimierung bezeichnen. Man braucht nur auf die Geschichte des Westerns zu blicken, um zu erkennen, in welcher Weise sich der Umgang mit Destruktionsprozessen in bewegten Bildern im Laufe der Jahrzehnte verändert hat. Sergio Leones Film Für ein paar Dollar mehr aus dem Jahre 1965, der dem Genre des in Europa produzierten Italowestern angehört, bietet ein Beispiel einer fortgeschrittenen Entwicklung, in der die Tabus bei der Darstellung entsprechender Akte zunehmend gelockert werden.47 Auch hier geht es um den Kampf gegen dunkle Mächte, in diesem Fall um steckbrieflich gesuchte Kriminelle, die in entsprechender Weise charakterisiert werden. Im Zentrum der Handlung stehen zwei Kopfgeldjäger, Colonel Douglas Mortimer (Lee van Cleef) und Monco (Clint Eastwood), die angesichts der Überzahl der Delinquenten entgegen ihrer Gewohnheit, stets allein zu agieren, in ein kooperatives Verhältnis eintreten. Der Italowestern, so wurde gesagt, habe die durch den klassischen U.S.Amerikanischen Western produzierten Illusionen über die Siedler und Pioniere des 19. Jahrhunderts effektiv destruiert; an Stelle eines realitätsfremden Romantizismus, in welchem moralisch integre Helden ebenso saubere Ziele verfolgen, entwerfe er eine filmische Welt, die den im Fokus stehenden historischen Verhältnissen eher gerecht werde.48 In einer Zeit, in der der alte amerikanische Traum seine Glaubwürdigkeit eingebüßt habe, verfolge sein italienisches Pendent ein Programm der Entmythifizierung, man könnte auch sagen der Aufklärung mit

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Vergl. Ulrich P. Bruckner:Für ein paar Leichen mehr. Der Italo-Western von seinen Anfängen bis heute, Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2002, S. 34ff.; Uwe Killing: Dreckige Spaghetti. Die glorreiche Geschichte des Italo-Western, Höfen: Hannibal 2013. »Der Italowestern«, so erklärt Hans-Christoph Blumenberg, »hat die ›good old times‹ der Pioniere, Outlaws und ihrer Heldentaten konsequent jener schönen Mythisierung entkleidet, die schon Ende des 19. Jahrhunderts in dem pseudohistorischen Werk ›The Winning oft the West‹ des späteren Präsidenten Roosevelt ihren ersten Höhepunkt fand und von Hollywood weitergeführt wurde.« Der italienische Western – ein Fazit nach sechs Jahren, in: Studienkreis Film (Hg.): Um sie weht der Hauch des Todes. Der Italowestern – die Geschichte eines Genres. Zweite erweiterte Auflage, Bochum: Schnitt 1999, S. 9.

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filmischen Mitteln.49 Kennzeichnend für zahlreiche Filme sei die Verabschiedung der zuvor maßgeblichen Distinktion zwischen Gut und Böse. Im Zentrum des Geschehens stünden nun Helden, die genau besehen keine Helden mehr seien, weil sich in deren Handlungen kaum noch moralische Wertbindungen ausmachen ließen, denn sie folgten nur noch eigenen Interessen, stets bereit, diese Interessen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen.50 In der kompromisslosen Schilderung des Zusammenbruchs einer Welt mit menschlichen Zügen läge, so heißt es, die Authentizität der Beiträge des Genres; die Filme sprächen die Wahrheit, indem sie ostentativ auf die Täuschungsmanöver ihrer Vorgänger verzichteten. Der Theologe und Filmwissenschaftler Michael Striss führt derartige Überlegungen weiter und spricht im Hinblick auf die Welt der Italowestern gar von einer biblischen Anthropologie. Die Filme träfen sich mit der Botschaft der Heiligen Schrift, die keineswegs, wie es eine landläufige Deutung möchte, ein optimistisches, sondern ein nüchternes und desillusionierendes Bild vom Menschen zeichne.51 Richtungsweisend sei die Geschichte vom Sündenfall, in welchem der Mensch eine größtmögliche Autonomie gegenüber Gott einforderte und damit vom rechten Weg abgekommen sei; seither würde er nur noch seinem Egoismus frönen und die legitimen Bedürfnisse seiner Mitmenschen gering achten: »Der Protagonist des Italowestern«, so der Autor, »ist eine vortreffliche Illustration dieser Existenz nach der Vertreibung aus dem Paradies: Der Mensch lebt nun den Überlebenskampf innerhalb einer gefallenen Schöpfung.«52 So würde sich der Italowestern keineswegs, wie vielfach behauptet, von den Lehren des Christentums verabschieden; er wende sich lediglich gegen ihre puritanischen beziehungsweise calvinistischen Varianten, die für den klassischen Hollywood-Western richtungsweisend seien. Die dort regierende Distinktion zwischen Gut und Böse sei lediglich Ausdruck der theologisch fragwürdigen Lehre von der doppelten Prädestination, der zufolge der Erlösungsstatus des Subjekts von Beginn an feststehe; gute und böse Individuen würden sich deshalb zweifelsfrei voneinander unterscheiden lassen.53 Der Italo-

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So auch Brigitte Desalm: El Cigarillo. Die Dollar-Trilogie, in: ebd., S. 29-39. Ebd., S. 29. »Wo aber ist dann der moralisch indifferente Antiheld aus Italien theologisch zu verorten? Hier lässt sich sagen: Er verkörpert wie keine andere Gestalt eines Genrefilms eine tatsächlich biblische Anthropologie […]. Was die Beschaffenheit des Menschen betrifft, zeichnet die Bibel durchgehend ein nüchternes und desillusionierendes, gleichwohl aber realistisches Bild.« Michael Striss: Gnade spricht Gott – Amen mein Colt. Motive, Symbolik und religiöse Bezüge des Italowestern, Marburg: Büchner 2018, S. 63f. Ebd., S. 64. »Könnte es sein, dass die Lehre von der doppelten Prädestination in einem ursächlichen Zusammenhang steht mit der im klassischen US-Western viel deutlicher als im Italowestern vorgenommenen Einteilung von Gut und Böse, der klareren Abgrenzung von Helden und Schurken?« Ebd., S. 62f.

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western, für den eine elementare Skepsis gegenüber dem Menschen und seiner Geschichte kennzeichnend sei, eröffne dagegen eine substantiellere Sicht auf die biblische Lehre. Wegweisend seien neben dem Katholizismus Einsichten aus der Theologie Luthers, die eine von irrigen Vorstellungen gereinigte Perspektive auf das menschliche Dasein bieten würden.54

Abb. 31, Filmstill aus: Sergio Leone, Für ein paar Dollar mehr.

Man kann in dem Film Für ein paar Dollar mehr zweifellos Strategien der Destruktion alter U.S.-Amerikanischer Mythen ausmachen; man kann in ihm ebenso Spuren einer biblischen Lehre vom gestürzten Menschen auffinden. Ob er damit allerdings als Sachwalter des Erbes der Aufklärung beziehungsweise der christlichen Theologie auftreten kann, steht auf einem anderen Blatt. Genau besehen zeigt der Film ein mehrdeutiges, widersprüchliches, geradezu paradoxes Profil. Man hat es mit einer spezifischen Strategie zu tun, die keineswegs eine kohärente und eindeutige Botschaft vermitteln möchte, sondern unterschiedlichsten Interessen und Bedürfnissen gleichermaßen entgegenkommt. Bemerkenswert ist bereits die Szene am Anfang der Geschichte, in welcher der mit der Eisenbahn anreisende Mortimer als Leser der Heiligen Schrift präsentiert wird; mit Blick auf die seriöse Erscheinung des Herrn glaubt ein weiterer Fahrgast gar, einen Geistlichen vor sich zu haben. Der Regisseur, der den Kopfgeldjäger hier als gläubigen Christen präsentiert, eröffnet in anderen Sequenzen des Films eine gänzlich andere Perspektive auf das Verhältnis des Protagonisten zur Theologie. Bedeutsam ist hier jene Szene, in der sich die Hauptfiguren zum ersten Mal – zunächst als Konkurrenten – auf 54

Ebd., S. 568ff.

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Abb. 32, Filmstill aus: Sergio Leone, Für ein paar Dollar mehr.

Abb. 33, Filmstill aus: Sergio Leone, Für ein paar Dollar mehr.

der Straße jenes Orts begegnen, in dem sie Quartier bezogen haben (Abb. 31-33). Nachdem sich beide idiosynkratisch beäugt und symbolisch gedemütigt haben, versetzt Monco dem ihm gegenüberstehenden Mortimer einen Schlag ins Gesicht, so dass derselbe zu Boden stürzt; der ihm dabei vom Kopf fliegende Hut bleibt in einer gewissen Distanz auf dem staubigen Boden liegen. Anstatt direkt auf diesen

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Angriff zu reagieren steht der Gestürzte auf und begibt sich in gelassenen Bewegungen zu seiner Kopfbedeckung, um sie vom Boden aufzuheben. Doch bevor er diese Absicht umsetzen kann, zieht Monco seinen Revolver und befördert den Hut mit einem Schuss außer Reichweite; von der Kugel getroffen, fliegt das Objekt ein Stück weit davon. Mortimer macht sich erneut auf den Weg, um seinen Hut aufzuheben, was von Monco mit derselben Aktion wie zuvor beantwortet wird. Dies wiederholt sich mehrere Male, bis die Distanz für den Schützen offenbar zu groß geworden ist, um das Objekt sicher treffen zu können. Mortimer, der sich jetzt seiner Kopfbedeckung bemächtigen kann, nimmt nun selbst die Gelegenheit wahr, seine Fähigkeiten im Umgang mit dem Revolver unter Beweis zu stellen: Ungeachtet der erheblichen Distanz, in der er sich inzwischen befindet, schießt er seinem regungslos dastehenden Gegenüber den Hut vom Kopf. Noch bevor das getroffene Objekt jedoch zur Erde sinken kann, gibt er weitere Schüsse auf dasselbe ab, so dass es im freien Raum oberhalb von Moncos Kopf zu tanzen scheint, bis der Schütze dem Theater ein Ende setzt, ohne ein einziges Mal danebengeschossen zu haben. Im Anschluss an diese Begegnung auf der nächtlichen Straße machen sich die beiden Kontrahenten in einem Hotelzimmer untereinander bekannt; das Eis ist gebrochen, man entdeckt wechselseitige Sympathien; am Ende einigt man sich, gemeinsam der steckbrieflich gesuchten Bande El Indios nachzustellen. Was lässt sich der skurrilen Konfrontation der beiden Kopfgeldjäger im Hinblick auf das Verhältnis des Films zur Theologie und Religion entnehmen? Zelebriert wird die Unerschrockenheit zweier mit der Waffe virtuos hantierender Individuen, die ihre eigenen Ziele unbeirrt zu verfolgen wissen und mögliche Risiken dabei ungerührt auf sich nehmen. Im Vordergrund steht zunächst – wie so oft in diesem Genre – die Coolness von Revolverhelden. Doch unterhalb dieser manifesten Botschaft lässt sich eine weitere Sinnschicht, ein Subtext mit anderen Implikationen ausmachen; man muss nur den für das Genre ungewöhnlichen Verlauf des Duells ins Auge fassen. Das artifizielle Spiel der Schützen mit ihren Kopfbedeckungen erinnert an die Welt des Varietés. Obwohl bei der Betrachtung der Szene sofort deutlich ist, dass die Bewegungen der Hüte durch die Kugeln der Revolver verursacht wurden, behält deren Flugverhalten dennoch etwas Okkultes. Monco und Mortimer präsentieren sich in der Rolle von Magiern, von ruhig und gelassen vorgehenden Zauberkünstlern, die ihrem Publikum suggerieren, über verborgene Kompetenzen zu verfügen. Man kann dieser Filmsequenz einen Kommentar über die Wirkungsweise kinematographischer Bilder entnehmen. Im Kontrast zu den im Duell in Anspruch genommenen Gesetzen der Physik demonstriert der Film, dass im Raum der bewegten Bilder immer auch Prozesse im Spiel sind, die der Logik des mechanischen Weltbildes zuwiderlaufen. Kaum zufällig findet die Begegnung der Kontrahenten zu nächtlicher Stunde statt, zu einer Zeit also, die eher dem Schlaf und dem Traum als den Zuständen der wachen Vernunft korrespondiert. Moncos Kopfbedeckung tanzt vor dem lichtlosen Himmel, der die Szene wie

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ein unauslotbarer Abgrund überwölbt. Der Regisseur gibt Anlass, über die ästhetischen und psychodynamischen Implikationen des Einsatzes von Schusswaffen in bewegten Bildern nachzudenken. Zunächst ist auf einen elementaren Tatbestand hinzuweisen: Aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit sind die fliegenden Projektile der Revolver für das menschliche Auge unsichtbar, dabei zugleich von höchster Effizienz, vor allem wenn es um lebende Ziele geht, denn im Einzelfall bringen sie den sicheren Tod. Der Mensch stößt hier jedoch nicht nur an Grenzen seines sinnlichen Wahrnehmungsvermögens, sondern zugleich an Grenzen seiner leiblichen Reaktionsfähigkeit, denn selbst in Fällen, in denen ein im Visier Stehender die Bahn einer ihm geltenden Kugel voraussehen kann, ist es für eine ausweichende Bewegung oft schon zu spät. Mit den pulvergetriebenen Geschossen hält nicht nur eine bis dahin unbekannte Differenz zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren Einzug in den Raum der Erfahrung, mit der Geschwindigkeit der Projektile wandelt sich zugleich die Logik der Zeit: Die Waffen treffen plötzlich und vielfach unvorhersehbar. Zwar fungiert der Mensch in der Rolle des Schützen nach wie vor als treibender Faktor, denn er hat den Finger am Abzug, doch seine Position im Geschehen eines Kampfes erleidet eine signifikante Ab- oder Entwertung, denn er ist weder mit seinen Wahrnehmungskräften, noch mit seinen motorischen Fähigkeiten den Potentialen der neuen Technologie gewachsen. Neue Herren haben gleichsam das Schlachtfeld betreten, denen das Subjekt kaum noch etwas Adäquates entgegenzusetzen hat. Hier vollzieht sich ein Prozess, den Günther Anders in exemplarischer Weise analysiert hat, das Hinauswachsen eines Artefakts über seinen Erzeuger, eine Verlagerung des Gewichts vom Schöpfer auf sein Werk, die eine durch den Autor so genannte prometheische Scham zur Folge hat.55 Der Eintritt des Subjekts in die Welt moderner Schusswaffen und die damit einhergehende Erfahrung eigener Grenzen lässt an ein bestimmtes Verhältnis in der christlichen Theologie denken: Gott-Vater ist der Wahrnehmungswelt transzendent, seine überwirkliche Existenz entzieht sich der sinnlichen Anschauung; allein Christus, der Sohn, offenbart sich in sinnlich wahrnehmbarer Gestalt. Raum und Zeit nicht unterworfen, verfügt der Weltschöpfer zugleich über die Fähigkeit, direkt und ohne jede zeitliche Verzögerung in das weltliche Geschehen einzugreifen, im Einzelfall um dem Leben des Menschen ein Ende zu setzen. In entstellter

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In seinem Buch Die Antiquiertheit des Menschen zitiert Günther Anders eine Eintragung aus seinem eigenen Tagebuch: »Glaube, heute Vormittag einem neuen Pudendum auf die Spur gekommen zu sein; einem Scham-Motiv, das es in der Vergangenheit nicht gegeben hat. Ich nenne es vorerst für mich ›Prometheische Scham‹; und verstehe darunter die ›Scham vor der ›beschämend‹ hohen Qualität der selbstgemachten Dinge‹.« Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: C.H. Beck 1994, S. 23.

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Form reproduzieren sich diese Eigenschaften Gottes im Gebrauch entsprechender Schusswaffen. Das fliegende Projektil, das für das Auge prinzipiell unsichtbar bleibt und das Subjekt unvorhergesehen zu treffen vermag, bildet ein Analogon, man könnte auch sagen einen innerweltlichen Ersatz für das Sein und die Handlungsmacht des verschwundenen oder sich entziehenden Gottes. Vor allem der Film bildet ein geeignetes Medium für die Synthese zwischen dem bereits in der Malerei hervortretenden Kult der Kraft, der an das mechanistische Denken der Physik anschließt, und einer säkularen Theologie, in der das Motiv einer übersinnlichen Wirklichkeit in depotenzierter Form weiterexistiert. Aufgrund ihrer Geschwindigkeit liefert die fliegende Kugel dem Subjekt ein Exempel geballter, wie durch transzendente Mächte ausgelöster Wirkungen. Den bewegten Bildern des Films eignet die Fähigkeit, Kraft als ein essentiell bewegtes, dabei zugleich mit magischen Implikationen auftretendes Ereignis spürbar zu machen, begonnen mit der Explosion des Pulvers bis hin zum Einschlagen des Projektils. Monco und Mortimer fungieren als Virtuosen der Freisetzung oder – wenn man die religiösen Implikationen der Darstellungen weiterverfolgen möchte – als Priester kinetischer Energie. Sie agieren dabei nicht im Horizont der Verheißung eines ewigen Lebens, sondern besetzen die Rolle von Todesbringern. Mortimers Name ist bereits Programm, denn er verbindet das italienische Wort Morte (Tod) und das englische Wort timer (unter anderem der Ausdruck für Stopp- oder Sanduhr); er ist ein Ahnvater des späteren Terminator. Monco transportiert – wie der personifizierte Tod in mittelalterlichen Darstellungen – die zur Strecke gebrachten Gauner auf einem klapprigen Wagen zur nächsten Polizeistation, um die Kopfgelder einzustreichen. Die Prozesse der Kraft beziehungsweise deren Folgen treten im Film nicht als neutrale physikalische Ereignisse in Erscheinung, sondern entwickeln eine spezifische Aura, die die Aufmerksamkeit des Zuschauers in bestimmter Weise zu fesseln vermag. Hier kann das von Kierkegaard beschriebene Begehren des Selbst anknüpfen, die eigene, als defizitär empfundene Identität abzustreifen und ein anderer zu werden.56 Die Selbstflucht mündet in eine psycho-physische Dynamik, in der das Subjekt zwischen zwei Extremen hin- und hergetrieben wird. Auf der einen Seite fungiert das Projektil als Medium eines Selbst, das sich als frei, unabhängig und machtvoll imaginiert; auf der anderen Seite mobilisiert es Neigungen zur passiven, leidensbereiten Hingabe, die mit dem Ziel verknüpft ist, dem eigenen Verschwinden näherzukommen. In beiden Fällen bildet der Tod – wenn auch aus unterschiedlicher Perspektive – den Fluchtpunkt des Begehrens. Hier sei noch einmal an Erich Fromm erinnert, der mit Blick auf den symbiotischen Komplex von einem ständigen Schwingungszustand zwischen den unterschiedlichen Impulsen sprach und feststellte, dass es »oft schwerfällt zu entscheiden, welche Seite in einem bestimmten Augenblick am Werk ist«, denn die Extreme gingen beständig 56

Vergl. Kap 3 der vorliegenden Arbeit.

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ineinander über.57 Wo die geschossene Kugel die Position Gottes ersetzt hat, kreist das Subjekt zwanghaft um das Phantasma des Sterbens, stetig zwischen der Täterund der Opferrolle hin- und hergeworfen; noch das Springen zwischen diesen Extremen stellt sich als Quelle der Befriedigung dar. In der Wahrnehmung entsprechender medialer Offerten konstituiert sich ein heterogenes Gefüge von Bedürfnislagen, die jeden Versuch einer produktiven Identitätsbildung vereiteln. Der zum Fetisch erhobene Tod unterhält zugleich Beziehungen zu bestimmten Formen des sexuellen Begehrens. Bereits in der Kunst des Barock findet sich, wie Philippe Ariès bemerkte, die Verbindung von Eros und Thanatos. Gewalt, vor allem dort, wo sie tödlich ende, bildete hier nicht selten den Gegenstand einer Erregung, deren erotische Natur offensichtlich sei.58 Auf dem Boden einer fortschreitenden Entsublimierung der Darstellungen von Gewalt wird das mit diesen Darstellungen verkoppelte Begehren sukzessive sexualisiert. Sergio Leones Für ein paar Dollar mehr macht keine Ausnahme; im Gegenteil, die hier vorherrschenden Inszenierungspraktiken können als wegweisend gelten. Werner Kließ stellte fest, der Regisseur präsentiere eine »Erotik des Kugelabtauschs«, den »Revolverkampf als Liebesakt« und vermutete, dass dies auch im älteren Western bereits gängige Praxis war.59 Unübersehbar sind die homoerotischen Implikationen des Duells zwischen Monco und Mortimer, der kunstvolle Umgang mit den Hüten, deren phallische Bedeutung nicht eigens erklärt werden muss. Mit dem mobilisierten sexuellen Begehren gewinnt die Rezeption der Bilder eine zusätzliche Affektquelle, welche die Ausbildung eines entsprechenden Suchtverhaltens begünstigt: Ein Schuss ist kein Schuss; es bedarf der Wiederholung, einer Serie von Destruktionsakten, der Repetition des immer Gleichen. Ihren symbolischen Ausdruck findet diese Praxis in den mit Munition gefüllten Patronengurten, die die Protagonisten wie Fetische am Körper tragen. Der Regisseur hat nicht nur der visuellen, sondern auch der auditiven Seite seines Werks höchste Aufmerksamkeit zukommen lassen. Dies gilt bereits für die Schussgeräusche der Waffen, die nicht als kurze, punktuelle Ereignisse, sondern als akustische Sequenzen von teils erheblicher zeitlicher Ausdehnung präsentiert werden; man kann geradezu von einer kompositorischen Behandlung des explodierenden Pulvers, der Ausbreitung und Streuung des Schalls sowie seiner vielfältigen Reflexe sprechen. Kaum zufällig finden diese Phänomene Eingang in Ennio 57 58

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Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, S. 119. »Die Gewaltsamkeiten«, so sagt der Autor, »erregen die Zuschauer und wühlen elementare Kräfte auf, deren sexuelle Natur heute offensichtlich ist.« »Die Verwechslung von Tod und Wollust geht so weit, daß jener das Hochgefühl nicht unterbricht, sondern im Gegenteil noch steigert.« Philippe Ariès: Geschichte des Todes, S. 475 u. 476. Ariès geht von der Einsicht aus, dass sich diese Entwicklung bereits im 16. Jahrhundert abzeichnete, allerdings zu dieser Zeit noch nicht in der Deutlichkeit hervortrat, wie dies später im Barock der Fall ist. Ebd., S. 472. Werner Kließ: das Ritual des Schießens, in Film 06/1966; abgedruckt in: Ulrich P. Bruckner, Für ein paar Leichen mehr, S. 38f.

5. Die Ordnung und ihre Zersetzung

Morricones Partitur, der die Musik für diesen Film komponierte. Die modellierten Geräusche fördern die Verkoppelung zwischen den psycho-physischen Aktivitäten des Subjekts und dem Geschehen auf der Leinwand.60 Diesen Verhältnissen korrespondiert ein in bestimmter Weise strukturierter Wahrnehmungsraum. Bereits das Eingangsbild des Films kann als programmatisch gelten. Der Zuschauer blickt in eine wüstenartige Landschaft, in der in einiger Entfernung ein Reiter sichtbar ist, der langsam näher kommt, während man eine selbst nicht sichtbare Person summend und pfeifend mit einer Waffe hantieren hört. Plötzlich wird der Reiter von seinem Pferd geschossen, um auf dem Boden liegen zu bleiben; eine weitere Salve vertreibt das erschreckte Pferd vom Schauplatz des Ereignisses. Inzwischen hat die Filmmusik eingesetzt, in der sich die Klänge unterschiedlicher Instrumente mit gepfiffenen und gesungenen Sequenzen sowie Gewehrschüssen und Tönen einer Glocke zu einer abgründigen Melange verbinden, die den atmosphärischen Rahmen des Kommenden aufspannt. Der Regisseur definiert den Raum als Anwendungsfeld der Fernwaffe und gibt ihm zugleich ein Zentrum im Auge beziehungsweise im Leib des Rezipienten, der sich auf diese Weise in einen Teilnehmer des Geschehens verwandelt sieht. Tintoretto hatte in seiner Schlacht am Taro Entsprechendes vorweggenommen (Abb. 3). Räumliche Strukturen resultieren auch dort aus einer Verbindung zwischen den Prozessen fixierender Beobachtung auf der einen und tatsächlichen oder möglichen Bewegungsbahnen von Geschossen oder Akteuren auf der anderen Seite. Man kann von einer Topologie riskanter Verwicklungen sprechen, die dem Subjekt ein selektives Wahrnehmungsverhalten abnötigen und einen offenen, kontemplativen Zugang zum Realen verweigern. Im Sinne des hodologischen Raums von Kurt Lewin hat man es mit einem Gefüge von Wegen, Vektoren und Richtungslinien zu tun, in dem jeder Ort sowohl Ausgang als auch Ziel möglicher Angriffe werden kann.61 Wer sich als Schütze exponiert, muss mit einer seinem Verhalten angemessenen Antwort rechnen; er begibt sich selbst in Gefahr. Derjenige, der Gewalt professionalisiert – wie die zentralen Figuren des Films – kommt kaum umhin, selbst noch den Risiken, die er heraufbeschwört, Sinn und Befriedigung abzugewinnen. Dies ist die unausgesprochene Voraussetzung der Coolness der Kopfgeldjäger, denn ihre Passion, steckbrieflich gesuchte Verbrecher zur Strecke zu bringen, ist ohne die Lust, dem eigenen Tod ins Auge

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Hier sei noch einmal an die Einsicht Helmuth Plessners erinnert, dass den Tönen der Musik bestimmte Lagen, das heißt Haltungen im phänomenalen Leibesraum korrespondieren. Vergl.: Die Einheit der Sinne, in: Anthropologie der Sinne, S. 233ff. Kurt Lewin: Der Richtungsbegriff in der Psychologie. Der spezielle und allgemeine hodologische Raum, in: Psychologische Forschung, 19/3-4 (1934), S 264ff. Vergl. auch Stephan Günzel: Stichwort »Hodologie« in: ders. (Hg.), Lexikon der Raumphilosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012, S. 176.

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zu sehen, kaum durchzuhalten. Am Ende ist es der psycho-physisch involvierte Zuschauer, der nicht nur das offensive Verhalten, sondern die Risiken der Akteure zur eigenen Sache macht. Er folgt dem Interesse an der Wirkungskraft der Geschosse, die er in doppelter Weise besetzt; ihm begegnet der Film als ein magisches Feld, dessen Energien in den wechselnden Konstellationen des symbiotischen Komplexes fundiert sind. Sofern sich Leones Film dem Kult der Kraft verschreibt, scheitert er im Hinblick auf eine kritische Strategie, die Welt des alten Western konsequent zu entmythisieren; gleichwohl lassen sich in ihm durchaus gewisse aufklärerische Impulse ausmachen. Entscheidend sind dabei die Hauptfiguren, Monco und Mortimer. Die ostentative Coolness, mit der beide auftreten, ist ein Kunstprodukt des Kinos, Resultat der Konstruktion eines bloßen Phantasmas, das mit realen Gegebenheiten und Verhältnissen wenig gemein hat.62 Mit dem kalt-beobachtenden Blick, mit dem sich die Logik der Kraft ins Gesicht einzeichnet, präsentiert sich das Subjekt als uneinnehmbare Festung, ausgestattet mit dem Willen und den Instrumenten, jeden Gegner niederzuwerfen. Gezielt überzieht die Inszenierung die heroischen Eigenschaften der Protagonisten, so dass sie sich fast in Karikaturen ihrer selbst verwandeln. Mit Recht ist von Manierismen der Darstellung gesprochen worden, von Formen der Stilisierung, die den artifiziellen Charakter des Dargebotenen ins Bewusstsein heben. Wo an Stelle authentischer Akteure bloße Charakterhülsen auftreten, ist der Zuschauer aufgerufen, in Prozesse der Reflexion über Sinn und Geltung des Gebotenen einzutreten. Im Grunde, so könnte man glauben, seien mit der auf diese Weise vollzogenen Demontage des alten Heldenbildes die Bedingungen für eine nüchterne und desillusionierte Wahrnehmung des Ganzen erfüllt; mit dem offengelegten Trug müsste sich auch der Zauber der Protagonisten verflüchtige. Doch der Film beziehungsweise seine Rezeption belehrt eines anderen: So sehr sich die Akteure als wirklichkeitsferne Kunstprodukte darstellen, so sehr heizen sie das Interesse des Zuschauers an. Das Charisma, das sie dabei entwickeln, überbietet gar jenen Nimbus, den die Helden des alten U.S.-Amerikanischen Western mit sich führten. Man ist mit der paradoxen Tatsache konfrontiert, dass eine Bewegung der Reflexion, die sich des trügerischen Charakters eines Phänomens vergewissert, keineswegs in die Bereitschaft einmünden muss, diesem Phänomen die Gefolgschaft zu verweigern. Entscheidend für Leones kinematographisches Verfahren ist nicht nur das Bekenntnis zur Logik der Kraft, sondern zugleich zur Logik

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Zum Begriff der Coolness vergl. z.B. Josef Früchtl: Helden stellen Helden dar. Coole Typen im Kino, in: Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus (Hg.), Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, Berlin: De Gruyter 2004, S. 575-591.

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des Scheins beziehungsweise zur Ästhetik der substanzlosen Oberfläche.63 Implizit demonstriert er, dass an die Stelle des traditionellen Helden durchaus ein entkerntes Phantasma treten kann, ohne dass die offerierten Bilder an magischer Kraft einbüßen müssten. Bekannt sind derartige Verhältnisse bereits aus der Malerei des späten Barock. Entsprechende Werke des 18. Jahrhunderts führen vor, in welchem Maße die von allen Tiefenillusionen gereinigten Oberflächen der Erscheinungswelt ein aufnahmebereites Subjekt zu affizieren vermögen. Später hat Friedrich Nietzsche die Potentiale des Scheins ins Zentrum seiner philosophischen Reflexionen gerückt.64 Auf dem Boden seines Programms eines umgedrehten Platonismus gewinnen die Kräfte der Täuschung eine zentrale Bedeutung für ein von der Theologie und Metaphysik sich verabschiedendes Subjekt. In einem Aphorismus der fröhlichen Wissenschaft stellt er die rhetorische Frage: »Was ist mir jetzt ›Schein‹!« und antwortet: »Wahrlich nicht der Gegensatz irgend eines Wesens, – was weiss ich von irgend welchem Wesen auszusagen, als eben nur die Prädicate seines Scheines! Wahrlich nicht eine todte Maske, die man einem unbekannten X aufsetzen und auch wohl abnehmen könnte! Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber, das soweit in seiner Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, dass hier Schein und Irrlicht und Geistertanz und nichts Mehr ist […].«65 Sergio Leone liefert ein erhellendes Beispiel für diesen Antiplatonismus, der für eine bestimmte Spielart des postmodernen Denkens richtungsweisend geworden ist; er rückt den Geistertanz als solchen in den Blick und tritt den Beweis an, dass Inszenierungen, die sich dem rezipierenden Subjekt explizit als Trugbilder präsentieren, dasselbe sehr wohl essentiell bewegen können. Er schärft zum einen die Aufmerksamkeit für den illusionären Charakter des Gezeigten – bedient also auf diese Weise das Programm der Aufklärung – und nimmt zum anderen den reflexiven Impuls zurück, indem er dem Publikum den täuschenden Schein als Ultima ratio kinematographischer Erfahrung offeriert. Man kann von einer spezifischen Art doppelter Codierung sprechen, die das Interesse der Erkenntnis ebenso bedient wie den Willen, kritischem Wissen und seinen Konsequenzen auszuweichen.66 Diese

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Zur Logik der ästhetischen Oberfläche vergl. Hans Zitko: Die verdichtete Haut der Erscheinungen. Zu einer Typologie ästhetischer Oberflächen, in: positionen. Texte zur Musik, 95 (Mai 2013), S. 2-6. Vergl Hans Zitko: Nietzsches Philosophie als Logik der Ambivalenz, Würzburg: Königshausen und Neumann 1991, S. 170ff. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Kritische Studienausgabe, München/Berlin: Deutscher Taschenbuchverlag/De Gruyter 1980, Bd. 3, S. 417. Der Begriff der doppelten Codierung ist bekanntlich im Kontext der Theorie der Postmoderne entwickelt worden.

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Codierung ist von anderer Art als jene Mehrfachcodierung, wie sie Harald Steinwender in seiner Abhandlung über die entsprechenden Filme Leones ins Spiel gebracht hat. Ihm geht es neben divergenten Genrebezügen – Satire oder ernster Western – um Adressaten beziehungsweise Zielgruppen unterschiedlicher Rezeptionskompetenz, die durch den Film gleichermaßen angesprochen werden. Im Hinblick auf die italienische Kultur der sechziger Jahre spricht er von bildungsaffinen Milieus aus dem Norden und weniger gebildeten Schichten aus dem Süden.67 Dass diese Einsichten Geltung besitzen, kann nicht bestritten werden; dennoch ist dem von Steinwender zur Geltung gebrachten Motiv der Mehrfachcodierung eine weitere Variante an die Seite zu stellen: Die divergierenden Perspektiven, die der Film eröffnet, sind nicht lediglich für unterschiedliche Zielgruppen oder Milieus von Bedeutung, sondern zugleich für ein und dieselbe Person. Widerspruchsfreiheit mag im wissenschaftlichen Diskurs eine unabdingbare Notwendigkeit sein, im Hinblick auf die Struktur und Rezeption von Filmen bildet sie nicht mehr als eine gut gemeinte Forderung. Auch der Intellektuelle, der so genannte Cineast, der die Logik des Scheins am ehesten zu durchschauen vermag, ist keineswegs immun gegen die magischen Kräfte der kunstvoll gestalteten Fassaden, im vorliegenden Fall umso weniger, als der Regisseur seinen Protagonisten durchaus sympathische Züge abgewinnt. Der Film rechnet also mit einer ambivalenten Haltung ausnahmslos aller Zuschauer, denn er liefert neben den Reflexionsangeboten deutliche Anreize für die Identifikation sowohl mit den Helden als auch mit der von ihnen verwalteten Logik der Kraft. So stehen die Potentiale des Scheins im Dienste der Gewalt, die unter Bedingungen vorderhand geltender Erkenntnisinteressen umso leichter vom Subjekt Besitz ergreifen kann. Auch hier bewegt sich der Film in einer Nähe zur Philosophie Nietzsches, denn dieser verstand sich nicht nur als Theoretiker

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»[…] Leones Western all’italiana waren im Gegensatz zum durchschnittlichen Italowestern (zumindest Per qualche dollaro in più) auf ein Massenpublikum zugeschnitten, sowohl an das Prima visione- wie auch das Terza visione-Publikum adressiert, also gleichermaßen an bürgerliche wie auch ärmere Bevölkerungsschichten. Dazu mussten sie sehr deutlich mehrfachcodiert sein, sowohl als Satiren oder (eingeschränkt) auch als ernsthafte Western lesbar sein. Im Gegensatz zum Gros der Italowestern konnten sie von einem intellektuellen oder gebildeten Publikum als intelligente Parodien, angefüllt von Filmzitaten, genossen werden und von dem im Wesentlichen an Action interessierten Terza-visione-Publikum ohne diese Metaebene rezipiert werden. Solchermaßen war Eastwoods Charakter für die einen ein Spiel mit Zeichen und Filmzitaten, für die anderen war er eine Identifikationsfigur, in dessen Coolness man seine Allmachtsfantasien projizieren konnte. Hierin spiegeln Leones Filme auch die Zerrissenheit Italiens in einen reichen, gebildeten und industrialisierten Norden und einen armen, agrarischen und weniger gebildeten Süden wider.« Harald Steinwender: Sergio Leone. Es war einmal in Europa, Berlin: Bertz & Fischer 2012, S. 91.

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des Scheins, sondern zugleich als Denker der Kraft, die er jenseits jeder höheren Ordnung ansiedelte.68 Die Coolness der Revolverhelden bildet ein Resultat der von Kierkegaard beschriebenen Praktiken der Selbstflucht, in diesem Fall der Verabsolutierung der Notwendigkeit, begleitet von der Rückbildung des Horizonts des Möglichen.69 Sie suggeriert einen bedingungslosen Determinismus, der auch das Handeln der Akteure bestimmt: Nichts kann die Entschlossenheit der Entschlossenen bremsen, nicht einmal sie selbst, denn sie haben sich in blinde Vollstrecker selbstgesetzter Prinzipien verwandelt. Kierkegaard spricht mit Blick auf derartige Lebensentwürfe von Fatalismus und Spießbürgerlichkeit.70 Voraussetzung dieser Haltungen sind Praktiken der Abpufferung des Selbst, der Aufrichtung einer strikten, auch physisch markierten Differenz von Subjekt und Objekt. Doch der Film bietet zugleich das Kontrastmodell dieser Verhältnisse, denn als Virtuosen der Schusswaffen sind die Kopfgeldjäger vor allem auch daran interessiert, Zuständen der Abpufferung des Selbst ein Ende zu setzen, zunächst selbstverständlich auf Seiten der Gejagten, die durch die in sie eindringenden Geschosse in den Zustand einer Kontinuität des Seins zurückversetzt werden. Als optimal Abgepufferte fungieren die Schützen als Agenten der Herstellung eines porösen, mit seinem Umfeld in innerer Verbindung stehenden Subjekts. Diese doppelte Ausrichtung bildet den Kern ihrer defizitären Interaktionskompetenz, die sich im Grunde auf den Einsatz von Waffen beschränkt: Schießen und erschießen, so dass der andere erschossen werde. Hier ist in der Tat von gestürzten Subjekten zu sprechen, die die Herausbildung einer substantiellen Identität verweigern und deshalb auf falschen Pfaden unterwegs sind. Greift man auf Motive von Helmuth Plessner zurück, so lassen sich die hier vorliegenden Verhältnisse weiter differenzieren. Im Hinblick auf die Selbstdarstellung von Monco und Mortimer kann man an Einsichten anknüpfen, die er in seinem Text Anthropologie des Schauspielers entwickelt hat.71 Rollen zu verkörpern, so heißt es dort, sei in der anthropologisch bedingten Fähigkeit des Menschen fundiert, von sich selbst Abstand zu nehmen und sich verwandeln zu können; im Agieren des Schauspielers würde diese Fähigkeit lediglich in gesteigerter, man könnte auch sagen in idealtypischer Form hervortreten. Eine Rolle zu spielen heiße zugleich, nach einem mehr oder minder festgelegten Entwurf zu agieren: Grundsätzlich sei die Aufmerksamkeit des Darstellers auf ein »Bild gerichtet, das er für den Zuschauer sein 68

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In seiner bereits zitierten Bemerkung aus dem Nachlass der Achtzigerjahre bestimmt er die Welt als ein Ungeheuer von Kraft und das heißt für ihn zugleich als »Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und Vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd […].« Aus dem Nachlass der Achtziger Jahre, in: Friedrich Nietzsche, Werke IV, Karl Schlechta (Hg.), Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1969, S. 916. Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, S. 36ff. Ebd., S. 38f. Helmuth Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, S. 399-418.

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will«.72 Auch hier mache das Subjekt von einer anthropologisch verankerten Disposition Gebrauch, denn die Fähigkeit, am Leitfaden von Bildern zu handeln, zeichne den Menschen als ein über exzentrische Positionalität verfügendes Wesen aus. Innere Brüche und Spaltungen, mit denen das Subjekt grundsätzlich zu kämpfen habe, bildeten die Voraussetzungen für eine entsprechende Tätigkeit der Einbildungskraft. Im Medium der Imagination gewinne es die Möglichkeit, sein Leben in bestimmter, stets jedoch kontingenter, das heißt immer auch anders möglicher Weise führen zu können. In programmatischer Form spricht der Autor von einer Bildbedingtheit menschlichen Daseins.73 Die im Film präsentierte Coolness der Revolverhelden fußt zweifellos auf der von Plessner beschriebenen anthropologischen Ausstattung des Menschen, denn sie ist an zuvor gefassten inneren Bildern der Schauspieler orientiert, die sie in entsprechende Leinwandbilder übersetzen. In diesen Leinwandbildern findet das rezipierende Subjekt den Leitfaden zur Kompensation der eigenen, schmerzhaft empfundenen existentiellen Unsicherheit. Man könnte die Auffassung entwickeln, der Zuschauer würde in einem Prozess der Internalisierung des Bildes ein Verhalten an den Tag legen, das dem eines Schauspielers ähnlich sei; indem er sich in den Revolverhelden versetze, mache er von der allgemeinen Möglichkeit Gebrauch, eine Rolle spielen zu können. Doch dies ist, wenn überhaupt, in einem nur höchst eingeschränkten Maße der Fall, denn es mangelt dem Zuschauer an der für das theatralische Handeln unabdingbaren Distanz zum eigenen Dasein. Bereits der mobilisierte Fluchtreflex, der das im Kierkegaard’schen Sinne verzweifelnde Subjekt aus sich heraustreibt, unterläuft die Struktur der exzentrischen Positionalität. Ebenso wenig bildet das Sich-Einfühlen des rezipierenden Subjekts in die gezeigten Figuren ein Rollenspiel im vollen Sinne des Begriffs; man hat es eher mit einem triebgesteuerten Prozess zu tun, dem ein Zusammenbruch reflexiver Distanzen vorausgegangen ist; so fehlt das Moment des Spielerischen, jener inneren Gelöstheit, die das Handeln des Schauspielers als eines Schauspielers auszeichnet. Der Zuschauer im Kino ist nicht mehr Herr seiner selbst, denn er wird von unkontrolliert auftretenden Affekten hin- und hergetrieben. Was die Kopfgeldjäger in ihrer distanzierten Kälte nicht zeigen – die aktive und passive Seite der Symbiose – agiert der Zuschauer aus. Der Kult der Kugel, in der die Kraft gebündelt ist, steht nicht nur im Zeichen souveränen Agierens, sondern markiert zugleich das Begehren, die Panzerung des Subjekts zu durchschlagen, womit die exzentrische Positionalität vollends ins Abseits gerät. Die Schusswunde der Schwester, die sich bei ihrer Vergewaltigung durch El Indio selbst tötet, oder die durchlöcherte Stirn eines steckbrieflich Gesuchten zu Beginn des Films sind in dieser Hinsicht signifikant.

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Ebd., S. 407. Ebd., S. 417.

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Der exzentrischen Positionalität beraubt, welche den Raum eines freien und selbstbestimmten Handelns eröffnet, bewegt sich das rezipierende Subjekt wie eine an Fäden aufgehängte Marionette durch das kinematographische Geschehen. In der Theorie des Films sind diese Verhältnisse immer wieder thematisiert worden. So bemerkt etwa Felix Guattari in einem vielzitierten Text: »Im Kino hat man nicht mehr das Wort; es spricht statt Deiner; man hält Dir den Diskurs, von dem die Kinoindustrie sich einbildet, daß Du ihn gerne hören würdest; eine Maschine behandelt Dich wie eine Maschine, und wesentlich ist nicht das, was sie Dir sagt, sondern jene Art von Auflösungstaumel, den Dir die Tatsache verschafft, derart maschiniert zu werden. Da die Personen aufgelöst sind und die Dinge sich ohne Zeugen abspielen, schämt man sich nicht, sich so gehen zu lassen.«74 Im Falle spezifischer Darstellungen von Gewalt wird der Auflösungstaumel, von dem der Autor spricht, forciert durch den symbiotischen Komplex, der selbst die Position des handlungs- und entscheidungsfähigen Subjekts erschüttert. Hier ist mit entsprechenden Bewusstseinsveränderungen zu rechnen. Bereits The Birth of a Nation von D.W. Griffith gab Anlass, über das Verhältnis von Film und Hypnose nachzudenken. Später hat sich die Filmtheorie diesem Thema explizit zugewandt. So macht Raymond Bellour auf die Verwandtschaft zwischen der Wahrnehmung des Films und entsprechenden psychischen Zuständen aufmerksam: Eher als dem Traum, wie vielfach unterstellt, entsprächen die Erlebnisse von Filmzuschauern der Hypnose, deren theoretische Beschreibung für die Analyse des filmischen Erlebens fruchtbar gemacht werden könne.75 Zwei Wege seien für die Erzeugung hypnotischer Zustände von Bedeutung: 1. Eine relative Immobilisierung des Körpers und die Fixierung des Auges auf einen Punkt. 2. Monotone Reize, das heißt das Bestehen repetitiver und zirkulärer Ereignisse.76 So einfach diese Strukturen sich darstellen mögen, so effizient und tiefgreifend sind deren Wirkungen auf das Subjekt. Sergio Leone hat zweifellos einen präzisen Begriff von diesen Zusammenhängen besessen. Bereits im Vorspann seines Films macht er sich die erste der beiden Bedingungen hypnotischer Zustände zu eigen (Abb. 34-35). Noch bevor das Landschaftsbild erscheint, ist lediglich ein kleiner rötlicher Punkt auf einer 74 75

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Félix Guattari: Die Couch des Armen, in: Mikro-Politik des Wunsches, Berlin: Merve 1977, S. 93. Vergl. dazu auch Christiane Voss: Der Leihkörper, S. 279ff. »Wie dem auch sei, egal auf welche Weise man sich der Sache auch annähert, es gibt eine realere Verwandtschaft zwischen der Hypnose und dem Kinofilm als zwischen dem Kinofilm und dem Traum. Denn zwischen Film und Hypnose besteht eine echte Übereinstimmung der Dispositive, und diese Übereinstimmung ist auch Resultat einer Geschichte.« Raymond Bellour: Hypnose und Film, in: Gertrud Koch/Christiane Voss (Hg.), …kraft der Illusion, München: Fink 2006, S. 36. Ebd., S. 17f.

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gelblichen Fläche zu sehen; erst im weiteren Verlauf verwandelt sich der Punkt in den winzig wirkenden Reiter, der sich der Position des Zuschauers annähert, bevor er von seinem Pferd geschossen wird. In der folgenden ersten Szene dann, die den Bibel lesenden Mortimer bei der Anreise in der Eisenbahn zeigt, hört man die monotonen Geräusche der Schienen und den mehrfach vom Schaffner mechanisch wiederholten Satz »Die Fahrkarten bitte«.77 Beide Strategien – die Lenkung der Aufmerksamkeit auf punktförmige Phänomene sowie der Einsatz repetitiver Ereignisse – spielen in der Folge immer wieder eine Rolle. Mit gezielt eingesetzten Mitteln versetzen Regisseur und Komponist das Publikum in hypnotische oder der Hypnose nahekommende Zustände, um dieses an das Leinwandgeschehen zu fesseln.

Abb. 34, Filmstill aus: Sergio Leone, Für ein paar Dollar mehr.

Für ein paar Dollar mehr liefert keine Bilder des Realen, sondern konfrontiert mit einer künstlichen Welt, in der das selbstflüchtige Subjekt das Gesetz seines Begehrens bestätigt sieht. Die Geschichte des Films zeigt, dass an der Optimierung dieser Verhältnisse anhaltend gearbeitet wurde. Ziel der kinematographischen Strategie ist bis heute vielfach die Optimierung der Grade des Drastischen und damit die fortschreitende Entsublimierung von Prozessen der Darstellung und Rezeption von Gewalt. Die alte, seit dem Mittelalter sich entwickelnde Malerei pflegte einen anderen Umgang mit entsprechenden Sujets; sie zeigte ein Interesse, die magischen Kräfte der Gewalt in Schach zu halten, denn es galt, die Gläubigen vor den 77

Die Eisenbahn spielt, wie Bellour bemerkte, bei der Erzeugung hypnotischer Zustände in Filmen immer wieder eine Rolle; ebd., S. 29 u. 32.

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Abb. 35, Filmstill aus: Sergio Leone, Für ein paar Dollar mehr.

Mächten des Bösen zu schützen, damit sie sich den höheren Wahrheiten der Verkündigung zuwenden konnten. Erst im Zeitalter des Barock, in dem der Einfluss der Theologie schwindet, beginnen die Barrieren zu bröckeln. Es gibt kein ehernes Entwicklungsgesetz, das von den alten Bildern zu den Exzessen des modernen Kinos hinführt; alles hätte auch anders ablaufen können. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts wie die beiden Weltkriege gaben Anlass genug, über die Möglichkeiten eines moderaten Umgangs mit Phänomenen der Gewalt in den Medien nachzudenken. Die Entwicklungen sind hinreichend bekannt. Der in Europa produzierte Film von Sergio Leone, der zu den Schlüsselwerken des Italowestern rechnet, betreibt unter dem Feigenblatt einer Intellektualisierung des Kinos eine Fetischisierung der Grausamkeit. Nicht mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wird das regungslos und professionell tötende Subjekt – in der Verkleidung des Western-Helden – dem Publikum als Ikone kinematographischer Kunst präsentiert. Kann man hier von einer Wiederkehr des Verdrängten sprechen? Aus welchem Grunde liefert der Film Phänotypen, die man ebenso auf Seiten profilierter Kriegsverbrecher vermuten würde? Das Publikum der USA zeigte sich über die drastischen Darstellungen schockiert. Selbst das Hollywood-Kino war bis dahin – aufgrund von staatlichen Auflagen, die die Filmindustrie einzuhalten hatte – mit entsprechenden Sujets moderater umgegangen. Im Hinblick auf eine Tötungsszene in Leones Für eine Handvoll Dollar bemerkt Uwe Killing: »Eine solche Szene gehört heute zum Standard-Repertoire jedes B-Action-Movies. Leones Inszenierung hat aber auch nach Jahrzehnten nichts von ihrer Eindringlichkeit eingebüßt. Als er sie entwarf, vor fast fünf Jahrzehnten, war sie aber weitaus

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mehr – ein Tabubruch. Ein Kulturschock. Denn Mitte der sechziger Jahre gab es in Hollywood noch immer einen strengen moralischen Kodex, der den Regisseuren auferlegt wurde.«78

IV. Als Markstein in der Geschichte des U.S.-Amerikanischen Western gilt The Wild Bunch von Sam Peckinpah aus dem Jahre 1969. Eigenen Verlautbarungen des Regisseurs zufolge richtet sich der Film in kritischer Intention gegen die in den öffentlichen Medien vorherrschenden Praktiken der Darstellung von Gewalt. Nicht nur dem Kino, auch dem Fernsehen, in dem zu dieser Zeit die Berichte über den Vietnam-Krieg stetig präsent waren, macht er den Vorwurf, auf Seiten des Publikums eine Haltung der Apathie und Gleichgültigkeit gegenüber entsprechenden Phänomenen zu fördern: »We watch our wars and see men die, really die, every day on television, but it doesn’t seem real. We don’t believe those are real people dying on that screen. We’ve been anesthetized by the media.«79 »For Peckinpah«, so Stephen Prince, »conventional movie violence and television news performed a narcotizing function, insulating people from the events around them. His belief in this narcotizing function was consistent with the radical critique of popular culture in that period (as represented in the writings of Susan Sontag and Herbert Marcuse). By using graphic imagery of bloodletting and the montage aesthetic, Peckinpah aimed to bring the era’s violence inside the movie theater, which would no longer function as a place of refuge by shielding viewers from horrific images.«80 Mit Blick auf derartige Fehlentwicklungen verfolge der Regisseur ein erzieherisches Programm; das heißt er war entschlossen, zur Herausbildung einer aufgeklärten Sensibilität gegenüber Phänomenen und Darstellungen der Gewalt beizutragen: »Sam Peckinpah«, so Prince, »[…] was a filmmaker with a didactic social agenda, and he aimed to place camera style at the service oft that agenda.«81 Betrachtet 78

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»Eine dieser Regeln besagte«, so fährt Uwe Killing fort, »dass bei Schießereien nicht gezeigt werden durfte, wie ein Schütze sein Opfer unmittelbar niederstreckt. Vorschrift waren vielmehr zwei Kameraeinstellungen, um den Tötungsvorgang optisch abzumildern […]. Leone unterlief dieses Gesetz und zeigte das Sterben als kurzen, gnadenlosen Akt.« Uwe Killing: Dreckige Spaghetti. Die glorreiche Geschichte des Italo-Western, Höfen: Hannibal 1986 S. 35. Playboy Interview: Sam Peckinpah, Playboy 19, no. 8 (August 1972), p. 68. Stephen Prince: The Aesthetic of Slow-Motion Violence in the Films of Sam Peckinpah, in: ders. (Hg.), Screening Violence, New Brunswick/New Jersey: Rutgers University Press 2000, S. 176f. Ebd., S. 176.

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man das Werk genauer, so zeigt sich jedoch, dass dieses Ziel mit den eingesetzten Mitteln kaum zu erreichen ist, denn die Bilder entfalten eine Eigendynamik, die das didaktische Programm rasch scheitern lässt. Der kalt und nüchtern gezeichneten Gewalt bei Leone tritt in The Wild Bunch eine heiße, gleichsam siedende Spielart derselben gegenüber. Wegweisend ist bereits eine Szene zu Beginn des Filmes, die eine am Rand einer Stadt an Bahngleisen versammelte Gruppe von Kindern zeigt, die sich eine kleine Arena aus Reisig gebaut haben, in der sie eine beträchtliche Anzahl von Ameisen gegen zwei im Vergleich zu diesen Insekten riesenhaft wirkende Skorpione antreten lassen (Abb. 36-39). Hilflos bewegen sich die Letzteren in einem unüberschaubaren Gewimmel ihrer Feinde, gegen die sie mit ihren Waffen nichts auszurichten vermögen. Das gezeigte Geschehen lässt einen Zustand erwarten, in dem die sich windenden Gestalten der Opfer in einem fluktuierenden Teppich ihrer Angreifer verschwunden sein werden. Mit dem grausam anmutenden Schauspiel rücken die Motive der Streuung, der Dissoziation und der Verschlingung in den Fokus der Aufmerksamkeit. Man fühlt sich an das in der Malerei des Abstrakten Expressionismus entwickelte All-Over erinnert, in welchem eine flächenübergreifende Verteilung gleicher oder ähnlicher Elemente vorherrscht, die an Ornamente denken lässt.82 Im weiteren Verlauf ihres Spiels, dem sie mit sichtlichem Vergnügen nachgehen, bedecken die Kinder die Insekten mit weiterem Reisig und setzen das Ganze in Brand. Die am Ende zurückbleibenden verkohlten Pflanzenreste ähneln den netzartigen Geflechten, die Jackson Pollock mit Hilfe seines Dripping-Verfahrens auf der Bildfläche produzierte. Das Spiel der Kinder erstreckt sich über einen längeren Zeitraum, währenddessen eine Gruppe von Räubern an ihnen vorbei in die Stadt Starbuck einreitet, dort ein Büro der Eisenbahn besetzt und ausraubt, in einen Schusswechsel mit einer ihr auflauernden zweiten Gruppe verwickelt wird und sich wieder – ebenfalls an den Kindern vorbei – aus der Stadt zurückzieht. Beide Ereignisstränge – das dargebotene Drama der Insekten und das Kampfgeschehen in der Stadt – stehen in einem inneren Verhältnis: Langsam lässt der Film das letzte Bild der niedergebrannten Arena in die Aufnahme einer Straße übergehen, auf der mehrere Opfer der Schießerei leblos liegen geblieben sind. Der so geöffnete Assoziationsraum gibt Anlass, über die Beziehung der beiden Sequenzen nachzudenken. Auf seine Weise bringt der Kampf zwischen den bewaffneten Gruppen jene Motive zur Geltung, die im Spiel der Kinder exemplarisch hervortreten. Anders als in Filmen, in denen klar überschaubare Verhältnisse herrschen, folgen die Bilder einer Logik der Streuung im Dienste der Zertrümmerung kohärenter Verhältnisse. Der städtische Raum, in dem sich der Kampf ereignet, zerfällt in partikulare Szenen, gesehen aus unterschiedlichen Ansichten und Positionen; nirgends ist der 82

Vergl. z.B. Regine Prange: Jackson Pollock. Number 32, 1950. Die Malerei als Gegenwart, Frankfurt a.M.: Fischer 1996, S. 16ff.

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Abb. 36, Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch.

Abb. 37, Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch.

Versuch erkennbar, Brüche und Dissonanzen in den beschleunigten Abläufen aufzuheben oder abzufedern. In seinen Drippings hatte sich Pollock bekanntlich das im Analytischen Kubismus entwickelte Verfahren der Multiplikation von Perspekti-

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Abb. 38, Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch.

Abb. 39, Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch.

ven zu Eigen gemacht; man sprach deshalb von einem polyfokalen All-Over.83 Der Film übersetzt die Vervielfachung der Perspektiven in den Ablauf der Zeit; er temporalisiert die Auflösung eines homogenen, kohärenten Erfahrungsraumes. Dies

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Ebd., S. 17.

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hat Auswirkungen auf den Zuschauer, der durch die polyfokale Struktur des Geschehens selbst zerlegt und von den Ereignissen gleichsam verschlungen wird; genau besehen besetzt er die Rolle eines Skorpions, der mit seinem Stachel gegen die massenhaft, von allen Seiten auftretenden Angreifer nichts ausrichten kann; in der kinematographischen Arena verliert er die Fähigkeit, den Stachel der Reflexion einzusetzen, um die eigene Stellung gegenüber den andrängenden Reizen zur Geltung zu bringen.84 Peckinpah liefert ein Manifest gegen die regulativen Prinzipien des Cartesisch-Kantischen Subjekts; auch er präsentiert sich als Repräsentant der Postmoderne, wenn auch einer anderen Spielart derselben als Sergio Leone. Der Kampf der Insekten lässt an Motive des Surrealismus denken. In seinem frühen Film Ein andalusischer Hund hat Luis Buñuel die magische Wirkung wimmelnder Ameisen filmästhetisch zur Geltung gebracht; in seinem Fall quellen die Insekten aus dem Inneren einer menschlichen Hand hervor.85 In einem weiteren Frühwerk mit dem Titel Das goldene Zeitalter präsentiert er mehrere Skorpione teils im Kampf miteinander.86 Im Hintergrund der Szene bei Peckinpah, die offenbar auf diese Werke referiert, steht unter anderem das Interesse an Prozessen der Verschlingung. Der Regisseur radikalisiert diese gegen das klassische Ideal des Schönen gerichtete Praxis; er bedient sich dabei einer bestimmten formalen Strategie: Im Verlauf des in der Stadt tobenden Kampfes wird ein Reiter auf seinem Pferd von einer Kugel getroffen und stürzt aus dem Sattel in das Schaufenster eines Bekleidungsgeschäfts. Entscheidend sind die aus dem Inneren des Ladens aufgenommenen Bilder, die mehrere Schaufensterpuppen und einige über ihnen frei aufgehängte Hüte zeigen (Abb. 40-41).87 Das gesamte Geschehen ist in Zeitlupe wiedergegeben. Detailliert lässt sich verfolgen, wie das schachbrettartig gegliederte Fenster eingedrückt wird, sukzessive in seine Einzelteile zerfällt und der Stürzende im Schauraum des Geschäfts zum Liegen kommt. Im Verfahren der Parallelmontage wird diese Sequenz mehrfach von einer weiteren Szene unterbrochen, die ebenfalls einen vom Pferd geschossenen Reiter präsentiert, der in diesem Fall allerdings auf die Straße fällt. Leon Battista Alberti – Architekt und Kunsttheoretiker der italienischen Renaissance – verglich das Tafelbild mit einem gerahmten

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Wohl kaum zufällig wurde auch das Bild Pollocks als Arena bezeichnet. Ebd., S. 29. Dieser Film zeigt darüber hinaus bekanntlich den Schnitt eines Rasiermessers durch ein Auge; vergl. auch LuisBuñuel: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen, Königsstein/Ts.: 1983, S. 91-116. »Der Prolog«, so Michael Töteberg über den ersten Teil des Films, »ist ein Kulturfilm über den Skorpion: Der sechsgliedrige Schwanz des Spinnentieres diene als Kampf- und Sinnesorgan; gelobt wird seine blitzartige Schnelligkeit, die Virtuosität im Angriff.« L’Age d’Or (Das goldene Zeitalter), in: Michael Töteberg: Metzler Film Lexikon, Stuttgart: J.B. Metzler 2005, S. 8. Die ins Bild gesetzten Hüte erinnern unmittelbar an die beschriebene Szene aus Sergio Leones Für ein paar Dollar mehr.

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Fenster, welches den Blick auf eine hinter ihm liegende Wirklichkeit freigibt.88 Vorausgesetzt war in diesem Modell, dass der Raum des Betrachters und des bildlich Repräsentierten voneinander geschieden bleiben; wenn auch strukturell aufeinander bezogen, schließen sich beide Sphären dennoch wechselseitig aus. Peckinpahs Strategie rüttelt an diesem klassischen Modell der Repräsentation; mit seinem effektiv in Szene gesetzten Fenstersturz des von einer Kugel Getroffenen betreibt er die Aufhebung der ästhetischen Grenze und das Eintauchen des rezipierenden Subjekts in das dargebotene Ereignis. Diesem Ziel dienen auch die parallel laufenden akustischen Sequenzen. Bemerkenswert ist eine der Schießerei unmittelbar vorausgehende Szene: Begleitet von einer Kapelle bewegt sich eine Gruppe pietistischer Antialkoholiker durch die Straße eben jenes Eisenbahnbüros, das die Bande kurz zuvor in ihre Gewalt gebracht hatte. Unterlegt von sukzessive sich beschleunigenden Herzgeräuschen, sorgt die vom Gesang der Marschierenden begleitete Musik für den Aufbau einer hypnotischen Spannung. Mit dem Einsetzen des Kampfes bricht dann unter den auf der Straße befindlichen, an der Auseinandersetzung unbeteiligten Personen eine Panik aus. Nun folgen rasch wechselnde Bildschnitte, unterlegt von einem Teppich anhaltender Schussgeräusche und den Schreien von Menschen, die sich verzweifelt in Sicherheit zu bringen versuchen. The Wild Bunch verwandelt den Raum des Films in eine Arena, in der Ereignisse gleichsam zum Kochen gebracht und so zum Gegenstand eines grenzüberschreitenden Erlebens gemacht werden. Die Szene der mit den Ameisen und Skorpionen spielenden Kinder ist direkt an den Zuschauer adressiert.89 Der Regisseur formuliert hier eine vergiftete Botschaft. Zum einen hebt er den moralischen Zeigefinger und warnt vor der Naivität der Heranwachsenden, die sich der Verwerflichkeit ihres Verhaltens noch nicht bewusst seien. Zum anderen präsentiert er die Figur des Kindes als Projektionsfläche der Sehnsucht nach einem nicht schon deformierten, ursprünglichen und authentischen Verhalten. Bekanntlich fungiert das Kind seit der Romantik in den kulturkritischen Debatten nicht selten als positiv besetztes Gegenbild einer als entfremdet erfahrenen Welt des Erwachsenen. Der Film legt sich zunächst nicht fest; er hält beide Optionen offen; er weist den Weg kritischer Distanznahme und arbeitet zugleich mit den Mitteln der Verführung. Kurz vor dem Beginn der Schießerei nimmt diese ambivalente Strategie erneut Gestalt an. Richard Slotkin macht in seinem Kommentar zum Film auf eine Figur aus der zweiten Gruppe von Kämpfern aufmerksam, die auf dem Dach eines städtischen Hauses Position bezogen hat:

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Leon Battista Alberti: Die Malkunst, in: ders., Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, Oskar Bätschmann (Hg.), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 225. Während der Schießerei werden mehrfach an Ort und Stelle zwei Kinder gezeigt, die das ausgebrochene Chaos amüsiert verfolgen.

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Abb. 40, Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch.

Abb. 41, Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch.

»The screen gives us a closeup of one of the bounty-hunters whose lunatic excitement is evidently mounting toward an eruption in which the normal restraints of Western shoot-outs will not hold. But his excitement is also a sardonically dis-

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torted mirroring of the excitement the audience itself is supposed to be experiencing at this point.«90 Beide Momente – der distanzierte, sardonische Blick auf ein mögliches Publikumsverhalten und das an das Publikum gerichtete Versprechen neuer, elementarer Erlebnisse – finden sich in der beschriebenen Figur zusammen. Ebenso wie Sergio Leone bedient Peckinpah zwei sich widersprechende Neigungen. Der Rekurs auf die Kräfte kritischer Reflexion ist auch hier ein temporäres, durch den Fortgang der Ereignisse marginalisiertes Manöver, denn dominant bleibt das Interesse an der hypnotischen Kraft der Bilder, mit der der Regisseur souverän umzugehen weiß. Bereits die Darstellung der Insekten besitzt eine Schlüsselfunktion; sie steht in der Tradition klassischer surrealistischer Praktiken, die auf die Erzeugung außeralltäglicher Zustände wie den Halbschlaf, den Tagtraum oder die Trance gerichtet sind.91 In einem bekannten Text mit dem Titel Le Paysan de Paris, Pariser Landleben, von 1926 liefert Louis Aragon eine in diesem Zusammenhang aufschlussreiche Betrachtung zur Logik entsprechender Bilder. Dem Surrealismus, dem »Sohn des Wahnsinns und der Finsternis«, attestiert er zunächst die Fähigkeit, neue Reiche und dem Subjekt neue Wonnen zu erschließen. Was den Surrealismus vor allem auszeichne, bestehe in dem »unmäßigen und leidenschaftlichen Gebrauch des Rauschgiftes Bild oder vielmehr in der unkontrollierten Beschwörung des Bildes um seiner selbst willen und auf daß es im Darstellungsbereich unvorhersehbare Umwälzungen und Metamorphosen bewirkt: denn jedes Bild zwingt euch immer wieder von neuem das ganze Universum zu revidieren«.92 Aragon spricht in seinem revolutionär sich gebenden Diskurs vom »Rauschgift Bild«, vom »Bildergift«, das den Lippen der »Bildertrinker« in einem »frischen und zugleich glühendheißen Kelch« entgegentrete.93 Mit Blick auf eine moderne Mythologie kündigt der Autor der überkommenden okzidentalen Rationalität jedes Vertrauen und setzt auf die Macht der Wunder, des Wahns und der Obsessionen.94 Peckinpah zeigt sich in ähnlicher Weise an Erfahrungen interessiert, die jenseits des Alltagsbewusstseins angesiedelt sind. Seine der surrealistischen Ästhetik nahestehende Darstellung der kämpfenden Insekten gleicht einem Narkotikum,

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Richard Slotkin: Gunfighter Nation. The Myth of the Frontier in Twentieth-Century America, Norman: University of Oklahoma Press 1992, S. 597. Vergl. Maurice Nadeau: Geschichte des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1965, S. 49ff. Louis Aragon: Pariser Landleben. Le Paysan de Paris, München: Rogner & Bernhard 1975, S. 78f. Ebd., S. 79. Ebd., S. 7-14.

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einer Droge im Aragon’schen Sinne, die dem Subjekt den Zugang zu bis dahin ungekannten Dimensionen der Erfahrung eröffnen soll. Dass der Regisseur für einen nicht restringierten Umgang mit Narkotika plädiert, lässt sich im Übrigen auch jenen Sequenzen entnehmen, in denen die gegen den Alkohol zu Felde ziehenden Pietisten karikiert und der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Die Warnung vor dem Bier und dem Wein, deren Wirkung der zuvor gezeigte Redner mit dem Biss oder Stich einer Schlange vergleicht, lässt an die kaum verleugneten Hauptmotive des Films denken. Peckinpah weiß, was er tut, er bekennt sich zu einem Kino, das sich jenseits der tradierten Vernunft und dem mit ihr verknüpften System der Moralität aufstellt. Den historischen Kontext seiner Strategie bilden die späten sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, die durch massive, teils gewalttätige Proteste gegen das so genannte gesellschaftliche Establishment in Erinnerung geblieben sind. Kaum zufällig lässt sich in dieser Zeit eine Rückbesinnung auf die Werke und das Gedankengut der Surrealisten beobachten, sei es in der Kunst, im Falle der Einnahme von Drogen oder im Raum der politischen Provokation. Die zu Beginn des Films gezeigte Schießerei, die ungeachtet der Anwesenheit zahlreicher Passanten auf der Straße ausgetragen wird, lässt im Übrigen an eine bekannte Äußerung André Bretons denken: »Die einfachste surrealistische Handlung«, so der Autor im Zweiten Manifest des Surrealismus von 1930, »besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen – der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schußhöhe.«95 Bekenntnisse zur Gewalt finden sich, wie Hans Magnus Enzensberger feststellte, auch bei anderen Repräsentanten der künstlerischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts; eine zentrale Position nimmt hier bekanntlich der italienische Futurismus ein.96 Eines der zentralen Mittel, die der Regisseur einsetzt, um die Grenzen des Alltagsbewusstseins zu durchbrechen, ist die Verwendung von Bildern in Zeitlupe; der Film bietet Darstellungen von Kampfhandlungen in unterschiedlichen Geschwin-

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André Breton: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, S. 56. »Man kann sich fragen«, so Enzensberger, »wie ernst der Gewaltkult der europäischen Avantgarden zu nehmen ist. Ihre Provokationen zeugen nicht nur von einem tiefen Haß auf das Bestehende, sondern auch von einem ebenso tiefen Selbsthaß. Wahrscheinlich dienten sie auch der Kompensation eigener Ohnmachtsgefühle und der Abwehr eines Modernisierungszwanges, der ihre Geltungsansprüche bedrohte. Außerdem wird man die Neigung zur Pose in Rechnung stellen müssen, die den Darstellern nicht fremd war.« Hans Magnus Enzensberger: Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 67.

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digkeiten.97 Zeitlupenaufnahmen machen sichtbar, was unter normalen Bedingungen kaum registriert würde. Bevor man allerdings die filmästhetischen Implikationen von Slow-Motion-Aufnahmen bei der Präsentation von Gewaltakten ins Auge fasst, sollte man sich entsprechenden Erfahrungen im außerfilmischen Erleben zuwenden. Es ist bekannt, dass sich reale Situationen eines Kampfes aus der Perspektive der Beteiligten in entschleunigter Form präsentieren können. In seiner Studie zur Dynamik der Gewalt macht Randall Collins auf Berichte aufmerksam, die Zeugnis von entsprechenden Wahrnehmungsformen ablegen. Typisch sei neben dem so genannten »Tunnelblick« die »Verlangsamung der Zeiterfahrung«: »Man ist aufs äußerste auf die Gefahr konzentriert und blendet alles andere als irrelevant aus.«98 Das Phänomen einer Verlangsamung von Ereignisabläufen findet sich Collins zufolge vor allem auf Seiten jener nicht häufigen Individuen, die über eine entwickelte Kompetenz im Einsatz der Gewalt verfügen.99 Während diese Individuen im Falle einer Konfrontation eine Art von Trance entwickelten, sei die Mehrheit der Kämpfer etwa im Kriege durch Zustände der Angst wie gelähmt. Im Hinblick auf die Letzteren spricht man auch – im Anschluss an Klausewitz – vom Dämmerlicht des Krieges beziehungsweise von Gefechtsbenommenheit.100 Bereits die Konfrontation mit realer Gewalt hat unter Umständen also eine Veränderung des Zeiterlebens zur Folge. Der von Collins vorgestellte Polizist, der diese Erfahrung beschreibt, vergleicht seine Wahrnehmung explizit mit dem Zeitlupenmodus im Film. Mit Blick auf diesen Bericht könnte man die Slow-Motion-

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»Ultimately«, so David A. Cook, »Peckinpah would film both the Starbuck and Agua Verde massacre/shoot-outs with six separate cameras running at 24, 30, 60, 90, and 120 frames per second to achieve a wide range of speeds for subsequent intercutting, speeds that Lombardo could vary even more elaborately through optical printing.« David A. Cook, Ballistic Balletics, in: Stephen Prince (Hg.), Sam Peckinpah’s The Wild Bunch, Cambridge: Cambridge University Press 1999, S. 145f. Till Brockmann liefert eine detaillierte Auflistung des chronologischen Wechsels von Aufnahmen in Normalgeschwindigkeit und Zeitlupe einer bestimmten Sequenz der zweiten Schießerei von The Wild Bunch. Till Brockmann: Die Zeitlupe. Anatomie eines filmischen Stilmittels, Marburg: Schüren 2014, S. 182ff. 98 Randall Collins: Dynamik der Gewalt, S. 605. 99 So berichtet ein Polizist von einer Konfrontation mit einem Geiselnehmer: »Als er auf uns zurannte, kam mir das vor wie in Zeitlupe, und alle meine Sinne konzentrierten sich ganz auf ihn […]. Ich habe nur noch die Pistole gesehen. Er nahm die Pistole vor den Oberkörper, und dann begann ich zu schießen. Ich habe nichts gehört, überhaupt nichts […] Alles woran ich mich erinnere, ist, dass ich plötzlich über dem Kerl stand. Ich weiß nicht, wie das gegangen ist […] aber als ich stand, war mein Gehörsinn wieder in Ordnung, ich konnte nämlich das Klimpern von Messing auf den Fliesen hören (die Patronenhülsen). Auch die Zeit verging wieder ganz normal, denn während der Schießerei hatte sie sich verlangsamt. Das fing an, sobald er auf uns zurannte. Ich wusste genau, dass er rannte, aber es sah aus, als liefe er in Zeitlupe. Das Verrückteste, was ich je gesehen habe.« Ebd., S. 605f. 100 Ebd., S. 611f.

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Aufnahmen in The Wild Bunch als Antwort auf Erfahrungen in konkreten Situationen des Gewalthandelns interpretieren. In einem Interview berichtet Peckinpah, dass er selbst mit entsprechenden Wahrnehmungen während eines militärischen Einsatzes in China konfrontiert war.101 Stephen Prince bezweifelt die Wahrheit dieses Berichts und vermutet, dass es sich hier eher um den Versuch handele, den Einsatz eines filmischen Mittels mit dem Hinweis auf eigene Erlebnisse zu rechtfertigen.102 Wie immer man die Peckinpah’schen Bemerkungen beurteilen mag, der Einsatz der Zeitlupe in The Wild Bunch entspringt wahrscheinlich nur am Rande dem Willen einer realitätsgerechten Inszenierung von Prozessen der Gewalt. Entscheidend ist vielmehr die kinematographische Suggestivität, die magische Kraft, die dem künstlich verlangsamten Bildgeschehen in der Regel eigen ist. David A. Cook berichtet von einer Situation, in der Peckinpah und sein Produzent – noch vor den Aufnahmen für The Wild Bunch – eine Filmsequenz betrachteten, die die Erschießung einer Person durch einen Polizisten zeigte. Die in Zeitlupe ablaufenden Bilder des Stürzens des Opfers wechselten mit in Normalgeschwindigkeit gedrehten Aufnahmen des Schützen: »When Peckinpah and his producer, Phil Feldman, saw this sequence, they were reportedly ecstatic, and it became the catalyst for shooting the film’s gunfights at variable camera speeds and integrating the footage into extended montages of violent action.«103 Während sich in den von Collins beschriebenen Wahrnehmungen die scheinbare Verlangsamung der Ereignisse als Reaktion auf eine reale Situation einstellt, wird sie im Film von Peckinpah zur Erzeugung außeralltäglicher Zustände eingesetzt. Die Zeitlupe induziert beziehungsweise fördert die kinematographische Hypnose, die nicht mit der im Kontext realer Gewalt auftretenden Trance zu verwechseln ist. Auch hier reproduziert der Film nicht einfach außerfilmische Erfahrungen, sondern bildet ein emergentes Geschehen, das über eigene Voraussetzungen und Implikationen verfügt; das gilt ebenso für die mitspielenden Affekte, die ihren Ort allein im Raum der kinematographischen Wahrnehmung haben.104 Im vorliegenden Fall trägt der Einsatz von Zeitlupenaufnahmen genau besehen zur Abblendung realer Erlebnisse bei; Ziel ist die Hervorbringung einer realitätsentlasteten Euphorie, die Züge eines 101

»Peckinpah«, so Stephen Prince, »[…] claimed to have gained insight into the cinematic usage of slow motion through personal experience. He got into the habit of telling interviewers that during his military service in China 1945 he realized how slow motion might apply to such scenes after seeing a Chinese passenger shot while riding on a train. Peckinpah called it one of the longest split seconds of his life.« Stephen Prince, The Aesthetic of Slow-Motion Violence in the Films of Sam Peckinpah, in: ders. (Hg.), Screening Violence, S. 186. 102 »We should be very skeptical of these claims, because they sound like retrospektive attempts to justify a stylistic inflection in the face of hostile critical reception […].« Ebd., S. 186. 103 David A. Cook, Ballistic Balletics, S. 145. 104 Auf den artifiziellen Charakter der Darstellung macht auch Stephen Prince aufmerksam. Vergl.: The Aesthetik of Slow-Motion Violence in the Films of Sam Peckinpah, S. 175 u. 195f.

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grenzüberschreitenden Exzesses annahmen kann.105 In den verlangsamten Bildern werden Akte der Gewalt – ohne dass die Voraussetzungen und Folgen physischer Konfrontationen getragen werden müssten – auf besondere Weise sinnlich genießbar gemacht; sie fungieren als Instrumente eines kinematographischen Imaginären, das den Zuschauer mit täuschenden Substituten des Realen versorgt. Die in Zeitlupe ablaufenden Darstellungen von Gewaltakten unterhalten ein bestimmtes Verhältnis zur Logik der Kraft. Auch wenn entsprechende Vorgänge im Film fast schwerelos anmuten und irreal erscheinen mögen, so machen sie dennoch den deterministischen Charakter mechanischer Abläufe auf besondere Weise sinnfällig.106 Mit der zeitlichen Dehnung des kinematographischen Bildes wird das durch Kräfte verursachte Geschehen in einer mehr oder minder hohen Detailgenauigkeit gleichsam ausbuchstabiert; was sich zeigt, ist das mikrologische Profil von Prozessen, die mit absoluter Notwendigkeit ablaufen. Darstellungen der Gewalt, die in diesem Modus geboten werden, handeln vom Unvermeidbaren und konfrontieren den Menschen mit dem Prinzip eines unentrinnbaren Schicksals. Sie verwandeln den Determinismus im Reich empirischer Phänomene in ein ästhetisch zwingendes Ereignis und liefern damit einen Beitrag zur Ästhetik des Erhabenen. Derartige Darstellungen treffen sich mit entsprechenden Bedürfnislagen und Affekten auf Seiten des Zuschauers.107 In der Dehnung zeitlicher Abläufe liegt ein Attraktionspotential, das die strukturelle Koppelung der psycho-physischen Prozesse und des medialen Geschehens begünstigt. Dabei nimmt das Erleben von filmischen Offerten den Charakter eines Taumels an, der ungeachtet der Wahrnehmung einer gewissen Schwerelosigkeit von psycho-physischen Zwangsmechanismen regiert wird; dem Determinismus in der mechanischen Welt korrespondiert ein Determinismus im Auftreten wechselnder Triebe, denen das Subjekt unterworfen ist. Die fliegenden Projektile, die für das Sterben der Getroffenen verantwortlich sind, bleiben im filmischen Prozess unsichtbar; sie bilden eine Art von innerweltlicher Transzendenz, die sich allein in ihren Wirkungen im sinnlichen Raum dokumentiert. Das traditionelle Kino konnte mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln 105 Till Brockmann beschreibt – im Rekurs auf theoretische Motive von Kristin Thompson – die Zeitlupe in diesem Sinne als Instrument zur Intensivierung oder Dramatisierung des Dargestellten. Explizit spricht er von einem kinematographischen Exzess. Die Zeitlupe, S. 247. 106 Hier ist Till Brockmann zu widersprechen, der von einer suggerierten Aufhebung physikalischer Gesetze spricht. Ebd., S. 252. Vergl. auch Stephen Prince, der ähnlich argumentiert: The Aesthetic of Slow-Motion Violence in the Films of Sam Peckinpah, in: ders. (Hg.), Screening violence, S. 192 u. 195. 107 Auf die Bedeutung der Affekte in der Rezeption von Darstellungen in Zeitlupe macht auch Till Brockmann aufmerksam. Vergl.: Slow E-Motion: Gefühlswelten der Zeitlupe, in: Matthias Brütsch/Vinzenz Hediger/Ursula von Keitz/Alexandra Schneider/Margrit Tröhler (Hg.), Kinogefühle. Emotionalität und Film, Marburg: Schüren 2015, S. 153-167.

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den Schritt vom Leben zum Tod nur mit erheblichen Einschränkungen nachvollziehbar machen, denn Wunden oder Blut wurden, wenn überhaupt, nur in homöopathischen Dosierungen zur Anschauung gebracht. Peckinpah schafft Abhilfe; er liefert, wie zuvor bereits Arthur Penn in Bonnie and Clyde, die fehlende Brücke zwischen dem Schuss und dem Zustand der Leblosigkeit. Zu den gefeierten Innovationen gehören die ebenfalls in Zeitlupe ins Bild gesetzten Blutfontänen, verursacht durch die in die Körper der Opfer einschlagenden Projektile. Während die Geschosse selbst unsichtbar bleiben, schreiben sich deren Wirkungen mit hoher Intensität in den Raum der visuellen Anschauung ein. Auch dies lässt an ein Motiv der christlichen Theologie denken: der unsichtbare Gott offenbart sich in Gestalt seines sinnlich wahrnehmbaren Sohnes, der einen Leidensprozess zu durchlaufen hat, in welchem das Blut des Gemarterten vergossen wird. Im Film von Peckinpah reproduzieren sich diese Verhältnisse in entstellter Form. Das freigesetzte Geschoss, das an die Stelle des transzendenten Gottes getreten ist, lässt das im Körper zirkulierende Blut an die Oberfläche treten: In den Raum geschleudert, legt es nur noch Zeugnis von einem selbst toten, jenseits des Lebens stehenden Mechanismus ab; es bildet lediglich einen Index der durch die Waffe entfesselten Kraft. Das Faszinationspotential derartiger Darstellungen ist vielfach beschrieben worden. David A. Cook bezieht sich in seinem Text über The Wild Bunch auf entsprechende Darstellungen in Arthur Penns Bonnie and Clyde, der dem Film von Peckinpah vorausgegangen war. »The actors (Faye Dunaway and Warren Beatty), heavily wired with explosive squibs and blood capsules, seem to be blown apart in slow motion, transferring a physical and emotional shock to the viewer that is both wrenching and strangely beautiful.«108 Schließlich lässt er auch Penn selbst zu Wort kommen: »There’s a moment in death when the body no longer functions, when it becomes an object and has a certain kind of detached ugly beauty«. Und Cook selbst fährt fort: »This is the key to understanding the powerful attraction that the multiple-speed montage style identified here as ›ballistic balletics‹ has for filmmakers and audiences alike. However socially responsible or irresponsible it may be in context, the slow-motion depiction of death by high-powered weapons fire is aesthetically pleasing. As the avant-garde had understood for decades (and network television sportscasters had known since 1964), slow-motion photography offers one of the cinema’s great aesthetic pleasures. Combined with the thrill of pyrotechnic violence, it functions like an electrode implanted in the collective hippocampus.«109

108 David A. Cook, Ballistic Balletics, S. 141. Durch bestimmte Mechanismen werden mit künstlichem Blut gefüllte Kapseln, die am Körper der Darsteller befestigt sind, während der Aufnahme zur Explosion gebracht. 109 Ebd., S. 142.

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Szenen der Gewalt verwandeln sich unter diesen Bedingungen in ein den Zuschauer elektrisierendes Spektakel. Man hat im Hinblick auf die hier hervortretenden Darstellungen von einer Ästhetisierung der Gewalt gesprochen, doch dies trifft nur die halbe Wahrheit, denn in dem Maße, in dem der Film die genannten Strategien perfektioniert, wandert die Logik der Gewalt in die Sphäre des Ästhetischen ein. Eine Wahrnehmungspraxis, die das Subjekt veranlasst, Distanzen zu elementaren Triebimpulsen und Affekten zu entwickeln – man erinnere sich an die Einsichten Kants – wird Strategien einer fortschreitenden Entsublimierung unterworfen, mit destruktiven Konsequenzen für den Raum ästhetischer Wahrnehmung. Deutlich wird dies vor allem in der zweiten, am Ende des Films gezeigten Schießerei in dem Ort Agua Verde. Angel, ein junges Mitglied des Bunch, war in die Hände des mexikanischen Generals Mapache gefallen, der ihn einer grausamen Behandlung unterzog, weil er einen Teil der für den General auftragsgemäß geraubten Waffen eigenen Zwecken zugeführt hatte.110 Der Betrogene präsentiert sich als brutaler Despot. Nach einer Zeit des Unentschieden- und Verunsichertseins suchen die vier letzten Streiter die Konfrontation mit Mapache, um den noch lebenden Angel aus seiner misslichen Lage zu befreien. Während sie sich zum Aufenthaltsort des Generals begeben, der im Innenhof eines Gebäudekomplexes mit seinen Anhängern feiert, hört man einen volkstümlichen Gesang, unterlegt mit dem monotonen Rhythmus eines Schlagzeuges. Der um Gnade für den Gefangenen gebetene General zeigt sich zunächst bereit, denselben freizugeben. In einer großmütig erscheinenden Geste löst er ihm die Fesseln mit einem Messer, um ihm dann jedoch mit diesem Messer die Kehle durchzuschneiden, was einen entsprechenden Blutfluss zur Folge hat.111 Mapache wird daraufhin selbst – präsentiert in einer Zeitlupensequenz – von Schüssen des Bunch durchlöchert. Wie eine kinetische Skulptur, die nach vorn und hinten Blutfontänen aussendet, steht der tödlich Getroffene im Raum (Abb. 42). Die Erschießung des Generals löst bei sämtlichen Anwesenden zunächst einen Zustand bewegungsloser Starre aus, eine Art von Schock, der schließlich in ein Lachen auf Seiten der Schützen übergeht. Der nun folgende, rasch eskalierende Schusswechsel zwischen den Parteien lässt den Anlass des Geschehens sukzessive vergessen. Im Zentrum des Interesses steht ein auf einem Tisch platziertes Maschinengewehr, dessen Einsatz nicht nur zahlreiche Opfer zur Folge hat, sondern den Schützen zugleich Zustände der Euphorie beschert. Peckinpah liefert

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Der Bunch hatte mit General Mapache eine Übereinkunft getroffen, die vorsah, dass der Bunch gegen Bezahlung Waffen aus U.S.-Amerikanischen Beständen für den General raubte. Angel, der einer mexikanischen Volksgruppe mit eigenen Interessen angehört, wollte diese Gruppe ebenfalls am Raubgut teilhaben lassen. Man erinnert sich auch hier an Luis Buñuel. In seinem Film Ein Andalusischer Hund zeigt der Regisseur, wie schon bemerkt, den Schnitt eines Rasiermessers durch ein Auge.

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ein Beispiel für eine aus dem Ruder gelaufene Konfrontation, in welcher sich Prozesse der Vernichtung mit Formen einer grenzüberschreitenden Lust verbinden. Am Ende fällt der Bunch seiner eigenen Intervention zum Opfer.

Abb. 42, Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch.

Die im Film präsentierte Eskalationsspirale lässt an Einsichten zu Verlaufsformen gewalttätiger Auseinandersetzungen denken. Randall Collins spricht mit Blick auf derartige Phänomene von einer Vorwärtspanik, einem grenzüberschreitenden Exzess, in dem das Subjekt den Willen zur absoluten Zerstörung des Gegners entwickele.112 Den Auslöser dieser Panik bildeten Zustände massiver Bedrohung: »Eine Vorwärtspanik«, so heißt es, »beginnt mit Anspannung und Angst in einer Konfliktsituation. Dies ist gewöhnlich die Voraussetzung eines jeden gewalttätigen Konflikts, aber hier wird die Anspannung drastisch verlängert und gesteigert und strebt einem dramatischen Höhepunkt zu.«113 Der außergewöhnliche Mut, der in diesen Situationen entwickelt werde, stehe in einem direkten Verhältnis zum Ausmaß der Angst, aus der sich das Subjekt zu befreien versuche.114 In der 112 113 114

Randall Collins: Dynamik der Gewalt, S. 130ff. Ebd., S. 133. »Der Zorn zieht sich zusammen und verwandelt sich zum grimmigen Vorsatz zu kämpfen, bis die Gefahr nicht mehr da ist. Aber dieser Vorsatz, der mitunter Mut genannt wird, kann nicht von der Angst getrennt werden, die ihn erzeugt hat. Er bemisst sich eben am Ausmaß dieser Angst. Tatsächlich handelt es sich um einen mächtigen Drang, keine Angst mehr zu haben, die Furcht loszuwerden, indem man deren Quelle beseitigt. Dieser innere, emotionale Krieg produziert eine in ihrer Intensität der Sexualität annähernd vergleichbare Anspannung.« Ebd., S. 132.

5. Die Ordnung und ihre Zersetzung

Reaktion auf die eigene Ohnmacht könne sich eine Art von Euphorie entwickeln, in der das Individuum mit äußerster Brutalität vorzugehen vermöge. Kämpfer und deren Beobachter seien, wie Collins hervorhebt, mit Zuständen des Rausches vertraut, in denen der Akteur jede Kontrolle über das eigene Handeln verliere. Erwähnt werden Erfahrungen, die während des Vietnam-Krieges gemacht wurden. Bekannt geworden ist der Fall von My Lai am 16. März 1968, bei dem eine Einheit U.S.-Amerikanischer Soldaten in einem Zustand gewissenloser Raserei mehrere hundert Zivilisten, vor allem Frauen und Kinder, tötete.115 Derartige Exzesse seien in diesem Krieg, wie der Autor feststellt »recht verbreitet« gewesen. Kommentatoren haben darauf hingewiesen, dass Peckinpahs zuerst 1969 gezeigter Film nicht zuletzt auch mit entsprechenden Begebenheiten in Vietnam in Verbindung zu bringen sei.116 In der Tat besteht hier mehr als nur eine zufällige Korrelation zwischen realer und kinematographisch präsentierter Gewalt. Der Film bietet das Beispiel einer Vorwärtspanik, wie sie in Vietnam auch vor den Entgleisungen in My Lai vielfach aufgetreten sein wird. Doch gerade mit Blick auf die Ereignisse dieses Krieges wird der zutiefst problematische Charakter des Werks von Peckinpah deutlich: Während Kritiker vor allem auf Seiten der politischen Linken das Verhalten der U.S.-Armee in Ostasien anprangerten, zieht der Regisseur ästhetischen Mehrwert aus der Inszenierung entsprechender Verhaltenspraktiken; er verwandelt den durch Angst ausgelösten Prozess einer Vorwärtspanik in ein lustbesetztes kinematographisches Spektakel. Hier bedarf es einiger weiterer werkbezogener Betrachtungen. Eine Schlüsselsequenz der Konfrontation in Agua Verde spielt sich in einem Innenraum ab, den Pike, der Anführer des Bunch, im Verlauf der Schießerei vorsichtig betreten hat. Die Kamera zeigt ihn von hinten, rechts von ihm ist ein Spiegel mit dem Spiegelbild einer zunächst selbst nicht sichtbaren Frau zu erkennen. Im Hintergrund steht ein Möbelstück an der Wand, das mit einer barocken Verzierung versehen ist, deren Zentrum an ein weibliches Becken erinnert; davor stehen einige Flaschen auf einem Tisch. Bedingt durch eine Kamerabewegung wird die Frau selbst sichtbar, die sich im Zustand des Bedrohtseins in die linke Ecke des Raumes zurückgezogen hat. Pike ist misstrauisch, weil er die gegebene Situation nicht gänzlich überschauen kann und feuert auf den Spiegel in dem Verdacht, dass sich hinter demselben ein feindlicher Akteur verberge, eine Annahme, die sich in der Folge als richtig erweisen wird (Abb. 43). Die sexuellen Implikationen der Szene sind evident, zumal die Frau in einem tief ausgeschnittenen Kleid in einer lasziv anmutenden Haltung präsentiert wird. Pike entzieht sich den vorliegenden Reizen. Sein Schuss in den Spiegel, der einem unsichtbaren Kämpfer gilt, trifft zugleich das Spiegelbild der Frau, das nun von mehr oder minder tiefen Rissen durchzogen ist. Kaum übersehbar treten hier misogyne Impulse hervor, die in diesem Fall 115 116

Ebd., S. 136. Vergl.: Richard Slotkin, Gunfighter Nation, S. 601.

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Abb. 43, Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch.

zunächst gegen die bildliche Verdoppelung einer weiblichen Person gerichtet sind. Man erinnere sich, welche Bedeutung das Bild beziehungsweise die Fotographie einer Frau in den Filmen von Griffith und Leone spielte. Ben Cameron verliebt sich in Elsie Stoneman allein aufgrund ihres Abbildes, das er wie eine Reliquie hütet, ohne dass er ihr zuvor persönlich begegnet war. Mortimer trägt das Portrait der ermordeten Schwester im Deckel seiner Taschenuhr, um sich ihre verschwundene Gegenwart ins Gedächtnis zu rufen; seine Jagd auf El Indio richtet sich gegen den Schuldigen, der sie getötet hat und selbst über ein solches Portrait verfügt, weil auch er die Tote nicht vergessen kann. Hier wie dort spielt die positiv besetzte beziehungsweise idealisierte Darstellung einer Frau eine gewichtige Rolle. Peckinpah setzt dem ein Ende: Der Schuss in den Spiegel zerstört den Glauben und die Bindung an die weibliche Imago; er erinnert darüber hinaus an den Fenstersturz des Reiters während der Schießerei in Starbuck zu Beginn des Films. Einmal mehr geht es um einen Angriff auf die Ordnung der Repräsentation mit dem Ziel des Eintauchens des Zuschauers in den Raum der kinematographischen Ereignisse. Während Pike einen weiteren Schuss nach links auf ein selbst nicht sichtbares Ziel abgibt, tritt am linken Rand des Spiegels ein Verletzter hervor, dem ein Revolver aus der Hand gleitet. An dieser Stelle wird die Sequenz durch die Darstellung von Begebenheiten unterbrochen, die sich außenhalb des Raumes in einer zum Hof geöffneten Loggia ereignen. Gezeigt wird eine weitere Frau, die sich aus Angst unter einem Tisch verborgen hält; in voyeuristischer Absicht gibt die Kamera mehrfach den Blick auf den tiefen Ausschnitt ihres Kleides frei. Als sie sich aus der Deckung herauswagt, um andernorts Zuflucht zu suchen, wird sie von Butch, Pikes engstem

5. Die Ordnung und ihre Zersetzung

Vertrauten, von hinten ergriffen und den feindlichen Kämpfern als Schutzschild entgegengehalten, bis er sie loslässt. Der Voyeurismus der Kameraführung in Verbindung mit dem folgenden Akt der Instrumentalisierung des Opfers lässt einmal mehr die Frage aufkeimen, wo sich der Regisseur selbst platziert.

Abb. 44, Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch.

Abb. 45, Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch.

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Von Giotto bis Matrix

Der Erfolg des Bunch zu Beginn der Konfrontation besteht in der Verwendung eines Maschinengewehrs, das seine Mitglieder in ihre Gewalt bringen konnten. Keinem anderen Vorgang während des Kampfes widmet der Film ein derart hohes Maß an Aufmerksamkeit wie dem Einsatz dieser Waffe (Abb. 44). In diesem Kontext tritt ein gedeckter Tisch in den Fokus der Aufmerksamkeit, an dem zuvor der inzwischen getötete General mit Anhängern gegessen und getrunken hatte. Zwei auf dem Tisch stehende, offenbar mit Wein gefüllte Flaschen werden durch Projektile getroffen. Von Interesse ist vor allem die zweite: Sie bricht in der Mitte auseinander, ihr oberer Teil springt senkrecht nach oben und gibt eine ebenfalls senkrecht aufsteigende Fontäne ab (Abb. 45); wieder sind die sexuellen Implikationen des Gezeigten evident. Der ejakulierende Phallus, für den bereits das Maschinengewehr einsteht, wird jedoch in einem prekären Zustand vorgeführt, denn das entzweibrechende Gefäß indiziert den Exitus des Subjekts während des Zustandes sexueller Erregung. Nicht nur Eros und Thanatos werden in dieser Sequenz kurzgeschlossen, auch der symbiotische Komplex tritt in symbolisch verdichteter Form auf den Plan. Man fühlt sich an Georges Bataille und seine Lehre von der Einheit von Eros und Gewalt beziehungsweise Tod erinnert.117 Nach dieser für den Geist des Films zentralen Szene wechselt der Schauplatz. Pike wird erneut im Innenraum des Gebäudes gezeigt. Er dreht sich um und ist für den Zuschauer nun von vorne sichtbar. Die jetzt hinter ihm platzierte Frau richtet einen zuvor verborgenen Revolver auf ihn und kann ihm eine Kugel in die Seite schießen; der offenbar nicht ernsthaft Verletzte schießt zurück, so dass das Opfer – dargestellt in voyeuristischer Manier – in der Ecke des Raumes niedersinkt. Auch hier bietet der Regisseur dem Zuschauer einen vergifteten Cocktail. Das mit Prozessen physischer Gewalt verklammerte, schamlos in den Vordergrund gespielte sexuelle Begehren verbindet sich mit einer misogynen Haltung, die sich bis in die Kameraführung hinein verfolgen lässt. Auf dem Boden einer zynischen Strategie liefert Peckinpah das Rezept zu einer kritischen Analyse seines Films gleich mit; wer die Bereitschaft aufbringt, kann die entsprechenden Bilder entschlüsseln. Doch auch hier ist der Anstoß zur Reflexion nur ein verschwindendes Moment einer weitergefassten Strategie, die in eine andere Richtung weist, denn ein Hauptziel des Werks ist die Zertrümmerung des abgeschotteten Selbst und die Herstellung poröser Verhältnisse. Die Kugeln dienen der Aufhebung von Grenzen; sie perforieren die im Visier befindlichen Körper und schaffen die Durchlässigkeit zwischen Innen- und Außen.118 Dem Lauf der Din-

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Vergl. Georges Bataille: Der heilige Eros. (L’Érotisme), Darmstadt/Neuwied: Ullstein 1979. Im Hinblick auf die ästhetische Inszenierung spricht Devin McKinney von einem danse macabre, »composed of clumsy lurchings cut against the most elegant and unlikely balletic movement, with bodys either isolatet or in concert wafting sideways, floating skywards, drifting down.« Devin McKinney: The Wild Bunch: Innovation and Retreat, in: Stephen Prince (Hg.), Sam Peckinpahs The Wild Bunch, S. 181f.

5. Die Ordnung und ihre Zersetzung

ge entsprechend gehen die Mitglieder des Bunch in diesem ihrem letzten Gefecht zugrunde; sie vollstrecken auf diese Weise, was sie von Beginn an motiviert hatte, in jeder Hinsicht mit unbedingter Konsequenz gemeinsam bis zum Letzten zu gehen. Das Ende ist von einer durch den Film induzierten Melancholie überschattet, die das Sterben des Bunch als schmerzlichen Verlust qualifiziert. Radikaler als der Film von Leone verabschiedet sich The Wild Bunch von Peckinpah von der Ordnung des klassischen Western, in welchem die Differenz von Gut und Böse das Handeln der maßgeblichen Figuren regierte.119 Gleichwohl bleiben spezifische, unter den veränderten Verhältnissen nach wie vor positiv besetzte Eigenschaften der alten Helden erhalten: Männlichkeit, Durchsetzungskraft und Stärke. Ergänzt werden diese Qualitäten durch die Bereitschaft, verpflichtende Bindungen jenseits des moralisch Gebotenen einzugehen. »It’s not often noted«, so bemerkt Devin McKinney, »that The Wild Bunch is, despite its violence, finally an attempt at an affirmation – of life, of cameraderie, of manhood.«120 Hier beginnen die Mythen zu wuchern. Wolfgang von der Weppen, der in dem Film ein absolutes Kunstwerk sehen möchte, spricht von einer Haltung der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, für die der Bunch in seinem kompromisslosen Lebenswandel einstünde.121 Im Visier der Revolte liege das Bestehende, die Neue Zeit beziehungsweise deren Botschafter: Das Kapital, die Eisenbahnkorporationen und die Großbanken, die für das Verschwinden der alten, angeblich besseren Welt verantwortlich seien. An einer Idee innerer Freiheit festhaltend, führe der Bunch einen im Grunde legitimen Krieg gegen eine soziale Realität, die das Zusammenleben der Menschen den Imperativen kalter Zweckrationalität und des Profits unterworfen habe.122 Die Gruppe nicht korrumpierter, auf Autonomie pochender Außenseiter stünde dabei jedoch auf verlorenem Posten, weil sie den Kampf gegen die neue Ordnung nicht gewinnen könne; doch gerade im Scheitern würde der Wert der hier regierenden Gesinnung umso deutlicher hervortreten: »Der freiwillige Gang in den sichereren Tod um der Freiheit willen«, so der Autor, »macht die Größe der Gestalten des Wild Bunch aus.«123 Angesichts der Skrupellosigkeit der Akteure – vor allem auch der distanzlosen Darbietung sexualisierter Gewalt – ist diese wohlwollende Deutung Vergl. Josef Früchtl: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 245ff. »Intakt«, so der Autor, »ist in dieser Welt nur noch die Opposition von schwach und stark […].« Ebd., S. 247. 120 Devin McKinney: The Wild Bunch, S. 190. 121 Von der Weppen zeichnet die Konturen eines tragischen Epos, in dem Helden, die sich nicht korrumpieren lassen, bewusst das eigene Sterben auf sich nehmen. Wolfgang von der Weppen: They play their string out to the end. The Wild Bunch von Sam Peckinpah, in: Andreas Baur/Konrad Bitterli (Hg.): Brave lonesome Cowboys. Der Mythos des Westerns in der Gegenwartskunst oder: John Wayne zum 100. Geburtstag, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2007, S. 76. 122 Ebd., S. 66. 123 Ebd., S. 76. 119

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mehr als problematisch. Im Film selbst findet sie ein stützendes Widerlager, denn an seiner Sympathie für die Figuren des Bunch lässt Peckinpah keinen Zweifel. So wird das gemeinsame Sterben von Pike und Butch in einer sentimentalen Sequenz unter Verwendung einer melancholisch getragenen Musik dargeboten. Thornton, das abtrünnige Mitglied der Gruppe, das mit eigenen Männern die Schießerei aus sicherer Entfernung beobachtet hatte, nimmt Pikes Revolver in einer Geste der Pietät und des Respekts an sich. Während sich seine Männer mit den Getöteten entfernen, um sie den Gesetzeshütern präsentieren zu können, bleibt er am Ort zurück. Nun folgt eine unerwartete Wendung im Ablauf der Ereignisse: Ein weiterer, ebenfalls aus dem Bunch herausgefallener Akteur tritt mit seinen Gefolgsleuten auf und macht Thornton das Angebot, gemeinsam das aus der Vergangenheit bekannte ungebundene Leben weiterzuführen. Mit einem langen zustimmenden Lachen schließt sich Thornton der neuen Gruppe an. Während sich diese Formation reitend entfernt, werden Bilder der toten Mitglieder der ersten Truppe sukzessive eingeblendet: Die Individuen, so die Botschaft, mussten sterben, der Geist, der ihre Lebensführung beseelte, existiert jedoch auch in Zukunft weiter. Bei aller Dynamik setzt der Film auf Stabilität; wo alle Werte erodieren, bleibt die Einheit der Gruppe oder – um den soziologischen Terminus aufzunehmen – das Prinzip der Gemeinschaft, wenngleich auch hier Ausnahmen vorgesehen sind.124 Angesichts der Strategien des Films, den Zuschauer in einen Teilnehmer des kinematographischen Geschehens zu verwandeln, verheißt dies nichts Gutes. D. W. Griffith hatte bereits mit den Mitteln der Manipulation des Publikums experimentiert. Im Zentrum steht dabei der Ku-Klux-Klan, der als charismatischer Verband in Szene gesetzt wird und entsprechende Identifikationsprozesse auf Seiten der Zuschauer auslösen soll. Peckinpah agiert unter veränderten sozialen und politischen Verhältnissen und verfolgt andere Ziele; dennoch sind die Strategien seines Films mit denen des Werks von Griffith vergleichbar. Ebenso wie die Gesinnung des Ku-Klux-Klan wird der Geist des Bunch dem Publikum als wertvoll, erhaltensund nachahmenswert offeriert. Das Ethos der Outlaws bildet die Blaupause für Individuen, die sich im Raum der Gesellschaft nicht mehr oder nur noch unzureichend verorten können und deshalb in fiktiven Existenzbildern Zuflucht suchen. Die mangelnde Fähigkeit, die eigene Freiheit anzunehmen und autonom zu handeln, treibt das Subjekt, wie Kierkegaard zeigte, in Zustände der Unsicherheit und Verzweiflung, die das Bedürfnis aufkeimen lassen, der eigenen Existenz auszuweichen und ein anderer zu werden.125 In der bedingungslosen Revolte gegen das

124 Auf diese doppelte Orientierung macht auch Devin McKinney aufmerksam; vergl. The Wild Bunch, S. 190. Hier sei noch einmal an Helmuth Plessner erinnert, der in seiner Abhandlung Grenzen der Gemeinschaft ein kritisches Bild von entsprechenden sozialen Formationen zeichnete: hier S. 42ff. 125 Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode.

5. Die Ordnung und ihre Zersetzung

Gesetz soll sich der Raum eines angeblich authentischen, nicht entfremdeten Lebens öffnen. Die Welt des Films bildet eine emergente Realität, die keineswegs die außerfilmischen psychischen oder sozialen Verhältnisse einfach reproduziert. Einsichten Le Bons zum Verhalten des Menschen in Kollektiven lassen sich auch auf das Rezeptionsverhalten von Individuen im Kino übertragen. Der Autor war der Auffassung, dass Individuen, die sich in Großgruppen bewegen, Eigenschaften oder Verhaltensweisen zeigten, die sie allein und auf sich gestellt kaum entwickeln würden.126 Sigmund Freud, der von Le Bons Beobachtungen beeindruckt war, sah im massenspezifischen Verhalten des Menschen das Produkt der Absenkung oder Aussetzung der unter normalen Bedingungen vorherrschenden Verdrängungsarbeit; was sich auf Seiten der Individuen unter entsprechenden Bedingungen offenbare, sei Ausdruck bereits bestehender, ins Unbewusste abgedrängter Triebe und Bedürfnisse.127 In bestimmten Zusammenhängen mag es sich in der Tat so verhalten; in der Welt des Films jedoch herrschen immer auch andere Gesetze: Was sich im Raum des kinematographischen Erlebens auf Seiten des Subjekts konstituiert, ist nicht ein ungebrochener Ausdruck eines latenten, ins Unbewusste abgedrängten Begehrens. Es reicht aus, dass die in die Welt dieses Mediums eintretenden Personen Zustände existentieller Instabilität und damit Dispositionen zur Selbstflucht mitbringen. Wo dies der Fall ist, kann das Subjekt der imaginären Gemeinschaft des Bunch beitreten. Bekanntlich geben sich zahlreiche Individuen, die sich in ihrem Alltagsleben als gute Mitmenschen und aufrichtige Moralisten präsentieren, in ihrem Medienkonsum dunkelsten Erlebnissen hin. Im Raum der Rezeption konstituiert sich eine Parallel- oder Gegenwelt, in der sich Subjekte mit dem Ziel einer wenn auch nur phantasierten Überschreitung des gesellschaftlich Erlaubten zusammenfinden. Bedeutsam sind dabei vor allem die visuellen Offerten, weniger die Narrative des Films, denn diese erweisen sich vielfach als austauschbar. Es geht um Bilder, doch nicht um Bilder im traditionellen Sinn, sondern um solche, in denen sich dieses Medium an gewisse Grenzen vortastet. Dass drastische Gewalt die Ordnung bildlicher Repräsentation erschüttert, hat Rembrandt mit seiner Blendung Simsons in beispielgebender Weise vor Augen geführt (Abb. 15).128 Im tiefen Erschrecken angesichts des Gezeigten kollabiert die für die Wahrnehmung des al-

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»Es gibt gewisse Ideen und Gefühle, die nur bei den zu Massen verbundenen einzelnen Auftreten oder sich in Handlungen umsetzen.« Gustave Le Bon: Psychologie der Massen, S. 32. »Es genügt uns zu sagen, das Individuum komme in der Masse unter Bedingungen, die ihm gestatten, die Verdrängung seiner unbewußten Triebregungen abzuwerfen.« Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt a.M.: Fischer 1974, S. 69. Vergl. Kap. 2 der vorliegenden Arbeit.

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ten Bildes konstitutive ästhetische Distanz. Nicht erst in der Ästhetik der Moderne sind derartige Prozesse thematisiert und als innovativ begrüßt worden.129 Bis heute genießen die Kategorien des Schocks oder des Schreckens hohe Wertschätzung in den Reflexionen über ästhetische Wahrnehmung und Kunst. Entsprechende Phänomene gehören in der Welt des Kinos zu den inflationär eingesetzten Mitteln der Erzeugung von Aufmerksamkeit und damit zur Förderung des Absatzes derartiger Produkte. Peckinpah zeigt sich als führender Propagandist dieser Strategie. Die Darstellung des Schnitts durch die Kehle Angels und der anschließenden Hinrichtung des Mörders sowie der weiteren Ereignisse sind fragwürdig, weil sie das Medium des Bildes missbrauchen, um ein destruktives Begehren zu erzeugen, zu bedienen oder zu verstärken. Das gezeigte Geschehen bricht über den Betrachter herein und versetzt denselben in Zustände der existentiellen Irritation und Verunsicherung, die entsprechende Mechanismen der Kompensation auf den Plan rufen: Auch hier können sich Impulse einer Vorwärtspanik entwickeln. Das Bild, das uns mit dem Grauen konfrontiert, ist eine Falle. Darstellungen der Gewalt besitzen, wenn sie nicht in entsprechender Weise bearbeitet und vermittelt werden, eine spezifische Kraft, der das Subjekt kaum ausweichen kann. Das Eingangsbild, das die gegen die Ameisen vergeblich kämpfenden Skorpione zeigt, weist bereits in diese Richtung; in zynischer Weise zelebriert es den bevorstehenden Tod des Subjekts. Die von Peckinpah rhetorisch monierte Narkotisierung des Subjekts durch die Medien wird nicht durchbrochen, sondern in strategischer Weise radikalisiert. Zu stark war der Regisseur von seinen Sujets eingenommen. Darauf macht auch Stephen Prince aufmerksam. »The very stylization that Peckinpah thought would wake people up to the horror of violence instead excited and gratified many. This pleasure is an inevitable result of the aestheticizing functions of Peckinpah’s montage editing and its balletic incorporation of slow motion, and it is a virtually inescapable effect of the montage aesthetic that characterizes the work of all filmmakers who have employed it.«130 Und der Autor radikalisiert die Kritik, indem er entsprechenden Artefakten eine Gewalt verstärkende Funktion mit Hinblick auf das soziale Verhalten des Publikums attestiert: »If the montage-based representation of violence were Peckinpah’s only artistic contribution to late 1960s cinema and to the dilemmas of social violence wracking American society in those years, he should be condemned as an aesthete of Vergl. z.B. Carsten Zelle: Stichworte »Schrecken/Schock«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart: J.B. Metzler 2003, S. 436-446; Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München/Wien: Hanser 1978. 130 Stephen Prince: The Aesthetic of Slow-Motion, S. 197. 129

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violence, an inciter to aggression, a director whose films reinforced and added to the violence of those years.«131

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Ebd., S. 199; vergl. auch Stephen Prince: Savage Cinema. Sam Peckinpah and the Rise of Ultraviolent Movies, Austin: University of Texas Press 1998, S. 98-100.

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6. Der vergebliche Kampf gegen die Scheinwelt und die Veralltäglichung filmischer Gewalt

I. Medienbilder, die dem Kult der Kraft zur Geltung verhelfen, konkurrieren um Aufmerksamkeit auf Seiten des Publikums. Hier regieren die Imperative des möglichst stärker, eindringlicher, noch überwältigender.1 Selbst bereits ein essentiell zeitliches Phänomen, bildet die Kraft das bestimmende Organ einer aufsteigenden Entwicklung im Raum medialer Offerten und ihres Gebrauchs durch das Subjekt. Auch hier herrscht die Logik des Fortschritts, in welcher das jeweils Erreichte durch ein Folgendes überboten und damit ein noch nie Gesehenes in den Blick gerückt wird. Der Zwang zur Innovation lässt zum einen die Grade des Drastischen anwachsen und bildet zum andern die Voraussetzung für die planmäßig betriebene Aufstufung in Szene gesetzter Energien. Im letzteren Fall kann das Verhältnis zwischen dem Realen und dem bildlichen Imaginären bestimmte Veränderungen durchlaufen: Wo der Wille zur Multiplikation von Kräften durch das in der empirischen Welt Bekannte oder Wahrscheinliche nicht mehr abgedeckt ist, können fiktive Ereignisse Abhilfe schaffen. John Martins 1852 entstandenes Gemälde The Great Day of His Wrath, in dem ein Motiv aus der Apokalypse des Johannes verarbeitet wurde, zeigt eine phantasmagorische Szene, die mit der beobachtbaren Welt nur noch wenig gemeinsam hat (Abb. 20). Unter der Regie des zornigen Gottes geraten ganze Gebirgszüge in Bewegung, während sich zugleich eine tiefe Schlucht im Erdboden auftut, in welche die schuldig gewordenen Menschen hinabstürzen. Der Maler antizipiert mit diesem düsteren Panorama spätere Bilder des Hollywoodfilms. Am wohl bekanntesten ist eine seiner Darstellungen des alten Babylon, die D.W. Griffith in seinem zuerst 1916 gezeigten Film Intolerance zitierte.2 In der viel

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Vergl. Kap. 2 der vorliegenden Arbeit. Vergl. Barbara C. Morden: John Martin – Apokalypse now!, S. 97ff. So nimmt auch Martins Gemälde The Destruction of Sodom and Gomorrah von 1852 Bilder aus dem Katastrophenfilm San Andreas von Dwayne Johnson vorweg; in diesem Fall geht es um ein fiktives Erdbeben im Westen der Vereinigtem Staaten.

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geschmähten Salonmalerei des 19. Jahrhunderts finden sich neben John Martin im Übrigen auch andere Maler, deren Bilder Spuren in der Sphäre des modernen Kinos hinterlassen haben. Schauplätze von Phänomenen der Kraft, die über das in der empirischen Welt Bekannte hinausgreifen, sind in den letzten Jahrzehnten neben entsprechenden Katastrophen- vor allem Science-Fiction-Filme.3 Man denke an die computergenerierten Bilder überdimensionierter, mit gewaltiger Schlagkraft ausgestatteter Raumschiffe. Die über eine Logik der Überbietung sich fortschreibenden Kulte der Kraft münden in Kulte einer fiktiven Zukunft. Jenseits gegenwärtiger Verhältnisse, in denen Ressourcen und Potenzen stets nur in begrenztem Umfang zur Verfügung stehen, können hier Energien unbeschränkt wuchern und in den Kontext kosmischer Dimensionen einrücken. Als Folie der Kämpfe dient der gestirnte Himmel beziehungsweise der grenzenlose Raum, der ebenso wie die vor Augen geführten Technologien die Eigenschaften des Erhabenen mit sich führt. Entsprechend fungieren die der irdischen Welt entrückten Akteure als Träger einer höheren Mission, die jene göttliche Sendung ins Gedächtnis ruft, mit der die Engel auf den Deckenbildern des Barock unterwegs waren. Auch im Science-Fiction-Genre lebt der Dualismus zwischen dem Guten und dem Bösen fort; doch es geht in der filmischen Dramaturgie – vor allem in ihrer Rezeption – weniger um den Sieg des Guten, sondern um einen möglichst sich hinziehenden, effizient inszenierten und affektiv aufrührenden Krieg zwischen den Kontrahenten. Der auch hier im Hintergrund stehende symbiotische Komplex liefert die latenten Vorzeichen für den auf der Ebene manifester Narrative zur Geltung gebrachten Dualismus. In The Birth of a Nation von D.W. Griffith waren es die geächteten Afroamerikaner, im Science-Fiction-Kino sind es außerirdische Monstren, technoide Ungeheuer oder dunkle Energien, die jedes menschliche Leben auslöschen. Was diese drohenden Mächte auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie zugleich die Erinnerung an ferne Vergangenheiten wachrufen. So scheinen etwa die über den Erdball herfallenden langbeinigen, Insekten ähnelnden Apparate aus dem Film Krieg der Welten alten apokalyptischen Phantasien entstiegen; in ihrer animalischen Gestalt repräsentieren sie überdies frühe, durch den Menschen überholte Stufen der biologischen Evolution. In diesen Kontext gehören auch die computergenerierten Saurier aus Jurassic Park und ihre mutierten Verwandten wie Godzilla, die an Höllendarstellungen des Mittelalters denken lassen. John Martin hatte bereits im 19. Jahrhundert Bilder von Sauriern nach gefundenen Skeletten produziert.4 Der Weg in die Zukunft, den die Filme beschreiten, führt in die Vergangenheit zurück; doch man hat es in diesem Fall nicht mit der

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Vergl. Hans-Peter von Peschke: Invasion der Zukunft. Die Welten der Science-Fiction, Darmstadt: Theiss, S. 216. Vergl. Barbara C. Morden: John Martin, S. 60; sowie J. Dustin Wees: »Darkness Visible«. The Prints of John Martin, Williamstown: Sterling & Francine Clark Art Institute S. 68-69.

6. Der vergebliche Kampf gegen die Scheinwelt und die Veralltäglichung filmischer Gewalt

Wiederkehr einer zyklischen Ordnung der Zeit zu tun, sondern mit dem Produkt eines Zusammenbruchs moderner Geschichtsvorstellungen, in denen Zukunft und Vergangenheit klar geschieden waren. Deshalb steht der Kampf gegen die Mächte der Finsternis auch nicht im Dienste der Aufklärung und des Lichts der Vernunft. Die als Repräsentanten des Guten antretenden Jedi-Ritter aus den Star Wars-Filmen agieren mit Laserschwertern und zeigen dabei alle Anzeichen einer atavistischen, auf Praktiken der Magie setzenden Gesinnung; genau besehen partizipieren sie – wie bereits der Engel bei Luca Giordano – an jenen Gewalten, gegen die sie unbeirrt Krieg führen (Abb. 12). Die durch den Aufstieg der Moderne zurückgedrängten Dämonen kehren zumindest in den Raum des kinematographischen Imaginären zurück, nunmehr nicht nur als Objekte der Furcht, sondern zugleich als Gegenstände eines bestimmten Begehrens. Dass Instanzen, die als bedrohlich auftreten, zugleich über Anziehungskräfte verfügen können, lässt sich vor allem auch den Rezeptionspraktiken von Katastrophenfilmen entnehmen, in denen Erdbeben oder Flutwellen von zuvor nicht gekannter Stärke sowie auf die Erde stürzende Meteoriten geboten werden.5 Entsprechende Filme spielen mit den aus theologischen Kontexten stammenden Vorstellungen von der Apokalypse, geben derselben jedoch eine andere Gestalt, denn sie verwandeln das Weltgericht in einen selbstzweckhaften Prozess, in dem nicht mehr der religiöse Glaube, sondern der symbiotische Komplex das filmische Erleben regiert. Der Konsum entsprechender Offerten lähmt das Subjekt, denn er schließt es in eine triebgesteuerte zirkuläre Dynamik ein, in der die Tätigkeit produktiver Phantasie stillgestellt ist. An die Stelle des Spiels von Einbildungskraft und Verstand, von dem Kant gesprochen hat, tritt der anders geartete Dualismus zwischen den Impulsen der Auslöschung eines Anderen und dem Begehren, sich selbst einer peinigenden Instanz auszuliefern.6 Eine produktive ästhetische Erfahrung, die traditioneller Theorie zufolge den Menschen in Freiheit setzen soll, ist unter diesen Bedingungen kaum zu haben. Dass die hier im Fokus stehenden Medienprodukte zur Schrumpfung existentieller Möglichkeiten beitragen, ist im Übrigen in der Vergangenheit immer wieder festgestellt worden. So bemerkte etwa Dietmar Kamper: 5

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DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum (Hg.):Katastrophe. Was kommt nach dem Ende?, Frankfurt a.M.: Deutsches Filmmuseum 2022; Markus Bertsch/Jörg Trempler (Hg.): Entfesselte Natur. Georg Seeßlen und Markus Metz bemerken, dass wir die Katastrophe »schon unbemerkt träumen und wir träumen sie unentwegt, weil wir sie zugleich fürchten und ersehnen«. Krieg der Bilder. Bilder des Krieges. Abhandlung über die Katastrophe und die mediale Wirklichkeit, Berlin: Edition Tiamat 2002, S. 32. Kant hat in der Kritik der Urteilskraft davon gesprochen, dass die ästhetische Aktivität an ein zweckfreies Spiel der Gemütskräfte Einbildungskraft und Verstand gebunden sei. Kritik der Urteilskraft, S. 287 (145f.).

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»Auffallend ist, daß gegenwärtig die Indikatoren der Phantasie, d.h. soziale Phänomene und soziologische Probleme der Imagination an den Extremen eines Spektrums der menschlichen Wirklichkeit erscheinen: auf der Seite einer zunehmenden Macht reproduzierbarer Phantastik und auf der Seite einer wachsenden Ohnmacht produktiver Einbildungskraft. Während ›science fiction‹ und ›fantasy‹ geradezu überschwappen, zieht sich das Träumerische an der ›Beziehungsarbeit‹ immer mehr zurück.«7 Entsprechende Exempel des Science-Fiction-Genres oder des Fantasy-Films zelebrieren in affirmativer, teils auch auf zynische Weise das Scheitern der Emanzipation des Subjekts. Motive der Religion kehren dabei in sinnentstellter Form zurück. War die alte Theologie mit dem Anspruch angetreten, dem bedrohten Menschen Sicherheit zu geben, so münden die mit pseudotheologischen Narrativen aufgeladenen Medienprodukte in eine sich reproduzierende Dynamik, die jede Stabilität verweigert. Beruhigte Verhältnisse am Ende eines Films, die angeblich dem Guten zum Sieg verhelfen, bilden nur den Beginn einer neuen Runde, von der der Zuschauer erwartet, dass sie bewegter noch als die vorhergehende ausfallen möge. Die Angst, die die Bilder erzeugen, verstärkt lediglich die im Spiel befindlichen psycho-physischen Bindungsenergien.8 So findet sich das Subjekt in einen Strudel von Bildern versetzt, in welchem der Verlust der Orientierung als positiver, aufrecht zu erhaltender Zustand betrachtet wird. Von externen Instanzen abgekoppelt, bildet die filmische Gewalt ein geschlossenes System, das lediglich eine Aufstockung der Kraftquanten beziehungsweise ihrer Wirkungen auf den Zuschauer zulässt und sich auf diese Weis in Richtung eines katastrophischen Zustandes zubewegt. Am Ende steht ein Maß an Energie, das die bekannte Welt selbst zum Verschwinden bringt, Zerrbild eines Gottesgerichts, das die auf Abwege geratenen Geschöpfe zur Rechenschaft ziehen sollte.

II. Einen im vorliegenden Kontext bemerkenswerten Beitrag zum Science-FictionGenre liefert die Matrix-Trilogie der beiden Schwestern Wachowski.9 Ebenso ausgedehnte wie exzessive Kampfszenen sind in diesem Fall eingebettet in eine Geschichte, die von der Einschließung der Menschen in eine Scheinwelt handelt, welche in einem gigantischen Computersystem ihre Voraussetzung hat. Intelligente 7 8 9

Dietmar Kamper: Zur Soziologie der Imagination, München/Wien: Hanser 1986, S. 98. Im Begriff der Angstlust ist dies reflektiert worden. Vergl. Michael Balint: Angstlust und Regression, Mit einer Studie von Enid Balint, Stuttgart: Klett-Cotta 2017. Der erste Teil trägt den Titel The Matrix, der zweite Matrix Reloaded und der dritte Matrix Revolutions. Im Jahre 2021 kam ein vierter Teil mit dem Titel Matrix Resurrections in die Kinos.

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Maschinen haben die Macht übernommen und ihre Opfer sind ahnungslos im Hinblick auf ihre prekäre Lage. Der Film erinnert an das platonische Höhlengleichnis, aber auch an die bekannte Wendung in den Meditationen von René Descartes, dass der Mensch nicht ausschließen könne, dass die wahrgenommen Welt lediglich eine von einem bösen Geist produzierte Täuschung sei.10 Radikalisiert ist im Übrigen Jean Baudrillards pessimistische Diagnose, dass die Verwendung elektronischer Medien durch den Menschen die reale Welt sukzessive zum Verschwinden bringe; am Ende lebe das Subjekt in einem Raum apparativ produzierter Illusionen.11 Der Film greift auf klassische Topoi der Philosophie und Kulturkritik zurück und zieht aus ihnen einen kinematographischen Mehrwert. Er eröffnet die Perspektive einer Befreiung der Eingeschlossenen: Der Schein ist nicht total, es gibt Auswege aus dem System der Trugbilder und zugleich einzelne Akteure, die sich den Kampf gegen die Illusionen und damit gegen das herrschende System zur Aufgabe gemacht haben; sie vegetieren jenseits der simulierten Welt in einem Raumschiff, das sich tief im Erdinnern durch düstere Höhlen und Kanäle bewegt. Dort befindet sich auch die Stadt Zion mit zahlreichen weiteren Individuen, die die Hoffnung hegen, irgendwann vom Schicksal der Knechtschaft erlöst zu werden. Die Besatzung des Raumschiffs verfügt über eine spezifische Technik, die sie in die Lage setzt, in die Sphäre der Scheinwelt einzudringen und dort im Dienste ihrer Mission tätig zu werden. Das herrschende System, das über diese Aktivitäten wohl informiert ist, besitzt eigene Akteure, deren Aufgabe darin besteht, Widerständler zu jagen und unschädlich zu machen; an ihrer Spitze steht Agent Smith, der ebenso wie seine Assistenten mit übermenschlichen Kräften ausgestattet ist.12 Morpheus, der Kommandant des subterranen Schiffs, glaubt, im Raum der künstlichen Welt eine Person ausgemacht zu haben, die über die Fähigkeit verfügt,

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Platon: Politeia, in: Sämtliche Werke, Bd. 3., Hamburg: Rowohlt 1958, S. 224 ff (514 a ff); René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg: Meiner 1977. »So will ich denn annehmen«, bemerkt Descartes, »nicht der allgütige Gott, die Quelle der Wahrheit, sondern irgendein böser Geist, der zugleich allmächtig und verschlagen ist, habe all seinen Fleiß daran gewandt, mich zu täuschen; ich will glauben, Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne und alle Außendinge seien nichts als das täuschende Spiel von Träumen […]; mich selbst will ich so ansehen, als hätte ich keine Hände, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut, überhaupt keine Sinne, sondern glaubte nur fälschlich das alles zu besitzen.« Ebd., S. 39ff. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, München: Matthes & Seitz 1982. Baudrillard zeichnet ein düsteres Bild einer von technischen Medien beherrschten Kultur, für die das Reale verschwunden sei. Der Grund für diesen Zustand liegt für den Autor nicht zuletzt in der Tatsache begründet, dass der für vormoderne Kulturen kennzeichnende symbolische Austausch zwischen Lebenden und Toten unterbrochen sei. Zu den narrativen Strukturen vergl. Georg Seeßlen: Die Matrix entschlüsselt, Berlin: Bertz 2003; Valentin Platzgummer: Die Errettung der Menschheit. Studien zu den Science-Fiction-Filmen Gattaca und Matrix, Marburg: Tectum 2003.

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der Macht der Maschinen ein Ende zu setzen: Thomas Anderson, einen Angestellten einer Software-Agentur, der seine Nächte damit zubringt, vor dem Bildschirm als Hacker unter dem Namen Neo im Internet zu agieren. Die Versuche der Rebellen, Kontakt zu diesem Hacker aufzunehmen, bleiben dem herrschenden System nicht verborgen. Agent Smith leitet Zwangsmaßnahmen gegen den Umworbenen ein, doch Neo entzieht sich dem Disziplinierungsversuch und nimmt Kontakt zur anderen Seite auf. Was ihm Morpheus eröffnet, dass die Wirklichkeit, in der er lebt, lediglich eine durch ein Computerprogramm erzeugte Scheinwelt sei, versetzt ihn in einen Zustand höchster Verunsicherung. Gestellt vor die Wahl, entweder eine blaue Pille zu schlucken und damit im Hier und Jetzt – im Zustand des durch Trugbilder Geblendetseins – weiter zu existieren, oder eine rote Pille zu nehmen und damit den Weg der Wahrheit zu beschreiten, entscheidet sich Neo alias Thomas Anderson für die letztere. Bemerkenswert ist zunächst, dass die bloße Zufuhr einer Art von Tablette ein wahres, über die Welt der Scheinbilder erhabenes Sehen und Erleben ermöglichen soll. Die Geschichte will es, dass der Protagonist zu einer ihm bis dahin nicht bekannten Sphäre Zugang findet. Nach einem traumatischen Erwachen in dieser Sphäre wird Neo in die Crew des Raumschiffs aufgenommen. Dort eröffnet man ihm, dass er zur Erfüllung bestimmter Aufgaben in die Welt des Scheins zurückkehren könne; den Übergang dorthin ermöglichen Apparate, spezifische Sitzgeräte, auf denen die Akteure festgeschnallt werden, um dann über eine Elektrode am Hinterkopf die nötigen Daten für den Weltentransfer zu empfangen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten wächst Neo in die Rolle des Auserwählten hinein. Doch Anderson ist – wie verschiedentlich suggeriert – kein zweiter Christus, denn die Mission, die er zu erfüllen hat, umfasst ein breites Spektrum von Praktiken physischer Gewalt. Die erste Schulung, die er auf dem Raumschiff – wiederum gestützt auf ein Computerprogramm – zu durchlaufen hat, ist die Aneignung einer asiatischen Kampfsporttechnik: Jiu Jitsu. Der vor den Bildschirmen sonst bewegungslos verharrende Nerd hat eine neue Leidenschaft gefunden, Schlagen und Treten in virtuosen Varianten. Neo erschließt sich den eigenen, zuvor offenbar vernachlässigten Leib, hier allerdings vermittelt über ein KI-System. Das Trainingsprogramm setzt den Helden in die Lage, im Raum der Matrix übermenschliche Kräfte zu entwickeln, überschnell zu reagieren und ein entsprechendes Tempo bei der Ausführung physischer Handlungen an den Tag zu legen. Komplettiert werden diese Kompetenzen durch die Fähigkeit, dem Schwerefeld der Erde Paroli zu bieten, zu schweben und sich mit hoher Geschwindigkeit durch den Raum zu bewegen. All dies selbstverständlich in einer Welt des bloßen Scheins, hier gleichwohl mit allen Eigenschaften und Kennzeichen mechanischer Abläufe, die den Charakter der Bilder über weite Strecken bestimmen. Man kann den Narrativen des Films folgen und seine Geschehnisse lesen, wie sie gemeint sind, als Revolte einer Gruppe gegen eine scheinhafte Wirklichkeit, der jedes substantielle Dasein abgesprochen wird. Sein konkreter Verlauf, vor al-

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lem die spektakulären Bilder geben indessen Anlass, eine andere Deutungsperspektive zu verfolgen. War bei Platon der Weg zur Wahrheit an die Fähigkeit der Seele gekoppelt, über den Raum der sinnlichen Wahrnehmung hinauszugreifen, von leiblichen Aktivtäten Abstand zu nehmen, so führt er hier tief in die Sphäre physischer Prozesse und Empfindungen hinein. Nicht mehr eine spezifische Form des Denkens und der Anschauung, sondern der Einsatz kruder Gewalt bildet den Schlüssel zur Befreiung der Eingeschlossenen. Auf keiner anderen filmischen Begebenheit liegt ein entsprechend hohes Maß an inszenatorischer Aufmerksamkeit wie auf den Kämpfen zwischen Neo, Morpheus und Trinity auf der einen und Agent Smith sowie seinen im Verlauf der Ereignisse sich vermehrenden Replikanten auf der anderen Seite. In diesen Sequenzen, die phasenweise den Charakter tänzerischer Rituale annehmen, kommt der Film gleichsam zu sich selbst. Verschiedentlich entsteht der Eindruck, dass die übrigen Teile nur das Rahmenprogramm für einen stets erneut aufflammenden Kriegszustand abgeben. Symptomatisch ist der Einsatz der Musik, die aus den populären Genres stammt: Neo-Klassik, Rock und Techno. Gekämpft wird auf der Leinwand unter Begleitung rhythmischer Klänge, die an die leiblichen Empfindungen des Zuschauers adressiert sind. Während der Film auf der narrativen Ebene die Differenz zwischen Schein und Wahrheit deutlich akzentuiert, liefert er zugleich wirkungsmächtige Bilder, die selbst einer spezifischen Sphäre des Scheins, der über eigene Suggestivkräfte verfügenden Illusionswelt des Kinos angehören. Über psycho-physische Prozesse wird das rezipierende Subjekt in einen Raum phantasmatischer Bilder befördert, der dem Kampf der Rebellen um Wahrheit eigentümlich kontrastiert. In seiner Machart kann der Film kaum verbergen, worum es ihm über seine narrativen Gehalte hinaus vor allem geht, nämlich um die Erzeugung einer lustbesetzten Symbiose zwischen dem Zuschauer und den ihm gebotenen Offerten. Es sind also zwei Schauplätze zu berücksichtigen: Die Sphäre des im Film Erzählten, das heißt die Kämpfe von Menschen gegen die Macht der Illusionen erzeugenden Apparate, und das Erleben des Publikums, das vor der Leinwand Platz genommen hat und sich unterhalten lassen möchte. Das Verhältnis dieser beiden Schauplätze ist für die Deutung des Werks von zentralem Interesse. The Matrix ist ein Werk des Kinos, des Science-Fiction- und des Action-Genres, das mit dem Anspruch auftritt, dem rezipierenden Subjekt Zugänge zu spektakulären, ereignisreichen, von der Alltagswelt abgehobenen Wahrnehmungsräumen zu eröffnen. Als pessimistisches Opus, das in diagnostischer Absicht den Blick auf ein mögliches Schicksal des Menschen richtet, befriedigt der Film selbst das Bedürfnis der Weltflucht. Der erklärte Kampf gegen die Scheinwelt bleibt ein leeres Bekenntnis, denn die kinematographischen Bilder liefern nicht weniger als ein Manifest des Glaubens an die Kraft realitätssprengender Illusionen. Wie immer auch das Verhältnis zwischen Mensch und Maschinen in der Zukunft aussehen möge, der Film eröffnet kaum Möglichkeiten, dieses Verhältnis in überzeugender Weise zu thematisieren.

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Er unterläuft die zur Geltung gebrachten Motive der Aufklärung durch die Aufrichtung einer phantasmatischen Welt, die entsprechenden Bedürfnissen der Zuschauer entgegenkommt. Genau besehen betreibt er eine Destruktion des Realen zugunsten der Macht von Bildern, die eine fiktive, Erlösung verheißende Zukunft zum Gegenstand haben. Thomas Anderson, der sich der tristen Arbeitswelt seines Büros entfremdet hat, sucht nach psycho-physischen Befriedigungsquellen in seinen nächtlichen Exkursionen im Internet. Er repräsentiert jenen von Kierkegaard beschriebenen Typus des Verunsicherten und Verzweifelten, der seiner ungeliebten Existenz den Rücken kehren und ein anderer werden möchte, um eine Souveränität zu erlangen, die ihm sein alltägliches Dasein verweigert.13 Bestimmend ist auch hier der Wunsch einer Überwindung des abgepufferten Selbst, der Differenz von Subjekt und Objekt, von Innen- und Außenwelt.14 Der Weg dorthin führt über einen Steckkontakt an der Rückseite des Schädels, Produkt eines operativen Eingriffs, der durch die Maschinen mit dem Ziel einer Kolonisierung des Subjekts vorgenommen wurde. Für den Eingeschlossenen erweist sich diese Schnittstelle als Glücksfall, denn sie eröffnet ihm die Möglichkeit, sein Selbst mit der Welt der Objekte und das heißt hier mit den elektronischen Prozessen kurzzuschließen. Dabei kämpft der Held zugleich gegen die von Günther Anders beschriebene prometheische Scham, jene schmerzlich empfundene Schwäche des Menschen gegenüber der durch ihn hervorgebrachten Technik.15 Doch seine Bemühungen münden in einer für das Subjekt fatalen Identifikation mit dem Gegner: Neo verwandelt sich in eine Art von Maschine, er besetzt die Rolle eines Cyborgs, um jene Insuffizienzen loszuwerden, mit denen er angesichts der perfekt laufenden Computer konfrontiert ist.16 Im Verlauf seiner Mission zeigt Neo die Fähigkeit, Pistolenkugeln auszuweichen und diese auch zum Stehen zu bringen, in der Lesart seiner Anhänger ein Zeichen für eine Transformation seines Selbst, durch die er die Sphäre mechanistischer Gesetze hinter sich gelassen habe. In Sergio Leones Für ein paar Dollar mehr wurde die unsichtbare, weil mit hoher Geschwindigkeit sich bewegende Kugel zum

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Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, S. 13ff. In einer psychoanalytischen Untersuchung wird Neo als ein Subjekt dargestellt, dessen Dasein durch die Gefühle der Verlorenheit und des Ausgeliefertseins bestimmt ist. Als Zuchtprodukt einer Maschine fehle ihm eine »mütterliche Person«, die ihm »eine kindgerechte Fürsorge bereitstellt«. Lily Grammatikov/Thomas Zimmermann: »Die Matrix« und die Frage: Kann es doch ein richtiges Leben im Falschen geben? in: Parfen Laszig (Hg.), Blade Runner, Matrix und Avatare. Psychoanalytische Betrachtungen virtueller Wesen und Welten im Film, Berlin/ Heidelberg: Springer 2013, S. 296f. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, S. 23. Zum Motiv des Cyborgs, jener Verbindung von Maschine und Mensch, vergl. Donna Haraway: Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften; in: dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M.: Campus 1995, S. 33-72.

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Anlass einer Inszenierung, die an Zauberkunststücke aus dem Variété erinnert. In Matrix dagegen tritt das fliegende Projektil – über den Darstellungsmodus extremer Zeitlupe – ins Diesseits der sinnlichen Präsenzen ein. Doch die hier angeblich ins Spiel tretenden höheren Mächte bleiben in das Paradigma des Denkens von Ursache und Wirkung eingeschlossen; der Film operiert nach wie vor auf dem Boden des Kultes der Kraft. Eine besondere Blüte treibt diese Logik hervor, wenn sich das Subjekt selbst in eine Art von Projektil verwandelt und Neo einer Pistolenkugel oder Rakete ähnlich den Raum durchquert. Der Film spielt mit dem Prinzip kinetischer Energie, in besonderer Weise greifbar in einer Szene, in der der Held und sein Widersacher Agent Smith nach einem Luftkampf mit hoher Geschwindigkeit zur Erde stürzen, um dort einen gewaltigen Krater zu hinterlassen. So elaboriert der Film auf der konzeptuellen Ebene daherkommen mag – durch Anspielungen auf Topoi der klassischen Philosophie –, so krude und atavistisch stellen sich die Praktiken der Auseinandersetzung um Macht und Souveränität dar. In der Verwandlung des Menschen in ein Geschoss kulminiert eine seit langem ablaufende Bewegung der Kompensation existentieller Unsicherheit. Das an der eigenen Schwäche laborierende Subjekt phantasiert sich als raumübergreifende, instantan wirkende Kraft, im Grenzfall als Retter der bedrohten Menschheit. Doch die Träume des Computernerds bleiben an das mechanistische Weltbild gekettet. Über die Coolness, die die Filmfiguren mit ihren Sonnenbrillen und ihrer martialischen Kleidung nach außen kehren, gleichen sie sich der Welt der Projektile an. Diese Motive geben Anlass, noch einmal über das hier vorliegende Bedingungsverhältnis von entfesselter Kraft und täuschendem Schein nachzudenken. Die durch Neo und seine Mitkämpfer mobilisierte Gewalt richtet sich – so will es der Film – gegen die Erzeuger der Matrix, gegen jene Macht also, welche die Menschen in einem Raum bloßer Illusionen gefangen hält. Folgt man der Einsicht, dass in der Geschichte kinematographischer Bilder eine fortgesetzte Anhebung von Kraftquanten selbst einen Illusionsraum produziert, der Ereignisse möglich werden lässt, die das in der empirischen Welt Mögliche oder Wahrscheinliche übersteigen, so ist der werkimmanenten Lesart eine anders geartete Deutungsperspektive gegenüberzustellen. Das Bedingungsverhältnis zwischen der sich aufstufenden Kraft und der Welt der Trugbilder kehrt sich um: Das Subjekt führt nicht einen Kampf gegen die Macht des Scheins, um dem Realen zur Geltung zu verhelfen; es findet sich vielmehr in einen Kokon von Illusionen eingesponnen, weil es einen fortgesetzten, ins Imaginäre verlegten Krieg gegen feindliche Instanzen führt, denn die sich optimierende Gewalt erzeugt auf ihre Weise Fiktionen. Dies ist die in den Filmen der Matrix verschwiegene Voraussetzung des in ihnen mit wirkungsästhetischen Mitteln dargebotenen Konflikts zwischen Wahrheit und Schein. Im Hintergrund steht das verunsicherte, an der Alltagswelt leidende Subjekt, das gegen sein graues Dasein revoltiert. Es deklariert die fremd gewordene Wirklichkeit, die eine Quelle des Leidens darstellt, als Welt der Illusionen, um sich höheren Dingen, einer als

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wahr unterstellten Realität zuzuwenden. Doch die wahre Welt des Computernerds ist letztlich nicht das von Morpheus kommandierte Raumschiff oder die unter der Erde befindliche Stadt Zion mit ihren natürlich geborenen Menschen, sondern die Welt des Kampfes im Feld der Matrix, in der hohe Energien und ultraschnelle Akteure aufeinandertreffen.

Abb. 46, Filmstill aus: Die Schwestern Wachowski, Matrix Reloaded.

Abb. 47, Filmstill aus: Die Schwestern Wachowski, Matrix Reloaded.

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Abb. 48, Filmstill aus: Die Schwestern Wachowski, Matrix Reloaded.

Abb. 49, Filmstill aus: Die Schwestern Wachowski, Matrix Reloaded.

In unverhohlener Form fetischisieren die Filme physische Gewalt. Einen der Höhepunkte in dieser Hinsicht bildet jene in Matrix Reloaded gezeigte Sequenz, in welcher Neo im Anschluss an eine Begegnung mit dem Orakel – einer alten Dame – Agent Smith begegnet, der ungeachtet seines inzwischen vollzogenen Bruchs mit dem regierenden System nach einem kurzen Dialog zum Angriff übergeht. Was

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nun folgt, ist eine spektakuläre, mit hoher Dynamik ausgetragene Auseinandersetzung, während der sich Smith zu vervielfältigen beginnt, sodass Neo zuletzt gegen eine kaum noch überschaubare Gruppe identischer Replikanten zu kämpfen hat (46-49). Unter Einsatz entsprechender Aufnahme- und Schnittverfahren präsentiert der Film ein in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ablaufendes Geschehen, in dem die Kämpfer einmal mehr über außeralltägliche Eigenschaften verfügen. Sie bewegen ich vielfach schwerelos, zeigen die Fähigkeit, Gegner weit durch den Raum zu schleudern oder nach massiven Gewalteinwirkungen unverletzt wieder aufzustehen. Phasenweise ähneln die zunehmend komplexer werdenden Konfigurationen schlagender und tretender Akteure einem pulsierenden Ornament, das in Neo, dem heroisch ringenden Einzelnen, sein Zentrum besitzt. Am Ende entzieht sich der Auserwählte, indem er einer Rakete ähnlich mit hoher Geschwindigkeit zum Himmel aufsteigt. Dieses Stück Kino lässt an Darstellungen aus der Malerei der klassischen Moderne denken. Man fühlt sich an Bilder aus dem Kreis des italienischen Futurismus erinnert, der ebenfalls Formen und Akte der Gewalt ins Zentrum seines Interesses rückte. F.T. Marinetti, der erste Propagandist der Bewegung, schlägt in seinem im Jahre 1909 veröffentlichten Manifest des Futurismus unmissverständliche Töne an: »Schönheit«, so erklärt er dort, »gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein.«17 Der Autor erhebt den gewaltsam ausgetragenen Konflikt zu einem zentralen Prinzip künstlerischer Produktion. Folgende Bemerkungen lesen sich fast wie eine Inszenierungsanweisung für entsprechende Szenen von Matrix: »Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag. Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit.«18 Dass der hier exponierte Salto mortale zum Repertoire der Bewegungsfiguren der Kämpfer des Filmes gehört, muss nicht eigens hervorgehoben werden. Dennoch ist hier eine Differenz zu den avancierten Formen der futuristischen Malerei zu berücksichtigen. Umberto Boccioni, der in diesem Fall die entscheidenden Schriften lieferte, war an einer Kunst interessiert, die sich von den natürlichen Formen der Dinge und des menschlichen Körpers entfernt und sich in Richtung einer gegenstandslosen Bildsprache bewegt.19 Im Kern geht es für ihn um das Prinzip der Simultanität, das heißt um die Überwindung des isolierten Objekts zuguns-

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Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus, zitiert nach Charles Harrison/Paul Wood (Hg.), Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, Ostfildern-Ruit: Hatje 1998, Bd. 1, S. 185. Ebd., S. 185. Umberto Boccioni: Physischer Transzendentalismus und bildnerische Gemütszustände, in: ders, Futuristische Malerei und Plastik (Bildnerischer Dynamismus), Dresden: Verlag der Kunst 2002, Ebd., S. 183f.

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ten einer relationalen Struktur, in der die mitspielenden Elemente einen wechselseitigen Einfluss aufeinander ausüben und zu einer organischen Einheit der Komposition zusammenwachsen. In der vorliegenden wie auch in diversen anderen Szenen beschreitet der Film diesen Weg einer Vermittlung des Unterschiedenen nicht, sondern übersetzt den von Boccioni konzipierten Dynamismus in ein traditionell anmutendes figuratives Idiom zurück. Strikt gegeneinander abgeschottet, verfügen die Kämpfer über undurchdringliche Oberflächen. Nur zu Beginn dringt Agent Smith mit der Hand gewaltsam in den Körper von Neo ein, um ihn zu neutralisieren, was ihm jedoch nicht gelingt; der Angegriffene behauptet sich, kann die Hand aus seinem Körper entfernen, ohne dass derselbe die geringsten Spuren des Penetrationsaktes zeigt. Auffallend ist der visuelle Charakter des nun Folgenden: In unterschiedlichen Geschwindigkeiten zeichnen die schwebenden, schlagenden und stürzenden Akteure Pirouetten und Arabesken in den Raum, wodurch sich die gewaltsame Konfrontation zeitweise in eine Art von artifiziellem Ballett verwandelt. Im Verlauf des Geschehens reißt Neo einen metallenen Pfahl einschließlich seiner steinernen Verankerung aus dem Boden, um ihn zunächst als Schlagwerkzeug zu nutzen und dann wie den Flügel eines Propellers um die Achse seines eigenen, freischwebenden Körpers kreisen zu lassen. In der Folge dreht sich dieses Verhältnis um: Das Instrument dient ihm nun als Achse, an der er sich mit den Händen festhält und seine Gegner mit den Beinen traktiert. Der stilisierte Heros verschmilzt mit dem metallenen Instrument zu einem Rotationsapparat, der kreisartige Angriffsbahnen in den Raum zeichnet. In der Folge wird dann ein Blick aus der Vogelperspektive auf das Geschehen geboten: gezeigt sind die anrückenden Replikanten des Agent Smith, die sich in einer spiralförmigen Konfiguration auf Neo, das Zentrum des Kampfes, zubewegen, während sich das Kamerabild selbst ein Stück weit um eben dieses Zentrum zu drehen beginnt. Die künstlichen Bilder, die die Optimierung der Kampfkraft auf beiden Seiten zum Gegenstand haben, legen unbeabsichtigt die innere, psychodynamische Logik des hier gezeigten Exzesses offen. In der alten Metaphysik und Theologie war die Figur des Kreises Zeichen einer höheren Vollkommenheit, die in Gott ihre letzte Voraussetzung hat. Im kompositorischen Gefüge des Bethlehemitischen Kindermordes bei Giotto treten Kreisbahnen hervor, mit denen der Erlösungsstatus der Gemordeten unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wird; bereits die planimetrische Struktur der Szene präsentiert das Zeichen der göttlichen Gnade (Abb. 1). Matrix steht jenseits derartiger Verhältnisse. Die beschleunigte Bewegung des Metallstabes und deren Effekt, die Kreisgestalt, sowie die Drehung des Bildes, fungieren als Ausdruck einer Praxis, die sich von externen Instanzen abkoppelt hat und als selbstgenügsamer Prozess in Erscheinung tritt. Neo rotiert um die eigene Achse und vollstreckt dabei eine Logik der Gewalt, die sich als Gravitationszentrum – ein Absolutes eigener Art – im Raum der kinematographischen Bilder etabliert. Der zur Maschine Mutierte, in den Raum des Scheins Eingeschlossene, folgt einer

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Form des Begehrens, in dem das Prinzip der Vernichtung zum Selbstzweck geworden ist.20 Über die wirkungsästhetischen Potentiale der Darstellung wird dieser Restbestand an subjektivem Behauptungswillen an ein aufnahmebereites Publikum übermittelt. Wo – wie in diesem Fall – die physische Existenz des Kämpfers klar umrissen ist, dessen außeralltägliche Kräfte und dessen Unverletzlichkeit außer Zweifel stehen, kann sich das existentiell verunsicherte Subjekt die filmischen Offerten umso leichter zu eigen machen. Auf dem Boden der kinematographischen Hypnose taucht der Zuschauer nicht nur visuell, sondern auch in leiblicher Form in ein selbstzweckhaft ablaufendes, zum Zentrum der Welt aufgestiegenes Kampfgeschehen ein.21

Abb. 50, Filmstill aus: Die Schwestern Wachowski, Matrix.

Von besonderem Interesse ist eine weitere, dem Futurismus ebenfalls nahestehende Szene, in welcher ein Hubschrauber in die verglaste Wand eines Wolkenkratzers stürzt (Abb. 50-52). Nachdem Morpheus in einer dramatischen Aktion aus den Fängen von Agent Smith befreit wurde, steuert Trinity das gekaperte Fluggerät, während Morpheus und Neo, an langen Seilen mitgeführt, durch die Schluchten aufragender Hochhäuser schweben. Die Bilder zeigen den von Geschossen getroffenen Hubschrauber, die kühne Pilotin sowie ihre lebende Fracht in schwindelerre20 21

Hier sei noch einmal an den Begriff der autotelischen Gewalt bei Jan Philipp Reemtsma erinnert. Vertrauen und Gewalt, S. 116ff. Hier greift einmal mehr ein Prozess der auch über leibliche Wahrnehmungen laufenden Identifikation, den Christiane Voss mit dem Begriff des Leihkörpers umschrieben hat. Der Leihkörper; vergl. auch Thomas Morsch: Medienästhetik des Films.

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Abb. 51, Filmstill aus: Die Schwestern Wachowski, Matrix.

Abb. 52, Filmstill aus: Die Schwestern Wachowski, Matrix.

genden Perspektiven. Aufgrund von Prozessen synästhetischer Partizipation sieht sich der Zuschauer selbst in eine instabile Lage versetzt, was ihn für das Kommende in besonderer Weise empfänglich werden lässt. Morpheus und Neo können noch auf naheliegenden Dächern abgesetzt und Trinity von Neo durch ein Seil in letzter Sekunde aus ihrer lebensbedrohlichen Position befreit werden, bevor der Heliko-

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pter mit der Fassade des Hochhauses kollidiert. In einer nur im Raum künstlicher Bilder möglichen Form versinkt das Fluggerät in Zeitlupe in der verglasten Fläche, welche dabei in Wellenbewegungen gerät, dann in zahllose Splitter zerspringt, um schließlich einer gewaltigen Explosion Raum zu geben. Während der in das Schaufenster eines Bekleidungsgeschäfts fallende Reiter in The Wild Bunch von Peckinpah den Sturz überdauerte, vermengen und durchdringen sich in Matrix das Eintauchende und das aufnehmende Medium in einem katastrophischen Prozess. Umberto Boccioni hatte von einer simultanen, wechselseitigen Durchdingung des Gegenstandes und seines Umfeldes auf dem Schauplatz des Bildes gesprochen: »Daher ist der Begriff des in sich geschlossenen, endlichen und meßbaren Gegenstandes das Ergebnis des traditionellen objektiven und photographischen Bemühens, den Gegenstand wieder zu reproduzieren und des Bemühens, sich vor den Gegenstand zu stellen, ihn optisch zu fixieren und ihn somit aus dem Leben zu lösen […]. Wir hingegen, die wir bemüht sind, die bildnerische Resultante Gegenstand + Umgebung zu bilden, brechen die Konstruktion des Gegenstandes genau dort ab, wo uns die lyrische Intuition die ergänzende Hilfe der Umgebung eingibt. In diesem Augenblick dringt das Element Umgebung in das Element Gegenstand ein und bildet eine simultane Durchdringung der Ebenen.«22 An anderer Stelle heißt es: »Für uns ist das Bild keine äußerliche Szene mehr, keine Bühne, auf der sich das Geschehen abspielt. Für uns ist das Bild eine ausstrahlende architektonische Konstruktion, deren zentraler Kern der Künstler und nicht der Gegenstand ist. Es ist eine emotive architektonische Umgebung, die die Empfindung hervorruft und den Betrachter umhüllt.«23 Man könnte sagen, Matrix liefere mit dem havarierenden Hubschrauber zugleich ein Bild des Schicksals des vor der Kinoleinwand sich befindenden Subjekts, das in das Geschehen des Films nicht nur einfach eintaucht, sondern dabei eine folgenreiche, identitätszersetzende Transformation durchläuft. Unmittelbar im Anschluss an das bildmächtige Ereignis tritt Morpheus an Trinity und Neo heran und fragt die Erstere, ob sie es ihm jetzt glaube (dass Neo der Erwählte sei). Mit dieser Frage wird ein Assoziationsraum aufgespannt, in dem auch der Zuschauer eine Stellung zu besetzen aufgerufen ist, denn auch er muss für sich die Frage beantworten, ob er in Neo den Befreier der Menschheit sehen möchte. Die Vertiefung der Immersion durch die Gewalt der Bilder verstärkt die Identifikationsneigung des Rezipienten mit dem filmischen Personal, nicht zuletzt mit Neo, dessen Rolle er über einen Prozess leiblicher Angleichung übernehmen kann. 22 23

Boccioni, Physischer Transzendentalismus, S. 144. Ebd., S. 154.

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Welchen Sinn hat es, wenn überstark erscheinende Figuren mit unbeirrbarer Entschlossenheit und unerschöpflicher Energie aufeinander einschlagen und am Ende unbeschädigt vom Platz gehen? Die Antwort ist nicht schwer zu geben: Wo die Kraft unbegrenzt zur Verfügung steht und keine störenden Verletzungen auftreten, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass der Kampf, wenn nicht sofort, dann irgendwann, mit unverminderter Härte fortgeführt wird. Unter diesen Bedingungen können die Kontrahenten ein auf Dauer gestelltes symbiotisches Verhältnis entwickeln. Wie in Comic-Strips, in denen vergleichbare Verhältnisse zu beobachten sind, geht es um imaginäre Aktivitäten, die mit der Ausübung oder dem Erleiden realer Gewalt kaum etwas gemeinsam haben. Dennoch nimmt der Film auf reale Gewalt- beziehungsweise Machtverhältnisse Bezug. Die Crew des Raumschiffes, in die Neo eintritt, wie auch Zion, die Stadt der authentischen Menschen, umfassen diverse Ethnien, die in modernen westlichen Gesellschaften teils unter Prozessen sozialer Exklusion zu leiden haben. Darüber hinaus werden Frauen in Rollen präsentiert, die traditionell eher Männern vorbehalten waren. Trinity kämpft auch physisch an vorderster Front gegen die Ordnung der Maschinen; Niobe, die ehemalige Geliebte von Morpheus, zeigt eine Virtuosität beim Steuern eines Raumschiffes, die keiner ihrer männlichen Kollegen besitzt. Matrix dreht die Verhältnisse, die in The Birth of an Nation von Griffith favorisiert wurden, einfach um, ohne dabei in triebdynamischer Hinsicht neue Wege zu beschreiten. Auch hier rechtfertigt sich die Gewalt durch den Kampf gegen das Verworfene. Ähnlich wie in The Wild Bunch von Peckinpah ist der Feind das Bestehende, in diesem Fall die in gläsernen Bürotürmen angesiedelte Arbeitswelt, die Banken, die Versicherungen, die IT-Agenturen, die Welt des Kapitals. Agent Smith repräsentiert den glatten, weißen, männlichen Angestellten, der sich für entsprechende Milieus bestens als Projektionsfläche aggressiver Impulse eignet; er ist das Alter Ego des Helden Neo, der sich aus den Fängen der Entfremdung zu befreien versucht. Auf dem Hintergrund dieser narrativen Rahmenbedingungen erscheint der Kampf der Revoltierenden als rational, moralisch begründet und im Dienste einer besseren Zukunft notwendig. Doch der Film leistet den Interessen der sozial Marginalisierten einen Bärendienst, denn er rechtfertig Formen der Destruktion, die ihr Telos nicht in der Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern in sich selbst finden. Die ornamentalen Qualitäten mancher Kämpfe akzentuieren auf ihre Weise die inszenatorische Entscheidung, Gewalt als ein selbstreferentielles, von externen Zwecken abgekoppeltes Geschehen zu behandeln. Dass hier neben sadistischen auch masochistische Motive ins Spiel treten, legt der Film – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – offen. Die Sitzgeräte im Raumschiff, in denen die in die Scheinwelt der Matrix Eintauchenden zunächst an Handgelenken und Beinen fixiert werden, erinnern an Elektrische Stühle, die in den Vereinigten Staaten zur Hinrichtung Verurteilter Verwendung finden. Andy Warhol hat diesen Stühlen in diversen auf eine Photographie zurückgreifenden Siebdrucken zu

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trauriger Berühmtheit verholfen.24 Während eines Kampfes gegen Agent Smith ist der wahre, in einem derartigen Sitz festgeschnallte Körper von Neo heftigen Zuckungen ausgesetzt. Man kennt dieses Phänomen aus dem später entstandenen Film The Green Mile von Frank Darabont, der das qualvolle Sterben eines Delinquenten präsentiert. Mit dem Motiv des Elektrischen Stuhles, der nach einer Bemerkung von Heiner Bastian zur »Phänomenologie amerikanischer Sozialität« gehöre, schließt sich ein weiterer Kreis: Der lustbesetzte Kampf in der Matrix, der angeblich im Dienste der Befreiung des Menschen geführt wird, zeigt sich zugleich als Todesfahrt. Motiviert ist der Übertritt von der einen, der wahren, in die zweite, scheinhafte Welt zugleich von einer spezifischen Nekrophilie. Hier regiert die Lust am Leblosen, die sich nirgends besser offenbart als in den Kämpfen zwischen den Kontrahenten, die selbst nach intensivsten Gewalteinwirkungen keine Verletzungen zeigen. Wie zahlreiche andere Filme arbeitet die Trilogie der Matrix an einer Auratisierung des Toten. Neo, der Auserwählte, der sich mit hoher Geschwindigkeit durch den Raum zu bewegen vermag, fungiert als Todesengel, der die elektronische Hölle als einen Ort höchsten Lustgewinns offeriert. Auch Matrix liefert ein Bespiel für die Einsicht, dass den sadistischen Interessen stets masochistische Neigungen zur Seite treten. Dabei verfügen bereits die spektakulären Bilder selbst über ein erhebliches Maß an Durchschlagskraft, die dem Zweck zu dienen hat, das Subjekt aus seiner wie immer auch beschaffenen Lage zu vertreiben und in einen außeralltäglichen Zustand zu befördern. Die vielfach obsessive Suche nach starken, den Betrachter erschütternden Eindrücken ist bereits selbst Ausdruck eines masochistischen Interesses. Der Kult der Kraft, der zunächst das dargestellte Sujet betrifft – die wiedergegeben Kämpfe oder Naturkatastrophen – reproduziert sich schließlich in einem Kult des machtvollen Bildes. Die Filme der Matrix, die sich einer fortgeschrittenen Computertechnik bedienen, liefern ein Beispiel dieser Zusammenhänge; sie arrangieren dabei die Trümmer der untergegangenen Religion und setzen auf die Prinzipien der im Prozess der Säkularisierung fortlebenden Magie. Radikalisiert sind die im Film zur Geltung gebrachten Prinzipien in der Welt der Computerspiele, mit denen das Subjekt in einen stetig sich reproduzierenden Zirkel des Gewalthandelns eintreten kann. Das bei Luca Giordano dargestellte Verhältnis des göttlichen Sendboten zu seinem Widersacher, dem Satan, hat in diesem Fall eine neue Gestalt angenommen (Abb. 12): Der Engel sitzt nun in Gestalt des Spielers vor einem Monitor, der bewegte Bilder präsentiert, auf die er mit Hilfe eines entsprechenden Instruments Einfluss auszuüben vermag. Fixiert auf die Darstellung immer neu andrängender Gegner, auf die er reflexartig zu reagieren gezwungen ist, befindet er sich im Zustand einer Symbiose mit einem jedoch nur 24

Heiner Bastian: Death and Disaster im Werk von Andy Warhol. Ein Tag wie jeder andere, in: Ingrid Mössinger (Hg.), Andy Warhol. Death and Disaster, Chemnitz: Kunstsammlungen Chemnitz 2015, S. 20f.; vergl. auch S. 74-83.

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partiell beherrschbaren apparativen Prozess. Der Teufel kommt buchstäblich aus der Maschine und bildet auch hier den Gegenstand anhaltender Zuneigung sowie einer nicht weniger entwickelten Bereitschaft, Angriffe auf das eigene Selbst auf sich zu nehmen. Matrix besitzt phasenweise den Charakter eines aufwendig produzierten Werbefilms für Computerspiele, mit denen die Destruktion des Subjekts auf die Spitze getrieben wird. In ausdauernden Sitzungen bringen Individuen ihre Zeit vor Bildschirmen zu und stricken an einer sich verdichtenden Welt des Scheins, aus der es irgendwann kein Entrinnen mehr gibt. Baudrillards Diagnose vom Verschwinden des Realen durch den Konsum elektronischer Medien ist unter diesen Bedingungen nach wie vor aktuell.25

III. Neben den entsprechenden Blockbustern, in denen Gewalt in spektakulären Bildern dargeboten wird, ist ein Genre zu berücksichtigen, das sich dem Thema in moderaterer Weise annähert, die Kriminalserie, in der stets dieselben Kommissarinnen und Kommissare nach immer neuen Verbrechern auf der Suche sind. In akribischer Manier arbeiten die Produzenten hier vielfach an einer Perfektionierung der Darstellung des geschundenen Leibes. Gerade im Hinblick auf dieses Sujet ist ein veristisches Interesse zu beobachten, das in den übrigen Sequenzen der Filme nicht unbedingt anzutreffen ist. Wurde der Tote noch vor wenigen Jahrzehnten von der Kamera in der Regel nur kurz gestreift, so ist er nun in Großaufnahme – vorzugsweise auf den Obduktionstischen der Gerichtsmedizin – wirkungsmächtig in Szene gesetzt. Im Fokus stehen die bleichen Gesichter der Opfer, die Eintrittsstellen von Projektilen oder Stichwerkzeugen in deren Körper, die gewaltbedingten Verfärbungen der Haut einschließlich der groben Nähte, mit denen der zur Untersuchung geöffnete Leichnam wieder verschlossen wurde.26 Wunden bilden Spuren einer durch den Täter entfesselten Kraft, die dem Opfer das Leben oder zumindest die Gesundheit raubte. Als Produkte destruktiven Handelns und einer demselben komplementären Ohnmacht auf Seiten der Angegriffenen fungieren sie als Faszinosum für entsprechend disponierte Publikumsgruppen; Verletzungen entfalten unter bestimmten Bedingungen eine Aura, in der sich unterschiedliche, einander widersprechende Impulse zusammenschließen: Sadistische Interessen können hier ebenso anknüpfen wie deren Gegenstück, die Neigungen zum Masochismus, mit denen sich das Subjekt Gewaltakten bereitwillig ausliefert. In den Filmen selbst

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Vergl. Jean Baudrillard: Der Symbolische Tausch und der Tod. Mit Recht ist im Hinblick auf entsprechende Phänomene von einer »neuen Sichtbarkeit des Todes« gesprochen worden. Thomas Macho/Kristin Marek (Hg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes, München: Fink 2007.

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treten neben dem Täter und dem Opfer zugleich dritte Positionen auf den Plan: Der Zeuge, der Ermittler sowie auch der Ankläger, der über den schuldig Gewordenen zu Gericht sitzt und ein Urteil fällt. Vorausgesetzt ist dabei, dass die unterschiedenen Positionen nur in ihren wechselseitigen Beziehungen ihren Sinn entfalten. Dass in Gewaltverhältnissen nicht nur zwei, sondern zumindest drei Positionen berücksichtigt werden müssen, ist in der Literatur immer wieder hervorgehoben worden. Stephen Pinker etwa spricht von einem Dreieck der Gewalt.27 Angela Keppler, die eine Analyse entsprechender Darbietungen im Fernsehen vorgelegt hat, verwendet den Begriff der Gewalt-Triade beziehungsweise triadischer Gewalt.28 Man kann an das Motiv der sozialen Figurationen bei Norbert Elias anknüpfen, denn es handelt sich um untereinander verkoppelte Rollen, die durch wechselnde Akteure besetzt werden können.29 Bedeutsam ist im vorliegenden Fall, dass die Positionierungen des Zuschauers bei der Rezeption der Filme keineswegs strikt gegeneinander abgegrenzt sind, sondern die Neigung besitzen, ineinander überzugehen; auf dem Boden des symbiotischen Komplexes ist der Wechsel zwischen sadistischen und masochistischen Bestrebungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel.30 Von dieser Dynamik sind auch die dritten Positionen – die des Zeugen beziehungsweise des Voyeurs, des Ermittlers oder Anklägers – betroffen: Der zunächst unbeteiligt Beobachtende gerät rasch in den Strudel des symbiotischen Komplexes; selbst die internalisierte Rolle des Anklägers kann sich in Richtung der beiden Seiten dieses Komplexes verschieben.31 Die Prozesse des Wechsels zwischen den Positionen 27 28

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Stephen Pinker: Gewalt. Eine Geschichte der Menschheit, Frankfurt a.M.: Fischer 2013, S. 72. »Gewalt«, so die Autorin, »wird ausgeübt, Gewalt wird erlitten, Gewalt wird betrachtet. In diesem Dreieck wird Gewalt von Tätern, Opfern und Zuschauern gemeinsam realisiert – wenn auch in sehr unterschiedlichen Bedeutungen von ›realisiert‹: zugefügt, schmerzlich empfunden, aus der Distanz betrachtet.« Angela Keppler: Mediale Gegenwart. Eine Theorie des Fernsehens am Beispiel der Darstellung von Gewalt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 147; vergl. auch Wolfram Eilenberger: Du sollst nicht töten. Emanuel Levinas und die Ethik des TatortVorspanns, in: ders. (Hg.), Der Tatort und die Philosophie, S. 34f. Vergl. Menschen in Figurationen. Ein Lesebuch zur Einführung in die Prozeß- und Figurationssoziologie von Norbert Elias, Zusammengestellt und eingeleitet von Hans-Peter Bartels, Opladen: Leske & Budrich 1995. Hier sei noch einmal an Erich Fromm erinnert, der von der Einsicht ausgeht, dass entsprechende Individuen sich in einem »ständigen Schwingungszustand zwischen der aktiven und der passiven Seite des symbiotischen Komplexes« befänden, so »daß es oft schwerfällt zu entscheiden, welche Seite in einem bestimmten Augenblick am Werk ist«. Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, S. 119. Auch Birgitta Nedelmann macht darauf aufmerksam, dass in Gewaltverhältnissen »Täter-, Opfer-, und Zuschauerrollen typischerweise ineinander verschwimmen, miteinander ausgewechselt oder vollkommen unkenntlich werden können«. Birgitta Nedelmann: Gewaltsoziologie am Scheideweg. Die Auseinandersetzungen in der gegenwärtigen und der künftigen Gewaltforschung, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Sonderheft 37 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Wiesbaden 1997, S. 67.

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laufen im Inneren des Zuschauers ab und bleiben von außen unbeobachtbar. Im Prinzip liefern die filmischen Offerten lediglich Anreize, die im Prozess der Rezeption in unterschiedlicher Weise aufgegriffen und verarbeitet, das heißt in diese oder jene Erlebnisperspektive übersetzt werden müssen. In der Verkoppelung mit den dargebotenen Ereignissen beobachtet sich der Beobachter in bestimmter Weise selbst. Nur zu Beginn des Films kann man von einem Rezeptionsverhältnis sprechen, in welchem einem Objekt ein Subjekt gegenübersteht; im Verlauf des Geschehens verschwindet diese Differenz dagegen, um einem intersystemischen Geschehen Platz zu machen. Der Zuschauer betritt in der Wahrnehmung des Films also ein relationales Gefüge, in dem er verschiedene Positionen besetzen und dabei divergente Interessen verfolgen kann.32 So steht es ihm frei, die Rolle des Täters einzunehmen oder auf die Seite des Opfers zu wechseln sowie auch als Beobachter aufzutreten, ohne dabei zwangsläufig über jene neutrale Distanz zu verfügen, die mit der Position eines Beobachters in anderen Kontexten verknüpft ist. Rezeptionspraktiken, die Darstellungen der Gewalt mit Lust begegnen, können kaum auf Anerkennung zumindest in einer breiteren Öffentlichkeit westlich orientierter Gesellschaften hoffen; wer sich zu derartigen Neigungen bekennt, begibt sich rasch ins soziale Abseits. Mit Blick auf dieses Dilemma ist die Filmindustrie nicht untätig geblieben: In strategischer Absicht entwickelte sie Praktiken der Darstellung, die der einen Seite, den Imperativen der Moral, gerecht werden, ohne die andere Seite, das latente Gewaltinteresse, zu vernachlässigen. Namentlich die Figur des kompromisslos agierenden Guten legitimiert unter Umständen mediale Offerten, in denen eine moralische Standards verletzende, dezidiert grausame Niederringung von Gegnern vor Augen geführt wird. Im Science-Fiction-Genre werden zu diesem Zweck mythische Narrative entwickelt, die integre Individuen im Kampf mit dunklen, außerirdischen Mächten zeigen, die nicht weniger als die menschliche Zivilisation zu vernichten drohen. Der Krieg gegen die Angreifer wird mit äußerster Härte und Entschiedenheit geführt, selbst der Einsatz von Atomwaffen, der sonst unter einem Tabu steht, ist nun das Gebot der Stunde. Im Raum der Kriminalgeschichte bieten Akte der Gewalt den Anlass einer professionalisierten Ermittlungsarbeit, die durch staatlich legitimierte Akteure bewerkstelligt wird. Voraussetzung ist der analytische Blick des Kommissars, der das Profil der abgelaufenen Ereignisse und ihrer Spuren im Dienste der Aufklärung des Verbrechens zu lesen versteht. Mit diesen Praktiken tritt die Idee der Wahrheit im Raum des narrativen Geschehens auf den Plan: Am Ende soll eine möglichst zweifelsfreie Einsicht das zu Beginn bestehende Nichtwissen über den Hergang und 32

Josef Früchtl hat entsprechende Verhältnisse anhand des Films Das Schweigen der Lämmer beschrieben. Das Unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 213ff.

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das Subjekt der Tat ersetzen. Evidentermaßen hat man es bei den Praktiken professioneller Ermittler mit Aktivitäten zu tun, die nicht mit dem Gebaren lustgetriebener Voyeure identifiziert werden können. Doch die symbiotischen Prozesse, die während der Filmrezeption mobilisiert werden, bieten den zur Geltung gebrachten Prinzipien einer neutralen, von niederen Affekten freien Erkenntnis kein günstiges Terrain, denn die Wahrheit wird hier potentiell in den Dienst der Camouflage oder auch der Rechtfertigung destruktiver Impulse gestellt. Der Zuschauer, der im Fortgang der Geschichte auf die Seite des Ermittlers gewechselt war und auf diese Weise einen temporären Läuterungsprozess durchlaufen hat, kann sich mit gutem Gewissen gegen den ermittelten Gewalttäter richten, der zuvor noch Gegenstand seines identifikatorischen Interesses gewesen war. Das involvierte Subjekt besetzt der Möglichkeit nach sämtliche Positionen – die des Täters, des Opfers und der unterschiedlichen Beobachter –, um sowohl den eigenen symbiotischen Bedürfnissen als auch den von außen herangetragenen Forderungen eines sozial akzeptierten Verhaltens entgegenzukommen. Im Anschluss an Motive der Psychoanalyse kann man von Kompromissbildungen sprechen, in denen sich einander ausschließende Bestrebungen des rezipierenden Subjekts wechselseitig durchdringen. So fördert die Darstellungslogik entsprechender Filme ein instrumentelles Verhältnis des Subjekts sowohl zur Wahrheit als auch zur Moral. Im Hintergrund der hier sich durchsetzenden affektiven Dynamik steht der Zustand existentieller Unsicherheit, der sich im Zuge der Fortentwicklung moderner Gesellschaften weiter verstärkt. Neben der von Kierkegaard diagnostizierten Angst vor der Freiheit macht sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend jene Furcht vor den unkalkulierbaren Konsequenzen sozialer, ökonomischer oder technischer Entwicklungen bemerkbar. Die Soziologie des Risikos wie sie von Ulrich Beck und Niklas Luhmann entwickelt wurde, hat auf diese Sachlage reagiert. Wo die Aktionsmacht des Menschen zur entscheidenden Größe aufsteigt, tritt unweigerlich das Problem der Folgen von Entscheidungs- und Handlungsprozessen hervor. Mit Blick auf diese Prozesse bemerkt Luhmann in einer provozierenden Wendung, dass die »moderne Gesellschaft Zukunft als Risiko vergegenwärtigt«.33 Das gehäufte Auftreten von Kollateralschäden technischer, ökonomischer und politischer Planungen verstärkt die Gewissheit des Menschen, in einer Welt zu existieren, in der sich Zukunft als weitgehend unberechen- und unbeherrschbar darstellt; dies gilt für globale Prozesse ebenso wie für das Alltagsleben des Einzelnen, weil ausnahmslos jede Entscheidung Risiken und das heißt Gefahren mit sich bringt.34 Ulrich Beck spricht

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Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos, Berlin: De Gruyter 2003, S. 45. Luhmann ersetzt den traditionellen Dualismus Risiko/Sicherheit durch den Dualismus Risiko/ Gefahr. Vergl. Risiko und Gefahr, in: ders., Soziologische Aufklärung 5, Konstruktivistische Perspektiven, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 126-162.

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in diesem Sinn von einer Risiko- beziehungsweise von einer Weltrisikogesellschaft.35 Was den Umgang mit Risiken zusätzlich erschwert, ist die Tatsache, dass Entscheider und Betroffene keineswegs stets über gemeinsame Kriterien der Analyse und Bewertung künftiger Entwicklungen verfügen; im Raum einer Kultur, in der die in diesem Kontext vorgetragenen Argumente vielfach als interessenabhängig gelten müssen, fehlt es an einem für alle Beteiligten geltenden Fundament für Risikoanalysen.36 Die für traditionelle Diskurse fraglos geltende Differenz zwischen subjektiven und objektiven Kriterien verliert an Bedeutung; selbst die Vorstellung einer für alle Parteien gemeinsamen Faktenbasis erodiert.37 Mit herkömmlichen Mitteln der Theoriebildung sind die auftretenden Probleme nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Dass sich in diesem Kontext das für das überkommene wissenschaftliche Denken verbindliche Reale zunehmend verflüchtigt, bildet eine weitere Ursache für das sich ausbreitende Gefühl der Unsicherheit. Folgende Faktoren sind in diesem Zusammenhang ebenfalls zu berücksichtigen: die Verschärfung der Konkurrenz zwischen den Individuen, das Schwinden des Vertrauens in soziale Strukturen und politische Institutionen, die Überforderung des Einzelnen durch Imperative der Selbstverwirklichung sowie die Zunahme von Selbstzweifeln.38 Heinz Bude spricht von einer Gesellschaft der Angst.39 Selbst in Milieus, die vergleichsweise erfolgreich leben und arbeiten, kursiert die Furcht vor dem eigenen Versagen angesichts selbst gesetzter Ziele oder fremder Erwartungen. Man kann, so der Autor, einen »Wechsel im gesellschaftlichen Integrationsmodus vom Aufstiegsversprechen zur Exklusionsdrohung« beobachten.40 Bei aller oftmals nach außen getragenen Selbstsicherheit erfahren sich Individuen als substantiell bedroht, schutzlos und unvorhersehbaren Entwicklungen ausgeliefert. Konkrete, eingrenzbare Ursachen für derartige Zustände sind oft gar nicht auszumachen; verantwortlich ist vielfach eine komplexe Gemengelage verschiedener Faktoren, deren Zusammenwirken für den Einzelnen kaum durchschaubar ist. Das anonymen Zwängen ausgelieferte, Gefühle der Ohnmacht entwickelnde Subjekt sieht sich der Möglichkeit beraubt, im eigenen Interesse erfolgreich zu kommunizieren und zu handeln. Die Neigung, auf diese Situation mit physischer Gewalt zu 35 36

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Ulrich Beck: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. »Die Kategorie des Risikos«, so Ulrich Beck, »eröffnet eine Welt dies- und jenseits klarer Unterscheidungen von Wissen und Nichtwissen, wahr und falsch, gut und böse. Die eine und einzige Wahrheit ist in Hunderte von Relativwahrheiten zersprungen, die sich durch die Nähe zum und Betroffenheit durch das Risiko ergeben.« Ebd., S. 22. Luhmann bemerkt, dass die klassische Differenz zwischen subjektiven und objektiven Gesichtspunkten in der Risikoabschätzung nicht mehr trägt. Risiko und Gefahr, S. 147. Vergl. Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 189ff. Heinz Bude: Gesellschaft der Angst, Hamburg: Hamburger Edition 2014. Ebd., S. 19.

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reagieren, hält sich in Grenzen, denn vor offener Aggression schrecken die allermeisten Individuen moderner Gesellschaften, wie Randall Collins gezeigt hat, zurück.41 Die entsprechenden statistischen Werte sind, so Stephen Pinker in seiner großen Studie zur Geschichte der Gewalt, ohnehin vergleichsweise niedrig, wenngleich phasenweise ein gewisses Ansteigen der Zahlen zu beobachten ist.42 Die Intensivierung der Gewalt in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts führt der Autor auf den Einfluss der Popkultur zurück, die sich in dieser Phase in teils militanter Form den überkommenen sozialen Konventionen entgegenstellte.43 Im selben Zeitraum erreichte die Darstellung von Gewalt in den Unterhaltungsmedien eine bis dahin nicht gekannte Intensität.44 Das von Freud im frühen 20. Jahrhundert diagnostizierte Unbehagen in der Kultur ist nicht verschwunden; die von ihm Betroffenen suchen vielfach nach wie vor nach Möglichkeiten, ihrer prekären Lage zu entkommen.45 Der Film, der keineswegs einen direkten Ausdruck kollektiver Befindlichkeiten bietet, liefert eine emergente Wirklichkeit mit eigener Struktur, eigener Dynamik und eigenen Gesetzen. Der als bedrohlich empfundenen Lebenswelt, die sich als ein Geflecht von unkalkulierbaren Abhängigkeiten, Zwängen und Interdependenzen darbietet, setzt er einen Wahrnehmungsraum gegenüber, der dem Bedürfnis nach lokalisierbaren Ursachen und transparenten Wirkungsmechanismen entgegenkommt: Wo Täter und Opfer als identifizierbar gelten, Beobachter und Ankläger als Anwälte der Wahrheit und des Rechts auftreten, gewinnt die Wirklichkeit ein gewisses Maß an Versteh- und Überschaubarkeit zurück. Das war bereits die Botschaft des klassischen U.S.-Amerikanischen Western, dessen lineare Geschichten dem Bild einer durch Komplexität bestimmten Welt sichtlich kontrastierten. Gilles Deleuze hat diese Phänomene in seiner Theorie des Kinos detailliert auseinandergelegt. Unter dem Begriff des Bewegungsbildes beschreibt er die vor allem im Hollywoodfilm verbreiteten Strategien, kausale Abläufe zu konstruieren.46 Das Prinzip sinnhafter Kohärenz, dem die entsprechenden Werke verpflichtet sind, garantiert die Handlungsmacht des Filmhelden, der entschieden und mit unerschrockenem Auftreten Probleme zu lösen und mögliche Gegner auszuschalten versteht. Im Hintergrund steht nicht zuletzt die Logik der mechanischen Kraft, die das Subjekt in Dienst nimmt, um sich der Illusion hinzugeben, mit Erfolg zielgerichtet und effizient zu 41 42 43 44 45

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Randall Collins, Dynamik der Gewalt, S. 130ff. Stephen Pinker: Gewalt. Ebd., S. 172ff. Marksteine sind hier etwa The Wild Bunch von Peckinpah oder Clockwork Orange von Stanley Kubrick, ein Film, der die Geister bis heute bewegt. Eine Publikation von Zygmunt Bauman, der sich mit den Konfliktlagen der Gegenwartsgesellschaft beschäftigt hat, trägt den Titel: Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg: Hamburger Edition 1999. Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild. Kino I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 84-102.

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agieren. Deleuze, der in seinen Analysen des Kinos an die Theorie der Zeit bei Henri Bergson anknüpft, kontrastiert dem Bewegungsbild das so genannte Zeitbild, das dem Zuschauer den Raum einer Wahrnehmung zu eröffnen vermag, welche die Logik linearer Kausalität überschreitet.47 Im Zentrum steht dabei das Bergson’sche Motiv der Dauer, einer spezifischen Form der Zeit, die sich als komplexes Gefüge bewegter Relationen darstellt, das sich nicht in eine Summe monokausaler Abläufe auflösen lässt. Das Zeitbild, das dem Prinzip abgrenzbarer, problemlos fassbarer Ursache-Wirkungszusammenhänge opponiert, ermöglicht nach Deleuze eine avancierte Form kinematographischer Wahrnehmung; der eindimensionalen Logik des Bewegungsbildes setzt er im Anschluss an Bergson eine Gestalt des Kinos entgegen, welche die restringierte Logik des Bewegungsbildes überschreitet.48 Bergson sah in der von ihm so genannten Dauer eine wiederzugewinnende ursprüngliche Ordnung der Zeit, die das an Prinzipien der Linearität orientierte Verstandesdenken vergessen lässt. Blickt man auf die komplexe Verfassung der modernen Welt, so scheinen sich die von Bergson beschriebenen Strukturen der Dauer auch auf der Seite des kulturell Produzierten ausgebreitet zu haben; nun zeigt auch der Raum der sozialen Wirklichkeit Eigenschaften, die zuvor allein ihrem Gegensatz, der Natur, zugeschrieben wurden. Dies liegt nicht im Wahrnehmungshorizont eines Zuschauers, der an Prozessen der Zerstörung interessiert ist, denn wo Gewalt zum Einsatz kommt, ein Schuss abgegeben oder ein Schlag ausgeführt wird, folgen die Ereignisse einer Logik blanker Kausalität; doch auch das Interesse an der Wahrheit, das in der Ermittlungsarbeit von Kriminalfilmen befriedigt wird, richtet sich auf die Produktion oder Rekonstruktion linearer Geschehnisse. Vor allem Kriminalfilme operieren mit dem triadischen Modell: Dem Opfer korrespondiert der Täter, beobachtet durch den Zeugen, dingfest gemacht durch den Ermittler, am Ende gerichtet durch den Ankläger. Es ist davon auszugehen, dass die für das Erleben des Films kennzeichnende affektive Dynamik Einfluss auf die alltäglichen Erfahrungen und sozialen Positionierungen der Zuschauer gewinnt. Medienprodukte prägen die Wahrnehmungs- und Urteilspraxis, zuletzt auch das lebensweltliche Gebaren der Individuen. Günther Anders hat derartige Phänomene früh analysiert. Er spricht von so genannten, durch Medien konstruierten Matrizen oder Schablonen, deren Ordnung sich im alltäglichen Leben der Individuen reproduziere.49 Festzuhalten ist zunächst, dass selbstverständlich auch im außerfilmischen Raum soziale Figurationen anzutreffen sind, die sich aus Tätern, Op47 48

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Gilles Deleuze: Das Zeitbild. Kino II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Das Zeitbild ist bei Deleuze jenes Medium, in dem die von Bergson so genannte Dauer auch im Film präsent werden kann. Entsprechende Filme – Deleuze nennt den so genannten Neorealismus oder die Nouvel vague – zeigen ein komplexes Gefüge von Zusammenhängen, die nicht zuletzt die Position des Subjekts zur Disposition stellen. Günther Anders:Die Antiquiertheit des Menschen I, S. 163-170. Auch Luhmann hat auf Prozesse dieser Art aufmerksam gemacht. »Es kommt«, so heißt es, »zu einem Hin- und Hercopieren

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fern, Beobachtern oder Anklägern zusammensetzen. Selbstverständlich ist dabei zugleich, dass diese Figurationen als solche keineswegs schon mit symbiotischen Mechanismen auf Seiten der beteiligten Individuen verkoppelt sein müssen. Unter Bedingungen eines entsprechenden, auf die Alltagswelt ausstrahlenden Medienkonsums von Teilen der Gesellschaft kann sich dies verändern. Wahrscheinlich trägt dieser Konsum zur Aufrichtung, Reproduktion und Intensivierung eines mit symbiotischen Impulsen verkoppelten Umgangs mit Täter-Opfer-Beziehungen bei. Die Wahrnehmung und das Verhalten des Subjekts gewinnen obsessive, von destruktiven und autodestruktiven Bedürfnissen durchsetzte Züge. Am Ende konstituiert sich ein Wahrnehmungs- und Erfahrungsraum, der den Rezeptionsprozessen entsprechender Filme ähnelt. Soziale Räume nehmen den Charakter von Opferstätten, Observationskontexten, Verdachtstribunalen und Gerichtshöfen an. Alle Individuen – ungeachtet ihres sozialen Ranges, ihrer persönlichen Gesinnung, ihrer Handlungsinteressen, ihres religiösen Bekenntnisses oder ihrer existentiellen Verfassung – können gleichermaßen an der Logik des triadischen Rollenmodells teilhaben. Jedem Subjekt bietet das Positionierungsraster ein breites Spektrum von Wahrnehmungs- und Interaktionsmöglichkeiten. Individuen machen in je spezifischer Weise von diesem Modell Gebrauch, das heißt sie setzen unterschiedliche Akzente, präferieren bestimmte Konstellationen, entwickeln eigene Neigungen und Wertungsinteressen. Gleichwohl bleiben die Akteure – sofern sie den Zirkel der Symbiose nicht durchbrechen – im selben obsessiven Spiel gefangen. Auch verschärfte Konflikte, die unter Umständen ausgetragen werden, vermögen das figurative Geflecht nicht zu zerreißen, sondern stabilisieren das interaktive Band zwischen den Beteiligten: Integration durch Desintegration. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Moral in diesem Kontext in instrumentalisierter Form reproduziert; sie bildet nicht mehr das normative Fundament des interaktiven Geschehens, sondern eine bedarfsweise zur Geltung gebrachte Option im Dienste symbiotischer Prozesse. In einer Welt, in der dieses Modell den gesellschaftlichen Austausch bestimmt, vertiefen sich die Bruchlinien zwischen Individuen und Gruppen. Angestoßen oder verstärkt durch den Konsum kinematographischer Gewalt konstituiert sich ein gesellschaftliches Imaginäres, dessen Dynamik um die affektbesetzten Figuren des Täters, des Opfers und eines Dritten zentriert ist. Während sich auf Seiten der Individuen die Fähigkeit zu kooperativen Formen des Handelns zurückbildet, wächst deren Bereitschaft, Interessen und Ziele auch gegen den Widerstand anderer durchzusetzen. Anders als im Film trifft man hier nur ausnahmsweise auf den Einsatz physischer Gewalt, wohl aber auf ein gereiztes, latent aggressives Verhalten, das selbstzentriert und abgrenzend operiert. Dabei ist die in der Öffentlichkeit der Handlungsmuster zwischen den Medien und dem, was in der Alltagserfahrung sich als Wirklichkeit präsentiert […].« Die Realität der Massenmedien, S. 66.

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anerkannte oder zumindest wahrgenommene Besetzung einer Rolle keineswegs stets das Produkt der Intentionen und Interessen des jeweiligen Rollenträgers. Der Grund seiner Positionierung kann ebenso in gruppen- oder gesellschaftsspezifischen Interpretations- und Zuschreibungsmechanismen liegen. Weil die Rollenverteilung von sozialen Deutungs- und Machtkämpfen abhängig ist, müssen die Individuen stets damit rechnen, auf der für sie ungünstigen Seite des Rollenspektrums platziert zu werden: Die Position des Anklägers ist attraktiv, unter bestimmten Umständen auch die des Opfers; die Position des im Fokus der Anklage stehenden Täters umso weniger. Das Risiko, sich selbst unerwartet auf der Seite der Geächteten wiederzufinden, schürt die Unsicherheit. Man erinnere sich an Kafkas Roman Der Prozess, der die Geschichte eines Mannes erzählt, der sich ohne ersichtlichen Grund einem gerichtlichen Ermittlungsverfahren ausgesetzt sieht. In einer Gesellschaft, in der die affektbesetzte Triade der Gewalt zur herrschenden Größe des Austausches aufsteigt, ist jedes Subjekt von derartigen Entwicklungen bedroht. Die Möglichkeiten, auf die Besetzung der Rollen Einfluss zu nehmen, sind beschränkt, denn selbst diejenigen, die in diesem System über Definitionsund Handlungsmacht verfügen, stützen sich dabei auf die Zustimmung einer Bezugsgruppe. Die Einsicht in diese Zusammenhänge lässt die Autonomie und Selbstgewissheit des Subjekts weiter erodieren; es findet sich schließlich in die anders geartete Rolle eines bloßen Spielballs unkalkulierbarer Prozesse versetzt. Am Ende entwickelt der an den eigenen Defiziten laborierende Mensch die mehr oder minder deutliche Gewissheit, aufgrund objektiver Verhältnisse in dieser oder jener Weise benachteiligt zu sein. Unter gegebenen Bedingungen zu existieren heißt in diesem Kontext, ein im Grunde nicht abzuwerfendes Stigma tragen zu müssen. Hier nimmt der Begriff des Opfers eine neue Bedeutung an; er bezeichnet nun ein Benachteiligt-Sein durch bestehende Verhältnisse, denen alle Individuen in unterschiedlichem Maße ausgeliefert sind. Die sich verstärkende Gewissheit, nur bedingt handlungsfähig zu sein, lässt die Vitalenergien absinken; die nach Einsicht von Psychologen inzwischen weit verbreitete Depression hat offenbar auch hier ihre Voraussetzung.50 In diesem Kontext gewinnt das Motiv des Todes eine spezifische Bedeutung: Weil sich das Subjekt als Leidtragender einer unkontrollierbaren Dynamik sozialer Prozesse empfindet, entwickelt es ein Interesse an den in Filmen gezeigten Opfern: Es beginnt, deren Schicksal als eigenes Schicksal zu imaginieren. Ähnlich wie bereits in bestimmten Spielarten der Romantik muss man von einer Art von Todessehnsucht sprechen, der sich die Bilder von Verletzten und Verstümmelten auf ihre Weise andienen. Die Identifikation mit dem Opfer stellt dem Subjekt die Aufhebung sämtlicher leidensträchtiger Konfliktlagen in Aussicht. 50

Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.

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Das Bild des Verstorbenen verspricht die Rückkehr in einen Zustand differenzloser Symbiose, der in psychoanalytischen Kontexten vor allem mit dem Verhältnis des Säuglings zur nährenden Mutter identifiziert wird; die Todessehnsucht zielt auf einen Zustand absoluter Geborgenheit.51 Georges Bataille hat in seiner Theorie von Gewalt und Sexualität Entsprechendes thematisiert. In der Verklammerung von erotischem Erleben und physischer Destruktion kehrt ihm zufolge das vereinzelte Subjekt in den Zustand einer Kontinuität des Seins zurück; die Individuen verschmelzen unter den Bedingungen einer lustbesetzten Entfesselung physischer Gewalt.52 In dieser in anthropologischer Absicht entwickelten Idee hat man eine der zentralen Kompensationsphantasien des modernen, an sich und der Welt verzweifelnden Subjekts vor sich. Anders als Bataille unterstellt, ist die Idee einer Kontinuität des Seins von fiktiver Natur; gleichwohl trifft sie entsprechende Vorstellungen, die im Hinblick auf Praktiken der Selbstflucht entwickelt werden. Zweifellos kann das Subjekt Zustände erleben, in denen die Grenzen der eigenen Identität verschwimmen. Die wirkungsästhetisch aufbereiteten Motive induzieren, wie in der Theorie des Films festgestellt wurde, synästhetische Zustände, die den Erfahrungen des Säuglings verwandt sind.53 In Prozessen einer psycho-physischen Erregung beginnen die Sinne verstärkt untereinander zu kommunizieren.54 Gestützt auf diesen Komplex, entwickeln die Medien ein Monopol des Umgangs mit Bildern lustbesetzter Vernichtung.

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Vergl. Thomas H. Macho: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 234ff. Georges Bataille: Der heilige Eros, S. 21ff. Vergl. Raymond Bellour: Das Entfalten der Emotionen, S. 51-101. Bellour greift in seinen Überlegungen auf die Theorie der frühkindlichen Entwicklung von Daniel Stern zurück und spricht von einer amodalen Wahrnehmung, die der erst später erfolgenden Ausdifferenzierung verschiedener Sinneskanäle vorausliege. Ebd., S. 75ff. Vergl. auch: Raymond Bellour, Daniel Stern und die Einstellung, in: Robin Curtis/Marc Glöde/Gertrud Koch (Hg.), SynästhesieEffekte. Zur Intermodalität der ästhetischen Wahrnehmung, München: Fink 2010, S. 35-49. Zur Logik synästhetischer Wahrnehmung vergl.: Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 264-269.

Abbildungsliste

1. Giotto, Der Bethlehemitische Kindermord, Wandmalerei, 1304 - 1306, Padua, Cappella degli Scrovegni (Arenakapelle), akg-images/Cameraphoto. 2. Giulio Romano, nach Entwürfen Raffaels, Die Schlacht Konstantins an der Milvischen Brücke, 1520-1524, Rom, Vatikanische Museen, bpk-Bildagentur/Alinari Archives/Anderson. 3. Jacopo Tintoretto, Francesco II. Gonzaga kämpft in der Schlacht am Taro gegen Karl VIII. von Frankreich, um 1578-1580, Öl auf Leinwand, 268,5 x 422,5 cm, München, Alte Pinakothek, The Picture Art Collection/Alamy Stock Photo. 4. Tizian, Kain und Abel, 1542-1544, Öl auf Leinwand. 292 x 280 cm, Venedig, Santa Maria della Salute, Artefact/Alamy Stock Photo. 5. Michelangelo da Caravaggio, Martyrium des Heiligen Matthäus, 1599/1600, Öl auf Leinwand, 323 x 343 cm, Rom, San Luigi dei Francesi, Cappella Contarelli, The Picture Art Collection/Alamy Stock Photo. 6. Peter Paul Rubens, Engelsturz, 1621/22, Leinwand, 438 x 291,5 cm, München, Alte Pinakothek, bpk-Bildagentur/Bayerische Staatsgemäldesammlungen. 7. Ausschnitt aus Abb. 6 (Peter Paul Rubens, Engelsturz, 1621/22, Leinwand, 438 x 291,5 cm, München, Alte Pinakothek, bpk-Bildagentur/Bayerische Staatsgemäldesammlungen). 8. Peter Paul Rubens/Frans Snyders, Haupt der Medusa, um 1617-1618, Öl auf Leinwand, 68,5 x 118 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum, bpk-Bildagentur/ DeAgostini/New Picture Library/G. Nimatallah. 9. Peter Paul Rubens, Amazonenschlacht, um 1618, Holz, 120,3 x 165,3 cm, München, Alte Pinakothek, bpk-Bildagentur/Bayerische Staatsgemäldesammlungen. 10. Peter Paul Rubens und ein unbekannter Künstler, Kopie nach Leonardo da Vinci, Anghiarischlacht, vor 1550 und um 1603, Schwarze Kreide, Feder, Tinte, gehöht mit Bleiweiß, überarbeitet mit Wasserfarbe, 452 x 637 mm, Paris, Musée du Louvre, The Picture Art Collection/Alamy Stock Photo. 11. Nicolas Poussin, Landschaft mit Pyramus und Thisbe, 1651, Öl auf Leinwand, 192,5 x 273,5 cm, Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut, Reproduktion gemeinfrei

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12. Luca Giordano, Der Heilige Michael, um 1660-1665, Öl auf Leinwand, 198 x 147 cm, Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie, bpk-Bildagentur/Eigentum des Kaiser Friedrich Museumsvereins/Gemäldegalerie, SMB/Christoph Schmidt. 13. Gott als Architekt des Universums, aus einer Bible moralisée, Österreichische Nationalbibliothek, Wien, The Picture Art Collection/Alamy Stock Photo. 14. Giovanni Antonio Galli, gen. Lo Spadarino, Christus zeigt seine Wunde, um 162535, Leinwand, 132,2 x 97,8 cm, Perth and Kinross Council Scotland, Perth Museum and Art Galery, The Picture Art Collection/Alamy Stock Photo. 15. Rembrandt, Gefangennahme und Blendung des Simson, 1636, Leinwand, 205 x 272 cm, Frankfurt, Städelsches Museumsinstitut, Reproduktion gemeinfrei. 16. Francisco de Goya, Amarga presencia, Bittere Gegenwart, aus: Los Desastres de la Guerra (Nr. 13), 145 x 170 mm Radierung, Lavis, Kaltnadel, Grabstichel und Polierstahl, YA/BOT/Alamy Stock Photo. 17. Sebastiaen Vrancx, Die Plünderung des Dorfes Wommelgem, um 1620, Öl auf Eichenholz, 55,6 x 85,4 cm, museum kunst palast, Düsseldorf, Gemäldegalerie, bpk-Bildagentur/RMN – Grand Palais/Hervé Lewandowski. 18. Joseph Wright of Derby, Vesuvausbruch, um 1780-1790, Öl auf Papier auf Holz, 45 x 58 cm, Galerie Hans, Hamburg. 19. Andreas Achenbach, Der Untergang der »President«, 1842, Öl auf Leinwand, 180 x 225 cm, Privatbesitz, akg-images. 20. John Martin, The Great Day of His Wrath, 1852, Öl auf Leinwand, 196 x 302,7 cm, London, Tate Gallery, GL Archive/Alamy Stock Photo. 21. Giorgio Vasari und Assistenten, Schlacht bei Marciano im Chiana Tal, 1555-1572, Palazzo Vecchio, Salone dei Cinquecento, Florenz, Peter Horree/Alamy Stock Photo. 22. Pieter Snayers, Die Schlacht bei Kirkholm (Kirchholm) 1605, 142 x 231,5 cm, Schloss Sassenage, Pieter Snayers, Wikipedia, gemeinfrei. 23. Sebastiaen Vrancx, Plünderung eines Gepäckzuges, Eichenholz, 59,8 x 87 cm, Aschaffenburg, Staatsgalerie, bpk-Bildagentur/Bayerische Staatsgemäldesammlungen. 24. Timothy O’Sullivan, A Harvest of Death, Gettysburg, 1863, Aus: Gardners Photographic Sketch Book of the War, Plate 36, Sammlung Gerhard Paul, Flensburg, Pictorial Press Ltd./Alamy Stock Photo. 25. Filmstill aus: D.W. Griffith, The Birth of a Nation (1915), DVD, MK2. In Zusammenarbeit mit ARTE Deutschland, 2008, Im Vertrieb von Absolut Medien. 26. Filmstill aus: D.W. Griffith, The Birth of a Nation (1915), DVD, MK2. In Zusammenarbeit mit ARTE Deutschland, 2008, Im Vertrieb von Absolut Medien. 27. Filmstill aus: D.W. Griffith, The Birth of a Nation (1915), DVD, MK2. In Zusammenarbeit mit ARTE Deutschland, 2008, Im Vertrieb von Absolut Medien. 28. Filmstill aus: D.W. Griffith, The Birth of a Nation (1915), DVD, MK2. In Zusammenarbeit mit ARTE Deutschland, 2008, Im Vertrieb von Absolut Medien.

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29. Filmstill aus: D.W. Griffith, The Birth of a Nation (1915), DVD, MK2. In Zusammenarbeit mit ARTE Deutschland, 2008, Im Vertrieb von Absolut Medien. 30. Filmstill aus: D.W. Griffith, The Birth of a Nation (1915), DVD, MK2. In Zusammenarbeit mit ARTE Deutschland, 2008, Im Vertrieb von Absolut Medien. 31. Filmstill aus: Sergio Leone, Für ein paar Dollar mehr, DVD, Universum Film GmbH München. 32. Filmstill aus: Sergio Leone, Für ein paar Dollar mehr, DVD, Universum Film GmbH München. 33. Filmstill aus: Sergio Leone, Für ein paar Dollar mehr, DVD, Universum Film GmbH München. 34. Filmstill aus: Sergio Leone, Für ein paar Dollar mehr, DVD, Universum Film GmbH München. 35. Filmstill aus: Sergio Leone, Für ein paar Dollar mehr, DVD, Universum Film GmbH München. 36. Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany. 37. Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany. 38. Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany. 39. Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany. 40. Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany. 41. Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany. 42. Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany. 43. Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany. 44. Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany. 45. Filmstill aus: Sam Peckinpah, The Wild Bunch, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany. 46. Filmstill aus: Die Schwestern Wachowski, Matrix Reloaded, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany. 47. Filmstill aus: Die Schwestern Wachowski, Matrix Reloaded, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany. 48. Filmstill aus: Die Schwestern Wachowski, Matrix Reloaded, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany.

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49. Filmstill aus: Die Schwestern Wachowski, Matrix, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany. 50. Filmstill aus: Die Schwestern Wachowski, Matrix, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany. 51. Filmstill aus: Die Schwestern Wachowski, Matrix, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany. 52. Filmstill aus: Die Schwestern Wachowski, Matrix, DVD, Warner Bros. Entertainment Inc., Warner Home Video Germany.

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Kunst- und Bildwissenschaft Cathrin Klingsöhr-Leroy

Buch und Bild – Schrift und Zeichnung Schreiben und Lesen in der Kunst des 20. Jahrhunderts Juni 2022, 108 S., Klappbroschur, 1 SW-Abbildung, 21 Farbabbildungen 15,00 € (DE), 978-3-8376-6123-1 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6123-5

Ingrid Hoelzl, Rémi Marie

Common Image Towards a Larger Than Human Communism 2021, 156 p., pb., ill. 29,50 € (DE), 978-3-8376-5939-9 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5939-3

Ivana Pilić, Anne Wiederhold-Daryanavard (Hg.)

Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft Transkulturelle Handlungsstrategien der Brunnenpassage Wien 2021, 244 S., kart. 29,00 € (DE), 978-3-8376-5546-9 E-Book: PDF: 25,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5546-3

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Kunst- und Bildwissenschaft Birgit Eusterschulte, Christian Krüger (Hg.)

Involvierte Autonomie Künstlerische Praxis zwischen Engagement und Eigenlogik August 2022, 230 S., kart., 10 SW-Abbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-5223-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5223-3

Marlene Bart, Johannes Breuer, Alex Leo Freier (Hg.)

Atlas der Datenkörper 1 Körperbilder in Kunst, Design und Wissenschaft im Zeitalter digitaler Medien März 2022, 172 S., kart. 34,00 € (DE), 978-3-8376-6178-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-6178-5

Petra Lange-Berndt, Isabelle Lindermann (Hg.)

Dreizehn Beiträge zu 1968 Von künstlerischen Praktiken und vertrackten Utopien Februar 2022, 338 S., kart. 32,00 € (DE), 978-3-8376-6002-9 E-Book: PDF: 31,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6002-3

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