Postkolonialismus und (Inter-)Medialität: Perspektiven der Grenzüberschreitung im Spannungsfeld von Literatur, Musik, Fotografie, Theater und Film [1. Aufl.] 9783839428993

Cultural estrangement in word and image, on the theater stage and in music production: German Studies contributions to P

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German Pages 392 Year 2016

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Postkolonialismus und (Inter-)Medialität: Perspektiven der Grenzüberschreitung im Spannungsfeld von Literatur, Musik, Fotografie, Theater und Film [1. Aufl.]
 9783839428993

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Postkoloniale Mediengeschichte. Historische Argumente für ein zukünftiges Forschungsfeld
Dekonstruktion imperialer Denkstrukturen in Christian Krachts postkolonialem Schweiz-Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten
Vollkommene Dunkelheit. Ulrich Köhlers Schlafkrankheit als filmisches Rewriting von Joseph Conrads Heart of Darkness
Fesselnde Blicke. Funktionen visiotyper Repräsentationen von Albinismus
Schwarz-Weiß-Zeichnung. Die drei deutschen Inszenierungen von Jean Genets Les Nègres (1964, 1983, 2014) im Spiegel des Feuilletons
Christoph Schlingensiefs Operndorf jenseits des Postkolonialismus?
Das postkoloniale Wissen und die Fotografie
Musuri. Die erste große bundesdeutsche Fernsehauslandsreportage blickt 1954 auf den Kongo
›Zeitreise in die Kolonialvergangenheit‹ als touristische Attraktion? Repräsentation der deutschen Kolonialgeschichte in aktuellen Reiseführern zu Tansania
Bilder postkolonial lesen? Forschungsperspektiven auf Selbst- und Fremdbilder in der visuellen Alltagskultur
Die Stimme aus dem Buch. Über fingierte fremdkulturelle Mündlichkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur am Beispiel von Thomas Stangls Roman Der einzige Ort
Nilpferdpeitsche und Botanisiertrommel. (Post-)Koloniale Dinge in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
»An ihren Tänzen sollt ihr sie erkennen!« Anmerkungen über Jazz, Tanz und Politik
Waka Waka (This Time for Africa): Kritische Perspektiven auf eine popkulturelle Inszenierung von Hybridität
Antikolonialismus oder Postkolonialismus? Uwe Timms Roman Morenga und die Germanistik
Verschobene Einbildungen. Afrika-Konstruktionen in der jüngsten deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Autorinnen und Autoren

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Laura Beck, Julian Osthues (Hg.) Postkolonialismus und (Inter-)Medialität

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft hrsg. v. Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg | Band 7

Editorial Differenzen zwischen Kulturen – und die daraus resultierenden Effekte – sind seit jeher der Normalfall. Sie zeigen sich in der Erkundung der »Fremden« schon seit Herodot, in der Entdeckung vorher unbekannter Kulturen (etwa durch Kolumbus), in der Unterdrückung anderer Kulturen im Kolonialismus oder aktuell in den unterschiedlichen grenzüberschreitenden Begegnungsformen in einer globalisierten und »vernetzten« Welt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Interkulturalität« erfuhr entscheidende Impulse durch die »anthropologische Wende« in den Geisteswissenschaften und durch das seit den 1970er Jahren etablierte Fach der Interkulturellen Kommunikation. Grundlegend ist dabei, Interkulturalität nicht statisch, sondern als fortwährenden Prozess zu begreifen und sie einer beständigen Neuauslegung zu unterziehen. Denn gerade ihre gegenwärtige, unter dem Vorzeichen von Globalisierung, Postkolonialismus und Migration stehende Präsenz im öffentlichen Diskurs dokumentiert, dass das innovative und utopische Potenzial von Interkulturalität noch längst nicht ausgeschöpft ist. Die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft greift die rege Diskussion in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften auf und versammelt innovative Beiträge, die den theoretischen Grundlagen und historischen Perspektiven der Interkulturalitätsforschung gelten sowie ihre interdisziplinäre Fundierung ausweiten und vertiefen. Die Reihe wird herausgegeben von Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg.

Laura Beck, Julian Osthues (Hg.)

Postkolonialismus und (Inter-)Medialität Perspektiven der Grenzüberschreitung im Spannungsfeld von Literatur, Musik, Fotografie, Theater und Film

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2899-9 PDF-ISBN 978-3-8394-2899-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

Laura Beck/Julian Osthues | 9 Postkoloniale Mediengeschichte Historische Argumente für ein zukünftiges Forschungsfeld

Sven Werkmeister | 27 Dekonstruktion imperialer Denkstrukturen in Christian Krachts postkolonialem Schweiz-Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten

Eva Wiegmann | 47 Vollkommene Dunkelheit Ulrich Köhlers Schlafkrankheit als filmisches Rewriting von Joseph Conrads Heart of Darkness

Jana Domdey | 79 Fesselnde Blicke Funktionen visiotyper Repräsentationen von Albinismus

Metin Genç | 107 Schwarz-Weiß-Zeichnung Die drei deutschen Inszenierungen von Jean Genets Les Nègres (1964, 1983, 2014) im Spiegel des Feuilletons

Nike Thurn | 133 Christoph Schlingensiefs Operndorf jenseits des Postkolonialismus?

Koku G. Nonoa | 155

Das postkoloniale Wissen und die Fotografie Leonore Mau, Hubert Fichte, Thomas Meinecke und Michaela Melián in Bahia

Jan Gerstner | 165

Musuri Die erste große bundesdeutsche Fernsehauslandsreportage blickt 1954 auf den Kongo

Peter Ellenbruch | 191 ›Zeitreise in die Kolonialvergangenheit‹ als touristische Attraktion? Repräsentation der deutschen Kolonialgeschichte in aktuellen Reiseführern zu Tansania

Justyna Staszczak | 207 Bilder postkolonial lesen? Forschungsperspektiven auf Selbst- und Fremdbilder in der visuellen Alltagskultur

Sebastian Lemme | 235

Die Stimme aus dem Buch Über fingierte fremdkulturelle Mündlichkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur am Beispiel von Thomas Stangls Roman Der einzige Ort

Laura Beck | 253 Nilpferdpeitsche und Botanisiertrommel (Post-)Koloniale Dinge in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Julian Osthues | 281

»An ihren Tänzen sollt ihr sie erkennen!« Anmerkungen über Jazz, Tanz und Politik

Ingo Breuer | 307

Waka Waka (This Time for Africa): Kritische Perspektiven auf eine popkulturelle Inszenierung von Hybridität

Christopher Quadt | 323 Antikolonialismus oder Postkolonialismus? Uwe Timms Roman Morenga und die Germanistik

Axel Dunker/Christof Hamann | 343

Verschobene Einbildungen Afrika-Konstruktionen in der jüngsten deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Dieter Heimböckel | 363 Autorinnen und Autoren | 385

Einleitung L AURA B ECK /J ULIAN O STHUES

Die postkolonialen Studien in der Germanistik stecken längst nicht mehr in den »Kinderschuhen«, wie 2008 noch Jan Süselbeck auf der Rezensionsplattform ›literaturkritik.de‹ bilanzierte. Der Themenschwerpunkt »Postcolonial Studies« der Juni-Ausgabe ebnete damals den Weg einer ersten Beschreibung der Forschungssituation. Nebst einer Reihe von Rezensionen einschlägiger Arbeiten sowie literarischer Texte unternahm eine Gruppe von Autorinnen und Autoren in neun Essays den Versuch, das Feld bisheriger Forschung aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu skizzieren. Ziel war es nicht nur, »eine erste Orientierung [zu] bieten und bereits erschienene, wichtige Studien vor[zu]stellen« (Süselbeck 2008), sondern überdies Fluchtlinien zukünftiger Betätigung in diesem Bereich aufzuzeigen.1 Nachdem Axel Dunker drei Jahre zuvor konstatierte, »die ›postcolonial studies‹ [seien] in allerjüngster Zeit nun auch in der deutschen Forschungslandschaft angekommen« (Dunker 2005: 8),2 zeichne sich nun, so der Autor drei Jahre später, die »paradoxe Situation« ab, dass in den USA teilweise schon das Ende der Postcolonial Studies verkündet worden ist, während man in Deutschland das Gefühl haben kann, mit einem Interesse an kolonialen beziehungsweise postkolonialen Zusammenhängen innerhalb der Germanistik immer noch ganz am Anfang zu stehen. (Dunker 2008; Hervorh. i. Orig.; vgl. Wilke 2008)

1

Zur Übersicht der Beiträge vgl. online unter: http://literaturkritik.de/public/inhalt.php? ausgabe=200806 [12.06.2016].

2

Bereits ein Jahr zuvor hat Dirk Göttsche das Ungleichgewicht zwischen den bereits etablierten anglo-amerikanischen postcolonial studies und einer erst in den Anfängen stehenden Beschäftigung mit postkolonialer Literatur innerhalb der Germanistik thematisiert (2004: 558f.).

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Ist innerhalb der Forschungsliteratur noch häufig von einer ›Verzögerung‹ oder ›Verspätung‹ der Rezeption postkolonialer Ansätze in der Germanistik die Rede (vgl. Febel 2012: 230; Göttsche 2004: 558; Dürbeck 2014: 21), so hat sich die Situation bis heute deutlich gewandelt.3 Mittlerweile ist eine Vielzahl von Sammelbänden, Monographien und Aufsätzen erschienen, die wesentlich zur Vermessung und Diversifizierung des Forschungsfeldes sowie zur Selbstverständigung und Standortbestimmung der Disziplin beigetragen hat, obgleich seitens der Studien kritisiert wird, dass sowohl der bisherige Grad der universitären Institutionalisierung als auch der Kanonisierung im Horizont der Germanistik, d.h. im Sinne einer »Anerkennung als den Kernbereichen des Faches zugehörig« (Uerlings 2012: 45), mit dieser Entwicklung (noch) nicht angemessen Schritt halten (vgl. Uerlings 2011; Uerlings/Patrut 2012: 8f.; Osthues 2016: 188f.). Nicht zuletzt der fünfte Band der Schriftenreihe »Postkoloniale Studien in der Germanistik« trägt jener Forderung nach Anerkennung bereits im Titel Rechnung (›Postkoloniale Germanistik‹). Im Vorwort ziehen die Herausgeber nicht nur Bilanz, vor allem formulieren sie das Selbstverständnis der postkolonialen Studien sowie wichtige Grundzüge der Forschung: Postkoloniale Studien haben sich als eigenständiges Feld in der kulturwissenschaftlichen Germanistik etabliert und stellen eine produktive Herausforderung für das Selbstverständnis des Fachs dar. Die Aufarbeitung der Darstellung der Kolonialthematik in Literatur und Kultur, Neulektüren kanonischer Literatur unter postkolonialer Perspektive und die Erschließung neuer Texte im Kontext von Weltliteratur sind zentrale Themenfelder. Dabei reflektieren postkoloniale Studien kulturelle Globalisierungsprozesse und überwinden durch die Thematisierung von kultureller Differenz, Hybridität, Inter-, Multi- und Transkulturalität nationalphilologische Grenzen. Der distinkte Charakter in Bezug auf Forschungsansatz und Gegenstandsbereich rechtfertigen [sic] es, von einer ›Postkolonialen Germanistik‹ als Teilfeld der Disziplin zu sprechen. (Dürbeck/Dunker 2014: 9)

3

Auf eine eingehende Darlegung des Forschungsfeldes soll an dieser Stelle verzichtet und stattdessen auf Überblicksarbeiten verwiesen werden. Neben der einschlägigen Bestandsaufnahme von Gabriele Dürbeck (2014) wären weitere Aufsätze zu nennen, die zur Positionsbestimmung postkolonialer Studien innerhalb einer kulturwissenschaftlichen Germanistik sowie ihr Verhältnis zur Interkulturalitätsforschung beigetragen haben: vgl. chronologisch Göttsche (2004), Hofmann (2006), Mecklenburg (2008), Uerlings (2011), Hofmann/Patrut (2015); Osthues (2016). Eine Übersicht über das Gegenstandsfeld, über Methoden und Theorien liefern Dunker (2011), Wilke (2011) und Dunker (2016).

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In Anbetracht der Entwicklungen, die ein inzwischen stark diversifiziertes und transnational orientiertes Forschungsfeld abstecken sowie der Forderung nach einem eigenständigen Platz im traditionellen Gefüge der Germanistik Geltung verschaffen (vgl. Dürbeck 2014: 29, 70; Uerlings/Patrut 2012: 8f.), ist der Punkt in der Geschichte postkolonialer Studien erreicht, an dem sich Fragen hinsichtlich zukünftiger Forschung in diesem Feld aufdrängen. Oder anders formuliert: Wenn die postkolonialen Studien also offenkundig ihren Kinderschuhen ›enwachsen‹ und zu einem selbstständigen »Teilfeld der Disziplin« (Dürbeck/Dunker 2014: 9) gereift sind, so ruft der Status Quo eine Reihe von Fragen auf den Plan. Es gilt demzufolge, nach Kontinuitäten der Forschung zu fragen, nach Möglichkeiten der Ausweitung postkolonialer Perspektiven sowie nach neuen Lektüren und Gegenstandsbereichen, nach methodischen wie theoretischen Erweiterungen und Anschlüssen, nach inter-/intradisziplinären Kopplungen und ihren Synergiepotentialen.

Z UM K ONZEPT

DES

B ANDES

An diese Frage nach neuen Wegen und Interaktionsräumen der Forschung knüpft der vorliegende Band in mehrfacher Hinsicht an. Kurz: Der Band will über Grenzen gehen – und nicht zuletzt im Sinne eines interdisziplinären Auftaktprojekts zu künftigen Überschreitungen und Austauschbeziehungen in Theorie und Praxis anregen. Hauptanliegen des Projekts ist eine Öffnung, Ausweitung und Ausdifferenzierung der Perspektive, die sich, wie nachfolgend erläutert wird, auf drei Ebenen erstreckt und sich wesentlich im Titel Postkolonialismus und (Inter-)Medialität. Perspektiven der Grenzüberschreitung im Spannungsfeld von Literatur, Musik, Fotografie, Theater und Film spiegelt: Themen, Gegenstände, Ansätze Erstens geht es um eine Erweiterung der Perspektive auf neue Themen, Gegenstandsfelder und theoretische Anschlüsse, die wir im Ansatz als eine ›intermediale Ausweitung der postkolonialen Germanistik‹ verstehen. Dieser Prämisse trägt der Band insofern Rechnung, als der Fokus nicht nur auf das Einzelmedium Literatur beschränkt bleibt. In diesem Punkt provoziert und überschreitet der Band die Grenzen postkolonialer Studien germanistischer Provenienz, deren Untersuchungsgegenstand (das gilt insbesondere für die Literaturwissenschaft) von

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Haus aus noch sehr stark vom Primat der Schrift geprägt ist.4 Sven Werkmeister hat auf ein grundsätzliches Problem hingewiesen mit der Frage, inwiefern nicht bereits die Definition des Gegenstandbereiches der Literaturwissenschaft selbst eine ungedachte eurozentrische Dimension in sich birgt, die die Frage nach der Möglichkeit und den Grenzen kultureller Horizonterweiterung in unmittelbarer Weise betrifft. Der literaturwissenschaftliche Fokus auf (meist alphabet-)schriftliche Literaturen – so ist ganz nüchtern zu konstatieren – schließt einen großen Teil von Texttraditionen, in denen sich möglicherweise fremde, außereuropäische Stimmen formulieren, von vornherein aus. Dieser Verweis auf die Frage und Herausforderung der Schrift als einer in postkolonialen Debatten mitzudenkenden Dimension europäischer und außereuropäischer Textgeschichte betrifft dabei nicht nur den Gegenstandsbereich, sondern auch die Methode der Literaturwissenschaft. (Werkmeister 2014: 105)

Wird über die »mediale Differenz« (ebd.: 107) demzufolge auch die Frage virulent, wie fremde Stimmen zu Gehör kommen können, so will der vorliegende Band daran anschließend nicht nur den Blick erweitern auf andere Medien abseits der Schrift. Es geht ferner darum, medienübergreifend solche Phänomenbereiche des Intermedialen in den Vordergrund zu rücken, die sowohl ästhetische Grenzüberschreitungen als auch Hybridisierungen verhandeln und damit zugleich auf Eigenschaften rekurrieren, die eine grundlegende Affinität zu interkulturellen sowie postkolonialen Ansätzen besitzen. Diese semantische Analogie hat etwa Norbert Mecklenburg für die Aufgaben- und Arbeitsbereiche interkultureller Literaturwissenschaft skizziert, wenn er betont, dass »dem Begriff der Interkulturalität weitere ›Inter- Begriffe‹ wie Intertextualität und Intermedialität an die Seite zu stellen [wären], denn die interkulturelle Dimension literarischer Werke manifestiert sich häufig als intertextuelle oder intermediale Dimension.« (2008: 11).5 Neben literarischen Texten stehen folglich u.a. Spiel- und Doku-

4

Für eine »postkoloniale Erweiterung des literaturwissenschaftlichen Kanons« in Bezug auf Gegenstandsfeld und Methodenspektrum hat Sven Werkmeister sich ausgesprochen und dabei der Ethnologie eine Schlüsselrolle zugewiesen, indem sie »auch außereuropäische Texte in den Blick nimmt, die nicht den medialen Gesetzen europäischer Texttradition folgen.« (Werkmeister 2014: 106)

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Ähnlich argumentiert Ortrud Gutjahr, die eine transkulturelle wie intermediale Ausweitung und Öffnung der philologisch orientierten Germanistik um Perspektiven der Medialität/Intermedialität fordert und an Zusammenhänge von Kunst und Kultur rückbindet (Gutjahr 2012: 79). Neben Gutjahr stimmt auch Vibha Surana in dem Sammelband zur Sektion ›Transkulturalität und Intermedialität in der Germanistik des

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mentarfilme, Fotografien und Musik (Jazz/Pop) im Mittelpunkt des Interesses – und damit sowohl ihre grundlegend mediale Verfasstheit als auch das vielfältige Spektrum intermedialer Relationen zwischen Zeichensystemen (Bsp. Fotografien in der Literatur, Literatur im Film). Mit zwei Beiträgen zum Verhältnis von Theater und Postkolonialismus wird gleichsam ein Desiderat der Forschung beleuchtet, das neben der Gattung Lyrik bislang kaum in postkolonialen Studien thematisiert wurde (vgl. Dürbeck 2014: 51). Der Zusammenhang von Postkolonialismus und (Inter-)Medialität steht folglich für eine konzeptuell offene Rahmung, die damit versucht, der potentiellen Vielschichtigkeit des Themas im Ansatz gerecht zu werden. Interdisziplinarität und Interkulturalität Zweitens setzt der Band keineswegs bei Null an. Zwei Bereiche postkolonialer Studien haben in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, das Thema ›Medialität‹ und ›Intermedialität‹ aus unterschiedlichen Richtungen perspektivisch zu vermessen: Zum einen sind Beiträge erschienen, die wichtige Themen- und Arbeitsfelder einer ›postkolonialen Medienwissenschaft‹ in ihren Grundzügen aufzeigen (vgl. u.a. Bergermann 2012, 2014; Bergermann/Heidenreich 2015).6 Unser Projekt ist folglich darum bemüht, von einer medienwissenschaftlichen Perspektive zu profitieren und demzufolge die Grenzen postkolonialer Germanistik durchlässig zu machen für interdisziplinäre Verknüpfungen. Zu dieser zweiten disziplinären Tendenz der Öffnung tragen innerhalb des Bandes insbesondere jene Aufsätze bei, die abseits einer ›literaturzentrierten Intermedialität‹ (vgl. Wolf 2002: 164; Rajewsky 2002: 5) weitere medienwissenschaftliche Sichtweisen aufgreifen, wie z.B. durch Theorien der Bildsemiotik, kritische Analysen zur ›visuellen Alltagskultur‹ (z.B. Reiseführer) oder film- und musikwissenschaftliche Betrachtungen.

globalen Zeitalters‹ auf der zwölften Tagung der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) in Warschau (2010) für eine »Entgrenzung des Faches«: »In der synergetischen Zusammenarbeit der philologischen, intermedialen und kulturwissenschaftlichen Dimensionen der Germanistik liegt die Zukunft – nicht in ihrer Trennung.« (Surana 2012: 88) 6

Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen von Bergermann/Heidenreich (2015: 10f.). Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass einige der Publikationen erst im Zuge der Vorbereitung und Drucklegung des vorliegenden Bandes veröffentlicht wurden und daher keine Berücksichtigung finden konnten.

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Zum anderen sind in den vergangenen Jahren einige Arbeiten der postkolonialen Studien in der Germanistik auf intermediale Aspekte eingegangen, wenngleich die Anzahl derer überschaubar bleibt, die begriffliche Grundlagen explizit reflektieren. Jochen Dubiel hat in seiner Dissertationsschrift Dialektik der postkolonialen Hybridität (2007) darauf aufmerksam gemacht, dass der Terminus Intermedialität zwar »als stilistisches Merkmal kultureller Hybridität« durch den Forschungsdiskurs »geistert«, »ohne jemals auf nachvollziehbare Weise präzisiert oder durch Beispiele überzeugend erläutert worden zu sein.« (Ebd.: 198f.; vgl. ebenso Gehrmann/Prüschenk 2009: 1f.) Im Rahmen seines Entwurfs einer »Systematik der intrakulturellen Hybridität« (vgl. 150-213) hat der Autor eine fünfgliedrige Typologie intermedialer Relationen formuliert, um »sämtliche Wechselwirkungen zwischen Literatur und anderen Medien« zu beschreiben (vgl. ebd.: 199f.). Allerdings ist kritisch anzumerken, dass der Vorwurf, den der Autor an die Disziplin erhebt, in gewisser Hinsicht auch auf ihn zurückfällt, da wertvolle Vorschläge zur begrifflichen Bestimmung, Differenzierung und Theoretisierung von Intermedialität unberücksichtigt bleiben, wie sie seitens medienwissenschaftlicher Forschung entwickelt wurden (vgl. u.a. Rajewsky 2002, 2014; Wirth 2007; Wolf 2002). Für das Konzept des Bandes empfiehlt sich die Verwendung eines weit gefassten, ›flexiblen‹ Intermedialitätsbegriffs, weil er eine Vielzahl und Vielfalt an »Manifestationsformen eines umfassenden Phänomens der Grenzüberschreitungen und medialen Interferenzen« einbezieht (Rajewsky 2002: 1), ohne die Sichtweise auf ein Objekt- (bzw. ›kontaktnehmendes Medium‹) oder Referenzmedium (bzw. ›kontaktgebendes Medium‹) 7 zu verengen. 8 Irina O. Rajewsky zufolge stellt Intermedialität einen Oberbegriff dar »für die Gesamtheit aller Mediengrenzen überschreitenden Phänomene [ ], also all der Phänomene, die, dem Präfix ›inter‹ entsprechend, in irgendeiner Weise zwischen Medien anzusiedeln sind.« (Ebd.: 12; Hervorh. i. Orig.) Die Intermedialitätsforschung interessiert sich demzufolge besonders für »(ästhetische) Koppelun-

7

Zur Terminologie nach Werner Wolf vgl. Rajewsky (2002: 5).

8

Die Eigenschaften eines weiten Intermedialitätsbegriffs hat Werner Wolf wie folgt umschrieben: »intermedial is thus a flexible adjective that can be applied, in a broad sense, to any phenomenon involving more than one medium.« (Wolf 1999: 40f.) Zum ›engen‹ Verständnis von Intermedialität, das von den Begriffen der ›Intra-‹ und ›Transmedialität‹ abzugrenzen ist und sich u.a. in die Phänomenbereiche ›Medienkombination‹, ›Medienwechsel‹ und ›intermediale Bezüge‹ unterscheiden lässt, vgl. die Ausführungen von Rajewsky (2002: 11-18).

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gen und Brüche, Übergängigkeiten zwischen Medien, mediale Transformationsprozesse, Interaktionen und Interferenzen.« (Rajewsky 2014: 197) Zugleich kann Intermedialität als Aspekt eines ›postkolonialen Potentials‹ wirksam werden, das in Analogie zu Verfahren wie z.B. »der Intertextualität, Interlingualität, […] Dialogizität, Stimmenvielfalt u. a. m. die Rede ›über‹ andere mit anderen Stimmen konfrontieren« kann (Uerlings 2006: 16). Neben Formen der Hybridisierung, die koloniale Ordnungen (Dichotomien/Hierarchien) per se infrage stellen, können intermediale Konfigurationen eine ästhetische Polyphonie erzeugen, die typische Denk- und Sehgewohnheiten durch eine Vielzahl konkurrierender Stimmen und Sichtweisen aufbricht. In dieser Irritation entfaltet sich ein spezifisch interkulturelles Potential, das typische Mechanismen im Umgang mit dem Fremden zur Disposition stellt. Dies kann zu dem führen, was sich in Anlehnung an Alfred Schütz als »Ausbruch aus dem ›Denken-wie-üblich‹« bezeichnen lässt (Heimböckel 2013: 20; vgl. Heimböckel/Weinberg 2014: 124; Schütz 2002); ein Moment der Störung und Verunsicherung, wodurch gängige Blickregime und vertraute Positionsbestimmungen (u.a. des Eigenen/Fremden) herausgefordert, hinterfragt oder gar deplatziert werden. Kontinuitäten und Revisionen Drittens geht es dem vorliegenden Band darum, zu zeigen, wie postkoloniale Studien zukünftig durch wissenschaftlichen Nachwuchs nachhaltig fortgesetzt werden können. Zu den hier Schreibenden zählen überwiegend Doktorandinnen und Doktoranden sowie Post-Docs, die teils im Umfeld des Themas promovieren oder im Verlauf der Drucklegung des Bandes promoviert wurden. Der Akzent auf überwiegend junge Autorinnen und Autoren, die hier zu Wort kommen, trägt der Tendenz der Öffnung in einer Weise Rechnung, die den Kritikerinnen und Kritikern entgegenhalten will, dass postkoloniale Themen- und Gegenstandsfelder angesichts des Grades der Etablierung postkolonialer Forschung, wie eingangs festgestellt, nicht an Attraktivität eingebüßt haben. Das Gegenteil ist der Fall, wie das Spektrum der Beiträge unter Beweis stellt. Durch ›Perspektiven der Grenzüberschreitung‹, die durch interdisziplinäre Ansätze und Themen auf den Plan treten, will der Band zu weiterer Forschung auf diesem Gebiet motivieren und damit zugleich einen Beitrag zur Verstetigung postkolonialer Studien leisten, wobei es bereits zu ersten Revisionen kommt. Der angestrebte Dialog zwischen Nachwuchs und Forscherinnen und Forschern, die seit Jahren in diesem Bereich tätig sind, spiegelt sich nicht nur im personellen Konzept des Bandes, sondern ist ebenso im Aufbau vermittelt, der mit Absicht nicht in Medientypen organisiert ist: Zum einen zeigt sich hier der ›Dialog der Gene-

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rationen‹, der innerhalb der Beiträge durch explizite Bezugnahmen zu vorausgehender Forschung zum Ausdruck kommt. Zum anderen eröffnet die Gruppierung dialogische Beziehungen, die implizit etwa über Themen und Theorien zutage treten und Anregungen für anschließende Forschungen in Gang setzen können und sollen.

A UFBAU

DES

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Ein Raum der Intermedialität eröffnet sich folglich nicht zwangsläufig in jedem Beitrag selbst, sondern teilweise erst zwischen den Beiträgen. Den Auftakt des Bandes bildet der Artikel »Postkoloniale Mediengeschichte. Historische Argumente für ein zukünftiges Forschungsfeld«, in dem Sven Werkmeister das zu erschließende Feld einer postkolonialen Mediengeschichte und -theorie entwirft, ein Feld, das, wie er hervorhebt, vor allem im Hinblick auf das Untersuchungsmaterial zu ergänzen bleibt. Dabei legt Werkmeister einen Medienbegriff zugrunde, der Medien als Möglichkeitsbedingungen kultureller Phänomene versteht. Diese wären jeweils innerhalb ihrer konkreten historischen und prinzipiell relationalen Eingebundenheit zu betrachten. Daran anschließend wirft er aus postkolonialer Perspektive einerseits die Frage auf, wie sich die Mediengeschichte Europas zu evtl. differierenden außereuropäischen Mediengeschichten verhält und andererseits, inwiefern mediengeschichtliche Konstellationen (hier verhandelt am Beispiel der Schrift) direkt mit Kolonialgeschichte verwoben bzw. deren Bedingung und Grundlage sind. Schließlich liest er die avantgardistische Diskursfigur des Primitiven als Ausgangspunkt nicht nur einer Selbstreflexion über europäische Identität und Kultur, sondern auch über deren mediale Bedingtheit; hier lassen sich wertvolle Anregungen für postkoloniale (Literatur-)Analysen finden. Eva Wiegmann liefert einen literaturwissenschaftlichen Beitrag zur »Dekonstruktion imperialer Denkstrukturen in Christian Krachts postkolonialem Schweiz-Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten«. In ihrer Analyse konzentriert sie sich insbesondere auf die poetische Konzeption des titelgebenden Romans und arbeitet heraus, warum dieser für sie trotz seines satirischen Tonfalls und pastichehaften Spiels mit Mustern des postkolonialen Diskurses entgegen der Meinung vieler Kritiker ein postkoloniales Potential entfaltet. Dabei leistet sie durch den Bezug auf theoretische Positionen von Gayatri Chakravorty Spivak, Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Felix Guattari, aber auch Frantz Fanon eine fruchtbare Ergänzung postkolonialer Analysekategorien im deutschsprachigen Forschungskontext. Intermedialität thematisiert der Bei-

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trag einmal als Intertextualität, wenn Wiegmann auf die Bezüge Krachts zu Joseph Conrads Klassiker der Kolonialliteratur, Heart of Darkness, eingeht. Darüber hinaus sind (inter-)mediale Aspekte etwa in der Problematik der Fürsprache aufgerufen, die Wiegmann in Krachts Text angesprochen sieht, sowie in den Reflexionen über das schriftliche Medium und seine kulturellen Konnotationen, die den Text durchziehen. Jana Domdey konstatiert in ihrem Beitrag »Vollkommene Dunkelheit. Ulrich Köhlers Schlafkrankheit als filmisches Rewriting von Joseph Conrads Heart of Darkness«, dass sich der sogenannte »Afrika-Boom«, der seit den 1990er Jahren in der deutschen Literatur zu beobachten sei, seit der Jahrtausendwende auch im deutschsprachigen Film widerspiegele, wobei viele TV-Produktionen ein ausgesprochen klischeehaftes und homogenisierendes Afrikabild entwerfen. Den von ihr behandelten Kinofilm Schlafkrankheit (2011) von Ulrich Köhler dagegen versteht Domdey als Versuch einer kritisch-künstlerischen Distanznahme einerseits, wodurch sich der Film allgemein von jenen exotistischen deutschen TVProduktionen abhebe, andererseits ganz speziell von (noch einmal) Joseph Conrads Roman Heart of Darkness. Dabei arbeitet Domdey unter Berücksichtigung der spezifisch filmästhetischen Mittel und mit besonderem Fokus auf dem Motiv der Dunkelheit nicht nur die kritischen Bezüge heraus, sondern ferner, an welchen Stellen das subversive Potential von Schlafkrankheit umzuschlagen droht und der Film dann doch wieder in die Bestätigung kolonialer Klischees abgleitet. Metin Genç interessiert sich in seinem Beitrag »Fesselnde Blicke. Funktionen visiotyper Repräsentationen von Albinismus« für Darstellungen des albinotischen Körpers Schwarzer Personen und die an diesen geknüpften kulturellen und rassifizierenden Konnotationen. Der Albinismus Schwarzer Personen werde, so Genç, zu einem Attribut, das seinen Träger als doppeltes »Other« charakterisiere; Albinismus lege den kulturellen Konstruktcharakter von whiteness bzw. blackness offen und destablisiere rassifizierende Diskurse bzw. die hegemoniale Instanz des normativen körperlosen transzendentalen ›weißen‹ Subjekts. Der Beitrag fragt nach visiotypen Repräsentationsmustern und Strategien, die dazu dienen, jene Irritation einzuholen, die durch die Durchkreuzung der gewohnten Gegenüberstellung Weiß vs. Schwarz als Differenzkategorien entsteht. Diesen Strategien spürt der Beitrag in Spielfilmen, besonders aber in Dokumentarfilmen nach. Dabei fokussiert er vor allem die filmischen und sprachlichen Mittel, die hier zum Zug kommen. Um die visuelle und performative Inszenierung und Dekonstruktion der Kategorie ›Rasse‹ (doing bzw. deconstructing race), die über den Marker der Hautfarbe erfolgt, geht es ebenso in Nike Thurns Beitrag »Schwarz-Weiß-Zeichnung. Die drei deutschen Inszenierungen von Jean Genets Les nègres (1964, 1983,

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2014) im Spiegel des deutschen Feuilletons«. In ihrem Beitrag, in dem sie sowohl auf postkoloniale Ansätze als auch auf Ansätze der critical whiteness studies Bezug nimmt, untersucht Thurn, wie unterschiedlich drei deutsche Inszenierungen von Jean Genets Theaterstück an dessen subversive Inszenierung von kultureller Fremdheit, ausgedrückt über den Kontrast zwischen ›schwarzer‹ und ›weißer Haut‹, anschließen. Ein intermediales Moment entfaltet der Beitrag dabei insbesondere durch die Analyse der teils kolonialistisch gefärbten Rezeptionsmechanismen sowie der produktiven und selbstreflexiven Debatten über die Rolle von ›Rasse‹ im Theaterbetrieb ganz allgemein, die sich in der Thematisierung der jeweiligen Inszenierungen im deutschen Feuilleton Bahn brechen beziehungsweise durch diese angestoßen werden. Eine selbstkritische und produktive Reflexion über die eurozentrische Prägung bestimmter Definitionsversuche von »Theaterkunst« sieht Koku G. Nonoa in Christoph Schlingensiefs Projekt eines Operndorfes in Burkina Faso am Werk. Sein Beitrag »Christoph Schlingensiefs Operndorf jenseits des Postkolonialismus?« fordert zu einer gewissermaßen »entgrenzenden« Betrachtung von Schlingensiefs Vision auf, die über eine reine Textzentriertheit hinausgeht und vielmehr spezifische Medialitäten der kulturellen Kontexte in den Blick nehmen muss. Gerade im postdramatischen Theater sieht Nonoa die Möglichkeit transkultureller Annäherungen zwischen europäischen/-zentrischen und afrikanischen Konzeptionen von Kunst und Leben und ihren Konvergenzen. Seine Lektüre, die prinzipiell die Verwendung westlich geprägter Genrekonventionen und Grenzziehungen für die Beschreibung solch inter- und transkultureller Phänomene in Zweifel zieht, fragt schließlich ebenso nach der grundsätzlichen Möglichkeit, Schlingensiefs Projekt mit dem Begriff des Postkolonialen in Verbindung zu bringen. Jan Gerstners Beitrag »Das postkoloniale Wissen und die Fotografie. Leonore Mau, Hubert Fichte, Thomas Meinecke und Michaela Melián in Bahia« reflektiert die Produktivität intermedialer Bezüge in der künstlerischen Verarbeitung kultureller Alterität, hier des postkolonialen Brasilien, auf mehreren Ebenen. Auf der einen Seite behandelt er die intertextuelle Verweisstruktur, die Thomas Meineckes Roman Lookalikes zu Texten Hubert Fichtes und dessen literarischen und dokumentarischen Erkundungen der synkretistischen brasilianischen Candomblé-Kulte aufspannt. Auf der anderen Seite untersucht Gerstner, in welchem Verhältnis die Texte Meineckes und Fichtes zu den auf ganz unterschiedliche Weise in sie eingebundenen Fotografien ihrer Partnerinnen und Reisebegleiterinnen, den Fotografinnen Michaela Melián und Leonore Mau, stehen. Dabei führt der selbstreflexive Umgang der Autoren und Fotografinnen mit dem Problem eines besitzergreifenden kolonialen Blicks im vermeintlich objek-

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tiven Genre des Dokumentarischen nicht nur zu künstlerischen Strategien der Brechung, sondern auch zur Auslassung, bei der die Annäherung an das Fremde auf den Raum ›zwischen‹ Text und Bild verwiesen bleibt. Der Versuch eines postkolonialen Zugangs zum Fremden muss hier, so stellt Gerstner fest, gleichwohl ambivalent bleiben. Nicht um fotografische, wohl aber um spezifisch filmästhetische Strategien, mithilfe derer bereits in den 1960er Jahren koloniale Blickregime offengelegt werden können, geht es in Peter Ellenbruchs Beitrag »Musuri. Die erste große bundesdeutsche Fernsehauslandsreportage blickt 1954 auf den Kongo«. Das dokumentarische Fernsehfeature Musuri, eine Fernsehreportage über den damals noch kolonialen Kongo, nimmt Ellenbruch zum Ausgangspunkt einerseits für eine prinzipielle medienhistorische Reflexion über das mitteilend-aufklärerische und zum Teil widerständige Potential des bundesdeutschen Fernsehens nach dem Zweiten Weltkrieg und andererseits für eine konkrete Analyse der tonalen und visuellen Mittel, die koloniale Machtstrukturen – im Falle Musuris häufig spielerisch – entlarven, selbstreflexiv den künstlichen Charakter der dargebotenen Filmsequenzen thematisieren und damit deutlich mehr als nur touristische Bilder produzieren. In ihrem Beitrag »›Zeitreise in die koloniale Vergangenheit‹ als touristische Attraktion? Repräsentation der deutschen Kolonialgeschichte in aktuellen Reiseführern zu Tansania« beschäftigt sich Justyna Staszczak mit der Frage, inwiefern im Medium des Reiseführers die koloniale Vergangenheit afrikanischer Länder, hier Tansania, gewissermaßen konsumgerecht in einen touristischen Diskurs eingespeist wird, oder ob auch im Rahmen einer letztlich stark auf Freizeitgestaltung und Vergnügen ausgerichteten Präsentation fremdkultureller Kontexte deutlich Kritik an den kolonialen Strukturen und deren Folgen für die aktuelle Situation des bereisten Landes zum Ausdruck kommt. An Reflexionen zur Funktion des Genres Reiseführer zwischen (kritisch betrachtet) einer Handhabbarmachung und Zurichtung des Fremden für den konsumierenden Besucher und (idealistischer gewendet) der Möglichkeit einer interkulturellen Vermittlung schließt Staszczak eine detaillierte Analyse mehrerer Reisführer zu Tansania an. Diese untersucht sie dahingehend, wie stark die Texte rein auf eine Befriedigung exotistischer Leseerwartungen ausgerichtet und teils von Verharmlosung deutscher Kolonialgeschichte geprägt sind. Während Staszczak in ihrem Beitrag den Fokus mehr auf die Reiseführertexte legt, konzentriert sich Sebastian Lemme in seinem Artikel »Bilder postkolonial lesen? Forschungsperspektiven auf Selbst- und Fremdbilder in der visuellen Alltagskultur« gerade auf Repräsentationen kultureller Fremdheit in der visuellen Alltagskultur Deutschlands. Dabei plädiert er dafür, postkoloniale Perspekti-

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ven stärker auch auf eine spezifische Untersuchung visueller Kommunikationsmodi auszuweiten und diese auf Repräsentations- und Machtverhältnisse zu untersuchen. In seinen Überlegungen verbindet Lemme Aspekte der Postkolonialität, wie beispielsweise die Präsenz von rassifizierenden und stereotypisierenden Blicken innerhalb des alltäglichen Bilderkonsums (Stuart Hall), des ›Weißseins‹ und ›Deutschseins‹ mit Forschungsansätzen der visual culture studies. Er skizziert, wie besonders bildsemiotische Analyseverfahren hinsichtlich der Erforschung visueller (auch massenmedialer) Konstruktionen des Eigenen und des Anderen interessante Anknüpfungspunkte für postkoloniale Analyseansätze mit ihrem machtkritischen Referenzrahmen bilden können; der Beitrag versteht sich als theoretischer Auftakt zu solchen interdisziplinären Analysen. In Laura Becks Beitrag »Die Stimme aus dem Buch. Über fingierte fremdkulturelle Mündlichkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur am Beispiel von Thomas Stangls Roman Der einzige Ort« geht es, auch im Anschluss an Sven Werkmeisters Überlegungen, um die Frage, inwiefern kolonialismuskritische Texte der Gegenwart die Rolle ihres eigenen, schriftlichen Mediums innerhalb von medial strukturierten Abhängigkeitsverhältnissen in einer (post-)kolonialen Welt reflektieren. Zu solch mediensensiblen postkolonialen Schreibstrategien kann einmal die inhaltliche Reflexion der Problematik u.a. durch die Dekonstruktion des kolonialen Topos von der Überlegenheit der Schrift/des Buches oder durch den Verweis auf die Existenz fremdkultureller oraler (und schriftlicher) Literaturen sowie Formen der Wirklichkeitsbeschreibung gehören. Zum anderen können dabei Versuche eine Rolle spielen, formalästhetisch nicht nur interkulturelle, sondern auch intermediale Plurivokalität in die Struktur der Texte einzuschleusen und so im Aufbruch binärer Kategorisierungen ein postkoloniales Potential zu entfalten. Wie ein solcher Einbezug speziell fremdkultureller Mündlichkeit vor dem Hintergrund postkolonialer Repräsentations- und Legitimationsdebatten aussehen kann, demonstriert Beck anschließend anhand einer Lektüre von Thomas Stangls 2004 erschienenem Roman Der einzige Ort; ein Text, der durch ästhetische Verfahren der Montage von intertextuellen Bezügen und ›fingierte Mündlichkeit‹ (Paul Goetsch) zu einer postkolonialen Kanonrevision aufruft, welche über das Medium der Schrift hinausgeht. Julian Osthues’ Beitrag »Nilpferdpeitsche und Botanisiertrommel. (Post-)Koloniale Dinge in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern in Texten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Dinge, die historisch bei der Beobachtung, geographischen Vermessung, ethnographischen Beschreibung – kurz: der kolonialen Erschließung – fremdkultureller Gebiete eine zentrale Rolle spielten, ambivalent werden, sich ihrer

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Funktionalisierung innerhalb kolonialer Projekte entziehen und so zu »(post-)kolonialen« Dingen avancieren können. Im Fokus der Analyse stehen ästhetische Strategien, welche über die literarische Darstellung von Dingen eine Dekonstruktion und Irritation kolonialer Ordnungen realisieren und eine postkoloniale Lektüre der behandelten Texte möglich machen. Anhand einer Vielzahl an Textbeispielen skizziert Osthues im Folgenden eine differenzierte Typologie (post-)kolonialer Dinge, die »Dinge der Vermessung«, »Dinge kolonialer Gewalt«, »Dinge des Tausches und der Täuschung« sowie »Vehikel, Technik und Erfindungen« umfasst. Dabei geht es ihm darum, zu demonstrieren, dass die Semantik kolonialer Dinge innerhalb der Literatur nicht stabil und eindeutig bleiben muss. Vielmehr entfalten die Texte über ihren Umgang mit Dingen ein widerständiges Potential, über das koloniale Ordnungen zur Disposition gestellt sowie interkulturelle Fragestellungen verhandelt werden. Die literarische Repräsentation (post-)kolonialer Dinge ist demzufolge als spezifisches Merkmal einer postkolonialen Ästhetik zu betrachten. In seinem Beitrag »›An ihren Tänzen sollt ihr sie erkennen!‹ Anmerkungen über Jazz, Tanz und Politik« legt Ingo Breuer sein Augenmerk auf den Symbolwert des Jazz als Tanzkultur in der Weimarer Republik, dem Dritten Reich und der frühen Bundesrepublik. Breuer liest den Jazz als Paradigma kulturpolitischer Auseinandersetzungen, an dem sich rassistische, kolonialistische und exotistische Diskurse über Eigenes und Fremdes ganz besonders entzündeten. Ob der Jazz nun mit Demokratie, Freiheit, Avantgarde, Moderne und als symbolisch für den Einbruch von etwas Anderem, Authentischem oder als »ideologische[ ] Waffe einer internationalen jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung« verstanden wurde, ob im Unterhaltungsfilm der NS-Zeit, im Schlager oder in Texten wie Günther Grass’ Die Blechtrommel; für Breuer ist der Jazz häufig hochgradig symbolisch aufgeladen und intermedial eingespannt in die Vorstellung eines »Kulturkonflikts verschiedener Tänze«. Nicht zuletzt spannt Breuer den Bogen zu ganz aktuellen literarischen, aber auch filmischen Bezügen auf den Jazz und die mit ihm verbundenen kulturellen Konnotationen. Während Breuers Interpretation sich auf den Jazz als konfliktreichen Kreuzungspunkt von Diskursen über Eigenes und Fremdes konzentriert, zeigt Christopher Quadts Beitrag »Waka Waka (This Time For Africa): Kritische Perspektiven auf eine popkulturelle Inszenierung von Hybridität« am Beispiel des WMSongs Waka Waka von Shakira, wie über Musik und Tanz nicht nur Kulturkonflikte, sondern auch das Ideal einer allumspannenden Interkulturalität bzw. Hybridität verhandelt werden können. Quadt schließt hier an die Überlegungen Kien Nghi Has an, der Bhabhas Konzept der Hybridität kritisch wendet und es vor dem Hintergrund einer neokolonialen Einverleibung fremdkultureller Elemente

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in eine weiterhin europäisch gesteuerte Kulturindustrie als primär marktwirtschaftliche Strategie problematisiert. Quadt untersucht Shakiras Song und das dazugehörige Musikvideo im Hinblick auf die Frage, ob die unterschiedlichen sprachlichen und musikalischen fremdkulturellen Elemente, die darin aufgerufen werden, zu einer Transzendierung kultureller Festschreibungen beitragen oder ob bestimmte Stereotype innerhalb einer Inszenierung von Multikulturalität nicht doch lediglich wiederholt werden. Dabei wird die Analyse durch den Einbezug der medialen Berichterstattung über die WM in Südafrika sowie speziell der Debatten um den WM-Song in ein weites intermediales Diskursfeld eingebettet. Christof Hamann und Axel Dunker liefern mit »Antikolonialismus oder Postkolonialismus? Uwe Timms Roman Morenga und die Germanistik« einen dialogischen Beitrag, in dem sie eine Neulektüre eines in der postkolonialen Germanistik inzwischen kanonisierten Textes, Uwe Timms Morenga, sowie der postkolonial informierten literaturwissenschaftlichen Studien zu diesem Roman unternehmen. Dabei geht es ihnen um die Diskussion der Differenzierung und Nuancierung des Postkolonialen gegenüber dem Antikolonialen. Im ersten Abschnitt des entlang zwei Achsen organisierten Beitrags stellt Christof Hamann die in der Forschung vielfach vertretene These, der Roman realisiere eine schwebende, polyphone und postkoloniale Poetik, durch eine differenzierte erzähltheoretische Lektüre auf den Prüfstand. Dabei problematisiert er vor dem Hintergrund von Gayatri Chakravorty Spivaks Leitfrage »Can the Subaltern Speak?« besonders den Status der Erzählinstanz in Timms Text. Die zweite Achse des Beitrags bilden Axel Dunkers Überlegungen zu den Motiven der ›Ballonfahrt‹ und des ›Tanzens‹ in Timms Text, anhand derer Dunker untersucht, ob Saids Verfahren der kontrapunktischen Lektüre auf kolonialismuskritische Texte der Gegenwartsliteratur überhaupt noch anwendbar ist und was durch eine solche Lektüre herauszuarbeiten wäre. In seinem Beitrag »Verschobene Einbildungen. Afrika-Konstruktionen in der jüngsten deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« geht Dieter Heimböckel der Frage nach, inwiefern es in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zunehmend zu einer Normalisierung des postkolonialen Blicks kommt, um sich dann anhand der Analyse von Texten wie Thomas Stangls Der einzige Ort (2004), Alex Capus’ Eine Frage der Zeit (2007), Christof Hamanns Usambara (2007) und Hans Christoph Buchs Apokalypse Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern (2011) auf das ästhetische Prinzip der Verschiebung zu konzentrieren. Dabei schließt er an James Cliffords Konzept der Poetics of displacement sowie Bhabhas Verwendung des Begriffes ›Deplatzierung‹ an und untersucht die Romane auf Verfahren hin, die denen der experimentellen Ethnologie analog sind und

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sich als Umschreibungen, Umkehrungen, Inversionen und Übersetzungen artikulieren. Zentral fragt Heimböckel danach, ob sich in den Texten die prekäre Einsicht in die Textur des Fremdverstehens manifestiert, die für ihn grundsätzlich mit der Frage verknüpft bleibt, wie es möglich sein kann, über Afrika zu schreiben. Dabei zeigt sich in den klassisch literaturwissenschaftlich orientierten Beiträgen von Dunker/Hamann und Heimböckel, dass die postkoloniale Literaturwissenschaft im deutschsprachigen Forschungskontext neben einer Bereitschaft für eine intermediale Öffnung des Gegenstandsfeldes auch in eine Phase eingetreten ist, in der es bereits zu ersten kritischen Revisionen in der Bewertung von inzwischen kanonisierten Texten und Positionen der Forschung kommt, die von neuen wie bislang wenig beachteten Theorieansätzen und der Ausdifferenzierung des Forschungsfeldes in den letzten Jahren profitieren. Perspektiven der Grenzüberschreitung, wie der vorliegende Band im Untertitel führt, rufen folglich zur kritischen Selbstreflexion der Disziplin auf und machen deutlich, dass postkoloniale Studien weder in den Kinderschuhen stecken, noch ein Ende der Forschung in Sicht ist: Wir befinden uns mittendrin. Den Autorinnen und Autoren der Beiträge sei an dieser Stelle für ihre engagierte Mitarbeit gedankt sowie für ihre Offenheit zum Dialog, der im Mittelpunkt eines Forschungskolloquiums stand (Nov. 2013/Universität zu Köln) und das Projekt in der Form erst möglich gemacht hat. Wir würden uns freuen, wenn der Band für die Zukunft zu weiterer Zusammenarbeit und interdisziplinärem Austausch anregt. Wir danken Christof Hamann für seine Ratschläge und die Ermutigung zu diesem Band, Simone Brühl für das Lektorat der Einleitung. Ganz besonders bedanken wir uns bei Dieter Heimböckel, stellvertretend für das Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität an der Universität Luxemburg, für die finanzielle Unterstützung des Bandes und die Aufnahme in die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft, zu deren Herausgebern Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg gehören.

B IBLIOGRAPHIE Bergermann, Ulrike (2012): Postkoloniale Medienwissenschaft. Mobilität und Alterität von Ab/Bildung. In: Karentzos, Alexandra/Reuter, Julia (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden, S. 267-281.

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Bergermann, Ulrike (2014): Postcolonial Studies. In: Schröter, Jens (Hg.): Handbuch Medienwissenschaft. Stuttgart/Weimar, S. 523-527. Bergermann, Ulrike/Heidenreich, Nanna (2015): Embedded Wissenschaft. Universalität und Partikularität in post_kolonialer Medientheorie. In: Dies. (Hg.): total. Universalismus und Partikularismus in post_kolonialer Medientheorie. Bielefeld, S. 9-44. Dubiel, Jochen (2007): Dialektik der postkolonialen Hybridität. Die intrakulturelle Überwindung des kolonialen Blicks in der Literatur. Bielefeld. Dunker, Axel (2005): Einleitung. In: Ders. (Hg.): (Post-)Kolonialismus und deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie. Bielefeld, S. 7-16. Dunker, Axel (2008): Negationen, Oppositionen und Subtexte. Edward Said, die postkolonialen Studien, die deutschsprachige Literatur – und die Germanistik. In: Literaturkritik.de, Nr. 6; online unter: http://www. literaturkritik. de/public/rezension.php?rez_id=11997&ausgabe=200806 [12.06.2016]. Dunker, Axel (2011): Postkoloniale Studien/Postkoloniale Theorien. In: Ders./Dürbeck, Gabriele/Gretz, Daniela (Hg.): Interkulturalität. Hagen, S. 55-98. Dunker, Axel (2016): Literaturgeschichte des deutschen Kolonialismus. Postkoloniale Perspektiven. In: Stolz, Thomas/Warnke, Ingo/Schmidt-Brücken, Daniel (Hg.): Sprache und Kolonialismus. Eine interdisziplinäre Einführung zur Sprache und Kommunikation in kolonialen Kontexten. Berlin, S. 73-92. Dürbeck, Gabriele (2014a): Postkoloniale Studien in der Germanistik. Gegenstände, Positionen, Perspektiven. In: Dies./Dunker, Axel (Hg.): Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahmen, theoretische Perspektiven, Lektüren. Bielefeld, S. 19-70. Febel, Gisela (2012): Postkoloniale Literaturwissenschaft. Methodenpluralismus zwischen Rewriting, Writing back und hybridisierenden und kontrapunktischen Lektüren. In: Reuter, Julia/Karentzos, Alexandra (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden, S. 229-247. Gehrmann, Susanne/Prüschenk, Viola: Afrikanische Literaturen intermedial – ein Vorwort. In: Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 9, H. 17, S. 1-7. Göttsche, Dirk (2004): Postkolonialismus als Herausforderung und Chance germanistischer Literaturwissenschaft. In: Erhart, Walter (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart, S. 558-576. Gutjahr, Ortrud (2012): Transkulturalität und Intermedialität in der Germanistik des globalen Zeitalters. Eine Einleitung. In: Grucza, Franciszek (Hg.): Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Bd. 2. Frankfurt a.M., S. 77-82.

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Heimböckel, Dieter (2013): Die deutsch-französischen Beziehungen aus interkultureller Perspektive: In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4, H. 2, S. 19-39. Heimböckel, Dieter/Weinberg, Manfred (2014): Interkulturalität als Projekt. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5, H. 2, S. 119-143. Hofmann, Michael (2006): Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn. Hofmann, Michael/Patrut, Iulia-Karin (2015): Einführung in die interkulturelle Literatur. Darmstadt. Mecklenburg, Norbert (2008): Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissenschaft. München. Osthues, Julian (2016): Luxemburg postkolonial? Zur Leistung einer postkolonialen Perspektive im Horizont der Interkulturalitätsforschung. In: Wiegmann, Eva (Hg.): Interkulturelles Labor. Luxemburg im Spannungsfeld von Integration und Diversifikation. Frankfurt a.M., S. 181-199. Rajewsky, Irina O. (2002): Intermedialität. Basel/Tübingen. Rajewsky, Irina (2014): Intermedialität, remediation, Multimedia. In: Schröter, Jens (Hg.): Handbuch Medienwissenschaft. Stuttgart/Weimar, S. 197-206. Schütz, Alfred (2002): Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch. In: Merz-Benz, Peter-Ulrich/Wagner, Gerhard (Hg.): Der Fremde als sozialer Typus. Klassische soziologische Texte zu einem aktuellen Phänomen. Konstanz, S. 73-92. Surana, Vibha (2012): Transkulturalität und Intermedialität in der Forschung und im wissenschaftlichen Kommunikationsprozess. In: Grucza, Franciszek (Hg.): Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Bd. 2. Frankfurt a.M., S. 87-89. Süselbeck, Jan (2008): Zu dieser Ausgabe. In: literaturkritik.de, Nr. 6; online unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=12000&ausga be=200806 [12.06.2016]. Uerlings, Herbert (2006): »Ich bin von niedriger Rasse«. (Post-)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur. Köln/Weimar/Wien. Uerlings, Herbert (2011): Interkulturelle Germanistik/Postkoloniale Studien in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft. Eine Zwischenbilanz zum Grad ihrer Etablierung. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 2, H. 1, Bielefeld, S. 27-38. Uerlings, Herbert/Patrut, Iulia-Karin (2012): Postkolonialismus als Provokation für die Literaturwissenschaft. Eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): Postkolonialismus und Kanon. Bielefeld, S. 7-35.

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Werkmeister, Sven (2014): Die Frage der Schrift und die Medialität der Kultur. Herausforderungen für eine postkoloniale Literaturwissenschaft. In: Dürbeck, Gabriele/Dunker, Axel (Hg.): Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahmen, theoretische Perspektiven, Lektüren. Bielefeld, S. 105141. Wilke, Sabine (2008): Über die Kunst, postkoloniale germanistische Studien zu betreiben. Zur Frage, wie man aus der Metropole auf die Metropole mit einem peripheren Blick schaut. In: literaturkritik.de, Nr. 6; online unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11736&ausgabe= 200806 [12.06.2016]. Wilke, Sabine (2011): Zwanzig Jahre Germanistik postkolonial. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 103, H. 3, S. 425-439. Wirth, Uwe (2007): Intermedialität. In: Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft: Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Bd. 1. Stuttgart, S. 254-264. Wolf, Werner (1999): Musicalized Fiction and Intermediality. Theoretical Aspects of Word and Music Studies. In: Bernhart, Walter/Scher, Steven Paul/Wolf, Werner (Hg.): Word and Music Studies. Defining the Field. Proceedings of the First International Conference on Word and Music Studies at Graz. Amsterdam/Atlanta, S. 37-58. Wolf, Werner (2002): Intermedialität: Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft. In: Foltinek, Herbert/Leitgeb, Christoph (Hg.): Literaturwissenschaft: intermedial – interdisziplinär. Wien, S. 163-192.

Postkoloniale Mediengeschichte Historische Argumente für ein zukünftiges Forschungsfeld S VEN W ERKMEISTER

Im Kontext postkolonialer Debatten in den Literatur- und Kulturwissenschaften wurde die Frage der Medialität (post-)kolonialer Praktiken und Kulturphänomene bisher kaum in den Blick genommen.1 Ein großer Teil der postcolonial studies stammen aus dem Kontext der Literaturwissenschaften, und auch jene Studien, die sich visuellen und akustischen Phänomenen wie Photographie, Film oder phonographischen Aufnahmen widmen, bewegen sich häufig auf der Ebene von Inhalts- und Darstellungsfragen. Die Frage, inwiefern mediale und (post-)koloniale Praktiken miteinander verwoben sind und inwiefern sich Mediengeschichte und (post-)koloniale Geschichte gegenseitig bedingen, wurde bisher noch nicht systematisch gestellt. Eine postkoloniale Mediengeschichte und theorie ist mithin ein noch zu erschließendes Forschungsfeld. Der vorliegende Beitrag möchte anhand einiger ausgewählter Beispiele jenes Feld skizzieren und argumentieren, warum die Verbindung von postkolonialen und medienhistorischen Fragestellungen für beide Seiten fruchtbar sein kann. Die angeführten Beispiele beziehen sich in erster Linie auf den europäischen und insbesondere deutschsprachigen Kontext. Die theoretische Fragestellung

1

Eine Ausnahme bildete u.a. die »Tagung total. Universalismus und Partikularismus in Postkolonialer Medientheorie« (16. – 18. Mai 2013, HBK Braunschweig) und der gleichnamige Sammelband vgl. Bergermann/Heidenreich (2015). Der vorliegende Artikel verwendet Argumente und Beispiele, die bereits in folgenden Texten des Autors formuliert wurden: vgl. Werkmeister (2010, 2014, 2015). Eine erweiterte, englischsprachige Fassung des vorliegenden Textes wurde unter dem Titel Postcolonial Media History. Historical Arguments for a Future Field of Research im Band Krämer/Merten 2016 publiziert (vgl. Werkmeister 2016).

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nach der Relevanz der medialen Dimension kolonialer und postkolonialer Literatur- und Kulturphänomene lässt sich jedoch übertragen auf andere historische, kulturelle und geographische Kontexte. Es geht hier zunächst vor allem darum, eine theoretisch-methodische Fragestellung zu entwerfen und ein Forschungsfeld zu beschreiben, das insbesondere in Bezug auf das Untersuchungsmaterial ergänzt werden kann und muss. Wenn hierbei im vorliegenden Aufsatz u.a. der Diskurs des ›literarischen Primitivismus‹ im Kontext der Avantgardebewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts fokussiert wird, so ist aus postkolonialer Perspektive hervorzuheben, dass es sich hierbei um eine diskurshistorische Perspektive handelt. Wenn im Folgenden also der Begriff des Primitiven ohne Anführungszeichen verwendet wird, so verweist er eben nicht auf eine objektive außerdiskursive Realität, sondern auf eine Diskursfigur. Die Wirkmacht der Figur und des Begriffs des Primitiven allerdings ist eine diskurshistorische Realität. Deswegen ist der Begriff des ›Primitiven‹ auch nicht ersetzbar, sondern – im Sinne einer diskurshistorischen Analyse – selbst Gegenstand der Analyse.2 Die behandelten Texte sind historisch noch dem kolonialen Kontext, der europäisch-imperialen Erschließung (und Inbesitznahme) der außereuropäischen Welt, zuzurechnen. Auch der Diskurs der Avantgarde speist sich teilweise aus Thesen und Figuren der ethnologisch-ethnographischen Forschung des 19. Jahrhunderts und führt damit auch Denkfiguren fort, deren Entstehung unmittelbar im Kontext der europäischen Kolonialzeit zu verorten ist. Eine genaue Lektüre zeigt jedoch Ambivalenzen. Auch die Figur des Primitiven geht nicht auf in einer hierarchisierend-abwertenden und ausschließenden Beschreibung außereuropäischer Kulturphänomene. Der oder das Primitive wird in den Texten der Avantgarde vielmehr Anlass und Ausgangspunkt der Hinterfragung und Infragestellung europäischer Identität und Selbstverständlichkeit. Inwiefern es sich hierbei auch und gerade um eine Selbstreflexion der medialen Bedingtheit der eigenen europäischen Kultur handelt, wird in Abschnitt 3. diskutiert werden.

1. T HEORETISCHE G RUNDLAGEN : M EDIENGESCHICHTE Medien – so ließe sich sehr grundsätzlich formulieren – sind die Bedingung der Möglichkeit von Kultur. Sie sind Bedingung und Voraussetzung jedes künstlerischen, sozialen, politischen, juristischen oder ökonomischen Phänomens. Medi-

2

Vgl. zur Begriffs- und Diskursgeschichte des ›Primitiven‹ ausführlich Werkmeister (2010: 57ff.).



P OSTKOLONIALE M EDIENGESCHICHTE

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en wie Sprache, Bild, Ton oder Zahl sind Erscheinungs-, Ausdrucks- und Möglichkeitsformen von Kultur. Kein noch so abstraktes oder geistiges Kulturphänomen ist denkbar ohne seine mediale Materialisierung. Die Berliner Medienphilosophin Sybille Krämer hat in diesem Sinne von ›Inkorporierung‹ gesprochen: ›Kultur‹ bezieht sich auf Praktiken, mit denen unsinnliche Gegebenheiten wie ›Werte‹ oder ›Sinn‹, demjenigen, was in Raum und Zeit gegeben, und also wahrnehmbar ist, inkorporiert werden. Es gibt keinen Geist, keinen Sinn, keinen Wert, keine abstrakten Gegenstände – noch nicht einmal: Gott – ohne Verkörperung. (Krämer 2003: 158f.)

Existiert Kultur in diesem Sinne immer und nur in ihren medialen Verkörperungen, so lässt sich diese medien- und kulturphilosophische These historisch konkretisieren oder im eigentlichen Sinne historisieren. Medien sind nicht nur Bedingung und Erscheinungsform von Kultur als solcher. ›Kulturen‹ – im Plural – als historisch, geographisch oder sozial differenzierbare Konstellationen lassen sich nicht zuletzt auch und gerade mit Blick auf ihre medialen Grundlagen und Techniken hin befragen und differenzieren. Medien sind in diesem Sinne ›Kulturtechniken‹ (vgl. Bredekamp/Krämer 2003: 18), die kulturelle Produktionsund Organisationsformen bestimmen und deren Differenzen und Wandel sich historisch beschreiben lassen. Der im Folgenden zugrunde gelegte Medienbegriff versteht Medien mithin als Möglichkeitsbedingung kultureller Phänomene. Es geht dabei in einer allgemeinen, grundlegenden Perspektive um die Abkehr von einem instrumentellen Medienbegriff, der Medien als Mittel begreift, die außermedialen Inhalten lediglich eine Darstellungs- und Übermittlungsform geben. Vielmehr wird von einer Vorgänglichkeit des Medialen ausgegangen. Selbst die abstrakteste Idee (»Gott«) existiert nicht außerhalb ihres medialen In-Erscheinung-Tretens. Was ein Medium ist, kann dabei nur relational beantwortet werden, d.h. es lässt sich immer nur aus der spezifischen Perspektive eines Beobachters bestimmen.3 So ist Sprache ein Medium, in dem sich Gedanken oder linguistische Sachverhalte formen können. Auf einer anderen Ebene ist die Schrift ein spezifisches Medium, in dem Sprache eine Ausformung und Materialisierung finden kann. Mediengeschichte im engeren Sinne bezieht sich auf die historischen, technisch-medialen Konstellationen, in denen konkrete Medien (z.B. die Photographie, die Kinematographie oder die notenschriftliche Fixierung von Musik) die

3

Vgl. hierzu auch die kommunikations-/systemtheoretische Unterscheidung von »Medium und Form« bei Niklas Luhmann (1997: 190-202).



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Erscheinungsweise und Differenzierung von Kulturen bestimmen und möglich machen. Handelt es sich bei der Untersuchung des Mediums Sprache noch um eine gewissermaßen anthropologische Frage, nämlich die nach der sprachlichen Verfasstheit des Menschen, so ist die Untersuchung des technisch-konkreten Mediums der Schrift – und spezifischer: der alphabetischen Schrift – eine historische Frage, die eine geschichtlich und geographisch-kulturell abgrenzbare, mediale Technik fokussiert. Eine Kulturgeschichte als Mediengeschichte untersucht mithin die medialen Bedingungen und Techniken kultureller Formationen in ihrem historischen Wandel. In Deutschland wurde die Mediengeschichte in diesem Sinne insbesondere durch die Studien des Berliner Kultur- und Medientheoretikers Friedrich Kittler inspiriert. Kittler formulierte bereits in den 1980er Jahren das Programm einer ›medienarchäologischen‹ Theorie und Methode. Im Anschluss an Michel Foucaults historische Diskursanalyse erweiterte er die Perspektive vom engen Textbezug des Foucault’schen Diskursbegriffs auf andere mediale Praktiken und Techniken, deren Differenzen und historischen Wandel. Kittler definiert Medien als Techniken der Aufzeichnung, Speicherung und Übertragung von Daten und gibt damit der diskursanalytischen Perspektive Foucaults einen neuen Fokus: »Archäologien der Gegenwart müssen auch Datenspeicherung, -übertragung und -berechnung in technischen Medien zur Kenntnis nehmen.« (Kittler 2003: 501) Dabei geht es nicht nur um den Blick auf andere medialen Praktiken jenseits von Text und Schrift, die meist im Fokus diskursanalytischer Studien stehen. Es geht vor allem um die Differenzen und den historischen Wandel jener technischmedialen Grundlagen der Diskurs- und Kulturgeschichte. Gegenstand einer Medienarchäologie in diesem Sinne sind jene historischen Konstellationen gegebener medialer Techniken, die Aufzeichnung, Speicherung und Übertragung von Information in einer Kultur ermöglichen und bestimmen. Kittlers Medienarchäologie bleibt dabei ebenso wie Foucaults Diskursarchäologie zum großen Teil auf den europäischen Kontext fokussiert und stellt den historischen Wandel von der Schriftkultur über die technischen Medien (u.a. Photo-, Phono- und Kinematographie) bis hin zum digitalen Code des Computers ins Zentrum der Untersuchung. Aus postkolonialer Perspektive stellt sich dabei zum einen die Frage, wie sich die Mediengeschichte Europas zu evtl. differierenden außereuropäischen Mediengeschichten verhält. Zum anderen ist zu fragen, inwiefern mediengeschichtliche Konstellationen und Differenzen direkt mit der Kolonialgeschichte verwoben bzw. im eigentlichen Sinne deren Bedingung und Grundlage sind. Aufschreibesysteme – wie Kittler jene Gefüge der medialen Grundlagen und Techniken einer Kultur nennt – wandeln und unterscheiden sich nicht nur historisch, sie charakterisieren Kulturen auch in einem



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anthropologisch-ethnographischen Sinne. Die Medientechniken, die in einem spezifischen kulturellen Kontext zur Verfügung stehen und einsetzbar sind, bedingen dessen Erscheinung, Struktur und Organisation. Mediale Differenz impliziert immer auch kulturelle Differenz. Für die (post-)koloniale Geschichtsschreibung, die die Beziehungen des Austauschs, der Kooperation, der Konkurrenz und Konfrontation zwischen Europa und seinem außereuropäischen ›Anderen‹ in den Blick nimmt und deren literarische, künstlerische und kulturelle Ausdrucksformen reflektiert, ist die medientheoretische und medienhistorische Frage in diesem Sinne kein Nebenaspekt. Die Frage nach den technisch-medialen Grundlagen und Differenzen, die in den kolonialen Konstellationen des Kulturkontakts und der Kulturreflexion zum Tragen kamen und kommen, muss vielmehr am Anfang der Überlegung stehen. Erstens bildet die (post-)koloniale Perspektive eine notwendige Erweiterung der bisher allzu eurozentrischen Mediengeschichtsschreibung. Zweitens kennzeichnet der Blick auf die medienhistorische Dimension des Kolonialismus und seiner kulturellen Erscheinungsformen ein Untersuchungsfeld, das in diskursanalytisch orientierten postcolonial studies bisher kaum berücksichtigt wurde. Inwiefern medienhistorische Dimensionen eine zentrale Rolle in der (post-) kolonialen Geschichte und ihrer Analyse spielen, möchte der vorliegende Beitrag anhand einiger ausgewählter Beispiele beleuchten. Zu fragen ist dabei nicht nur nach den technisch-medialen Grundlagen des europäischen Kolonialprojekts und evtl. differierenden medialen Konstellationen außerhalb Europas. Zu fragen ist auch nach dem medialen Selbstverständnis des kolonialen Projekts, d.h. nach der expliziten und impliziten diskursiven Reflexion medialer Differenz zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten. Die für die Kolonialgeschichte prägendste mediale Differenz zwischen Europa und seinem viel beschworenen Anderen ist zweifellos die alphabetische Schrift. Nicht nur bestimmte diese mediale Differenz die kulturelle, praktische und verwaltungstechnische Realisierung des kolonialen Projekts. Die Differenz von Schriftlichkeit vs. Schriftlosigkeit formte auch das medial-kulturelle Selbstverständnis des europäischen Kolonialismus. Sie bildet im europäischen Kolonialdiskurs eine der zentralen Begründungsfiguren der Unterscheidung zwischen Europa und seinem imaginierten Anderen.

2. D IE S CHRIFT

ALS KOLONIALE

D IFFERENZ

Die Situation des ›first contact‹, die Szene der ersten Begegnung zwischen Europäern und außereuropäischen, fremden Kulturen war immer schon eine medial



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geformte. Und dies nicht nur im Sinne der ›Repräsentation‹ der Szene als »Superzeichen des Kontingenten und Unmittelbaren« (Scherpe 2002: 199) in den Berichten, Kupferstichen und Photographien der europäischen Reisenden, d.h. in den vielfältigen Medialisierungen jener fabelhaften Begegnung für das Publikum zuhause. Medien spielten auch bereits in der Begegnung vor Ort eine zentrale Rolle: als Mittel der Kommunikation und Übersetzung in einer Situation, in der die ›Sprache‹ regelmäßig scheitern musste. Prominentes Beispiel für das Erscheinen der medialen Frage in der Situaton des Erstkontakts ist die von Georg Forster überlieferte Anekdote über James Cook, der 1773 mit den Neuseeländern der Dusky Bay in Kontakt zu treten versuchte, indem er ihnen ein weißes Blatt Papier überreichte. (vgl. Forster 1778: 104) Bereits seit dem 17. Jahrhundert hatten Schrift und Papier die Berichte über jene Szene der medialen Begegnung mit den Fremden bestimmt. Anekdoten der schrifttechnischen Überlegenheit der Europäer, die die fassungslose Reaktion der Fremden auf das europäische Medium der Alphabetschrift beschreiben, finden sich in zahllosen Varianten in den Berichten der Reisenden. Sie rufen einen in den ethnographischen Berichten seit dem 17. Jahrhundert bis hin zu Claude Lévi-Strauss’ berühmter ›Schreibstunde‹ immer wieder zitierten Topos auf: das Unverständnis der Indigenen gegenüber der europäischen Kulturtechnik der Schrift. Michael Harbsmeier, Erhard Schüttpelz und andere haben die anekdotische ›Szene medientechnischer Überlegenheit‹ der europäischen Alphabetschrift als literarische Präfiguration eines kolonialen, innereuropäischen Wissens beschrieben, das die ethnologische Differenz zwischen Eigenem und Fremdem über die mediale Unterscheidung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit begründen half (vgl. Harbsmeier 1992: 3-24; Schüttpelz 2005: 17-31). Bis in die frühe Neuzeit hinein war die europäische Schriftmächtigkeit kein zentrales Unterscheidungsmerkmal in den Diskursen über fremde Völker und Kulturen. Erst nach der Zerstörung der mittelamerikanischen Schriftkulturen durch die spanischen Eroberer und der zunehmenden Verbreitung des Buchdrucks in Europa tauchte die Anekdote im 17. Jahrhundert in den europäischen Reiseberichten auf und wurde im Kontext zunehmender Literalisierungprozesse innerhalb Europas zu einem festen Topos der Begegnung mit dem Fremden (Schüttpelz 2005: 18f). Die Geschichte variiert immer wieder das gleiche Motiv: Ein Europäer schickt einen schriftunkundigen Fremden los, einige Waren auszuliefern. Der (meist indigene) Fremde entwendet einen Teil der Lieferung und hält es für Magie, als der Empfänger den Betrug dank eines beiliegenden Schriftstücks bemerkt. Diese Anekdote des ›sprechenden Papiers‹ (vgl. Krüger 2003) spielt mit der wissenden Komplizenschaft des schriftkundigen Lesers. Das in Szene gesetzte Unverständnis des Außereuropäers, seine ›Fehlinterpretation‹



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der europäischen Technik, verweist die Wahrnehmung des Fremden ins Reich des primitiven Aberglaubens und bestätigt zugleich die uneingeschränkte europäische Macht der Schrift. Noch die Reaktion der Fremden auf das ›leere‹ Blatt Papier im Bericht Forsters wiederholt diesen Topos quasi magischer Macht der europäischen Technik gegenüber den Fremden: »Der gute Kerl zitterte nunmehro sichtbarer Weise über und über, nahm aber endlich, wiewohl noch immer mit vielen deutlichen Merkmalen der Furcht, das Papier hin.« (Forster 1778: 104) Die Szene schrifttechnischer Überlegenheit, die in unzähligen Reiseberichten seit dem 17. Jahrhundert verbürgt ist, kann als ein Ritual betrachtet werden, das Europäer immer wieder inszenierten […] aus der bereits belegten Annahme heraus, daß bestimmte Instrumente und Medien eine ›magische Wirkung‹ ausüben konnten […], insbesondere in Situationen eines ›First Contact‹ und eines noch unsicheren Gabentauschs (Schüttpelz 2005: 24).

Dieses Ritual der Inszenierung der eigenen Schriftlichkeit gegenüber fremder Schriftlosigkeit interpretiert Schüttpelz als eine spezifische »Erwartungshaltung […], die es den Europäern erlaubte […], immer wieder ihre imaginäre Ethnographie und eine unerwartete Realität zusammenfallen zu lassen« (Schüttpelz 2005: 24). Diese zwei Dimensionen der Inszenierung sind im Auge zu behalten, nähert man sich heute aus historischer Perspektive der Encounter-Szene. Die Situation des medialen Erstkontakts ist nur aus den Aufzeichnungen der europäischen Reisenden zu rekonstruieren.4 Gerade deswegen bedarf sie einer doppelten Lektüre und Verortung: erstens als Quellentext, der Auskunft geben kann über die »unerwartete Realität« des Zusammentreffens von sich einander völlig fremden Kulturen, zweitens als Ausdruck jener »imaginären Ethnographie«, die über die poetische Form der Reiseerzählungen das europäisch-kulturelle Wissen vom Fremden formte. Erstens geht es also um eine Annäherung an die ›reale‹ Situation des Encounters, die »Rekonstruktion des habituellen und performativen Charakters der Szene« (Scherpe 2002: 205) anhand eines äußerst prekären Quellentextes. Ohne die europäischen Zuschreibungen und die implizite Werthierarchie in den europäischen Darstellungen des medialen Encounters zu reproduzieren, 5 lässt sich

4

Oder eben aus den Aufzeichnungen des bereits alphabetisierten ›ehemaligen‹ Schriftlosen. Vgl. die Beispiele bei Krüger (2003) und Harbsmeier (1992).

5

Kritik an einer einseitigen Lektüre der Anekdote als eines weitgehend unproblematischen und vertrauenswürdigen historischen ›Quellentexts‹ formuliert Gesine



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doch zumindest soviel festhalten: In der Begegnung mit dem außereuropäisch Fremden treten an zentraler Stelle regelmäßig Medientechniken auf den Plan. Wo Verständigung und Austausch nicht in Medien stattfinden kann – sprachliche Semantik zeigt gerade in der Situation des first contact ihre kulturelle Determiniertheit und Begrenztheit –, da werden die Medien selbst – bei Forster gerade das ›leere Blatt Papier‹ (!) – zum Gegenstand des Tausches. Die ›Medialität‹ von Kultur, ihre Rückgebundenheit an spezifische Medien der Wahrnehmung, der Aufzeichnung und der Kommunikation wird in dem Moment ›gegenständlich‹ greifbar, in dem die eigenen europäischen Medien – bis ins 19. Jahrhundert waren die zentralen Medien im europäischen Selbstverständnis vor allem Alphabetschrift und Papier – ihre kulturelle Selbstverständlichkeit verlieren. Erst in der Begegnung mit den Fremden werden Schrift und Papier zu einem außergewöhnlichen, unverständlichen Gegenstand. Ob es sich bei den in den europäischen Reiseberichten dargestellten Reaktionen der Fremden auf die Schrift – ihr Erstaunen, ihre Furcht, ihr Glauben an Magie – um eine Zuschreibung der Europäer handelt oder nicht, ist für diesen Befund zunächst zweitrangig: Medien, so ist festzuhalten, treten als Medien in Erscheinung, werden selbst zum konkreten und diskursiven Gegenstand, wo sie in der Begegnung mit dem Fremden als spezifisches Kulturmerkmal kenntlich und damit selbst zum Objekt der Verhandlung werden. Liest man die mediale Encounter-Szene zweitens als eine Form ›imaginärer‹ Ethnographie, als den »europäischen Versuch, die fremde Fremdwahrnehmung der Nicht-Europäer in den eigenen Diskurs zu konvertieren« (Schüttpelz 2005: 25), so erscheint die Rede von der magischen Wirkung der Schrift weniger an eine spezifische Form der Wahrnehmung auf Seiten der Fremden gebunden als vielmehr Ausdruck des europäischen Bildes vom Fremden. Dem eigenen medialen Wissen von der ›technischen‹ Funktionsweise der Schrift wird das grundlegende Verkennen des Mediums, die Verwechslung von Technik und Zauberei auf Seiten der Fremden, gegenübergestellt. Diese spezifisch ›aufklärerische‹ Variante der Differenzbildung zwischen Eigenem und Fremdem lässt sich auch als Selbstverständigung über die eigene mediale Situation in Europa begreifen. Die technische Überlegenheit wird »seit den protestantischen Reiseberichten des 17. Jahrhunderts meist als eine säkulare oder profane Überlegenheit verstanden«

Krüger mit Blick auf Tzvetan Todorovs Interpretation der Szene in seiner Studie zur Eroberung Amerikas (Todorov 1985). Todorov verwendet die Anekdote schriftlicher Überlegenheit der Europäer nicht nur als unhinterfragten historischen Quellentext, er macht die These kultureller Überlegenheit der Schrift zur Grundlage seiner eigenen Argumentation (vgl. Krüger 2003: 358f.).



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(Schüttpelz 2005: 25; Hervorh. i. Orig.). Aufklärung, Wissen und das Beherrschen und Verstehen der Schrift stehen auf der einen Seite, Aberglauben, Irrtum und Analphabetismus auf der anderen. In der Inszenierung ›schrifttechnischer‹ Überlegenheit geht es somit um mehr als die ›technische‹ Überlegenheit des Mediums der Schrift als einer Aufzeichnungs- und Speichertechnik neben anderen. Die Interpretation der fremden Fremdwahrnehmung als ›magische‹ entwirft eine sehr viel grundlegendere Werthierarchie zwischen Eigenem und Fremdem. Religion, Kultur und Weltzugang der Fremden werden ›als solche‹ diskreditiert, indem man sie als Fehlinterpretation und Irrtum zu entlarven versucht. Die Schrift ist in diesem aufklärerischen Diskurs – und dafür steht auch und gerade die Szene schrifttechnischer Überlegenheit im first contact – nicht ›eine‹ Medientechnik unter anderen, sie ist ›das‹ Medium der Wahrheit, des Wissens und der Macht schlechthin. Das Verstörende und Irritierende der medialen Encounter-Situation, nämlich die »fremde Fremdwahrnehmung« des eigenen Mediums der Schrift und ihr Potential, dessen kulturelle Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen, wird durch die Interpretation der fremden Reaktion als schlichte »Fehldeutung« entschärft. Der fremde und verfremdende Blick des Gegenübers auf das eigene Medium, der die »reale Situation« des Encounters ebenso kennzeichnet wie die literarische Erzählung jener Anekdote im Reisebericht, wird als Aberglauben denunziert und damit in den eigenen Diskurs von Schrift und aufgeklärtem Wissen konvertiert. Steht die Schrift für die Möglichkeit von Wissen und Kultur schlechthin, so kann der fremde Blick des Schriftunkundigen nur Nicht-Wissen sein. Die mediale Encounter-Szene, die in den Reiseberichten des 17. und 18. Jahrhunderts immer wieder von neuem jene Begegnung der Primitiven mit der Schrift inszeniert, präfiguriert in der poetischen Form der Anekdote jenen schriftzentrierten Diskurs von Geschichtswissenschaft und Philosophie, der noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die schriftlosen Völker grundsätzlich aus dem Raum von Geschichte und Kultur verbannt. Im Sinne einer »Archeology of Orality« hat vor allem Michael Harbsmeier die Differenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit und ihre Inszenierung in den Berichten europäischer Reisender historisch zu verorten versucht. Harbsmeier belegt anhand einer großen Zahl europäischer Reiseberichte vom 16. bis ins 18. Jahrhundert, dass der Begriff und die Vorstellung von ›Oralität‹ – als einer gegenüber der Schriftkultur grundlegend verschiedenen Form von Kommunikation und sprachlichem Austausch – erst im 17. Jahrhundert zu einem festen Topos der europäischen Beschreibungen des Fremden wurden. Die Entdeckung von »orality and spoken language as a mode of communication at once radically different from, but also reducible to, writing« (Harbsmeier 1989: 222) ist historisch –



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so die zentrale These Harbsmeiers – unmittelbar mit der Durchsetzung allgemeiner Schriftlichkeit und der zunehmenden Verbreitung des Buchdrucks in Europa verbunden. Diese Differenz zwischen schriftmächtigen und schriftlosen Völkern wird im 19. Jahrhundert zu einem der zentralen Argumente kolonialer Differenzbildung. Das Studium der (alphabet-)schriftlosen Kulturen stand nicht nur im Zentrum der neuen akademischen Disziplin der Ethnologie, die sich auf diese Weise auch von den schriftzentrieren Geschichtswissenschaften abgrenzte. Im kolonialen Diskurs des 19. Jahrhunderts erscheint die Schriftlosigkeit auch als immer wieder zitiertes Argument, das die Überlegenheit Europas und den damit verbundenen ›Erziehungsauftrag‹ der Kolonialmächte gegenüber den Kolonisierten begründen sollte (vgl. Werkmeister 2004). Das Beispiel der alphabetischen Schrift zeigt, dass Mediengeschichte und Diskursgeschichte des Kolonialismus eng miteinander verwoben sind. Gerade in Situationen des Kulturkontakts treten Medientechniken und damit auch mediale kulturelle Differenzen in Erscheinung. Die europäische Interpretation der Schriftdifferenz als Indiz von Hierarchie und Überlegenheit ist zum einen Ausdruck der eigenen alphabetschriftzentrierten Kultur. Sie versucht darüber hinaus, die reale mediale Differenz diskursiv einzuholen und die mögliche Infragestellung des eigenen Mediensystems durch fremde Medientechniken zu entschärfen, indem sie Differenz als Inferiorität interpretiert. Eine postkoloniale Mediengeschichte hätte hingegen eben jene Infragestellungen und Herausforderungen des Mediums der Schrift durch den Kontakt mit Kulturen in den Blick zu nehmen, die nicht auf der Medientechnik der Schrift gründen. Dies impliziert nicht nur eine besondere medientheoretische Aufmerksamkeit für verschiedene mediale Darstellungsformen wie Malerei, Photographie, Film etc. im Kontext der europäischen Kolonialkultur. Auch und gerade die europäische ›Literatur‹ der kolonialen Epoche zeigt ein besonderes Sensorium für mediale Fragen und Herausforderungen. Nicht zuletzt die Literatur der europäischen Avantgarden reflektiert gerade dort, wo sie sich mit außereuropäischen Kulturformen beschäftigt, immer wieder auch die Medialität und die mediale Begrenztheit des eigenen europäischen Mediums der Alphabetschrift und stellt diese experimentell in Frage. Eine postkoloniale Lektüre dieser Texte kann nicht auf Inhalts- oder Darstellungsfragen begrenzt bleiben. Sie muss vielmehr die spezifisch mediale Dimension dieser Literatur ins Zentrum der Untersuchung stellen. Am Beispiel der ›primitivistischen Literatur‹ Anfang des 20. Jahrhunderts soll im Folgenden gezeigt werden, inwiefern bereits die Avantgardeliteratur nicht nur kulturelle Differenz als mediale Differenz erkennt, sondern sich von jenem nicht-schriftlichen Fremden auch selbst infizieren lässt. Aus



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postkolonialer Perspektive lassen sich in diesen Texten gewissermaßen ›mediale Kontrapunkte‹ identifizieren, die das Medium dieser Literatur selbst betreffen und damit den kolonialen Diskurs von der Überlegenheit der alphabetischen Schrift in Frage stellen.

3. I N

DEN

G RENZGEBIETEN

DER

S CHRIFT

Der literarische Primitivismus, d.h. heißt die vielfältigen literarisch-diskursiven Bezugnahmen auf die ethnologische Figur des sogenannten Primitiven im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, zeugt immer wieder von medialen und kulturellen Grenzgängen, die in der Überschreitung semiotischer Symbolisierung und Repräsentation die Möglichkeiten und Grenzen des Mediums der alphabetischen Schrift ausloten. Die Reflexion des schriftlosen Primitiven – jener ethnologischen und kulturtheoretischen Figur des außereuropäisch Anderen – geht vor allem in den Texten des Dadaismus und der Avantgarden, aber auch in Texten beispielsweise Alfred Döblins oder Robert Müllers einher mit einer semantischen und grammatikalischen Irritation der symbolischen Ordnung des literarischen Textes selbst.6 Unverständliche exotische Begriffe und Namen, Rhythmisierungen und synästhetische Verfahren sprachlicher Laut- und Bildlichkeit wandeln den Text selbst dem exotisch-primitiven Gegenstand an. Nicht bloß als inhaltliches Motiv auf der Gegenstandsebene der Texte erscheint der Primitive. Eben dort, wo auf außereuropäische, primitive Formen der Kultur verwiesen wird, zeichnet sich auch eine primitivistische Affizierung von Gegenstand und Medium der Darstellung ab. Der literarische Primitivismus wird aus dieser Perspektive lesbar als komplexe Reflexion der Bedingungen und Grenzen europäischer Literatur, als ein Ausloten der Grenzen des literarischen Mediums Schrift im Medium der Schrift. In diesem Sinne kann der literarische Primitivismus auch als Anregung für postkoloniale Fragestellungen verstanden werden. Indem er die Frage nach außereuropäischen Text- und Kulturformen jenseits der Alphabetschrift eben ›im‹ Medium der Schrift stellt, reflektiert er die mediale Herausforderung, die alphabetschriftlose Kulturen für die europäische Schriftkultur darstellen. Mit der expliziten Aufnahme und Anverwandlung außereuropäischer sprachlicher Ausdrucksformen beziehen sich die Texte des literarischen Primitivismus auch auf ein koloniales Anderes, das – wie auch immer vermittelt und

6

Vgl. ausführlich zur Medienfrage in der primitivistischen Literatur Werkmeister (2010).



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übersetzt – Eingang in die europäische Kultur gefunden hat und dort seine eigene Wirksamkeit entfaltet. Es ist der deutsche Kunsttheoretiker und Avantgardeschriftsteller Carl Einstein, der sich in diesem Zusammenhang als theoretischer und praktischer Pionier erweist. Einstein formulierte nicht nur in seinem Buch zur Negerplastik (1915) – so der zeitgenössische Titel der Studie – mit Verweis auf das Vorbild primitiver Kunstwerke das theoretische Programm eines bildkünstlerischen Kubismus, er reflektierte auch als Literat und Schriftsteller die Herausforderung nicht-schriftlicher Medientechniken. »Ich weiß schon sehr lang, daß die Sache, die man ›Kubismus‹ nennt, weit über das Malen hinausgeht«, schreibt Einstein 1923 an den Pariser Kunsthändler Daniel Henry Kahnweiler und fährt fort: Die Litteraten hinken ja so jammerhaft mit ihrer Lyrik und den kleinen Kinosuggestionen hinter Malerei und Wissenschaft hinter her. Ich weiss schon sehr lange, dass nicht nur eine Umbildung des Sehens und somit des Effekts von Bewegungen möglich ist, sondern auch eine Umbildung des sprachlichen Aequivalents und der Empfindungen. (Einstein 1992: 156)

Das Äquivalent zur mit Blick auf die Primitiven entwickelten bildkünstlerischen Umbildung des Sehens im Kubismus ist nicht die Aufrufung des Primitiven als Gegenstand der Literatur, sondern die ›Umbildung‹ des sprachlichen Mediums selbst: Man nimmt immer an, dass die Sprache nur die Aufgabe habe [,] eine gegebene Sache zu erklären […]. Ist denn die Art des Erlebens […] nicht wichtiger als die Beschreibung aneinander gereihter Zustände und müsste man nicht versuchen, diese Sprache der Form der Erlebnisse anzupassen, wie man im Kubism ein bestimmtes, entscheidendes Raumgefühl übersetzte? (Ebd.)

Und weiter: »Solchem Wagnis müßte endlich ein Abbruch der Grammatik entsprechen, da die sprachlichen Konventionen die Darstellung wichtiger Prozesse und Beziehungen ausschließt.« (Einstein 1996: 331) Vor dem Hintergrund seiner kunsttheoretischen Überlegungen diskutiert Einstein auch die spezifische Frage nach der Möglichkeit einer ›Übersetzung‹ primitiver Kunst in das Medium der Literatur. Wenn Kunst an materielle Objektivierung gebunden ist und diese Objektivierungsformen eben das Spezifische und Konstituierende der Kunst sind, dann geht die Übersetzung primitiver Kunst eben nicht in der Vermittlung eines außerhalb des Mediums stehenden ›Inhalts‹ auf, sondern impliziert die Umformung des Übersetzungsmediums selbst. Die



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Übersetzung des Primitiven impliziert eine innere Verwandlung des sprachlichen Mediums selbst, den »Abbruch der Grammatik«. Eine Übersetzung primitiver Kunstformen in diesem Sinne erprobte Einstein nicht nur in seinen expressionistischen Romanen und Erzählungen. Eine ganz konkrete Übersetzung primitiver Kunst in die Literatur versuchten seine Nachdichtungen von Negerliedern und Negermythen, die er ab 1916 u.a. in der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion publizierte und 1925 im Rahmen des Bandes Afrikanische Legenden gesammelt und erneut überarbeitet edierte. Einsteins Nachdichtungen afrikanischer Legenden sind nicht mit der Kategorie der ›Authentizität‹ zu fassen. Auch wenn das umfangreiche Literatur- und Quellenverzeichnis im Anhang der Afrikanischen Legenden eine fast wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den afrikanischen Quellen suggeriert, so ist der Prozess der Übersetzung selbst nicht nachvollziehbar. Die Nachdichtungen und Übertragungen scheinen kaum an ethnologisch-ethnographischer ›Objektivität‹ orientiert. Vielmehr geht es um eine primitivistische Verwandlung der Sprache selbst, wie Marion Pape an zahlreichen Textvergleichen zwischen ethnologischen Quellentexten und Nachdichtungen belegen kann: Durch Alliterationen, Laut- und Klangmalerei, Veränderung der Wortstellung, Streichung der Konjunktionen, Füllwörter und Partikeln, manchmal auch der Wortwiederholungen verstärkt er den Wortrhythmus in seiner Wirkung und gibt den Texten dadurch seine eigene Note […]. Durch seine Übersetzung wird die Bewegung und Dynamik in der Sprache selbst spürbar, durch Tempuswechsel, Klimax und Antiklimax, rhythmische Reihungen von Verben etc. (Pape 1993: 135f.)

Dass Einsteins lakonischer Sprachstil dabei gerade nicht dem in der Regel von Ausschmückungen und Umschreibungen gekennzeichneten Stil oraler Erzählformen folgt, zeigt noch einmal die Problematik eines ›literarischen Primitivismus‹, dem eine direkte Übertragung von Form- und Gestaltungsgesetzen, wie sie im Medium des Visuellen (im Kontext des bildkünstlerischen Primitivismus vgl. Rubin 1994) noch scheinbar evident nachvollziehbar war, nicht möglich ist. In welchem Maß also afrikanische Erzähl- und Gestaltungsformen Eingang in die Einstein’schen Nachdichtungen gefunden haben, ist nicht endgültig zu klären. Konstatieren lässt sich mit Blick auf Einsteins Konzeption der Übertragung primitiver Texte in die Literatur aber zumindest dieses: Literarischer Primitivismus im Sinne Einsteins zielt nicht auf Übertragung außerliterarischer ›Inhalte‹ (gerade moralische Sentenzen oder Erklärungen des Geschehens, wie sie sich in den Quellentexten finden, ließ Einstein häufig wegfallen), sondern auf ein Verfremden und ›Primitivieren‹ der literarischen Sprache selbst: »Abbruch



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der Grammatik«, Sprache als Material, Rhythmus und Klangmittel. Im Schriftmedium der Literatur werden damit noch einmal die ›sinnlichen‹ Dimensionen von Sprache aufgerufen. Ähnlich und zugleich noch radikaler kommen diese primitivistischen Verfahren in den literarischen Experimenten des Dadaismus zum Tragen: »Das Wort Dada symbolisiert das primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit […]. Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen« (Huelsenbeck 1920: 38), heißt es im 1920 publizierten Dada Almanach (Tzara: 1920). Schon 1916 hatte Hugo Ball anlässlich der Eröffnung des ›Cabaret Voltaire‹ in Zürich notiert: »Huelsenbeck ist angekommen. Er plädiert dafür, daß man den Rhythmus verstärkt (den Negerrhythmus). Er möchte am liebsten die Literatur in Grund und Boden trommeln.« (Ball 1992: 80) Die dadaistische Referenz auf das Primitive geht einher mit einem radikalen Angriff auf die Grundfesten der europäischen Literatur als Kunst- und Medienform. So geben die primitiven Lieder, die Tristan Tzara – »aufgefunden und übersetzt« (Tzara 1920: 141) – im Dada Almanach präsentierte, die repräsentationale, verweisende Funktion der Sprache vollständig auf. Unter dem Titel Sotho Neger heißt es: »Gesang beim Bauen / a ee ea ee ea ee ee, ea ee, ea ee, a ee / ea ee ee, ea ee, / ea, ee ee, ea ee ee« (Tzara 1920: 141). Eine Rekonstruktion der hier zu Grunde liegenden ›Übersetzung‹ scheint noch schwieriger als im Falle Einsteins. Die primitivistische Verfremdung des Mediums Sprache, die Verschiebung hin zu reiner Lautlichkeit ist hier mit letzter Konsequenz vollzogen. Dass es hier nicht um Phonozentrismus und auch nicht um einfache Onomatopoetika geht, sondern vielmehr um ein primitivistisches Experimentieren mit dem Medium der Schrift selbst, zeigen die typographischen Umsetzungen der Lautgedichte. So überführt ein dadaistisches Gedicht wie Hugo Balls Karawane (1920) das exotische Motiv nicht nur in den ›Klangraum‹ der Sprache, sondern auch das Schriftbild selbst zielt auf mimetisches Anähneln an die lautliche Form. Nicht nur zeichnet das Lautbild des Gedichts die Klänge, Bewegungen und Formen der mit »jolifanto« evozierten Elefantenkarawane nach. Die primitivistischen Laut- und Bildgedichte setzen die ethnologischen Theorien über Form und Verfahren primitiver nicht-schriftlicher Sprachen ›im Medium der alphabetischen Schrift selbst‹ um. Das primitivistische Element liegt dabei gerade im Aussetzen oder Unterwandern der repräsentationalen und symbolischen Form der alphabetischen Schrift als Zeichencode. Das ›Klangbild‹ der Sprache, wie auch das ›Schriftbild‹ der ›Graphie‹ selbst fokussieren die aisthetisch-sinnliche



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Dimension des Mediums. Hervor tritt gewissermaßen die ›analoge‹ Seite des symbolischen Mediums der alphabetischen Schrift.7 Abb. 1: Karawane, Lautgedicht von Hugo Ball (1917)

Quelle: Huelsenbeck (Hg; 1920): Dada Almanach, S. 53

Die Texte des literarischen Primitivismus zeugen von einer besonderen medientheoretischen Sensibilität. In der Begegnung mit dem außereuropäischen Fremden, den oralen und sinnlichen Erzähl- und Ausdrucksformen, stößt das eigene Medium der alphabetischen Schrift an seine Grenzen. Anders als im kolonialen Überlegenheitsdiskurs wird hier die Begegnung mit dem medial Anderen jedoch zur Herausforderung und Infragestellung der eigenen medientechnischen Bedingtheit. Jene Texte der Avantgarde, deren Inspiration und Referenz die ›primitiven‹ Texte außereuropäischer Kulturen sind, erproben immer wieder die Leistungsfähigkeit und die Grenzen der europäischen Alphabetschrift.

7

Vgl. zur Typographie als analoger Dimension der Schrift Böhnke (2004: 182ff.). Zur medientheoretischen Einordnung des Primitivismus als eine Reflexion analoger Medientechniken vgl. Werkmeister (2010: 383ff.).



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Das Bewusstsein für die mediale Dimension kultureller ›Texte‹ ermöglicht eine Annäherung an fremde Medientechniken, deren Rezeption und Adaption immer auch eine Veränderung und Verfremdung des eigenen europäischen Textes zur Folge hat. Kann man die ethnologischen und primitivistischen Diskurse zu Beginn des 20. Jahrhunderts historisch noch zum Feld kolonialer Diskurse zählen, so markieren sie jedoch zugleich deren Ambivalenzen und Brüche. Der Blick auf die ›primitiven‹ Kulturen implizierte indirekt auch eine Befragung der medialen Grundlagen der eigenen Kultur und relativierte damit den eurozentrischen Fokus der Literatur auf die alphabetschriftliche Texttradition.

4. A USBLICK In diesem Sinne kann die Diskussion um 1900 als Anregung für gegenwärtige postkoloniale Debatten um die Wahrnehmung und Einbindung ›fremder Stimmen‹ in den literarischen Kanon dienen. Dabei geht es gerade um die andere ›Medialität‹ dieser fremden Stimmen. Die größte Differenz zwischen der europäischen Literatur und ihrem Anderen ist gerade ihre mediale Form, der alphabetische Code der Schrift in seiner spezifischen Funktionsweise und Begrenztheit. Für eine postkoloniale Lektüre, die sich den Fragen der Mediengeschichte stellen möchte, muss es gerade um einen Blick auf jene medialen Kontrapunkte, die Momente des Zweifelns, des Experimentierens und Überschreitens der Literatur im eigenen Medium der Schrift gehen. Der vorliegende Beitrag fokussierte mit der Frage der Schrift den historisch wohl einflussreichsten Kontext, den eine (post-)koloniale Medienreflexion in den Blick zu nehmen hat. Der Fokus zeigt auch, dass medienhistorische Fragestellungen neue Perspektiven für postkoloniale Literaturstudien öffnen, insofern das Medium der Literatur selbst – gerade im kolonialen Kontext – nicht mehr als neutrales Medium betrachtet werden kann, sondern auf seine kolonialgeschichtliche Hypothek hin befragt werden muss. Darüber hinaus muss eine postkoloniale Mediengeschichte andere – europäische und außereuropäische – Medientechniken berücksichtigen. Dabei ist nicht nur an den Wandel des europäischen Mediensystems von der Schrift über analoge Aufzeichnungsmedien (wie Photo-, Phono- und Kinematographie) bis hin zu digitalen Verzeichnungsformen zu denken. Betrachtet man die historischen Parallelen zwischen Kolonialismus und Wandel des europäischen Mediensystems, so wäre z.B. nach den Beziehungen der im 19. Jahrhundert auftauchenden nach-schriftlichen, technisch-analogen Medien in Europa zu den nicht-schriftlichen Kulturen außerhalb von Europa zu fragen. Hier ergeben sich Bezüge auch über das Feld der Literatur hinaus, bei-



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spielsweise in der Musikethnologie, die in der doppelten Referenz auf außereuropäische Musiktraditionen und neue analoge Aufzeichnungstechniken wie den Phonographen die europäische Vorstellung einer auf Notenschrift gegründeten Musik zu hinterfragen beginnt (vgl. Werkmeister 2010: 116ff.). Weiterhin sind die medientechnischen Experimente der Beobachtung, Aufzeichnung und Beschreibung des außereuropäisch Fremden zu betrachten. Die Ethnographie und Ethnologie experimentierte bereits im 19. Jahrhundert mit unterschiedlichsten Medientechniken, um fremde Kulturen darstellbar und beschreibbar zu machen. Es handelt sich dabei um eine Linie, die sich bis ins 20. Jahrhundert zu den Ansätzen beispielsweise der ›Visual Anthropology‹ verfolgen lässt. Auch Sprachwissenschaft, Musikwissenschaft, Kulturtheorie und Philosophie reflektierten in der Begegnung mit außereuropäischen Kulturen im kolonialen Kontext immer wieder ihre eigene mediale Bedingt- und Begrenztheit. Nachzugehen wäre mithin nicht nur den verschiedenen medialen Figurationen des Anderen/Fremden, sondern insbesondere den Momenten der Affizierung des europäischen Diskurses und Mediensystems durch außereuropäische Kulturbegegnungen. Eine postkoloniale Mediengeschichte muss in diesem Sinne eben jene Kontrapunkte, Brüche und Widersprüche der europäischen Mediengeschichte in den Blick nehmen, die in der kolonialen Situation an den Schnitt- und Begegnungsstellen mit außereuropäischen Kulturen in Erscheinung treten. Sie fragt nicht nur nach kolonialen Darstellungs- und Repräsentationsformen, sondern nach deren medialen Bedingungen im historischen Wandel. Postkoloniale Perspektiven erscheinen immer dort, wo das eigene Medium durch die Begegnung mit dem Fremden in Frage gestellt wird und somit fremde Spuren Eingang in die europäische Kolonialgeschichte fanden.

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Dekonstruktion imperialer Denkstrukturen in Christian Krachts postkolonialem Schweiz-Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten E VA W IEGMANN

Christian Kracht wurde vor allem nach dem Erscheinen seines Romans Imperium (2012) eine rassistische und antisemitische Haltung unterstellt (vgl. Dietz 2012), 1 eine Zuschreibung, die offenkundig auf einer oberflächlichen Lektüre beruht, die nicht berücksichtigt, dass »Dekonstruktion […] nur in der Sprache der Dinge sprechen [kann], die sie kritisiert« (Spivak 1990: 130) 2 und sich grundsätzlich als »Gleichzeitigkeit von Imitation und Kritik« versteht (Hainz 2008: 43). Kracht imitiert zwar den Ton des imperialistischen Zeitalters, aber »parodiert« in durchaus kritischer Absicht »den Stil einer vergangenen Zeit« im »Pastiche« (Lorenz 2014: 68). Insofern handelt es sich hier nicht um einen den Kolonialdiskurs ungebrochen fortschreibenden Text, sondern im Gegenteil um einen mit dekonstruktiven Mitteln arbeitenden antikolonialen Roman. Auch an dem Vorgängerroman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) 3 wurde kritisiert, er kokettiere mit dem »gleichmütig grausame[n], allegorisch unterfütterte[n] Erzählen […] der faschistischen Epoche« (Seibt 2008) und kopiere den Stil von Ernst Jüngers Der Arbeiter (vgl. Bartels 2011: 209). Darüber hinaus wird Kracht vorgeworfen, er schreibe hier das Stereotyp des naturverbundenen Afrikaners ungebrochen fort und mache sich zudem

1

Ein guter Überblick über diese literaturkritische Debatte findet sich bei Winkels (2013).

2

Übersetzung ins Deutsche E.W.

3

Im Folgenden wird aus diesem Roman ohne Titelangabe und nur mit Seitenzahl in Klammern zitiert.

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noch über den postkolonialen Diskurs lustig, indem er ihn »spöttisch denunziert.« (Domdey 2009: 187) Dass es Kracht keinesfalls darum geht, postkoloniale Belange zu desavouieren, soll dieser Beitrag zeigen. Obwohl der kontrafaktische Roman mit Absurditäten aufwartet und sich in seiner rhizomatischen Struktur und durchgängigen Mehrfachcodierung einer stringenten Lesart verweigert, erweist sich das »Durcheinander« letztlich nicht als »höhnischer Nippes« (Seibt 2008), sondern als hochreflektierter Beitrag zu einer postkolonialen Kritik an der Kontinuität eurozentrischer Denkstrukturen. Das »postkoloniale Potential« (Uerlings 2012: 53) dieses parahistorischen Romans erschließt sich allerdings weniger über die rein narrative Ebene, die durchaus Züge des Absurden trägt. Das alternative Gegenwartsszenario entwirft eine imperial-kommunistische Schweiz, die Schweizer Sowjet Republik (SSR), die seit beinahe 100 Jahren Krieg gegen eine faschistische Entente führt. Darüber hinaus ist die erzählte politische Welt von allerlei verwirrenden Allianzen durchzogen und bildet eine »albern« wirkende »bunte Weltkarte mit […] Hindustanis, Amexikanern und dem Grossaustralischen Imperium« ab (Menke 2010: 81). Einige Romanfiguren haben Steckdosen unter den Armen, andere sind im Wald lebende Zwerge mit spitz zugefeilten Zähnen oder sterben in unterirdischen Gängen an Goldvergiftung. Die Handlung ist in groben Zügen bestimmt von der Reisebewegung des Ich-Erzählers, eines ursprünglich aus Malawi stammenden Parteikommissärs. Dieser begibt sich auf eine seltsam unmotiviert wirkende Jagd nach dem Staatsfeind Brazhinsky, dessen konkretes Vergehen vollkommen unklar bleibt, über Zwischenstationen ins ›Herz der Schweiz‹, in die unterirdische Alpenfestung des Réduits, das wiederum eine Art Parallelwelt in der erzählten Parallelwelt zu sein scheint. Hier entpuppt sich der gesuchte Staatsfeind u.a. als mit Zitronen handelnder Arzt, der den namenlosen Ich-Erzähler, der offenbar plötzlich seine Mission vergessen hat, durch von irrwitzigen Charakteren bevölkerte und mit merkwürdigen Dingen angefüllte Stollen führt und ihm im gemeinschaftlichen – letztlich unschön eskalierenden – Drogenrausch die sogenannte ›Rauchsprache‹ beizubringen sucht. Als die schweizerische Festung bei einem feindlichen Bombenangriff zerstört wird, begibt sich der Ich-Erzähler – ohne den gesuchten Brazhinszy – auf eine weitere Wanderung, die ihn durch eine surreal durchsetzte Landschaft aus der Schweiz hinaus bis an die Küste führt, wo er schließlich ein Schiff besteigt. Dieses soll ihn nach ›Afrika‹ bringen, wo – wie im letzten Kapitel geschildert wird – die Menschen nun in Scharen die von Schweizern gebauten Städte verlassen, die alsbald vom Schlingpflanzen überwuchert werden. »[A]uf der Suche nach dem Textsinn im klassischen Sinne [stößt] man«, wie André Menke betont, »schnell an Grenzen« (ebd.). Die folgende Analyse konzentriert sich deshalb stärker auf die poetische Konzeption des Romans, die



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wohl eher nicht den gängigen Vorstellungen von postkolonialer Literatur entspricht, zumal hier ›Afrika‹ – abgesehen vom Schlusskapitel – nur in Form von Erinnerungsbildern präsent ist. Gezeigt werden soll, dass dieser Roman dennoch ein postkoloniales Potential im Sinne der Definition von Uerlings »als differentielles Spiel mit dem kolonialen Imaginären und seinen Dichotomien« entfaltet und diesen Ansatz »zur Erweiterung der poetischen Möglichkeiten« nutzt (Uerlings 2012: 53; Hervorh. i. Orig.). Die, bei oberflächlicher Lektüre absurd anmutende, kontrafaktische Geschichtskonstruktion wird hier als Dekonstruktion und mithin als »Verfahren intellektueller Dekolonisation« gelesen (Hainz 2008: 43). Darüber hinaus wird der postkolonialen Spur in diesem Schweiz-Roman nachgegangen, die sich maßgeblich aus Elementen des kolonialen Identitätsdiskurses sowie der Thematisierung und Reflexion des Repräsentationsproblems zusammensetzt, und nach den daraus folgenden Konsequenzen für Krachts Poetik gefragt. Hierbei soll das im deutschsprachigen Diskurs bislang zu wenig berücksichtigte Potential der theoretischen Positionen von Gayatri Chakravorty Spivak und Jacques Derrida fruchtbar gemacht werden. Aber auch die Ansätze von Gilles Deleuze und Félix Guattari erweisen sich in diesem Kontext als überaus gewinnbringend, da das Konzept ›rhizomatisch wuchernden Schreibens‹ die – hier postkolonial rückgebundene – Idee einer subversiv angelegten intermedialen Textüberschreitung als Überschreitung von ab- und ausgrenzenden Differenzkonstruktionen überhaupt beinhaltet.

D AS S CHWEIZER I MPERIUM DES I MMERGLEICHEN

ODER DIE

W IEDERKEHR

Die Entstehungszeit des Romans fällt in eine Phase, in der, wie Jörg Leonard und Rolf G. Renner konstatieren, in der deutschsprachigen Belletristik »Imperien […] Konjunktur« haben (Leonhard/Renner 2010: 7). Anders aber als Deutschland oder England, mit denen die Eidgenossenschaft in Krachts Roman im Dauerkrieg liegt, hat die Schweiz keine eigene Kolonialgeschichte im engeren Sinne. Allerdings wird die Eidgenossenschaft unlängst mit einem »Kolonialismus ohne Kolonien« (vgl. Purtschert/Lüthi/Falk 2012) in Verbindung gebracht. Die Frage danach, wie es der Schweiz – von der natürlichen Ressourcenlage her eines »der ärmsten Länder der Welt« – gelingen konnte, »sich einen Platz an der [wirtschaftlichen] Sonne« (Stucki 1981: 9) zu erobern und sich »aus einem unterentwickelten armen Ländchen« (ebd.: 12) und »politische[n] Zwerg« zum wirtschaftlichen ›Global Player‹ zu entwickeln, scheint zwangsläufig zu-



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mindest die Vermutung laut werden zu lassen, dass hier doch ein »verkappte[r] Kolonialismus« (Ruffieux 2004: 700) am Werk gewesen sein muss. Allerdings wehten über dessen vermeintlichen Kolonien »keine Schweizer Fahnen« (Stucki 1981: 10), da die Expansion des heimlichen schweizerischen Imperiums nicht auf offensiver Außenpolitik, sondern auf einem global agierenden »privatwirtschaftliche[n] ›Imperialismus‹« fußt (ebd.: 11). »Eroberung und Herrschaft« als »politische Seite des Imperialismus« bleiben bei dieser Konzeption offenbar weitestgehend ausgeklammert, die lediglich eine ›harmlosere‹ Variante des Kolonialismus zu meinen scheint, die sich auf »einen Bank- oder Börsenimperialismus« (Ruffieux 2004: 712) beschränkt und zumindest nicht aktiv in eine repressive Kolonialpolitik verstrickt ist. Dass ökonomische Ausbeutungsverhältnisse jedoch nicht nur durch einen offensiv-politischen Kolonialismus gestützt werden, bemerkt schon Max Frisch, der in seinem Essay Als Gulliver die Schweiz besuchte (1979) diesen behaupten lässt: »so reich werde ein Land nur durch Herrschaft über Kolonien! Als ich […] in einem betont-sachlichen Ton zu betonen wagte, daß wir, SWITZERLAND, keine Kolonien besitzen, daher auch keine Kolonien ausbeuten, sagte er: ARE YOU SURE?« (Frisch 1982: 40) Kracht extrapoliert die Debatte um die Schweiz als ›heimliches Imperium‹ im Verbund mit nationalen Identitätskonstruktionen zu einer alternativen Geschichtsphantasie. Dass dieses Imperium hier auch noch ein kommunistisches ist, ist dabei weniger absurd als es zunächst scheint. Dieser Umstand ist vielmehr eine satirische Übertreibung einer »seit dem Mittelalter […] vorherrschende[n] Identitätsfigur«, die die Schweiz als ›Bauern-Kollektiv‹ imaginiert (Hettling 1998: 100). »Sowohl im Bild der ›Bauern‹ als auch dem der ›Eidgenossen‹ – welches ja gleichsam staatsrechtliche Bedeutung besaß – war die Gleichheit als zentraler Wert enthalten.« (Ebd.: 105) Die Bedeutsamkeit des schweizerischen Gründungsmythos vom Rütlischwur »liegt darin, nicht nur einen ungerechten Herrscher beseitigt, sondern gewissermaßen Herrschaft als Prinzip aufgehoben zu haben.« (Ebd.: 97) Die Kracht’sche Darstellung einer kommunistischen Schweiz ist insofern eine Hyperbolisierung eines Autoimages, als sie die Eidgenossenschaft als vorbildliche Realisierung der aufklärerischen Ideale von Gleichheit und Brüderlichkeit stilisiert. 4 In der alternativen Geschichtskonzeption eines »fast einhundert Jahre« (13) andauernden Krieges gegen deutsche und englische Faschisten rekurriert Kracht zudem auf die Phase der ›Geistigen Landesverteidigung‹ der Schweiz gegen Nazi-Deutschland, in der eine – bereits

4

Tatsächlich konstatiert August Strindberg in seiner 1885 veröffentlichten Novellensammlung Utopien in der Wirklichkeit eine partielle Verwirklichung kommunistischer Ideale in der Schweiz.



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während des Ersten Weltkrieges in Gang gekommene – Mythenbildung Hochkonjunktur hatte, die die Schweiz als ›Hort der Menschlichkeit‹ beschwor.5 Diese Idealisierung ging – bei Leonhard Ragaz u.a. – durchaus mit einem starken kulturellen Sendungsbewusstsein einher (vgl. Wiegmann-Schubert 2014a), das in Krachts Roman zum Ausgangspunkt der schweizerischen Expansionsbewegung wird. Vor der Hintergrundfolie der ›Geistigen Landesverteidigung‹ gewinnt die alternative Geschichtskonstruktion eine besonders kritische Schärfe, da die ursprünglich gegen das faschistische Deutschland ins Leben gerufene kulturpolitische Verteidigungsstrategie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unmittelbar in eine Abwehrstrategie gegen eine befürchtete kommunistische Unterwanderung der Schweiz umgewandelt wurde. Auf diese Weise wurde gewissermaßen die besitzstandswahrende Verteidigung der »Bergfestung« (110) zum dauerhaften Selbstzweck und damit die Stilisierung der Schweiz zum ›Hort solidarischer Menschlichkeit‹ ad absurdum geführt. Dieses Paradox von proklamierter Brüderlichkeit und ›heimlichem Imperialismus‹ gepaart mit der Sorge um die erworbenen materiellen Besitzstände setzt Kracht in einer bipolaren Raumstruktur um. Die Schweizer Sowjet Republik in Ich werde hier sein… ist ein expansiver ›Global Player‹, der Kolonien in Afrika unterhält, zugleich aber wird diese Expansion einer Inversion unterzogen, einer ›Innenkolonisation‹, die immerfort Stollen und Gänge in das Innere der Berge treibt und damit symbolisch den ideellen Kern der Schweiz aushöhlt. Zurück bleibt ein sinnentleertes Zentrum, ein »grosse[r] Fetisch[ ] ohne Sinn und Zweck« (135). Natürlich assoziiert die Darstellung eines sozialistischen Imperialismus auch eine Kritik am sogenannten Sozialimperialismus. Die Grundsteinlegung eines Sowjetimperiums in der machtpolitisch peripheren Schweiz durch Lenin, der in der alternativgeschichtlichen Konzeption den plombierten Zug nach Russland nicht bestiegen hat,6 verweist schließlich auf dessen Imperialismustheorie, die

5

Dieses Sendungsbewusstsein ist allerdings latent hier und da auch heute noch zu spüren. Etwa wenn Peter von Matt in seiner Rütli-Rede von »der Verantwortung für den ganzen Kontinent« spricht, dessen demokratisches Vorbild und »pulsierende[s] […] Herz« die Schweiz sei und deren »politische[r] Instinkt […] eine Kompromiss- und Versöhnungskultur entwickelt [habe], die heute so beispielhaft ist wie je.« (von Matt 2012: 99)

6

Die Zimmerwalder Konferenz, auf der in Krachts Roman die Gründung der Schweizer Sowjet Republik (SSR) von Lenin, Grimm und Trotzki beschlossen wird, ist immerhin historisch tatsächlich belegt. Allerdings endete sie in einem Zerwürfnis der Beteiligten und nicht mit der Gründung der SSR.



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eine revolutionäre Überwindung des expansiven Kapitalismus nur durch Ausweitung der eigenen »Macht- und Einflusszonen außerhalb Europas« (Münkler 2008: 36) für möglich hielt. Anders als der westliche Imperialismus beruft sich die »imperialistische Konkurrenz« (vgl. ebd.) aus dem Osten jedoch nicht auf eine ethnische Überlegenheit, vielmehr inszenierte sie die Expansion als Befreiungsbewegung der Arbeiterklasse. Aus der Opposition heraus definierte sich die sozialistische Expansionsbewegung, wie sie auch für die SSR in Ich werde hier sein… charakteristisch ist, wesensmäßig nicht nur als ›antifaschistisch‹, sondern auch als ›antiimperialistisch‹. Die hegemonialen Bestrebungen werden dabei von Lenin durch eine geschickte Identifikation Russlands mit der Peripherie kaschiert (vgl. ebd.: 39f.). Einen ähnlichen Schachzug wandte auch Mao an, der in seiner ›Drei-WeltenTheorie‹ China der ›Dritten Welt‹ zuordnete und »zum Teil einer großen, weltumspannenden Bewegung gegen Ausbeutung und Unterdrückung« und wiederum »die UdSSR […] zum imperialistischen Hauptfeind« erklärte (Dreier 2008: 117). Obwohl Kracht seine SSR auf einer sowjetischen Folie entwickelt, ruft diese doch unweigerlich auch Assoziationen an die – auch in dem Vorgängerroman 1979 eine Rolle spielende – chinesische Ausprägung des Sozialimperialismus auf den Plan, dessen verschärfte Bemühungen um eine Ausweitung des Einflussbereichs auf dem afrikanischen Kontinent bis heute andauern. Die Doppelbödigkeit des proklamierten antiimperialistischen Kampfes und der chinesischen Außenpolitik spiegelt sich hier in dem Paradox von idealtypischer schweizerischer Identitätskonstruktion als Nation der brüderlichen »Menschlichkeit« (20) und der realpolitischen Abschottung nach außen wider, die vor allem in der Zeit von 1933-1945 eine ausgesprochen inhumane Flüchtlingspolitik zur Folge hatte. Im Roman werden diese Widersprüche in der unterschwellig permanent spürbaren Ausländerfeindlichkeit respektive dem Antisemitismus greifbar, der doch eigentlich das Kennzeichen der faschistischen Kräfte ist, mit denen sich die SSR im Dauerkrieg befindet. Die Kontinuität imperialistischer Ausbeutungsstrukturen in der SSR wird u.a. in der des ›Herr-Knecht-Modells‹ deutlich (vgl. Conter 2009: 39), die sich in der Existenz von »Verdingkinder[n], kleine[n] Leibeigene[n]« (52) inmitten der Schweiz zeigt. Aber auch das geschilderte sozialistische Regiment der Schweizer in Afrika ist hier nur wenig verschieden von materialistisch motiviertem Kolonialismus: »Man spielte […] die Hymne der Schweiz. […] es war, so hörte der alte Heiler, absurderweise die gleiche Hymne wie die englische.« (76) In der Nivellierung der Differenzen zwischen sozialistischem und imperialistischem Kolonialismus schwingt – nicht zuletzt im Rekurs auf die Schweiz als ›heimliches Imperium‹ – auch eine Nivellierung der Differenzen zwischen staatspolitischem und privatwirtschaftlichem Imperialismus mit sowie



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eine Nivellierung der Differenz zwischen kapitalistischer Globalisierung und kommunistischer Internationale, die laut Homi Bhabha jeweils »eine[ ] betrügerische[ ] Rhetorik des ›Internationalismus‹« pflegen (Bhabha 2000: 31). In der kontrafaktischen Geschichtskonstruktion werden die unterschiedlichen Ausprägungen des Imperialismus aus ihrem konkreten historischen Kontext gelöst, umstandslos amalgamiert und damit ein im Kern identisches Funktionieren bloßgelegt. Die Kracht’sche Uchronie fördert dabei »übersehene Fakten zutage«, »Unterströmungen, Begleiterscheinungen und Ansätze […], die durch die Dominanz« einer eurozentrischen Geschichtsschreibungspraxis »verschüttet worden sind.« (Demandt 2001: 51) Diese Zusammenhänge zu ›decouvrieren‹, die »eingetrockneten Schmierschichten« der Geschichtsschreibung »abzuhobeln« (Kracht/Mangold 2013: 51), darum geht es Kracht laut eigener Aussage. Dabei wird nicht nur der »scheinbare Altruismus der Kolonisatoren […] und deren dem eigenen Machterhalt dienende Fortschrittspropaganda« (Hermes 2010: 280) dekonstruiert, sondern auch die ›heimliche‹ Beibehaltung 7 oder »überraschende Wiederkehr« solcher Strukturen im »postimperialistischen Zeitalter« (Münkler 2008: 213) der globalisierten Moderne. So bezeichnen beispielsweise Antonio Negri und Michael Hardt die kapitalistische Weltordnung als Empire (2012), das sie als ein nicht nationalstaatlich gebundenes, weltumspannendes Ausbeutungssystem definieren, das auf imperialer, aber eben nicht mehr imperialistischer Herrschaft beruht. Unter den Sedimenten der Geschichtsschreibung entpuppt sich auch die globalisierte Gegenwart – und nur um die geht es letztlich den Autoren von Alternativzeitromanen (vgl. von Peschke 2014: 230f.) – als »Kopie«, die im Sinne von Deleuze und Guattari »immer nur ›auf das Gleiche‹ hinausläuft« (Deleuze/Guattari 2005: 24). Kracht entlarvt hier die abendländische Geschichte als eine permanente Reproduktion einer bestimmten genealogischen Denkart. Über eine Semantisierung der Räume verläuft die Reisebewegung des IchErzählers, der im Auftrag des obersten Sowjets den gesuchten Brazhinsky von der Fläche über die Gipfel bis ins Innere des Réduits verfolgt, analog zu einer Art Chronologie der Imperialismen. Dabei wird sozusagen die historische Entwicklungslinie als eine Codierung der »Wunschströme« (Deleuze/Guattari 2014: 43) nachgezeichnet: von einem territorialen Kolonial-Imperialismus und dem Wunsch nach einem ›Platz an der Sonne‹ über den ideologisch codierten SozialImperialismus zu einem permanent deterritorialisierenden und decodierenden

7

Im Unterschied zum politischen Imperialismus und Kolonialismus konnte sich der wirtschaftliche Schattenimperialismus – laut Stucki – bis dato den Dekolonisationsbestrebungen weitestgehend entziehen (vgl. Stucki 1981: 10).



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Neoimperialismus. Während der territoriale und der ideologische Imperialismus ›von außen‹ operieren, »operiert« der Kapitalismus Deleuze und Guattari zufolge »von innen, indem er den Sozius immer verändert, immer flexibel hält«, was im Roman in Form einer marodierenden Innenkolonisation dargestellt wird. Hier gibt es »keine feste Ordnung mehr, sondern eine Ordnung nur für den Moment, die aber umso effektiver und souveräner produziert und unterdrückt.« (Münkler/Roesler 2012: 75) Die Kontinuität von Strukturen der Ausgrenzung und Ausbeutung zeigt sich dabei auch im globalisierten Kapitalismus in einem generalisierten Konzept der »apartheid«, das sich allerdings »von seiner rassistischen Formulierung gelöst hat und in einen schwer faßbaren ökonomisch-kulturellen Zustand übergegangen ist. In diesem hat es sich der Skandalisierung weitgehend entzogen.« (Sloterdijk 2006: 303; Hervorh. i. Orig.) Dieses System der »apartheid« trennt zwar nicht so sehr zwischen ›Schwarz‹ und ›Weiß‹, denn auch der farbige Parteikommissär erhält – allerdings widerstrebend – Zugang zum Réduit, es trennt aber zwischen Arm und Reich. Es schafft einen privilegierten ›Innenraum des Kapitals‹ (vgl. ebd.), die Alpenfestung als gated community, die »grossflächig« umgeben ist von einem »Armutgürtel« (52), während die Menschen im Inneren »an einer Überdosierung Gold sterben« (116). In dieser Fokussierung auf die Kontinuität von Grundmustern der Ausgrenzung und Ausbeutung kann Krachts Ich werde hier sein… als postkolonialer Roman gelesen werden, der das abstrahierte Funktionieren imperialistischer Strukturen reflektiert. Usurpation und Ausbeutung des jeweils Anderen werden so als eine durchgängige, von konkreten zeitlichen und ideologischen Bedingungen unabhängige Konstante der westlichen Geschichte entlarvt. Damit knüpft der kontrafaktische Roman auf seine Weise an das postkoloniale Projekt der Gegengeschichtsschreibung an, das die endgültige Ablösung »von der inhumanen Geschichte« der Sklaverei und »den Aufbau der Welt des Anderen« (Kastner 2012: 89) zum Ziel hat. In diesem Sinne schließt der Roman nicht nur mit der Sprengung des Réduits, sondern mit der Vision vom Ende einer eurozentrischen Geschichtsschreibungspraxis: »Die Zeit hatte aufgehört zu sein, die Schweizer Zeit.« (143)

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Obwohl das Handlungsgeschehen nicht auf dem afrikanischen Kontinent angesiedelt ist, werden hier verschiedene Afrikadiskurse verhandelt, die zum einen



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über Erinnerungsbilder, zum anderen durch intertextuelle Verweisstrukturen ins Spiel kommen. Dass es sich bei dem namenlosen Ich-Erzähler um einen ursprünglich aus Malawi stammenden ›Schwarzafrikaner‹ handelt, ist dem Leser zunächst nicht bewusst. Er wird als »Parteikommissär« eingeführt, an dessen »Mütze […] das weiss-rote Zeichen« (12) steckt, und als »Eidgenosse« (16) angesprochen. Dass er u.U. einen ungewohnten Anblick bietet, lässt sich zwar erahnen, als ein welscher Soldat ihn in pejorativer Absicht »Schneemensch« (22) nennt. Diese mit Naturnähe konnotierte Bezeichnung, die an den tierhaften Yeti mahnt, lässt sich hier jedoch nicht unmittelbar mit einer schwarzen Hautfarbe in Verbindung bringen, sondern evoziert eher den Gedanken an ein besonders strahlendes Weiß. Die afrikanische Herkunft des Ich-Erzählers wird daher erst im Gespräch mit der Orientalistin Favre offenkundig. Obwohl sie bemerkt, es sei noch immer ungewohnt, »dass Menschen wie« er »auch Anweisungen geben«, klingt »Afrika« aus ihrem Mund zugleich wie ein Sehnsuchtswort: »Der erste Kontinent. Unser Abenteuer, das Hinterland. Wärme. Gras. Sonne. Die Kinder spielen dort barfuss, nicht?« (35) Hier erscheint der ›schwarze Kontinent‹ als Gegenpol zur kalten, vor Eis und weißem Schnee nur so starrenden Schweiz, als ein Sehnsuchtsort des modernen Menschen, der sich nach Wärme, Natürlichkeit und Abenteuer sehnt. Die Orientalistin entwirft ›Afrika‹ – analog zu den von Edward Said konstatierten eurozentrischen Konstruktionsbedingungen des ›Orients‹ – als einen Sehnsuchtsort, der jenseits soziokultureller Realitäten zu verorten ist und auf den im Rahmen einer »imaginären Geographie« (Said 2009: 65) diejenigen Aspekte projiziert werden, die als von der rationalistischen, ›kalten‹ Moderne verdrängt wahrgenommen werden. Diese Imagination ›Afrikas‹ als gleichsam literarische Landschaft des Südens,8 die – ebenso wie die ›Orient‹-Konzeption – zugleich mit einer tendenziellen Abwertung der Bewohner dieser Landschaft einhergeht, wird im Roman konterkariert durch Erinnerungen des Ich-Erzählers, in denen das pauschalisierende Image ›Afrikas‹ durch eine konkrete Heimat ersetzt wird: »ein[ ] kleine[s] Dorf in Nyasaland […], am Fusse der Zomba- und MulanjeBerge, vierzig Werst von der Grenze zu Mozambique entfernt.« (54) Die Erinnerungsbilder, die hier aufscheinen, sind als Gegengeschichte angelegt. Sie korrigieren die westliche Vorstellung von ›Afrika‹ und die »narrative Inszenierung der Erinnerung« (Birk/Neumann 2002: 140) im Rahmen kolonialistischer Geschichtsschreibung, indem sie eine andere Geschichte erzählen. Diese stellt die offiziellen Geschichtsdarstellungen der SSR in Frage und dem

8

Erkennbar sind beispielsweise Parallelen zum Südkomplex bei Gottfried Benn (vgl. Menke 2010: 91f).



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sozialistischen Befreiungsmythos eine Geschichte der Unterdrückung und Ausbeutung an die Seite. Dadurch ergibt sich ein Bild, das den Prozess der zivilisatorischen Erschließung Südostafrikas nicht nur als »einen Segen« für die Menschheit, sondern auch als »eine Plage« (77) erscheinen lässt. In den Erinnerungen des Ich-Erzählers wird die angebliche Befreiung und Bildungsmission zu einer Geschichte der Auslöschung einer kulturellen Identität. Die in der SSR propagierte Brüderlichkeit entpuppt sich dabei als Bevormundung und Unterdrückung afrikanischer Völker, die weniger als Mitmenschen denn als jederzeit verfügbares Menschenmaterial wahrgenommen werden: »Man brauchte gute Soldaten und Offiziere für den Schweizer Krieg, und woher sollte man sie nehmen, wenn nicht vom nie versiegenden Menschenquell der afrikanischen Alliierten.« (55) An zahlreichen von Schweizern geführten Militärakademien lernen die Kolonisierten »zu exerzieren und zu schiessen« oder »revolutionäre Schweizer Volkslieder zu singen«. Die afrikanischen Soldaten, die »noch nie [Schnee] gesehen hatten«, werden mit »Schneebrillen« und »Wintermützen unter der Afrikanischen Sonne« auf einen Krieg »im kalten Norden« (57) vorbereitet, der ihnen perfider Weise auch als der ihre verkauft wird, da ihnen im Falle eines Sieges der englisch-deutschen-Allianz der Faschisten, deren Weltsicht sie zu »Untermenschen« (23) degradiere, sofortige Versklavung drohe. Auf dem schneebedeckten Kilimandscharo üben sie das Schweizersein ein. Hier werden sie nicht nur mit den »Wetterverhältnisse[n] in der Schweiz« bekanntgemacht. Ihnen wird auch »die Metaphysik« des »neuen Vaterlandes« (61f.) nahegebracht. Denn schon seit dem 1729 erschienen Gedicht Die Alpen von Albrecht von Haller verbindet sich die schweizerische Selbstimagination zugleich mit einer moralisch-ethischen Überlegenheitsvorstellung (vgl. Wiegmann-Schubert 2014b), die die SSR ungebrochen fortschreibt, wenn sie sich als Speerspitze »des brüderlichen Ringens […] um eine gerechte Welt, frei von Rassenhass und Ausbeutung« (61) versteht. Mit der Behauptung dieser erhabenen Position im Raum, dem grenzenlosen Blick des auf dem Berg Stehenden in die Weite, verbindet sich jedoch auch ein usurpatorischer Anspruch auf »Überschau und Beherrschung« (Hamann/Honold 2011: 19) all dessen, was der raumgreifende Blick erfasst. Auf dem Kilimandscharo üben die aus den weiten Ebenen Afrikas stammenden Soldaten diesen »unvergleichliche[n]« (63) Blick ein. Je höher sie steigen, desto mehr verliert sich ihre ursprüngliche Identität. In der Erinnerungssequenz durchquert der Ich-Erzähler ein »wässriges Totenreich«, in dem ihm Blutegel gleichsam sein altes Ich als »Nyanja« (78) auszusaugen scheinen. Auf dem schneebedeckten Gipfel schließlich wird er mit seinen Kameraden als »Schweizer« (66) gewissermaßen wiedergeboren. In dieser Episode spiegelt sich



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die »selbstentfremdete[ ] Assimilation« des Kolonisierten »an die herrschende Kultur«. Im Sinne von Frantz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken (1980) findet hier eine »Internalisierung des Selbst als Anderer« statt, die »weitreichende Folgen für die persönliche und kulturelle Identitätsbildung« hat, da sie »einer inneren Enteignung der Subjektivität« (Birk/Neumann 2002: 125; vgl. Fanon 1981) gleichkommt, die sich paradigmatisch in der Namenlosigkeit des Protagonisten spiegelt. Als Kommissär der SSR hat der Ich-Erzähler die Werte des eurozentrischen Machtdiskurses internalisiert und folgt dessen Regeln sogar »unerbittlicher« (35) als jeder autochthone Schweizer. In einer Form der Überanpassung, die den ›Makel‹ der Hautfarbe auszugleichen sucht, verhält er sich beinahe ›weißer‹ als die ›Weißen‹, eben nicht nur wie ein Schweizer, sondern wie ein »Schneemensch« (22). Stammesangehörige der Nyanja, Somali, Kikuyu etc. erkennt er nicht mehr als »[s]eine Brüder« und schickt sie skrupellos »als erste […] ins Sperrfeuer, und immer erst dann die Weissen« (112). Allmählich erst kommt der Ich-Erzähler zu der schmerzhaften Einsicht, dass das Narrativ von der SSR als ›Hort der Menschlichkeit‹, in dem es »keinen Rassismus« (59) gibt und jeder Mensch »ungeachtet« von »Hautfarbe oder […] Herkunft« (59) das Gleiche gilt, so nicht stimmt und er in Wirklichkeit nie den Status eines ›vollwertigen‹ Schweizers erlangen wird. Vielmehr ist er de facto ein »Sklave der Schweiz, […] Kanonenfutter, Roboter, mehr nicht« und »so wird es immer sein.« (128) Diese Erkenntnis ist das Ergebnis einer Reise durch die Schweiz, in deren Verlauf eine allmähliche »Häutung von innen« (61) stattfindet – ein Prozess, an dessen Ende eine befreiende Selbsterkenntnis des subalternen Subjekts9 und seines Begehrens steht. Wieder vollzieht sich diese Wandlung auf einem Weg in die Berge, der jedoch nicht auf einem Gipfel endet, sondern in dem tief im Inneren der Bergwelt liegenden Réduit. Analog zu den Wirkungseffekten, die der Kilimandscharo auf europäische Kolonisatoren zeitigte, werden für den kolonisierten Ich-Erzähler die Schweizer Alpen zum Ort der »Selbstbegegnung« im Anderen, der auch einen »erkennbaren Punkt der Umkehr« markiert (Hamann/Honold 2011: 8). Die Erinnerungen an die alten Kulturen Afrikas, die in den Kindheitserinnerungen an das Nyasaland, den alten Heiler und die Felszeichnungen in den Höhlen am Chongoni aufscheinen, bilden dabei den »Bezugspunkt«, dem, »[u]nabhängig davon, was von dieser Vergangenheit noch rekonstruiert werden kann« (Kastner 2012: 93), eine wesentliche Bedeutung im Kontext einer postkolonialen Identitätsfindung zukommt.

9

Den Begriff des ›subalternen Subjekts‹ verwende ich in Anlehnung an Gayatri Chakravorty Spivak (vgl. Spivak 2008).



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Diese Entdeckungsreise, die den Ich-Erzähler in das Innere der Schweizer Bergwelt, ins unterirdische Réduit als symbolischem Ort des Unterbewussten, führt, konstruiert Kracht auf der Folie von Joseph Conrads Heart of Darkness (vgl. Lorenz 2014). Dabei handelt es sich um eine Form des ›postkolonialen rewriting‹, die Handlungsmuster und Figurenkonzeptionen übernimmt, dabei jedoch wie ein fotografisches Negativ eine Inversion der Conrad’schen Bezugsmuster abbildet. Wie die Figur Marlow in Heart of Darkness, die Mr. Kurtz in das Innere des kongolesischen Dschungels folgt, gelangt der Ich-Erzähler in Ich werde hier sein… auf der Spur des Händlers Brazhinskys, der deutliche Ähnlichkeiten mit Kurtz aufweist, in das Réduit, d.h. in das tiefste Innere der Schweiz. So wie der Engländer Marlow bei Conrad auf seiner Reise »die dunkle Seite des so genannten ›dunklen Kontinents‹ Afrika im eigenen Herzen entdecken muss« (Wagner 2011: 35f.), so erinnert sich der namenlose Ich-Erzähler in Krachts Roman langsam wieder daran, dass sein »Herz« nicht ›weiß‹ ist und macht sich auf den Weg, sein im Prozess der Überidentifizierung mit dem Kolonisator »abgespalte[nes]« (61) ›schwarzes Ich‹ wiederzufinden. Conrads kanonischer ›Afrika-Roman‹ übt deutlich Kritik an kolonialen Ausbeutungsformen, dennoch bleibt er in eurozentrischen Diskursen verhaftet und tradiert in der Darstellung der Kolonisierten die gängigen Stereotypen seiner Zeit, wenn er die ›Eingeborenen‹ als ausgesprochen triebhaft charakterisiert. In der Entgegensetzung von westlich-rationalistischer Zivilisation und afrikanischer Naturhaftigkeit kreist das Kongo-Abenteuer stetig um das Leiden des europäischen Subjekts an der Verdrängung des Triebhaften und Emotionalen durch den Rationalismus der Moderne (vgl. Hofmann 2006: 158). Der Handlungsraum Afrika bzw. Kongo bildet hier letztlich nur die Projektionsfläche für eine »allgemeine Rationalitätskritik als Selbstkritik der europäischen Moderne« (ebd.). Kracht kehrt dieses Verhältnis um, wenn er das Handlungsgeschehen deplatziert und durchgängig nach Europa bzw. in die Schweiz verlegt und dadurch in satirischer Form die permanente Selbstbezüglichkeit europäischen Denkens kritisiert. Durch die Deplatzierung der Handlung ist das rewriting auf komplexe Art verknüpft mit einem remapping, das trotz zentraleuropäischem Handlungsort die machtpolitische Peripherie der ›Dritten Welt‹ ins Zentrum rückt. Demensprechend ist auch auf dem Buchumschlag der Erstausgabe eine Karte Zentral- und Südafrikas abgebildet, obwohl es sich nicht – wie im Falle von Heart of Darkness – um einen dezidierten ›Afrika-‹, sondern – so der Klappentext – um einen »Schweiz-Roman« handelt. Kracht verschiebt in seinem rewriting den Fokus von den Problematiken des europäischen Subjekts hin zu den Belangen subalterner Subjekte, denen in Conrads Roman an Stelle einer »artikulierte[n] Stimme« nur »ein unartikulierter Schrei« zugebilligt wird (ebd.: 153, 160; vgl.



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Achebe 2002). Kracht kehrt also in seinem rewriting die Hierarchien um und lässt den Ich-Erzähler als subalternes Subjekt wieder handlungsmächtig und sprachfähig werden. Denn im Gegensatz zu den Schweizern, unter denen »niemand mehr zu lesen verstand« (51), kann er nicht nur lesen, sondern auch schreiben und verfügt damit über die Möglichkeit, sich nachhaltig zu äußern und die performative Kraft der Schrift für seine Anliegen zu nutzen.

D AS R EPRÄSENTATIONSPROBLEM Der postkoloniale Aspekt des Romans erschöpft sich nicht in der Offenlegung einer Kontinuität imperialer Strukturen und der Verhandlung des postkolonialen Identitätsdiskurses. Vielmehr reflektiert er darüber hinaus eingehend die Problematik der Fürsprache bzw. der Repräsentation des subalternen Individuums und seiner Belange im postkolonialen Diskurs des Westens, vor allem aber in einer postkolonial ausgerichteten Literatur. Damit schließt Kracht an die von Spivak initiierte Diskussion an, die westlichen Theoretikern vorwirft, dass sie die »Rolle der ›Experten‹« übernehmen, die »die Unterdrückten für sich selbst sprechen lassen wollen«, dabei jedoch de facto die Repräsentationsfunktion übernehmen. »Sie spielen eine Art Bauchredner für unterprivilegierte Gruppen, wobei sie gleichzeitig so tun, als seien sie selbst gar nicht da. Die anderen [sic] für sich selbst sprechen zu lassen ist also […] eine uneingestandene Geste der Selbsterhöhung.« (Steyerl 2008: 11) Dennoch kann das subalterne Subjekt laut Spivak nicht für sich selbst sprechen und benötigt gewissermaßen einen intellektuellen Fürsprecher, der seinen Anliegen in der Welt Gehör verschaffen kann. Aus der tatsächlichen Unmöglichkeit der Fürsprache einerseits und seiner ethisch-moralischen Unabdingbarkeit andererseits ergibt sich ein kaum lösbares Dilemma, das für Spivak nur über eine begleitende kritische Selbstreflexion des Fürsprechers einigermaßen überbrückbar scheint. In A Critique of Postcolonial Reason (1999) betont sie, dass außerdem immer berücksichtigt werden müsse, dass es grundsätzlich nicht möglich sei, »die historischen Strukturen und kulturellen Gegebenheiten […] [zu] verlassen, in die wir hineingeboren wurden.« (Nandi 2012: 127) Jede postkoloniale Kritik westlicher Intellektueller müsse demnach auch dem Umstand Rechnung tragen, dass die kritisierten Zustände nicht dem eigenen Erfahrungsbereich entstammen. Untrennbar mit dieser Problematik verknüpft ist die Frage, ob es überhaupt möglich ist, mit den Worten einer fremden Sprache die Anliegen der Subalternen zu vertreten. Dass Kracht in seinem Text Worte aus der Bantusprache Chichewa einstreut, ist nicht »nur […] als exotische[s] Würzmittel« (Domdey 2009: 187) zu sehen,



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sondern als Spiegel einer unterschiedlichen kulturellen Codierung von Sprachen, die eng mit einer differenzierten Weltwahrnehmung verknüpft ist und damit die Problematiken kultureller Übersetzung reflektiert. Ebenso wie es im Chichewa »kein Wort« für das gibt, was »die Schweizer Schnee nannten« (65), so wenig gibt es wohl im Deutschen die richtigen Wörter, um die Anliegen der Subalternen zu vertreten. Dabei geht es nicht nur um Wörter, für die es gar keine Entsprechung gibt, sondern auch um Differenzen »zwischen denotativen und konnotativen« Aspekten, »zwischen inhaltlicher Eindeutigkeit […] und bildlicher Mehrdeutigkeit« (Seeba 2010: 62; Hervorh. i. Orig.). Jeder Versuch, das Fürsich-selbst-Sprechen der Anderen zu übersetzen, ist notwendigerweise mit »Sinnverschiebung und Bedeutungsverlust« verbunden, die auch »noch der gewissenhaftesten Übersetzung […] unterlaufen« (ebd.). Aufgrund der sprachlichen Differenzen ist es in jedem Fall unvermeidlich, dass »Missverständnisse entstehen und wesentliche Aussagen des Originals unvermittelt und damit unverstanden bleiben.« (Ebd.: 60f.) Im Roman heißt es: »Sprache ist eine Ansammlung symbolischer Geräusche, sie entstammt einem Kosmos unerkennbarer und vor allem nie wissbarer Formen.« (43) Die Problematik kultureller Übersetzbarkeit zeigt sich schon in der relativ geringen kulturellen Differenz zwischen der Schweiz (bzw. dem Schweizerdeutschen) und Deutschland (bzw. dem Hoch- oder Schriftdeutschen). Kracht macht diese Differenz zum einen explizit in der durchgängigen Verwendung der schweizerischen Rechtschreibkonventionen sowie in der Verwendung einzelner, nicht ohne weiteres im umliegenden deutschsprachigen Raum verständlichen Helvetismen wie »Beiz« (37). Ähnliches gilt natürlich auch für andere eingeflochtene Wörter und Bedeutungskomplexe aus dem Polnischen, dem Suaheli, dem Chichewa oder dem Chinesischen, deren zumindest relative Bedeutung sich allerdings noch aus dem Kontext erschließt oder nachschlagbar ist. Deutlich weniger greifbar als die fremdsprachige Wortbedeutung sind die konnotativen Implikationen, die auch mitschwingen. Krachts Text ist durchzogen von einer Fülle an spezifisch schweizerischen Konnotaten, von Verweisen auf verschiedene Aspekte des schweizerischen Identitätsdiskurses und dem Spiel mit Nationalsymbolen (Berge, Igel, Réduit, Tunnel) sowie mit Aspekten der mythologischen Geschichte und der Autoimagination der Schweiz in unterschiedlichen Phasen ihrer Geschichte. Darüber hinaus weist der Roman einen extrem hohen Grad an intertextueller Verflechtung mit in Deutschland wenig rezipierter schweizerischer Literatur10 auf. Die schiere Masse an Einflechtung erzeugt hier ein dichtes Bedeu-

10 Die kaum vollständig zu erschließende Palette reicht von nationalliterarischen Klassikern wie Albrecht von Hallers Die Alpen oder Jeremias Gotthelfs Jacobs Wanderun-



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tungsgewebe, das sich dem deutschen, österreichischen etc. Leser kaum in Gänze erschließen kann. So ist beispielsweise schon die reale Existenz des Réduits, der Alpenfestung, die seit 1886 kontinuierlich ausgebaut wurde, in der militärischen Verteidigungsstrategie während des Zweiten Weltkrieges eine zentrale Rolle spielte und in der Nachkriegszeit zum Negativsymbol der sogenannten schweizerischen ›Bunkermentalität‹ wurde, in Deutschland nur sehr wenig bekannt. Das schweizerische Bedeutungsgewebe wiederum ist in charakteristischer Weise in sich per se nicht homogen und einsprachig, da sich die Eidgenossenschaft konstitutiv aus vier Sprachgemeinschaften zusammensetzt. Zudem erzeugt diese sprachliche Diversität eine gewisse Nähe der unterschiedlichen Sprachgemeinschaften zu den jeweils ähnlichsprachigen Nachbarländern Frankreich, Italien und Deutschland. Es gibt – wie es der Erzähler in militärischem Jargon formuliert – »Allianzen und deren Schatten, […] Scheinallianzen, und wiederum deren Schatten«, was zu einer »byzantinische[n] Verflechtung« und »fast surreale[n] Komplexität« führt, die denjenigen, der dieses Bedeutungsgewebe übersetzten möchte, »sprachlos« (32) macht. Die in der Mehrsprachigkeit der Schweiz angelegte Komplexität steigert sich dabei noch zusätzlich durch die unterschiedlichen »Mundarten« und »Privatsprache[n]« (43), deren Bedeutung im Gespräch zwischen Favre und dem IchErzähler zum Ausdruck kommt. Hier wird das dialektale Spektrum gar zur »Koiné« (ebd.) erhoben, d.h. die Uneinheitlichkeit des Sprechens zur offiziellen Verkehrssprache gemacht und damit auf die »innere Vielfalt jeder Sprache« verwiesen, darauf, dass »[jede] Sprechweise, auch wenn sie einzigartig zu sein scheint, […] ein Konglomerat eigener und fremder Sprechweisen« darstellt (Kimmerle 2005: 11; vgl. Derrida 2003: 13-21). Mit der hier angedeuteten Negation eines ›reinen‹ Idioms geht unweigerlich ein Misstrauen gegenüber »dem Kult des Identitären wie auch des Kommunitären« einher (Derrida/Roudinesco 2006: 43). Im konkreten Bezug zur SSR wird hier die postulierte »Einheit« (42) des sozialistischen Blocks in Frage gestellt, der sich als Kollektiv der Subalternen imaginiert. Analog dazu spricht der Erzähler von Nyanja, Somali, Wachaga, Borana, Luo und Kikuyu und eben nicht von

gen über literaturtheoretische Schriften der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – wie Eduard Korrodis Schweizer Literaturbriefe – und literarische Texte aus der Zeit der Geistigen Landesverteidigung – beispielsweise von Meinrad Inglin und Felix Moeschlin – bis hin zu Hermann Burgers Die künstliche Mutter, Franz Hohlers Die Rückeroberung oder Isolde Schaads Knowhow am Kilimandscharo. Der knappe und gedrängte Erzählstil erinnert zudem stark an die Prosatexte von Conrad Ferdinand Meyer.



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den ›Afrikanern‹ (vgl. 112). Im Sinne Spivaks wird hier deutlich gemacht, dass die Gruppe der Subalternen keine Einheit formiert, d.h., dass sie keine homogene Sprachgemeinschaft bildet, sondern »zersplittert und in sich heterogen [ist], sie spricht keine gemeinsame Sprache und kann sich kaum übersetzen.« (Steyerl 2008: 15) Die sprachliche Vielfalt, der »Wettstreit von Dialekten, Mundarten, Jargons und Fachsprachen« ist außerdem Ausdruck »eine[r] wesentlich heterogene[n] Wirklichkeit« (Deleuze/Guattari 2005: 17), die unterschiedliche, kaum übersetzbare Wahrheiten kennt.

D EKONSTRUKTION K OMMUNIKATION

DER

U TOPIE

UNIVERSALER

Der Roman entwirft hier die Utopie einer von Favre und Brazhinsky entwickelten ›Rauchsprache‹, die den Versuch einer Überwindung der babylonischen Sprachverwirrung darstellt. Sie repräsentiert die Idee »einer Sprache mit direkter Wirklichkeitsreferenz« (Bronner 2009: 106), die dem Problemkomplex kultureller Übersetzungen beizukommen sucht. Dabei handelt es sich um »eine neuartige Kommunikationsstruktur« (40), eine nicht gesprochene, sondern projizierte, verkörperte Sprachform. Favre erläutert, wie sie funktioniert: Nun, wir beginnen, das Gedachte zu sprechen und in den Raum zu stellen. Dann können wir das Gesprochene betrachten, um es herumgehen, es schliesslich bewegen. Da es vorhanden ist, können wir es bewegen. Und schlussendlich können wir es senden und empfangen. Sprache existiert nicht nur im Raum, sie ist zutiefst dinglich, sie ist ein Noumenon. (44)

Die Rauchsprache repräsentiert also im Kant’schen Sinne das Ding an sich, d.h. den unvermittelten objektiven Denkinhalt, der unabhängig von individuellen Wahrnehmungsmustern immer derselbe ist und also jede unweigerlich auf Sinnverschiebungen und Bedeutungsverluste hinauslaufende Übersetzungsleistung obsolet macht. Dennoch stellt diese Universalsprache in der Logik des Textes nicht die adäquate Lösung der Fürsprache-Problematik dar. Vielmehr verkörpert sich in ihr das von Derrida identifizierte Kernproblem der abendländischen Philosophie, die seiner Ansicht nach »das gesprochene Wort immer so behandelt« habe, »als handle es sich dabei eben nicht um den (arbiträren) Signfikanten des Gedankens, sondern sozusagen um den Gedanken selbst.« (Lagemann/Lloy 1998: 102)



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Die Orientalistin Favre und der in seiner Funktion als Arzt im Réduit streckenweise an Albert Schweitzer erinnernde Brazhinsky können in diesem Kontext als Repräsentanten der westlichen Philosophie und Theoriebildung interpretiert werden, die zwar das System herausfordern, jedoch einer abendländischen Philosophietradition verhaftet bleiben und damit den europäischen Hegemonialanspruch in »eine[r] uneingestandene Geste der Selbsterhöhung« fortschreiben (Steyerl 2008: 11). In ihrer revolutionären Absicht, den Marxismus zu modifizieren, wirken Favre und Brazhinsky ein wenig wie die von Lacan kritisierten Vertreter der Kritischen Theorie, die […] der Wirklichkeit Werte vor[setzen], die für alle gelten sollen und nach der die Wirklichkeit einzurichten sei. In der Konsequenz bedeutetet dies die Überdeterminierung individuellen Lebens durch Abstraktionen mit all den schlimmen Folgen, die eine solche Sicht der Dinge hat. (Engelmann 1990: 12f.)

Die Orientalistin und der Missionsarzt haben zwar ein wohlwollendes Interesse an nichteuropäischer Kultur und setzten sich für das Wohl fremdländischer Menschen ein. Doch sie bleiben »in den herrschenden Signifikationen gefangen« (Deleuze/Guattari 2005: 38) und entpuppen sich – im Sinne von Spivak – als »heimliche Subjekte von Macht und Begehren« (Spivak 2008: 40), da ihre Befreiungskonzepte auf einem »Logozentrismus« basieren, »der auf ein Eigenes und Fremdes übergreifendes Allgemeines setzt« und »Eigens und Fremdes einem Allgemeinen eingliedert. Im Hintergrund steht eine Form des Eurozentrismus, der das Wunder bewerkstelligt, im Eigenen das Allgemeine und im Allgemeinen das Eigene wiederzufinden.« (Waldenfels 1997: 49; Hervorh. i. Orig.) Unbewusst kopieren sie dabei eine genealogische Denkart (vgl. Deleuze/Guattari 2005: 23), die einher geht mit Bevormundung und Suppression. Sie glauben zwar das Begehren der Subalternen genau zu kennen und ihren Belangen mittels der Rauchsprache Gehör verschaffen zu können, doch ihnen ist es ebenso wie den von Spivak kritisierten »französischen Intellektuellen […] nicht möglich, sich jene Art von Macht und Begehren vorzustellen, die dem namenlosen Subjekt von Europas Anderem/r innenwohnen mag.« (Spivak 2008: 40)11 Dass das namenlose Subjekt ganz anders sein, denken und fühlen kann als angenommen, wird im Roman in einer organischen Metaphorik verdeutlicht. Das

11 Wie Conrads Figur Kurtz, der sich »für einen humanen Umgang mit den Afrikanern« einsetzt, dem es jedoch nicht gelingt, »in das Denken und die Mentalität der ›Eingeborenen‹ einzudringen« (Hofmann 2006: 157), wird auch Brazhinsky zu einem brutalen Wahnsinnigen.



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Herz des namenlosen Protagonisten befindet sich nämlich nicht »auf der linken Seite, dort, wo er [Brazhinsky; E.W.] [s]ein Herz vermutete« (130), sondern auf der rechten. Ebenso wie sich diese Annahme als falsch herausstellt, entpuppt sich auch der Ausweg aus dem Repräsentations- und Fürsprache-Dilemma durch die neuartige Kommunikationsform der Rauchsprache als Illusion bzw. als Halluzination, hervorgerufen von psilocybinhaltigen Pilzen. Diese Sprache »funktioniert[ ] nicht« als Verständigungsmittel, da sie »nur projizieren, nicht empfangen« kann (136). Sie ermöglicht also gerade keinen Dialog auf Augenhöhe und entpuppt sich damit als eine Sprachform, auf die in ihrem Absolutheitsanspruch die von Derrida in seiner Kritik am Phonozentrismus vertretenen Einwände in gesteigerter Form zutreffen. Dabei kommt die Reduzierung von natürlicher Sprachvielfalt auf eine Universalsprache einer »Machtergreifung« (Deleuze/Guattari 2005: 17) gleich. Mag sie auch als Universalsprache konzipiert sein, so handelt es sich bei der Rauchsprache doch um die »Einsprachigkeit des Anderen« (vgl. Derrida 2003), die jeden Angesprochenen in eine »Schall-Umklammerung« (108f.) zwingt. Sie erfüllt nicht die mit Brazhinsky assoziierte Funktion eines »Wunderheiler[s]« (114), der die Subalternen ins Recht zusetzen vermag, sondern führt im Gegenteil dazu, dass sich der Ich-Erzähler »plötzlich schwach und elend« (125) fühlt, weil sie alles, was er erlebt hat, unwahr erscheinen lässt: »Ihre Erinnerungen sind nicht echt, nicht das, was wir als echt bezeichnen.« (127) Der dogmatische Anspruch dieser Kommunikationsform setzt den IchErzähler als Repräsentanten der Subalternen ins Unrecht und schreibt die ethnozentrisch basierte Linie der Suppression und das selbsterhöhende Narrativ der Europäer von den ›Völkern ohne Geschichte‹ fort. Die Rauchsprache stellt also keine Möglichkeit der herrschaftsfreien Überbrückung von Differenzen dar. Vielmehr ist sie eine Weiterentwicklung einer Sprache der Macht, »die auf der Logik der Gewalt beruht.« (Walowski 2012: 438) Der Sprecher dieser Sprache übt eine uneingeschränkte Herrschaft über seine Adressaten aus, die sich ihrer ins physische übertragenen Kraft nicht entziehen können: »Brazhinsky öffnete den Mund, und ich erhielt einen gewaltigen Stoss versetzt, sein Willen drückte erst mir die Waffe aus der Hand, dann der Pionierin und dem welschen Soldaten.« (108) Die Universalisierung der Sprache schlägt den Subalternen also die Waffe aus der Hand und lässt sie verstummen. Sie entschärft das subversive Potential – im Roman den Ich-Erzähler als nomadische Kriegs- oder »Doomsdaymaschine« (129) im Sinne von Deleuzes und Guattaris Abhandlung über Nomadologie (2005) – und bannt die Kritik an den herrschenden Strukturen. Damit wird der erhobene Anspruch auf Fürsprache entlarvt als ein Bestreben, die »Flüsse des



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Begehrens unter […] Kontrolle zu stellen« (Angermüller/Bellina 2012: 34) und in die Bahnen zu lenken, die ausschließlich den eigenen machtpolitischen Interessen dienen.

Ü BERBLENDUNGEN : D AS F REMDE

IM

E IGENEN

Wie aber kann man als westlicher Autor vermeiden, zu einem ›heimlichen Subjekt von Macht und Begehren‹ zu werden, der »Gefahr einer Aneignung des/der Anderen durch Assimilierung« (Spivak 2008: 106) zu entgehen und trotzdem die Belange der Subalternen zu thematisieren? »Wie kann man vom Nichtintelligiblen erzählen« (Wagner 2011: 35) und dabei den Fallstricken kultureller Übersetzungen ausweichen? Da eine »Rekonstruktion der Stimme der Subalternen« – laut Spivak – »prinzipiell nicht möglich« ist (Steyerl 2008: 12), verbietet sich gewissermaßen jeder Versuch der direkten Re-Präsentation. Eine Möglichkeit, die sich als Alternative anbietet und mit der Kracht in seinem Roman Ich werde hier sein… experimentiert, ist es stattdessen, »das Fremde ins Eigene hinein« zu nehmen (Wagner 2011: 35) bzw. »die Stimme des anderen in uns, delirieren [zu] lassen« (Spivak 2008: 106; Hervorh. i. Orig.), wie Spivak es ausgehend von Derrida vorschlägt. Konkreter: den Repräsentationsanspruch durch eine ›analogische Appräsentation‹ zu ersetzen. Derrida übernimmt diesen Begriff von Edmund Husserl, der sich auf eine Mitvergegenwärtigung des Anderen in assoziativen Paarungen bezieht. »Eine Appräsentation ist […] eine Form der Präsentation, die den anderen darstellt und zugleich die Unmöglichkeit der Darstellung des anderen präsentiert.« (Kohns 2008: 59; Hervorh. i. Orig.) Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass ein unmittelbares Verstehen des Anderen nicht möglich ist, dass in der eigenen Wissensordnung keine direkte Entsprechung für die Erfahrungswerte des Anderen gefunden werden kann, sondern allenfalls relative Ähnlichkeiten. Der Verzicht auf eine nachahmende Repräsentation bedeutet, »das Nicht-Verstehen zu akzeptieren, ihm den Platz zu lassen.« (Derrida 1988: 54) Als Sinnbild der Unmöglichkeit der Repräsentation des Anderen fungiert in Ich werde hier sein… die Namenlosigkeit des Ich-Erzählers. Mit dessen Namen wird hier zugleich »die Stelle des Anderen einbehalten[ ]« (Derrida 2013: 537) und nicht eindeutig besetzt. Damit wird seine »›Andersheit‹ […] konserviert« und »auf ein Verstehen im Sinne einer letztlich niemals gewaltfreien Assimilierung […] verzichtet.« (Kohns 2008: 59) Das Modell der analogischen Appräsentation spiegelt sich vor allem aber in der Überblendung der Räume. Indem Kracht das Handlungsgeschehen in die Schweiz verlagert, erzählt er vordergründig nur von dem, was seinem eigenen



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Erfahrungshorizont entstammt. Dennoch schieben sich auf der narrativen Ebene die Kontinente förmlich ineinander. Der Afrika- und Kolonialdiskurs wird im Schweiz-Roman durch zahlreiche – vor allem räumliche – Analogien präsent. Es entstehen Bezüge zwischen einer malawischen Höhle in den Chongoni Bergen, der »Fanga« (42), in der sich für die postkoloniale Identitätssuche relevante Relikte der Ursprungskulturen der Chewa und Batwa befinden, und dem Réduit, der unterirdischen Alpenfestung, die wiederum eine wichtige Rolle im schweizerischen Identitätsdiskurs spielt. Beide Räume stellen Aushöhlungen im Gestein dar, die wie Wurmlöcher Erdteile und Zeitläufe miteinander verbinden und dabei die geopolitischen Einkerbungen im Raum unterlaufen. Einen anderen Dreh- und Angelpunkt des Textgeflechts stellt das ebenfalls auf beiden Seiten mit den kulturellen Identitätskomplexen konnotierte Motiv des Berges dar, der als ›Schreckhorn‹ oder ›Kilimandscharo‹ jeweils eine analogische Verbindung zwischen den Weltteilen herstellt. So üben die afrikanischen Rekruten am Kilimandscharo das Schweizersein ein und den namenlosen IchErzähler überkommen auf seinem Weg zum Schreckhorn (vgl. 53) die Erinnerungen an seine Kindheit »am Fusse der der Zomba- und Mulanje-Berge« (54). Bei diesem Beziehungsgeflecht handelt es sich jedoch um »keine lokalisierbare[n] Beziehung[en]«, sondern um eine narrative »Pendelbewegung« (Deleuze/Guattari 2005: 42) zwischen den Welten, die durch die leitmotivisch in Variationen auftretende Sequenz »ich komme nur ganz kurz hierher« (70) begleitet wird. Die Schweiz und Malawi werden rhizomatisch miteinander verknüpft durch »Querverbindungen zwischen differenzierenden Linien« (Deleuze/Guattari 2005: 21). Dabei wird eine »wechselseitige, spannungsgeladene Durchdringung« (Birk/Neumann 2002: 126f.) erzeugt, die die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem unterläuft und die quasi-ontologische Setzung des kolonialen ›otherings‹ ad absurdum führt. Charakteristika etwa, die Conrad in seinem Afrika-Roman den ›Wilden‹ zuschreibt, kommen beispielsweise plötzlich in der Schweizer Wildnis zum Vorschein und almagieren sich mit eidgenössischen Symbolstrukturen. So hat der Zwerg, den der Ich-Erzähler in den Wäldern antrifft, ebenso spitz zugefeilte Zähne wie die ›Eingeborenen‹ in Heart of Darkness. Zugleich aber bezieht sich die Figur des Zwerges, der menschliche Größe zeigt, als er dem Ich-Erzähler selbstlos das Leben rettet, auch auf ein schweizerisches Autoimage. Überhaupt kehrt Kracht »[d]ie für den kolonialen Blick so typische Ethnisierung der Unterworfenen […] um« und beschreibt die unterschiedlichen Volksgruppen als »indigene Schweizer Stämme« (Lorenz 2014: 71): Appenzeller sind hier »einfache Männer, aber gute Spurensucher« (49) und »[d]ie Welschen […] nicht zu erziehen, niemals, am schlimmsten waren die jungen.« (22) Diese wechselseitigen Verschiebungen und »dynamischen



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Überlagerung[en]«, in denen »rassistische Klischees ironisch zitiert werden oder als spielerische Versatzstücke dienen« (Birk/Neumann 2002: 126f.), machen eine eindeutige Differenzierung zwischen Eigenem und Fremdem unmöglich. Potenziert wird dieser Effekt noch durch die transhumanen Attribute der Figuren Favre und Brazhinsky, denn die Steckdosen unter ihren Armen wecken beim Leser Zweifel, ob es sich hier überhaupt um menschliche Wesen handelt (vgl. Bartels 2011: 217). Dabei unterläuft schon der Verdacht, dass es sich hier um Homunkuli oder Replikanten handeln könnte, jede ethnozentrisch basierte Differenzkonstruktion, da sie eine andere Kategorie der Fremdheit auf den Plan rufen.

S PRENGUNG

DER

G RENZEN

DES

B UCHES

Eine Möglichkeit der Entschärfung des Repräsentationsproblems liegt mithin für Kracht in der Verweigerung von endgültiger Signifikation im literarischen Schreiben. Analogien, rhizomatische Verknüpfungen »semiotische[r] Kettenglieder aller Art […], wodurch nicht nur unterschiedliche Zeichenregime ins Spiel gebracht werden, sondern auch unterschiedliche Sachverhalte« (Deleuze/Guattari 2005: 16), lassen eine eindeutige Bedeutungszuschreibung nicht zu. »Schreiben wird [hier] asignifikant und hat mit der Festlegung von Bedeutung nichts zu tun.« (Bronner 2009: 110; vgl. Deleuze/Guattari 2005: 14) Der Roman verweigert sich der Abbildung von Realität und der »Unterwerfung« der Schrift unter den »Logos und d[ie] Wahrheit« (Derrida 2013: 37), da kein »Wesen oder [k]eine Idee als gültige Wahrheit konstatiert werden kann.« (Kimmerle 2005: 13) Stattdessen präsentiert er einer Vielfalt von Schichtung und Spuren, die »viele Zugangsmöglichkeiten« eröffnen und nicht »immer nur ›auf das Gleiche‹ hinaus[laufen]« (Deleuze/Guattari 2005: 24). Als eine Art »Konglomerat eigener und fremder Sprechweisen« (Kimmerle 2005: 11) wird hier sozusagen die Vielstimmigkeit zur »Koiné« (43). Die verwirrenden Mehrfachcodierungen, die vielen intertextuellen und intermedialen Verweise des Romans erzeugen kein geschlossenes Narrativ, sondern öffnen zahlreiche »Fluchtlinien«, die aus dem Text hinausführen und seine Grenzen schöpferisch unterlaufen (vgl. Deleuze/Guattari 2005: 11-42). Diese Sprengung der Grenzen des Buches ist gewissermaßen das Hauptanliegen des Romans, das sich an die Visionen eines ›offenen Buches‹ (vgl. Bronner 2009) bei Deleuze und Guattari und einer Befreiung der Schrift in Derridas Grammatologie anschließt. Textinhärent findet dieses Ansinnen seinen symbolischen Ausdruck in der Sprengung des geschlossenen Systems des Réduits.



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In dem auf radikalem Phonozentrismus basierenden System der SSR, deren »Kern, Nährboden und Ausdruck« (98) das Réduit ist, stellt die Schrift eine subversive Kraft dar. Der Umstand, dass der Ich-Erzähler lesen und schreiben kann, sorgt hier »für mehr Irritationen unter den anderen Figuren […] als die Hautfarbe.« (Walowski 2012: 435) Die »Geringschätzung der Schrift« geht dabei – nach Derrida – unweigerlich »mit einem deutlichen ›Ethnozentrismus‹ zusammen« (Kimmerle 2005: 31; vgl. Derrida 2013: 193), da mit der Priorisierung des Phonetischen ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Gesprochenen und »einer letztmöglichen Wahrheit, mit einem letztmöglichen Sinn« (Agethen 2012) behauptet wird. Die Verabsolutierung des gesprochenen Wortes geht demnach mit einer gewaltsamen Ausgrenzung und Unterdrückung der Schrift als Ausdruck permanenter Bedeutungsverschiebungen im Sinne der Derrida’schen ›différance‹ einher. Die Auslöschung der Bedeutungsvarianz durch die Eliminierung der Schrift setzt Kracht in seinem Roman mit der Auslöschung von anderen Kulturen in einen Zusammenhang. Dies wird beispielsweise deutlich, wenn die in den Tiefen des Réduits befindliche Ansammlung von »Tausenden von wächsernen Stimmschriften und ihren korrespondierenden Wiedergabeapparaten« (121) nicht nur von »verhungerten – und […] mumifizierten – afrikanischen Vögeln« (120), sondern auch von Assoziationen an Auschwitz weckenden »zu Bergen aufgeschichtete[n], unzählbare[n] Mengen von Kämmen und Brillengestellen« (121) begleitet werden. Die Detonation der Alpenfestung markiert insofern den Ausbruch aus der »Geschlossenheit« (Derrida 2013: 14) eurozentrischer Denk- und Wissensstrukturen als Basis für Ausbeutung, Unterdrückung und – in letzter Konsequenz – Genozid. Die Vision des ›offenen Buches‹ und der Befreiung der Schrift ist gekoppelt an den postkolonialen Identitätsfindungsprozess des Ich-Erzählers, der in diesem Zusammenhang als »Erlöser« (119) erscheint. Seine abnormen »ultramarin« (146) blauen Augen weisen ihn von hier aus gesehen als Trägerinstanz einer Evolution des Schreibens aus, die im »Verlaufe eines Abenteuers« von der »geheimnisvollen« Urschrift in »den Felshöhlen am Chongoni« (55) bis zu »eine[r] neuen Mutation in der Geschichte der Schrift, in der Geschichte als Schrift« reicht (Derrida 2013: 20). Im Gegensatz zu den erstarrten »Sätzen«, der »unter dem Eis« liegenden »Seiten eines deutschen Buches« (12), die den Beginn dieser Abenteuerreise markieren, ist die neue Schrift in Ich werde hier sein… eine lebendige, die nicht nur die Grenzen des Buches verlässt, sondern in ihrer Lebendigkeit auch eine sich ständig verändernde und damit nicht auf einen Sinnund Bedeutungsgehalt reduzierbare darstellt:



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[I]ch legte mit Schilfhalmen meinen Namen in endlosen Bändern auf die staubige Strasse, ich schrieb Wörter, Sätze, ganze Bücher in die Landschaft hinein – die Geschichte der Honigameisen, die Enzyklopädie der Füchse, das Geblüt der Welt, unterirdischen Ströme, das tief vibrierende, geräuschlose Summen der unbekannten Vergangenheit und der darin auftauchenden Zukunft. Ich notierte nicht mit Tusche, sondern mit Schrift, mit den Morphemen der Erde. (143f.)

D EKOLONISIERUNG

DES

D ENKENS

Die Befreiung der Schrift geht dabei unweigerlich einher mit einer ›Dekolonisierung des Denkens‹12. Krachts Dystopie, die hier vom Untergang des Abendlandes erzählt, stellt eine radikale Kritik an überkommenen Denkstrukturen dar, die es »über Bord« zu werfen gilt, da sie für den Aufbau »eine[r] gerechte[n] Welt, frei von Rassenhass und Ausbeutung« (61) ebenso wenig tauglich sind wie die »Bastschuhe« (146), die der Ich-Erzähler am Ende des Romans über die Reling wirft. Die eurozentrischen Ideen und Ideologien, auf die sich das Konzept der Moderne stützt, entlarvt Kracht als »betongewordene[ ] Visionen« (148), die vielleicht ein System stützen können, aber dem postulierten Anspruch, dem Wohl der Menschen zu dienen, nicht gerecht werden. In der Allegorie der »hell, geordnet, modern und elegant« von Schweizer Architekten entworfenen »urbanen Zentren Ostafrikas« (148) werden sie entlarvt als usurpatorische Konstruktionen, die nicht mehr zeitgemäß sind. Im Hinblick auf eine Dekolonisierung des Denkens appelliert der Roman daran, auf der Philosophie der Aufklärung basierende Denkmuster zu reflektieren, die zwar die Befreiung des Menschen aus der Unmündigkeit propagieren, jedoch genealogisch mit einer Epoche verbunden sind, in der sich auf dieser Grundlage ein weit in die Welt ausgreifendes europäisches Sendungsbewusstsein ausbildete,13 das trotz einer Betonung des Allgemeinmenschlichen alle Anderen gewissermaßen »zu Geisteskrüppeln« (95) erklärte und sie sich normativ unterordnete.

12 Der Begriff geht zurück auf den kenianischen Schriftsteller Ngũgĩ wa Thiong’o, der in Decolonising the Mind: The Politics of Language in African Literature (1986) »afrikanische Schriftsteller zu einer Rückbesinnung auf die eigenen Sprachen« aufruft. Der Kameruner Philosoph Fabien Eboussi Boulaga dagegen »verankert seine Forderung nach geistiger Dekolonisierung in der Herr-Knecht-Dialektik Hegels: Man könne sich nicht befreien, solange man sich den kontrollierenden Mächten nicht hingegeben oder ihnen nachgegeben habe.« (Adeoso 2010) 13 Vgl. dazu Derridas Kritik an Rousseaus Emile (2013: 381-383).



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Das permanente unreflektierte Fortschreiben dieser Denkmuster, die auch in der »zweiten, dritten und vierten« Generation »lediglich auf die erste bezogen« (15) bleiben und insofern nicht mehr als eine verschlüsselte Abschrift des immer gleichen Inhalts bleiben, verhindern dieser Ansicht nach eine intellektuelle Weiterentwicklung eher als sie zu befördern.14 Dass die ungebrochene Tradierung der Grundlagen der Moderne unweigerlich in eine Sackgasse führt, wird im Roman recht drastisch durch den Tod des Architekten Jeanneret, außerhalb des Buches besser bekannt unter dem Künstlernamen Le Corbusier, symbolisiert, der sich schließlich in einer »menschenleere[n] Schweizer Stadt« (149) in Afrika erhängt. Als Vertreter der modernen rationalistischen Architektur, der »Architektur als Instrument von Vergemeinschaftung und Hierarchisierung, als Mittel zu Erziehung und Integration der Masse« definierte (Mai 2001: 27), steht Jeanneret hier für die eurozentrische Konstruktion der Moderne, die es aus postmoderner (vgl. Bartels 2011: 221f.) und postkolonialer Sicht zu überwinden gilt. Der Roman beschreibt mithin die Notwendigkeit einer »Revolution« (147) des Denkens, da hiernach »nichts mehr [kommt]. Oder aber es geht immer so weiter.« (95) Um aus der Praxis des permanenten Fortschreibens inadäquater Konzeptionen auszubrechen, wendet Kracht in Ich werde hier sein… ein rhizomatisches Schreiben an, das auf eine Neukartierung des Denkens ausgelegt ist. Im Sinne von Deleuze und Guattari hat hier »Schreiben […] nichts mit Bedeuten zu tun, sondern damit, Land – und auch Neuland – zu vermessen und zu kartographieren.« (Deleuze/Guattari 2005: 14) Insofern ist die auf dem Schutzumschlag des Buches abgebildete Karte sowohl ein Indiz für das Prinzip der analogischen Appräsentation, als auch für das poetologische Konzept der »Karte«, wie es Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus entwerfen: Die Karte ist das Gegenteil einer Kopie, weil sie ganz und gar auf ein Experimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit orientiert ist. Die Karte reproduziert kein in sich geschlossenes Unbewußtes, sie konstruiert es. […] Die Karte ist offen, sie kann in all ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann ständig neue Veränderungen aufnehmen. […] Eine Karte hat viele Zugangsmöglichkeiten, im Gegensatz zur Kopie, die immer nur auf das Gleiche hinausläuft. (Ebd.: 23f.; Hervorh. i. Orig.)

14 Kracht wählt hier das Motiv der Depesche. Die Etymologie des Wortes setzt sich aus, diese Interpretation unterstreichenden, unterschiedlichen Bedeutungskomplexen zusammen: einerseits aus franz. dépêcher für ›befördern‹, ›beschleunigen‹, andererseits auf das gegenteilige spätlateinisch impedicare für verwickeln, festhalten, behindern.



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Sie ist ein performativer »Teil des Rhizoms« (ebd.: 24), dessen Verweisstrukturen »über das Buch hinaus[ ]wuchern«, um »in der Welt da draußen zu intervenieren.« (Angermüller/Bellina 2012: 34) Insofern ist Ich werde hier sein… als ein »zur Welt hin geöffnete[s] Buch« konzipiert (Bronner 2009: 108), das in der textinhärenten Aufhebung der Grenzen zwischen der Schweiz und Malawi sowie der rhizomatischen Transzendierung der Grenzen des Buches weiterführend eine »Deterritorialiserung der Welt« (Deleuze/Guattari 2005: 22) anstrebt, d.h. eine Auflösung der westliche Hegemonialstrukturen abstützenden Grenzziehungen einer imaginären Geographie. Ein ethnozentrisches, kolonialistischen Denkstrukturen verhaftetes othering soll auf diese Weise letztendlich sozusagen an »rhizomatische[n] Grippen […] sterben« (ebd.: 21). Das ironisch gebrochene Zitat von D.H. Lawrence, das Kracht seinem Roman voranstellt, beschreibt diese Utopie: »Don’t you find it a beautiful clean thought, a world empty of people, just uninterrupted grass, and a hare sitting up?« *** Anders als andere deutschsprachige Romane mit postkolonialem Ansatz, etwa Alex Capus’ Eine Frage der Zeit, Uwe Timms Morenga oder Christof Hamanns Usambara, trägt Krachts kontrafaktischer Roman in seine Imagination einer alternativen Kolonialgeschichte der Schweiz nicht direkt zu »eine[r] gesellschaftliche[n] Aufklärung über die nationale (deutsche) Verwicklung in den europäischen Kolonialismus« bei (Domdey 2009: 187). Ihm mangels »historiographische[r] Grundierung« grundsätzlich sein postkoloniales Potential abzusprechen, ist jedoch in keiner Weise haltbar, denn »entscheidend« ist in diesem Zusammenhang – laut Dirk Göttsche – vor allem »die Frage des literarischen Umgangs mit dem postkolonialen Wissen.« (Göttsche 2014: 375) Dabei zeigt sich gerade in der Verweigerung einer stringenten Geschichtsschreibung und der Lesbarkeit des »Buch[es] als Bild der Welt« (Deleuze/Guattari 2005: 38) das postkoloniale Potential. Die den Ansätzen von Deleuze und Guattari folgende Neukonzeption des Buches als nach außen hin unabschließbare Karte und Ausgangspunkt für eine intellektuelle Abenteuerreise, die auf die Erkundung neuer Horizonte jenseits kolonialistischer Denkstrukturen ausgerichtet ist, findet hier eine experimentelle Umsetzung. Durch die rhizomatische Konzeption, die unterschiedlichste Zugangsmöglichkeiten eröffnet und Fährten legt, die den Leser durchaus auch »auf eine falsche Spur bringen« können (Derrida 2013: 20; Hervorh. i. Orig.), wird dessen Rezeptionshaltung und damit das »Denken-wieüblich« (Schütz 1972: 58) gezielt herausgefordert.



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Kracht nimmt die Kritik Spivaks beim Wort, wenn er mit seiner postkolonialen Kritik überwiegend im eigenen Erfahrungshorizont verbleibt und über eine kontrafaktische Geschichtskonstruktion sowie mittels analogischer Appräsentation der Unmöglichkeit einer Repräsentation des subalternen Subjekts und einer ›wahrheitsgetreuen‹ Darstellung im allgemeinen Rechnung trägt. Anstatt europäische Theoriekonzepte umstandslos auf Problemkonstellationen der ›Dritten Welt‹ zu applizieren und die Rolle des Bauchredners für das subalterne Subjekt zu übernehmen, stellt der postmoderne Roman Ich werde hier sein… den Versuch dar, einen Beitrag zu einer Dekolonisierung des Denkens auf dem europäischen Kontinent zu leisten. Die in der Überblendung der Räume hergestellten Analogien zwischen Malawi/Afrika und Schweiz/Europa führen dazu, dass die postkoloniale Kritik hier nicht auf den Bereich ehemaliger Kolonien beschränkt bleibt, sondern ihr kritisches Potential vor allem im westlichen Raum entfaltet – jedoch, und das ist von eminenter Wichtigkeit, ohne den postkolonialen Diskurs vollständig in eine eurozentrische Kulturkritik zu integrieren, ihn allein westlichen Belangen unterzuordnen und damit wiederum der (intellektuellen) Logik kolonialistischer Usurpation zu verfallen.

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Vollkommene Dunkelheit Ulrich Köhlers Schlafkrankheit als filmisches Rewriting von Joseph Conrads Heart of Darkness J ANA D OMDEY

Seit dem neuen Jahrtausend hat der ›Afrika-Boom‹, der in der Literatur bereits Mitte der 1990er-Jahre mit einer autobiografisch geprägten ›Frauenliteratur‹ 1 einsetzte, auch auf den deutschen Film übergegriffen (Morrien 2012: 253). Nach dem internationalen Kinoerfolg von Verfilmungen wie Nirgendwo in Afrika (2001) oder Die weiße Massai (2005) versuchte auch die TV-Unterhaltung auf diese Erfolgswelle aufzuspringen. Mit Produktionen wie Eine Liebe in Afrika (2003), Kein Himmel über Afrika (2005) oder Mein Herz in Afrika (2006) verlegten ARD und ZDF den deutschen Heimatfilm kurzerhand in ferne Gefilde, um über ein exotisches Setting und aufgewärmte Kolonialromantik entsprechend Quote zu machen. Seither werden zahlreiche Liebes- und Familiendramen vor afrikanischer Kulisse gezeigt, die mit ihrem »eskapistische[n] Sehnsuchtspotential« (Neuser 2008: 126) einen nicht unbeträchtlichen Zuschauerkreis finden. Auch Doku-Dramen, die es sich wie Afrika, mon amour (2006) oder Momella. Eine Farm in Afrika (2007) auf die Fahnen geschrieben haben, die deutsche Kolonialvergangenheit ›authentisch‹ zu beleuchten, kommen dabei ebenfalls nicht über die bekannten Kolonialphantasien hinaus und reaktivieren gleichermaßen einen Blick auf Afrika, in dem »the dark continent appears as a dangerous liaison, a source of seduction as well as real danger« (Struck 2010: 260).

1

Gemeint sind die Bestsellererfolge von Autorinnen wie Stefanie Zweig (Nirgendwo in Afrika [1995]), Corinne Hofmann (Die weiße Massai [1999]) oder Ilona Maria Hilliges Die weiße Hexe [2000]).

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Es steht zu befürchten, dass ein Gutteil der deutschen Öffentlichkeit sein Afrikabild aus diesem stark klischeebehafteten und, wie die wissenschaftliche Kritik beklagt (z.B. Struck 2010; Neuser 2008), auch die Kolonialgeschichte verzerrt wiedergebenden Fernseh-Unterhaltungsprogramm speist. Schließlich wird den öffentlich-rechtlichen Sendern von den ZuschauerInnen immer noch eine »hohe Deutungskompetenz[ ]« (Neuser 2008: 108) zuerkannt. Der ›Realität‹ des afrikanischen Kontinents, seiner kulturellen Heterogenität und Vielfalt, Komplexität und Ambivalenz, wird dieses stereotype Afrikabild allerdings in keinster Weise gerecht und ist daher mit Ruth Mayer auch schlicht als »eine europäische Erfindung« zu verstehen: »Afrika ist ein Konstrukt des Kolonialismus, es gibt kein unterliegendes und vorgängiges Gemeinsames, das sich gleichermaßen auf die unterschiedlichen Regionen, Traditionen und Kulturen des Kontinents applizieren ließe. Und doch kommen plakative und verbindliche Bilder in unseren Sinn, wenn wir über Afrika sprechen […].« (Mayer 2004: 404) Es ist daher sehr zu begrüßen, dass sich nun junge deutsche Filmschaffende daranmachen, mit diesen Afrika-Zerrbildern der deutschen TV-Produktionen aufzuräumen. Mit Ulrich Köhlers Schlafkrankheit kam 2011 eine Produktion in die Kinos, die sich den stereotypen Afrikadarstellungen des deutschen Fernsehens entgegenstellt und eine erfrischend andere Annäherung an den afrikanischen Kontinent versucht, als wir es hierzulande aus der Fernsehunterhaltung gewohnt sind. »Endlich ein entwickelter Blick auf Afrika« (Schöning 2011), lobte das Feuilleton Köhler, der in seinem Film dem Leben von Expatriates und Entwicklungshelfern in Kamerun nachspürt und für seine Regieleistung mit dem deutschen Filmkunstpreis und einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde. In meinem Artikel untersuche ich mit Blick auf Handlung und Ästhetik, wie Schlafkrankheit zur Machart der konventionellen TV-Afrikadarstellungen auf Abstand geht und sich gleichzeitig mit Joseph Conrads Kurzroman Heart of Darkness (1899/1902) kritisch auseinandersetzt. Der so berühmte wie umstrittene Klassiker prägt(e) das westliche Afrikabild wie wohl kein anderer Text der Weltliteratur. Dabei soll auch gefragt werden, ob bzw. an welcher Stelle Köhlers progressives und postkoloniales Projekt evtl. doch auch wieder in altbekannte Klischees zurückkippt. Denn obgleich Schlafkrankheit bereits durch seine filmästhetische Machart ein Abweichen von der herkömmlichen AfrikaRepräsentation signalisiert, kann nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass dem Film der Bruch mit den nach wie vor omnipräsenten Klischees des Kolonialdiskurses auch wirklich gelingt. Schließlich ist das dominante Darstellungs- und Wahrnehmungsregime, wie postkoloniale TheoretikerInnen betonen, nur ›von Innen heraus‹, in kleinschrittigen Teilerfolgen, zu subvertieren: »Radical writing, by definition«, hebt etwa Margery Fee hervor, »is writing that is



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struggling, of necessity only partly successfully, to rewrite the dominant ideology from within« (2006: 171).

1. S CHLAFKRANKHEIT : R EALITÄTSNAHES A FRIKA P ORTRÄT UND H EART - OF -D ARKNESS -R EWRITING Ulrich Köhlers in zwei Teile untergliederter Film Schlafkrankheit gibt auf der Handlungsebene der Figuren zunächst Einblick in die schwierige Entscheidungssituation des Arztes und langjährigen Entwicklungshelfers Ebbo Velten, der nach mehr als zwei Jahrzehnten in Afrika mit seiner Familie kurz vor der Rückkehr nach Deutschland steht. Seine 14-jährige Tochter, die bereits seit zwei Jahren ein Internat im hessischen Wetzlar besucht, ist zu Beginn der Filmhandlung gerade zum letzten Mal nach Kamerun zu Besuch gekommen, wo Ebbo ein Projekt zur Eindämmung der Schlafkrankheit leitet. Ebbos Arbeit war erfolgreich, das Projekt kann abgeschlossen werden und seine Frau Vera freut sich darauf, in Zukunft wieder mit der Tochter leben zu können und in Deutschland eine Buchhandlung zu eröffnen. Eine Familienszene am Fluss Sanaga macht jedoch schnell deutlich, dass unterschiedliche Wünsche und Befindlichkeiten der Familienmitglieder vor der geplanten Rückkehr nach Europa aufeinanderprallen. Während Ebbo das Schwimmen im Strom sichtlich genießt und mit der Aussage »Wir müssen nicht zurück!« erste Hinweise darauf gibt, dass er Afrika im Grunde nicht verlassen will, weigert sich die im Auto sitzen gebliebene Tochter Helen beharrlich, wie früher mit den Eltern zu baden. Während die Tochter Angst vor dem Parasiten Bilharziose als Grund dafür angibt, sich nicht am Familienbad zu beteiligen, weist Ebbos Antwort, dass in fließenden Gewässern dafür keine Gefahr bestehe, den Tropenmediziner als in Kamerun längst heimisch gewordenen ›AfrikaInsider‹ aus.





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Abb. 1: Vera als Vermittlerin zwischen ›Europa‹ und ›Afrika‹ I2

Die Entfremdung, die sich während Helens zweijährigem Internatsaufenthalt in Deutschland gegenüber dem Vater und ihrem früheren afrikanischen Lebensumfeld eingestellt hat, wird dabei auch durch die Kameraführung betont. In einer weitwinkligen Landschaftsaufnahme zeigt sie die beiden durch den breiten Fluss getrennt (vgl. auch Nord 2011b). Mutter Vera, die sich zunächst auf der Uferseite der Tochter aufhält, dann aber ihrem Mann hinterherschwimmt, erscheint in dieser metaphorischen Übersetzung der Familiensituation (noch) als das vermittelnde Bindeglied Ebbos zwischen seinem geliebten ›Afrika‹ und dem durch die Tochter versinnbildlichten ›Europa‹. Widersprüchlichkeit der Protagonisten: Humanitäre Helfer mit Kolonialherrenattitüde Parallel zur Einführung in den Familienkonflikt und die persönliche Gespaltenheit des zwischen Vera (und Helen) und seiner ›Liebe zu Afrika‹ hin- und hergerissenen Ebbo, zeigt Schlafkrankheit die vom afrikanischen Alltag weitgehend abgeschlossene Lebenswelt europäischer Communitys auf dem südlichen Kontinent. Der Film thematisiert dabei die widersprüchlichen Auswirkungen der westlichen Entwicklungshilfe auf die menschlichen Beziehungen vor Ort, ohne in einseitige Schuldzuweisungen zu verfallen. Dass Schlafkrankheit eine überzeu-

2

Für die Optimierung des Bildmaterials geht mein herzlicher Dank an den Kollegen Peter Ellenbruch.



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gende Darstellung des Expat-Milieus gelingt, ist sicherlich auch durch die langjährigen persönlichen Erfahrungen des Regisseurs in Afrika bedingt: Köhler wuchs in den 1970er-Jahren als Sohn deutscher Entwicklungshelfer in Zaïre, heute Demokratische Republik Kongo, auf, ist also mit der Lebenswelt, die er porträtiert, gut vertraut. Die Widersprüchlichkeiten der westlichen Entwicklungshilfepraxis werden von Köhler ungeschönt ausgeleuchtet. Schlafkrankheit thematisiert einerseits die vielbeklagte Korruptheit der afrikanischen Eliten, wenn Ebbo seinem Partner in der deutsch-kamerunischen Entwicklungskooperation vorwirft, die aus dem Westen fließenden Gelder veruntreut und zum Teil in die eigene Tasche umgeleitet zu haben. Andererseits wird jedoch auch deutlich herausgearbeitet, wie negativ sich die (ökonomische) Privilegiertheit der westlichen Mitarbeiter auf ihren Charakter und damit ihren menschlichen Umgang vor Ort auswirkt. Hier setzt Schlafkrankheit vor allem Ebbos französischen Kollegen Gaspard und den bulgarischen Arzt Todorov, Ebbos Nachfolger im Entwicklungshilfeprojekt, als ausgesprochen arrogante Unsympathen in Szene: Den beiden ist ihre finanzielle Überlegenheit gegenüber der afrikanischen Durchschnittsbevölkerung, die aus ihren europäischen Gehältern resultierende Machtfülle in Afrika, zu Kopf gestiegen. So akzeptiert der Bulgare nur ein Haus mit Pool und besteht auf einem neuen Geländewagen von Mercedes – das durchaus ansehnliche Domizil seines Vorgängers und Ebbos Toyota, die er übernehmen könnte, sind ihm nicht gut genug. Kollege Gaspard wiederum benutzt seine Machtstellung als finanzstarker Europäer gegenüber afrikanischen Frauen und genießt den Umgang mit jungen ›Studentinnen‹, die ihm zu Gefallen sind, da sie sich ökonomische Gegenleistungen oder auch die Vermittlung eines Hochschulaufenthalts in Europa erhoffen. Nach einem gemeinsamen Essen übernimmt er gönnerhaft die Rechnung – »Weiß sowieso nicht, wohin mit dem Geld!« – und zeigt zugleich europäische Überlegenheitsdünkel, wenn er sich beim Kellner herablassend über den hohen Preis des südafrikanischen Weines beschwert, der wie ein französischer Médoc veranschlagt wurde.3 Wer je Einblick in die europäischstämmigen Communitys in Afrika gewonnen hat, weiß, dass diese (neo-)kolonialen ›Herrentypen‹ des Films keine überzogene Erfindung Köhlers sind (vgl. Bitala 2011), auch wenn sie in ihrer Borniertheit und Arroganz wie wandelnde Klischees erscheinen mögen. Zudem geben sie im ersten Teil von Schlafkrankheit vor allem die negative Kontrastfolie

3

Die Szene, in der der ›schwarze‹ Kellner ruhig auf der ebenbürtigen Qualität des südafrikanischen Weines beharrt, illustriert gleichzeitig das postkoloniale Selbstbewusstsein Afrikas, in der längst nicht mehr (nur) zu Europa ›aufgeschaut‹ wird.



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zur Hauptfigur Ebbo Velten ab, mit dem der Film einen deutlich komplexeren und widersprüchlicheren Charakter in den Mittelpunkt stellt. Ebbo zeigt sich denn auch von der Lebensweise und den Einstellungen Gaspards und seines bulgarischen Kollegen eher abgestoßen. Während des gemeinsamen Essens und der großspurigen Unterhaltung der beiden bleibt er distanziert; er wehrt ab, als ihm Gaspard beim Champagner am Pool eine afrikanische ›Studentin‹ zuführen will, und auch am Kauf einer Plantage will sich der Arzt nicht beteiligen, obwohl er als Manager eines solchen Unternehmens mit einer neuen lukrativen Tätigkeit im geliebten Afrika bleiben könnte. In der Auseinandersetzung mit dem afrikanischen Partner seiner Frankfurter Entwicklungshilfeorganisation, der auf eine Weiterbewilligung der bisherigen Gebersumme drängt, obwohl die Schlafkrankheit inzwischen unter Kontrolle ist, zeigt sich Ebbo zunächst ebenfalls als Mann mit Prinzipien. Obgleich die Finanzierung seiner eigenen Stelle von diesen Geldern abhängig ist, beharrt er auf einer Kürzung um 25 Prozent, während sein bulgarischer Nachfolger sofort Bereitschaft zum stillen Agreement signalisiert und damit seinen Opportunismus offenbart. So wird Ebbo Velten einerseits als integre Figur mit humanitären Idealen vorgeführt – etwa auch, wenn er die Behandlung der Schlafkrankheit mit dem Standardmittel Melarsoprol ablehnt, da dieses in Europa nicht zugelassene Arsen-Präparat zwar billig, aber für die afrikanischen PatientInnen mit qualvollen Schmerzen verbunden ist. Er erscheint als freiheitsliebender Abenteurer, der Afrikas Natur liebt und sich mit der Bevölkerung seiner neuen Heimat zumindest soweit identifiziert, dass er sich auch einmal ein traditionelles Gewand (wenn auch made in China) anlegt. Andererseits zeigt der Arzt jedoch von Beginn des Films an auch immer wieder sein ›hässliches Gesicht‹, denn auch Ebbo legt im Kontakt mit den einheimischen ›Schwarzen‹ ein unsympathisches Kolonialherrengebaren an den Tag, sei es, wenn er seinen Nachtwächter beschuldigt, während der Arbeitszeit geschlafen zu haben, oder er mit seiner Familie nachts in eine Straßensperre gerät und die Beamten Schmiergeld oder einen anderen Gefallen fordern, als die Tochter sich nicht ausweisen kann. »Lass mal, der spielt sich nur auf […], die wollen nur Geld«, weist er Veras Bemühungen, die Lage zu klären, zurück und weigert sich provokativ, auf die Forderungen der Polizisten einzugehen. Offensichtlich »genießt [Ebbo; J.D.] seine vermeintliche Allmacht, er, der Ausländer, der Arzt, der Afrika-Erfahrene, kann selbst Polizisten in ihre Schranken weisen. Niemand hält ihn auf.« (Bitala 2011) In beiden Situationen wird Ebbos Frau als Vermittlerfigur aktiv, die die Eskalation verhindert, indem sie ihren impulsiven Mann beschwichtigt. Damit jedoch deutet Köhlers Film an, dass die Einnahme einer anderen Perspektive gegenüber den von Ebbo interpretierten Begebenheiten durchaus möglich ist.



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Schlafkrankheit lässt es somit in der Schwebe, ob der Afrika-›Kenner‹ mit seinen Vorurteilen richtig liegt oder nicht. Offensichtlich wird lediglich das sich durch die Entwicklungshilfe ergebende, ungute neokoloniale Machtgefälle, das die Europäer arrogant und anmaßend, die Afrikaner zu Untergebenen, Bittstellern oder eben auch zu Erpressern und Betrügern macht. Selbst Vera kann sich diesen unwillkürlichen Machtmechanismen nicht entziehen und verfällt in paternalistisches Verhalten, als sie ihrer afrikanischen Angestellten die Stelle als Köchin im Haus zu erhalten sucht. Dabei erniedrigt sie die Frau trotz bester Absichten, wie Nicodemus herausgearbeitet hat, da »die Angestellte hier behandelt [wird] wie ein Möbelstück, das es zu behalten gilt.« (2011) Hinter Mauern, Gittern, Fensterglas: Porträt europäischer Expatriates in Afrika Weil sie auf »[a]symmetrische[n] Machtbeziehungen« (Nord 2011b) beruht, das wird im Film evident, ist die privilegierte Welt der Expats, die Schlafkrankheit nachzeichnet, durch Angst und Misstrauen geprägt. Die Europäer in Afrika leben in der Regel unter sich, ihre Gemeinschaften bewegen sich in klarer Distanz von der schwarzen Bevölkerung in exklusiven Räumen: »Ihre Welt steckt voller Privilegien und voller Angst, die Nichtprivilegierten könnten sich dafür rächen, dass sie keine Privilegien genießen.« (Ebd.) Die Abgegrenztheit dieser heterotopischen Orte, ihre Distanz zum afrikanischen Alltagsleben, macht Köhlers Film durch eine ganz eigene filmische Ästhetik für die ZuschauerInnen greifbar. Programmatisch wird mit kleineren (Hand-)Kameras aus geschlossenen und vergitterten Räumen heraus gefilmt, womit für uns die Enge der ›goldenen Käfige‹, in denen sich die Mitglieder der Expat-Communitys in Afrika (meist) bewegen, visuell und emotional nachvollziehbar wird. Der Realismus der Berliner Schule, der auch Köhler zugerechnet werden kann, ist der einer »präzise[n] Verortung«. Es »werden die Genre-Geschichten und Genre-Typen an Soziotope gebunden und Milieus, die mit Realitätseffekten gesättigt sind.« (Baute u.a. 2006) »Oft scheint das Objektiv direkt hinter den Fahrersitz des Jeeps montiert« (Nicodemus 2011), in dem Ebbo fährt; auch aus dem Fenster seines Hauses heraus geht der Blick in den – umzäunten – Hof oder Garten; gefilmt wird in den geschlossenen Räumen des Restaurants, der Entwicklungshilfeinstitution oder des europäischen Clubs. Damit »bleibt die Perspektive [die; J.D.] des Fremden, Durchreisenden, Besuchenden. Es ist der Blick von außen auf eine Welt, die sich den Figuren dieses Films entzieht« (ebd.).



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Abb. 2: Hinter Gittern – ›daheim‹ in Afrika

Köhlers ästhetische Strategie, ein ›europäisches Afrika‹ der Enge und Begrenztheit zu inszenieren, unterscheidet sich fundamental von den sonst im deutschen Fernsehen für Afrikadarstellungen charakteristischen weiten Landschaftsaufnahmen. Dass Schlafkrankheit von der Kritik dafür gelobt wurde, ein ungewohnt »realistisches Bild« (z.B. Bitala 2011, Schöning 2011) europäischer Expatriates auf dem ›schwarzen‹ Kontinent zu zeichnen, beruht zu großen Teilen auf dieser Ästhetik der Begrenztheit. Sie vermittelt ein Gefühl für das Eingeschlossensein und die Isoliertheit von der afrikanischen Um- und Alltagswelt, die nicht nur für das Leben der Expat-Communitys auf dem Kontinent charakteristisch sind, sondern auch europäischen Afrikatouristen aus ihren einschlägigen Erfahrungen in exklusiven Ferienresorts her bekannt sein mögen. Postkoloniale Antwort auf Heart of Darkness: Enkulturation vs. ›Rassenunterschiede‹ Der zweite Teil des Films wird durch den Schriftzug »drei Jahre später« eingeleitet und setzt mit der Ankunft eines französischen Arztes in Kamerun ein, der Ebbos Schlafkrankheitsprojekt im Auftrag der WHO evaluieren soll. Wie Marlow auf der Suche nach dem verschollenen Kolonialagenten Kurtz in Conrads Heart of Darkness macht sich der docteur aus Frankreich auf die Suche nach dem charismatischen Wahl-Afrikaner Ebbo Velten, der sich – wie nun klar wird – gegen die Familie und für das Verbleiben in der neuen Heimat entschieden hat. Der Arzt aus Paris, unerfahren und zum ersten Mal mit einem solchen Auftrag nach Afrika gesandt, wird dabei als neuer Counterpart Ebbos in Szene ge-



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setzt und durchlebt »stellvertretend für den europäischen Zuschauer den Schock der Fremdheit« (Horst 2011), den der Erstkontakt mit dem südlichen Kontinent für Menschen aus Europa meist bereithält. Der Neuankömmling offenbart sich im Gegensatz zu dem alten Afrika-›Veteranen‹ Ebbo als ausgesprochen unsicher und distanziert im Kontakt mit der ›schwarzen‹ Bevölkerung, deren Offerten er in zum Teil kränkender Manier zurückweist. Das angebotene Taxi ist ihm zu klapprig, beim Zigarettenkauf rechnet er falsch um und bezichtigt den Verkäufer der Übervorteilung. Wo Ebbo die Nähe zur afrikanischen Natur suchte und sich furchtlos in die Fluten des Sanaga warf, zeigt sich der Franzose ängstlich, als er die letzten Meter zur Krankenstation im Dunkeln alleine gehen soll. In der Nacht traut er sich nicht nach draußen und uriniert lieber in eine Flasche. Und als er einen Notkaiserschnitt durchführen muss, wird ihm schlecht und er fällt in Ohnmacht. Der Kontrast zu Ebbo wirkt umso stärker, als Köhler Conrads Plot pointenreich abgewandelt hat. So forscht zwar auch bei ihm ein Europäer in Afrika nach einem anderen und findet zunächst nur eine verwaiste ›Station‹ vor, in die sich bereits die Hühner eingenistet haben. Auch er muss feststellen, dass »der Arzt, der mit einer ›Mission‹ gekommen war« (Horst 2011), sich inzwischen »dem korrupten Establishment angedient« hat und in seinem ›Allmachtsgebaren‹ – er lässt den französischen WHO-Mitarbeiter Tage warten, bevor er sich zeigt – endgültig zur Kurtz-Figur geworden ist.4 Im Gegensatz zu Heart of Darkness, wo zwei ›Weiße‹ in Afrika aufeinandertreffen, ist Köhlers französischer Dr. Alex Nzila jedoch einer mit kongolesischem Familienhintergrund und ›schwarzer‹ Hautfarbe, was seine Ängstlichkeit und Fremdheit auf dem ›dunklen Kontinent‹ umso deutlicher ins Auge fallen lässt: »[E]r sieht zwar aus wie ein Einheimischer, aber er gehört nicht dazu« (Bitala 2011), führt Köhler unsere (rassistischen) Zuschauererwartungen vor. Trotz seiner afrikanischen Wurzeln »erscheint der erfahrene Velten [gegenüber dem ›schwarzen‹ Nzila; J.D.] als der eigentliche ›Afrikaner‹.« (Dell 2011) [G]anz auf der Höhe des aktuellen postkolonialen Diskurses [liegend; J.D.]« arbeitet Schlafkrankheit durch dieses entlarvende Spiel mit unseren Vorurteilen heraus, dass

4

Conrads geheimnisumwitterter Kurtz, in Heart of Darkness gesucht vom Erzähler Marlow, ist eine ebenfalls stark widersprüchliche Figur. Wie Ebbo ursprünglich mit humanitären Idealen nach Afrika gekommen, scheint er inzwischen wohl den Verlockungen der Macht im kolonialen Kontext erlegen bzw. der eigenen Hybris verfallen zu sein und lässt sich von Einheimischen im Landesinneren als eine Art Gottkönig verehren.



88 | J ANA D OMDEY »[n]icht die als ›Rassen‹ klassifizierten Varietäten des Menschengeschlechts […] entscheidende Differenzen [sind; J.D.]. Sondern es sind kulturelle Unterschiede, die das Vertraute und das Fremde konstituieren. (Schöning 2011)

Am Verhalten des ›schwarzen‹ Franzosen, das dem nach kolonialen Klischees Erwartbaren gänzlich zuwiderläuft, wird von Köhler die kulturelle Prägung, der erlernte Umgang mit der Umwelt (›Enkulturation‹), als alles entscheidender Faktor für die Gefühle und das Verhalten eines Menschen ins Bewusstsein gerufen – ein Umstand, der auch von der Forschungsliteratur zur interkulturellen Kommunikation immer wieder hervorgehoben wird (Erll/Gymnich 2007: 68-69; Hofstede 1980: 21). Geräuschvoll-lebendige ›Finsternis‹: Ästhetische Hommage an den ›dunklen Kontinent‹ Auch in der ästhetischen Darstellung des afrikanischen Naturraums zielt Köhler auf eine Revision des durch Heart of Darkness etablierten Afrikaklischees vom bedrohlichen ›dark continent‹ ab. Conrads stark umstrittener, weil höchst ambivalenter Text, der zwar auf der Handlungsebene eine deutliche Kritik am kolonialen Ausbeutungssystem des belgischen Kolonialismus im Kongobecken formuliert, metaphorisch aber mit der Dichotomie von dunklem (prähistorischen, wilden) Afrika und hellem (zivilisierten) Europa spielt,5 stellt bis heute eine ent-

5

Zu Recht wurde von der Conrad-Forschung (v.a. Brantlinger 1999; Perry 1983; Watts 1983) nicht nur darauf hingewiesen, dass die Afrikabeschreibung in Heart of Darkness aus der Perspektive des Engländers Marlow erfolgt, durch dessen (notwendig

vorurteilsbelastete)

›Wahrnehmungsbrille‹

eines

europäischen

Kolonial-

angestellten wir in der Binnenerzählung des Romans vom ›dunklen Kontinent‹ erfahren. Auch die Ambivalenz der Schwarz-Weiß-Metaphorik im Text, »the story’s ambiguous style« (Brantlinger 1999: 192), wurde hervorgehoben, denn in Heart of Darkness erscheint nicht allein der afrikanische Urwald als düsterer ›Hain des Todes‹, sondern Brüssel als ›Herz‹ der belgischen Kolonialmacht wird ebenfalls als Grab und Zentrum der Finsternis gezeichnet. (Auch über London liegt Schwärze und Dunkelheit, doch in Bezug auf England wird von Conrad die historische Dimension ins Spiel gebracht und auf die Unzivilisiertheit der Insel zu Zeiten der römischen Expansion verwiesen – womit doch wieder der darwinistischen Vorstellung unterschiedlicher kultureller Entwicklungsstufen als einer der Stützen des kolonialen Überlegenheitsdenkens das Wort geredet wird und daher in diesem Fall nicht wirklich von einer Dekonstruktion des kolonialen Manichäismus Afrika–Europa gesprochen werden kann.)



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scheidende Folie unseres Afrikabildes dar. Der Darstellung vom ›wilden‹ und somit bedrohlichen ›dark continent‹ stellt Köhler in Schlafkrankheit eine alternative Konzeption ›afrikanischer Dunkelheit‹ gegenüber. Die Obsession des Regisseurs für »[d]ie Finsternis Kameruner Nächte« (Nord 2011b) wurde bereits bei der Veröffentlichung des Films im Feuilleton thematisiert. Dass ein Großteil von Schlafkrankheit in nächtlichen Szenen abgedreht ist, bringt Köhler selbst mit seinen afrikanischen Kindheitserlebnissen in Verbindung. Da elektrischer Strom kaum verfügbar war und Kamerun aufgrund seiner Äquatornähe keine Dämmerstunden kennt, stellt die vollständige Dunkelheit eine der prägendsten – und durchaus positiven – Afrikaerinnerungen des Filmemachers dar: Eine ganz starke Kindheitserinnerung war, dass wir nachts Verstecken gespielt haben und wir uns nur auf die Wiese legen mussten, um nicht gesehen zu werden. Es gab nur zwei Stunden Strom am Tag, am Himmel war kein Restlicht. Wir haben uns überlegt, wie man das filmisch umsetzen kann, und haben uns entschieden, dass gerade bei den Nachtszenen im Wald Taschenlampen die einzigen Lichtquellen sein sollten. (Köhler in Nord 2011a)

Abb. 3: Vollkommene Dunkelheit – nachts in Kamerun im Wald

Wie die bereits erwähnte filmische Strategie, aus abgegrenzten Räumen heraus zu drehen, um den eingeengten Bewegungsraum der Expat-Communitys greifbar zu machen, dienen die häufigen Dunkelheitsszenen mit ihrem sparsamen Einsatz von Leuchtmitteln ebenfalls der Erzeugung einer ›realitätsnahen‹ Visualisierung des Lebens im (ländlichen) Kamerun, seiner prägenden Eindrücke und Umwelt-



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einflüsse. Zu einem ›authentischen‹ Afrikaerlebnis des Filmpublikums trägt hier darüber hinaus die auditive Ebene bei, mit deren Hilfe Köhler einen weiteren deutlichen Kontrapunkt zu Conrads berühmter Vorlage setzt. In Heart of Darkness hatte der (unzuverlässige) Binnenerzähler Marlow eine mythisch aufgeladene Beschreibung Afrikas als Ort des Todes, der unheilvollen Verlockungen und der Verderbnis – »the lurking death, […] the hidden evil, […] the profound darkness of its heart« (Conrad 1994: 47) – etabliert und hierbei die unheimliche Stille der afrikanischen ›Wildnis‹ betont, die von ihm als heimtückische, tödlich gefährliche ›Kraft‹ personifiziert wird: I wondered whether the stillness on the face of the immensity looking at us […] were meant as an appeal or as a menace. What were we who had strayed in here. Could we handle that dumb thing, or would it handle us? I felt how big, how confoundedly big, was that thing that couldn’t talk, and perhaps was deaf as well. (Conrad 1994: 38)

Wo in Heart of Darkness von einer ›lauernden Finsternis‹ (»looming darkness«) die Rede ist, von der »high stillness of primeval forest« (Conrad 1994: 38), einer so lautlosen (»soundless« [ebd.: 43]) wie bedrohlichen Kraft der afrikanischen ›Wildnis‹, gibt Köhler – der als Kind der Berliner Schule mit ihrem auf »Alltagsbeobachtungen« (Foerster 2006) konzentrierten, »reflektierte[n] Realismus« (Baute 2006) (sonst) auf jegliche ›künstlichen‹ auditiven Hintergrundeffekte (musikalischer Soundtrack) verzichtet6 – auf der Tonspur ausgesprochen lebendige afrikanische Nächte wieder: Die nicht unbeträchtliche Geräuschkulisse aus Zirpen und Fiepen, Flattern, Summen und Brummen, die angesichts der dunklen, wenig ereignisreichen Nachtbilder umso deutlicher wahrgenommen wird, lässt auf eine reiche Fauna, auf höchst aktive Vögel, Insekten und anderes Getier, also eine alles andere als tote (»dead[ ]« [ebd.: 43]) afrikanische Natur und Wildnis schließen – ein wunderschöner Lebensraum zudem, der, wie Ebbos Flussbad vor Augen führt, bei Kenntnis der örtlichen Gefahren auch von EuropäerInnen angstfrei genossen werden kann. Selbst in der Szene am Schluss, als der französische Arzt Dr. Nzila Ebbos nächtliches Jagdabenteuer ängstlich (aus der Ferne) begleitet, löst der Film seine Furcht eines ›zivilisierten‹ Europäers vor afrikanischer ›Wildnis‹ und Dunkelheit ironisch auf. Am Morgen nach der einsamen Nacht im Dschungel erwacht Nzila zwar dreckig und mit zerstrubbeltem Haar, doch ist er unverletzt und wurde nicht von wilden Tieren angefallen, wie von ihm wahrscheinlich befürchtet. Eb-

6

»Man verbietet sich fast durchweg die extradiegetische Musik als Unterstreichung: Originalton. Die Welt ist es, die erscheinen soll: Originalwelt.« (Baute u.a. 2006)



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bos Verschwinden wiederum, ist trotz des im Schlussbild auftauchenden Flusspferds wohl eher einem Jagdunfall oder seiner (Selbst-)Tötung7 zuzuschreiben. Denn im Dunkeln ist zwar ein lautes Schnauben zu hören, davor jedoch der Schuss aus einem Gewehr. So kann davon ausgegangen werden, dass Köhler im Gegensatz zu Heart of Darkness die vielbeschworene ›Finsternis‹ Afrikas statt in seiner ›wilden‹ Natur in den von Menschen gemachten Vorgängen und Handlungen verortet. Darauf lässt insbesondere auch die Eingangsszene des Films schließen, in der »ein ganzer Tropenwald, sauber in kahle Stämme zerlegt, in finsterer Nacht auf Tiefladern das Land« (Schöning 2011) verlässt. Dieses brisante Problem Afrikas, der durch die Einbindung in die Weltwirtschaft angeheizte Ausverkauf der natürlichen Ressourcen des Kontinents und die damit verbundene Umweltzerstörung, wird in Schlafkrankheit allein auf der visuellen Ebene thematisiert und wohl nicht umsonst in eine ausgestellte Szene in dunkler Nacht gefasst. Die Problematik der durch den globalen Markt geweckten Begehrlichkeiten wird am Ende des Films erneut aufgegriffen, wenn die Spuren der Zerstörung gezeigt werden, die das von Gaspard und Ebbo verfolgte Projekt8 am Sanaga bereits hinterlassen haben. Die größte Gefahr geht im Afrika Köhlers demnach nicht von »this […] stillness of an implacable force brooding over an inscrutable intention« (Conrad 1994: 48) aus, sondern es können in seinem Film die ökonomischen Interessen und menschlichen Absichten, die dem Kontinent und seinen Bewohnern Verderben bringen, ganz eindeutig benannt werden.



7

Auch die Ermordung Ebbos durch Gaspard scheint nach der vorausgegangenen Auseinandersetzung der beiden möglich.

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Rohbauten aus Holz, Arbeiter mit Brettern und Kettensäge sowie ein Gespräch über einen Bungalow lassen darauf schließen, dass Ebbo und Gaspard eine Feriensiedlung am Sanaga errichten. Sie beklagen in diesem Zusammenhang das Stocken des Baus einer Straße entlang des Flusses, für die der Urwald ebenfalls gerodet werden muss.



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Abb. 4: Arbeiter mit Kettensäge am Fluss

Westliche Entwicklungshilfe als Schlafkrankheit für Afrika Der Filmtitel Schlafkrankheit bezieht sich nur vordergründig auf das spezifische Projekt des Protagonisten Ebbo Velten zur Eindämmung der afrikanischen Trypanosomiasis. Tatsächlich kommentiert er jedoch die westliche Hilfepraxis als Ganze, die er als einschläfernd und somit kontraproduktiv für eine positive Entwicklung Afrikas qualifiziert. In der Mitte des Films lauschen wir mit Dr. Nzila dem Vortrag eines ›schwarzen‹ Wirtschaftswissenschaftlers in Frankreich, der ähnlich dem marktliberalen kenianischen Ökonomen James Shikwati (z.B. 2005) eine Einstellung der westlichen Entwicklungshilfe fordert und die westlichen Hilfszahlungen zum eigentlichen Entwicklungshemmnis erklärt: Die Entwicklungshilfe ermöglicht den Eliten nicht nur, sich zu bereichern; sie nimmt ihnen auch jegliche demokratische Verantwortung ab. Eine Regierung, deren Steuern nicht von Einnahmen abhängen, hat keinerlei Grund, leistungsfähige Institutionen aufzubauen. […] Hilfsgelder aus dem Ausland und das Erlassen von Schulden sind ein wesentliches Hindernis für eine Demokratisierung und einen wirtschaftlichen Aufschwung Afrikas.

Köhlers Film bemüht sich aufzuzeigen, dass der Geldfluss aus dem Ausland nicht nur die afrikanischen ›Eliten‹ als die Empfänger, sondern gleichermaßen auch die europäischen Helfer vor Ort korrumpiert. So trägt zum Scheitern der Entwicklungshilfe, wie der Film am Beispiel von Ebbos Schlafkrankheitsprojekt zeigt, auch der paradoxe Umstand bei, dass eben ihr Erfolg häufig die Einstel-



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lung der finanziellen Mittel nach sich zieht – was die persönliche Motivation der beteiligten Mitarbeiter zu Effizienz und Nachhaltigkeit nicht eben befördert: Die »Entwicklungshilfe [macht] diejenigen, die helfen, ebenso abhängig […] wie die, denen geholfen wird« (Nord 2011b); der Geldfluss verführt alle Seiten zu unmoralischem Verhalten und Untätigkeit – eine ›Schlafkrankheit‹ eben wird durch sie ausgelöst. Verkörpert Ebbo Velten in der ersten Hälfte des Films noch den idealistischen Entwicklungshelfer und Arzt, der den Verführungen des aus der Ferne gesteuerten Geldzuflusses widersteht und damit sprichwörtlich ›an dem Ast sägt, auf dem er selber sitzt‹, zeigt ihn Schlafkrankheit im zweiten Teil als Mann, der seine Prinzipien über Bord geworfen hat, um sein Leben in Afrika nicht aufgeben zu müssen – sei es aus Liebe zum Land oder aus Angst um seinen, fern Europas, privilegierten und freien Lebensstil, lässt uns der Film im Ungewissen. Während sich der Hauptheld Köhlers im ersten Teil noch ungehalten über die negativen Effekte der Entwicklungshilfe zeigt, seinen afrikanischen Partner unverhohlen der Veruntreuung von Hilfsgeldern bezichtigt und mit deutlichen Worten kritisiert, dass es seit Jahren versäumt wurde, im Umland Krankenstationen zu installieren und das Tuberkuloseprogramm auszubauen, ist er in der zweiten Filmhälfte selbst zum Somnambulen geworden, der nurmehr seinen persönlichen Gesetzmäßigkeiten folgt. Entgegen seinen früheren Überzeugungen hat er seinem europäischen Arbeitgeber die Fortsetzung des Schlafkrankheitsprojekts vorgegaukelt, obgleich er statt früher 50 heute kaum mehr einen Patienten in seiner Station zu versorgen hat. Mehr noch, ist er offensichtlich doch auf Gaspards Vorschlag eingegangen und verfolgt mit diesem nun ein eigennütziges Tourismusprojekt, für das er wohl auch Entwicklungsgelder abzweigt. Ebbos zunehmende ›Verlorenheit‹, sein moralischer ›Verfall‹, ist nicht nur Folge der Trennung von Vera und seiner Familie. Ganz banal steht seine Verzweiflung auch mit der finanziellen Sackgasse in Zusammenhang, in die er sich durch seine unternehmerische Kooperation mit Gaspard hineinmanövriert hat: »Wir stecken in der Scheiße,« lautet gegen Filmende sein schonungsloses Fazit nach einem tiefen Schluck Hochprozentigem aus der Flasche. Als er Gaspard mit dem Gewehr bedroht, ist dies mehr als nur ein Spaß und offenbart das tiefe Zerwürfnis der beiden ›Partner‹. Und auch Gaspard erhebt Anklage gegen Ebbo und bezichtigt ihn, den Evaluierungsbericht Nzilas als »Ausrede« dafür zu benutzen, nun doch aus Afrika »abhauen« zu können, auch wenn er »zu feige« sei, sich dies einzugestehen. Dieser Vorwurf ist nicht aus der Luft gegriffen: Bereits durch Nzila haben wir erfahren, dass Ebbo die Evaluierung seines Projekts selbst angefordert hat.



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Abb. 5: Tropenholztransport

Gleichzeitig legt Köhlers Film nahe, dass der ›Selbstverlust‹ des Protagonisten, der auch durch Ebbos finales ›Verschwinden‹ versinnbildlicht wird, in der Aufgabe seines Wertegerüsts bzw. der Erosion seiner ethischen Integrität in Bezug auf den Umgang mit ›Afrika‹ gründet. Diese ›Entwurzelung‹ Ebbo Veltens spiegeln metaphorisch die geschlagenen Tropenbäume wider, die der Film am Anfang und Ende ins Bild bringt: »So habe ich niemals enden wollen, niemals,« sind die dazu passenden, letzten Worte des Arztes, bevor er – Nzila alleine zurücklassend – in die Dunkelheit des Waldes abtaucht und damit auch endgültig den Augen des Filmpublikums entschwindet.

2. S CHWIERIGKEITEN DES A USBRUCHS KOLONIALEN D ISKURS

AUS DEM

Statt herzergreifende Beziehungsgeschichten vor afrikanischer Kulisse zu inszenieren, zeigt Schlafkrankheit die tatsächliche Konfrontation seiner europäischen Figuren mit der afrikanischen Umwelt und thematisiert das sich aus der Entwicklungshilfe ergebende Machtgefälle vor Ort. Wo sich im Fernsehen gerne kolonialnostalgische Erinnerungen vor das Afrika von heute schieben, fokussiert Köhler den Alltag im ›Hier und Jetzt‹, ohne Afrika einseitig zu dämonisieren oder auch zu idealisieren. Die weichgezeichneten Landschaftspanoramen der TV-Schnulzen werden durch intimere Bilder mit näheren Einstellungen abgelöst: So entstehen ›realitätsgesättigtere‹ filmische Perspektiven, die die ZuschauerInnen die ›lebendige Dunkelheit‹ des ländlichen Afrika sowie die Enge der europäischen Expat-Welten nachempfinden lassen. Auch gelingt es Schlaf-



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krankheit zu verdeutlichen, dass die irrationale Angst vor dem ›dark continent‹ nicht auf tatsächlichen Bedrohungen durch die afrikanische Umgebung und Naturwelt zurückzuführen ist, sondern auf unserer kulturellen Prägung im industrialisierten Europa der Großstädte beruht – mitsamt ihren Zerrbildern einer ›finster‹-gefährlichen afrikanischen ›Wildnis‹, deren Verankerung im kollektiven Gedächtnis bis zu Conrads Heart of Darkness zurückreicht und durch die mediale Darstellung Afrikas als »K-Kontinent« der » Kriege, Krisen, Katastrophen, Korruption, Kriminalität, Kapitalflucht, Krankheit« (Grill 2005) in modifizierter Form bis heute fleißig reaktualisiert wird. Inszenierung afrikanischer Spiritualität – komödiantischer ›magic moment‹ Ein mit der sprichwörtlichen ›Dunkelheit‹ des Kontinents in enger Verbindung stehendes, exotistisches Klischee ist das des irrationalen ›magischen‹ Afrikas (Götsche 2003: 175) – eine Dimension, mit der sich auch Schlafkrankheit auseinandersetzt. »[N]atürlich waren sehr viele animistische Erzählungen für mich als Kind sehr prägend« (Nord 2011a), äußerte sich Köhler in einem Interview anlässlich des Filmrelease und gab zu Protokoll, dass an dem Fluss, an dem er aufwuchs, erzählt wurde, […] dass sich bestimmte Menschen, Dorfälteste in Nilpferde verwandeln können und dass diese Tiere sehr gefährlich sind. […] Und dann, einige Jahre später, als wir Langa verlassen hatten, ist eine amerikanische Medizinstudentin, die im Fluss geschwommen ist, von einem Nilpferd getötet worden. Und dann hieß es eben, das sei aus Neid geschehen, weil der Chefarzt im Krankenhaus Angst gehabt hätte, seine Position zu verlieren, und deswegen sich in ein Nilpferd verwandelt hätte, um sie zu töten. (Nord 2011a)

In Schlafkrankheit bleibt Köhler jedoch nicht bei dieser »komplett autobiografische[n] Geschichte« (ebd.), sondern ändert sie ab in eine des bestraften Ehebruchs. Ebbo erinnert sich, dass ein Schweizer Bekannter im Kongo von einem Flusspferd getötet worden war: »Die Leute im Dorf glaubten, dass sich der Apotheker in ein Nilpferd verwandelt hätte, um sich zu rächen. Denn mein Kollege hatte mit der Frau des Apothekers geschlafen«, erzählt er im ersten Teil der Handlung. Der am Filmende nahegelegte Tod bzw. das Verschwinden Ebbos erhält vor dem Hintergrund dieser abgewandelten Version eine überraschend ›moralische‹ Schlagseite, ist der Arzt inzwischen doch ganz offensichtlich aus der Ehe mit Vera ausgeschert und hat mit einer neuen kamerunischen Partnerin ein weiteres Kind gezeugt.



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Beim Versuch, die geheimnisvolle spirituelle Dimension afrikanischer Lebenswelten für das europäische Kinopublikum einzufangen, scheitert Köhler. Wenn er nach der Jagdnacht am Schluss des Films ein echtes Flusspferd durchs Bild laufen lässt, vertreibt dieser unangemessene Realismus jeglichen Zauber. Auf der Presseaufführung der Berlinale wurde dieser ›Kunstgriff‹ denn auch »herzhaft [aus]gebuht« (Ströbele 2011). Es stellt sich jedoch die Frage, wie ernst die finale Einstellung von Schlafkrankheit vom Regisseur gemeint war und ob der in der Tat lächerlich anmutende Schlussmoment nicht als Eingeständnis Köhlers zu werten ist, die ›magische‹ Dimension Afrikas filmisch nicht einfangen zu können, bzw. er die klischeehafte Zuschreibung ›magisches Afrika‹ auf diese Weise zu dekonstruieren und zurückzuweisen versucht. Bereits das laute Schnauben, das in der Nacht aus der Dunkelheit erklingt und den Auftritt des Nilpferds ›vorbereitet‹, mutet ja übertrieben und geradezu komödiantisch an.9 Draufgänger, ›Macher‹, Abenteurer: Ebbo Velten als neuer alter Heldentyp Bereits die Figurenzeichnung des ›überzivilisierten‹ Nzila weist teilweise karikaturistische Züge auf.10 Es steht zu hoffen, dass Köhler seinen ansonsten auf ›Alltagsrealismus‹ gebürsteten Film durch diese Übertreibung bisweilen ins ›Lächerliche‹ abgleiten lässt, um die stereotype Gegenüberstellung der beiden Hauptdarsteller damit gleichzeitig (selbst)ironisch in Frage zu stellen. Denn einerseits gelingt Schlafkrankheit durch die Charakterstudie des ›schwarzen Europäers‹, der im Gegensatz zum ›weißen Afrikaner‹ Ebbo Velten in der Kameruner Abgeschiedenheit völlig lebensuntauglich erscheint, zwar eine Bewusstmachung unserer erschreckend stabilen (kolonialistischen) Vorurteile in Bezug auf angebliche ›Rassenunterschiede‹; andererseits mündet die klischeebefrachtete Darstellung Nzilas als ängstlichem und Afrika-untauglichem Europäer in eine unglückliche kontrastive Gegenüberstellung von ›schwarzem Jammerlappen‹ und zupackenden ›weißen Afrikaner‹, die den eigensinnigen Ebbo zu einer Neuauflage des alten kolonialen Heldentypus stilisiert: Seine Willensstärke, sein Abenteurer-

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Nord spricht von »einem erfrischenden Ausfallschritt Richtung Komödie« (2011b).

10 Ähnliche Überzeichnungen finden sich bereits bei Conrad, etwa in den Beschreibungen der Figur des Hauptbuchhalters, »a white man, in such an unexpected elegance of get-up that I took him for a sort of vision« (1994: 25) oder des ›schwarzen‹ Heizers: »He was an improved specimen; he could fire up a vertical boiler. […] to look at him was as edifying as seeing a dog in a parody of breeches and a feather hat, walking on his hind-legs. A few months of training had done for that really fine chap.« (Ebd.: 52)



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tum, seine Draufgänger- und ›Macher‹-Qualitäten treten im Kontrast zu dem unsicheren Franzosen besonders deutlich hervor und rufen Erinnerungen an die koloniale Abenteuer- und Entdeckerliteratur wach, deren Protagonisten – von Peter Moor in Gustav Frenssens Feldzugsbericht (Peter Moors Fahrt nach Südwest [1906]) über Cornelius Friebott bei Hans Grimm (Volk ohne Raum [1926]) bis zum Brüderpaar Richter in Adolf Kaempffers Farm Trutzberge (1937) – sich ebenfalls gegenüber einer als unzulänglich dargestellten, ›schwarzen Umwelt‹ profilierten: Im mühsamen, zähen Kampf des Alltags leisten diese kolonialen Siedler und Soldaten hartnäckig »›deutsche[ ] Kulturarbeit‹« (Brehl 2004a: 92), auch wenn diese von der unwilligen afrikanischen Umwelt (sowie im kolonialen Konkurrenzkampf auch von Engländern und Franzosen) immer wieder zerstört und zunichte gemacht wird. Diesem kolonialen Diskursmuster nicht unähnlich, bewegt sich auch in Schlafkrankheit der ›weiße‹ Ebbo Velten im Gegensatz zum ›schwarzen‹ Alex Nzila nicht nur angstfrei in der afrikanischen Lebenswelt und Natur; er ist auch zur Stelle, als der Franzose bei der Kaiserschnitt-OP ›versagt‹ und rettet das Baby. Das Kind und Ebbos neue Beziehung zu einer Kamerunerin11 sind als weitere Zeichen seiner männlichen ›Potenz‹ zu werten. Besonders bedenklich, weil homophoben Klischees zuarbeitend, erscheint in diesem Zusammenhang überdies die Tatsache, dass sich der als ängstlicher ›Schlappschwanz‹ inszenierte ›schwarze‹ Arzt gegenüber Ebbo als schwul outet. Der Bruch mit dem Klischee bedrohlicher Männlichkeit, als der diese Wendung interpretiert werden kann, schlägt hier unglücklich ins Negative um, da gleichzeitig die homosexuelle Orientierung des Arztes mit männlicher ›Schwäche‹ gleichgesetzt und die Figur Nzila der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Auf problematische Weise spiegelt diese Konstruktion geradezu kolonialzeitliche »Diskurse über Männlichkeit, in der vor allem die Angst vor nationaler, rassischer und geschlechtlicher Degeneration formuliert wurde« (Maß 2006: 136), wobei die Kolonialliteratur diese Angst abzuwehren versuchte, indem sie die »koloniale Landschaft« Afrikas als »Schule der Männlichkeit« für die europäischen Protagonisten inszenierte, »in welcher Einsamkeit, Härte und Selbständigkeit den einzelnen Mann formten« (ebd.: 137). Besonders schwerwiegend erscheint mir die starke Polarisierung von Ebbo Velten und Nzila in Schlafkrankheit, da der Film die ins Parodistische ab-

11 Im Gespräch mit dem französischen Arzt wird deutlich, dass Ebbo seiner afrikanischen ›Partnerin‹ in kolonialer Manier jedoch nicht die gleiche Stellung wie der ›weißen‹ Vera einräumt. »Meine Frau ist in Deutschland,« lässt er Nzila wissen, als dieser nach der jungen ›schwarzen‹ Mutter fragt.



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gleitende Darstellung des Franzosen mit kongolesischen Wurzeln nur durch wenige ›positive‹ und weniger stereotyp gezeichnete ›schwarze‹ Charaktere auszubalancieren versucht, so etwa die ambitionierten medizinischen Mitarbeiter in Ebbos Team, allen voran die kompetente OP-Schwester, die Nzila während des Notkaiserschnitts mehr dirigiert denn assistiert. Leider bleiben diese interessanten afrikanischen Protagonisten im Film derart randständig, dass sie sich neben dem komplexen Charakterporträt Ebbos und der ausführlichen GroßstädterStudie Nzilas für die ZuschauerInnen nicht zu gleichwertigen alternativen Identifikationsfiguren entwickeln können. Stattdessen bringt Köhler in Schlafkrankheit neben dem Afrika-Neuling aus Paris auch weitere ›schwarze‹ Afrikaner als Kontrastfiguren Ebbos in Stellung. So wird beispielsweise auch sein neuer afrikanischer ›Schwiegervater‹ als untätig, abhängig und damit ›unmännlich‹ vorgeführt. Als er Ebbo während des ersten Besuchs bei seinem neugeborenen Enkelkind um Geld für seinen erwachsenen Sohn bittet, wird der Arzt ungehalten und wirft ihm vor der versammelten Familie Versagen auf der ganzen Linie vor: »Ich baue euch ein Haus, ich kaufe euch Autos, Fernseher, bezahle die Ausbildung deiner unfähigen faulen Kinder, und du, was hast du getan, was hast du für deinen Sohn getan? – Nichts!« Das afrikanische Familienoberhaupt erscheint damit in einer Reihe mit anderen ›schwarzen‹ Figuren in Schlafkrankheit, die der Film als Bittsteller, Betrüger12 oder undankbare ›Schmarotzer‹ denunziert, denken wir etwa an den bereits erwähnten Nachtwächter, die Polizisten und ›Studentinnen‹ mit ihren Bestechungsversuchen oder den Chef der kamerunischen Partnerorganisation, der ein Auge auf Ebbos Auto geworfen hat und es seinem Sohn schenken möchte. In Schlafkrankheit kommt es damit nicht nur zu einer eindimensionalen und daher stereotypenhaften Darstellung der afrikanischen Figuren, sondern auch zu einer ausgesprochen unguten kontrastiven Gegenüberstellung von ›Schwarz‹ und ›Weiß‹, wie sie ebenfalls für kolonialzeitliche Konstruktionen charakteristisch war (Ashcroft u.a. 2000: 24-25). Im binären Diskurssystem des Kolonialismus wurden afrikanische Menschen entweder als Kinder, die man erziehen, oder als verschlagene, hinterhältige, faule Wilde, die man bestrafen bzw. im Zaum halten muss, denunziert. Als gewollter Nebeneffekt dieser negativen Zuschreibungen an Afrika und seine Bevölkerung(en) schälte sich in der polarisierten Gegenüberstellung von ›Wildnis‹ und ›Zivilisation‹ dabei eine positive Identität der europäischen Protagonisten heraus:

12 So versucht etwa auch der ansonsten positiv gezeichnete Polizist, der aus dem Dorf stammt, in dem Ebbo eine Krankenstation betreibt, entgegen der Anweisung des Arztes eine Pistole mit ins Auto zu schmuggeln.



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So verbanden sich mit den ebenfalls pejorativ besetzten Begriffen ›Eingeborener‹, ›Schwarzer‹ oder ›Wilder‹ zeitgenössisch ganze Bedeutungsensembles, die zugleich auf ihren positiv besetzten Gegenbegriff – den weißen, zivilisierten, geschichtsmächtigen, europäischen Kulturmenschen – verwiesen, ja diesen überhaupt erst (mit-)produzierten (Brehl 2004b: 203).

Vor der kollektiven ›Schwäche‹ der ›schwarzen‹ Männer in Schlafkrankheit, insbesondere des schwulen Nzila, suggeriert auch Ebbos ›männliche‹ Stärke und Unabhängigkeit eine ›weiße‹ Überlegenheit, wie sie bereits im kolonialen Diskurs behauptet wurde. Europäische Diskurshoheit: Ausblenden afrikanischer Perspektiven Mit seiner Konzentration auf die Lebensumstände und Problematiken europäischer Expatriates in Kamerun gelingt Köhler einerseits eine ungewöhnlich intensive Annäherung an den afrikanischen Kontinent – jenseits der üblichen, exotistischen Klischees. Indem er die realen Schwierigkeiten des europäischen Lebens vor Ort in den Blick nimmt, folgt der Regisseur zudem einer aktuellen Tendenz der postkolonialen Auseinandersetzung. Nach der jahrzehntelangen Beschäftigung mit der (angeblich) »festgeschriebenen Dichotomie kolonialer Verhältnisse« (Holdenried 2016) steht nun eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem »Inszenierungsgehalt« der Selbstdarstellungen europäischer Überlegenheit und damit eine Fokussierung der eigenen ›Schwäche‹ auf der Agenda. Diese ist bei Köhlers Figur Ebbo Velten allerdings – anders etwa als in den von dem Anthropologen Johannes Fabian in Out of Our Minds (2000)13 herausgearbeiteten Beispielen – eine ausschließlich moralische und lässt seine Dominanz im beruflichen Umgang mit dem afrikanischen Alltag und seinen Menschen unbeeinträchtigt. Der beschriebene Kontrast zwischen ›starkem weißen Europäer‹ und ›schwachem, unzulänglichen Schwarzen‹ bleibt hier bestehen. In seiner vieldiskutierten Kritik an Heart of Darkness hat der Nigerianische Autor Chinua Achebe (1988: 12) Conrad vorgeworfen, Afrika in seiner Erzählung lediglich als »metaphysical battlefield« zu benutzen, als eine negative Folie der Geschichts- und Kulturlosigkeit, vor deren Hintergrund sich die Problematik

13 Dt. Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas. Aus dem Englischen v. Martin Pfeiffer. München 2001. Der Anthropologe Fabian kann mit seiner Publikation als Schlüsselfigur dieser neuen postkolonialen Schwerpunktsetzung betrachtet werden.



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des kulturellen Triebverzichts ›zivilisierter Europäer‹ umso deutlicher darstellen ließe. Eine komplette Reduktion Afrikas »to the role of props for the break-up of one petty European mind« (ebd.) kann Köhlers Film zwar nicht vorgeworfen werden, behandelt er doch durchaus aktuelle Probleme des Kontinents und seiner Bevölkerung. Allerdings wird auch in Schlafkrankheit den europäischen Charakteren deutlich mehr Raum gewährt als den afrikanischen Nebenfiguren, deren Perspektiven im gesamten Film ausgespart bleiben – einzig der von Ebbo der Faulheit beschuldigte Nachtwächter setzt sich selbst gegen die Fremdzuschreibung seines Arbeitgebers verteidigend zur Wehr.14 Abb. 6: Vera als Vermittlerin zwischen ›Europa‹ und ›Afrika‹ II

Die Verweigerung Köhlers, in paternalistischer Manier für die afrikanische Seite zu sprechen, ist einerseits anzuerkennen, gilt die Repräsentation fremdkultureller Positionen aus postkolonialem Blickwinkel doch als anmaßend und ist daher zunehmend verpönt (z.B. Holdenried 2014).15 Doch bleibt die Aussparung afrikanischer Perspektiven in Schlafkrankheit, die auch mit dem bewussten Verzicht des Utopischen zu tun haben mögen, der der Berliner Schule zugeschrieben wird (Suchsland o.J.), nicht ohne Konsequenzen für unsere Wahrnehmung: Die nega-

14 Er verteidigt sich gegenüber Ebbos Vorwurf, geschlafen zu haben, mit dem Hinweis: »Ich war hinten im Garten.« 15 Zur Zwickmühle, in der sich aufgrund eines fehlenden writing backs im deutschen Kontext gerade hiesige Kulturschaffende bei der Beschäftigung mit Afrika sehen, vgl. meinen Aufsatz »Intertextuelles Afrikanissimo« (Domdey 2009).



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tiven Zuschreibungen, die die ›schwarzen‹ Protagonisten in Köhlers Film erfahren, erfolgen zwar in der Regel durch den ›weißen‹ Ebbo und somit durch eine Figur, deren Autorität als moralische Instanz im Verlauf des Films immer stärker in Zweifel gezogen wird. Zusätzlich werden die negativen Zuweisungen punktuell auch durch das Verhalten Veras im ersten Teil von Schlafkrankheit infrage gestellt, die, wie bereits erwähnt, ihren Mann im Kontakt mit den Polizisten und dem Nachtwächter beschwichtigt. Andererseits bleiben uns die afrikanischen Charaktere aufgrund ihrer ›Randständigkeit‹ im Film so fern und erscheinen sie in der Konfrontation mit dem dominanten Ebbo als so ›schwach‹, dass eine Identifikation mit ihnen – bzw. der evtl. alternativen Position, für die sie stehen (könnten) – schwerlich zustande kommen kann. In der Folge ist es trotz seiner negativen Charakteranteile doch Ebbo, mit dem wir fühlen, für den wir uns interessieren – und den wir aufgrund seiner Furchtlosigkeit und Freiheitsliebe letztlich vielleicht doch (heimlich) bewundern. Zu einer solchen positiven Identifizierung mit dem bärbeißigen Arzt tragen nicht zuletzt verschiedene Szenen mit Vera bei, in denen Ebbo seine zärtliche Seite als liebender Mann offenbart oder uns in seinem emotionalen Dilemma berührt, wenn er bei der Entscheidung, in Afrika zu bleiben, am Telefon weint. Für andere TV- und Kinoproduktionen mit Afrikabezug wurde dieser Effekt bereits von Morrien und Struck beschrieben. Wird »ausschließlich der weißen Perspektive Raum gegeben« (Morrien 2012: 283), betonen sie, und bleiben die afrikanischen Figuren nicht viel mehr als »simply ›setting‹« (Struck 2010: 273), ist für die ZuschauerInnen keine ›emotionale Antwort‹ (ebd.: 270) möglich: »[N]one of the the three [African, J.D.] protagonists, in their statuary coolness, […] or helpless passivity,« analysiert Struck mit Blick auf ›schwarze‹, in Africa, mon amour gezeigte Opfer kolonialer Bestrafung, »can raise any deeper interest in his person or the specific role he plays in the scene. We cannot enter it by phantasmagoric identification or change from the role of touristic observer to participant.« (Ebd.: 271) Auch in Schlafkrankheit werden die ›schwarzen‹ Nebenfiguren von Köhler nur so kurz in den Fokus genommen, dass den ZuschauerInnen ihre individuellen Charakterzügen, persönlichen Entwicklungsgeschichten, ihre Gefühle und Gedanken, Nöte und Hoffnungen verschlossen bleiben – mit dem Effekt, dass wir ihnen gegenüber keine Empathie entwickeln (können). In der Folge stößt uns die Abwertung, die sie teilweise durch Ebbos Urteile erfahren, deutlich weniger auf, als wenn sie uns ausführlicher und weniger scherenschnittartig gezeichnet vorgestellt worden wären. Genau gegensätzlich verhält es sich mit der ausführlich porträtierten Hauptfigur: Obwohl der langjährige Entwicklungshelfer immer wieder auch als ruppiger und unsympathischer Charakter gezeigt wird, erfahren



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wir insgesamt genug über Ebbo, dass er sich uns als komplexer Mensch mit verschiedenen Facetten erschließt. In der Folge ›fühlen wir mit ihm‹, denn in seiner Vielschichtigkeit erscheint er uns ›menschlich‹ und daher vertraut. In seinem Bemühen um alternative Zugangsweisen ist Köhler mit Schlafkrankheit trotz der innovativen visuellen Annäherung an Afrika in meinen Augen somit ein widersprüchliches Ergebnis ›gelungen‹. Obwohl er es auf der Handlungsebene durch Veras Interventionen und ironische Übertreibungen zu verhindern sucht, scheint mir der Film mit Blick auf die Darstellung von und Repräsentationsmöglichkeiten für afrikanische Figuren in letzter Konsequenz nichtsdestotrotz zurückzukippen in »eine Fortschreibung kolonialer [Männlichkeits-; J.D.]Phantasien und weißer Selbstermächtigungsstrategien« (Morrien 2012: 253). Dies ist umso bedauerlicher, als für den im Kongo aufgewachsenen Köhler der Versuch einer Annäherung an ›schwarze‹ Perspektiven deutlich weniger problematisch ausfiele, als dies bei anderen europäischen Filmschaffenden ohne diese besondere Lebensgeschichte der Fall ist. Durch seine Zurückhaltung und konsequente Aussparung afrikanischer Blickwinkel aber produziert Schlafkrankheit nun geradezu eine Distanz und Fremdheit, die bei dem interkulturellen Erfahrungshintergrund des Regisseurs evtl. nicht nötig gewesen wäre.

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F ILMOGRAPHIE Schlafkrankheit (Komplizen Film u.a. 2011, Köhler, Ulrich, Deutschland/ Frankreich).





Fesselnde Blicke Funktionen visiotyper Repräsentationen von Albinismus M ETIN G ENÇ

I. In die Modelle rassifizierender Hegemonialstrukturen sticht der albinotische Körper1 buchstäblich ein wie ein Fremdkörper und sprengt dabei die Kategorien jener dichotomischen Alteritätssemantik, mit der Hautfarbe als ›rassisch‹, ›ethnisch‹ oder sozial hierarchisierte Wertigkeit organisiert und fortgeschrieben wird.2 Die Antwort des hegemonialen Diskurses auf die im ›schwarzen‹3 albino-

1

Wo immer im Folgenden das Wort »Albino« Verwendung findet, verweist es als Referenzpunkt strikt auf die Diskursfigur, die im Wesentlichen unter diesem Repräsentamen in die Signifikationspraxis Eingang gefunden und sich etabliert hat. Dagegen bezeichne ich die Individuen, deren genetische Disposition eine spezifische Form der Hypopigmentation auslöst, mit der vielfältige und unterschiedlich ausgeprägte Formen der Beeinträchtigung einhergehen können, im Folgenden als Personen mit Albinismus. Die somatische Disposition wird als »albinotisch« bezeichnet.

2

Als rassifizierend gelten alle Praktiken, mit denen die vorgeblich biologisch-evidente Kategorie ›Rasse‹/›race‹ als signifikant relevante Zuschreibungs-, Klassifikationsund Hierarchisierungsgröße in Anschlag gebracht wird, um die Markierung von inferioren bzw. superioren Subjektpositionen essentialistisch zu legitimieren (vgl. Goldberg 1990: 296).

3

Mit der Großschreibung des Adjektivs »Schwarz« wird einer diskursiven Bezeichnungspraxis Rechnung getragen, sofern damit eine emanzipatorische Selbstbezeichnungskategorie Verwendung finden soll. Auf die Kleinschreibung des Adjektivs in halben Anführungszeichen (›schwarz‹) greife ich dort zurück, wo es um die Kennzeichnung der hautfarbenbasierten Kollektivierung von Subjekten geht, die auch



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tischen Körper amalgamierenden vermeintlich ›weißen‹ und ›schwarzen‹ somatischen features besteht in der projektiven Zuschreibung rein heterotyper Merkmale, deren Summe keine Identifikations-, sondern eine fragmentierte Typisierungsfolie ergibt: »The apparently ›colourless‹ body of the albino is a contested space that has been claimed alternately as ›black‹ and as ›white‹, but which is consistently positioned in representation as ›other‹.« (Baker 2012: 143) Was hier bezüglich einer »chromatic ambivalence« (ebd.) des albinotischen Subjekts zur Sprache kommt, ist die irritierende Hybridität Schwarzer Personen mit Albinismus, deren pigmentokratische Verortung im Raster hautfarbensensitiver und rassifizierender Hierarchien die dichotomischen Schemata ›weiß‹/›schwarz‹ bzw. Identität/Differenz durchkreuzt und whiteness bzw. blackness als kulturelle Konstrukte ausweist.4 Umgekehrt erfährt der albinotische Körper nicht zuletzt aus

in Rassifizierungsprozessen zirkuliert und diese zugleich als diskriminierendes Handlungsmotiv antreibt. Für das Adjektiv »weiß« wird ebenfalls eine abweichende Großschreibung (Weiß) verwendet, allerdings geht es hier nicht um eine soziale/politische Emanzipationskategorie, sondern um eine dominante und zugleich prinzipiell unmarkierte Norm. In diesem Fall und im Gegensatz zum kapitalisierten Adjektiv Schwarz ist damit also die superiore Machtkategorie des Weißseins bezeichnet, wie sie die Critical Whiteness Studies unter die analytische Lupe nehmen (vgl. SeshadriCrooks 2000). Die Schreibweise mit halben Anführungszeichen (›weiß‹) hingegen zielt auf die Hervorhebung jenes biologistisch-deterministischen Konstruktionscharakters, in dessen Zuschreibungsmustern die Hautfarbe als wesentliches Merkmal für die Behauptung einer ›rassischen‹, ›ethnischen‹, kulturellen, sozialen oder zivilisatorischen Einheit von bestimmten, an ihrer Hautfarbe identifizierbaren Subjekten fungiert (vgl. Hall 1994: 135). Diese typographische Vorgehensweise findet auch bei Substantivierungen Verwendung, etwa, wenn vom devianten ›Weiß‹ albinotischer Körper die Rede ist. Ohne eine solche typographische Distanzierung läuft man Gefahr, die biologistische Konstruktion nach Hautfarben getrennter Subjektgruppen zu bestätigen – so, als gäbe es weiße, schwarze, rote, gelbe Menschen). 4

Das spiegelt sich z.B. in den Identitäts- und Exklusionserfahrungen afroamerikanischer Personen mit Albinismus in einigen black communities wider. Die in vielen dieser communities fortwährend stattfindenden Exklusionen werden zumeist damit legitimiert, dass Schwarzen Personen mit Albinismus die gruppenspezifisch-visuellen und zugleich sozialidentifikatorischen körperlichen Attribute »blackness« oder »color« fehlten. Eine eindrückliche Beschreibung dieses othering findet sich in Lee G. Edwards autobiographischem Bericht Too White to Be Black and Too Black to Be White (2011); eine literarische Verarbeitung versucht John Edgar Wideman in seinem komplex-ironischen Roman Sent for You Yesterday (1983).



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diesem Grund die paradoxe Markierung als (›farblos-transparente‹) notorisch unmarkierte Fläche, was ihn zum Einschreibungsobjekt durchgreifender Signifikationsprozesse macht (vgl. Benthien 2002: 168). Aus der Sicht somatisch differenzierender Binarismen kommt ihm deshalb die Rolle eines Repräsentanten des ›absolut Anderen‹ zu. Für rassifizierende Diskurse bedeutet der ›schwarze‹ albinotische Körper das Risiko einer Betriebsstörung, weil das embodiment von ›rassischer‹ oder ›ethnischer‹ Differenz nicht mehr mit den akuten und kutanen konventionellen Mitteln der Codierung von Eigenem (›weiß‹) und Fremdem (›schwarz‹) adressiert werden kann. Der dichotomisierende Blick, der auf den albinotischen Körper fällt, findet sich daher immer mit Unbestimmtheit konfrontiert – einer Unbestimmtheit, die die etablierten Bestimmungsmuster herausfordert und dabei organisierende Blickstrategien sogar noch verstärkt. Ich werde im Folgenden schlaglichtartig Stationen der semantischen und ikonographischen Verortung der Diskursfigur des Albinos fokussieren, um einige den Blick organisierende visiotype5 Muster seiner Repräsentation aufzuzeigen. Entscheidend für die hohe Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz gegenüber visiotypen Mustern insgesamt ist, dass sie auf standardisierte bzw. normalisierte Wahrnehmungsschemata zurückgreifen. Hinzu kommt, dass diese Schemata nicht nur Signalcharakter haben für eingespielte Erwartungs- und Rezeptionsstrukturen, sondern auch die dominanten Konstruktionen des »alltäglichen Erfahrungshorizont[s]« und des »öffentlichen Blick[s]« (Pörksen 1997: 196) als hegemoniale Diskursivierungen stabilisieren. Dadurch gewinnen Visiotype als eingespielte Relationierung höchst reduktiver, kommunikationseffizienter und bedeutungsproduktiver Repräsentationsstrukturen über das einzelne Symbolsystem hinaus an Bedeutung. Bedingung für das erfolgreiche Zirkulieren von Visiotypen insbesondere im Funktionsgedächtnis der Gesellschaft sind dabei die guten Aussichten auf hohen kommunikativen Gegenwert, den man ihnen als Form der – auch ökonomischen – Bedeutungsinvestition zukommen lässt. Ausgehend von der Annahme, dass »[t]he image is more powerful than what it is an image of« (Taussig 1993: 62), gilt es nachfolgend, diese Superiorität der Bilder in ihrer effektvollen Einsatzgrammatik lesbar zu machen, mit der sie in Weiterführung einer kolonialen Semiose ein vorfabriziertes Sehen konstituieren. Die Eckpfeiler

5

Der von Uwe Pörksen (1997) eingeführte Neologismus ›Visiotyp‹ verdankt sich dem bildsemiotischen Transfer des Begriffs ›Stereotyp‹ aus der Linguistik in die Sphäre audiovisueller Signifikationsperformative. Visiotype sind jene Produkte von Bezeichnungsprozessen, die als (bewegte) Bilder mit einem intensiven emotionalen Wirkungspotential angereichert sind und sich aufgrund einer relativ stabilen Konnotationsgeschichte durch visuelle Eindrücklichkeit auszeichnen.



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dieser Grammatik sind – das wird zu zeigen sein – das inferiorisierende Weiße Blickregime und die Instanz des normativen körperlosen transzendentalen ›weißen‹ Subjekts.

II. Eine der frühen Beschreibungen von ›nicht-weißen‹ Personen mit Albinismus findet sich in der von Johann Jakob Stapfer übersetzten und edierten Ausgabe der Briefe des Konquistadors Hernán Cortés. Wo Cortés lediglich »Männer, Frauen, und Kinder« beschreibt, »die am Leib, Gesicht, Haaren, Augenhaaren, und Augenbraunen [sic!] vollkommen weiß waren« (Cortés 1779: 139), 6 sieht sich der Herausgeber Stapfer veranlasst, die diskursive Verortung des Albinos mit einer editorischen Anmerkung in einer Fußnote nachzuliefern: »Solche weiße Negern findet man in Asia, Afrika und Amerika unter dem heissen Erdgürtel. In Afrika hiessen sie Dondos, in Asia Kaekerlakes. Ihre Farbe ist eine häßliche Blässe ohne einiges Incarnat fast so weiß wie Kreide; color deterrimus albo. Ihre Augen sind äusserst schwach […], des Nachts aber sehen sie so gut als Eulen« (ebd.). Stapfer komplementiert derart Cortés Eigenbeobachtungen mit mythischen Erzählungen der Indigenen über das vermeintlich übermenschliche Sensorium des »weiße[n] Neger[s]« und bedient somit ein hybrides Wissen aus Überlieferungen indigen-regionaler Mythen und kolonialen Mythologemen, dessen Fluchtlinien bis heute anschlussfähig geblieben sind. Zwei Aspekte sind dabei für die (weitere) Konstruktionshistorie des Albinos besonders relevant: Einerseits fällt dessen Verschränkung mit dem Tierreich über die Bezeichnung »Kaekerlakes«7 und die Analogie zur eulenhaften Sehkraft auf. Andererseits scheint es Stapfer wichtig, die Hautfarbe als absolut deviantes ›Weiß‹ (»deterrimus albo«) zu semantisieren. Hierunter fällt bereits der Vergleich mit der Kreide, der auf die vor allem während der Pest in Europa gängige Praxis des corpsepaint re-

6

Nach Cortés’ Beschreibung erfolgt die Unterbringung in einem Teil der Palastanlagen, in dem ansonsten seltene und kuriose – und damit symbolträchtige – Tiere untergebracht sind.

7

Die Bezeichnung »Kaekerlak« für Albinos geht wahrscheinlich zurück auf niederländische Kolonisierer im 16. Jahrhundert, die dunkelhäutige Personen mit Albinismus, auf die sie in den Kolonien trafen, aufgrund deren Lichtscheuheit und angeblichen Körpergeruch als »kakkerlak« (Schaben) bezeichneten (vgl. de Vries 1997: 296).



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feriert.8 Die ›ästhetisch‹ unzulängliche »häßliche Blässe« ist so gleichsam eine morbide Blässe, die in der kolonial-explorativen Praxis symbolischer Repräsentation des Anderen in den albinotischen Körper die Insignien des bizarren Grenzgängers zwischen Leben und Tod einschreibt und ihn damit der Exklusion unterwirft. Diese Be- und Einschreibungspraxis der Abweichung entspricht ganz den rassifizierenden Klassifikations- und Hierarchisierungspraktiken der aufklärerischen Episteme des 18. Jahrhunderts. In dieser epistemischen Phase verfestigt sich der Konnex von Wissensmacht und Rassendiskurs allmählich, und im Zuge eurozentrischer Aufklärungsprojekte evoluieren visuelle Wissenskulturen und moderne Rassentheorien nebeneinander und miteinander in einem ethnozentrischen und rassendistinktiven Setting (vgl. Stafford 1997; Stepan 1982: ix). Die diskursmächtige Systema Naturae (1735) des schwedischen Naturforschers Karl von Linné ist dabei eine oft bemühte Quelle für die Skalen und die Metrik der Rassenklassifikation, in der der ›Europäer‹ als ›weiß‹, sanguinisch und muskulös, der ›Afrikaner‹ als ›schwarz‹, phlegmatisch und schlaff indiziert wird – eine Metrik, die in Verschränkung geographischer und somatischer Hierarchisierung ›weiße Afrikaner‹ ebenso ausschließt wie ›schwarze Europäer‹. Ganz dieser Linné’schen Metrik folgend reproduziert Thomas Jefferson – einer der Gründerväter der USA – in seinen landeskundlichen Notes on the State of Virginia (1787) die Hierarchie zwischen »white« und »negroes«, sieht sich aber auch konfrontiert mit dem irritierenden ›Phänotyp‹ des ›white negro‹, den er merkmalssemantisch zu verorten sucht: To this catalogue of our indigenous animals I will add a short account of an anomaly of nature, taking place sometimes in the race of negroes brought from Africa, who, though black themselves, have in rare instances, white children, called Albinos. […] They are of a pallid cadaverous white, […] well formed, strong, healthy, perfect in their senses […]. (Jefferson 1787: 120)

Auch hier findet sich die Doppelsemantik von deviantem ›Weiß‹ und Mensch/Tier-Hybridität. Zum einen subsumiert Jefferson den ›white negro‹ unter die einheimische Tierwelt und verortet ihn auch durch das Attribut »perfect […] senses« fast übernatürlich.9 Zum anderen wird in diskursiver Konvention das ›Weiß‹ des albinotischen Körpers als deviantes, leichenhaftes ›Weiß‹ vom

8

Zum Zwecke der Desinfektion und Markierung von Pestleichen wurden diese mit Kreide oder Kalk bestreut (vgl. Schlenkrich 2005: 70).

9

Tatsächlich weist Jefferson dem albinotischen ›white negro‹ einen Platz hinter den Säugetieren und erst vor den Fischen und Insekten zu.



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sanguinischen ›Weiß‹ des Europäers/europäischen Nordamerikaners unterschieden. Da das albinotische ›Weiß‹ des ›white negro‹ auch hier den Index des Devianten führen soll, muss es diskursiv eine Signatur erhalten, mit der dezidiert die Differenz von unmarkiertem, normgerechtem ›Weiß‹ und markiertem deviantem ›Weiß‹ behauptet und in der Folge etabliert werden kann. Die Notwendigkeit einer solchen Markierung für die Stabilisierung der hautfarbenspezifischen Logik der Rassifizierung wird sofort augenfällig, wenn man bedenkt, welchen Akt der Unmöglichkeit es für ›weiße‹ Amerikaner darstellte, ›weiße‹ Sklaven zu kaufen oder zu ›beschäftigen‹.

III. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ergeben sich mit den Erkenntnissen aus der Hautforschung für die disziplinäre und populäre Diskursivierung des ›schwarzen‹ Albinos mitunter Supplementierungen der Wissensbestände, ohne dass dadurch die Devianzmarkierungen des Albinos obsolet wurden. So finden sich etwa in Pierer’s Universal-Lexikon von 1860 zwar ›gewissenhaft‹ die Erkenntnisse um die Existenz von Pigmentzellen eingearbeitet, die Lemmata »Albino« bzw. »Albinoismus« (Bd. 1, S. 268) aber bleiben leer bis auf die Querverweise auf die Lemmata »Kakerlak« bzw. »Kakerlakismus« (Bd. 9, S. 227), unter denen dann augenfällig Albinos weiterhin in einem semasiologischen Feld mit Schaben positioniert werden. Durch das Wegfallen des distinkten Lemmas »Albino« – stattdessen werden Homonym und Synonym diskursiv verschmolzen – kommt es zu einer semantischen Generalisierung der vorgeblichen Mensch/Tier-Hybridität. Und auch hier wird zusätzlich die Devianz des Albinos mithilfe der Kopplung von abweichender Hautfarbe und der Assoziation mit dem Bildfeld der Mortalität aktualisiert, etwa, wenn vom »leichenartig weißen […] Negerkakerlaken« (ebd.) die Rede ist. Albinismus bleibt ein Abweichungssymptom, das scheinbar nur an ›nicht-weißen‹ Menschen und Tieren beobachtbar ist und insbesondere als pathologisches Phänomen zur Bestätigung der Inferiorität des ›schwarzen‹ Körpers herangezogen wird. Die Erweiterung der Wissensbestände um Pigmentierung und Melaninsynthese prallt in der Folge weitgehend ab an den rassifizierenden Programmen der Spezialdiskurse, und sie verhindert auch nicht das große Interesse, mit dem vor allem der Populärdiskurs Personen mit Albinismus als Kuriositäten vorführt



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und als exotische Chimäre der Natur exkludierend vereinnahmt.10 Ausnehmend aufmerksamkeitsaffin sind die mythisch aufgeladenen und auf das Spektakuläre zielenden marginalisierenden Semantisierungen des Albinos insbesondere dort, wo sich phänotypische Abweichungen besonders offensichtlich in Szene setzen lassen: bei Schwarzen Personen mit Albinismus. Einerseits irritiert deren Körper die ›ethnische‹ bzw. ›rassische‹ Dichotomie ›weiß‹/›schwarz‹ und damit die Gleichung ›Afrika = ›schwarz‹‹. Andererseits kann ›weiße‹ Haut nicht mehr uneingeschränkt als somatisches feature hegemonialen Weißseins im Sinne einer sozialen Dominanzkategorie gelten. Um die Störpotentiale, die von dieser empirischen Hybridität ausgehen, abzufangen, konzentriert sich das Vor-AugenStellen dieser Hybridität auf die Zurschaustellung der ›rassischen‹ Sonderstellung des ›schwarzen‹ Albinos. In solchem Zurschaustellen manifestiert sich der Drang, die Ausweitung der machtspezifischen Privilegierung des Weißseins auf Schwarze Personen mit Albinismus zu blockieren. Und so werden in dem Maße, wie die Bewahrung der dichotomischen Ontologie von ›weiß/Europäer‹ und ›schwarz/Afrikaner‹ beim ›schwarzen‹ Albino sich nicht mehr auf den ersten Blick über die Hautfarbe repräsentiert findet, auf Fotografien und in Filmen jene physiognomisch visiotypen features hervorgehoben, die – anstelle der Haut – als Evidenz ›rassischer‹ Zugehörigkeit fungieren und die Orientierungslosigkeit des auf binäre Differenzmarker geeichten Weißen Blicks abfedern sollen: Die Inszenierung der ›ästhetischen Devianz‹ von Kopfform, von ›wollenem‹ Haar oder einer vorgeblichen Nasen- und Lippenphysiognomik und -pathognomik dienen genau diesem Zweck. Das Irritationspotential des ›schwarzen‹ Albinos für den Weißen Blick ergibt sich dabei vor allem aus der jenem diskursiv zugeschriebenen Verkörperung einer ›hypersichtbaren unbestimmten Andersheit‹, durch die die identitätskonstitutive chromatische Unterscheidung zwischen blickendem Weißen Selbst und erblicktem ›schwarzen‹ albinotischen Anderen zu kollabieren droht. Das Risiko dieses Kollapses triggert paradoxerweise auch jene ausgrenzende Faszination für das albinotische Individuum, aus der sich auch die Fetischisierung seines Körpers ergibt, insofern dieser quer steht zu Imaginationen

10 Die Formulierung läuft hier gezielt auf die Paradoxie einer Ausgrenzung bei gleichzeitiger Inklusion in den Bereich der aufmerksamkeitsaffinen Phänomene (›schwarze‹ Albinos) hinaus, denen gegenüber sich das ausgrenzende Subjekt auch ›wohlwollendinteressiert‹ verhalten kann. Dieses ›Wohlwollen‹ ist natürlich nicht frei von etwa romantisierenden oder mythisierenden Konstruktionen des Anderen im Fahrwasser der Signifikationsdominanz hegemonialer Weißer Diskurse.



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und Visualisierungen von Weißer Norm(alität) und ›schwarzer‹ Gegenpolarität.11 Rezente Formen solcher Faszinationsexklusionen, mit denen Personen mit Albinismus als enigmatische Mysterien repräsentiert werden, finden sich etwa in fiktionalen Filmen. Hier lässt sich synoptisch beobachten, dass Albinos fast ausschließlich nicht als komplexe Charaktere, sondern als typische symbolische Repräsentanten von Abnormität, Pathologischem und Delinquenz adressiert werden.12 Der albinotische Körper wird in solchen Typisierungen aufgeladen mit mythisch-monströsen Insignien, die als verschiedene somatisch rückgebundene Realisierungen von Negativität und Übernatürlichkeit semantischen Wert erhalten (vgl. Glebatis Perks 2008). Der Albino nimmt gewissermaßen Form an als fleischgewordene maligne Transzendenz. Er existiert jenseits sozialer, kultureller, individueller Konstellationen, aus deren Sicht er stets ein bedrohliches Außen darstellt. Wenn er Komplexität erfährt, dann fast ausschließlich im Rahmen seiner Spektakularisierung und der Trivialfantasien, die seine Codierung und seine Zeichenfunktion rahmend mitbestimmen. Dem Albino im populären Film zu begegnen heißt dann, den mannigfaltigen (Re-)Aktualisierungen jener Zuschreibungssysteme zu begegnen, von denen er ›seine‹ mythisch aufgeladenen, zumeist vor allem hochgradig inferioren Identitätsstrukturen eingeschrieben bekommt.13 Die Stigmatisierung des albinotischen Körpers als eine offensichtliche Extremform der Andersheit – in Kopplung mit Konnotationen des MythischMalignen – liest sich in solchen Filmen daher stets als Register gängiger Visio-

11 Schwarze Personen mit Albinismus wurden als ›zweifach Abnorme‹ häufig in den europäischen und nordamerikanischen ›Schauen‹ zurschaugestellt, was in einem zeitgenössischen satirischen Gedicht wie folgt angesprochen wird: »Zum Schluß, doch nicht zuletzt, kommt jener selt'ne Mohr, / Der seine Haut vertauscht dank überird’schen Künsten […]« (Barnum 1855: 27). 12 Meist haben die albinotischen Figuren nicht einmal individualisierende Namen und werden schlicht als »Albino« geführt; so etwa in Star Trek oder dem Blockbuster End of Days (1999). In Matrix Revolutions (1999) heißen die der Entkörperung fähigen albinotischen Figuren nur »Twins«. 13 Dort, wo die Figur des Albinos mit durchaus komplexen Individualitätsstrukturen ausgestattet ist, werden nicht dadurch schon die magisch-mythischen Transzendenzund Andersheitsmerkmale obsolet. So beherrscht etwa der albinotische Protagonist in der Disney-Produktion Powder (1995) das in-between zwischen Menschen und Tieren (er kann z.B. Menschen das Leiden der Tiere ›vermitteln‹) und besitzt die Fähigkeit, Tote wieder zum Leben zu erwecken, was ihn zu einem intermediär-metaphysischen Wesen macht.



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typen und der in ihnen zum Zuge kommenden Formen der (fiktionalen) Entsubjektivierung. Das albinotische Nicht-Subjekt wird dadurch zum absoluten – weil nicht der Einfühlung zugänglichen – Anderen. Seine visuelle Attribuierung als hypersichtbarer transzendenter Anderer schreibt letztlich die diskriminierenden Wiedererkennungsstrukturen fort, wie sie in Repräsentationen des Albinos bereits kanonischen Wert zu haben scheinen. Die populär-visuelle Diskursivierung von Schwarzen Personen mit Albinismus ergänzt diese Visitiotypen um rassifizierende Elemente. So springt dem Zuschauer im blaxploitation-Horrorfilm Dr. Black, Mr. Hyde (1976) unweigerlich das Spezifikum des Visiotyps ›albinotischer‹ Bedrohung ins Auge: Die Einnahme eines selbstentwickelten Serums verwandelt den afroamerikanischen Arzt Dr. Pryde in ein monströses, wahnsinniges, blasses Ungetüm, das die Merkmale des Albinismus deutlich zur Schau stellt und nach einer langen Mordserie an Afroamerikanern letztlich – in Mensch/Tier-hybrider Anlehnung an den Filmaffen King Kong – angeschossen von einem Hochhaus in den Tod stürzt. Dass Prydes Umwandlung nicht in einen hegemonialen ›weißen‹ Körper stattfindet, sondern seine Metamorphose in Richtung der malignen Devianzstruktur eines ›schwarzen‹ Albinos verläuft, der es auf Schwarze abgesehen hat, und dass mit dem Serum versorgte ›schwarze‹ Patienten das ›weiße‹ Krankenhauspersonal attackieren, untermauert letztlich die kreatürliche Andersheit des albinotischen Körpers als Visiotyp einer multiversalen Differenz. Multiversal ist die somatische bzw. psychische Differenz deshalb, weil sich ihre destruktive Heterogenität ›weiße‹ wie ›schwarze‹ Subjekte zum Ziel nimmt.





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Abb. 1 und 2: Während Mr. Hyde/Mr. White Schwarze attackiert und tötet, richtet sich die Mordlust einer mit dem Serum kontaminierten ›schwarzen‹ Patientin gegen eine ›Weiße‹. Der ›schwarze‹ Albino repräsentiert in dieser Doppelaggression die Denkfigur eines nicht in dermal-identitäre Kategorien integrierbaren zerstörerischen Dritten







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Eine Steigerung der Devianzpotentiale des ›schwarzen‹ Albinos findet sich in Jürgen Goslars Film Der flüsternde Tod (1976).14 In diesem international erfolgreichen Streifen fungiert der ›schwarze‹ albinotische Antagonist als Anführer einer Gruppe ›schwarzer‹ marodierender Outlaws im kolonialen Rhodesien (heute Zimbabwe) der 1960er Jahre. Sein protagonistischer Gegenspieler auf der Seite der Kolonisierer ist der ›weiße‹ britische Offizier Terrick, dessen Frau er brutal vergewaltigt und ermordet – was wiederum die Parallelisierung von Sexualität und maligner Devianz in der Figur des Albinos aktualisiert.15 Auch wenn der Plot des Films Phasen vorsieht, in denen die psychisch-identitäre Zerrissenheit des Albinos im ›weiß‹/›schwarz‹-Bias wie auch seine empirische Hybridität als ›Schreckbild‹ einer dichotomischen Rassenideologie das Narrativ mitbestimmen, so bleibt die Strahlkraft dieser Reflexionen weit hinter der Intensität der visiotypen Anderheitskonstruktion zurück, die den albinotischen Körper und dessen malign-metaphysische Kreatürlichkeit zu einem hochpejorativen Heterovisiotyp verschränken. In dem Grad, in dem die Figur des ›schwarzen‹ Albinos als Repräsentant des Bedrohlichen und Absolut-Fremden vorgeführt wird, dient sie auch der Reifizierung der Entsubjektivierung des Schwarzen albinotischen Menschen und stabilisiert ihn visiotyp als »freakish symbol of abnormality«

14 International wurde der Film unter den Titeln Albino, Whispering Death und Night of the Askari vermarktet. 15 Häufig sind Albinos verkörperte Kulminationen sadistischer Sexualität bzw. sexualisierter Grausamkeit, wie z.B. im deutschen Exploitationfilm Hexen bis aufs Blut gequält (1969), dessen zentraler sadistischer Antagonist den ›Namen‹ »Albino« führt.



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(Robertson 2006: 2) und hybriden Störfaktor, für den das fiktionale Setting letztlich die Aussonderung durch Tod vorsieht. Abb. 3: ›Weißer‹ Schauspieler, ›schwarze‹ Figur – albinotisch-physiognomische Doppeldevianz durch dermales whiteface und physiognomisches blackface





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Abb. 4: Das Filmplakat beschwört durch muskelzentrierte Körperästhetik und ›wollenes‹ Haar die Signaturen ›schwarzer‹ albinotischer Bedrohung der ›weißen‹ Frau

IV. In einer massenmedial organisierten visual culture sind für den Weltmarkt der Bilder (Pörksen 1997) konzipierte Visiotype und insbesondere Heterovisiotype in weit stärkerem Maß Effekt Nonfiktionaler Filme (Nachrichtenbeiträge, Reportagen, Dokumentarfilme), weil diese für die Prägung und Gültigkeit blickgesteuerten Zugriffs auf ›Realität‹ maßgebend sind.16 Innerhalb der Gruppe Nonfiktio-

16 Ich folge dem Vorschlag Thorolf Lipps und subsumiere unter die Gattungsbezeichnung ›Nonfiktionaler Film‹ »alle diejenigen filmischen Formen […], die den […] genannten Kriterien im Wesentlichen entsprechen: Ein deutlicher Bezug zur historischen Realität muss erkennbar sein, es werden keine Berufsschauspieler eingesetzt. Darunter fallen demnach alle Typen des Fernsehdokumentarismus. Vor allem Dokumentationen oder Features, aber auch das sogenannte Dokutainment. Bestimmte Arten des Fernsehjournalismus zähle[n] […] ebenfalls zu den Nonfiktionalen Filmen,



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naler Filme gilt dabei das Genre des documentary aufgrund seiner Popularität mittlerweile als »Grundform des Fernsehdokumentarismus« (Lipp 2012: 78). Die Popularität dieser medialen Form weist dem Genre eine enorme symbolische Macht zu, die es aufgrund seiner ökonomischen Viabilität zu einem Medium verkannter und damit akzeptierter symbolischer Herrschaftsverhältnisse macht 17 – auch für rassifizierende und verandernde Symbolisierungen. 18 Bezeichnend für dieses Genre ist die triadische Synthese aus linearer Narration, eingängigem und erwartungskonformem Sprecherkommentar aus dem off und besonders einprägsamem Bildmaterial. 19 Im daraus amalgamierten fernsehdokumentarischen Kommunikat steht dann überwiegend die narrative Kommentarkomponente des Films im Vordergrund, die zumeist von einer eindringlichen, sonoren, männlichen Stimme realisiert wird und einen auktorialen und omniszienten Beobachter suggeriert. Dem Sprecher – als unsichtbarer Komplex aus Stimme und Text – kommt die Funktion zu, das gemäß einem Drehbuch/einer Story gefilmte und geschnittene Material in einen übergreifenden, auf Kohärenz

also Nachrichten- und Magazinbeiträge oder Reportagen« (Lipp 2012: 29). Die Phänotypen der Gattung der Nonfiktionalen Filme erzeugen eine »transzendentale Illusion« unmittelbar erfahrbarer bzw. standpunktunabhängiger Realität, die »durch sie für andere als Realität erscheint.« (Luhmann 1996: 14). Sie bleiben zudem aufgrund ihrer Informationsdominanz »auch dann stabil […], wenn ihre Genetik und ihre Funktionsweise aufgedeckt sind« (ebd.: 10). Nonfiktionale Filme sind dennoch stets bemüht, zu verschleiern, dass sie an ideologisch und machtspezifisch konturierten Formen symbolischer Gewalt und Herrschaft partizipieren. So wird etwa die Indexikalität der verwendeten Bilder hervorgehoben, um von deren Selektivität und Komponiertheit abzulenken. 17 Dies zu betonen ist deshalb wichtig, weil audiovisuell formierte Nachrichten, Reportagen und Dokumentationen immer auch im System der Massenmedien gehandelte Waren mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit des Absatzerfolgs sind. Die Wahrscheinlichkeit ihrer Produktion ist wechselwirkend gekoppelt an die Wahrscheinlichkeit, mit der ihre visiotypen Strukturen von Rezipienten goutiert werden. 18 Vgl. insgesamt zu den nachrichtensystemimmanenten und akteurspezifischen rassifizierenden Strukturen in der ethnographierenden Fernsehberichterstattung am Beispiel des Referenten ›Afrika‹ die umfang- und detailreiche Studie Journalisten der Finsternis von Lutz Mükke (2009). 19 Auffällig ist die diegetisch strikte Struktur, die sich nicht nach den Sehkonstellationen vor Ort richtet und Ereignisse vor der Kamera aufnimmt, sondern gezielt Ereignisse filmt und in Richtung des interpretierenden Blicks des Fernsehzuschauers hin arrangiert, kommentiert und semantisiert.



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verpflichteten narrativen Zusammenhang zu bringen. Durch seine visuelle Absenz agiert der Sprecher als körperlose Komplementierungs- bzw. Supplementierungsinstanz, auf die die Wahrnehmung der Zuschauer stets rückgebogen wird, insofern jener für alle Filminhalte den semantischen und repräsentationalen Symbolwert festzulegen sucht. Anhand dieser features bietet es sich an, den Sprecher als transzendentales Subjekt zu begreifen, dessen empirische Verstrickung in machtstrukturelle Bedeutungsgewebe durch die Taktik der Entkörperung verdeckt gehalten werden soll. Denn der wahrnehmungsspezifischrhetorische Mehrwert eines solchen unsichtbaren und mit Blickkompetenz und Wissensautorität ausgestatteten Superbeobachters liegt gerade darin, die Komplexität der Praktiken und der Akteursinteressen hinter der Kamera (Regisseure, Produzenten, Redakteure, Medienkonzerne) zu verschleiern. Dieser Vorgehensweise liegt die Motivation zugrunde, im Verbund mit der persuasiven Bildrhetorik Filmbilder und Sprecherkommentar zu allgemeingültigen, interpretationsindifferenten und diskursimmunen Signifikations- und Symbolisierungsakten zu erheben. 20 Inwiefern das transzendentale Sprechersubjekt und die persuasivmimetischen Blickstrategien in documentaries heterovisiotype Differenzkonstruktionen organisieren, wenn es um das Ins-Bild-Setzen von Schwarzen Personen mit Albinismus in einem ›schwarzafrikanischen‹ Setting geht, soll im Folgenden anhand einer exemplarischen Synopse gezeigt werden.

V. Die gesellschaftliche Exklusion von Schwarzen Personen mit Albinismus hat in vielen Regionen Afrikas eine lange Geschichte. Die körperliche Disposition des Albinismus gilt bis heute vor allem in den tribal trust lands in Tansania, Südafrika, Zimbabwe oder Malawi als Zeichen einer mythisch-magischen Beschaffenheit des Körpers, teils auch als Signal für eine maligne Psyche. Solche Vorstellungen halten sich hartnäckig gegen Aufklärungskampagnen, mit denen staatliche Institutionen und nichtstaatliche Organisationen die Ursachen der Disposition zu vermitteln suchen und um den Abbau von Mythen bemüht sind.21

20 Prominentestes deutsches Beispiel einer solchen transzendentalen Hypostasierung sind Kommentar und Stimmeinsatz in den von Guido Knopp äußerst erfolgreich vermarkteten documentaries über den Nationalsozialismus. 21 So kursiert etwa der Glaube, Albinismus sei todbringend und ansteckend, weshalb es zu massiven Exklusionen vor allem der Kinder mit Albinismus vom sozialen Umfeld kommt. (vgl. Nyathi u.a. 2010: 174-176).



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Die intensive massenmediale Berichterstattung über die Lebenssituation von Schwarzen Personen mit Albinismus in diesen Regionen setzt jedoch erst ein mit der seit 2005 beobachtbaren Veränderung der Formen und des Ausmaßes der Übergriffe auf Personen mit Albinismus – so wurden etwa in Tansania allein in den Jahren 2006/07 über 40 Morde an Personen mit Albinismus registriert. 22 Entsprechend ist insbesondere die Situation der Personen mit Albinismus in Tansania Thema von documentaries wie Albino Island (2009), Albino Killings in Africa (2009) oder African Albino (2014). Die genannten Filme beziehen aus der Darstellung der existenziellen Bedrohung der verfolgten Personen mit Albinismus einen moralisch verbrieften Standpunkt, aus dem heraus Bilder, Interviews und Sprecherkommentar – unter Ausblendung der komplexen kulturellen Konstellationen in der contact zone – zu einer Re-Inszenierung kolonialer Raumphantasien verdichtet werden. Diegetisch besonders eindrücklich wird dies in Albino Island umgesetzt. Der Film begleitet – wie bereits der master shot23 versichert – einen amerikanischen Biogenetiker »on the other side of the world« bei der Akquise von Genmaterial zur Evaluation der Hypothese, Albinismus sei »the key to fight lepracy« (Peppiatt 2009: TC 00:00:28-00:00:59). Die Bewegungen des ›weißen‹ Subjekts in der contact zone werden zunächst als »journey«, dann als »quest« etikettiert, in deren Verlauf der Forscher »has to enter a dark world of witchcraft«. Damit liegt dem Film bereits von der ersten Einstellung an ein Erzählmuster zugrunde, das über die identifikatorische Sympathie mit den Verfolgten hinausgeht und eine Dramaturgie des re-enactment kolonialer Phantasmagorien vollzieht. Das narrative Setting folgt dabei den traditionellen Vorgaben populärer Epistemologie, wie sie für koloniale Dokumentarfilme konstitutiv sind: Es wird geographisch erkundet; das Zeigen von europäischen (Zivilisierungs-)Projekten ist storybildend; das Ganze wird getragen von der mise-en-scène wissenschaftlicher Feldforschung und der abenteuerlich gerahmten Erkundung des Neuen im Rahmen eines aufklärerischen Projekts der Eliminierung ›weißer Flecken‹ auf der Land-

22 Die intensivierte Fetischisierung des albinotischen Körpers ergibt sich vor allem aufgrund der insbesondere von Zauberern/Hexern und Heilern fortwährend kolportierten, angeblichen heilenden und glückbringenden Kraft von albinotischen Körperteilen. (vgl. Bryceson u.a. 2010: 359, 379f.) 23 Als master shot gilt im documentary die zu Beginn des Films vorgenommene resümierende Vorwegnahme von besonders eindrücklichen Bildern bzw. Schlüsselszenen und für die Dramaturgie essentiellen Elementen, die herausgegriffen und unter einem besonders emotional-eindrücklichen Kommentar des Sprechers als Brückenköpfe in das Thema des Films arrangiert werden.



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karte (terra incognita). Insofern zielt das Setting auf die Transmission des Nervenkitzels einer Selbstgefährdung des ›weißen‹ Subjekts durch den schieren Eintritt in den bedrohlichen ›dunklen‹ Raum (vgl. Bloom 2008: 102). Das affiziert auch den Zuschauer, denn mit dem Forscher tritt auch die Kamera als Repräsentant des Zuschauers vor dem Bildschirm in die Zone existenzieller Bedrohung ein. Entscheidend ist hierbei, dass die Bedrohungssituation der Personen mit Albinismus verschränkt wird mit der imaginierten und phantasmagorierten Bedrohungssituation des ›weißen‹ Beobachters.24 Für die dermale Solidarisierung mit den Schwarzen Personen mit Albinismus spielen insofern historische, kulturelle und Präsentationskontexte keine Rolle, und zwar solange, als es um die Behauptung der unikoloren Leidgenossenschaft von Personen mit Albinismus und ›Weißen‹ geht. Diese veranschlagte dermale Indifferenz wird nicht nur durch den Sprecher wiederholt aufgerufen, sie wird auch mehrmals durch cross cuts von ›weißem‹ Wissenschaftler und Schwarzen Personen mit Albinismus einerseits und ›schwarzen‹ Schwarzen andererseits illustriert, was die Assoziationsmuster bikolorer Differenz aufruft und als Unterscheidungsdual für hautfarbensensitive Identifikationspotentiale optiert. Der Kommentar der transzendentalen Subjektstimme im Film erfährt damit eine dermale Attribuierung, durch die die extradiegetische körperlose Stimme als machtspezifisch normativ Weiß und dermal ›weiß‹ ausgewiesen wird und hegemoniale Wirkmächtigkeit beansprucht.25 Das albinotische Subjekt wird durch diese Bildkonstellationen instrumentalisiert als gefährdeter empirischer ›weißer‹ Repräsentant des immer schon durch den ›Schwarzen‹ gefährdeten transzendentalen ›weißen‹ Subjekts. Umgekehrt wird die visuelle Taktik der metaphorischen Montage von ›weißen‹

24 Die historischen Traditionslinien solcher Imaginationen lassen sich im Falle filmmedialer Repräsentationen Afrikas bis in die Frühzeit des dokumentarischen Films zurückverfolgen. Zu denken ist etwa an Filme wie Le Continent mysterieux (1924), La Magie Noire (1926), L’Afrique indomptée (1930) oder Chez les mangeurs d’hommes (1928). 25 Weiß ist die Stimme in zweifacher Hinsicht: Einerseits weist sie sich durch die pejorative Beschreibung dunkler Attribute, ›Phänomene‹ und Personen als nicht nicht›weiß‹ aus. Andererseits ist sie aufgrund der Normkonstitution, die sie aus dem Unsichtbaren heraus leistet, als Weiß im Sinne von Weißsein identifizierbar. Nach Richard Dyer muss dieses ›Weiß‹ »be seen to be white, yet whiteness as race resides in invisible properties and whiteness as power is maintained by being unseen.« Daraus folgt, dass »true whiteness resides in the non-corporeal. Whiteness is the sign that makes white people visible as white, while simultaneously signifying the true character of white people, which is invisible.« (Dyer 1997: 45)



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und ›schwarzen‹ Gesichtern in ihrer Affektdramaturgie durch den Sprecherkommentar ko-konstituiert, mit dem Effekt, dass die metaphorisch geschnittenen Bildfelder immer auch im sprachlichen Narrativ des überlagernden Kommentars emblematisch entmetaphorisiert werden. Der Sprecher erläutert die Bildsprache nicht nur wie die subsriptio die pictura, er reguliert darüber hinaus die Vorstellungen von ›Afrika‹, ›Nacht‹ und ›Gefahr‹ als Bildspender zu synonymen Sammelbegriffen, die isotopisch miteinander verschränkt werden. Während ›weiß‹ die Farbe der Bedrohten ist, gerät ›schwarz‹ zur Chiffre für das Bedrohliche und Gefährdende. Der offensichtliche Kunstgriff der Amalgamierung von Dunkelheit, Terror und ›schwarzer‹ Hautfarbe mittels der medialen Möglichkeiten des Films scheint den Filmemachern gedeckt durch das Rezipientenvertrauen in die angebliche Selbstevidenz der vermeintlichen Neutralität, Transparenz und Objektivität des ›dokumentierenden‹ Blicks. Das narrative Setting der Filme schafft die Indifferenz des albinotischen und transzendentalen ›Weiß‹ mithilfe der Abgrenzung vom visuell und sprachlich markierten, phänotypisch nicht-›weißen‹ Subjekt. Die Filme greifen damit auf ein dermal-rassifizierendes Schema zurück und klammern gerade die »enigmatic location of white skin on ›black‹ features« (Baker 2012: 146) gezielt aus. Die stark pejorative und heterovisiotype Darstellung von Schwarzen Personen in den Filmen trägt dabei Züge jenes »narcisstic colonialist desire for whiteness« (Martin 2002: 6), welches das albinotische Subjekt auf die eigene Seite zu ziehen sucht, um das manichäische Menschenbild weiter behaupten und im nächsten Schritt die ›Möglichkeit‹ eines ›Weißwerdens‹ des ›schwarzen‹ Kontinents ins Bild setzen zu können. Die Typik des ›schwarzen‹ Antagonisten inszenieren die Filme zumeist über Szenarien, die eine in der Dunkelheit kaum wahrnehmbare Gestalt zeigen. Der Topos vom ›Schwarzen‹, der mit der Nacht verschmilzt und Afrika so als permanenten Bedrohungsraum konstituiert, belebt die Assoziationsschleifen, mit denen der Konnex von Nicht-Weißsein und Devianz geschnürt wird. Die Filme verlieren ihr zentrales Thema dort aus dem Auge, wo sie sich dezidiert um diese Stilisierung des Schwarzen Subjekts als aisthetischer und narrativer Antagonist kümmern und diesen als ›zoomorphen Agenten‹ des »Herzens der Finsternis« in Szene setzen.26 Dass der ›schwarze‹ Körper mit der Natur ver-

26 Mit dem Begriff Zoomorphismus werden menschliche Tierwerdungen bezeichnet, wie sie Mythen (Zentauren), Filme (Werwolf), Literatur (Ovids Metamorphosen) und Comics (Animal Man, Cat Woman) bevölkern. Ein erotisch aufgeladener Zoomorphismus kolonial-verandernden Typs findet sich etwa in der Animalisierung Josephine Bakers in Marc Allégrets Film Zou Zou (1934) in jener berühmten Einstellung, in der Baker als quasi nackter ‚Vogel‘ in einem Käfig präsentiert wird und ihre Stimme



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schmilzt bzw. wieder in sie abtauchen kann, wird – so die Bildrhetorik – durch die Similarität von dunkler Nacht/Natur und ›schwarzer‹ Haut ›bezeugt‹, eine Similarität, die mit den Mitteln der Lichtsaturierung technisch erzeugt wird.27 Die ›schwarzen‹ Körper sind daher auch nicht Körper von Personen, sondern je nach diskursiver Formationslage Codierungen, Repräsentationen, Chiffren, Agenten oder allegorisierte Miniaturen eines (›schwarzen‹) ›Gesamtkörpers‹ Afrika. Das läuft aus der Perspektive des transzendentalen Weißen Subjekts auf die Aktualisierung eingespielter Imaginationen des ›Schwarzen‹ als minderwertigem Proto-Subjekt hinaus (Bhabha 2000: 121). 28 Dass in den einschlägigen Nachtszenen dennoch die Umrisse dieser ›schwarzen‹ Subjekte sichtbar bleiben, entzieht diese der Absenz und ermöglicht durch dieses Vor-Augen-Stellen wiederum, Unsichtbarkeit exklusiv für das transzendentale Weiße Subjekt zu reklamieren. In dessen Namen werden die komplexen local histories der Verfolgung der Personen mit Albinismus transformiert gemäß dem global design der Anforderungen an den ›westlichen‹ Zuschauer und dessen mediengeographische Sozialisation. Allerdings kündigen die Filme die dermale Gruppierung von Personen mit Albinismus und transzendentalem Weißen Subjekt auch wieder auf. Dies ge-

Vogelgesang mimt. Im kolonialen Kontext haben insbesondere Vorstellungen von der Bestialität des kolonisierten ›Schwarzen‹ intensive Zirkulation erfahren (vgl. Bartosch 2013: 189). 27 Die Funktion dieses Narrativs vom chthonisch-gewalttätigen Naturmenschen besteht zudem darin, Gewalt als soziale Wirklichkeit einer historisch-vormodernen Beschaffenheit von Kulturen zu bestimmen (Temporalisierung) bzw. Gewalt als typischen Wesenszug einer geographischen ›Parzelle‹ auszulagern (Spatialisierung) (vgl. Reemtsma 2006: 7). ›Afrika‹ ist ein reliable signifier für das Amalgamieren von Temporalisierung und Spatialisierung der Gewalt. Solche irrwitzigen aber nichtsdestotrotz mainstreamfähigen Reduktionen werden oftmals nicht erst im Film diegetisch entfaltet, sondern rhematisch bereits im Titel verankert, wie etwa in der Produktion African Albino (2014), die gleichfalls vorgibt, für den gesamten afrikanischen Kontinent repräsentative soziale Konstellationen zu dokumentieren und mitzuteilen. Gemäß dieser »epistemology of ignorance« (Mills 1997: 18) gerät die Berichterstattung über die grausamen Ereignisse in Tansania zum reenactment der Phantasmagorie eines ›dunklen Kontinents‹, für den Zivilisation, Humanität und soziale Interaktionsformen jenseits von Ausgrenzung und Gewalt scheinbar Marginalien sind. 28 Wer die paternalistische Diegese der Filme ernst nimmt, landet früher oder später bei Legitimierungen des Kolonialismus ex post – zumindest in seiner vorgeblichen Ausprägung als ›Zivilisierungsprojekt‹.



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schieht vor allem über Blickintensitäten und die damit verbundenen Formen der Markierung von Abweichung. So dienen sehr viele Einstellungen dem VorAugen-Stellen der verletzten und verstümmelten albinotischen Körper; häufig werden die Wunden und Narben gar mit der Kamera in langsamer Fahrt nachgezeichnet, bemüht sich die Blickpraktik um die Übersetzung von Visualität in Tatktilität. Der rührende Blick des Mediums Kamera wird so als buchstäbliche extension of man (vgl. McLuhan 2002) zum berührenden und tastenden Vermessungsinstrument. In African Albinos gerät die Vermessung gar zum Starren der Kamera auf die vollständig nackten Körper sichtlich irritiert zitternder Schwarzer Kinder mit Albinismus (Avilov 2014: TC 00:20:35-00:21:00).29 Die Optik lädt die geringe Schutzfähigkeit der albinotischen Haut gegen das Licht der Sonne symbolisch auf mit Assoziationen von Transparenz und dem Repräsentationsdrang visueller Oberflächenpolitik. Die verstörenden Bilder der Gewalt gegen Personen mit Albinismus überlappen so mit der Kartographierung und Spektakularisierung albinotischer Körper. Man kann diese Obsession für Spektakularisierung aus psychoanalytischer Perspektive in eine Dialektik der Phänomenologie der Entblößung objektivierter Körper einordnen. Die Expressivität der verstümmelten Körper mag den Zuschauern im Akt der Erfüllung ihrer Erwartungsstrukturen als Signum der Authentizität der stattgefundenen und stattfindenden Gewalt dienen. Als filmrhetorisches Mittel der Repräsentation von Schutzlosigkeit und Verletzbarkeit aber gerät diese Fokussierung auf den nackten und ›geöffneten‹ albinotischen Körper zur metaphorischen Parallelisierung von Pigmentabsenz und Schutzlosigkeit – schutzlos auch vor den melaninfixierten Blicken des chromatisch interessierten transzendentalen Weißen Subjekts. Aber sie ist im selben Maße, wie sie den (stillschweigend zwischen Produzent und Rezipient austarierten) Anforderungen an eine Rhetorik des Realen Genüge leistet, auch in eine entsubjektivierende Rhetorik des Offensichtlichen eingebunden. Denn der (teils subkutane) Blick auf den albinotischen Körper setzt den »historically conditional body of a social actor and the ahistorical icon or fetish of a mythic persona« (Nichols 1993: 185) in eine sakralisierende Klammer, so dass der den grausamen Übergriffen ausgesetzte Körper im Auge der Kamera ein psychisches Objekt und genauer: ein Objekt des Begehrens darstellt. Nicht nur der ›dunkle‹ Kontinent, sondern auch die albinotischen Körper geraten so zum visuell begehrten »object of study and spectacle« (Shohat/Stam 1994: 148). Dies wird sprach- und bildnarrativ so vermittelt, als sei der Wechsel zwischen sozialem Akteur (Individuum) und Be-

29 Beim Filmen ›weißer‹ albinotischer Kinder hingegen werden diese Formen der Körpervermessung gezielt vermieden – wie etwa in Albino Island.



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trachterobjekt (Fetisch) kein kategorialer Registerwechsel, sondern lediglich eine registerinterne Intensivierung des Blicks auf das Individuum. Das Begehren, das die Filme derart bedienen, artikuliert sich als Subtext unterhalb der vordergründigen Evokation von Schrecken und Mitgefühl angesichts der extremen Manifestationen brutaler körperlicher Gewalt. So bleibt das Begehren visuell aktualisierbar. Zugleich wird das Begehren legitimiert über eine Bildlogik, die den beharrenden und durchdringenden Blick als privilegierten Wissensmodus zur Verortung des medial vermessenen Anderen etikettiert. Die Funktion des Albinokörpers für die Konstruktion von ›weißer‹ und ›schwarzer‹ Identität muss ambivalent ausfallen, um das transgressive Potential, das der albinotische Körper im Diskurs entfaltet, abzublenden und einer kolonial-explorativen Praxis symbolischer Repräsentation zu unterwerfen. Diese Subordination ruft nicht nur den Topos eines in seiner Haut gefangenen Subjekts auf, sondern zielt darauf ab, die Insistenz »signifikatorischer und repräsentationaler Unentscheidbarkeit« (Bhabha 2000: 65) angesichts Schwarzer Personen mit Albinismus zu negieren und den albinotischen Körper durch das voyeuristische Starren zu einem reliable signifier von Andersheit zu stilisieren. Solche voyeuristischen Akte des Stillstellens arbeiten auch auf eine Verdoppelung des Unheimlichen durch ein gleichsam fast heimliches Begehren auf das somatisch different Markierte hin (vgl. Wolter 2001: 35). Umgekehrt wird der albinotische Körper zum Initialpunkt und Austragungsort der Rückversicherung einer transzendentalen Weißen Normativität, die als master signifier die manichäische dermale Ordnung wie auch das aus der Ordnung Fallende mit Signifikationsmanie bedrängt. Zwar spielen die Filme durchaus auf den eutopischen Entwurf einer Indifferenz aller Menschen jenseits somatischer Unterscheidungen an, aber sie aktualisieren dabei die rassifizierende Exklusionsmatrix, die dadurch als Effekt eines sich auf rassifizierte Subjektpositionen berufenden Ausgrenzungsschematismus virulent bleibt. Albino Killings in Africa etwa zeigt in der vorletzten Einstellung die Rede des ›weißen‹ Vorsitzenden von NOAH30 vor den Vereinten Nationen, so dass der Zuschauer dessen Forderung an die tansanische Regierung nach »racial equality« als Fürsprache für die »african albinos« (Nielsen/Folsach 2009: TC 00:50:54) wie einen Epilog wahrnimmt. Entscheidend ist, dass der Wunsch nach racial equality zusammenfällt mit dem making up von ›race‹ aus einer hegemonialen Perspektive und mittels der geographischen Gruppierung (»african«), mit dem der eigene Aussagestandpunkt als ›weiße‹/Weiße Subjektpositi-

30 NOAH ist ein nordamerikanisches Informationsnetzwerk, das Aufklärungsarbeit zu Albinismus leistet und koordiniert.



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on markiert wird. Wo die konventionelle Unterscheidung und Klassifikation nach dermalen Erscheinungsformen nicht reibungslos funktioniert, zitiert der Film wieder die biologistisch-ethnische Kategorie ›race‹. Diese Konfirmierung von rassifizierenden Zugehörigkeitskonstrukten kann sich in Albino Killings in Africa jedoch nicht auf Praktiken der Selbstbezeichnung der Personen mit Albinismus berufen, denn hier wie auch in anderen documentaries definieren diese sich selbst nicht als ›black‹ oder ›white‹ im Sinne von Rassendistinktionen oder ›ethnischen‹ Identifikationsrastern, sondern sehen sich durchgängig als Teil einer verfolgten Minderheit, deren Exklusion die Folge mystifizierender, kulturalisierender und biologisierender Körperkonstrukte ist, und das sie als diskriminierendes relatives und relationales Konzept verurteilen. Die Forderung nach racial equality untermauert mithin tendenziell wieder jene rassifizierende Fremdzuschreibungspraxis, deren hierarchische Taxonomie die Ambivalenzen des albinotischen Körpers rückübersetzt in das binäre Schema einer körperbasierten Signifikation des Anderen aus der Perspektive einer ›weißen‹/Weißen Norm.31 Auch wenn die Filme an der Destruktion von Mythen und Stereotypen zum Thema Albinismus mitwirken, so bestätigen sie mit der symbolischen Instrumentalisierung des Schwarzen albinotischen Körpers auch die Praxis verandernder Repräsentation des albinotischen Subjekts und reihen sich dadurch ein in die lange Tradition visiotyper Exklusionen des Nicht-Normativen. Das albinotische Subjekt gerät visiotyp zum Opfer der binären Struktur eines manichäischen visuellen Paradigmas, das auf Transgressionsphänomene konventionell mit othering reagiert. Innerhalb dieser Exklusionspolitik zirkuliert der in eine hybride ›Phänotypik‹ eingeklammerte albinotische Körper fortwährend als blickstrategischer Austragungsort hegemonialen Weißseins und ›Weiß-Seins‹.

B IBLIOGRAPHIE Baker, Charlotte (2012): Chromatic Ambivalence: Colouring the Albino. In: Horrocks, Chris (Hg.): Cultures of Colour: Visual, Material, Textual. New York, S. 143-153.

31 Vorbereitet wird die Interpretation der Situation der Personen mit Albinismus in Tansania als race-Problem bereits in einem Interview in der Mitte des Films. Dabei fordert der Vorsitzende von NOAH für die »african albinos« dieselbe racial equality, wie sie in Nordamerika Alltag sei, was zusätzlich den eigenen geographischen Raum als Zone erreichter racial equality fernab von Wirkmechanismen rassifizierender Exklusionen auszuweisen sucht.



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Schwarz-Weiß-Zeichnung Die drei deutschen Inszenierungen von Jean Genets Les Nègres (1964, 1983, 2014) 1

im Spiegel des Feuilletons N IKE T HURN

E INLEITUNG Als der französische Schriftsteller Jean Genet 1958 von einem Freund gebeten wurde, ein »Stück für Schwarze« zu schreiben, reagierte er mit zwei berühmt gewordenen Gegenfragen: »Aber was ist eigentlich ein Schwarzer? Und zu allererst: Welche Farbe hat er?« (Genet 1983: 5) So paradox die Fragen zunächst klingen mögen, treffen sie dennoch genau, worauf Genet hinweisen wollte: dass die Bilder, die wir uns von ›Anderen‹ machen, im Grunde mehr über uns selbst aussagen, als über die, auf die wir sie projizieren. Dies wurde dann auch zum Thema des Stückes, mit dem Genet schließlich doch auf die Bitte reagierte – und dem er daher einen Titel gab, der explizit eine diskriminierende Fremdzuschreibung aufgriff: Les Nègres, das am 28. Oktober 1959 unter der Regie von Roger Blin im Pariser Théâtre de Lutèce uraufgeführt wurde. Der Aufbau des Stückes ist überaus verworren: Es handelt von einer Gruppe von ›Schwarzen‹,2 die in verteilten Rollen – in einem Stück im Stück – vor-

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Der vorliegende Text ist eine überarbeitete und um die 2014er Inszenierung ergänzte Version meines Aufsatzes »Dieses Stück Genets wird jede deutsche Bühne überfordern.« Zur Rezeption von Jean Genets »Les Nègres« in Deutschland (Thurn 2014). Ich danke den Herausgebern für die Genehmigung des Wiederabdrucks dort bereits erschienener Teile.



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einander ein Theaterstück aufführen. ›Schwarze‹ Schauspieler verkörpern darin ›Schwarze‹, wie ›Weiße‹ sie sich vorstellen; vier weitere ›Schwarze‹ geben das Publikum: ›Weiße‹, wie wiederum ›Schwarze‹ sie sich ausmalen. Sie tragen weiße Masken, unter denen man nach Genets Regie-Anweisungen explizit »einen breiten schwarzen Streifen sieht, ja sogar das Kraushaar« (Genet 1983: 8), sodass auch bei ihnen von vornherein klar ist, dass sie ›Schwarze‹ sind, die lediglich ›Weiße‹ darstellen. Jeder Schauspieler spielt also einen Schauspieler, der eine Rolle spielt (vgl. Boisseron/Ekotto 2004: 101). Gezeigt wird eines der Grundthemen im Werk Genets: Die Affirmation von ›Stigmata‹, die ohnehin auf einen projiziert werden, und die man deshalb schließlich zu bekämpfen aufgibt und sich stattdessen aneignet. Der ›schwarze‹ Spielleiter Archibald erkennt die Unausweichlichkeit des Stereotyps (»Da man uns in ein Bild preßt und uns darin ertränkt, soll dieses Bild sie mit den Zähnen klappern lassen«; Genet 1983: 25) und fordert entsprechend von einem Mitglied seines Ensembles, den damit verbundenen Erwartungen zu entsprechen: Ich befehle Ihnen, schwarz zu sein, bis in die Adern schwarz. Lassen Sie schwarzes Blut darin pulsen. Afrika soll darin zirkulieren. Die Neger sollen sich vernegern. Hartnäckig bis zum Wahnsinn sollen sie auf dem bestehen, was zu sein man ihnen vorwirft: auf ihrer Ebenholzfarbe, ihrem Geruch, ihrem gelben Auge, ihren kannibalischen Gelüsten. Sie sollen sich nicht darauf beschränken, Weiße zu fressen, sie sollen sich gegenseitig kochen. Rezepte sollen sie erfinden für Schienbeine, Kniescheiben, Kniekehlen, Wulstlippen, was weiß ich, unbekannte Soßen, Schluckauf, Rülpser, Fürze, und alles schwillt zu einem tödlichen Jazz, einem Gemälde, einem kriminellen Tanz. Wenn sich uns gegenüber irgendetwas ändern sollte, Neger. dann bitte nicht aus Mildtätigkeit. sondern nur aus Furcht vor unserem Terror! (Ebd.: 33)

Aufgrund dieses Aufbaus hatte Genet sehr genaue Besetzungsvorstellungen. Er verfügte, dass ausschließlich ›schwarze‹ Schauspieler für das Stück besetzt werden dürfen – die realen Zuschauer aber ›weiß‹ sein müssen. In der Vorrede zum Stück heißt es:

2

Ich setze die Begriffe ›Schwarze‹/›schwarz‹ und ›Weiße‹/›weiß‹ im Folgenden in einfache Anführungsstriche, um ihre soziale Konstruktion zu kennzeichnen. Das Dilemma, diese Begriffe durch »[d]ie Verwendung […] entsprechend dieser Konstruktion […] festzuschreiben, während sie ja gerade durch die Analyse dekonstruiert werden sollen« (Wachendorfer 2006: 65), kann nicht vermieden, durch diese auch typographische Distanzierung aber zumindest eingeschränkt werden.



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Dieses Stück […] ist von einem Weißen für ein weißes Publikum geschrieben. Aber wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, daß es vor einem schwarzen Publikum gespielt wird, müßte man für jede Vorstellung einen Weißen einladen […]. Der Veranstalter des Theaters wird ihn feierlich begrüßen, ihn in ein feierliches Gewand kleiden und ihn zu seinem Platz geleiten, am besten in der ersten Orchester-Reihe Mitte. Es wird für ihn gespielt. Dieser symbolische Weiße sollte während des gesamten Abends von einem Scheinwerfer angestrahlt sein. (Genet 1983: 7)

Durch die ›Schwarz-Weiß-Trennung‹ von Bühne und Zuschauerraum und die Konstruktion, dass die ›Schwarzen‹ auf der Bühne entweder explizit ›weiße‹ Projektionen auf ›Schwarze‹ oder aber Stereotype von ›Weißen‹ verkörpern, war das Stück so letztlich eine Konfrontation der ›weißen‹ Zuschauer mit sich selbst: Mit den Bildern, die sie von anderen haben und den Bildern, die andere von ihnen haben (vgl. Dunstan Martin 1975: 521f.). Dies gelang bei Blins Inszenierung offenbar derart gut, dass der französische Dramatiker Eugène Ionesco die Pariser Premiere nach der Hälfte der Aufführung verlassen haben soll, weil er das Gefühl hatte, er als ›Weißer‹ werde von der Bühne aus persönlich angegriffen (vgl. ebd.: 519; Boisseron/Ekotto: 98). Schon in der Textfassung findet also ein doing bzw. deconstructing race auf mehreren Ebenen statt. Während man sich überall sonst an Genets Vorgaben hielt und das Stück entweder mit ›schwarzen‹ Schauspielern oder eben gar nicht spielte, besetzte man nur bei den insgesamt drei deutschen Inszenierungen – 1964, 1983 und 2014 – stets ›weiße‹ Schauspieler. Durch diese eigenwillige Besetzungspolitik waren es nun also ›Weiße‹, die ›Schwarze‹ darstellen, die ›Schwarze‹ darstellen, wie sie von ›Weißen‹ gesehen werden und ›Weiße‹, die ›Schwarze‹ darstellen, die ›Weiße‹ darstellen, wie sie von ›Schwarzen‹ gesehen werden. Der genannten Vielschichtigkeit des Stückes wurde also noch eine weitere Ebene hinzugefügt – diese jedoch bedeutungslos. Es wurde so im Grunde um eine wichtige poetische Ebene ärmer und verlor an politischer Brisanz, verstärkte dafür aber das Potential für rassisierend diskriminierende Rezeptionen, die in dem vorliegenden Aufsatz in den Blick genommen werden. Hierzu werde ich zunächst sehr knapp die deutschen Inszenierungen 1964 am Landestheater Darmstadt und 1983 an der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin vorstellen, um mich dann auf die jeweiligen Reaktionen des deutschen Feuilletons zu konzentrieren. Die Darstellung von ›Schwarzen‹ durch ›Weiße‹ wurde darin zum zentralen und hoch umstrittenen Thema und verriet dadurch – genau wie das Stück selbst – unfreiwillig mehr über das ›Eigene‹ als über das ›Fremde‹. Den Grundsätzen der Critical Whiteness Theory folgend (vgl. Tißberger u.a. 2009) geht es mir dabei nicht um das Objekt rassisierender Diskriminie-



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rung – d.h. die ›Schwarzen‹ im Stück –, sondern um das Subjekt, die rassisierende Diskriminierung produzierenden Personen, in diesem Fall die ›weißen‹ Kritiker und das Bild, das sie von ›Schwarzen‹ zeichnen und erwarten.3 Durch ihre verengte Sicht entstand ein bedeutungsvoller blinder Fleck in den deutschen Kritiken, der viel über die »Unsichtbarkeit einer herrschenden Normalität« (Wachendorfer 2006: 57) verrät und den ich im Anschluss daran herausarbeiten werde. Die Betrachtung der jüngsten Inszenierung, einer Koproduktion des Deutschen SchauSpielHauses Hamburg, der Münchner Kammerspiele und der Wiener Festwochen 2014, deren Rezeption sich m.E. signifikant von den vorangegangenen unterscheidet, wird als Ausblick am Ende der folgenden Ausführungen stehen.

D IE D ARMSTÄDTER I NSZENIERUNG 1964 Über die erste ›weiße‹ Besetzung seines Stückes war Genet so erbost, dass er noch am Premierentag eine einstweilige Verfügung gegen die Aufführung beantragte und drohte, er werde »mit einer Schlägertruppe nach Darmstadt kommen und das Theater kaputtschlagen« (Hensel 1997: 188): Wenn er es so besetzen wolle, habe der Regisseur und Intendant Gerhard F. Hering das Stück ganz offensichtlich nicht verstanden. Von der deutschen Presse wurde schon dieser Protest überaus süffisant kommentiert: »[W]enn man in der Frage der Hautfarbe auf der Bühne Herrn Genet folgen wollte, müsste sich jedes Theater in seinem Ensemble künftig eine Völkerschau halten« (Beckmann 1964), vermerkte etwa der Rheinische Merkur und auch Die Welt führte an, dass Genet »die Anzahl der in Darmstadt lebenden Neger offenbar etwas überschätzt« (G.H. 1964). Hering verteidigte sich mit dem Hinweis, das Stück werde hierzulande anders rezipiert als in Frankreich oder den USA, wo es zuvor den Vorgaben des Autors entsprechend inszeniert worden war. In einem Brief an Genet schrieb er: Wir haben in Deutschland, wie gesagt, keine ›Negerprobleme‹, aber wir dürfen nie vergessen, welche Exzesse der Entrechtung, Mißhandlung, der Verachtung und Vernichtung

3

Die »Critical Whiteness Theory wendet sich damit von einer kurz greifenden Rassismuskritik ab, die das ›Schwarze Andere‹ zum Objekt der Untersuchung und Vorurteilsabwehr macht und gegen Diskriminierung in Schutz nimmt«; stattdessen »erforscht [sie], unter welchen Umständen welche historischen Formen von Blackness erfunden werden, um die jeweils herrschende Whiteness zu konstruieren.« (Dietze 2009: 223; Hervorh. i. Orig.).



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in diesem Lande, von Menschen unserer Sprache, unseres Volkes noch unlängst an anderen begangen worden sind. Schon dies bewahrt, so meine ich, Ihr Spiel hierzulande vor den ästhetischen Mißverständnissen und in diesem Sinne habe ich einen hochbegabten Künstler aus Israel gebeten, gemeinsam mit mir dieses Stück zu inszenieren… . (Zit. n. Körner 1999: 55)

Hieran ist zweierlei bemerkenswert: Zum einen wird deutlich, dass man sich in Deutschland von kolonialistischen Vorbehalten oder Denkmustern gänzlich frei wähnte. Gabriele Dietze formulierte vor einigen Jahren das deutsche Paradoxon, das sich auch hier zeigt: wie wenig die deutsche Kolonialvergangenheit »im kollektiv Imaginären« präsent ist und wie stark ihr »gleichwohl mit postpostkolonialer Hybris begegnet« (Dietze 2009: 221) wird.4 Zum anderen ist auffällig, dass als Referenzrahmen für den deutschen Umgang mit Minoritäten der Holocaust herangezogen wird,5 weshalb man sich einen israelischen Künstler – den Pantomimen Samy Molcho – als Gewährsmann einlud, der das Stück vor »ästhetischen Mißverständnissen« bewahren sollte. Da unklar bleibt, warum ein Israeli hierfür geeigneter sein sollte als etwa ein Grieche, liegt der Verdacht einer versuchten ›Reinwaschung‹ durch den Einbezug eines jüdischen Unterstützers nahe.

D IE B ERLINER I NSZENIERUNG 1983 Erst 19 Jahre später kam das Stück wieder auf eine deutsche Bühne: Für die Inszenierung von Peter Stein an der Berliner Schaubühne machte Genet eine Ausnahme. Er wich erstmals von seinen strengen Besetzungsvorgaben ab und schrieb eigens eine alternative, ›deutsche‹ Schlussszene. In ihr werden nicht nur zusätzlich deutsch-französische Mythen wie die Schlacht von Verdun thematisiert, sondern dem bisherigen Figurenarsenal auch explizit deutsche Figuren zur Seite gestellt: blond und mit blau geschminkten Gesichtern.

4

Ursula Wachendorfer spricht diesbezüglich ähnlich von einer »soziohistorischen Amnesie« (2006: 58), Eske Wollrad von einer »aktiven Ent-Innerung kolonialer Kontinuitäten« (2005: 50).

5

Theatergeschichtlich fällt die Inszenierung 1964 genau in die Zeit, in der die ›Vergangenheitsbewältigung‹ auf die deutschen Bühnen kommt – Hochhuths Stellvertreter war ein Jahr zuvor uraufgeführt worden, Peter Weiss’ Ermittlung ein Jahr nach der Darmstädter Inszenierung – und in der im nahen Frankfurt der erste AuschwitzProzess stattfindet.



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Peter Stein aber wollte diesen Deutschlandbezug offenbar nicht: Die Szene wurde nie realisiert. Stattdessen machte er den bei Genet ausdrücklich symbolischen Handlungsort ganz im Sinne des politischen Theaters sehr konkret: Er reiste mit dem Ensemble zur Vorbereitung nach Afrika, engagierte »die kundigsten afrikanischen Berater« (Henrichs 1983) sowie eine senegalesische SambaTruppe und druckte ein Programmheft unter der Überschrift »AFRIKA. Eine geopolitische Karte des Kontinents im Maßstab 1:10.000.000 mit Texten und Bildern zum Verhältnis SCHWARZ-WEISS sowie einer STATISTIK mit politischen, ökonomischen und kulturellen Daten für jedes Land Schwarzafrikas«. Der Spiegel fasste zusammen, Stein schicke mit seiner Inszenierung einen »Salut an den Freiheitskampf der afrikanischen Völker« (Jenny 1983: 143). Das Stück selbst verortete er explizit im Frankreich des Jahres 1958, was durch einen halben Eiffelturm als Kulisse und die eingespielte Radio-Ansprache General de Gaulles zu Algerien als oberster Priorität bekräftigt wurde. Nicht nur widersprach er damit der von Genet immer wieder hervorgehobenen Metaphorizität der ›Schwarzen‹; er zeigte den Kolonialismus so auch explizit als französisch-afrikanisches Problem. Der Deutschlandbezug, den Genet sich offensichtlich gewünscht hatte, fehlte. Während bei der Inszenierung 1964 gerade im Umgang mit der Besetzung noch eine bemerkenswerte Unbekümmertheit zu beobachten ist, zeigt die Berliner Aufführung 1983 ein Bewusstsein für die Problematik. Peter Stein machte sie von einer Not zum Thema, zu einem Teil seiner Inszenierung: Die Zuschauer wurden durch den Hintereingang in die Schaubühne eingelassen und nicht in den Zuschauerraum, sondern auf diesem Wege auf die Bühne geführt. Vor aufgebauten Schminktischen wurden sie hier Zeugen der ›Schwärzung‹ der Schauspielerinnen und Schauspieler durch Spritzpistolen, bevor das eigentliche Stück begann. 6 Auch ein solches Ausstellen der Verfahren ändert indes nichts am

6

»Genets Bedenken wurden ausgeräumt durch Hilfsmittel des Theaters, durch Ironie und Spritzpistole«, befand der Kritiker Georg Hensel (1983) von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; Peter Iden (1983) las in der Frankfurter Rundschau die Schwärzung ebenfalls als Verweis auf die Mittel der Kunstform ›Theater‹: »Und zwar wird das gezeigt nicht nur als ein Stück Theaterpraxis, sondern mit dem Hinweis auf die grundsätzlichen Fragen, die der Begriff ›Verwandlung‹ aufgibt, z.B. im Problem der ›Verletzung‹ eines Zustands durch einen angenommenen anderen oder hinsichtlich der Beziehungen zwischen Realität und Illusion. Diese Fragen nach den praktischen, vor allem aber nach den theoretischen Voraussetzungen der Möglichkeit ›Theater‹ werden in den Minuten der Vorbereitung der Schauspieler als das eine Motiv des Abends expliziert.«



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zwangsläufig mit der Besetzung einhergehenden Ergebnis – der rassistischen Praxis des Blackfacing.7

D IE

PUBLIZISTISCHEN

R EAKTIONEN

Beiden Inszenierungen wurde durch die Rezeption unfreiwillig ein – allerdings zum Rest des Genet-Stückes wunderbar passender – Akt hinzugefügt: Indem sich durch die eigenwillige Besetzungspolitik nun alles darum drehte, ob und wie es den ›weißen‹ Schauspielern gelang, ›Schwarze‹ zu verkörpern, wurden die zeitgenössischen Projektionen darauf, was ›schwarz‹ überhaupt ist bzw. zu sein hat, selten deutlich offenbar. a) Die Darmstädter Inszenierung 1964 So schrieb der Kritiker der Süddeutschen Zeitung, er »gestehe ohne viel falsche Scham«, dass er »mit mehr psychischer Exuberanz und physischer Potenz gerechnet hatte.« Er vermisste einen »Rest von urweltlerischer Wildheit«. Die Sprechbühne erweise sich »hilflos« dieser »entfesselte[n] Orgiastik gegenüber« und so nähmen sich »die rhythmischen Übungen der landestheaterlichen Damen beinahe peinlich gesittet aus« (Guggenheimer 1964: 16).

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Vgl. für einen knappen, aber hilfreichen Überblick das Kapitel »Ist Blackfacing rassistisch?« in Susan Arndts Handbuch Rassismus. Die 101 wichtigsten Fragen (2015: 106f.).



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Abb. 1: Szenenphoto der Darmstädter Inszenierung 1964

Quelle: Theatersammlung der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt

Woran die Inszenierung nach Ansicht der Kritiker krankte, wird in den Artikeln deutlich nahegelegt: Daran, dass hier nicht – so die Westdeutsche Allgemeine Zeitung – »mit vollblütigen, zu ekstatischem Freiheitsrausch fähigen Negern besetzt wurde.« (Dr. G. Sch. 1964) Der Kritiker der Rheinischen Post nahm den Darmstädter Theaterabend daher dahingehend in Schutz, dass es »nicht gerecht [wäre], ihn nur mit dem Maß der Pariser Authentizität zu messen,« d.h. der Uraufführung von Roger Blin mit ›schwarzen‹ Schauspielern, denn schließlich war [man] hier nicht in der Lage, die körperlichen Eigentümlichkeiten, die Art, sich zu bewegen, die dynamische Vitalität der fremden Rasse, ihre Melancholie und naive, animalische Ekstase so unmittelbar in eine choreographische Einheit von Tanz, Mimik und Sprache zu übertragen […]. Die Frage, ob Genets ›Neger‹ nicht jedes deutsche Ensemble überfordern, drängt sich auf. (Vielhaber 1964)

Diese hier noch fragend formulierte Ungewissheit beantwortete Günther Rühle in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ohne jeden Zweifel: »Dieses Stück Genets wird jede deutsche Bühne überfordern« (Hervorh. v. mir, N.T.) – und mit eindrücklicher Begründung: ›Echte‹ ›Schwarze‹ hätten – das sei bei den Inszenierungen in Paris und New York deutlich geworden – »die Elastizität, das Tänzerische im Blut […]. Dazu das Fluidum und den ›Geruch‹«, kurz: »die ›sich zeigende‹ Radikalität des schwarzen Eros« (Rühle 1964). Ähnliche Einschät-



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zungen finden sich im Rheinischen Merkur: »Wenn Neger auf der Bühne spielen, ist das Publikum darauf gefaßt, seine hellhäutige Vernunft einstweilen beurlauben zu müssen. Es reagiert auf die Gangart, auf den fremdartigen Rhythmus, auf den Tanz und auf die unheimliche ›Obszönität‹ in der Gebärde und auch in der Stimme der Neger.« ›Weiße‹ Schauspieler könnten dies nicht leisten, denn durch sie, so der Kritiker, bleibe »die hellhäutige Vernunft am Ort und stellt dumme Fragen.« Allen anerkannten Bemühungen zum Trotz lautet sein Schluss daher etwas trotzig: »Dennoch fehlten die Neger« (Beckmann 1964). Diese Fortschreibungen rassistischer Vorstellungen von ›schwarzer‹ Körperlichkeit, die hier zudem deutlich mit dem Animalischen und dem Obszönen korreliert werden, sind umso erstaunlicher, als dergleichen im Stück selbst explizit ausgestellt und ironisch gebrochen wird. So äußert ein Mitglied des ›weißen‹ Hofstaats: »Sie haben eine auserlesene, köstliche Spontaneität, ihre Schönheit ist so fremdartig, das höhere Gewicht ihres Fleisches…« – und wird prompt von einem der ›Schwarzen‹ unterbrochen: »Halten Sie den Mund, Sie kaputter Bengel. Sie sind ja nicht mehr zu retten mit Ihrem Exotik-Fimmel.«8 (Genet 1983: 15) In den Feuilletons wird indes wenig deutlich, dass hier mitnichten ›Schwarze‹ hätten dargestellt werden sollen, sondern das Bild, das ›Weiße‹ sich von diesen machen – stattdessen erweist sich, dass die Kritiker genau diesem weiterhin verhaftet sind. b) Die Berliner Inszenierung 1983 Bei den Reaktionen auf die Berliner Inszenierung 20 Jahre später hatten sich entscheidende Nuancen verändert. Die exotistische, ›wilde‹ Darstellung wurde nun vielfach darauf zurückgeführt, dass hier Projektionen der ›weißen‹ Mehrheitsgesellschaft vorgeführt werden. So heißt es in Georg Hensels Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Die Weißen erwarten von den Schwarzen, daß sie ›schwarz‹ und lüsterne Sexualriesen sind, daß sie stinken und morden; also erfüllen die Schwarzen die Erwartungen der Weißen, indem sie ›schwarz‹ und lüsterne Sexualriesen sind, indem sie stinken und morden.

8

Derartige Brechungen finden sich im Stück mehrfach. Der ›weiße‹ Exotismus, die – auch positive – Diskriminierung wird in Anspielungen und auch weniger subtil in direkten Ansprachen thematisiert. So werden entsprechende Positionen – wie die vermeintlich größere Emotionalität der ›Schwarzen‹ – zwar referiert, aber direkt als romantisierende Rassismen entlarvt.



142 | N IKE T HURN Die Weißen betrachten die Schwarzen als Unmenschen; also nehmen die Schwarzen die Rolle der Unmenschen auf sich. (Hensel 1983)

Doch dieses Aufzeigen – statt des Aufweisens9 – von Exotismus wurde hier wie andernorts vielfach nur in den abstrakt-reflektierenden, einleitenden Sätzen eingehalten; vor einem eigenen Rückfall in Stereotype schützte es bei der anschließenden Kritik der Aufführung selbst vielfach nicht, wie auch weiter an Hensels Text zu beobachten ist: Die Neger spielen nicht sich selbst; sie spielen das Image, das sie bei den Weißen haben. Und so dürfen sich die Schaubühnen-Spieler vor lauter Negerhaftigkeit zerreißen. Sie schnalzen mit den Fingern, sie schütteln die Brüste, sie schwingen die Hüften und wackeln mit den Hintern. Das zuckt und wippt und lacht und kreischt wie dereinst bei der Völkerschau im Zirkus Sarrasani: ein geborener Schwarzer kann da nur vor Neid erbleichen. (Ebd.)

So wird die eigene, durchaus lustvoll ausweidende Beschreibung dieser »Negerhaftigkeit« zwar zunächst als ›Bild der Weißen‹ kontextualisiert und legitimiert – die Vermutung aber, dass der »geborene« ›Schwarze‹ bei diesem Anblick vor Neid ausgerechnet »erbleichen« sollte, ist zumindest äußerst fragwürdig formuliert. Ähnlich leitete Urs Jenny zwar im Spiegel ein, dass Genets »Neger« nicht sich selbst, »sondern […] den kolonialherrlichen Angstlust-Traum von der zähnefletschenden dunklen Bestie« (Jenny 1983: 141) spielen sollen. Einem von ihm angestrengten Vergleich mit der Pariser Inszenierung von Genets Les Paravents im gleichen Jahr, in der einige der Rollen zum ersten Mal mit »echte[n] Nordafrikanern« besetzt wurden, halten die Berliner Schauspieler in seinen Augen dann jedoch deshalb nicht Stand, da deren »behende Körperlichkeit, ihre Stimmen, ihr bellendes Lachen […] diesem Kolonialkriegs-Traumspiel eigene Rauhheit und Schärfe« (ebd.) gäben. Bellend-animalische Körperlichkeit ist es demzufolge, die – so legt es die Formulierung nahe – ›den Afrikaner‹ von ›dem Europäer‹ trennt. Der Kritiker der Frankfurter Rundschau, Peter Iden, hebt hervor, dass […] die Schauspieler sich, so weit als ihnen (Weißen) nur möglich in ihrem körpersprachlichen Ausdruck, in den Gesten, Gängen, Tänzen und manchmal sogar in den

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Vgl. zu dieser Unterscheidung die Studie von Martin Gubser zu ›literarischem Antisemitismus‹ (1998: 310).



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Rhythmen und Melodien ihres Sprechens, jedenfalls von dem entfernt haben, was sie gewohnt sind. Wie ›afrikanisch‹ das Ergebnis ist – wer ist kompetent, darüber zu urteilen? Wichtig ist nur, daß etwas Fremdes gewonnen wurde und in sich schlüssig ist, genauer: ein Kanon von Zeichen und zugehörigen Bedeutungen, die Fremdheit umschreiben – unwichtig ist, ob das auch völkerkundlich standhält. (Iden 1983)

Zwar macht er deutlich, dass die Frage nach »afrikanisch[er]« und »völkerkundlich[er]« Authentizität irrelevant sei (und ist auch sonst in vielerlei Hinsicht deutlich differenzierter als das Gros der anderen Rezensenten) – entlarvt sie allerdings ebenfalls nicht als Resultat eines ›weißen‹ Blicks: Das bessere Rhythmusgefühl10, eines der zentralen Zuschreibungstopoi der ›weißen‹ Mehrheitsgesellschaft, wird hier nicht als das analysiert, was es ist – eine romantische, nichtsdestotrotz rassistische Wunschprojektion –, sondern als etwas ›tatsächlich Fremdes‹ eingestuft. Zugleich führt er das körpersprachliche Unvermögen der Schauspieler deutlich auf deren Hautfarbe zurück: Das in Klammern gesetzte »Weiße[ ]« macht deutlich, dass er die nur ansatzweise gelungene Verfremdung nicht ihnen als – möglicherweise – ›schlechten Schauspielern‹, sondern ihnen als »Weißen« anlastet. Auch Benjamin Henrichs kommentiert in der Wochenzeitung Die Zeit angesichts der Afrika-Reise des Ensembles und der »afrikanischen Berater« zunächst spürbar ironisch: Das Resultat ist jeder Bewunderung wert: Das Tanzen und Singen, das Glieder-Zucken, Hüfte-Schwingen und Augen-Rollen der weißen Schauspieler sieht nun beinahe ›natürlich‹, beinahe afrikanisch aus – genauso beinahe afrikanisch, wie die Auftritte schwarzer Folklore-Gruppen vor weißen Touristen. Es bleibt immer ein Rest Peinlichkeit: wenn der Dämon (oder ist es die Seele Afrikas?) in die Schauspieler hineinfährt. (Henrichs 1983)

Doch wenn er hervorhebt, dass dies im Fall des Schauspieler Peter Simonischek besonders drastisch zu beobachten sei, legt seine Argumentation den Schluss nahe, dass der Kniff der Verkörperung von Fremdzuschreibungen auch ihm immer wieder aus dem Blick gerät: »Manchmal sieht er tatsächlich wie ein schöner afrikanischer Krieger aus, wild und gefährlich. Aber dann ist er doch schnell wie-

10 Vgl. hierzu etwa Anatole Broyard: »A subtle example is the attribution of inherent greater ›rhythmicality‹ to the Negro […] which is taken to show, of course, that the Negro is a more primitive creature, more animal-like, not yet emancipated by the short-circuiting effects of full consciousness from the primeval earth-throb.« (1950: 59)



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der ein vor Erregung schnaubender, das Pathos sich abpressender deutscher Klassiker-Jüngling, der Salzburger Tasso eben vom vergangenen Jahr. Die kultivierte Imitation eines Schwarzen.« (Ebd.) Seine weiteren Ausführungen und Vorschläge für einen Ausweg aus diesem vermeintlichen Dilemma zeigen, dass indes auch von der Inszenierung offenbar nicht deutlich gemacht wurde, dass Simonischek – der Vorlage des Stückes zufolge – genau eine solche »Imitation eines Schwarzen« aus ›weißer‹ Sicht bewusst als solche hätte dar- und ausstellen sollen: Natürlich könnte man mit beiden Figuren, dem Afrikaner Simonischek und dem Österreicher Simonischek, ein schönes ironisches Spiel inszenieren; der Schauspieler könnte aus der Rolle fallen, in die Rolle fallen. Aber ein solch lästerlich-koketter Umgang mit der eigenen Profession ist den Schaubühnen-Schauspielern nicht erlaubt. Zumindest in Steins Inszenierungen gehen sie ihrem Beruf mit feierlicher Gebärde nach, klösterlich, priesterlich. (Ebd.)

Er kommt daher zu dem Schluss: »Die Mühen weißer Schauspieler, schwarz zu werden, sind eher die Not des Abends als sein Thema.« (Ebd.) Abb. 2: Die Schauspielerin Jutta Lampe bei der Berliner Inszenierung 1983

Quelle: Ruth Walz ©



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Überaus prägnant ist diesbezüglich jedoch vor allem, dass eine einzige Schauspielerin übereinstimmend von dieser Kritik der Rezensenten ausgenommen ist: Miriam Goldschmidt. Denn – so die unmissverständlich gezogene Kausalität – diese ist, wie Peter Iden (1983) schreibt, »eine Farbige von Natur«. Diese »Schauspielerin (die man deshalb besser nicht besetzt hätte)« – so Michael Merschmeier in Theater heute – zeigte deutlich, wie man hätte arbeiten können, wenn Schwarze die ›Neger‹ dargestellt hätten: […] wenn sie tanzt, bewegt sie sich nur wenige Zentimeter in den Hüften, während ihre weißen Kolleginnen ausladenden Jazz-Dance-Schwung brauchen, um Wirkung zu erzielen; ihre Stimme, tief, kehlig, girrend, lispelnd, kieksend, ist natürlich und ›schwarz‹, nicht nur die Behauptung einer schwarzen Stimme; da hören sich afrikanische Gesänge nicht an wie Imitation, sondern wie Leben […]. (Merschmeier 1983: 20)

Die Charakterisierung der ›wirkungsvolleren‹ Körperlichkeit läuft auch hier wieder über Entlehnungen aus dem Bereich des Animalischen (»kehlig, girrend, […] kieksend«) und den Verweis auf eine größere ›Natürlichkeit‹ und Vitalität, die den Kontrast zum Kultivierten und Domestizierten mitschwingen lassen. In Die Zeit stellt Benjamin Henrichs die Schauspielerin ähnlich dem Regisseur des Stückes gegenüber: Stein setzt ein, was er kann: die kritische Vernunft, die phantasievolle Imitation, die penible Recherche – die bewundernswerte Kunstfertigkeit und die wunderbare Klugheit der Schaubühne ist auch an diesem Abend in jedem Augenblick zu spüren. Genets Geheimnis nicht. Nur wenn die einzige farbige Schauspielerin, wenn Miriam Goldschmidt auftritt, ist aller Zauber sofort da. Ihr Sprechen ist kein akademisches Rezitieren, sondern ein groteskes Krähen und ein feierlicher Gesang zugleich. (Henrichs 1983)

Hier wird also Ratio und »penible Recherche« – verkörpert durch den ›Weißen‹ Stein – kontrastiert mit dem irrationalen Zauber und Grotesk-Animalischen der ›Schwarzen‹ Miriam Goldschmidt.11

11 In dieser Darstellung findet sich zudem das klischeehafte Muster des kolonialen Paares – männliche, ›weiße‹ Ratio vs. weibliche, ›schwarze‹ Sinnlichkeit. Vgl. hierzu auch Schneider (2003) und Uerlings (2006). Ich danke Laura Beck für diesen Hinweis.



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D ER

BLINDE

F LECK

DER DEUTSCHEN

R EZEPTION

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich bei all dem jedoch ein leicht zu übersehender, aber umso aussagekräftiger blinder Fleck der deutschen Rezeption. Während die ›schwarzen‹ Figuren, die von ›Weißen‹ gespielt werden, in den Rezensionen explizit auf ihre Qualitäten der Darstellung der ›Rasse‹ hin inspiziert werden – sie tanzen nicht ›schwarz‹ genug, sie gehen fast ›schwarz‹, beim Singen aber fehlt die ›Schwärze‹ –, fehlen entsprechende Kritiken und Überprüfungen der ›weißen‹ Figuren. Sie, die im Stück von ›Schwarzen‹ gespielt werden und auch nur eine Projektion des ›Weiß-Seins‹ verkörpern, werden nicht thematisiert. Tanzen sie ›weiß‹, gehen sie ›weiß‹, singen sie ›weiß‹? Es wird nicht beschrieben, wie die Schauspieler im Stück im Stück sich ›weiß‹ machen, d.h. wie sie sich bewegen, wie sie sprechen, welche Mimik und Gestik sie als Instrument des doing race hinzuziehen, um die Projektionen zu verkörpern. Den Hauptthesen der Critical Whiteness Studies entsprechend, nach denen die Repräsentation von Whiteness in der Regel in der »absence of the racial sign« (Wald 2000: 13) besteht, bleibt das ›Weißsein‹ – analog zu Ruth Frankenbergs Erkenntnis, dass es sich hierbei um einen »unmarked marker« (1997: 1) handelt – überwiegend unmarkiert. Ursula Wachendorfers Feststellung der »Unsichtbarkeit einer herrschenden Normalität« (2006: 57) trifft auch hier: Wenn Weiß-Sein kein Thema für Weiße ist, nach dem Motto – ›Wir sind doch alle Menschen‹ – dann dürfte Schwarz-Sein für sie ebenfalls nicht markiert sein. Hier finden wir eine interessante Inkongruenz. Von der Weißen Position aus wird Weiß-Sein nicht wahrgenommen, während Schwarz-Sein bedeutungsvoll ist und thematisiert wird – jedoch ohne Bezug zum Weiß-Sein. Man könnte auch sagen ›scheinbar‹ ohne Bezug, denn was wir hier an unseren Wahrnehmungs- und Denkprozessen erleben, wird in der angloamerikanischen Literatur als Transparenzphänomen von Weiß-Sein beschrieben. (Ebd.: 58)

So heißt es in Theater heute über die Darmstädter Inszenierung zwar, dass »die ›Weißen‹ auf der Bühne […] durchweg als präzise Haßkarikaturen ihrer ›schwarzen‹ Darsteller angelegt« seien; kritisiert wird aber: »Wenn sie ihre Masken abnehmen, ›bleiben‹ sie […] freilich weiß« (Hensel 1964a: 12). Die Frage jedoch, was dieses ›Weiß-Bleiben‹ bedeutet, wird nicht beantwortet: Welchen Unterschied zwischen den ›falschen Weißen‹ und den ›wirklichen Schwarzen‹, die unter den Masken eigentlich zum Vorschein kommen sollen, aber »weiß« bleiben, vermisst der Rezensent also? Nur über die Schauspielerin Hilde Mikulicz schreibt Hensel: »[Sie] ›wird‹ dann ›schwarz‹: schon als weiße Maske hat sie ihre ›schwarze‹ Hautfarbe mitgespielt.« (Ebd.) Interessant ist hierbei,



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dass seine Besprechung des Stückes zuvor bereits im Darmstädter Echo erschienen war – und für Theater heute dann geringfügig, aber signifikant verändert wurde. So heißt es in der Lokalzeitung ausführlicher: »schon als weiße Maske spielt sie durch ihren affektierten Ton ihre schrille Hysterie [Hervorh. v. mir, N. T.], sozusagen ihre ›schwarze‹ Hautfarbe mit – das verblüfft und fasziniert.« (Hensel 1964b) Wieder ist es also auch hier nur das ›Schwarze‹, das – als »affektierte[r] Ton« und »schrille Hysterie« – markiert wird. Fast durchgehend sind die Kritiken in dieser Form von dem festgefahrenen Dispositiv normativen ›Weißseins‹ geprägt. Die ›weiße‹ Deutungshoheit über das ›Schwarze‹ wird hier nicht in Frage stellend reflektiert und gebrochen, stattdessen wird dieses Dispositiv stabilisierend vollzogen. Dabei ist genau diese Gegenüberstellung von ›schwarzen‹ und ›weißen‹ Fremdbildern das Provozierende an Genets Text: ein Fingerzeig auf die Blindheit der ›Weißen‹ gegenüber ihrer eigenen Markiertheit – die von den Kritiken jedoch eindrucksvoll unfreiwillig belegt wird.

D IE W IENER /M ÜNCHNER /H AMBURGER I NSZENIERUNG 2014 Erst 2014 wurde Die Neger nach über drei Jahrzehnten wieder in Deutschland inszeniert: Johan Simons führte in einer Koproduktion der Münchner Kammerspiele und des Deutschen SchauSpielHauses Hamburg Regie – und traf auf ein gänzlich verändertes gesellschaftliches Klima, durch das sich diesmal bereits im Vorfeld der Premiere bei den Wiener Festwochen Widerstand gegen das Stück – vor allem dessen Titel – regte. Der Verein Pamoja – The Movement of the young African Diaspora in Austria startete unter dem Titel Schwarze Menschen in Europa gegen Aufführung des Theaterstücks ›Die N****‹ von Johan Simons eine Online-Petition, in der die Absetzung des Stückes gefordert wurde und die 19 europäische Organisationen unterzeichneten. Simons selbst legte daraufhin nach eigenen Angaben großen Wert auf die ersten fünf Minuten der Inszenierung, da er davon ausging, dass danach ohnehin »Aktivisten die Bühne stürmen« (Simons zit. n. Dürr/Knöfel 2014: 18) würden. Um die Wogen zu glätten, setzte das Wiener Theater Akzent – an dem das Stück zuerst gespielt wurde – nach jeder der Aufführungen ein Publikumsgespräch an; das Deutsche SchauSpielHaus Hamburg lud im Kontext der dortigen Spieldaten zu einer Podiumsdiskussion über die Rassismusvorwürfe ein und veröffentlichte ein begleitendes Digitales Programmheft, in dem zahlreiche Materialien, aber auch Protestbriefe und die Ant-



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worten der Dramaturgin Rita Thiele veröffentlicht wurden (vgl. DeutschesSchauSpielHaus 2014). Diese jüngste Inszenierung des Genet’schen Stückes eignet sich im Vergleich mit den vergangenen Inszenierungen vor allem aufgrund eines merkwürdigen Zusammenspiels von Kontinuitäten und Brüchen als abschließender Ausblick. Auf der einen Seite gibt es derart frappierende Parallelen zu 1964 und 1983, dass man fast vermuten müsste, hier sei ein ironisch-selbstreflexives Worst-Of der deutschen Aufführungsgeschichte des Stückes versucht worden: Wieder wurde mit einem ›weißen‹ Cast besetzt, für ein Ankündigungsphoto wurde Blackfacing verwendet, und als man für die Aufführung selbst schließlich doch eine andere Maskenform wählte, verpasste man einem einzigen Schauspieler keine – dem in Surinam geborenen Felix Burleson. Die Deutung, dass er damit für den schon aus Darmstadt bekannten Part des Gewährsmannes instrumentalisiert wurde, drängt sich auf.12 Auf der anderen Seite finden sich aber immer wieder Brechungen, die einer voreiligen Kritik entgegenstehen: Erstmals wurde hier kein wie auch immer geartetes, vermeintlich ›afrikanisches‹, ›authentisches‹ Kostüm bemüht. Um das ›Weiß‹ der Schauspieler zu überdecken, wurden überdimensionale PappmachéMasken und übergroße Gewänder eingesetzt. Zudem agierten die Schauspieler über weite Strecken hinter einer Schattenwand, die ›Schwarze‹ und ›Weiße‹ einheitlich grau oder aber in Spektralfarben bunt erscheinen ließ. Gemessen daran, dass Genet nach eigenen Angaben nur am Beispiel der ›Schwarzen‹ verhandelt, was für gesellschaftlich minoritäre Gruppen allgemein gilt, funktionierte diese Notlösung bestens, da die Masken keinerlei individualisierte Gesichtszüge erkennen lassen und so das Über-Individuelle, Stellvertretende der Figuren hervorheben.13 Für die hier diskutierten Aspekte ist daran jedoch vor allem zentral, dass Simons so einen Ausweg aus der zuvor stets diskutierten ›Ver-Körperung‹ der ›Schwarzen‹ durch ›Weiße‹ fand. Wie Uwe Mattheis in der tageszeitung zusammenfasste: »Irgendwo zwischen Schau-, Schatten- und Maskenspiel eröffnet Johan Simons dem Theater einen unverhofft neuen Weg, der neugierig macht,

12 Vgl. hierzu auch die Kritik an Burlesons Rolle von Matthias Dell (2014). 13 Dass auf dem ›weißen‹ Kammerspiel- bzw. SchauSpielHaus-Ensemble bestanden wurde, statt das Stück nach Genets Vorgaben zu besetzen, ist angesichts dieses Kostüms allerdings nur umso unverständlicher. Wie der Spiegel zusammenfasste, wurde das Stück so zu einem Abend »mit luxuriösem Aufwand: Schauspieler-Spitzenkräfte wie Maria Schrader, Bettina Stucky, Hans Kremer und Benny Claessens, die zu den Stars des deutschsprachigen Theaters gehören, treten eindreiviertel Stunden lang in Totalvermummung auf.« (Höbel 2014: 134)



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weil er den Bildern, die der Rassismus hervorbringt, den Köper und die Natur verweigert.« (Mattheis 2014) Aufgrund des ästhetisierten, abstrakten Kostüms waren Rezensionen mit biologisierenden Klagen über fehlende ›schwarze Körperlichkeit‹ von vornherein verunmöglicht. Abb. 3: Szenenphoto der Wiener/Münchner/Hamburger Inszenierung 2014

Quelle: Julian Roeder ©

Ausgehebelt war dadurch allerdings auch die Konfrontation des Publikums mit seinen eigenen Fremdbildern, die dem Aufbau des Stückes nach durchaus und bewusst als Klischees auf der Bühne zu sehen sein sollen – und damit auch das subversive Potential des Stückes. Kritische Stimmen sahen in dem Kostüm daher vor allem eine zurückweichende Reaktion auf die Proteste im Vorfeld. So befand Bettina Steiner in der österreichischen Tageszeitung Die Presse, das Stück sei »ästhetisiert bis zur Unkenntlichkeit: Johan Simons hat dem Stück alles ausgetrieben, was uns aufregen könnte. Sehr zimperlich.« (Steiner 2014) Christine Dössel resümierte in der Süddeutschen Zeitung ähnlich, dass Simons »vor lauter Abwägung, Vorsicht und politischer Hyperkorrektheit die neuralgischen Punkte des Stückes, seine Wund- und Schmerzstellen abmildert, verwischt, verfehlt.« (2014) Während die Simon’sche Inszenierung selbst zwiespältig bleibt, war ihr Effekt in den Medien diesmal jedoch deutlich anders als jener der vorausgegange-



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nen in Darmstadt und Berlin. Zahlreiche Kommentare, die sich unter dem Facebook-Aufruf des Vereins Pamoja finden, zeugen ebenso wie der Großteil der Zuschriften an das Theater von einer Empörung, die (wie erwähnt) vornehmlich am Titel des Stücks entbrannte, anhand dessen (vielfach losgelöst von einer Kenntnis des Inhalts – oder gar des Autors) auf eine rassistische Inszenierung geschlossen wurde. Nach raschen Ermüdungserscheinungen angesichts dieses eher unterkomplexen Protests und der vielfach beklagten (und wie gemutmaßt wurde: aus der vorangegangenen Empörung resultierenden) ›Harmlosigkeit‹ der letztendlichen Inszenierung, wurde das Stück stattdessen jedoch zunehmend zum Anlass genommen, eine Meta-Debatte zu führen. Statt rassisierender Erörterungen, ob es den weißen Schauspielern gelingt, schwarz zu werden, ging es diesmal vielfach überhaupt nicht mehr um die Aufführung selbst, sondern weit übergreifender um den strukturellen Rassismus im Theaterbetrieb, vor allem im traditionellen Rollentheater. Die Zeitschrift Theater der Zeit machte Blackfacing zum Titelthema (o.A. 2014), der KulturSpiegel stellte die Frage Wie rassistisch ist der deutsche Kulturbetrieb? (und interviewte u.a. hierzu Johan Simons, vgl. Dürr/Knöfel 2014), die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland, die parallel zur Hamburger Premiere das Kulturfestival Mit unseren eigenen Stimmen – Black is more than a (Black)Face initiierte, rückte ins Blickfeld. Zu beobachten war eine in Teilen (!) ungewöhnlich tiefgreifende Auseinandersetzung über das »Theater als Bastion der Illusionsästhetik« (Raddatz 2008: 17) – wie Frank Raddatz es während einer früheren Diskussion über »Theater und Migration« in Theater der Zeit treffend formulierte.14 In der taz schrieb Uwe Mattheis: »Einem ausschließlich schwarzen Ensemble, wie es Genet ursprünglich gefordert hat, würde das differenzierte Ausdrucksvermögen der Kammer-

14 Treffend fasste er dort zusammen: »Es ist an der Zeit, dass das Theater seine vorbewussten biopolitischen Einstellungen und unbewussten Vorurteilsstrukturen revidiert. Kein einziges Theater nimmt Anstoß daran, wenn die Rollen des Kaliban in Shakespeares ›Sturm‹ […] oder des Sasportas in Heiner Müllers ›Der Auftrag‹ von Hellhäutigen gespielt werden. Nur umgekehrt wird kein Schuh draus und im Namen von Realismus und Illusion der Maßstab rassischer Korrektheit hochgehoben. Bewirbt sich ein noch so talentierter Schauspieler mit einer unpassenden Hautfarbe an einem unserer Schauspielhäuser, schüttelt die aufgeklärte Dramaturgie mit Blick auf das Rollenverzeichnis unserer Klassiker in der Regel nur bedauernd den Kopf. Die Migrantenpopulation darf zwar das Steueraufkommen für die Subventionen aufbringen, doch soll sie den Spiegel, den sich die Gesellschaft im Theater nach ihrem Selbstverständnis vor die Nase hält, nicht verunreinigen. Und spätestens hier beißt sich die Katze des Illusionstheaters in den Schwanz.« (Raddatz 2008: 17)



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spiele-Schauspieler wohl abgehen« (Mattheis 2014) und schon befürchtet man angesichts der unfreiwilligen Entblößungen 1964 und 1983 abermals verbale Ausrutscher; doch seine Erklärung überrascht und steht paradigmatisch für die 2014er Rezeption in den Feuilletons: »Nicht weil es keine guten schwarzen SchauspielerInnen gäbe, sondern weil das deutschsprachige Theater als halbamtliches Selbstvergewisserungsorgan einer weißen Mittelschicht sie in entscheidender Position nicht hervorbringt.« Das Genet’sche Stück löste so vielfältige Diskussionen über diese (letztlich gar nicht so neuen) Herausforderungen des deutschen Theaterbetriebs aus.15 Interessanter-, in gewisser Hinsicht auch paradoxerweise treffen viele der dabei beklagten und diskutierten Punkte auf Genets dezidiert antirassistisches und extrem durchkomponiertes Stück überhaupt nicht zu. Das Entscheidende, Bemerkens- und Begrüßenswerte an der 2014er Inszenierung liegt aber darin, diese Debatte angestoßen und bisweilen zu einer diesbezüglichen Selbstreflexion des Theaterbetriebs beigetragen zu haben. Eine wirklich überzeugende deutsche Inszenierung des Stoffes, die darüber hinaus auch dessen subversives Potential ausschöpft und somit – wie Genet es intendiert hatte – auch im Theaterraum zu einer Konfrontation des ›weißen‹ Publikums mit sich selbst führt, steht dennoch weiter aus.

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Christoph Schlingensiefs Operndorf jenseits des Postkolonialismus? K OKU G. N ONOA

Die Wechselbeziehungen zwischen Afrika und Europa finden in Bezug auf die (Theater-)Kunst stark auf grenzüberschreitende Art und Weise auf der Ebene einer interkulturellen bzw. kulturspezifisch (inter-)medialen Beeinflussung statt. Aus postdramatischer Perspektive umfasst der Theaterbegriff im Sinne von Hans-Thies Lehmann unterschiedliche literarische und nicht-literarische sowie normabweichende Theaterformen, die angesichts der starken künstlerischen Ähnlichkeiten bisweilen auf außereuropäische Theaterformen hinweisen (vgl. Lehmann 1999). Christoph Schlingensiefs (Theater-)Kunst zeigt transkulturelle Ähnlichkeiten mit manchen dieser Kunstformen, die Kunst und andere Lebensbereiche verschmelzen bzw. nicht voneinander trennen. Dies lässt sich u.a. am Beispiel seiner Operndorf-Vision in Burkina Faso beobachten. Das Operndorfprojekt startete im Mai 2009 mit Schlingensiefs Suche nach dem geeigneten Ort. Schlingensief entschied sich für das westafrikanische Land Burkina Faso, um dort sein Projekt umzusetzen. Das Konzept beabsichtigte den Bau von verschiedenen sozialen und kulturellen Einrichtungen. Dazu zählen etwa Schulgebäude, eine Krankenstation, Unterkünfte und ein Festspielhaus. Diese sollten allen zugänglich sein: Einheimischen und Gästen aus allen Teilen der Welt. Erst im Oktober 2011, ein Jahr nach Schlingensiefs Tod 2010, wurde die Schule eröffnet. Das Operndorf steht auch für künstlerischen Austausch zwischen Afrika und Europa und die Sichtbarmachung anderer Kunstformen. Obwohl das Operndorfprojekt noch nicht vollständig verwirklicht worden ist, vermittelt es die teilweise Umsetzung einer Vision in geschaffene Realität: Jenseits der postkolonialen Diskurse zeigt das Operndorf in Afrika innovative Horizonte, die andere Wahrnehmungsweisen bzw. Lesarten bezüglich der Verflechtung kultureller bzw. medialer Kategorien ermöglichen, die ästhetischer, sozialer, ritueller, didaktischer, therapeutischer und politscher Natur sind. Dadurch, dass das



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Operndorf in einem Umfeld realisiert ist, in dem ursprünglich weder eine medienspezifische Aufteilung der Kunst in verschiedene Künste noch eine eindeutige Trennung zwischen Kunst und Leben besteht, eröffnet sich sehr deutlich die Möglichkeit, auch Schlingensiefs Projekt aus einer solchen, gewissermaßen entgrenzenden Perspektive zu betrachten: Damit fordert das Operndorf eine Abkehr von textzentrierten Lesarten, wie sie den europäischen Blick auf Theater häufig bestimmen. Denn Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso befindet sich in einem Umfeld oraler Kulturen, die auch »ihre geschichtlich konstruierte Identität über eine Vielzahl kategorial unterscheidbarer und typologisch bestimmbarer, diskursiv verfestigter mündlicher Traditionen bestimmen, die als Medien [körperzentriert bzw. performativ; K.N] transsubjektiver Speicherung kulturellen Wissens fungieren.« (Jäger 2002: 51) Das gilt insbesondere für die Konzeptualisierung und Realisierung von Kunst, die sich nicht vom Leben bzw. von einer rituellen Erfahrung und sozialen sowie therapeutischen Transformation trennen lässt. »So kann Theater eine Variation von ›Wirksamkeit‹ anstreben, die wenig mit den rituellen Verfahren in, sagen wir: afrikanischen Gesellschaften verbindet und die dennoch weit mehr als Unterhaltung darstellt.« (Lehmann 1999: 250) Zodwa Motsa stellt in diesem Zusammenhang fest: Evidently, the constituents of European drama are not identical to those of African drama. This does not suggest any superiority or inferiority of art-form in either camp. One may liken the two art forms to a clay pot and a cast-iron pot. Asserting that one is a real pot while the other is not is an academic exercise. They are both real pots created in different environments to serve similar needs though in different cultural contexts. (Motsa 2001: 35)

Dass Afrika und Europa jeweils kulturspezifische Theaterformen entwickelt haben, ist evident. Aber was, wenn dennoch dieselben Begriffe wie Drama, Theater, Performance, Oper bzw. Operndorf usw. auf beiden Kontinenten verwendet werden, um unterschiedliche Kunstformen sowie ihre gesellschaftliche Funktion zu bezeichnen? Sind da noch europäische Kategorien der Beschreibung definitiv hilfreich, um z.B. das Operndorf in seinem Kern zu fassen? Was kennzeichnet das Spannungsfeld zwischen der Operndorf-Vision und dem Selbstverständnis der konventionellen europäischen Rahmenbedingungen von Kunst? Wie fragwürdig oder sinnvoll ist es, das explizite oder implizite Analysekriterium des Gelingens oder Scheiterns dieser Vision nur auf die europäisch-tradierten Kunstnormen zu reduzieren? Das sind u.a. die Fragen, die dieser Beitrag in den Blick rückt. Im Folgenden werden erstens die Umkehrung der begrifflichen Per-



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spektive, dann die tradierte Wahrnehmung von Kunst und Schlingensiefs Operndorf-Vision erörtert.

1. W ANDEL BZW . U MKEHRUNG DER P ERSPEKTIVE UND W AHRNEHMUNG Allgemein formuliert bezieht sich das Erfassen von Kunst in ihrer geschichtlichen Entwicklung auf solche Werke oder Ereignisse, die als Kunst anerkannt werden. Kunst ist dieser Auffassung nach eine bestimmte kulturelle Ausdrucksform, die sich von allen anderen kulturellen Tätigkeiten bzw. von Auf- und Ausführungen, wie z.B. Politik und Alltagsleben usw., unterscheidet. So sind aus der Perspektive der europäischen Moderne die Grenzen zwischen Kunst und NichtKunst zunächst klar gezogen. Hinzu kommt die kategoriale Aufteilung der Kunst in verschiedene distinkte Bereiche wie Tanz, Theater, Literatur, Oper, Musik etc., um nur einige zu erwähnen. Als Beispiel wäre hier ›ein‹ allgemeines Theaterverständnis anzuführen: Die Wahrnehmung und Beurteilung dessen, was Theater im Verständnis des kulturellen Mainstreams ausmacht, beziehen sich auf eine Textvorlage (ein Drama, ein literarisches Werk, einen Theatertext mit einem namentlich bekannten Autor) und deren Inszenierung sowie werkanaloge Aufführung auf einer Bühne. Dieses textzentrierte Theaterverständnis entspricht dem Modell des dramatischen Theaters, das jahrhundertelang als Orientierungshilfe bzw. als gültiger Maßstab der Theaterkunst gesehen wurde und sich von Europa aus auf den außereuropäischen Raum ausgedehnt hat. Alle Akteure der Theaterlandschaft (inklusive Zuschauer) sind folglich von der Selbstverständlichkeit des textzentrierten Theaters geprägt. Dieser Theaterbegriff basiert auf einem Kulturverständnis, das sich innerhalb des 19. Jahrhunderts »in europäischen Gesellschaften […] durchgesetzt und verfestigt« hatte und sich im Wesentlichen auf die überlieferten Texte bezog. Nach diesem Verständnis artikulierte sich die moderne europäische Kultur überwiegend in Texten und Monumenten, in denen sie sich angemessen repräsentiert sah. (Fischer-Lichte 2012: 13)

In diesem Zusammenhang ist die Prägung lange unangefochten geblieben, dass (nur) ein verfasster Theatertext und sodann seine Inszenierung bzw. seine Aufführung das Theater bestimmt. Diese textzentrierte Theaterkultur hatte, wie schon erwähnt, lange Einfluss auf außereuropäische Kulturen, die sich stark auf europäisches Theater beriefen. Die große Herausforderung begann für alle Ak-



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teure der Theaterlandschaft, als einer der Vorläufer der Performancekunst, Antonin Artaud, formulierte: Wie kommt es, daß auf dem Theater, zumindest auf dem Theater, wie wir es in Europa oder besser im Abendland kennen, all das, was spezifisch dem Theater eignet, das heißt all das, was nicht dem Ausdruck durch das Wort, durch die Wörter unterworfen ist oder, wenn man will, was nicht dem Dialog angehört […], in den Hintergrund gedrängt wird? […] wie kommt es, daß das abendländische Theater das Theater nur unter dem Aspekt des dialogisierten Theaters sieht? (Artaud 1991: 335)

In den 1960er Jahren entsteht dann eine andere Auffassung von Kunst, die Erika Fischer-Lichte wie folgt charakterisiert: In den frühen sechziger Jahren setzte in den Künsten der westlichen Kultur generell und unübersehbar eine performative Wende ein, die nicht nur in den einzelnen Künsten einen Performativierungsschub erbrachte, sondern auch zur Herausbildung einer neuen Kunstgattung geführt hat, der sogenannten Aktions- und Performancekunst. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten wurden immer fließender – sie tendierten zunehmend dazu, Ereignisse statt Werke zu schaffen, und realisierten sich auffallend häufig in Aufführungen. (Fischer-Lichte 2004: 22)

Damit hat u.a. die Theaterkunst einen tiefgreifenden Wandel erlebt, im Zuge dessen das dramatische Theater in eine offene Konkurrenz mit unterschiedlichen Theatererscheinungsformen des postdramatischen Zeitalters geraten ist. ›Performance‹ ist eines der zentralen Merkmale des postdramatischen Theaters und scheint auf das internationale Theater besser zuzutreffen, als die Definition des dramatischen Theaters es getan hat. Denn »der performative turn«, wie Doris Bachmann-Medick bemerkt, »lenkt die Aufmerksamkeit auf die Ausdrucksdimension von Handlungen und Handlungsereignissen bis hin zur sozialen Inszenierungskultur«. Im Zentrum stehe vor allem »die praktische Dimension der Herstellung kultureller Bedeutungen und Erfahrungen.« (BachmannMedick 2009: 104) Aus dieser Perspektive bringen die performativen Theaterformen im postdramatischen und internationalen Theater verstärkt die jeweiligen Kulturen der Welt auf einen gemeinsamen Nenner des kulturell Universalen: den der körperzentrierten Aufführung. Sie ist vielfältig in den weltweit kulturspezifischen Rollendarstellungen anzutreffen, so etwa in den […] [s]ogenannten ›primitiven‹ Kulturen […], wie der mittelalterlichen Kultur, den eigenen Volkskulturen oder den ›exotischen‹ nicht europäischen Kulturen […]. Ihnen wurde



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eine spezifische Leibzentriertheit attestiert, die sich u.a. in den verschiedensten Arten von Aufführungen wie Ritualen, Festen, Zeremonien, Spielen u.Ä. manifestierte, die alle Beteiligten leiblich affizierte und eine klare Trennung in Handelnde und Zuschauende nicht erlaubte. (Fischer-Lichte 2012: 13f.)

Die aufgelöste (klare) Trennung in Handelnde und Zuschauende ist ein anderer gewichtiger Aspekt innerhalb sowie zwischen der Theaterkunst und allen anderen Lebensbereichen im postdramatischen Zeitalter. In vielen Formen des postdramatischen bzw. internationalen Theaters kommt dies klar zum Ausdruck, und zwar in vielfältiger Form in performativen Akten, in den körperlichen Handlungen oder in der Leibzentriertheit von kulturellen Rollendarstellungen. So spiegelt Theater (hier im weitesten Sinne des Wortes) die Kultur bzw. die Kultur im Wandel wider. Damit einher geht ein Wandel bzw. eine Ausweitung des Theaterverständnisses weg von dem Modell eines textzentrierten und engen Theaterbegriffs hin zu einer körperzentrierten Theaterauffassung. Ohne ins Detail zu gehen, kann behauptet werden, dass auch dem Verständnis von Oper bzw. Operndorf bei Christoph Schlingensief eine gegenkulturelle Bedeutung bzw. eine Umkehrung der Perspektive, der Wahrnehmung und der Lesart anhaftet. Dieser Dimension der Wahrnehmung und Lesart wird man nicht gerecht, wenn Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso einseitig aus der dominanten (häufig europäischen) Perspektive wahrgenommen wird.

2. T RADIERTE K UNSTWAHNEHMUNG UND S CHLINGENSIEFS O PERNDORF -V ISION Die tradierten, eurozentrischen Wahrnehmungsweisen fassen Kunst – im Sinne der Moderne – entsprechend der gattungstheoretischen Einteilung der Kunst in Künste und deren medienspezifischen sowie geschlossenen Ausdrucksformen. Schlingensiefs Operndorf, das die Grenze zwischen Kunst und Alltag überschreitet, lässt sich im Kern nicht mit diesen tradierten Wahrnehmungsweisen begreifen, ohne gleich wieder auf typisch eurozentrische Kategorien zurückgreifen. Bemerkenswert erscheint hier Schlingensiefs Behauptung in Bezug auf sein Projekt ›Chance 2000‹: »Ich wollte immer auch etwas Utopisches, den Ansatz einer Vision – etwas zu sehen geben, was man normalerweise nicht sieht […]. Die Umkehrung der Perspektive hat mich immer interessiert: Wenn man glaubt, man sieht etwas, aber dann dreht sich das um, nicht nur in der Realität, sondern auch und gerade im eigenen Kopf.« (Schlingensief 2012: 59) Und konkret in Bezug auf das Operndorf:



160 | K OKU G. N ONOA Natürlich hab ich auch ganz bewusst von Begriffen wie Festspielhaus, Opernhaus gesprochen. Damit viele Leute eintreten in den Gedanken. Ihre eigene Fantasie freisetzen. Oper ist nun mal in Deutschland der Überbegriff für den elitären Glanz der Hochkultur. Eigentlich in der ganzen Welt. Deswegen fand ich den Begriff schon mal gut, weil er zu Missverständnissen eingeladen hat, weil man an den Reaktionen gemerkt hat, wie plakativ wir hier in Europa sind. Weil er uns zwingt, mal über unseren Kunstbegriff nachzudenken. Und weil wir mal überlegen müssen, was das denn eigentlich sein kann: sinnvolles Helfen, sinnvoll Gutes tun. Denn diese Idee, ich geh jetzt mit meinem europäischen HelferGen mal nach Afrika und tu was Gutes, ist Bullshit. (Ebd.: 166f.)

Damit ist in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, dass viele von den tradierten Wahrnehmungskategorien, die dominant bzw. Mainstream sind, in bestimmten Situationen umgekehrt bzw. überdacht werden sollten. Hier geht es vor allem um eine Emanzipation von kolonialistischen Wahrnehmungskategorien, die bis heute bezüglich des interkulturellen Austauschs zwischen Afrika und Europa mitschwingen und fortleben. Das Operndorf in Burkina Faso ist kein Inbegriff einer neokolonialen-zivilisatorischen Mission im 21. Jahrhundert, die unter dem Deckmantel der Entwicklungshilfe helfend Kunst nach Afrika bringen möchte. Im Gegenteil erfüllt der Begriff ›Operndorf‹ eine bestimmte Funktion, wie Schlingensief selbst angemerkt hat, die erstens die Aufmerksamkeit auf sich ziehen soll, um das Unsichtbare sichtbar zu machen und sowohl zur kritischen Reflexion binärer Wahrnehmungskategorien zu bewegen als auch zur Umkehrung der Perspektive bzw. um so zu einer anderen Lesart einzuladen: Jenseits des Postkolonialismus entspricht dies dem ›radikalen Performancekonzept‹. »Das ›radikale Performancekonzept‹«, so Sybille Krämer, »ist operativstrategisch zu verstehen: Indem das Performative als die eine Seite eines binären Schemas auftaucht, kann es zur Destabilisierung und Dekonstruktion eben dieses klassifikatorischen Schemas verwendet werden und – als subversive Kraft – auf die Grenzen von dichotomischen Begriffsbildungen verweisen«. (Krämer 2009: 134) Zweitens ist Schlingensiefs Operndorf nicht nur als ein operativ-strategisches Konzept zu verstehen, sondern auch als eine performative Konstruktion, die »selbstreferientiell« und »wirklichkeitskonstituierend« ist (FischerLichte 2004: 33). Insofern bezieht sich das Operndorf in Burkina Faso auf sich selbst, konstituiert sich und fungiert als Realität, die angesichts ihres geographischen, sozioökonomischen und kulturellen Raums die international etablierte und tradierte Wahrnehmung der »Freizeitgattungen« Theater, Tanz, Gesang, Kunst, Schriftstellerei und Komposition, wie sie Victor Turner in Vom Ritual zum Theater (1989) formuliert hat, destabilisiert und umkehrt (Fischer-Lichte



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2012: 47). Der Philosoph und Kulturwissenschaftler Tasos Zembylas bemerkt zu Recht: Die verschiedenen Erscheinungsorte und Erscheinungsweisen des Kunstbegriffs deuten daraufhin, daß Kunst ein multifunktionales Phänomen in menschlichen Gesellschaften ist. Denn jedes Kunstwerk kann mehrere Funktionen einnehmen und mehrere Zwecke erfüllen. Es erfüllt Funktionen, weil es sich in einem System von kollektiven (ökonomischen, sozialen, politischen, kulturellen) und individuellen Bedürfnissen befindet. Auch verschiedene soziale, politische und ökonomische Instanzen sind daran interessiert, Einfluß auf die Produktion und Rezeption von ästhetischen Symbolen bzw. von Kunstwerken zu nehmen – und sie tun es auch! Deshalb sind die Unterscheidungen zwischen ›U-Kunst‹ und ›E-Kunst‹, ›hoher Kunst‹ und ›trivialer Kunst‹, ›reiner Kunst‹, und ›angewandter Kunst‹ soziohistorisch interessant, jedoch im Sinne einer Wesensverschiedenheit ziemlich bedeutungslos. (Zembylas 1997: 15; Hervorh. i. Orig.)

Die verschiedenen Erscheinungsweisen der Kunst als multifunktionales System implizieren unterschiedliche Wahrnehmungs- und Rezeptionsweisen. Die sogenannten Freizeitgattungen nach Turner unterscheiden sich eben im Sinne einer Wesensverschiedenheit nicht so sehr von einigen ›afrikanischen‹ Theaterformen, wie sie z.B. in Bereichen von Theater und Tanz, Kunst und Komposition anzutreffen sind. Aus einer performativen Perspektive, die über die beschränkende Schrift- bzw. Textzentriertheit hinausgeht, lassen sich verschiedene Konzeptualisierungen und Erscheinungsformen von dem, was als ›Kunst‹ bezeichnet wird, als transkulturelles Phänomen mit multifunktionalen Rollen bzw. Aufgaben fassen: Hier erfüllt Kunst eine Freizeit- bzw. Unterhaltungsfunktion und erscheint vom Alltagsleben getrennt; aber dort ist sie verpflichtend, didaktisch und therapeutisch – und nicht nur das: Insbesondere ist die spirituell-rituelle sowie transformative Funktion der Kunst mit alltäglicher Lebenswirklichkeit verwoben. Aufgrund der performativen Destabilisierung binären Denkens kann beobachtet werden, dass die tradierten Wahrnehmungskategorien von Kunst sich nicht mehr eignen, um zu bestimmen, was Kunst ist und was nicht. Mit HansThies Lehmann »stellen wir in dieser Hinsicht […] fest, dass die Autonomisierung der Kunst zu verschiedenen Zeiten verschiedene Bedeutungen hat. In der Gegenwart ist es geradezu zum Kriterium von interessanter Kunst geworden, daß man nicht mehr ganz genau wissen kann, ob es sich um Kunst handelt.« (Lehmann 2013: 20) Damit werden die Distinktions- und Identifikationsversuche zwischen Kunst und Nicht-Kunst sowie zwischen Unterhaltungs- und Transformationsfunktion obsolet. Das gilt auch für die Gegenwartskunst, deren Grenzen verwischen:



162 | K OKU G. N ONOA Denn es begegnen nun immer häufiger Werke, die sich weder der Tradition allein einer Kunst zuordnen lassen noch überhaupt sich auf die traditionellen künstlerischen Medien beschränken […]. Überdies geben die Werke nicht mehr zu erkennen, wo die Grenze zu ihrem nicht-künstlerischen Außen verläuft; vielmehr destabilisieren sie diese gezielt. Durch die Entwicklungen gerät die nachkriegsmodernistische Kunsttheorie, die bei aller Kritik der idealistischen Ästhetik, noch an der Idee geschlossener Werke und an der Notwendigkeit einer Einteilung der Kunst nach Künsten festhält, in eine Krise – und mit ihr der Begriff des künstlerischen Fortschritts. Denn angesichts hybrider und offener Werke erscheint es auf den ersten Blick unmöglich, überhaupt noch Entwicklungslogiken zu identifizieren. Die entgrenzten Werke scheinen sich nämlich nicht dem Vergleich mit der Kunst der Vergangenheit zu entziehen, weil sie sich – als intermediale – nicht mehr eindeutig vor den Hintergrund je einer Tradition (der Musik, der Malerei, der Bildhauerei, der Literatur usw.) lesen und beurteilen lassen, sie sind – durch ihre unklaren Grenzen zur nicht-ästhetischen Lebenswelt – noch nicht einmal mehr als ein objektiv Bestimmtes gegeben. Denn es ist hier vielfach unklar, welches Element überhaupt noch zum Werk zu zählen ist und welches nicht mehr. (Rebentisch 2013: 15f.; Hervorh. i. Orig.)

Demnach ist es notwendig, sich von den dominanten Wahrnehmungsformen und Urteilskriterien, die von einem traditionell eurozentrischen Kunstbegriff ausgehen, zu emanzipieren. Der Performativierungsschub, die sich herausbildenden neuen Kunstgattungen, die fließenden Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten sowie zwischen Kunst und Alltag, die Ereignisse statt (Kunst-)Werke schaffen, zwingen zu anderen Wahrnehmungsperspektiven und Urteilskriterien. Inwiefern kann eben die Operndorf-Vision jenseits des Postkolonialismus wahrgenommen werden?

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Das postkoloniale Wissen und die Fotografie Leonore Mau, Hubert Fichte, Thomas Meinecke und Michaela Melián in Bahia J AN G ERSTNER

Im Frühjahr 2010 verbrachte der Schriftsteller Thomas Meinecke zwei Monate als Stipendiat in Salvador da Bahia, der Wiege des durch Aufnahme katholischer und indigener brasilianischer Elemente aus den religiösen Überlieferungen der afrikanischen Sklaven entstandenen Candomblé (vgl. Reuter 2003: 74-77). Die intensive Beschäftigung mit den afroamerikanischen Religionen prägt das Werk des Schriftstellers Hubert Fichte und der Fotografin Leonore Mau, die 1971, nach einer drei Jahre zuvor unternommenen, eher touristischen Brasilienreise, fast ein Jahr mit der Erforschung des Candomblé in Bahia verbrachten. Seinen Niederschlag fand dies neben Zeitschriftenartikeln und Rundfunkfeatures in ethnologischen Untersuchungen wie Xango (1976), einer Doppelpublikation aus ethnologischem Bericht und Fotoband, und in literarischen Texten, vor allem in dem Roman Explosion (2006/erst. 1986). In Meineckes 2011 erschienenem Roman Lookalikes wandert der Schriftsteller Thomas Meinecke auf den Spuren Hubert Fichtes durch Bahia; eine Nachfolge, die sich in der Einführung der Romanfigur Thomas Meinecke1 ebenso niederschlägt wie in extensiven Zitaten und formalen Imitationen (vgl. ausführlich Bierwirth 2012, vgl. auch Hammelehle 2011: 300). Auch die Konstellation einer ›doppelten Dokumentation‹ (vgl. Braun 1997) durch den Schriftsteller Fichte und die Fotografin Mau wird von Meinecke zusammen mit seiner Frau, der bildenden Künstlerin Michaela

1

Um weitere Verwirrungen in der Bezeichnung weitgehend zu vermeiden: Im Folgenden wird von der Romanfigur als Thomas Meinecke gesprochen, der empirische Schriftsteller lediglich mit dem Nachnamen bezeichnet.



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Melián, aufgegriffen. Nach einer an Fichtes und Maus journalistische Arbeiten u.a. für den Spiegel erinnernden Vorabveröffentlichung von Bahia betreffenden Auszügen aus Lookalikes zusammen mit Fotos von Melián in Spex (vgl. Bierwirth 2012: 106) erscheint 2013 mit Iemanjá ein Fotobuch über den gemeinsamen Besuch bei einer Prozession für die Göttin Iemanjá in dem bei Bahia gelegenen Ort Santo Amaro.

1. Ä STHETIK

DER

O BERFLÄCHE

Ein wichtiger Bezugspunkt ist Fichte für Meinecke nicht zuletzt, weil er in einem Sinne als früher Vertreter von Popliteratur gilt, der Meineckes eigenem Verständnis von Pop weitgehend entspricht. Trotz der bei Meinecke reichlich vorhandenen popmusikalischen Referenzen betrifft dies mit »Verfahren des Protokollierens, Zitierens und Aufzählens […] eher strukturell[e] denn thematisch[e]« Aspekte (Schumacher 2003: 190). Lookalikes setzt dieses Popkonzept in der Form eines Theorieromans um, einer Collage verschiedener Handlungsstränge, die auf ›Handlung‹ im klassischen Sinne freilich überwiegend verzichten. Stattdessen steht hier die Diskussion von Queer Theory, Gender Performances, Mode, der Geschichte des Striptease und den Inszenierungstechniken afroamerikanischer Kultur und Musik, v.a. der synkretistischen Religionen Lateinamerikas im Vordergrund. Wie bei anderen Texten Meineckes liegt das Popkulturelle von Lookalikes weniger in der »literarische[n] Archivierung eines Diskurses« (Baßler 2002: 135) als in dessen performativer Umsetzung. Scheinbar unvermittelt hintereinander geschnittene Zitate und Referenzen auf unterschiedliche Kontexte bilden eine Verweisstruktur, die fast offensiv auf der Textoberfläche bleibt und in der Verweigerung eines ›tieferen‹ Sinns ästhetisch die poststrukturalistischen Theoreme umsetzt, die von den Figuren auf der Ebene der histoire diskutiert werden (vgl. ausführlich am Beispiel von Tomboy Dunker 2006). Die Dekonstruktion von Begriffen wie ›Identität‹ und ›Authentizität‹ bestimmt in Lookalikes schon die titelgebende Konstruktion der Figuren als Doubles von Prominenten wie Josephine Baker, Elvis Presley, Britney Spears, Serge Gainsbourg und anderen, die fast ausschließlich mit diesen Namen benannt werden. Die Figuren verweisen auf andere, deren Äußeres sie kopieren, und nicht auf eine charakterliche Essenz. In gewisser Weise weicht die Figur Thomas Meinecke von diesem Prinzip ab, stellt sie doch textintern kein Lookalike eines intradiegetisch präsenten Prominenten dar, sondern das einer textexternen Person. Die Einführung eines Autor-Doubles ist aber selbst Wiederholung und Zitat der autofiktionalen Anlage von Hubert Fichtes Protagonist Jäcki in Explosion



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und anderen Texten (zur Diskussion des Begriffs ›Autofiktion‹ bei Fichte vgl. Bandel 2008: 46-49). Die auto- und metafiktionale Verdopplung des Autors als Romanfigur ist so wieder intertextuell gedoppelt bzw. vervielfacht: »Fichte überschrieb [Jorge; J.G.] Amado, ich überschreibe Fichte, denkt Thomas Meinecke. Das Leben als Palimpsest.« (Meinecke 2011; Hervorh. i. Orig.; vgl. dazu Fichte 1976: 41f.)2 Die Beschäftigung Thomas Meineckes mit der postkolonialen Kultur Brasiliens ist vor diesem Hintergrund zu lesen. »Thomas liebt an Kulturen gerade das Hybride. Das Eine im Anderen zu meinen« (L 152), heißt es nach dem ersten Besuch Thomas Meineckes bei einer Candomblé-Zeremonie in Bahia. Diesen Vorlieben kommt der Candomblé in mehrfacher Weise entgegen. Als synkretistische Religion kolonialen Ursprungs, die verschiedene religiöse Elemente scheinbar nebeneinander bestehen lassen kann – insbesondere mit der Verbindung von katholischen Heiligen und afrikanischen Göttern –, zeigt sich in ihm zunächst das »uneigentliche Sprechen (signifying) […] als Grundtugend afrikanisch-amerikanischer Kultur« (L 108). Das zentrale Thema der Doppelgänger und der performativen Konstruktion von Identitäten findet sein Äquivalent in der für Candomblé-Zeremonien zentralen Trance, in der die Gläubigen als Götter selbst erscheinen: »Eigentliche Sensation: Die Besessenen (in ihren naiven Kostümen wie aus Spielwarenabteilungen) sind die Götter selbst« (L 301). »It’s all about performativity« (L 300), assoziiert Thomas Meinecke, der im Text als gläubiger Katholik markiert ist, über die Realität religiöser Vorstellungen bei einem Candomblé-Besuch. Die religiöse Erfahrung ist ein semiotisches Spiel, das die Transzendenz performativ hervorbringt. In expliziter Abgrenzung vom »Journalisten Fichte«, der die Riten zumindest in Zeitschriftenbeiträgen auf archetypische, existenzielle Erfahrungen bezog, geht es Thomas Meinecke »hier eher ganz stark um Oberflächen des Immateriellen […], um die zeichentheoretische Wollust der Transsubstantiation« (L 151). Das »strategische[ ] Lob der Oberfläche« (Büsser 1999: 190) findet sich explizit freilich schon bei (dem Schriftsteller) Fichte, bezieht sich dort aber weniger auf das Objekt der Religion als auf eine Form der Annäherung an sie: - Was wissen Sie von den Religionen der Schwarzen. - Das können Sie nicht beurteilen. - Beurteilen kann ich es nicht, sagt Jäcki. - Aber ich kann es sehen, hören, riechen. Ich kann sie anfassen.

2

Zitate aus Lookalikes werden im Folgenden mit der Sigle ›L‹ und Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen.



168 | J AN G ERSTNER - Und ich kann die Kraft sehen, die Schönheit, die Fröhlichkeit, die Pop Art der Armen, das kam mal von Popular Art, ihre Revolution kann ich wohl sehen. Die Oberfläche genügt mir. Die Anordnung der Materialien am Hafen. Ich will keine Inhalte. - Sie werden gar nichts erkennen. Wenn Sie nicht drinnen in ihrem System sind. - Ich kann mit ihnen ficken. 3

Das erschreckt den fortschrittlichen Leiter des Goetheinstituts doch. (Fichte 2006: 133 )

In Lookalikes wird diese Stelle, die bei Fichte ebenso programmatisch wie polemisch zu verstehen ist, ausführlich zitiert (vgl. L 159), konkretisiert sich doch in ihr die für Meinecke interessante Haltung, bei der die Dinge »popistisch von der Oberfläche her abgetastet« werden (L 341). Unmittelbar zuvor findet sich ein weiteres Zitat aus Explosion, das in vergleichbarer Weise zentralen Motiven aus Lookalikes entspricht: Bi In Othmarschen über den Candomblé schreiben. Über Irma an Mario denken. Bikontinentalität Eins ganz. Das konnte Jäcki nicht. Die Reinheit fand Jäcki furchtbar Die Reinheit gibt es nicht. Die Dinge selbst existierten nicht. (Ex 336)

Diese nicht weniger programmatische Stelle mit ihrer für Fichte zentralen Überdeterminierung des »Bi« (vgl. dazu auch Fichte in Mau 1976: 53-61; vgl. dazu Weinberg 1995) verweist im Kontext aber auf das schon im vorherigen Zitat angesprochene sexuelle Motiv der Beschäftigung mit den afroamerikanischen Religionen, das Thomas Meinecke, bei aller Sympathie für die Ablehnung der Reinheit, »als (zumindest politisch) antiquiert empfindet.« (L 227) Der in Fichtes und Jäckis erotischer Fixierung auf dunkelhäutige Männer angelegte sexuelle Exotismus 4 produziert Alterität aber auch über das Interkulturelle hinaus und hält sie als solche präsent. Im direkten Zusammenhang der zuletzt zitierten Stelle wird dies expliziert:

3

Zitate aus Explosion werden im Folgenden mit der Sigle ›Ex‹ und Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen.

4



Vgl. eher abwägend zu dem Komplex Böhme (1992: 260-264).

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Nicht Körper ficken. Die Möglichkeit, der Traum, die Geschichte. Die Erfüllung ist die Sehnsucht Einfach da sein, das konnte Jäcki nicht. Das war ja furchtbar. - Wenn das Unerreichbare da ist, brechen die Träume entzwei Und man erkennt, sie sind leer. - Aber das ist ja der Tisch der Sehnsucht, der nie leer wird. - Der scheißidealistische Tisch der Sehnsucht. - Der Tisch der Sehnsucht, der nie leer wird, weil er nie voll war. Deshalb bezahlte Jäcki doch auch. (Ex 336f.)

»Geld ist die lingua franca der Fremde, denn es ist schmutzig« (Honold 2000: 81), kommentiert Alexander Honold diese Stelle, und der ›Schmutz‹ des Geldes ist sicherlich auch Teil einer Selbstreflexion der eigenen Forschungssituation, der Machtposition als weißer Europäer in Bahia, wie sie nicht nur in Explosion immer wieder benannt wird. Das Geld schafft aber zugleich Distanz und garantiert, dass das Fremde nie ganz aufhört, das Andere zu sein. Sexualität ist in dieser Form auch ein Medium, das als solches von vornherein keine Verschmelzung mit dem Anderen ermöglicht. Daher kann sie zusammen mit dem Lob der Oberfläche so provokant mit der ethnologischen Wissensproduktion parallelisiert werden. Dies steht durchaus einer »popkulturelle[n] Tradition der interkulturellen Erfahrung« nahe, wie sie Thomas Meinecke im Bekenntnis »gegen Fichte zu Fichte« vorschwebt, und die »erst bei ihm selbst als solche erkennbar geworden ist.« (Goer 2013: 214) Anders als bei Meinecke, der sein literarisches Double diese Aspekte von Fichtes Texten kritisieren lässt (vgl. L 337-341), ist diese Form der Erfahrung bei Fichte ebenso wie seinem Protagonisten Jäcki mit einem Willen zum Wissen verbunden, der seine eigene Problematik zwar immer wieder reflektiert, ihr dabei aber nicht entkommt. Jäcki geht es schließlich vor allem bei den ersten beiden Brasilienreisen darum, zu wissen, »was drin ist. / Da drin / […] / Ein anderes Wissen. / Das Bewußtsein der Afrikaner […] / Das ganz Andre, genau, ganz.« (Ex 141) Dieses ethnologische Wissen wird im Roman immer wieder als »Conquista« in die Tradition kolonialer Eroberung und des Sklavenhandels gestellt.5 An der »Kolonisierung des ethnologischen Rohmateri-

5

Vgl. u.a. Ex 100, 132, 172, 232, 391, 413. An dieser Reihe wäre genauer im Detail herauszuarbeiten, wie die Metapher der Conquista von der anfänglichen Beziehung auf die etablierte Ethnologie schließlich auch Jäckis Unternehmung einbegreift. Vgl. zu Fichtes Kritik an der kolonialen Komplizenschaft der Ethnologie auch Fichte (1976: 119) und Fichte (1984).



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als durch nordamerikanische und europäische Wissenschaftler« (Ex 510), von der Jäcki bei seiner dritten Brasilienreise spricht, partizipiert er selbst, wenn er »wie ein Kauffahrteischiff mit dickem Bauch« (Ex 413) von seiner zweiten Reise heimkehrt, auch hier freilich mit dem Zweifel, ob nicht »der Ethnologe, […] Verger und er etwas zu tun [hatten] mit dem Dreieckshandel« (ebd.). Die autofiktionale Konstruktion von Explosion erlaubt dabei sicherlich eine manchmal karikierend wirkende Selbstdistanzierung. In dieser Hinsicht leistet der Roman der Ethnologie das, was als im Text immer wieder als »Ethnologie über die Ethnologen« (Ex 137) angedacht wird. Jäckis Zweifel prägen jedoch ebenso die faktual verfassten Texte Fichtes, etwa die eindringliche Selbstreflexion zu Beginn des Haiti-Kapitels von Xango: »Wir sind die Sieger. / Wir treten auf mit der Haltung der Siegreichen. / Wissen ist Macht.« (Fichte 1976: 119) Selbst eine Haltung, wie sie Jäcki an den Tag legt, der zumindest 1971 die Tradition des europäischen Wissens noch nicht aufgeben will (vgl. Ex 414), bleibt von dieser Kritik nicht verschont: »Der Avantgardist siegt mittels seiner Zweifel.« (Fichte 1976: 119) Es sei allerdings dahingestellt, ob dem die Behauptung abhelfen kann, selbst »nicht als Sieger« aus der Begegnung mit der postkolonialen Gesellschaft Haitis – die anderen Reisestationen Fichtes ließen sich anschließen – hervorzugehen, indem die eigenen Aufzeichnungen als »Aufzeichnungen von Irrtümern, Fehlschlüssen, Kurzschlusshandlungen« deklariert werden, und ob die Hoffnung auf »weniger kolonisierende Ausdrucksweisen« bei den »Indianer[n] und Afrikaner[n]« (ebd.) tatsächlich die Abkehr vom und nicht die Kehrseite des Kolonialen bedeutet. Einen Versuch, die entsprechende Ausdrucksweise zu konstruieren und einen »postkolonialen Blick« einzunehmen (vgl. zu Fichte Bauschinger 1998: 199), mag man – mit einer, wie bei Meinecke, entsprechend popkulturell und poststrukturalistisch informierten Sichtweise – in Fichtes Techniken der Montage und der Aufzählung sehen, die auf eine hermeneutische Bewältigung des Materials weitgehend verzichten.6 Fichtes in den fiktionalen wie den faktualen Texten formuliertes Programm einer interkulturellen Erkenntnis steht so zwischen einer Herangehensweise, wie sie die Oberflächenmetapher positiv wendet, einer sinnlichen, nicht auf Überwältigung und Einverleibung des Fremden orientierten Beschreibung auf der einen Seite, und auf der anderen Seite dem Versuch, doch das Geheime, das »ganz andre« zu erfassen, es »aufzuschreiben«, verbunden mit dem Anspruch: »Genauer. / Ja. / Wissenschaft.« (Ex 148f.) Eine wesentliche Rolle spielt dabei in beiden Hinsichten die Fotografie, wie sie zusammen mit Fichtes Forschungen

6

Zu einer entsprechenden Deutung bei Meinecke vgl. L 328. Vgl. zur Montage in Explosion und in ethnologischen Schriften Fichtes Seifert-Waibel (2005).



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seine Partnerin Leonore Mau praktizierte, die ihr literarisches Alter Ego in der Figur Irma findet. Fichtes an der Montage orientierte Schreibweise mit ihrer charakteristischen Verbindung von konstruierender und fiktionalisierender Verwendung vorgefundener Materialien wird in den Romanen selbst immer wieder metapoetisch mit der Fotografie enggeführt.7 Diese an der ›Oberfläche‹ orientierte, fotografisch konnotierte Poetik findet ihr Gegengewicht in dem Versuch, auch die geheimsten Riten fotografisch zu erfassen.

2. F OTOGRAFIE

UND

T EXT

Die Bedeutung der Fotografie für das Schreiben über den Candomblé bei Fichte wird im Zusammenhang mit einem sowohl handlungslogisch wie figurenpsychologisch zentralen Motiv der Forschung während des einjährigen Aufenthalts in Bahia deutlich: Der Suche nach dem äußerst selten fotografierten ›Blutbad‹, eines Teils der Einweihungszeremonie, bei dem die Novizen mit dem Blut der Opfertiere übergossen werden. Über lange Strecken steht der Versuch, dies zu fotografieren, metonymisch für das gesamte Unterfangen, den Candomblé in Bahia gründlich zu untersuchen. »Wer dort als Außenstehender ankommt, hat es geschafft. Auf eine profane Weise ist er initiiert. Fortan kann er als ›Eingeweihter‹ unter den Forschern gelten.« (Braun 1997: 196) Über den Ehrgeiz der Forschung hinaus trägt selbstverständlich der Schauwert eines Bilds dieser Zeremonie zur entsprechenden Faszination bei. Hier treffen scheinbar die Geheimnisse des Candomblé, die vermeintliche exotische Archaik der Religion und die damit assoziierten Gefahren der Forschung sowie der Situation des zeitgenössischen Brasiliens zusammen: »Das blutüberströmte Gesicht des Gläubigen mit den geschlossenen Augen schien Jäcki das Gesicht von Bahia de Todos os Santos in diesem Jahr zu sein« (Ex 192). In diesem Bild käme auch die vom Militärregime praktizierte Folter von Oppositionellen zum Ausdruck: »Irma würde auch das, was man gar nicht darstellen konnte, auch Amnesty International mit dem Jahresbericht nicht – in einem Cliché zusammenfassen« (ebd.). Die doppelte Bedeutung des ›Cliché‹ weist neben dem fotografischen Abzug auf das Fragwürdige und Illusorische des Unterfangens hin, dieses Geschehen unbedingt fotografisch festhalten zu wollen. In einem Moment des Selbstzweifels reflektiert dies Jäcki selbst: »Und das Blutbad. / Romantik, Exotismus. War das nicht schlechtester

7

Zur poetologischen Funktion der Fotografie bei Fichte vgl. neben meiner Arbeit (Gerstner 2013: 314-331) im vorliegenden Zusammenhang die Untersuchungen von Braun (v.a. 1997) und Simo (1993: v.a. 144-152).



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Hans Henny Jahnn? / Jeder Jahresbericht von Amnesty International war entsetzlicher.« (Ex 207) Auch jenseits der formulierten Selbstzweifel Jäckis legt der Text nahe, dass der Versuch, das ›Blutbad‹ zu fotografieren, mehr oder weniger ungewollt in einer als kolonial deklarierten Tradition steht, die das Fremde zum Objekt europäischen Wissens macht. Schon bei der ersten Brasilienreise wird das ›Blutbad‹ über einen Fotoband rezipiert, den eine brasilianische Tageszeitung »in Auftrag gegeben hatte, um all den Franzosen, den Lévi-Strauss, den Camus, den Clouzot, den Verger, die wie Conquistadoren der Folklore in Caravellen herübergesegelt kamen, etwas Brasilianisches entgegenzusetzen.« (Ex 100) In den Fotos des Bands sehen Irma und Jäcki dann freilich »die Fotografien eines Reporters«, »[k]eine Kunst, sozusagen« (Ex 101f.). Diesen Bildern werden die beiden wiederum etwas entgegensetzen wollen, das, der ausformulierten Logik nach, doch wieder in der Tradition der »Conquistadoren der Folklore« (Ex 100) stehen müsste. An der schließlich zustande gekommenen Beobachtung der entsprechenden Zeremonie wird Fichtes strategischer Einsatz von Schreibweisen je nach Publikationsort deutlich. Während er in einem Beitrag für das ZEIT-Magazin von einer »Bluttaufe« als »Imitation des Geburtsvorgangs« spricht (zit. n. Braun 2005: 173),8 sind die Beschreibungen des ›Blutbads‹ von solchen aufs Archetypische zielenden Deutungen in Explosion und in Xango weitgehend frei. Die Dramatik des Geschehens kommt gleichwohl zur Geltung. Der Anlage des Romans entsprechend wird in Explosion stärker auf das persönliche Erleben des Opferrituals fokussiert, auf die unmittelbaren Reaktionen Jäckis und Irmas während der Zeremonie (»Jäcki wird schlecht / Er muß kotzen / Irma lehnt sich bleich an die Rückwand des Tempels« [Ex 346]) und auf die abschließende Erleichterung. Wenn Jäcki »im Morgengrauen die Jupitersymphonie« pfeifend Bezüge zu Ödipus, der griechischen Tragödie und der Katharsis herstellt, ist zumindest der Bezug auf letztere im unmittelbaren Handlungszusammenhang auf ihn selbst wohl ebenso übertragbar wie auf die Textdramaturgie. Innerhalb von Explosion bildet das Fotografieren des ›Blutbads‹ den Abschluss eines wichtigen Handlungsstrangs des zweiten Romanteils. Im ethnografischen Bericht Xango steht dagegen die Opferzeremonie am Ende des Bahia-Kapitels, gleichsam als Höhepunkt der Darstellung des Candomblé. Ähnlich wie in Explosion wird die körperliche Dimension der Zeremonie, die Schlachthandlung, das Übergießen mit dem Blut, der Umgang mit den Organen der Opfertiere, detailreich und drastisch beschrieben. Den kompositorischen Abschluss bildet aber die kurze Befragung einer No-

8

Vgl. dazu: »Och nö, denkt sich Thomas, der den Schriftsteller Fichte dem Journalisten Fichte vorzieht.« (L 151)



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vizin in einem anderen Tempel, die die Kosten für ihre Einweihung in der Küche der Priesterin abarbeiten muss: »Das Mädchen antwortet nicht und schrubbt weiter.« (Fichte 1976: 116) Damit sind nicht nur die internen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse im Candomblé angesprochen, sondern auch der ekstatischen Dramatik der vorher beschriebenen Zeremonie wird mit der Banalität der Tätigkeit ein für die Darstellung der afroamerikanischen Religionen nicht unwesentliches Gegengewicht zur Seite gestellt.9 In der extensiven Schilderung der Suche nach dem ›Blutbad‹ im Roman erscheint dieses primär als Foto interessant; Jäcki hält es für »Irmas Angelegenheit«, im Ergebnis ein »schwarzweiß Foto im Spiegel und zwei, drei, vier, fünf Fotos in dem strukturalistischen Band über Bahia de Todos os Santos.« (Ex 320) Schon die Steigerung in Jäckis Reflexion von zwei bis fünf Fotos zeigt, dass die Faszination des Fotos nicht allein »Irmas Angelegenheit« ist, so wie auch das »strukturalistische[ ] Fotobuch« (Ex 126) ein ursprünglich von Jäcki angestoßenes gemeinsames Projekt darstellt. Im Bildband Xango finden sich nun nicht mehrere, sondern bloß ein Foto der Opferzeremonie (vgl. Abb. 1). Zwar ist es als ganzseitige Abbildung prominent platziert (das gilt aber auch für andere Fotos im Band) und zeigt mit dem blutüberströmten Gläubigen durchaus ein relativ schockierendes Bild, doch reicht die Dramatik des Fotos nicht an die Beschreibungen im Textband heran.



9

Ähnlich wie im Titel von Fichtes »Kleiner Einführung in die Afroamerikanische Kultur«: Lazarus und die Waschmaschine (1985).



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Abb. 1

Quelle: Mau 1976: 44f.

Im Vergleich mit einem anderen Foto der gleichen Situation fällt auf, dass zugunsten der Konzentration auf den Gläubigen einige Details am unteren Bildrand – mit Blut und mit Tierbeinen gefüllte Schüsseln – in der beim Bild in Xango gewählten Kadrierung nicht zu sehen sind (vgl. die Abb. bei Schoeller 2005: 260f.). Es scheint, als habe das Foto, sein Motiv und der Versuch, es aufzunehmen, für den Text, der die Handlung seines Zustandekommens erzählt, eine größere Bedeutung als für den Bildband selbst. Auf der anderen Seite erfüllen die Erzählungen von den Schwierigkeiten, diese Zeremonie zu fotografieren, im Textband die Funktion, wie Nicola Müllerschön dies in einem ähnlichen Zusammenhang festgestellt hat, das »Bild als Träger exklusiven Wissens, zu dem Fichte und Mau Zugang bekommen haben« (Müllerschön 2010: 279), zu deklarieren. Der Imaginationsraum, den der Text in der Beschreibung eröffnet, wird durch die Fotografie aber nicht vollständig ausgefüllt bzw. nur durch die assoziative Montage des Fotos der Zeremonie mit Bildern von Leichen und Särgen auf der folgenden Doppelseite und wiederum durch die dazugehörigen Kommentare im Anhang des Bildbands, die darauf hinweisen, dass der »Tod […] in Bahia de Todos os Santos immer gegenwärtig« ist (Mau 1976: 168), auf einen größeren Kontext bezogen und mit einer dem Text vergleichbaren Bedeutsamkeit aufge-



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laden. Das mit der Fotografie in den Texten verbundene Versprechen einer Verdichtung und unmittelbaren Präsenz der gesamten Realität des Candomblé und Bahias findet seinen Platz eher zwischen Bild und Text, und zwischen den Bildern. Die Annäherung an die Fremde und an das, was im Candomblé das ›ganz andre‹ verspricht, ist so auch auf das andere Medium verwiesen,10 ebenso aber auf die Zwischenräume, die Übergänge und Brüche. Der Text baut die Erwartung einer Präsenz des Anderen der afroamerikanischen Kultur als Erwartung an das andere Medium, die Fotografie, auf, und doch bleibt diese auf den Text und das Syntagma der Bildzusammenstellung im Fotobuch angewiesen. Das »strukturalistische Fotobuch« – wenn man Jäckis Formulierung auf Maus Bildband anwenden will – und der Textband Xango sind dabei gleichermaßen von den Verfahren des Zerlegens und der konstruktiven Montage eines Bilds der afrobrasilianischen Kultur geprägt. In beiden Fällen folgt die Darstellung weitgehend der Abfolge der Einweihungsriten, die anhand unterschiedlicher Tempel und Traditionen dokumentiert und zusammengesetzt werden. Während im Textband die Annäherung an den Candomblé und damit der Forschungsprozess sowie die anschließende Beschreibung verschiedener Zeremonien durchbrochen ist von Interviews und Zeitungsausschnitten zur sozialen und politischen Lage in Brasilien, steht die Einbettung des Candomblé in die Lebensbedingungen der afroamerikanischen Bevölkerung Bahias im Bildband am Anfang, um dann über Bilder, die den sexuellen und kulturellen Synkretismus in der bahianischen Gesellschaft thematisieren, sich den eigentlichen Riten zu widmen.11 Die Bedeutung, die bei dieser Montage den Zwischenräumen und dem Verweis von Einzelteilen untereinander zukommt, die als solche nie vollständig sind, kommt der ›popistischen‹ Lesart Fichtes entgegen. Von Fichtes Versuchen, die »internen Veranstaltungen« (L 151) des Candomblé, wie etwa das ›Blutbad‹, zu besuchen, grenzt Thomas Meinecke sich dagegen explizit ab. Es ist so auch als Gegenentwurf zu diesem Teil von Fichtes Recherche zu lesen, wenn nach dem Bericht von Thomas Meineckes Besuch eines Konzerts in Bahia, bei dem u.a. Mozarts Jupitersymphonie von einem einheimischen Orchester gespielt wird, ein Zitat der Passage aus Explosion folgt, in der Jäcki nach dem Besuch des ›Blutbads‹ diese Symphonie pfeift. Der kulturellen Übersetzung, die der europäische Protagonist nach der erfolgreichen Dokumentierung einer nichtöffentlichen Zeremonie vornimmt, wird die Hybridität Bahias selbst gegenübergestellt. An der öffentlichen Darbietung eines Produkts der europäischen ›Hoch-

10 Vgl. in einem ähnlichen Zusammenhang Frahm (2006: 101ff.). 11 Vgl. zur Gliederung der Fotos im Bahia-Teil in Mau (1976): Braun (2005: 171).



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kultur‹ in einem kulturell anderen Rahmen zeigt der Schriftsteller Thomas Meinecke größeres Interesse als an den Geheimnissen der Kultur des Anderen. Diese andere Art der Annäherung an Bahia artikuliert sich auch in der Thematisierung der Fotografie. Noch relativ zu Beginn seines Aufenthalts kommt sich Thomas Meinecke bei der Vorstellung, zu fotografieren, »vor wie ein Voyeur« (L 92). Im unmittelbaren Zusammenhang wird Fichtes Auseinandersetzung mit dem in Bahia lebenden französischen Ethnologen und Fotografen Pierre Verger zitiert und referiert.12 Vergers Bemerkung zur Annäherung an das System der afroamerikanischen Religionen, »[j]e tiefer man eindringt, desto weniger fotografiert man« (Ex 137), empfindet Jäcki »als einen Verrat des Franzosen an sich selbst« (Ex 167). Jenseits dieser beiden Positionen von Verger, der als Professor am CNRS in Paris dem etablierten Wissenschaftsbetrieb angehört und sich zugleich in die Riten des Candomblé einweihen ließ, auf der einen Seite und Jäcki, der die etablierte Forschung als eine Form von Neokolonialismus kritisiert und die Einweihung als Verwischen der Standpunkte (vgl. Ex 134) zugunsten der distanzierten Betrachtung ablehnt, auf der anderen Seite, positioniert sich Thomas Meinecke, der »den Blick des Fremden« (L 92) nicht ablegt. Als er doch zu fotografieren beginnt, versucht Thomas Meinecke, diesen Blick beizubehalten, ohne ins Voyeuristische oder Touristische abzugleiten: Thomas photographiert überquellende Bushaltestellen, in leere Geschäfte hinein, an Hochhäusern hoch. Straßenszenen, keine Sehenswürdigkeiten. Er möchte beim Photographieren nicht gesehen werden. […] Thomas möchte hier kein Bild ab- und mit sich nach Hause nehmen. Er möchte die Leute nicht damit konfrontieren, sich überlegen zu müssen, was für ein Motiv sie für ihn abgeben. (Sein ewiges Thema mit Wilfried Petzi: Das Photo ohne Motiv.) Peter sagt, die Leute hier hätten gar nichts dagegen, photographiert zu werden (für Leonore Mau hoben sie sogar die Köpfe bei dem Erdrutsch einer Favela ums Leben gekommener Kinder an, damit sie besser aufs Bild kamen) (L 225f.).

Das »Photo ohne Motiv« kann auch als poetologischer Selbstkommentar dieses Romans ohne Handlung gelesen werden. Wenn kurz darauf zwei Absätze mit

12 Auf Fichtes bzw. Jäckis Auseinandersetzung mit Verger, die v.a. in Explosion eine wichtige Rolle spielt, kann hier nicht in der Extensität, die nötig wäre, eingegangen werden. Hinsichtlich des ›Palimpsest-Charakters‹ der Forschungen, den Thomas Meinecke thematisiert, spielt auch ein Fotoband von Verger eine wichtige Rolle, gehört er doch zu den Quellen, die Jäckis Annäherung an die afroamerikanische Kultur Bahias bestimmen. Vgl. u.a. Ex 126; zum Verhältnis von Fichte und Verger vgl. Eisenhofer (2004).



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einem kursivierten »Motiv:« (L 227) eingeleitet werden, liegt die Pointe in diesem Medienwechsel. In den beiden Prosaminiaturen werden Straßenszenen aus dem Alltag der Armen beschrieben, die als Fotografie wahrscheinlich wirklich originelle Bildmotive und Kompositionen abgeben würden, die Fotografierten in ihrer Armut aber zum Objekt ästhetischen Vergnügens machten. Die Personen bleiben freilich auch hier Objekte der Beschreibung, indem sie im Kontext jedoch als Stellvertreter einer Fotografie inszeniert werden, tritt die Verweigerung, sie dem Blick auszuliefern, in den Vordergrund. Das »selbst auferlegte Verbot« Thomas Meineckes, »all die vor seinen Augen passierenden Ungeheuerlichkeiten in mehr als Worten, das heißt auch fotografisch, festzuhalten« (Meinecke in Melián/Meinecke 2013: o.A.) wird schließlich durchbrochen mit der Ankunft von dessen Frau Michaela Melián. Aus deren fotografischer Tätigkeit ging der Bildband Iemanjá hervor, ein »Pastiche der Bände Fichtes und Maus« (ebd.). Dieser dokumentiert den Besuch des im Rahmen des Volksfests Bembé do Mercado stattfindenden »Opfergangs für die afrobrasilianische Göttin Iemanjá, die zugleich Meerjungfrau (Nixe) und irgendwie auch Maria (Mutter Gottes) ist« (ebd.). Das Fest selbst ist durch seinen Anlass, die Erinnerung an die Abschaffung der Sklaverei, Teil einer postkolonialen Erinnerungskultur in Brasilien. Als ›Pastiche‹ erscheint Iemanjá zum einen hinsichtlich der Komposition der Bilder und ihrer oft dichten situativen Einbettung, die an Maus Bilder von Zeremonien erinnert, zum anderen hinsichtlich des Gesamtkonzepts der fotografischen Dokumentation einer Candomblé-Zeremonie, die, wie Maus Bildbände durch Texte Fichtes, durch einen Text ergänzt wird. Im Unterschied zu Fichtes essayistischen Erläuterungen zur afroamerikanischen Kultur in Maus Fotobüchern beschreibt Meineckes Text – ein Auszug aus Lookalikes (vgl. L 239-245) – die gleiche Handlung, die auf den Bildern zu sehen ist. Stärker als in Xango, wo Fichtes Beschreibung und Maus Fotografien auf zwei Bände verteilt und nicht immer deckungsgleich sind, stehen Text und Bild hier in einem Verhältnis der wechselseitigen Entsprechung. Die Zusammenstellung der Bilder ist dementsprechend narrativ motiviert. Gezeigt wird die Fahrt nach Santo Amaro, wo das Fest stattfindet, die Vorbereitung der dortigen Zeremonie, die Zeremonie selbst sowie die anschließende Prozession auf der Ladefläche eines Lastwagens durch die Stadt an den Strand und schließlich zu Fuß ins Meer. Die einzelnen Abschnitte der Bilderzählung sind durch weiße Seiten voneinander getrennt. Die auf Sukzession angelegte Zusammenstellung wird besonders am Anfang dadurch unterstützt, dass einige Bilder nicht auf einer Doppelseite, sondern auf Vorder- und Rückseite einer Buchseite abgedruckt sind. Rechnet man das Bild des Altars für Iemanjá auf dem Buchvorsatz ab, zeigt die erste beidseitig bedruckte Doppelseite das Bild einer Tankstelle, dessen Elemente sich



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nicht zu einem sinnvollen Ganzen beiderseits des Buchfalzes zusammenfügen lassen (vgl. Abb. 2a und 2b). Abb. 2a und 2b

Quelle: Melián 2013 (o.A.)



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Erst durch Umblättern wird die zweite Hälfte (Abb. 2b [links]) des vorhergehenden rechtsseitigen Bildelements (Abb. 2a) sichtbar. Im Betrachtungsvorgang wird so gleich zu Beginn ein ästhetischer Fremdheitseffekt erzeugt, der durch einen Nachvollzug der Bewegung im Umgang mit dem Buch sich zwar auflösen lässt, aber doch kein vollständiges Bild ermöglicht – die beiden Hälften eines Bilds befinden sich immerhin auf der Vorder- und Rückseite einer Buchseite. Fremdheit und Annäherung im Hinblick auf die afrobrasilianische Kultur werden so in der Gestaltung von Iemanjá aufgegriffen. Das auf den dann folgenden Seiten Dargestellte ist allerdings keinesfalls so ›ungeheuerlich‹, wie Meineckes Nachwort suggeriert. Es sind Kultgegenstände und die kultische Handlung selbst zu sehen sowie die Vorbereitungen dazu und die Straßen der Kleinstadt. Für europäische Betrachter mag all dies zwar in Details fremd wirken (die Statuen von Jungfrau Maria und Nixe auf einem Altar, die afrikanische Statue hinter mit Federn geschmückten Tonkrügen, die Trommler oder der Korb mit Seifen und Kosmetika als Gaben für Iemanjá), zugleich ist es aber in einer Alltäglichkeit ausgestellt, die wenig exotisches Flair aufkommen lässt. Dazu trägt nicht zuletzt bei, dass viele Bilder auch das Fotografieren durch andere, mit großen Spiegelreflexkameras ebenso wie mit Mobiltelefonen, und Szenen des Posierens vor der Kamera anderer zeigen (vgl. Abb. 3). Abb. 3

Quelle: Melián 2013 (o.A.)



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Der Candomblé ist hier keine geheime Veranstaltung, sondern ein öffentliches Schauspiel, zu dem die Mitglieder des »Salvador Foto Clube« anreisen (L 241; Melián/Meinecke 2013). Meliáns Fotos bleiben bei ihrer Dokumentation weitgehend im Rahmen des ›Verbots‹, das Thomas Meinecke sich auferlegte: Am Stadtrand, lediglich aus alten Planen zusammengeflickt, einige schockierend armselige Behausungen, davor eine Frau, Wäsche in einer Schüssel waschend, womöglich fahrendes Volk. (Michaela beschließt, das jetzt nicht zu fotografieren.) (L 244f.; Melián/Meinecke 2013)

In den Fotos von Iemanjá sieht man tatsächlich zwar ärmliche, aber keine elenden Wohnstätten, und das unterscheidet die Motive des Bands doch von Xangó, das mit dem Bild einer Obdachlosen, auf einem eisernen Bett auf der Straße sitzend, eröffnet. Nicht nur in der Konzentration auf die exoterische Seite des Candomblé und den Ausschluss bestimmter Darstellungen unterscheiden sich Meliáns Bilder von denen Maus, sondern auch in der Menge und narrativen Präsentation. Während Xango einzelne, herausgehobene Momente öffentlicher wie nichtöffentlicher Zeremonien in einer konstruierten Reihe anordnete, erzählt Iemanjá scheinbar einfach und chronologisch von der Fahrt zu einer Prozession und von der medialen Dokumentation dieser Prozession selbst. Diese Differenzen sprechen freilich nicht gegen den Pastiche-Charakter von Iemanjá, sondern entfalten erst vor diesem Hintergrund ihre Bedeutung. Auch in Lookalikes finden sich Stellen, die sich in ihrer knappen Konzentration auf einzelne Momente gegenüber Meineckes sonst hypotaktischer Schreibweise als Pastiche von Fichte lesen lassen (vgl. L 169). Hier wie in Iemanjá ist das Pastiche zunächst als »Hommage« zu verstehen, die »nur in den seltensten Fällen neutral bleiben kann und [der] nur die Wahl zwischen Verspottung und bewundernder Anlehnung bleibt – auf die Gefahr hin, beides zu einem mehrdeutigen Register zu vermengen« (Genette 1993: 131). Die Verbindung von Hommage und Ironisierung (eher als »Verspottung«) ist auf die unmittelbare Referenz der Nachahmung bezogen eine Variante von »Imitation« und »Variation«, in deren Verhältnis das »emanzipatorische Potential« (Goer 2013: 214) von Pop im Sinne Meineckes zu suchen ist. Über das Verhältnis von Imitiertem und Imitation hinausgehend verweist die Bezeichnung Iemanjás als Pastiche auch auf Judith Butlers Verwendung des Begriffs in Gender Trouble zur Kennzeichnung einer Imitation, die Konzepte des Originals und der Authentizität selbst infrage stellt (vgl. Butler 1999: 176, 186f.). Butlers Übertragung des Begriffs auf subversive gender-performances bezieht sich wiederum auf Fredric Jamesons eher kulturkri-



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tisch als subversiv motivierte Beschreibung des unterschiedlichen Stellenwerts von Individualstilen und deren Nachahmung in Moderne und Postmoderne: Pastiche is, like parody, the imitation of a peculiar unique style, the wearing of a stylistic mask […]: but it is neutral practice of such mimicry, without parody’s ulterior motive, without the satirical impulse, without laughter, without the latent feeling that there exists something normal compared to which what is being imitated is rather comic. (Jameson 1983: 114; Hervorh. i. Orig.)

Bezogen auf einen Fotoband steht mit dem Pastiche freilich weniger das Konzept der ›Normalität‹ zur Disposition als der Status des Dokuments. Selbst wenn man die naive Vorstellung, Fotografie zeichne Wirklichkeit gleichsam natürlich auf, nicht mehr teilt, lässt sich Meliáns Fotobuch noch – wie das oben teilweise getan wurde – als Dokumentation einer Prozession lesen. Das ist gewiss nicht falsch, nur zeigt die Dokumentation als Wiederholung und Imitation einer anderen Dokumentation deutlich, was in jener so nicht deutlich wurde: die medialen und diskursiven Bedingungen, unter denen ein Bild des Candomblé erst erscheint. In der Hinsicht kann man in Iemanjá eine gesteigerte Konzeptualisierung oder ›Literarisierung‹ der Fotografie am Werk sehen, um einen Begriff Walter Benjamins zu variieren (vgl. Benjamin 1991: 385). Es geht aber nicht bloß um die Entstehungsbedingungen eines Bildbands. Die von Jameson verwendeten Metaphern der Mimikry und der Maske haben ihr Double nicht zuletzt in der postkolonialen Theorie. Wenn Homi Bhabha schreibt: »Die Mimikry verbirgt keine Präsenz oder Identität hinter ihrer Maske« (Bhabha 2000: 130), scheint sich ein weiterer thematisch und hinsichtlich seiner politischen Implikationen geeigneter Bezugspunkt für die Verfahren der Ähnlichkeit, Wiederholung und Differenz in Lookalikes und Iemanjá aufzutun.13 Die koloniale Mimikry ist schließlich eine partielle Wiederholung des kolonialen Diskurses, die dessen Ambivalenz enthüllt und seine »Autorität aufbricht« (ebd.).14 So lassen sich bereits die synkretistischen Religionen Lateinamerikas in ihrer Verwendung christlicher Elemente unter Beibehaltung der afrikanischen Religionen als Resultat »einer entfremdenden Strategie der Verdopplung oder Wiederholung« (Bhabha 2000: 177) lesen und damit die koloniale Mimikry als

13 Zum Verhältnis von Meineckes Pop-Verständnis und Bhabhas Theorie vgl. Feiereisen (2011: 186-188); ähnlich vgl. schon bei Goer (2003: 180). In Lookalikes selbst wird Bhabha explizit in den Theoriekosmos des Romans eingebunden (vgl. L 207, 330335). 14 Vgl. zur Mimikry bei Bhabha Struve (2013: 143-149).



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»Zeichen spektakulären Widerstands« (ebd.: 179), was die Faszination Thomas Meineckes mit seiner Vorliebe für »das Hybride« an Kulturen mit motivieren dürfte. Die Mimikry beschreibt bei Bhabha aber ebenso eine »Strategie […] des kolonialen Wissens«: »das Begehren nach einem reformierten, erkennbaren Anderen als dem Subjekt einer Differenz, das fast, aber doch nicht ganz dasselbe ist.« (Bhabha 2000: 126; Hervorh. i. Orig.) Mimikry ist so eine im kolonialen Diskurs selbst wirksame Ambivalenz, die gleichzeitig Assimilation fordert und mit der Behauptung einer dieser entgegenstehenden Alterität auf Disziplinierung und Überwachung ausgerichtet ist. In dieser Ambivalenz produziert der koloniale Diskurs seine eigene Subversion als einen Prozeß […], durch den der Blick der Überwachung als der de-plazierende Blick des Disziplinierten wiederkehrt, in dem der Beobachter zum Beobachteten wird und die ›partielle‹ Repräsentation den gesamten Begriff der Identität neu artikuliert und der Essenz entfremdet. (Ebd.: 131)

Es gibt in Lookalikes Passagen, in denen Thomas Meinecke in einer beunruhigenden Umkehrung durch den Blick anderer die eigene privilegierte Position vor Augen geführt wird. So etwa, wenn er nach der von einem Blickkontakt eingeleiteten Berührung durch einen Bettler sich »zum Herrenmenschen herabgewürdigt« (L 266) fühlt. Bhabhas Beschreibung der Mimikry als verschobene Wiederholung des disziplinierenden kolonialen Blicks betrifft aber auch grundsätzlich die Position der Fotografie, insofern sie vom »Begehren eines domestizierten anderen, eines anderen, das fast, aber nicht ganz, dasselbe ist« (Owens 2003: 114), motiviert wird. Craig Owens hat in dieser Hinsicht unter Bezug auf Lacan besonders die Pose als Strategie der Mimikry hervorgehoben, die »eine gewisse Teilung des Subjekts [impliziert]: Der gesamte Körper löst sich von sich selbst, wird zum Bild, zum Schein.« (Ebd.: 109; Hervorh. i. Orig.) In der Pose tritt demnach – anders als in gängigen Interpretationen des Fotografierens als einseitige Machtrelation – eine eigentümliche Mischung aus Aktivität und Passivität zutage, indem das Subjekt in der Unterwerfung unter ein vorgegebenes Bildprogramm sich selbst zum Objekt macht. »Das Subjekt posiert als Objekt, um ein Subjekt zu sein.« (Ebd.: 113; Hervorh. i. Orig.) Das Posieren vor der Kamera ist in Iemanjá ein häufiges Motiv. Oft sind dabei die oder der FotografIn oder die dazugehörigen FotografInnen zu sehen oder das Bild ist aus einem Winkel aufgenommen, der deutlich macht, dass hier von der Seite her das Posieren für eineN andereN FotografIn fotografiert wird. Während in Maus Fotos durch »einen spielerischen, gleichgewichtigen Austausch mit den Menschen vor der Kamera« (Braun 1995: 55) zwar Machtrelationen des



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Fotografierens weitgehend neutralisiert erscheinen, stellen Meliáns Bilder vom Posieren die Künstlichkeit und Inszenierung der Dokumentationssituation heraus. Die Ambivalenz der Pose zwischen eigener Gestaltung und Wiederholung eines vorgängigen Bildmodells tritt hier ebenso hervor wie die Bedingungen, unter denen das Bild entsteht. Da der Blick der eigenen Kamera nicht abgebildet werden kann, verweist ein anderer metonymisch auf den Blick der europäischen Fotografin. Dies bedeutet zugleich aber, aus der Relation von Fotografierten und FotografIn herauszutreten. Will man die Metonymie als Figur der Verschiebung sehen, so wird hier die Position der Beobachterin aus einer tatsächlichen Relation mit den TeilnehmerInnen der Zeremonie herausgeschoben.

3. P OSTKOLONIALE P OSITIONEN Die Ambivalenz kolonialen Wissens, die Bhabha mit dem Konzept der Mimikry beschreibt, betrifft ironischerweise auch Meineckes wie Fichtes dezidiert postkoloniale Zugänge zur afroamerikanischen Kultur. Freilich geht es in beiden Fällen nicht um Wissensproduktion im Dienste kolonialer oder neokolonialer Machtausübung, die Differenz im gleichen Zuge produzieren wie verleugnen muss. Eher ist es die Paradoxie einer an kulturelle Differenz geknüpften Erwartung, die als Erwartungshaltung das Fremde nicht anders als vom Eigenen her denken kann. Jäckis Suche nach dem ›ganz andren‹ ist aber nicht nur, gerade in Fichtes assoziativer Schreibweise, immer wieder auf das eigene kulturelle Bezugssystem zurückgeworfen, und steht nicht nur vor dem Problem, dass die Objekte dieses Wissens ihm oft das ›ganz andre‹, wie es im ›Blutbad‹ konzentriert erscheint, nicht zeigen wollen. Selbst das besuchte ›Blutbad‹ ist von zweifelhafter Autorität, denn über die ausführende Priesterin erfährt Jäcki kurz zuvor: »Sie ist ein lebender Leichnam / – Sie ist gar nicht sie, sondern eine andere.« (Ex 343) Gerade dieser Aspekt, der das Andere auf wieder ein anderes verschiebt, ist in der scheinbar gelungenen Dokumentation der Zeremonie aber ausgeblendet oder verleugnet. Zuletzt verliert auch das Ergebnis der Forschung seinen Status als Wissen vom Anderen in der eigenen Wiederholung: »Wie Jäcki beginnt Irma zu fühlen, daß sie sich nicht selbst kopieren kann. / Auf Haiti war es ihr passiert, daß sie sich vor der Realität an ihre Fotos erinnerte. / […] / Immer noch mal Blutbad.« (Ex 596) Dieses Problem der Forschung, die in der Repräsentation des Anderen doch wieder bei der Wiederholung des Gleichen enden muss, stellt sich für Thomas Meinecke so natürlich nicht. Für den »Popliterat[en] Meinecke« (L 74) liegt der



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Reiz schließlich gerade in der Wiederholung und kleinstmöglichen Variation. »Alles immer vergleichen müssen in der popistischen Verweishölle. Immer ein Äquivalent finden wollen. Und sich dann aber an den kleinstmöglichen Unterschieden ergötzen.« (L 310) Problematischer wird es für Thomas Meinecke allerdings, wenn die kleinstmöglichen Unterschiede doch größer sind als erwartet, wenn der Verweis, wie in der »Re-Afrikanisierung der brasilianischen Candomblé-Tempel« (L 152), auf eine eindeutige Referenz abzielt. Die an das Wissen von den Dynamiken afroamerikanischer Kulturtechniken geknüpfte Erwartungshaltung wird so gleich beim ersten Candomblé-Besuch enttäuscht, als Thomas Meinecke mit Bedauern feststellen muss, »daß außer den kolonialen Kostümen so gar keine synkretistischen Spuren zu sehen waren.« (Ebd.) Der scheinbar verloren gegangene Synkretismus war freilich Resultat einer kolonialen Kostümierung anderer Art, resultierte er doch zumindest teilweise aus einer »›Maskerade‹« (Reuter 2003: 28) afrikanischer Riten im katholischen Gewand. »Es besteht keine Notwendigkeit mehr, diese Zeichen zu verwenden«, wird Thomas Meinecke von Wiebke Kannengiesser, einer Mitarbeiterin des örtlichen GoetheInstituts, belehrt. »Ist Thomas vielleicht ein bißchen enttäuscht?« (L 153) Die deutlich ironisierte Enttäuschung ist Zeichen einer vom postkolonialen Wissen motivierten Erwartung. Später, bei einem Konzert, das als »konzertante[ ] Präsentation« eines früheren Konzertmitschnitts wieder eine Wiederholung ist, bekommt Thomas Meinecke dann aber doch, popkulturell und folkloristisch aufbereitet, in der Dekoration des Konzertsaals »[e]ndlich einmal Synkretismus in Reinkultur« (L 282) zu sehen. Die scheinbar erfüllte Erwartung, nun die condition postcoloniale vorgeführt zu bekommen, hebt der Text im Oxymoron auf. Die Formulierung vom »Synkretismus in Reinkultur« vollzieht rhetorisch, was der Text ohnehin immer wieder vor Augen führt: Dass es keine Reinkultur gibt, sondern ›Mischungen‹ scheinbar inkongruenter Elemente. Sie ironisiert selbstverständlich ebenso die Position Thomas Meineckes. Die diese Selbstironie unterstützende autofiktionale Konstruktion findet ihr Bild in Iemanjá. Auf einem der Fotos in Iemanjá sieht man mit dem Rücken zur Kamera, den Kopf leicht gewendet, zwischen den ProzessionsteilnehmerInnen einen Weißen stehen, der als der reale Autor Thomas Meinecke erkennbar ist (vgl. Abb. 4).15

15 Ein Äquivalent hierzu könnte man in dem vagen Spiegelbild von Leonore Mau und Hubert Fichte sehen, das auf dem letzten Foto des Bahia-Teils von Xango im Schutzglas eines Iemanjá-Altars zu sehen ist (vgl. Mau 1976: 51; vgl. Braun 2005: 171).



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Abb. 4

Quelle: Melián 2013 (o.A.) (Detail)

In Anlehnung an das Erstaunen der Romanfigur Thomas Meinecke, als sie auf den Namen »Leonore« in Xango stößt, ließe sich fragen: Handelt es sich bei dieser Person um den Autor Meinecke oder die Romanfigur Thomas Meinecke? Das Bild steht passenderweise zwischen zwei Textblöcken, dem Romanauszug, in dem Thomas Meinecke als Romangestalt auftritt, und dem Nachwort, das vom Autor Meinecke, der sich über seinen Roman und die »Romanfigur namens



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Thomas Meinecke« äußert (Meinecke in Melián/Meinecke 2013). Das im Roman immer wieder angesprochene Thema des Selbst als Anderem, des Anderen im Eigenen und die damit einhergehende Destabilisierung von Identität, findet in der Autofiktion nicht bloß eine Entsprechung, sondern auch ein Medium der interkulturellen Annäherung. Die Verunsicherung eigener Positionen in der Kulturbegegnung schlägt sich darin ebenso nieder wie sie die Beobachtung der Bedingungen ermöglicht, unter denen die Begegnung zustande kommt. Insofern stellt die Unsicherheit, wer da eigentlich auf dem Foto steht (in Lookalikes steht einmal unvermittelt die Frage »Wer redet hier eigentlich?« [L 268]), eine andere Unsicherheit zur Schau. Die in Text und Bild dargestellte Wirklichkeit Bahias ist jenseits der den jeweiligen Medien eigenen Inszenierungstechniken, in diesem Fall auch der instabilen Fiktionalisierung, nicht zu erkennen: Nicht ›nur‹ Konstruktion, aber auch nicht ›die Wirklichkeit‹. Die koloniale Mimikry »wiederholt, statt zu re-präsentieren« (Bhabha 2000: 129; Hervorh. i. Orig.), und auch die Fotografie zeigt keine Präsenz. Als partielle Wiederholung vorheriger Bilder, als Dokumentation eines fiktionalen Texts und als Bild seines Autors oder Protagonisten wird sie zum Bild einer Annäherung, die ihre Herkunft aus dem Baukasten des postkolonialen Wissens nicht verleugnet.

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Musuri Die erste große bundesdeutsche Fernsehauslandsreportage blickt 1954 auf den Kongo P ETER E LLENBRUCH

1. E INSTIEG In einer Zeit, in der das bundesdeutsche Fernsehen aus lediglich etwas über 10.000 angemeldeten Fernsehteilnehmern bestand, machten sich drei Fernsehreporter des Nordwestdeutschen Rundfunks Hamburg (NWDR) auf (der Kameramann Carsten Diercks und die beiden Redakteure Hans-Joachim Reiche und Peter Coulmas), um die erste deutsche Fernsehauslandsreportage herzustellen: Musuri – es geht aufwärts am Kongo.1 Sie folgten einer Einladung nach Belgisch-Kongo und drehten zwischen Januar und März 1954 sowohl in den städtischen Zusammenhängen von Léopoldville, heute Kinshasa, als auch in verschiedenen Naturlandschaften des Kongos. Fernsehhistorisch wird dieser Film, der im Frühjahr 1954 in zwei Teilen ausgestrahlt wurde, meist nur wegen seiner technischen Pionierleistungen als wichtiges frühes Dokument des Fernsehens der BRD gewürdigt.2 Jenseits der technischen Aspekte ist die Reportage allerdings ein wenig beachtetes Zeugnis eines bundesdeutschen Blicks auf Belgisch-Kongo als koloniales Staatskonstrukt. Somit stellt sich die Frage, auf welche Weise die Reporter des jungen (und experimentierfreudigen) deutschen Fernsehens, die gleichzeitig

1

Es gab zuvor schon ein kurzes filmisches Städteportrait von Brüssel, das aber noch keine wirkliche Auslandsreportage darstellt. Vgl. auch Diercks (2000: 25f.).

2

So z.B. in der ARD-eigenen Fernsehchronik unter: http://web.ard.de/ard-chronik /index/5655?year=1954&month=3 [12.06.2016].



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Bürger der ebenfalls noch recht jungen Demokratie der Bundesrepublik waren, aus Belgisch-Kongo berichten? Grob betrachtet mag man mit den im kulturellen Gedächtnis der BRD verankerten Allgemeinannahmen und Klischees eines deutschen Blicks auf Afrika innerhalb der 1950er Jahre Schlimmstes erwarten. Afrika wurde zu jener Zeit immer noch hauptsächlich als Kontinent der Krankheiten und Safaris angesehen, der ›Sarotti-Mohr‹ gehörte als solcher zum Alltagsbild, Menschen aus Afrika als ›Neger‹ zu bezeichnen war gesellschaftlicher (und zumeist neutral gedachter) Konsens, und auch die Sprachentgleisungen Heinrich Lübkes der späten 1950er und frühen 1960er Jahre (die verbürgten und die erfundenen) würde der eine oder die andere mit in diesen Topf des unreflektierten bis rassistischen deutschen Nachkriegszeit-Blicks gen Afrika werfen. Wenn man von einem solchen Konglomerat des Kulturgedächtnisses ausgeht, hält die konkrete Betrachtung von Musuri allerdings etliche Überraschungen bereit, die nun durch einige film- bzw. fernsehanalytische Betrachtungen dargelegt werden sollen.

2. D IE S ITUATION

DES JUNGEN

BUNDESDEUTSCHEN

F ERNSEHENS

Jenseits der bereits angedeuteten innovativen und reflektierten Darstellungsweise ist die Produktion von Musuri durchaus im organisatorischen Kontext der bundesdeutschen Fernsehanfänge zu sehen, der kurz skizziert sei. Nachdem das Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland im Dezember 1952 offiziell gestartet wurde, gab es Anfang 1953 etwa 1.000 Fernsehteilnehmer. Die Programmgestaltung übernahm zunächst der NWDR mit Hauptsitz in Hamburg und Redaktionen in Köln und Berlin. Innerhalb eines Jahres stieg die Zuschauerzahl stetig an, sodass Anfang 1954 über 10.000 Fernsehteilnehmer angemeldet waren – die tatsächliche Zuschauerzahl lag jedoch wesentlich höher, da sich durch die damals üblichen Formen des nachbarschaftlichen und öffentlichen Fernsehens (in Kneipen, vor Radiogeschäften usw.) mehr Menschen mit dem neuen Medium vertraut gemacht hatten. Und auch auf den rechtlichen und logistischen Ebenen waren die ersten Organisationsschritte wie der »Fernsehvertrag der deutschen Rundfunkanstalten« (12. Juni 1953) und die Errichtung des ersten fernseheigenen Studiokomplexes in Hamburg Lockstedt (Herbst 1953) getan. Auf dieser Basis gab es seit 1953 ein tägliches Fernsehprogramm, an welchem seit dem Fernsehvertrag außer dem NWDR noch andere bundesdeutsche Rundfunkanstalten der ARD beteiligt waren.



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Innerhalb des NWDR und der entstehenden Fachpresse gab es allerdings 1953 schon die erste ästhetisch-mediale Debatte: Der erste Fernsehintendant Werner Pleister war ein Verfechter des Direktfernsehens und wollte möglichst viele Programme live produzieren und senden. Ihm zur Seite stand u.a. der Medientheoretiker Gerhard Eckert, der früh über die Ästhetik des Fernsehens publizierte (Eckert 1953). Andere, wie der Fernsehredakteur und Dramaturg Hans Gottschalk und manche der Reporter und Kameraleute des NWDR, unter ihnen Jürgen Roland und Carsten Diercks, wollten ebenso auf Film gedrehten Sendungen einen Platz im Fernsehprogramm einräumen und wehrten sich gegen die proklamierte Live-Ausrichtung des Fernsehens (vgl. Gottschalk 2009). Für den Bereich der Fernsehreportage entschied letztlich ein historisches Ereignis über die Debatte um elektronisches Live-Fernsehen und dokumentarische Filmaufnahmen. Als der NWDR-Berlin am 17. Juni 1953 über den Aufstand in Ost-Berlin berichten wollte, war die einzige Bildquelle des Ereignisses 16mmFilmmaterial, das zuvor für ›nicht sendefähig‹ gehalten wurde. Gesendet ergab das Material jedoch auf den Bildschirmen eine so gute Qualität, dass es hiernach als ein Standard in der Fernsehproduktion etabliert werden konnte.3 Die Reportageformen des NWDR waren zu dieser Zeit prinzipiell stark vom Vorbild der BBC beeinflusst,4 und man wollte innerhalb der BRD auf dieser Basis eine neue demokratische Rundfunkstruktur schaffen, denn – um Peter von Zahn zu zitieren, der bezüglich des Radios anmerkt – »es dauerte lange, bis sich die deutschen Radiohörer daran gewöhnten, dass man ihnen nichts befehlen, sondern nur etwas mitteilen wollte.« (von Zahn 1991: 247) Bei dieser mitteilend-demokratischen Ausrichtung war vor allem das ›Feature‹ eine beliebte Gestaltungsform, die auch bei den frühen Fernsehideen aufgenommen wurde. Hierzu nochmals Peter von Zahn bezüglich des NWDR-Radios der Nachkriegszeit: »Wir entwickelten aus einem Amalgam der ehemaligen Weimarer Hörfolge und dem englischen Feature eine Sonderform, wir nannten sie Feature, eine Zusammenfassung aus Reportage, Kommentar, Diskussion, Musik und anderen Elementen, die im Rundfunk brauchbar waren.« (von Zahn zit. n. Zimmermann 1995a: 128) Diese Form des Features bildet letztlich ebenfalls die Grundlage für den Fernsehdokumentarfilm Musuri, Elemente in Bild und Ton (typische Aufnahmen einer Fernseh-Reportage, Sprachgestaltungen auf Kommentarebene und Musiknummern) wurden hier zu einem Reisebericht zusammengefügt, der so-

3

Vgl. Die NWDR-Rolle (NDR 2002) und weitere Informationen hierzu Diercks (1995).

4

Nicht zuletzt, weil Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg in der britischen Besatzungszone lag (vgl. Hickethier 2007: 118ff.).





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wohl technisch als auch ästhetisch neue Impulse für die deutsche Medienlandschaft mit sich brachte. Carsten Diercks sagt zu dieser Entwicklung des Fernsehfeatures: »Ich stellte schon bald fest, dass es keinen Sinn machte, Wortkommentare lediglich zu ›bebildern‹, wie es damals überall schnell in Mode kam. Ich versuchte, die Kollegen, mit denen ich arbeitete, zu überzeugen: ›Ihr müsst es lernen, Gedanken in Bilder umzuformen. Es kommt darauf an, in Einstellungen zu denken!‹« (Diercks 2000: 27) Anhand dieser Entwicklungslinie ist zu erkennen, dass die ersten Fernsehreporter des NWDR sich durch die allgemeine Ausrichtung des Senders im Sinne des demokratisch entstehenden öffentlich-rechtlichen Rundfunks aufmachten, welcher aber noch keine festgelegte ästhetische und narrative Struktur hatte. Vielmehr glich er einem Experimentierfeld, auf dem sich medienspezifische Reflexionen und fernsehgerechte Formen entwickeln konnten. Weiterführend wird dies aus einer historisch erweiterten Perspektive von Knut Hickethier folgendermaßen umschrieben: »Im historischen Prozess der 1950er Jahre übernahm das Fernsehen für die bundesdeutsche Gesellschaft die Aufgabe, Modernisierungsprozesse der Gesellschaft zu begleiten und zu fördern. Es wurde zu einem Agenten des sozialen Wandels […], es war ein Instrument von Anpassungsprozessen und gleichzeitig eine Institution des Widerspruchs.« (Hickethier 2007: 114)

3. P RODUKTION , R EZEPTION

UND

Ü BERLIEFERUNG

Die Produktionsgeschichte von Musuri beginnt mit dem bereits erwähnten Städteportrait von Brüssel, das Carsten Diercks zusammen mit Hans-Joachim Reiche und Ingrid Hattje im Herbst 1953 gedreht hatte.5 Durch die so entstandenen Verbindungen bekamen Reporter des NWDR die Chance, nach Belgisch-Kongo zu reisen. Das Team vom NWDR, die Fernsehredakteure Hans-Joachim Reiche (später Chef der Tagesschau) und Peter Coulmas (Afrika-Experte beim NWDRHörfunk) sowie der Kameramann Carsten Diercks, wurde von der belgischen Fluglinie Sabena eingeladen, die Reisereportage am Kongo zu drehen. Im Kontext der Debatte um Live-Fernsehen und Filmmaterial hatten die drei Fernsehmacher Glück, dass der Intendant Pleister, der Filmreportagen ablehnte, zur Zeit der Einladung nicht anwesend war, sodass die Reise direkt vom NWDRGeneraldirektor Adolf Grimme genehmigt werden musste. Grimme bewilligte das Unterfangen und die Reporter konnten mit der Filmausrüstung nach Brüssel

5



Die Quelle der hier verwendeten Informationen ist zumeist Diercks (2000: 29ff.).

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aufbrechen, um von dort aus an den Kongo zu fliegen. Vom 21. Juni 1954 bis zum 02. März 1954 drehte das Team dort über 2.000m 16mm-Material (etwa 180 Minuten), wovon ein Teil mit dem neuen, hier erstmals eingesetzten Pilotton-Verfahren aufgenommen wurde.6 Schließlich wurde das Material nach der Rückkehr des Teams im März 1954 in Hamburg montiert7 und in zwei Teilen zu je 45 Minuten8 am 31. März 1954 (Sendezeit: 20.45 Uhr) und am 07. April 1954 (Sendezeit: 20.40 Uhr) unter dem Titel Musuri – es geht aufwärts am Kongo9 im Fernsehen ausgestrahlt.10 Die Reaktionen der jungen Fernsehfachpresse und des Publikums waren – soweit dokumentiert – durchweg positiv. So erreichte Musuri bei der Zuschauerbefragung der neu eingeführten Infratest-Umfragemethode einen sehr hohen Wert und wurde von der Fernsehkritik als einer der jahresbesten Fernsehdokumentarfilme eingestuft.

6

Diese technische Innovation machte es möglich, dass lippensynchroner Ton gleichzeitig mit dem 16mm-Filmbild aufgenommen wird, was zuvor nur mit einer großen, verhältnismäßig unbeweglichen 35mm-Apparatur im Studio möglich war. Viele Filmgeschichten schreiben diese Neuerung auf dem Dokumentarfilmsektor dem Amerikaner Richard Leacock im Jahr 1960 zu, doch die Kamera-Tonband-Entwicklung vom NWDR und Josef Schürer, einem Ingenieur des Bayerischen Rundfunks, gab es schon sechs Jahre vorher.

7

Auch der Schneidetisch für das neuartige 16mm-Material gehört zu den technischen Innovationen im Kontext der Produktion von Musuri. Vgl. weitere Informationen Diercks (o.J.).

8

In den gedruckten Programminformationen von 1954 wird die Laufzeit mit jeweils 60 Minuten angegeben, doch die damals beim Fernsehen üblichen Umschaltpausen zwischen den Sendungen könnten die Diskrepanz erklären (vgl. TV-Programme unter http://www.tvprogramme.net/view_tag.php?tag=1954-03-31 und http://www.tvprogr amme.net/view_tag.php?tag=1954-04-07 [12.06.2016].

9

Dieser komplette Titel ist nur in zeitgenössischen Programminformationen ersichtlich, nicht im Vorspann. Dort steht als Untertitel: Bericht einer Fernseh-Exped. nach Belgisch-Kongo.

10 Außerdem wurde von Hans-Joachim Reiche und Peter Coulmas aus dem Audiomaterial noch ein vierteiliges Radiofeature erstellt und im gleichen Zeitrahmen gesendet. Darüber hinaus wurde das Filmmaterial 1957 zu einem weiteren Dokumentarfilm montiert, Der Urwald Weicht zurück (ausgestrahlt am 03. Juli 1957), der mit einem neuen Kommentar versehen eine völlig andere Form und Ausrichtung als Musuri hat. Weitere Analysen hierzu finden sich bei Zimmermann (1995b: 204ff.).





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Heute existiert von Musuri leider keine vollständige Fassung mehr. Die originalen Teile wurden für eine Wiederholung anscheinend direkt am 16mmMaster gekürzt. Danach waren die geschnittenen Stellen verschwunden. So hat der erhaltene ›Teil 1‹ noch eine Laufzeit von 33 Minuten, ›Teil 2‹ eine von 27 Minuten. Soweit man aus den veröffentlichten Quellen rekonstruieren kann, fehlen Sequenzen über den Uranbergbau und die Kupferminen, über eine deutsche Ananaszüchterin sowie über eine Kisuaheli-Hörspielproduktion des komplett von kongolesischen Redakteuren/Sprechern und Sprecherinnen organisierten Radiosenders Radio-Congo-Belge. Man geht demnach heute nur noch mit einem Torso dieses Fernsehdokumentarfilms um. Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei diesem Film um ein Pionierstück des jungen bundesdeutschen Fernsehens handelt, das nicht nur technische Innovationen hervorgebracht. sondern auch dazu beigetragen hat, Filmmaterial innerhalb der Fernsehgestaltung zu etablieren, da sich nach dem Erfolg von Musuri die Haltung von Intendant Pleister gegenüber dem Material veränderte. Außerdem ist das Werk ein Beispiel für die entstehende offene Feature-Form des deutschen Fernsehens, die nun am Bsp. von Musuri näher betrachtet werden soll.

4. F EATURE -S TRUKTUR

UND

S EQUENZANALYSEN

Wie oben bereits angedeutet, übernimmt die frühe Fernsehfeature-Form (ohne dass die Fernsehmacher der damaligen Zeit den Feature-Begriff aktiv verwendet hätten) eine Kompositionsmischung aus dem Hörfunk und entwickelt eine BildTon-Struktur daraus. Diese umschrieb Rüdiger Proske, ein Fernsehredakteur der ersten Stunde, einmal folgendermaßen: Wir räumten dem Bild eine eigenständige Bedeutung ein, sorgten mit dem Schnitt für Tempo, mischten Kommentar, Originalton und typische Reportage-Sequenzen zu einer aufklärerischen, unterrichtenden, zugleich aber auch unterhaltenden, abwechslungsreichen und spannenden Melange. (Proske zit. n. Heller 1995: 88)

Aber wie berichtet man auf eine solche Weise aus einem belgischen Kolonialstaat in Afrika für das Fernsehpublikum einer noch recht jungen Demokratie? Dieses Verhältnis ist als Problem zur Zeit der Entstehung und Erstausstrahlung von Musuri kaum diskutiert worden, und auch die meisten Betrachtungen innerhalb der Fernsehforschung gehen davon aus, dass die Macher von Musuri als mehr oder minder naive Touristen-Reporter mit kompletter Billigung des kolo-



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nialen Systems an den Kongo gereist sind. So fasst z.B. Peter Zimmermann die prinzipielle Struktur von Musuri zusammen, wenn er schreibt: Die Vorstellung der Reisenden und der betont subjektive Reportagestil haben vor allem einen Effekt: Der Zuschauer wird mitgenommen auf die Reise […]. Denn den Reportern geht es weniger um die Vermittlung von Informationen über die soziale und politische Lage in Belgisch-Kongo, sondern um touristische Reiseeindrücke, die das unternehmungslustige Team aneinanderreiht und mit heiteren Rumba- und Sambaklängen unterlegt: das internationale Flair der großen Hotels, das erfrischende Bad im Swimmingpool und Motorbootfahrten an der ›afrikanischen Riviera‹ wechseln sich ab mit bunten Markt- und Straßenszenen, folkloristischen Tänzen und Bootsrennen der ›Eingeborenen‹ und Großwildsafaris. Wo die Lebensbedingungen der schwarzen Bevölkerung zum Thema werden, da werden sie wie selbstverständlich aus kolonialer Sicht in Augenschein genommen. (Zimmermann 1995b: 203)

Doch bei einer genaueren Betrachtung der tatsächlichen Bild- und Tonstrukturen fällt auf, dass die Gestaltungsart des Dokumentarfilms durchaus politische Implikationen enthält, sodass die Rumbaklänge keinesfalls nur ›Soundtrack‹ sind und die touristischen (Selbst-)Darstellungen nicht nur als rein unterhaltsame Faktoren wirken. Zwar wird das Kolonialsystem in Musuri tatsächlich nicht direkt hinterfragt und es gibt einige Klischeeansichten und Plattitüden, doch sind einige Strukturierungen innerhalb der Reportage-Erzählung und vor allem zwei Kunstgriffe in der Gestaltungsweise zu beobachten, die sowohl das koloniale Gefüge darstellen und analysieren als auch subtile Abstände zwischen die kolonialen Belgier und die bundesdeutschen Reporter bringen. 4.1 Allgemeine dramaturgische Aspekte Um die Feature-Verwebungen, die durchaus nicht nur Reiseeindrücke sind, zu analysieren, sei zunächst ein Blick auf grobe dramaturgische Muster geworfen, die in Musuri angelegt werden. Allgemein betrachtet ist die gerade zitierte Beschreibung der inhaltlichen Struktur Musuris von Zimmermann völlig korrekt: Der Film besteht aus einem solchen Potpourri von Sequenzen. Und sicherlich folgen einige der Sequenzen auf den ersten Blick eher konventionellen Merkmalen des Reiseberichts. Doch muss bereits bei der Betrachtung der Léopoldville-Einstiegssequenz festgehalten werden, dass die Reporter durch Montage und Kommentar sofort klarmachen, dass es eine koloniale Sicht auf die Stadt gibt, in der sich nur die Belgier in ihren eigenen Lebensverhältnissen betrachten, und einen anderen Blick auf Léopold-





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ville, der aus der Perspektive der einheimischen Bevölkerung eine ganz andere Stadt- und Bevölkerungsstruktur ergibt. Diese Trennungen von Blicken auf die ›weißen‹ und ›schwarzen‹ Lebensumstände zieht sich durch einige Sequenzen in Musuri (Supermarkt und Marktplatz, Bar der ›Schwarzen‹ und Party der ›Weißen‹, etc.) und macht dadurch innerhalb der filmischen Struktur deutlich, dass es zwei soziokulturelle Gruppen in Belgisch-Kongo gibt, bei der die Einheimischen die traditionell verankerte repräsentieren (die sie auch trotz der kolonialen Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten suchen). Darüber hinaus enden beide Teile von Musuri mit traditionellen Kulturveranstaltungen, einem Watussi-Tanz und einem Bootsrennen auf dem Kongo. Da gerade diese beiden Sequenzen mit den sehr modernen und dynamischen Aufnahme- und Schnittapparaturen als experimentierfreudige Fernsehkompositionen gestaltet wurden, handelt es sich hierbei nicht um exotistisches oder pittoreskes Festhalten von ›Eingeborenen‹-Kultur, sondern vielmehr um die Bemühungen, die tatsächliche Stimmung und den vor Ort angelegten Rhythmus der Veranstaltungen in einen filmisch-medialen Ausdruck zu überführen. Es geht hier also besonders in den Schlusssequenzen der beiden Teile um ein filmisch-kulturelles Bild der einheimischen Kultur – die Kolonial-Belgier spielen dabei keine Rolle mehr. Die Zuschauerinnen und Zuschauer verlassen demnach die Reportage jeweils mit Eindrücken der afrikanischen Kultur des Kongo.11 Abb. 1: Watussi-Tanz12

11 Ob die Darbietungen zu diesem Zeitpunkt schon eher nur noch folkloristisch geprägt waren, kann hier nicht weiter erörtert werden. Doch es scheint, dass die Wurzeln beider Veranstaltungen nichts mit den Einflüssen der Kolonialisten zu tun haben. 12 Alle Abbildungen sind Phasenbilder aus einer DVD-Sichtungskopie des NDR.



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So zeigt sich schon anhand der großen dramaturgischen Gestaltung, dass die Macher von Musuri durchaus Stellung beziehen, indem sie die sozialen und kulturellen Felder am Kongo differenziert darstellen und die Aspekte der vorkolonialen afrikanischen Kultur stärker filmisch bearbeiten. Oberflächlich betrachtet gibt es zwar etliche Sequenzen, in welchen die von den Belgiern etablierte (Luxus-)Infrastruktur nach europäischem Muster bestaunt wird, doch eine detaillierte Analyse der Bild- und Kommentarkompositionen soll zeigen, dass auch hier mit filmischen Mitteln Differenzierungen angelegt werden. 4.2 Detailanalysen So entwerfen die Reporter einige sehr filigrane Darstellungsstrategien, mit denen sie es vermeiden, ins Fahrwasser der Lebensweisen des problematischen Kolonialgeflechts der belgisch-kongolesischen Gesellschaft zu geraten. Sie benehmen sich auf der einen Seite wie absolute Medienprofis und fangen mit der sehr beweglichen 16mm-Kamera und dem Pilotton-Verfahren extrem unmittelbar wirkende Dokumentarbilder ein, auf der anderen Seite thematisieren sie aber auch ihr eigenes Verhalten als deutsche Touristen und inszenieren sich selbst mit im Bild. Man könnte von einer fast schelmischen Selbstinszenierung sprechen, einem gestalterischen Kunstgriff, der die Reporter davor bewahrt, mit den belgischen Kolonialisten – denen sie im Bild zunächst körperlich gleichen – auf einer Ebene gesehen zu werden. Darüber hinaus gibt es auf der Ton- bzw. Kommentarspur einen weiteren Kunstgriff: Die Reporter zitieren fast ausschließlich aus ihrem Reisetagebuch, sodass alle Kommentare zu den gezeigten Situationen und zum Kolonialsystem als Zitate erscheinen, die vor Ort aufgeschnappt wurden. So umgehen die Reporter auch hier die Gefahr, Plattitüden, Vorurteilsaussagen oder gar Rassismen über Afrika selbst von sich zu geben. Sie überlassen vielmehr durch die Zitierstruktur solche Peinlichkeiten den nicht genannten Kolonialbelgiern, von denen sie die Sprüche allem Anschein nach aufgeschnappt und in ihr Tagebuch übertragen haben. Außerdem entlarven sich die Kolonialherren oft genug selbst im Bild, sodass man keinen Zweifel daran hegt, wie die Zitate aus dem Reisetagebuch zustande kamen. Sicherlich gibt es in Musuri daneben einige eher klischeebehaftete Sequenzen, vor allem in der Darstellung der Tierwelt, doch die hier vorgestellte Analyseskizze soll zunächst die progressiven Seiten dieser deutschen Fernsehreportage festhalten, weshalb nun die beiden angesprochenen Kunstgriffe genauer untersucht werden sollen. Sowohl Diercks selbst als auch Zimmermann beschreiben den TagebuchTelegramm-Stil der Kommentarspur. Beide beide sehen darin zunächst nur eine lockere und unterhaltsame Facette der Fernsehfeature-Form, die mit wechseln-





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den Sprechern einen Plauderton erzeugt und sich damit deutlich von den konservativen Kommentarstrukturen des Kulturfilms abhebt (vgl. Diercks 2000: 32f.; Zimmermann 1995b: 202). Gewiss ist dieser Kommentarstil nicht eigens für Musuri entwickelt worden, er war durchaus eine der typischen neuen Rundfunkgestaltungen der 1950er Jahre. Doch im Zusammenhang mit der KongoReportage generiert er den oben bereits skizzierten Abstand der Reporter zum kolonialen System. Dass die Tagebucheinträge auf notierten Zitaten beruhen, wird innerhalb der Kommentarspur sofort zu Beginn des Films hervorgehoben, indem die Art und Weise des Notierens thematisiert wird. Und die zweite Sprecherstimme, welche die erste durch kurze Einwürfe zusätzlich kommentiert, erzeugt nicht nur den lockeren Plauderton, sondern bereits auf der Tonebene einen etwas schelmischen Ausdruck des Ganzen, der sich ebenfalls auf der Bildebene wiederfindet – doch dazu später mehr. So bezieht man Aussagen wie »Der Lendenschurz ist aus der Mode gekommen« oder »Schwarze schon lustig nach zwei Flaschen Bier, haben Rhythmus im Blut« eben nicht direkt auf die Reporter, sondern nimmt sie als Aussagen der Belgier über die schwarze Bevölkerung wahr, wodurch der überhebliche, teils rassistische Ton der belgischen Kolonialisten dokumentiert und letztlich entlarvt wird. Wie solche Zitate entstanden sind, kann man darüber hinaus an einigen gezeigten Szenarien nachvollziehen, besonders innerhalb einer Interview-Sequenz mit einem belgischen Schallplattenproduzenten, der mit einheimischen Musikern Rumba-Platten produziert. Im ersten Teil der Sequenz gibt er Sätze wie »Die müssen jetzt trainiert werden« von sich, wenn er die musikalischen Fähigkeiten der Musiker charakterisieren möchte. Im zweiten Teil sieht man ihn, wie er eine Gruppe von Musikern und eine Sängerin während einer Aufnahme dirigiert, indem er fordernde Befehlsgesten macht. Abb. 2: Musikproduktion



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In diesem Szenario wird demnach nicht nur deutlich, wie die Zitate im Reisetagebuch der Reporter zustande kommen. Auch die Musik, die während der Reportage zu hören ist, stellt größtenteils ein Ergebnis der Zusammenarbeit von belgischen Schallplattenproduzenten und einheimischen Musikern dar. Hierdurch ist die Musik kein rein stimmungsmachender, unterhaltsamer ›Soundtrack‹. Vielmehr wird so eine weitere Facette im kolonialen Geflecht mit dokumentiert. Besonders deutlich wird diese Ebene, wenn die Musikformen in den beiden Schlusssequenzen von Musuri durch ihre traditionellen Ausrichtungen einen Kontrast zu den sonst zu hörenden Rumba- und Samba-Stücken bilden. Genauer betrachtet sei auch der bereits gerade mit Bezug auf den Musikproduzenten erwähnte gestische Umgang der belgischen Bevölkerung mit einheimischen ›Bediensteten‹, der in vielen weiteren Sequenzen dokumentiert, teils sogar durch Kamerabewegungen oder Auswahl des Bildausschnitts und der Perspektive kommentiert wird. Man sieht als körperlich arbeitende Bevölkerung so gut wie ausschließlich kongolesische Arbeiterinnen und Arbeiter, sei es als Träger, Bauarbeiter oder Kellner in der Gastronomie, in Privathaushalten, in Supermärkten oder auf Kaffeeplantagen. Bei den meisten Aufnahmen wird das Verhältnis zwischen ›schwarzen‹ Arbeitern und weißen Chefs bzw. Aufsehern in den Mittelpunkt gerückt, wodurch das gestische Repertoire des kolonialen Machtverhältnisses filmisch festgehalten wird – von immer wieder auftauchenden Bildern von auf Abruf dastehenden Dienern bis zu einem Hotelchef, der einer Gruppe seiner Arbeiter Zigaretten zuwirft, als wenn er Tiere füttern würde. Es wird offensichtlich von den Reportern darauf geachtet, dass das hegemoniale Verhalten der Belgier mit Mitteln der Rahmung oder der Montage immer mit ins Bild gerückt wird. So bekommt man im Verlauf der Reportage auch durch genuin filmische Mittel ein präzises Bild des Selbstverständnisses der Kolonialisten – und durch das gezielte Ins-Bild-rücken kann man diese Strategie der Abbildung nicht einfach als touristische Bilder einordnen, da es hierdurch möglich wird, das kolonialistische Treiben durchaus kritisch am Fernsehschirm zu begutachten. Im Gegensatz dazu sind die Perspektivität und die Montagegestaltungen in Sequenzen, die das Leben der einheimischen Bevölkerung jenseits des direkten Kolonialgeflechts zeigen, zumeist anders, perspektivisch oft weniger distanziert und mit viel mehr Großaufnahmen gestaltet. Die dynamische Kameraarbeit der Schlusssequenzen wurde diesbezüglich bereits erwähnt. Zudem wird in anderen Sequenzen durch den filmischen Blick der Kamera der Unterschied zwischen kolonialer Abhängigkeit und dem davon etwas unabhängigeren Leben deutlich.





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Abb. 3a: Koloniale Körperbilder

Abb. 3b: In der Bar

Der zweite durchgängige Kunstgriff, den die Reporter zur Distanzierung mit dem kolonialen Leben verwenden, ist die Selbstinszenierung als (manchmal fast tollpatschige) Touristen im Bild. Diese Reaktion auf die Kamera ist natürlich meist Coulmas und Reiche vorbehalten, da sich Diercks hinter der Kamera befindet. Der Charakter dieser Auftritte unterscheidet sich dermaßen vom herrschaftlichen Gestus der Belgier, dass man schnell den Eindruck einer schelmischen Abgrenzung gewinnen kann – fast im Sinne von Narren, die durch ihre Art der Körperhaltungen und -bewegungen von den Herrschern nicht ernst genommen werden, aber trotzdem für ein Publikum aufgrund des Kontrasts zu den Herrschenden eine kritische Ebene aufbauen und so das Herrschaftsgebaren konterkarieren. Bereits bei der Ankunft sieht man Coulmas und Reiche etwas unbeholfen mit Tropenhelmen hantieren, in der Mitte des ersten Teils gibt es eine Swimmingpool-Szene, in der die Reporter sich wie naive Touristen im Wasser tollen, und zu Beginn des zweiten Teils, innerhalb der Safari-Sequenz, ist zu beobachten, wie Coulmas und Reiche ungelenk durch die Landschaft staksen.



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Abb. 4: Reporter-Selbstinszenierung

Diese schelmische Art wird manchmal unterstützt durch einen ironischen Unterton, den man auch innerhalb der Kommentarspur finden kann – bezüglich einer Restaurant-Einladung heißt es z.B.: »Koch stammt aus Brüssel, wollte uns besonderen Gefallen tun, lieferte als Vorgericht statt der üblichen Hummermajonäse eine Portion original Hamburger Bismarck-Heringe, dazu Münchener Bier – ganz besondere Ehrung.« Dieses Zeigen vor der Kamera ist nicht nur eine Ansage der Subjektivität des Reiseberichts, sondern auch ein Verbürgen für die mediale Form – die Reporter zeigen, dass sie auf die Kamera reagieren und stehen damit für die mediale Gemachtheit ihres Berichts ein. Dieser Punkt wurde tatsächlich bereits nach der Ausstrahlung beider Teile von Musuri in einer Zeitungsrezension positiv vermerkt: Wenn das Fernsehen uns die Welt frei Haus verspricht, anschaulich-unmittelbar in die gute Stube reportert, so daß wir nur noch Bilder zu besehen brauchen, um überall ›im Bilde‹ und dabei zu sein, wollen wir uns mit Skepsis rüsten. Dies Bild ist nicht Wirklichkeit, dies Bild ist technisch manipulierter Schein. Aber wenn das Fernsehen, seines ScheinCharakters wohl bewußt, mit den Bildern ›arbeitet‹, den Betrachter nicht mit ihrer schieren Suggestion zu übertölpeln trachtet, sondern sie als Objekt benutzt, als Gegenstand der Erklärung und Mittel der Aufklärung, sollen wir Beifall spenden. (Zit. n. Zimmermann 1995b: 202f.)

Demnach werden durch dramaturgische Kniffe auf der Kommentarebene und grundlegende filmische Mittel in Bildkomposition und Montage insgesamt die kolonialen Verhältnisse dargestellt und teilweise kommentiert. Und indem sich die Reporter mit im Bild zeigen, machen sie ihre Stellung innerhalb der Berichterstattung deutlich, welche zwar keine direkte kritische Stellungnahme zum belgischen Kolonialsystem beinhaltet, allerdings eben wegen der besprochenen Abgrenzungsmethoden auch nicht völlig unkritisch mit der Gesamtsituation um-





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geht. Vielmehr wird das Vorgefundene genau dokumentiert, mit medialem Abstand sortiert bzw. komponiert und obendrein insgesamt unterhaltsam dargeboten – ganz im Sinne der bereits angesprochenen mitteilend-aufklärerischen Ausrichtung der Anfänge des bundesdeutschen Fernsehfeatures. Als Zuschauerin oder Zuschauer kann man sich bei dieser Anlage der Darstellung letztlich aussuchen, ob man das ganze eher als unterhaltsamen Reisebericht oder als Reportage mit kritischen Untertönen betrachten möchte, womit die Offenheit der zu jener Zeit entstehenden Feature-Form durchaus als demokratisch-diskursive Gestaltung des jungen öffentlich-rechtlichen Rundfunks anzusehen ist.

5. A USSTIEG Nach diesen Betrachtungen verwundert es, dass Carsten Diercks selbst zu folgender Einschätzung kommt: Die inhaltliche Tendenz war zwar pro-kolonialistisch und entsprach damit der damals vorherrschenden politischen Einstellung zu den sogenannten Entwicklungsländern – eine kolonial-kritische Wende in der Auslandsberichterstattung kam erst ab den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts auf. (Diercks 2000: 48)

Selbstredend ist die kritische Struktur in Musuri im Vergleich zu Auslandsreportagen in späteren Sendungen – vor allem der Politmagazine wie das von Proske verantwortete Panorama – milde und schelmisch, doch sie ist (wie gezeigt) durchaus analytisch belegbar und als spezifische mediale Form im demokratischen Aufbruch der BRD festzuhalten. Diercks bemerkt ebenfalls, dass heute eine Beurteilung von Musuri wegen der fragmentarischen Überlieferung schwerfallen dürfte, doch die in der Analyse herausgestellten Gestaltungsweisen sind selbst in der gekürzten Fassung klar zu erkennen und als innovative und reflektierte Formen der frühen bundesdeutschen Fernsehzeit zu charakterisieren (vgl. ebd.). Durch die Offenlegung und Thematisierung der medialen Gemachtheit der Reportage erhöht das Werk letztlich seinen dokumentarischen Wert, da einerseits einige Sequenzen die Möglichkeiten der sehr beweglichen Kamera nutzen, um den Rhythmus und die Stimmung einer bestimmten Situation medienspezifisch festzuhalten (demnach auch die Aufnahmeapparatur sichtbar zu machen – ganz im Sinne des zu dieser Zeit noch nicht ›erfundenen‹ bzw. nicht so benannten ›Direct Cinema‹), andererseits die bundesdeutschen Reporter sich selbst dokumentieren, damit ihre Haltung offenlegen und nachvollziehbar machen. Hierdurch grenzt sich Musuri von der zuvor



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das Kino beherrschenden konservativen Kulturfilm-Tradition ab. Die Reportage geht mit ihrem ungezwungenen Stil in einigen Gesichtspunkten gleichzeitig über die später entstandenen Afrika-Kinodokumentarfilme aus der GrzimekProduktion hinaus – doch das wäre eine weitere Analyse. Letztlich zeigt Musuri, dass das frühe bundesdeutsche Fernsehen alles andere als eine ›primitive‹ Anfangsphase des neuen Mediums war – wie allgemeingesellschaftlich oft im Kurzschluss eines medialen Fortschrittsdenkens angenommen. Vielmehr wurden hier auf kreative Weisen unzählige technische und dramaturgische Ideen ausprobiert sowie Bildberichterstattung und Bilderzählungen der noch unformatierten Art entworfen und reflektiert (sowie über diese debattiert und gestritten), um ein Medium für das moderne Leben innerhalb der Bundesrepublik zu schaffen. Auch ist zu erkennen, dass weit verbreitete Annahmen über das Afrika-Bild der sogenannten Adenauer-Ära mit Blick auf Musuri über weite Strecken nicht zutreffen – ein Grund mehr, um über die Medienlandschaft der 1950er und 1960er Jahre neu nachzudenken.

B IBLIOGRAPHIE ARD-Fernsehchronik; online unter: http://web.ard.de/ard-chronik/index/5655? year=1954&month=3 [12.06.2016]. Diercks, Carsten (1995): Der Beginn der Filmberichterstattung beim Fernsehen. Neue Techniken und Normen. In: Heller, Heinz B./Zimmermann, Peter (Hg.): Blicke in die Welt. Reportagen und Magazine des nordwestdeutschen Fernsehens in den 50er und 60er Jahren. Konstanz, S. 35-63. Diercks, Carsten (2000): »Die Welt kommt in die Stube«. Es begann 1952: Die Anfänge des Fernseh-Dokumentarfilms im NWDR/ARD. Hamburg. Diercks, Carsten (o.J.): Ein Welterfolg aus Hamburg. Über die 16mmSchneidetische der Firma Steenbeck. In: Film- und Fernsehmuseum Hamburg; online unter: http://www.filmmuseum-hamburg.de/647.html [12. 06.2016]. Eckert, Gerhard (1953): Die Kunst des Fernsehens. Umrisse einer Dramaturgie. Emsdetten. Gottschalk, Hans (2009): Fernsehspiel und Fernsehfilm. In: Grisko, Michael (Hg.): Texte zur Theorie und Geschichte des Fernsehens. Stuttgart, S. 94-98. Heller, Heinz-B. (1995): Fernsehdokumentarismus der offenen Form. In: Heller, Heinz B./Zimmermann, Peter (Hg.): Blicke in die Welt. Reportagen und Magazine des nordwestdeutschen Fernsehens in den 50er und 60er Jahren. Konstanz, S. 85-91.





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Hickethier, Knut (2007): Das Fernsehen – Vehikel der Amerikanisierung oder Agentur der Modernisierung? In: Koch, Lars (Hg.): Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 19451960. Bielefeld, S. 111-127. tvprogramme von Gestern und Vorgestern; online unter: http://www.tvpro gramme.net/view_tag.php?tag=1954-03-31 [12.06.2016]; http://www.tvpro gramme.net/view_tag.php?tag=1954-04-07 [12.06.2016]. Zahn, Peter von (1991): Stimme der ersten Stunde. Erinnerungen 1913-1951. Stuttgart. Zimmermann, Peter (1995a): Beruf Reporter. Ein Interview mit Peter von Zahn. In: Heller, Heinz B./Zimmermann, Peter (Hg.): Blicke in die Welt. Reportagen und Magazine des nordwestdeutschen Fernsehens in den 50er und 60er Jahren. Konstanz, S. 127-140. Zimmermann, Peter (1995b): Fernsehen in der Adenauer-Ära. In: Heller, Heinz B./Zimmermann, Peter (Hg.): Blicke in die Welt. Reportagen und Magazine des nordwestdeutschen Fernsehens in den 50er und 60er Jahren. Konstanz, S. 181-261.

F ILMOGRAPHIE Die NWDR-Rolle (NDR 2002, Red.: Königstein, Horst). Musuri – es geht aufwärts am Kongo (NWDR 1954, Diercks, Carsten/Coulmas, Peter/Reiche, Heinz-Joachim).





›Zeitreise in die Kolonialvergangenheit‹ als touristische Attraktion? Repräsentation der deutschen Kolonialgeschichte in aktuellen Reiseführern zu Tansania1 J USTYNA S TASZCZAK

Reiseführer vermitteln neben praktischen Reiseinformationen bezüglich Unterkunft, Verpflegung oder Reiserouten auch Hintergrundwissen zum Reiseland und seinen Einwohner_innen. Als »touristische Gebrauchsanweisungen« (1995a: 85)2, wie Gorsemann sie bezeichnet, bereiten Reiseführer ihr Lesepublikum auf eine Reise vor, um ihnen dadurch eine bessere Orientierung vor Ort zu ermöglichen. Gerade in dieser Funktion, so könnte Gorsemann folgend gesagt werden, besteht die Nützlichkeit dieses Genres, was zugleich die Art der Wissensvermittlung und der Repräsentationspraxis beeinflusst. Es geht also darum, […] daß die fremde Stadt, Region, Kultur oder Natur, die sozusagen den Rohstoff des touristischen Konsums darstellt, zum ›Gebrauch‹ hergerichtet wird. Insofern wird das NichtBekannte und Nicht-Vertraute für Touristen handhabbar, benutzbar gemacht. Diese Funktion erfüllt in Buchform der Reiseführer, wie in persönlicher Form der Reiseleiter. (Ebd.)

1

Für ihre aufmerksame Lektüre und wertvollen Rückmeldungen danke ich ganz herzlich Amata Schneider-Ludorff und Sabrina Freyer.

2

In diesem Zusammenhang möchte ich auf Sabine Gorsemanns (1995b) umfassende Analyse hinweisen, die sowohl die historische Entwicklung von Reiseführern skizziert als auch unterschiedliche Ansätze zur Typologisierung vorstellt. Am Fallbeispiel von Reiseführern zu Island entwickelt Gorsemann Kriterien zur Qualitätsbeurteilung dieses Genres.



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Die Tourismusforschung geht im Hinblick auf die Reiseführern zugeschriebenen Funktionen aber noch weiter: Das vermittelte Wissen über die Reiseländer soll die Verständigung und Begegnung zwischen der lokalen Bevölkerung und den Reisenden fördern. Indem sie »Verständnis für andere Länder und Kulturen wecken«, seien sie »Vermittler zwischen der Kultur des Ziellandes und der Kultur des Herkunftslandes« (Steinecke 2007: 312) und trügen so zum „Prozess der interkulturellen Begegnung und des interkulturellen Lernens« bei (Wagner 1986, zit. n. Steinecke 2007: 312; Hervorh. i. Orig.). Dieser idealistisch formulierte Auftrag, ›fremdkulturelles‹ Verstehen zu fördern, macht Reiseführer zu einem besonderen Medium der Wissensvermittlung. Dabei drängt sich die Frage auf, ob eine »touristische Gebrauchsanweisung« diesem Anspruch tatsächlich gerecht werden kann. Was macht aber Reiseführer »nützlich, interessant und unterhaltsam« (Gorsemann 1995a: 85)? Entscheidend sind die touristischen Erwartungen der Reisenden, an denen die Inhalte und die damit einhergehende Wissensproduktion orientiert werden. Reiseführer sollen also Bilder und Informationen vermitteln, die sowohl auf das Interesse am Kennenlernen ›anderer‹ Länder und ihrer Bevölkerung antworten als auch die Suche nach Abenteuer, Vergnügen und das Bedürfnis nach Erholung vor Ort befriedigen.3 Indem Reiseführer ihre Inhalte entlang der Reisemotive ausrichten, tradieren sie zugleich stets neu kollektive Imaginationen über Orte und ihre Bevölkerungen, die als ›anders‹ definiert werden. Damit beeinflussen und lenken sie auch die Seh- und Wahrnehmungsmuster von Reisenden, die als »the tourist gaze« (»touristischer Blick«) bezeichnet werden (vgl. Urry/Larsen 2011: 1-3).4 Wie kollektive Wissensbestände und (Phantasie-)Bilder, (vor)geprägt über Kunst, Literatur, Film, Werbung und auch Reiseführer, wiederum den touristischen Blick auf das ›Andere‹ steuern, erläutert Christoph Hennig (vgl. 1999: 94f.), selbst Reiseveranstalter und Autor zahlreicher Reiseführer über Italien. Sowohl die individuelle als auch die kollektive Imagination ebenso wie Wissensbestände und Sehnsüchte werden immer mit konkreten Orten und Räumen verbunden. Hennig präzisiert dieses Phänomen der Verortung von kollektiven

3

Zu Reisemotiven vgl. die Ausführungen von Hahn/Kagelmann (1993), Gorsemann (1995b) und Staszczak (2014).

4

John Urry und Jonas Larsen betonen, dass ein »touristischer Blick« sozial und kulturell erlernt und geprägt ist. In Anlehnung an Berger (1972) heben sie hevor: »The tourist gaze is not a matter of individual psychology but of socially patterned and learnt ›ways of seeing‹ (Berger, 1972). It is a vision constructed through mobile and representational technologies.« (Urry/Larsen 2011: 2)



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(Bild-)Phantasien, die er als »imaginäre Geographie« bezeichnet, anhand des folgenden Beispiels: Unsere imaginäre Geographie siedelt in Marokko malerische Araber mit Turban und farbige Basare an, in Venedig Gondeln und verfallende Palazzi, in Andalusien FlamencoTänzerinnen und rauschende Fiestas. Solche Bilder suchen wir auf unseren Reisen; sind beglückt, wenn wir auf sie treffen, und enttäuscht, wenn wir sie nicht finden. (Ebd.: 95)

Daher liegt das touristische Interesse der Reisenden nicht vorwiegend im Kennenlernen der ihnen unbekannten Länder und Kulturen, wie Hennig hervorhebt. Vielmehr suchen Urlaubsreisende nach diesen vorgeprägten Bildern, um »die Wahrheit der kollektiven Phantasien zu erleben.« (Ebd.: 95) Vorhandene kollektive Wissensbestände und Vorstellungen und somit die im Vorfeld der Reise konsumierten Bilder werden also vor Ort wiederbelebt. Ein auf diese Weise geprägter touristischer Blick bestimmt auch das Verhältnis zwischen Tourist_innen und touristischen Beziehungsorten (vgl. auch Urry/Larsen 2011). Im Hinblick auf die Wechselwirkung zwischen Reiseerwartungen, touristischem Blick und der Repräsentationspraxis, die sich in Reiseführerinhalten wiederfindet, möchte ich im Folgenden näher auf den Umgang dieses Genres mit der deutschen Kolonialgeschichte eingehen. Dabei zeige ich auf, welche Bilder, Wissensbestände und Haltungen zur kolonialen Vergangenheit dieses Literaturgenre in seiner Repräsentationspraxis vermittelt. Untersuchenswert ist dies aus zweierlei Gründen: Betrachten wir Reiseführer erstens Gorsemann folgend als »touristische Gebrauchsanweisungen«, stellt sich die Frage, ob die Kolonialvergangenheit in Bezug auf den touristischen Blick und Konsum auch »zum ›Gebrauch‹ hergerichtet« und damit »das Nicht-Bekannte und Nicht-Vertraute für Touristen handhabbar und benutzbar gemacht« wird (Gorsemann 1995a: 85). Wenn Reiseführer zum »Verständnis für andere Länder und Kulturen« (Steinecke 2007: 312) beitragen sollen, wie in der Tourismusforschung betont wird, drängt sich zweitens die Frage auf, inwieweit auch eine (kritische) Thematisierung der Kolonialvergangenheit zum angestrebten ›interkulturellen Lernen‹ zählt. Liegt das Wissen über die Kolonialgeschichte im touristischen Interesse oder sind diese beiden Aspekte möglicherweise nicht vereinbar? Kann eine Auseinandersetzung mit der gewaltvollen Vergangenheit den touristischen Erwartungen, wie beispielsweise der Suche nach Abenteuer, Vergnügen oder dem Erholungsbedürfnis, entgegenstehen? Diese Themen betreffen nicht ausschließlich den touristischen Kontext. So kann auch gefragt werden, ob in der deutschen Öffentlichkeit ein Interesse an einer Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Vergangenheit besteht. Durch die im Vergleich zu anderen europäischen





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Ländern relativ kurze Dauer der deutschen Kolonialherrschaft wird der Bundesrepublik im Bewusstsein der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft immer noch ein Platz am Rande der kolonialen Verstrickung zugewiesen.5 Dieses Aufeinandertreffen von touristischen Motiven und Erwartungen, denen die Reiseführer gerecht werden sollen, und dem öffentlichen (Un-)Wissen über die koloniale Vergangenheit, stellen den Hintergrund meines Interessenschwerpunktes dar.

K OLONIALGESCHICHTE D EUTSCHLANDS ( EIN KURZER E XKURS ) Die folgenden kurzen Ausführungen zur Kolonialgeschichte Deutschlands sollen verdeutlichen, wie tief der Kolonialismus und der koloniale Diskurs in der deutschen Gesellschaft verwurzelt waren, und zeigen, dass ihre Auswirkungen weit über die Zeit der formalen Kolonialherrschaft hinausreichen. Obwohl die deutsche Kolonialherrschaft formal etwa 30 Jahre andauerte, deuten Schriften in Form von Reiseberichten deutscher Afrikareisender, von Missionaren und Kaufleuten ebenso wie literarische Texte auf die Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland hin (vgl. Zantop 1999). Die literarischen Darstellungen verbreiteten das koloniale Denken, stellten die deutschen Expansionsbestrebungen als ›zivilisatorischen‹ Auftrag dar und prägten kolonialrassistische Mythen. Zugleich übernahmen Kolonialvereine und andere koloniale Organisationen, wie z.B. der ›Deutsche Kolonialverein‹ oder der Förderkreis ›Gesellschaft für Kolonisation‹, die seit den 1870er Jahren Kolonialenthusiasten vereinigten, die Funktion eines »Propagandainstruments« (Gründer 1999: 65, vgl. Conrad 2012: 23f.).

5

Die Ursache hierfür finden Forscher_innen im Umgang mit der politischen Situation nach dem Zweiten Weltkrieg und der Aufarbeitung der NS-Zeit in der deutschen Gesellschaft (vgl. Lutz/Gawarecki 2005; Rommelspacher 2011; Eckert/Wirz 2013). Die Fokussierung auf den Nationalsozialismus in der Aufarbeitung der Geschichte führte dazu, dass zugleich die deutsche Kolonialvergangenheit aus dem Blickfeld geriet. Damit soll jedoch nicht das Bemühen vieler postkolonialer Theoretiker_innen und Aktivist_innen bestritten werden, deren Arbeiten eine Auseinandersetzung mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte und seine Aufarbeitung fordern. An der Stelle seien u.a. Projekte erwähnt wie ›berlin-‹, ›frankfurt-‹, ›freiburg-postkolonial‹. Es handelt sich dabei um Initiativen, die sich kritisch mit dem deutschen Kolonialismus befassen, indem sie die lokale Geschichte der jeweiligen Städte erforschen.



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Die Kolonialbestrebungen wurden mit der Berliner Konferenz (1884/85) und der Unterzeichnung der sogenannten ›Schutzverträge‹ durch Otto von Bismarck realisiert.6 Mit der Kolonialisierung nahm das gesellschaftliche Interesse an außereuropäischen Gebieten unter der deutschen Bevölkerung zu. Dies zeigte sich in der außerordentlichen Popularität ›exotischer‹ Bilder in der Unterhaltungsund Konsumkultur, u.a. in der Werbung, in Völkerschauen und später auch im Film. Eine Konjunktur erlebte zu der Zeit auch die Kolonialliteratur. Darüber hinaus wurden neue Fachrichtungen wie Afrikanische Sprachwissenschaften und Volkskunde an Universitäten etabliert, deren ›Wissenschaftlichkeit‹ eine deutliche Nähe zur kolonialen Ideologie aufwies. 1919 beendete der Versailler Vertrag die deutsche Kolonialherrschaft formal. Der koloniale Revisionismus blieb jedoch im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik sowie bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus virulent (vgl. Conrad 2012: 8-14; Gründer 1999). Auch die kolonialnostalgische Literatur7 sowie das nationalsozialistische Programm zur Rückeroberung der ehemaligen Kolonialgebiete, in dem der ›Rassendiskurs‹ wieder aufgegriffen wurde, prägten weiterhin koloniale Diskurse. Noch nach 1945 wurden viele Kolonialverbände (wieder) aktiv und setzten sich sowohl unter dem Deckmantel von »Fortschrittshilfe« und »Sklavenbefreiung« als auch als »Friedensstiftung« (Zeller 2000: 265) für neokoloniale Beziehungen ein, agierten aber auch vereinzelt offen kolonialrevisionistisch.

6

Zu den von Deutschland ganz oder teilweise kolonialisierten Staaten gehörten Südwestafrika (heute Namibia), Ostafrika (heute Tansania, Burundi und Ruanda), Togo und Kamerun. 1887 bzw. 1899 kamen Gebiete in Südostasien und im Pazifik hinzu: Kiautschou (Nordostchina), der Bismarckarchipel (heute Papua Neuguinea), die Marianen und Karolinen sowie Palau und Samoa (vgl. Conrad 2012: 28). Damit war das deutsche Kolonialreich sechsmal so groß wie das Deutsche Reich selbst (vgl. Gründer 1999: 93), territorial das drittgrößte und nach der Bevölkerungszahl das fünftgrößte europäische Kolonialreich (vgl. Dietrich/Strohschein 2011: 115f.).

7

Diese weist auf den Unmut unter der deutschen Bevölkerung (auch unter Historiker_innen) über den Verlust deutscher Überseegebiete hin (vgl. Conrad 2012: 8). In diesem Zusammenhang entstanden zahlreiche Publikationen, die zum einen die Zurückweisung des Vorwurfs von der gewalttätigen deutschen Herrschaft in Übersee beabsichtigten und zum anderen die Leistungen sowie die kulturellen Verdienste Deutschlands als Kolonialmacht herausstellten. Großer Popularität erfreute sich auch die These vom ›mangelnden Lebensraum‹ für das deutsche Volk. Diesen Topos prägte Hans Grimm mit seinem 1926 veröffentlichten, völkisch-politischen Erziehungsroman Volk ohne Raum (vgl. Gründer 1999: 300f.).





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Die formal kurze Dauer der deutschen Kolonialherrschaft im internationalen Vergleich gilt meist als Argument, dass dieser Abschnitt der Geschichte lediglich eine marginale Rolle spiele und vermeintlich deshalb historisch harmlos sei. Zweifellos ist die Bedeutung des deutschen Kolonialreichs nicht mit der Frankreichs, der Niederlande, Belgiens, Japans oder Großbritanniens gleichzusetzen, die auf eine vergleichbar lange imperiale Vergangenheit zurückblicken. Dennoch war der Kolonialismus des deutschen Kaiserreichs ein »integraler Bestandteil der Epoche des europäischen Imperialismus im 19. Jahrhundert« (2012: 18), wie der Historiker Sebastian Conrad hervorhebt. Die historische Fortführung kolonialer Gedanken auch nach der formellen Beendigung der deutschen Kolonialherrschaft zeigt, wie tiefgreifend koloniale Diskurse in der deutschen Gesellschaft etabliert waren. Ihre Beständigkeit manifestieren sie bis heute in medialen Repräsentationspraxen in Bezug auf den afrikanischen Kontinent und Schwarze Menschen, in entwicklungspolitischen Projekten, in Schul- und Kinderbüchern sowie im alltäglichen Sprachgebrauch.8

R EPRÄSENTATION

DER DEUTSCHEN

GESCHICHTE IN AKTUELLEN

K OLONIAL -

R EISEFÜHRERN

ZU

T ANSANIA

Da mein Interessenschwerpunkt auf der Repräsentation der Kolonialvergangenheit Deutschlands in aktuellen Reiseführern liegt, untersuche ich Reiseführer zu Tansania, einem Fernreisezielland, das ehemals zu den deutschen Kolonien gehörte. Als ein territorialer Teil des Ostafrika-Gebiets war Tansania eine der größten deutschen Kolonien. Die zur Analyse herangezogenen Textpassagen stammen aus Reiseführern, die im Zeitraum zwischen 2010 und 2014 in drei unterschiedlichen Verlagen herausgegeben wurden: Reise Know-How Verlag Peter Rump (2011), zwei Reiseführer im DuMont Reiseverlag (›ReiseHandbuch‹ 2012) und (›Stefan Loose Travel Handbücher‹ 2014) und in der Verlagsgruppe MAIRDUMONT die Reiseführer-Reihen: (›Lonely Planet‹ 2012) sowie (›Marco Polo‹ 2013). 9 Vier von ihnen (›Reise Know-How‹, ›DuMont‹, ›Lonely Planet‹ und ›Stefan Loose Traveller Handbücher«‹ zählen der Typologie Albrecht Steineckes zufolge zu den »Generalist-Reiseführern« (2007: 309). Die-

8

Vgl. u.a. Arndt/Ofuatey-Alazard (2011), Daniezik/Kiesel/Bendix (2013), Hentges u.a. (2014), Marmer (2013) und Nduka-Agwu/Hornscheidt (2010).

9

Ein weiterer »Einsteiger-Reiseführer« erschien 2011 in der Reihe ›MERIAN live!‹ im Verlag ›TRAVEL HOUSE MEDIA‹. Die Publikation widmet sich Kenia, Tansania und Sansibar und thematisiert die Kolonialgeschichte kaum.



›Z EITREISE IN DIE K OLONIALVERGANGENHEIT ‹

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se charakterisiert ein weitgefächertes Themenspektrum, die sie abdecken. Sie vermitteln touristische Hinweise und geben außerdem einen umfassenden Überblick über ausgewählte Aspekte landeskundlichen Wissens des Reiseziellandes und seiner Gesellschaft. Sie werden von sogenannten Individualtourist_innen und besonders aktiven Urlauber_innen bevorzugt. Der fünfte Reiseführer wurde im MAIRDUMONT Verlag in der ›Marco Polo Reihe‹ herausgegeben. Die Publikationen zählen zu der Kategorie der »Einsteiger-Reiseführer« (Steinecke 2007: 309). Es handelt sich hierbei um preisgünstige Veröffentlichungen, die »meist stichwortartig« (vgl. ebd.) und knapp landeskundliche Informationen sowie Reisehinweise und Rankings zu den wichtigsten Attraktionen eines Reiseziellandes vermitteln. Sie werden von sogenannten Pauschaltourist_innen bevorzugt, die im Gegensatz zu Individualtourist_innen überwiegend das Angebot des organisierten Massentourismus in Anspruch nehmen. Der Umfang der Ausführungen zur deutschen Kolonialherrschaft in Tansania variiert von eineinhalb bis zwei Seiten (›DuMont‹, ›Lonely Planet‹, ›Stefan Loose‹, bei einem Gesamtumfang von ca. 430-550 Seiten) bis zum zwanzigseitigen Kapitel im ›Reise Know-How Reiseführer‹ (936 Seiten). Darüber hinaus kommen in anderen Kapiteln ausgewählte Aspekte und einschlägige Ereignisse der Kolonialgeschichte (wie z.B. der ›Maji-Maji-Krieg‹) in hervorgehobenen Textpassagen vor, die einen Exkurs mit Hintergrundinformationen darstellen und als »Wissenswertes« vermerkt sind. Der ›Marco Polo Reiseführer‹ (Umfang von 140 Seiten in Taschenbuchformat) hingegen ist nach Stichworten aufgebaut (wie z.B. »Die besten Insider-Tipps«, »Essen & Trinken«, »Einkaufen«, »Sprachatlas«) sowie nach touristisch attraktiven Regionen Tansanias geordnet. Er beinhaltet kein Kapitel, das sich explizit der (Kolonial-)Geschichte widmet. Ausschließlich in der Vorstellung der Region »Daressalaam und die Küste« (Engelhardt 2013: 64f.) wird die koloniale Vergangenheit am Rande angesprochen. Anhand ausgewählter Auszüge soll nun aufgezeigt werden, welche Elemente der kolonialen Herrschaft des deutschen Kaiserreiches in Tansania thematisiert werden und welche Haltung zur Kolonialvergangenheit Deutschlands die Publikationen somit vermitteln. Die Autor_innen der ›Generalist-Reiseführer‹ beschreiben einleitend in den Kapiteln zur Kolonialgeschichte den Prozess des Erwerbs von Kolonien in den ostafrikanischen Territorien und sprechen, wie z.B. der Autor des ›Reise KnowHow Reiseführers‹, Jörg Gabriel, z.B. von »dubiosen Verträgen« (2011: 134). Anschließend thematisieren sie die koloniale Wirtschaftspolitik, die auf die Enteignung der tansanischen Bevölkerung ausgerichtet war. Auch benennen sie die kolonialen Herrschafts- und Ausbeutungspraktiken wie Zwangsarbeit und Ge-





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walt im Umgang mit Menschen. So schreiben Mary Fitzpatrick und Tim Bewer im ›Lonely Planet Reiseführer‹: Die koloniale Wirtschaftspolitik bestand darin, die Region auszubeuten und die Profite in Staatssäckel der kolonialen Besatzer fließen zu lassen. Wenig wurde investiert, um die Lebensqualität oder die Verdienstmöglichkeiten der lokalen Bevölkerung zu verbessern. (Fitzpatrick/Bewer 2012: 336)

Ähnlich stellen es Daniela Eiletz-Kaube, Sabine Jorke und Steffi Kordy in der Publikation des DuMont Verlags dar und kritisieren den kolonialen Landbesitz und die willkürliche Grenzziehung zwischen den afrikanischen Territorien (vgl. 2012: 50). Auch distanzieren sich Daniela Eiletz-Kaube und Kurt Kaube im ›Stefan Loose Reiseführer‹ von der Überzeugung einer Überlegenheit der europäischen und deutschen Kolonialisten und benennen klar, dass deren selbst definierte »zivilisatorische Mission« lediglich als Deckmantel für imperialistische Machtansprüche diente: Primär hatten sie [Briten; J.S.] jedoch – wie alle anderen Interessenten auch – nicht humanistische, sondern handfeste wirtschaftliche und politische Motive. Der Rest von Europa sah das Engagement der Briten in Ostafrika natürlich kritisch, denn jede Nation wollte am Kuchen Afrika teilhaben. (Eiletz-Kaube/Kaube 2014: 140)

In den Reiseführern ist also das Bewusstsein erkennbar, dass Kolonialgeschichte thematisiert werden soll. Das Bemühen, koloniale Praxen kritisch zu benennen, gelingt jedoch nicht immer: Durch sprachliche Formulierungen oder Begriffsverwendungen kommt es nicht selten zur Bagatellisierung kolonialer Gewalt. Im ›Reise Know-How Reiseführer‹ thematisiert Jörg Gabriel die Versklavungspraxis wie folgt: Bei Ausbruch des 1. Weltkrieges war Deutsch-Ostafrika die einzige Kolonie des Reiches, die Überschüsse produzierte […] – natürlich auf Kosten der einheimischen Bevölkerung, die auf den Plantagen und Farmen für wenig Geld hart schuften musste; viele Menschen fristeten gerade mal ein besseres ›Sklavenleben‹. Tod durch Erschöpfung war keine Seltenheit, die Peitsche trieb zur Arbeit an, Arbeitsverweigerer wurden eingesperrt. (Gabriel 2011: 148)

Nach dem Hinweis über die wirtschaftlichen Überschüsse Tansanias wird ihr Hintergrund erläutert, wobei das Wort »natürlich« darauf hindeutet, dass die Produktion der Überschüsse selbsterklärend sei und die Lesenden entsprechend



›Z EITREISE IN DIE K OLONIALVERGANGENHEIT ‹

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Bescheid wüssten. Gemeint ist die auf Ausbeutung und Zwangsarbeit beruhende Wirtschaftspolitik. Dennoch ist die Art, wie dies erklärt wird, augenfällig: Welche Szene aus der kolonialen Realität zeichnet der Autor mit dem Satz »Tod durch Erschöpfung war keine Seltenheit, die Peitsche trieb zur Arbeit an, Arbeitsverweigerer wurden eingesperrt« nach? Vordergründig werden die Menschen sichtbar gemacht, die dieser Gewalt ausgesetzt waren. Zum ausübenden Subjekt dieser Bestrafung wird jedoch die Peitsche selbst gemacht. Dies geschieht durch die beinahe metaphorische Formulierung »die Peitsche trieb zur Arbeit an«. Wie in der Passivkonstruktion »Arbeitsverweigerer wurden eingesperrt« werden somit die verantwortlichen Personen, die die versklavten Menschen mit der Peitsche zur Arbeit antrieben oder sie bei Arbeitsverweigerung einsperrten, unsichtbar gemacht. Darüber hinaus stechen ins Auge die umgangssprachlichen Verben »schuften« für den Ausdruck des harten Arbeitens der versklavten Menschen und »fristen« für ihr schwieriges Leben in Armut und Mangel, Darben bis hin zu ›Dahinvegetieren‹. Die fast jovial klingende Formulierung »viele Menschen fristeten gerade mal ein besseres ›Sklavenleben‹« führt sich schließlich selbst ad absurdum. Beim Lesen drängt sich die Frage auf, worin der Unterschied zwischen Zwangsarbeit, Ausbeutung und dem hier als »besser« bezeichneten Sklavenleben denn eigentlich besteht. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass alle Autor_innen der sogenannten ›Generalist-Reiseführer‹ die deutsche Kolonialgeschichte zur Sprache bringen und die gewaltvollen Praxen des Kolonialismus benennen. Dabei ist jedoch auch die Tendenz zur Bagatellisierung und Verharmlosung zu erkennen, die vor allem durch den sprachlichen Ausdruck zustande kommt und einer näheren Analyse bedarf.10 Den Fokus meiner Ausführungen möchte ich jedoch auf die Untersuchung zweier Erzählmuster legen, die für die Repräsentationspraxis der Kolonialgeschichte in Reiseführern charakteristisch sind. Die Erzählmuster sind vorwiegend in der Darstellung von einzelnen touristischen Sehenswürdigkeiten wie z.B. tansanischen Städten zu beobachten und in allen untersuchten Publikationen erkennbar. Beide diskursiven Figuren führen zu Widersprüchen und zum Teil Brüchen in der Thematisierung der Kolonialgeschichte.



10 Vgl. Wystub (2009) und Staszczak (2014).





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K OLONIALISMUS ALS ›M ODERNISIERUNGS UND F ORTSCHRITTSTRÄGER ‹ Im Folgenden möchte ich Textpassagen zur Analyse anführen, die in der Darstellung tansanischer Städte (Daressalam, Bagamoyo und Tanga) deren koloniale Geschichte einfließen lassen. Der Kolonialismus erscheint dabei als Bedeutungsträger, ohne den die Städte vermeintlich keine Relevanz erlangt hätten. Diese Lesart kommt in zwei unterschiedlichen Reiseführern vor. So heißt es im Lonely Planet: Von 1887 bis 1891 war Bagamoyo die Hauptstadt von Deutsch-Ostafrika […]. Im Jahr 1891 wurde die Hauptstadt nach Daressalam verlegt. Bagamoyo verfiel allmählich und hat sich bis heute nicht davon erholt. Bagamoyos Lethargie, seine lange Geschichte und der verschlafene Charme machen es zu einem lohnenden Ziel für einen Tages- oder Wochenendausflug von Daressalam. (Fitzpatrick/Bewer 2012: 127)

Im ›Marco Polo Reiseführer‹ bedient sich Marc Engelhardt eines ähnlichen Motivs: 1888 erklärte Deutschland Bagamoyo zur Kolonialhauptstadt, doch schon nach drei Jahren zog die Verwaltung erst nach Tanga und dann nach Dar. Es schien lange Zeit, als gerate die verfallende Stadt trotz ihrer 30000 Einwohner in die Bedeutungslosigkeit, doch neue Resorts entlang der leuchtend weißen Strände zeugen vom Aufschwung. (2013: 65)

In beiden Textpassagen figuriert Deutschland als eine der Kolonialmächte zu dem genannten Zeitpunkt und in einer politisch bestimmenden Rolle. Die Aufmerksamkeit der Lesenden wird auf die schlechte Lage der Stadt gelenkt: Die »verfallende Stadt« hatte ohne die koloniale Verwaltung den Anschein, »in Bedeutungslosigkeit« zu geraten. Die zitierten Zeilen werfen die Fragen nach der Sprecherperspektive auf. Worauf bezieht sich die benannte »Bedeutungslosigkeit«? Für wen wurde die Stadt ›bedeutungslos‹ und aus welchen Gründen? Hätte die Stadt für all diejenigen, die dort ansässig waren, bedeutungslos werden können? Könnte dies aus der Sichtweise der lokalen Bevölkerung berichtet werden? Die Perspektive, aus der bewertet und schließlich das Urteil gefällt wird, scheint eine europäische, wenn nicht sogar eine kolonialnostalgische zu sein. Sie impliziert, dass die zuerst zur Kolonialhauptstadt erklärte und nun »verfallende« Hafenstadt nach der Kolonialzeit unweigerlich an Bedeutung verloren habe. Die Verwendung des Verbs ›geraten‹ in der Textpassage bei Marco Polo suggeriert zusätzlich, dass die Stadt in diesen scheinbar ›bedeutungslosen‹ Zu-



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stand und in die baufällige Lage ohne das Zutun anderer durch willenloses Treiben- oder Geschehenlassen kam. Welche genaueren Ereignisse bzw. Personen zu dem Verfall beigetragen haben, wird nicht benannt. Laut Fitzpatrick/Bewer im Lonely Planet Reiseführer habe sich die Stadt von dem verlorenen Status als Kolonialhauptstadt »bis heute nicht davon erholt« (2012: 127). Dennoch mache die »Lethargie« und »der verschlafene Charme« den Ort zu »einem lohnenden Ziel für einen Tages- oder Wochenendausflug«. In den Zeilen verbirgt sich einerseits die Haltung, dass die Stadt ausschließlich durch die Kolonisation an Bedeutung gewinnen konnte und die unterstellte Lethargie (im Sinne von ökonomischer Stagnation) in Folge der Abwesenheit der deutschen Kolonialisten entstand. Andererseits artikuliert sich in den Zeilen jedoch auch der touristische Blick, denn gerade die »Lethargie« mache die Anziehungskraft dieses Ortes aus. Der erwähnte »verschlafene Charme« nimmt Bezug auf touristische Motive wie z.B. den Wunsch nach Flucht vor alltäglicher Hektik oder die Suche nach Ruhe. In der Textpassage aus dem ›Marco Polo Reiseführer‹ macht Engelhardt hingegen deutlich, dass ein totaler Zerfall der Stadt verhindert werden konnte: »Es schien lange Zeit, als gerate die verfallende Stadt trotz ihrer 30000 Einwohner in die Bedeutungslosigkeit, doch neue Resorts entlang der leuchtend weißen Strände zeugen vom Aufschwung.« (2013: 65). An dieser Stelle ändert sich die grammatische Zeitform, womit der zeitliche Bogen von der Vergangenheit bis in die Gegenwart gezeichnet wird. Der Aufbau von touristischen Ressorts bringt nun die Region aus der »Bedeutungslosigkeit« heraus und verleiht ihr ein neues Image. Die Stadt und ihre Umgebung avancieren zu einer touristischen Attraktion. Ihre »leuchtend weißen Strände« kreieren seither ein idyllisches Urlaubsbild, das aus touristischer Perspektive durchaus vielversprechend klingt. Zugleich wird dem Tourismus eine rettende Funktion zugeschrieben: Ohne den durch ihn initiierten Umbau und die neu aufgebaute Infrastruktur gäbe es keinen »Aufschwung«. Somit werden die Tourist_innen als diejenigen dargestellt, die für das Wohlergehen der lokalen Bevölkerung stehen. Suggeriert wird damit, es sei erneut der europäische Einfluss, der ganz wie zur Kolonialzeit der Stadt Bedeutung verleihe. Das Erzählmuster, das es erlaubt, den Kolonialismus als einen ›Fortschritt‹ bringenden europäischen Einfluss darzustellen, zieht sich auch durch andere Textpassagen. Im ›Stefan Loose Reiseführer‹ zeichnen die Autor_innen die Entwicklung der Stadt Daressalam unter der kolonialen Herrschaft nach: Die deutschen Kolonialherren zeigten sich vom optimalen Naturhafen von Dar begeistert und verlegten 1892 ihre Verwaltung von Bagamoyo in das unbedeutende Fischerdorf. Die





218 | J USTYNA S TASZCZAK große Bucht vor der Stadt eignete sich hervorragend für die Schifffahrt, vor allem für die neueste Errungenschaft der Industriellen Revolution, das Dampfschiff. Die schweren Dampfschiffe aus Europa konnten hier anlegen und Waren entladen, aber noch bedeutender war, dass endlich Rohstoffe wie Sisal, Edelsteine, Gewürze oder Kaffee in großen Mengen nach Europa verschifft werden konnten. Doch so richtig aufzublühen begann Dar es Salaam erst mit der Fertigstellung der Eisenbahn 1905, denn die Bahn ermöglichte es, Rohstoffe aus dem Landesinneren zuverlässig an den Hafen zu bringen. (EiletzKaube/Kaube 2014: 153; Hervorh. i. Orig.)

Eine ähnliche diskursive Figur findet sich im ›Lonely Planet Reiseführer‹: »Erst in den 1880er-Jahren gewann Daressalam wieder an Bedeutung. Zunächst als eine Station für christliche Missionare auf ihrem Weg von Sansibar ins Landesinnere und später als Sitz der deutschen Kolonialregierung« (Fitzpatrick/ Bewer 2012: 47). In beiden Textpassagen verläuft die Darstellung der Entwicklung von Daressalam entlang des Kolonisierungsprozesses – vor allem aus der Sicht der ökonomischen Verwertung des Ortes. Von einem vermeintlich »unbedeutenden Fischerdorf« über die »koloniale Hauptstadt« bis hin zur »unbestrittene[n] politische[n] und wirtschaftliche[n] Hauptstadt«. »[D]och so richtig auf[ ]blühen« (Eiletz-Kaube/Kaube 2014: 153) konnte der Ort jedoch erst nach dem Ausbau der Infrastruktur des Hafens und der Einrichtung der Eisenbahnlinie für den Export kolonialer Waren nach Europa. Anhand der in dieser Passage enthaltenen skizzenhaften Charakterisierung der Stadt lässt sich eine eurozentrische und koloniale Perspektive erkennen. Ähnlich wie in der Repräsentation der Stadt Bagamoyo stellen die Reiseführer die koloniale Herrschaft als Bedeutungsträger dar und legen ferner die Sicht nahe, dass ausschließlich die Präsenz der Kolonialmächte dem Ort eine Relevanz verlieh. Anders als in den Textpassagen in denselben Reiseführern, die die ausbeuterische Wirtschaftspolitik im Zuge der Kolonialisierung kritisch thematisieren, wird in der Darstellung der Lokalgeschichte davon gesprochen, wie diese zur ökonomisch prosperierenden Stadt und zum Exporteur von Rohstoffen unter europäischen Einfluss werden konnte. Dabei bleibt unerwähnt, wie dies zum wirtschaftlichen Aufstieg Europas beitrug und zu welchem Preis diese Güter produziert und transportiert wurden. Das Motiv des Kolonialismus als ›Fortschrittsträger‹ erscheint auch in der Darstellung der Stadt Tanga im ›Lonely Planet Reiseführer‹. So schreiben Fitzpatrick und Bewer: Obwohl es wahrscheinlich schon seit der Shirazi-Zeit eine größere Siedlung in Tanga gab, gewann die Stadt erst Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts als Ausgangspunkt für Han-



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delskarawanen ins Landesinnere Bedeutung. Elfenbein war das wichtigste Handelsgut, dessen Umsatz Ende der 1850er-Jahre jährlich rund 70000 Pfund betrug, wie der Entdeckungsreisende Richard Burton berichtete, der den Ort besuchte. Der eigentliche Boom aber begann mit der Ankunft der Deutschen im späten 19. Jahrhundert. Sie bauten die Stadt und den Hafen aus und errichteten die Eisenbahnlinie […]. Die deutschen Kolonialherren brachten auch den Sisal in die Region, und Tansania wurde bald der weltweit führende Produzent und Exporteur des kolonialen Rohstoffs. Sisal prägte fortan das Wirtschaftsleben der Gegend. (2012: 137)

Gestützt auf die Reiseberichte des Engländers Richard Burton, hier als »Entdeckungsreisender«11 bezeichnet, wird suggeriert, dass die Bedeutung von Tanga (als »Ausgangspunkt für Handelskarawanen ins Landesinnere«) auf den dort getätigten Handel zurückzuführen sei. Im zweiten Teil des Satzes wird dies jedoch gleich relativiert: So stellt das Wort »eigentlich« den Handel in Relation zur »Ankunft der Deutschen Ende des 19. Jahrhunderts.« Dabei wird erst dem deutschen Einfluss der »eigentliche« – im Sinne von richtige – »Boom« zugeschrieben. Auf diese Weise wird der wirtschaftliche Aufschwung mit der Kolonialisierung verbunden. Der mit ihm einhergehende Ausbau der Infrastruktur der Stadt sowie die Errichtung der Eisenbahnlinie erhoben den wirtschaftlichen Status der Stadt zum »weltweit führenden Produzent und Exporteur des kolonialen Rohstoffs.« Die koloniale Expansion figuriert somit als ›Modernisierungsakt‹ für das kolonialisierte Land. Wie in den bereits zitierten Textpassagen lässt sich auch hier erkennen, dass eine eurozentrische, wenn nicht sogar koloniale Perspektive zum Ausdruck kommt. Diese hebt einerseits den Kolonialismus als ›Entwicklungs- und Fortschrittsträger‹ hervor. Gleichzeitig weist sie dem Land sowie der tansanischen Bevölkerung die Rolle der ›Unterentwickelten‹ oder zumindest ›sich Entwickelnden‹ zu. Diesem Repräsentationskonzept wohnt also ein Verständnis von gesellschaftlicher Entwicklung inne, in der europäische Standards als Maßstab gelten und die ähnlichen Strukturen wie der Eurozentrismus aufweisen. Dieser definiert die Inhalte der ›Entwicklung‹, prägt das Konzept des Fortschritts und gehört Henning Melber zufolge seit der Zeit der Kolonialisierung zur zentralen Kategorie gesellschaftlicher Analyse (vgl. Melber 1992: 9-25). In der Konsequenz steuert Eurozentrismus maßgeblich die Haltung, die Wahrnehmungs-, Wertungs- und Verhaltensmuster gegenüber denjenigen, die als ›anders‹ definiert werden. Auf ihm beruht schließlich auch die dichotome Aufteilung der Welt in ›moderne‹, ›entwickelte‹ und ›zivilisierte‹ vs. ›primitive‹ und ›unentwi-

11 Zur Kritik an der Verwendung des Begriffs ›Entdeckung‹ und ›Entdecker‹ im Kontext von Kolonialismus vgl. Bendix/Danielzik (2011).





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ckelte‹ Gesellschaften.12 In der kolonialrassistischen Ideologie wurden diese Begriffe als inhärente Eigenschaften den ›Menschenrassen‹ zugeschrieben, wobei ›Überlegenheit‹, ›Entwicklungsfähigkeit‹ und ›Zivilisation‹ ausschließlich dem weißen Mann zustanden (vgl. Steyerl 2002: 30-33). Johannes Fabian (1983: 30) bezeichnet diese Form der Repräsentation als »Allochronie« (»Anderszeitlichkeit«). Sie behauptet einen essentiellen Zeitunterschied zwischen ›entwickelten‹ gegenüber ›nicht entwickelten‹ Gesellschaften, der wertend ist und dem ein europäischer Überlegenheitsanspruch zugrunde liegt. Das Konzept impliziere, so schreibt Dirk Wiemann in Anlehnung an Fabian, […] eine Überlegenheit des (westlichen) ›Modernen‹ gegenüber dem (nicht westlichen) ›Vormodernen‹, indem bestimmte europäische ökonomische, technologische, soziopolitische und kulturelle Formen als universell normativ und – in zeitlicher Hinsicht – als ›gegenwärtig‹ gesetzt werden; dem gegenüber erscheinen alle abweichenden gesellschaftlichen Äußerungsformen als ›zurückgeblieben‹ und entsprechend modernisierungsbedürftig. (Wiemann 2011: 564f.)

So wird deutlich, dass diese Repräsentationsform, wie in den Reiseführern zu erkennen ist, auf konstruierten Asymmetrien beruht: Während die tansanischen Orte zur Kolonialzeit einen »wirtschaftlichen Boom«, ein »Blühen« und einen »Ausbau der Infrastruktur« erlebten, ist ohne europäischen Einfluss das Gegenteil der Fall: sie stagnieren, »verfallen« und »geraten in die Bedeutungslosigkeit« (Engelhardt 2013: 65) Welche Funktionen diese Asymmetrien möglicherweise erfüllen, lässt sich mit den Ausführungen von Stuart Hall (2004: 117) erklären, der u.a. mit dem linguistischen Ansatz von Saussure die Rolle der Herstellung von binären Gegensätzen in der Repräsentationspraxis aufzeigt (vgl. ebd.). Die konstruierte ›Differenz‹ ist entscheidend, weil sie der Bedeutungsträger ist. Sie ermöglicht zudem eine Kontrastierung zwischen zwei binären Extremen, sodass die Gegensätze nebeneinander bzw. in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gestellt werden können. Die Repräsentation in den Reiseführern lässt also explizit, aber auch subtil, essenzielle Unterschiede zwischen der vermeintlich unterentwickelten tansanischen und der modernen deutschen Bevölkerung entstehen, die einst zur Legitimation des Kolonialismus dienten. Somit finden wir in den aktuellen Reiseführern ähnliche darstellerische Verfahren wie jene, die zur kolonialen Zeit Instru-

12 Heute spiegelt sich diese Dichotomie in der hierarchisierenden Unterscheidung zwischen den Ländern der ›Ersten-‹ und der ›Dritten Welt‹ wider.



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mente der Propaganda waren, wodurch sich das Fortwirken der diskursiven Dimensionen des Kolonialismus artikuliert. Im Folgenden möchte ich noch auf eine Form der Repräsentation näher eingehen, die im ›Reiseführer Reise Know-How‹ zu finden ist. Hier beruft sich Autor Jörg Gabriel (2011) auf eine vermeintliche tansanische Perspektive, die den Kolonialismus in ein positives Licht rückt: Im Rahmen des vorliegenden Kapitels soll vor allem die Zeit Tansanias als deutsche Kolonie eingehend dargestellt werden. Dabei geht es nicht darum, alte Zeiten zu verklären, sondern schlicht um Aufklärung: Deutsche erfreuen sich in Tansania größter Beliebtheit, was mit der seit Jahrzehnten praktizierten Entwicklungszusammenarbeit, aber insbesondere mit den im ganzen Land tätigen Missionsgesellschaften zusammenhängt. (Gabriel 2011: 128; Hervorh. i. Orig.)

Über die Formulierung »es geht nicht darum, die alten Zeiten zu verklären« sowie über das Wort »Aufklärung« wird die Intention angekündigt, die Kolonialgeschichte kritisch darzustellen, ohne sie zu beschönigen. Überraschend folgt jedoch danach die Information zu dem »Ruf« der Deutschen in Tansania, formuliert in einem Superlativ: »sie genießen größte Beliebtheit«. Auffällig ist dabei, dass nach der Ankündigung, die koloniale Vergangenheit darstellen zu wollen, de facto die gegenwärtig positiv bewertete Zusammenarbeit zwischen den Ländern (im Rahmen der betriebenen Entwicklungszusammenarbeit und der betonten Bedeutung von Missionsgesellschaften) angedeutet wird. Im weiteren Verlauf des Textes bezieht sich der Autor erneut auf die lokale Stimme: Viele [Tansanier_innen; J.S.] loben und weisen auch auf die bautechnischen Hinterlassenschaften der Kaiserzeit hin. Hie und da wird man als Deutscher auf die Zeit zwischen 1885 und 1918 angesprochen und mit der Gesamtheit damaliger Kolonialisten konfrontiert. Hat man dann keine Ahnung über die deutsche Vergangenheit des Landes, reagieren einige Tansanier fassungslos, übrigens auch dann, wenn man Bescheid weiß, die Dinge aber nur kritisch betrachtet. (Gabriel 2011: 128)

Die Lesenden erfahren nun, dass die Tansanier_innen die Kolonialherrschaft mit den »bautechnischen Hinterlassenschaften der Kaiserzeit« in Verbindung bringen, worauf deutsche Reisende hingewiesen werden. Bei der Lektüre dieser Zeilen stellt sich stets die Frage, wie sich die Haltung der Tansanier_innen gegenüber der Kolonialvergangenheit eigentlich darstellt. Unklarheit besteht auch darüber, was mit dem Hinweis gemeint ist, dass deutsche Reisende auf die Kolonialzeit angesprochen, mit der »Gesamtheit damaliger Kolonialisten« konfrontiert





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werden, wobei insbesondere ungeklärt bleibt, worauf genau sich »Gesamtheit« bezieht. Voller Widersprüche ist der darauffolgende Satz: Einerseits wird suggeriert, dass das Wissen um die Kolonialgeschichte Deutschlands in Tansania eine Selbstverständlichkeit sei; bei Unwissen würden Tansanier_innen »fassungslos reagieren«. Zugleich scheint es aber auch nicht erwünscht zu sein, »alles kritisch zu sehen.« Vielmehr erweckt die Passage den Eindruck, dass die Tansanier_innen ausschließlich das Positive sehen wollen. Der Autor fährt fort: Keiner scheint sich der zum Teil brutalen und Menschen verachtenden Herrschaft der deutschen Kolonialisten bewusst zu sein. [Verweis auf Ausführungen zum Maji-Maji Krieg; J.S.]. Vielmehr sind es positive Erinnerungen, die geblieben sind, etwa in Form der großen Kolonialgebäude, die aufgrund ihres kühlen Wohnklimas sehr beliebt sind, und – an erster Stelle – der Eisenbahn. Gerade dabei wird immer wieder die britische Zeit zum Vergleich herangezogen und festgestellt, dass diese zwar doppelt so lang war, aber längst nicht so viele technische Hinterlassenschaften hat. Viele Tansanier übersehen bei diesem Vergleich, dass die Briten im Rahmen einer UN-Treuhandschaft hauptsächlich eine Mandatsverwaltung für das Land ausübten, während die Deutschen vor allem die Ausbeutung der Ressourcen des Landes im Auge hatten und entsprechend den infrastrukturellen Ausbau der Kolonie forcierten. (Gabriel 2011: 128f.)

Der Autor bezieht sich weiterhin auf eine pauschal unterstellte tansanische Perspektive und tätigt eine generalisierende Aussage über das vermeintliche Wissen der Bevölkerung über die Kolonialgeschichte (»Keiner scheint sich […] der Menschen verachtenden Herrschaft bewusst zu sein«). Demzufolge bestünde das lokale Wissen ausschließlich aus »positiven Erinnerungen«. Dabei ist nicht das Erlebte, Erfahrene oder sind die Eindrücke älterer Generationen gemeint. Die Erinnerungen erhalten vielmehr eine materielle Natur. Es geht primär und ausschließlich um koloniale Gebäude (»die bautechnischen Hinterlassenschaften«), die als ein materieller Gegenstand im Sinne eines Erinnerungsstücks figurieren. Dies wird zum Anlass genommen, um die Qualität dieser »Erinnerungen« hervorzuheben, indem auch gesagt wird, dass diese Gebäude »sehr beliebt« seien. Die Einbeziehung der pauschal unterstellten lokalen Stimme lässt die »Erinnerungen« erneut in einem versöhnlichen Licht erscheinen, in dem – vor allem im Vergleich zur britischen Herrschaft – die deutsche Kolonialpräsenz äußerst positiv erscheint. Gleichzeitig fällt auf, dass negative und kritische Stimmen der lokalen Bevölkerung gegenüber der Kolonialgeschichte nicht zum Ausdruck kommen. Es ist ausschließlich der Autor, der die Funktion des kritischen Sprachrohrs übernimmt und immer wieder die von ihm quasi nur zitierte, vorgeblich unkritische Sichtweise der lokalen Bevölkerung dementiert:



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Im Bewusstsein vieler Tansanier ist die deutsche Kolonialzeit immer noch verankert. ›Unverwüstliche‹ Kolonialgemäuer und die vielerorts originalen Schienenstränge von Krupp und Hoesch sind auch in Tansania bewunderte Beispiele deutscher Wertarbeit. Bewundert wird auch die preußische Disziplin zu jener Zeit, teilweise in Vergessenheit geraten sind der Rassismus und die mitunter mit rücksichtsloser Waffengewalt ausgeübte Herrschaft. Das verklärte Bild wurde u.a. durch Nyereres Ujamaa-Bildungskonzept im Schulunterricht gefördert. Denn der Staatsmann sah die Kolonialzeit nicht als ein Teil der Geschichte Tansanias an und ließ den Abschnitt zum Großteil aus dem Lehrplan streichen. (Gabriel 2011: 151f.; Hervorh. i. Orig.)

Auch diese Textpassage lässt ähnliche Lesarten zu vorigen Zitaten erkennen: Zwar seien sich »viele Tansanier« der Kolonialgeschichte »immer noch« bewusst. Doch wird auch hier den Lesenden nahegelegt, dass im Vordergrund ihrer »Erinnerung« »bautechnische Hinterlassenschaften« stünden, die für sie vor allem »bewunderte Beispielen deutscher Wertarbeit« darstellten. Zusammen mit der ebenfalls »bewunderte[n]« »preußische[n] Disziplin« wird erneut unter Berufung auf die pauschal unterstellte tansanische Stimme ein positives Bild der deutschen Kolonisation kreiert. Auffällig dabei ist die rhetorische Wiederholung des Wortes »bewundert«, die unterstreicht, dass die tansanische Beziehung zu den ehemals Kolonisierenden vor allem eine der Bewunderung gewesen sei. Dem steht erneut ein kritischer Hinweis des Autors gegenüber. Die Verantwortung für dieses verklärte Bild des Kolonialismus liege bei den Menschen in Tansania selbst und sei durch das Bildungskonzept von Ujamaa von Nyerere, dem ersten Staatsmann nach der Unabhängigkeit Tansanias, entstanden. Das vermeintlich fehlende Wissen zum Rassismus der Kolonialzeit und ihrer Folgen betont der Autor auch an einer anderen Stelle im Anschluss an die Benennung der gewaltvollen Strafpraktiken (durch Auspeitschen) während der Kolonialzeit: »Fast hundert Jahre später scheint diese Zeit völlig vergessen zu sein, Deutsche werden verehrt, denn sie haben ja große, robuste und angenehm kühle Häuser hinterlassen! Wenn Mauern reden könnten…« (Gabriel 2011: 403). Inwiefern beeinflusst die Berufung auf die unterstellte Perspektive der tansanischen Bevölkerung in der Thematisierung der Kolonialgeschichte die Leser_innen der Reiseführer? Die Hervorhebung positiv konnotierter Elemente der Kolonialherrschaft, wie die des Infrastrukturausbaus und die Betonung ihrer Qualität (»große, robuste und angenehm kühle Häuser«), rückt die Kolonialvergangenheit in ein positives Licht. Ihre Folgen werden außerdem kaum hinterfragt. Wenn selbst für diejenigen, deren Vorfahren die Kolonialherrschaft erlebt haben, doch vorwiegend ›positive‹ Aspekte des Kolonialismus präsent sind und die Deutschen von ihnen »verehrt« werden, entsteht der Eindruck, dass der Ko-





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lonialismus hauptsächlich doch ›Fortschritt‹ mit sich brachte. Dies stellt wiederum eine Sichtweise dar, welche die koloniale Herrschaft legitimiert. Zugleich wird die in dem Reiseführer pauschal unterstellte tansanische Sichtweise der kolonialen Sichtweise angeglichen. Durch die korrigierenden Bemerkungen des Autors wird dies noch verstärkt, die hier als eine Art ›historische Richtigstellung‹ fungieren und gar als kritische Positionierung gegenüber dem Kolonialismus gesehen werden können. Entgegen der äußerst positiven Erinnerungen der lokalen Bevölkerung bedeutete die Kolonialisierung Gewalt und Rassismus, die jedoch nur der Autor zu thematisieren scheint. Die Ambivalenz, die durch diese Gegenüberstellung (Erinnerungen der Tansanier_innen vs. Darstellung des Autors) eintritt, bei völliger Ausblendung kritischer lokaler Stimmen, lässt die tansanische Perspektive als unwissend und nahezu naiv erscheinen. Den Fokus der Darstellung auf die bautechnische Hinterlassenschaft der deutschen Kolonialvergangenheit zu lenken, bedeutet nicht nur die Zeugnisse des Kolonialismus auf den Architektureinfluss im kolonialisierten Land zu reduzieren. Die Darstellung perpetuiert darüber hinaus sowohl die Sichtweise auf Kolonialmächte als ›Modernisierungsträger‹ als auch jene von der afrikanischen Landschaft und Bevölkerung als ›entwicklungsbedürftig‹, die von Anfang an der Legitimation europäischer Kolonialherrschaft in Afrika gedient hat.

N OSTALGISCHE E RINNERUNGEN UND Z EITREISE IN DIE KOLONIALE V ERGANGENHEIT ALS TOURISTISCHE A TTRAKTION Gebäude wie Kirchen, Bahnhöfe, Krankenhäuser, Postämter oder Eisenbahnlinien etc. sind Elemente der Städte Tansanias und stellen somit ein Zeugnis der kolonialen Vergangenheit dieses Landes dar. Daher ist es verständlich, dass Reiseführer darauf hinweisen. Auffällig ist jedoch, dass in der Darstellung der architektonischen Manifestationen deutscher Kolonialherrschaft und durch die Hervorhebung ihrer ästhetischen Elemente ein Motiv der ›Zeitreise‹ in die Vergangenheit als eine touristische Attraktion konstruiert wird. Mehrfach metaphorisch aufgeladen, kreiert diese Art der Darstellung einen Schauplatz für die Erfüllung touristischer Erwartungen und exotischer Phantasien. Um dies zu veranschaulichen, möchte ich im Folgenden auf eine Textpassage aus dem ›EinsteigerReiseführer‹ des Marco Polo Verlags eingehen. Wie eingangs erwähnt, beinhaltet dieser kein explizites Kapitel zur Kolonialgeschichte. In der Darstellung der Region Daressalam und der Stadt Bagamoyo wird jedoch die Zeit der europäischen Herrschaft erwähnt. Die Stadt zähle zu den »wichtigsten MARCO POLO



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Highlights«, heißt es auf dem Klappentext. Die Bedeutung des Ortes wird im Reiseführer mit dem Vermerk hervorgehoben, dass dieser die Geschichte der Sklaverei und des Kolonialismus bezeugen würde. Engelhardt schreibt: Lehnen Sie sich zurück, und lassen Sie sich in einem der Beach Resorts für ein paar Tage verwöhnen. In Küstennähe hat die deutsche Kolonialzeit ihre Spuren hinterlassen: In der ehemaligen Hauptstadt Bagamoyo ebenso wie in Daressalaam, Tansanias wahrer Metropole. Nach einer Woche in der staubigen Savanne kann man in Dar, wie die DreiMillionen Stadt im ganzen Land liebevoll genannt wird, Kultur, Musik und Party tanken. BAGAMOYO. Wer durch Bagamoyos Altstadt mit ihren verwunschenen Ruinen läuft, fühlt sich um mehrere Jahrhunderte zurückversetzt in die Zeit des Sklavenhandels, mit dem die Stadt groß geworden ist. (2013: 64; Hervorh. i. Orig.)

Die Lesenden werden zuerst in eine Urlaubskulisse eingeführt. Diese wird noch zusätzlich mit einem im Verhältnis zum gesamten Textumfang großen Foto visualisiert, das eine türkisblaue Meereslandschaft mit einem Segelboot am Horizont, blauem Himmel und einem Strand im Sonnenschein zeigt. Die Überschrift zu dem Foto lautet: »Entspannen an feinsandigen Stränden, unter schattenspendenden Palmen und einem endlosen Himmel: wo Tansania aufs Meer trifft« (ebd.: 65). Die »feinsandigen Strände«, »schattenspendenden Palmen«, das »Meer« und der »endlose[ ] Himmel« sind also die Elemente der idyllischen Urlaubskulisse und wecken Assoziationen von Entspannung und Erholung im touristischen Naturparadies. Der Aufruf »Lehnen Sie sich zurück und lassen Sie sich […] verwöhnen« verleiht dem Text einen Werbecharakter. Im derartig beschriebenen Kontext wird anschließend das Thema der deutschen Kolonialzeit angesprochen. Diese, so erfahren die Leser_innen, habe in der als beinahe paradiesisch dargestellten Umgebung der Städte Bagamoyo und Daressalam ihre »Spuren hinterlassen«. So stellt sich nun die Frage, von welchen Spuren hier die Rede ist sowie welche Bedeutung diese im touristischen Kontext haben? Dies bleibt der Phantasie der Lesenden überlassen. Die im Text als »wahre Metropole« bezeichnete Stadt Daressalam biete »Kultur, Musik und Party« an. Somit scheint die erwähnte Küstenregion seinen Besucher_innen ein touristisches Gesamtpaket zur Verfügung zu stellen. Des Weiteren wird mithilfe des ausschmückenden Adjektivs »verwunschen« ein weiteres idyllisches Bild der Küstenregion und der Stadt Bagamoyo illustriert: Die »verwunschenen Ruinen« skizzieren nun ein besonderes, märchenhaftes, fast mystisches Stadtbild. Eine derartige Atmosphäre des Ortes sorge dafür, dass die Besucher_innen den Eindruck gewinnen, sich in eine andere Zeit, in die tiefe Vergangenheit, versetzen zu können. Auffallend ist jedoch, dass in diesem





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als durchaus positiv konstruierten Ambiente anschließend vom Sklavenhandel die Rede ist. So wird im Text hervorgehoben, dass das Signifikante, was die Zeit »vor mehreren Jahrhunderten« ausmachte und in die man sich auch hineinversetzten könne, der Sklavenhandel gewesen sei. Ein historischer Moment wird somit in einem als äußerst einladend skizzierten Urlaubskontext eingebettet. Zudem wird betont, dass die Stadt mit dem Sklavenhandel »groß geworden« sei. Diese Formulierung bringt in der Alltagssprache zum Ausdruck, dass es sich dabei um etwas äußerst Prägendes in der Entwicklung von etwas bzw. jemandem handelt, das im Endergebnis zur Normalität bzw. Selbstverständlichkeit wurde. Die hergestellte Verbindung zwischen dem märchenhaft skizzierten aktuellen Bild des Ortes und dem geschichtlichen Bezug schafft so durchaus positive Konnotationen. Die Verortung des historischen Themas innerhalb eines Urlaubskontexts erweckt den Eindruck, dass es sich hierbei keineswegs um einen gewaltsamen Teil der Geschichte handelt. Die erwähnten »Spuren« deutscher Kolonialvergangenheit erscheinen also als touristische Sehenswürdigkeiten. Durch die thematische Einflechtung der Kolonialvergangenheit in das vorher inszenierte Urlaubsszenario (›Strand‹, ›Palmen‹, ›endloser Himmel‹ sowie »Kultur, Musik und Party« in der Stadt), verbunden mit der Einladung zur Erholung, gerät der im Text erwähnte Sklavenhandel praktisch aus dem Blickfeld. Er wird zwar sichtbar, erscheint hier jedoch als eine oberflächliche Information bzw. ein bloßes weiteres Element der Urlaubskulisse. Verstärkt wird dies durch die beschönigenden Adjektive wie »verwunschene« (Ruinen) sowie durch die metaphorische Formulierung, die Stadt sei mit dem Sklavenhandel »groß geworden«. Diese tragen zur Relativierung der Entrechtung bei, die mit der Versklavungspraxis einherging. Es scheint, als ob hier eine ›Kulisse‹ des Kolonialismus lediglich mit den zu seiner Zeit entstandenen Bauwerken, die den Ort sehenswert machen, heraufbeschworen wird, was zur Verharmlosung der Gewaltdimension der Kolonialgeschichte führt. Das anhand der Textpassage des ›Marco Polo Reiseführers‹ nachgezeichnete Motiv der ›Zeitreise‹ finden wir ebenfalls in den ›Generalist-Reiseführern‹. Auch hier wird die Präsenz vor Ort als ›Reise‹ der Tourist_innen in die Vergangenheit imaginiert. Um den Lesenden den Anblick der Stadtlandschaft von Tanga näherzubringen, skizziert der Autor des ›Reise Know-How Reiseführers‹ folgendes Bild: »Das ruhige Zentrum von Tanga ist einen Spaziergang wert. Die alten Gebäude, mit ihren Giebeln und Arkaden, sowie die großzügig angelegten Straßen – stellenweise noch mit preußischen Laternenpfählen – versetzen einen in die koloniale Vergangenheit.« (Gabriel 2011: 404) In der Textpassage fällt die Formulierung »die alten Gebäude versetzen einen in die koloniale Vergangenheit« auf. Sie legt nahe, dass die ›Zeitreise‹ ohne



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ein Zutun der Tourist_innen stattfinden könne. Allein der Ort mit seiner Architektur und den »preußischen Laternenpfählen« bringt die dort Anwesenden vermeintlich in die Vergangenheit. Mit einer ähnlichen Ästhetisierung kolonialer Gebäude, die auch hier als touristische Attraktion dienen, werben Fitzpatrick/Bewer im ›Lonely PlanetReiseführer‹ und bezeichnen die imaginäre ›Zeitreise‹ als »faszinierenden Schritt« (2012: 133) zurück in die koloniale Geschichte der Stadt Pangani: Heute kann man in dem verschlafenen Ort einen faszinierenden Schritt zurück in die Geschichte machen, vor allem in dem ungefähr drei Häuserblocks vom Fluss entfernten Gebiet, wo geschnitzte Holztüren, Bauten aus der deutschen Kolonialzeit und alte Häuser indischer Kaufleute zu sehen sind.« (Fitzpatrick/Bewer 2012: 133)

Mit dem Motiv der Zeitreise in der Repräsentation schwingt in den Reiseführertexten ein Werbecharakter mit, der auf die touristischen Erwartungen (wie beispielsweise die Suche nach Abenteuer) eingeht. Allein die skizzierten Spaziergänge durch die Städte mit ihren Zeugnissen der Kolonialgeschichte würden die Reisenden, so die Autor_innen, in die Vergangenheit »versetzen«. Dabei stellt sich die Frage, ob damit eine gewaltvolle Episode der Geschichte gemeint sein kann? Vielmehr scheinen hier eher kolonialnostalgische Bilder angesprochen zu werden, die die Projektionsfläche für romantisierende Vorstellungen bieten. Diese spiegeln sich auch in den folgenden Textpassagen: Das restaurierte ›Bahnhofs-Hotel‹ aus deutscher Kolonialzeit ist die derzeit beste Übernachtungsadresse in Tabora. Das Gebäude verströmt noch immer eine koloniale Atmosphäre. Abends ein kühles Getränk auf der Terrasse zu genießen, kann wie eine Zeitreise zurück wirken [sic]. (Gabriel 2011: 591f.)

Die im ›Reise Know-How-Reiseführer‹ angedeutete »koloniale Atmosphäre« des Hotels, die vermeintlich »immer noch« präsent sei, wird hier als touristische Attraktion behandelt. Die »beste Übernachtungsadresse« stelle Erholung und Genuss sicher, womit touristische Erwartungen befriedigt werden. In demselben Reiseführer stellt Gabriel die Stadt Tanga dar und bedient sich des gleichen Motivs: Wer […] ohne lange Strände auskommt und sich für das Flair einer ehemaligen deutschen Kolonialstadt begeistern kann, sollte sich Tanga nicht entgehen lassen. Vielleicht vergleichbar mit Swakopmund in Namibia erinnert auch hier noch das Stadtbild an deutsche





228 | J USTYNA S TASZCZAK Tage, obwohl schon seit langem keine Deutschen oder deutschsprachigen Afrikaner mehr zu den Einwohnern gerechnet werden können. (Gabriel 2011: 402)

Die Rede von einem »Flair« konnotiert die Kolonialgeschichte äußerst positiv als etwas Angenehmes. Dies legt auch der Hinweis nahe, dass dem »Flair der ehemaligen deutschen Kolonialstadt« mit Begeisterung begegnet werden könne. Mit der Formulierung »deutschen Tage« wird euphemistisch von der Zeit der kolonialen Herrschaft und Landnahme gesprochen. Dabei schwingen eine Nostalgie und beinahe ein Bedauern mit, dass zur tansanischen Gesellschaft »keine Deutschen« oder »deutschsprachige Afrikaner« mehr gezählt werden können. Die Stadt wird somit als ein Sehnsuchtsort eigener Vergangenheit imaginiert. Ähnlich euphemistische Formulierungen vor dem Hintergrund einer ästhetisch skizzierten Szenerie sind auch in Beschreibungen anderer Städte erkennbar (vgl. Gabriel 2011: 694). Diese wirken stark romantisierend und verleihen den Textpassagen einen (Kolonial-)Romancharakter. Engelhardt inszeniert »den kolonialen Charme jener Tage« (2013: 52) sogar als etwas Vergängliches, Flüchtiges, das mit dem Wachstum der Stadt Arusha allmählich verschwindet. Nicht zuletzt findet sich in der Adressliste des ›DuMont-Reiseführers‹ für die Stadt Dar es Salaam unter den kulinarischen Tipps die empfohlene Kategorie »Koloniales Flair«. Dort heißt es wie folgt: »Schmackhaftes Frühstück, Lunch und Abendessen auf der luftigen Veranda unter kolonialen Arkaden. Oase in der Stadt für einen Kaffee oder zum Essen.« (Eiletz-Kaube/Jorke/Kordy 2012: 279) Dieses wiederkehrende Motiv der romantisierten Zeitreise in der Repräsentation der tansanischen Städte stellt einen Widerspruch zur Darstellung der Kolonialvergangenheit in den eingangs zitierten Textpassagen zur Geschichte dar, in denen die Gewaltpraktiken thematisiert werden. Die Kolonialgeschichte wird dabei stark verharmlost, romantisiert und zum Schauplatz eines touristischen Abenteuers und von Vergnügen oder Erholung gemacht. Sie figuriert als ein Objekt des touristischen Blicks. Dies geschieht auch dann, wenn vom »Charme«, der »Atmosphäre« oder dem »Flair« der deutschen Kolonialzeit gesprochen wird. In all diesen zitierten Textpassagen lässt sich ein auf Konsum und Exotisierung angelegtes Interesse erkennen, das zugleich ein Beispiel für die enge Verflechtung zwischen touristischem und kolonialem Blick darstellt.

F AZIT Der Kolonialismus ging mit gewaltsamen ökonomischen, politischen und sozialen Veränderungen einher, deren Folgen bis heute fortbestehen. Ebenfalls prä-



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sent sind die Kontinuität der kolonialen Prägung von Repräsentation und Wissen sowie die daraus resultierenden Denkmuster (vgl. u.a. Hall 2004; Kilomba 2010). Gerade diese diskursive Ebene der Kolonialisierung ist im Zusammenhang mit der Repräsentation von Kolonialvergangenheit im touristischen Kontext von Relevanz. Die Repräsentation bewegt sich zwischen der Benennung der kolonialen Gewalt und direkter/indirekter Reproduktion kolonialer Denkmuster auch in der Bedienung touristischer Erwartungen, wodurch Brüche und Widersprüche entstehen. Die für den touristischen Kontext spezifische Form des Blicks auf die Vergangenheit prägt eine koloniale Weltsicht, die auf Über- und Unterlegenheitsvorstellungen beruht. Die Analyse zeigt, wie eine unterstellte tansanische Perspektive hierfür funktionalisiert wird. Verweise auf koloniale Architektur sowie auf ›Pionierleistungen‹ der Kolonialisten für den Aufbau der Verkehrsinfrastruktur entpuppen sich als Tendenz zur Remythisierung des Bilds von Europa als ›Zivilisationsmacht‹ und knüpfen an koloniale Ideologiemuster an. Die Grenze zwischen vermeintlich tansanischer und kolonialer Perspektive ist damit verwischt. Beide Perspektiven prägen die Idee einer westlichen ›Fortschrittlichkeit‹, die von der Bevölkerung Tansanias angeblich bewundert wird. Die Repräsentationsform und die mit ihr verbundene Wissensproduktion, basierend auf dem westlichen Fortschrittsverständnis, enthalten diskursive Elemente der Konstruktion bzw. Aufrechterhaltung des Ungleichheitsverhältnisses zwischen Ländern des Globalen Nordens und des Globalen Südens. Dabei wird die Überlegenheit des Nordens vorausgesetzt und die gegenseitige Abhängigkeit voneinander in den Vordergrund gestellt. Eine mangelnde Reflexion der auf eurozentrische Weise konstruierten Weltanschauung sowie die fehlende Infragestellung ihrer Denkmuster, die in der Repräsentationspraxis der analysierten Reiseführer zum Ausdruck kommt, birgt »die Gefahr des latenten bis offenen Rassismus« (Melber 1992: 12). Die darauf beruhende »Sichtweise von sich und dem Rest der Welt, der Selbstüberhöhung innewohnt«, bezeichnet Melber als »kolonialen Blick« (ebd.). Die analysierten Reiseführer weisen Elemente dieses Blicks auf. Meine Analyse hat aufgezeigt, dass dem touristischen Wahrnehmungsmuster eine koloniale Perspektive innewohnt. Die unreflektierte Reproduktion von kolonialen Denkmustern, aus deren Perspektive auf die koloniale Vergangenheit geschaut wird, bedeutet de facto ihre permanente Bestätigung und damit eine Tradierung von kolonial-rassistischen Vorstellungen. Als Resonanz auf die touristischen Erwartungen werden die Reisedestinationen überdies als paradiesische Orte jenseits von Zwängen des Alltags dargestellt. In zahlreichen Fällen werden in ein idyllisch inszeniertes Bild histo-





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rische Inhalte eingeflochten. Das Motiv der Zeitreise zieht sich als Erzählmuster durch alle analysierten Reiseführer, wodurch die Kolonialvergangenheit als positive historische Phase umgedeutet, damit verharmlost und zum attraktiven Objekt des touristischen Blicks gemacht wird. Auch die Rede von »kolonialem Flair« und »kolonialem Charme« der Orte romantisiert die gewaltvolle Geschichte. So zeigt sich, wie der touristische Blick »die Geschichte nach den Bedürfnissen der Reisenden umschreibt« (Wystub 2009: 121; Hervorh. i. Orig.).13 Dementsprechend wird deutlich, dass diese Repräsentationsformen über die reine Wissensvermittlung hinausgehen. Die Auswahl und die Darstellung der vermittelten Informationen weisen einen direkten Bezug zum touristischen Blick auf und sind somit interessengebunden aufgeladen. Die vorliegenden Analyseergebnisse verdeutlichen schließlich die Wichtigkeit und die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Repräsentationspraxis im touristischen Kontext sowie einer Reflexion über die Wissensproduktion über ›Afrika‹ in Alltagsdiskursen. Die Ansätze in der Tourismusforschung, die Reiseführern die Funktion zuschreiben, »Vermittler zwischen den Kulturen« zu sein, um den »Prozess der interkulturellen Begegnung und des interkulturellen Lernens« (Wagner 1986, zit. n. Steinecke 2007: 312; Hervorh. i. Orig.) zu fördern, erscheinen lediglich als gut gemeinte Ambition. Ob eine kritische Darstellung der Kolonialvergangenheit im touristischen Kontext wirklich erwünscht oder überhaupt möglich ist, wenn sie aus der Perspektive des touristischen Blicks wahrgenommen wird, bleibt fraglich. Die analysierten Reiseführertexte tendieren dazu, die Kolonialgeschichte schon durch die spezifische Art ihrer Repräsentation dem touristischen Kontext anzupassen bzw. sie den touristischen Erwartungen entsprechend darzustellen. Ein Verstehen des gewaltvollen Teils der Geschichte geht mit einem Hinterfragen der eigenen kolonial geprägten Denkmuster und Wissensbestände einher, es kann Scham- und Schuldgefühle hervorrufen und scheint mit der touristischen Suche nach Abenteuer, Vergnügen und dem Bedürfnis nach Erholung nur schwer vereinbar zu sein. Eine intensive Untersuchung weiterer (Reiseführer-) Texte und touristischer Repräsentationspraxen könnte schließlich die Frage beantworten, ob eine solche Vereinbarkeit überhaupt möglich wäre und wie ein postkolonial kritischer Reiseführer aussehen könnte.

13 Ähnliche Mechanismen der Relativierung, Legitimierung bis hin zur Romantisierung der Kolonialzeit in den Reiseführern zu Namibia stellt Magdalena Wystub in ihrer Untersuchung fest (vgl. 2009).



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›Z EITREISE IN DIE K OLONIALVERGANGENHEIT ‹

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Bilder postkolonial lesen? Forschungsperspektiven auf Selbst- und Fremdbilder in der visuellen Alltagskultur S EBASTIAN L EMME

1. P OSTKOLONIALE R EPRÄSENTATIONEN ZUR VISUELLEN K ULTUR

UND

S TUDIEN

Die Omnipräsenz von (fotografischen) Bildern in unserem Alltag ist unübersehbar. Ob bei der Zeitungslektüre, in der Werbung oder auch in den sozialen Medien, nahezu überall treffen wir auf das, was seit einigen Jahren unter dem Begriff der visuellen Kultur(en) subsumiert wird. Auch im Zuge der stetig zunehmenden Thematisierung und Erforschung postkolonialer Repräsentationsverhältnisse im deutschsprachigen Raum rücken neben den stark textbasierten Untersuchungen inzwischen vereinzelt spezifische Fragen der Visualität in den Blick (vgl. Brandes 2010; Moser 2011). Zumeist richten sich diese Analysen jedoch primär auf bestimmte Aspekte der bildenden Kunst und weniger auf die Dimensionen der visuellen Alltagskultur. Diese Leerstelle verwundert insoweit, als für die von postkolonialen Studien aufgeworfenen Fragen nach neokolonialen Repräsentations- und Machtverhältnissen gerade auch visuelle Konstruktionen des Sozialen relevant erscheinen, wenn eine Analyse von Selbst- und Fremdbildern angestrebt wird. Als einer der Hauptbezugspunkte postkolonialer Ansätze gilt schließlich die Annahme, dass die Wissensproduktion über die ›Anderen‹ als »Stützpfeiler kolonialer und neokolonialer Herrschaft« (Ziai 2012: 283f.) identifiziert werden kann. Dementsprechend fokussiert eine Vielzahl der Beiträge die Auswirkungen des Kolonialismus in Hinblick auf Diskurse, Repräsentationen, Identitätskonstruktionen und Zugehörigkeitsverhältnisse – Dimensionen also, die immer auch in alltäglichen Prozessen visueller Kommunikation verhandelt werden.



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Unter dem programmatischen Titel »Das Spektakel des ›Anderen‹« hat Stuart Hall (2004) in diesem Zusammenhang auf den rassifizierenden und stereotypisierenden Blick innerhalb des alltäglichen Bilderkonsums verwiesen. Am Beispiel der fotografischen Berichterstattung über Schwarze1 Sportler verdeutlicht er die besondere Rolle, die visueller Kommunikation in Hinblick auf die allgegenwärtige Differenzproduktion in den Massenmedien beigemessen werden kann: Wir können nicht anders, als Bilder dieser Art als Aussagen über Menschen oder Ereignisse, sondern auch über ihre ›Andersheit‹, ihre ›Differenz‹ zu lesen. ›Differenz‹ ist kenntlich gemacht worden […] Differenz schafft Bedeutung. Sie ›spricht‹. (Ebd.: 112; Hervorh. i. Orig.)

Auch wenn der Artikel von Hall vielfach rezipiert worden ist und repräsentationskritische Analysen ganz generell zum festen Kern postkolonialer Studien gehören, so ist eine Berücksichtigung spezifischer visueller Kommunikationsmodi in den entsprechenden Forschungsprojekten bislang noch recht selten vorzufinden.2 Dies mag nicht zuletzt dem Umstand geschuldet sein, dass trotz der wiederkehrenden Rede von der ›Macht der Bilder‹ die Analyse von Bildmaterialien in den Kultur- und Sozialwissenschaften noch immer als ein eher unüblicher Forschungsgegenstand betrachtet wird. Zudem scheint in der Forschungspraxis auch eine gewisse Skepsis vorherrschend zu sein, nach der die Untersuchung visueller Kommunikation aufgrund der für Bilder charakteristischen Polysemie gegenüber der Analyse verbaler Zeichensysteme nur schwer zugänglich und nicht ohne weiteres umsetzbar sei. Und in der Tat stehen zur Untersuchung von schriftlicher Kommunikation inzwischen gut ausgearbeitete Methoden und ein großes Angebot an Analysesoftware zur Verfügung, welche insbesondere auch große Materialerhebungen und -auswertungen erheblich erleichtern. Demgegen-

1

Mit der in dem Beitrag vorgenommenen unterschiedlichen Groß-/Kleinschreibung von Schwarz und weiß soll in Anschluss an die Critical Whiteness Studies gekennzeichnet werden, dass es sich hier nicht lediglich um Antagonismen handelt. Während »Weißsein als unkonnotierter, dominanter Marker, als privilegierte, aber unreflektierte Wissensperspektive fungiert«, bezeichnet »Schwarz in diesem Kontext eine bewußte politische Selbstpositionierung« (Franzki/Aikins 2010: 20).

2

Zu den wenigen deutschsprachigen Veröffentlichungen, die postkoloniale Forschungsfragen explizit mit Aspekten visueller Alltagskommunikation verbinden, gehören beispielsweise die Beiträge von Hodaie (2009), Kiesel/Bendix (2010) sowie Nduka-Agwu/Lann Hornscheidt (2010).



B ILDER POSTKOLONIAL LESEN ?

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über finden sich, mit Ausnahme inhaltsanalytischer Verfahren, weitestgehend nicht-standardisierte Analyseinstrumente zur Erforschung von Bildern, die interdisziplinär ausgerichtet sind und zumeist sehr zielgerichtet in Hinblick auf das zu erforschende Untersuchungsfeld entwickelt wurden. Doch gerade diese Einzelstudien bieten meines Erachtens fruchtbare Anknüpfungspunkte für Fragen nach den Repräsentations- und Machtverhältnissen im Spannungsfeld von Postkolonialität, ›Weißsein‹ und ›Deutschsein‹. Dabei gilt es, insbesondere Forschungsansätze und Theoriedebatten der sogenannten Visual Culture Studies in den Blick zu nehmen, haben diese doch den Versuch unternommen, das Forschungsfeld der visuellen Kultur als Gegenstand einer neuartigen Bildkulturwissenschaft zu konstruieren und die »Beziehungen zwischen Visualität und Repräsentation, Medialität und Identität« zu analysieren (Holert 2000: 21). Ein Hauptbezugspunkt der zumeist inter- bzw. transdisziplinär angelegten Ansätze ist hierbei der von W. J. T. Mitchell proklamierte ›pictorial turn‹ (vgl. Mitchell 1997), welcher vor dem Hintergrund der ständig anwachsenden und an Bedeutung gewinnenden Bildproduktion innerhalb einer Medien- und Informationsgesellschaft weiter an Plausibilität gewinnt. Mitchell selbst definiert Visual Culture dabei als das »Studium der sozialen Konstruktion visueller Erfahrung« (Mitchell 2003: 38) und fordert ein Konzept, welches sich nicht nur auf die Interpretation von Bildern verlassen könne, sondern auch der »Beschreibung des sozialen Feldes des Blicks […], der Konstruktion von Subjektivität, Identität, Begehren, Gedächtnis und Einbildungskraft« (ebd.: 49) Aufmerksamkeit schenken müsse. Gemeint ist mit diesem turn zugleich weniger eine absolute Abwendung von bildwissenschaftlichen Theorien und Analyseansätzen, sondern vielmehr das Fokussieren auf visuelle Modi des alltäglichen Lebens. Ein wichtiger gemeinsamer Ausgangspunkt von Visual Culture-Ansätzen besteht hierbei nach Mitchell (2008) in der Grundannahme, dass Sehen und visuelle Bilder generell als symbolische Konstruktionen betrachtet werden können. Anstatt jedoch ausschließlich von der gesellschaftlichen Konstruktion des Visuellen auszugehen, plädiert er für eine etwas andere Zielrichtung der Forschungsarbeit zur visuellen Kultur und fordert dazu auf, die »visuelle Konstruktion des sozialen Feldes« (ebd.: 325) in den Blick zu nehmen. Wie Tom Holert betont hat, kann es gelingen, durch diese Akzentuierung »gängige Kausalitäten und Abhängigkeiten in Frage zu stellen« (Holert 2005: 234). Hierdurch sei die Möglichkeit zu einer Konzeption der Visualität des Sozialen gegeben, in der Bilder nicht nur als Illustrationen oder Dokumente von gesellschaftlichen Prozessen, sondern »als Teilnehmer an diesen Prozessen« (ebd.) betrachtet werden. Diese Perspektive widersetzt sich der üblichen Annahme, Bildern einen unmittelbaren und naturnahen Abbildungswert zuzusprechen und das einzelne Bild mit dem





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Abgebildeten gleichzusetzen (vgl. Maasen/Mayerhauser/Renggli 2006: 18). Stattdessen gilt hier der Grundsatz: »Bilder bilden Realität nicht einfach ab, sondern beteiligen sich an der Konstruktion von gesellschaftlicher Realität« (ebd.: 19). Damit wird deutlich, dass in einem solchen Zugang zum Visuellen vor allem auch immer wieder danach gefragt wird, wie in Bildern Bedeutungen artikuliert werden und inwieweit Bilder an der Herstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit und spezifischer Machtverhältnisse beteiligt sind. Es ist somit wenig überraschend, dass in den vergangenen Jahren eine Vielzahl an Beiträgen zur Analyse visueller Kultur im akademischen Feld macht- und gesellschaftskritischer Studien entstanden sind. Dies trifft insbesondere auch für Analysen zu, die den Konstruktionscharakter von ›Race‹ und Gender3 in den Blick nehmen oder beispielsweise visuelle Kommunikationsmodi in den massenmedialen Diskursen um Krieg und Terrorismus4 analysieren. In Hinblick auf die Erforschung visueller Kommunikation im Bereich postkolonialer Repräsentationsverhältnisse empfiehlt sich daher ein genauerer Blick auf diese bereits vorliegenden Analysemethoden und die dahinterliegenden Theorien visueller Kultur(en). Dazu werden im Folgenden zunächst einige Grundüberlegungen der Bildsemiotik erläutert (2.) sowie die von Gunther Kress und Theo van Leeuwen (2006) vorgeschlagenen soziosemiotischen Kategorien zur Entschlüsselung von Bildbedeutungen vorgestellt (3.). Anschließend folgt eine Skizzierung von Analyseergebnissen aus dem Bereich der Erforschung visueller Stereotypisierungen (4.) und eine Zusammenfassung der vorgestellten Ansätze und Forschungsergebnisse (5.).

2. B ILDSEMIOTIK : B ILDER ALS Z EICHEN – T HEORETISCHE G RUNDANNAHMEN Die Bildsemiotik (oder auch visuelle Semiotik) beschäftigt sich mit zwei grundlegenden Fragen zur Bildlichkeit, die insbesondere auch für sozialwissenschaftliche Analysen visueller Kommunikation von Bedeutung sind. Zum einen fragt sie danach, was Bilder repräsentieren und zum anderen widmet sie sich der Ebenen der Bildbedeutungen und -botschaften, die, kultur- und sozialbedingt, ebenfalls in den Bildern mitgeteilt werden. Als zentrale Annahme gilt

3

Vgl. u.a. Schaffer (2008), Kinnebrock/Knieper (2008), Dietze (2009), Brandes (2010) und Moser (2011).

4

Hier sind u.a. zu nennen: Fahmy (2004), Butler (2008), Fahmy/Kim (2008), Maier/Balz (2010) und Mitchell (2011).



B ILDER POSTKOLONIAL LESEN ?

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dabei die Überlegung, dass es sich bei Bildern immer um Zeichen handelt. Dies bedeutet, dass Bilder – sowie andere Zeichensysteme auch – auf bestimmten Regeln bzw. Codes beruhen. Semiotische Zugänge zum Bild sind in den vergangen Jahrzehnten vor allem in den Kommunikations- und Medienwissenschaften diskutiert und weiterentwickelt worden5, nicht zuletzt, wie Lobinger betont, weil diese besonders gut geeignet sind, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zum verbalen Text herauszuarbeiten (vgl. Lobinger 2012: 55). Zeichen- und sprachtheoretischen Grundannahmen, wie etwa die von Charles S. Peirce und Ferdinand de Saussure, die die theoretischen Grundlagen der Semiotik bilden, werden auch hier relevant. Entscheidend ist dabei die generelle Ausgangsthese, nach der Begriffe sich nicht unmittelbar auf konkrete Dinge beziehen und es somit keine natürliche Entsprechung zwischen Zeichen und Bezeichnetem gibt. Saussure fasst die sprachliche Einheit demgegenüber als etwas »Doppelseitiges […], das aus der Vereinigung zweier Bestandteile hervorgeht.« (Saussure 1967: 77) Gemeint ist damit die analytische Unterscheidung verschiedener Aspekte von Zeichen, die sich wie folgt umreißen lässt: Auf einer allgemeinen Ebene erfolgt zunächst eine duale Unterteilung in das Bezeichnete (›Signifikat‹) und das Bezeichnende (›Signifikant‹). Während ersteres den Zeicheninhalt, also die Vorstellung von einer bestimmten Sache meint, ist unter dem zweiten Aspekt die Zeichenform, also das Lautbild oder Wort gemeint, das dieser Vorstellung zugeordnet ist. Um eine Beziehung zwischen diesen beiden Zeichenaspekten herzustellen, benötigt es jedoch noch eine dritte Instanz, die einen Prozess der Interpretation in Gang setzt. Diese Vermittlungsinstanz wird als ›Interpretant‹ bezeichnet und vervollständigt erst das triadische Verhältnis, das den allgemeinen Untersuchungsgestand der Semiotik darstellt (vgl. Volli 2002: 27). Für die Analyse visueller Kommunikation aus einer semiotischen Perspektive ist insbesondere die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem innerhalb dieser triadischen Zeichenrelation von Bedeutung. Hier lässt sich ebenfalls eine weitere allgemeine Überlegung der Semiotik hinzuziehen, nach der drei Arten der Zeichenbeziehung zu unterscheiden sind: ›Ikon‹, ›Index‹ und ›Symbol‹ (vgl. ebd.: 33). Auch wenn in der Bildsemiotik davon ausgegangen wird, dass Bilder prinzipiell durch alle drei Zeichenverbindungen auf das Dargestellte verweisen können, so herrscht doch auch dahingehend generelle Überstimmung, vor allem Fotografien als ikonische Zeichen zu betrachten (vgl. Lobinger 2012: 58). Mit ›ikonischer Zeichenrelation‹ ist hierbei gemeint, dass die Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem durch eine wahrnehmbare Ähnlichkeit ge-

5

Eine ausführliche Diskussion über eine mögliche semiotische Fundierung der Theorie des Bildes findet sich bei Halawa (2008).





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prägt ist. Besonders Roland Barthes hat diese Überlegung sehr früh auch für die Fotografie beschrieben und weiter ausformuliert. Er betont, dass die Fotografie in der gesellschaftlichen Wahrnehmung »als mechanisches Analogon des Wirklichen auftritt« und ausschließlich »von einer denotierten Botschaft konstituiert und besetzt« (Barthes 1990: 14) zu sein scheint. Er verweist damit auf die vorherrschende Annahme der vollständigen »Objektivität« (ebd.) von Bildern, bei der davon ausgegangen werde, dass einfach das abgebildet ist, was in der Wirklichkeit vorhanden sei. Barthes führt diese Überlegungen in der für Fotografien charakteristischen Formel des »Es-ist-so-gewesen« (1985: 87) zusammen und verweist damit auf den weit verbreiteten Umgang mit Bildern, der diesen Evidenz und dokumentarisch-objektive Abbildungsleistungen zuschreibt. Auch Paul Messaris und Linus Abraham (2001) haben nachdrücklich auf die Konsequenzen dieser dominanten Zuschreibung gegenüber visueller Kommunikation hingewiesen und betonen, dass es unzählige empirische Belege dafür gebe, dass Rezipient_innen Bilder oftmals als einen Beleg für die Wirklichkeit verstehen. Dieser analogische Faktor verschleiere den sozialen Prozess, der der Praxis der Bildproduktion inhärent sei: »Precisely because it can make images appear more natural, more closely linked to reality than words are, it can also inveigle viewers into overlooking the fact that all images are human-made, artificial constructions.« (Ebd.: 217) Entscheidend für das bildsemiotische Verständnis visueller Kommunikation ist in diesem Zusammenhang auch eine grundlegende Vorstellung, die insbesondere in den Cultural Studies und später den Visual Culture Studies ausformuliert wurde: Die Beziehung zwischen dem Zeichen und der Sache, die bezeichnet wird, ist weder eine natürliche noch eine willkürliche Beziehung. Sie ist, wie Hepp ausführt, vielmehr durch Konventionen geordnet und geregelt: Dadurch, dass einzelne Sprecherinnen und Sprecher in einer Sprachgemeinschaft sozialisiert werden, lernen sie bestimmte ›Regeln‹ der Bezeichnung, der Zuordnung von Vorstellungen, Lautbildern und Sachen. Diese ›Regeln‹ werden so internalisiert, dass sie ›quasi natürlich‹ erscheinen […]. Diese Vorstellung von Arbitrarität von Zeichen ist für die Cultural Studies grundlegend, da sie die kulturelle Lokalisiertheit von Bedeutung bereits auf der Zeichenebene begründet. (Hepp 2010: 29f.)

So lässt sich sagen, dass auch die Zuschreibung der Abbildungsähnlichkeit durch Fotografien von sozial tradierten Seh- und Deutungskonventionen ermöglicht wird. Zu diesen Konventionen gehört gleichwohl die Vorstellung, dass Bildbedeutungen aufgrund des hohen Grades an Polysemie nur schwer bestimmbar sind. Dies schlägt sich u.a. auch in der Erforschung visueller Kommunikations-



B ILDER POSTKOLONIAL LESEN ?

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prozesse nieder. Im Gegensatz zu verbaler Kommunikation wird visueller Kommunikation nach wie vor häufig zugeschrieben, dass sie aufgrund ihrer Vieldeutigkeit und Zeichenoffenheit nur schwer zu operationalisieren sei. Aus bildsemiotischer Perspektive ist damit eine entscheidende Gegensätzlichkeit des Bildlichen bereits skizziert: Bilder sind einerseits von einer sozial- und kulturspezifischen Polysemie, andererseits aber auch von einer bestimmten ikonischen Charakteristik geprägt, also von einer gesellschaftlich zugeschriebenen Ähnlichkeit und Evidenz gegenüber dem, was abgebildet wird. Grundsätzlich gilt dies auch für andere Zeichensysteme, jedoch wird in der Kommunikationsforschung bei Fotografien von einem besonders hohen Maß dieser gleichzeitigen Strukturierung und Offenheit der Sinngebung ausgegangen.

3. R EADING I MAGES – B ILDSEMIOTIK NACH K RESS

UND VAN

L EEUWEN

In ihrem vielfach rezipierten Werk Reading Images. The Grammar of Visual Design beschäftigen sich der Sprachtheoretiker Gunther Kress und der Kommunikationstheoretiker Theo van Leeuwen ausführlich mit der Beschaffenheit visueller Kommunikation, ihren Darstellungskonventionen sowie den historischen, sozialen und kulturellen Bedingungen, die die ›Bildsprache‹ (re)produzieren (vgl. Kress/van Leeuwen 2006: 3ff.).6 Der bereits im Titel anklingende Begriff der Grammatik verweist auf die programmatische Anwendung grammatikalischer Zeichenmodi auf die Bildsprache in ihrem angestrebten Forschungsansatz: Just as grammars of language describe how words combine in clauses, sentences and texts, so our visual ›grammar‹ will describe the way in which depicted elements – people, places and things – combine in visual ›statements‹ of greater or lesser complexity and extension. (Ebd.: 1)

Die beiden Autoren zeigen anhand zahlreicher Fallbeispiele auf, wie Bilder gelesen werden können und sich ihre Grammatik entschlüsseln lässt. Sie widmen sich, wie Claudia Maria Wolf resümiert, »Schritt für Schritt den ›Erzählweisen‹ der bildlichen Darstellung« und fragen beispielsweise danach, durch welche Formen der Darstellung »Aktivität von Passivität« oder auch »Dynamik von Statik« differenziert wird (Wolf 2006: 138). Wichtig ist hierbei die Betonung der

6

Sie verorten ihre Ansätze hierbei in einem weiter gefassten Sinn innerhalb des Forschungsfeldes der kritischen Diskursanalyse (vgl. Kress/van Leeuwen 2006: 14).





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kulturspezifischen Bedeutungsproduktion von Bildern und damit die Verneinung einer universellen Bildsprache mit globaler Gültigkeit: »Visual language is not – despite assumptions to the contrary – transparent and universally understood; it is culturally specific« (Kress/van Leeuwen 2006: 4). Daraus leitet sich zugleich ab, dass sich die Konzeptualisierung einer visuellen Grammatik von Kress und van Leeuwen auf die visuelle Kommunikation in westlichen Gesellschaften bezieht und auch dementsprechend nur Aussagen über die möglichen Bedeutungsproduktionen und Bildbotschaften unter Berücksichtigung dieser kulturspezifischen »language of visual design« (ebd.) zu treffen vermag. Reading Images beinhaltet aus analytisch-theoretischer Perspektive insbesondere eine äußerst interessante methodische Beschreibung zur Anwendung der Soziosemiotik für die Untersuchung von Bildern und bietet durchaus regelgeleitete und gut strukturierte Analysemittel für die empirische Forschungspraxis. Als grundlegende Unterscheidung führen Kress und van Leeuwen diesbezüglich in Anlehnung an Michael Hallidays ›Metafunktionen‹7 der Sprache auch für Bildkommunikate drei Metafunktionen ein: eine repräsentierende Funktion (representational function), eine interaktionale Funktion (interactional function) und eine kompositorische/gestalterische Funktion (compositional function) (vgl. Kress/van Leeuwen 2006: 41ff.; Meier 2010: 8ff.; Lobinger 2012: 248ff.). Diese Basisfunktionen wurden auch in zahlreichen späteren Forschungsarbeiten aufgegriffen und ausführlich erläutert (vgl. Bell/Milic 2002; Jewitt/Oyama 2006; Konstantinidou 2008; Meier 2010). Unter Berücksichtigung dieser Studien und der Ausführungen von Kress und van Leeuwen (2006) können die drei Metafunktionen von Bildkommunikaten wie folgt zusammengefasst werden: Repräsentierende Metafunktion Auf dieser Ebene geht es primär um die Gegenstände, Ereignisse und Personen, welche in multimodalen Zeichenensembles dargestellt werden. Die Analyse umfasst eine Beschreibung der denotativen Bildinhalte genauso wie die der bildlichen Syntax, d.h. der »symbolhaften oder metaphorischen Verweisfunktionen und Aussagemöglichkeiten, die durch die Verbindung von mehreren Zeichen entstehen.« (Lobinger 2012: 249)



7

Halliday unterscheidet für Sprache zwischen den drei Metafunktionen ›ideational‹, ›interpersonal‹ und ›textual‹ (vgl. Kress/van Leeuwen 2006: 41ff.).



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Interaktionale Metafunktion Diese zweite Funktionsebene betrifft die »interaktionale Beziehung zwischen Rezipient und den dargestellten Inhalten mittels Bildausschnitt und Perspektive.« (Meier 2010: 8) Hierbei fokussiert die Analyse insbesondere drei Faktoren, die die Interaktion zwischen dargestellten Personen und Betrachtenden beeinflussen: Distanz, Kontakt, Blickwinkel (vgl. Jewitt/Oyama 2006: 145). Durch das Hinzuziehen weiterer sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse lassen sich diese drei Faktoren operationalisieren und bieten für die empirische Forschung eine klar definierte Analysemöglichkeit visueller Bedeutungsproduktion. Kompositorische/gestalterische Metafunktion Die dritte Funktion umfasst vor allem die Analyse der Komposition der Bildelemente, oder genauer: die der Bildgestaltung und des Bildaufbaus. Kress und van Leeuwen fragen nach vier Aspekten der kompositorischen Funktion: ›information value‹, ›framing‹, ›salience‹ und ›modality‹ (vgl. auch Jewitt/ Oyama 2006: 147). Mit information value ist die Anordnung einzelner Bildelemente auf der Bildfläche gemeint, die Rückschlüsse auf die Funktionen zulässt. So macht es einen Unterschied, wo einzelne Elemente im Bild angelegt sind (Bildmitte, links unten, rechts oben etc.), da etwa die konventionalisierte Leseweise von links nach rechts Einfluss auf die Entschlüsselung des Bildes nimmt. Framing bedeutet demgegenüber das Verbinden oder Abtrennen einzelner Bildelemente durch bestimmte Bildstrukturen, also die Frage, wie bestimmte Zugehörigkeiten unter den einzelnen Bildelementen beispielsweise durch eine spezifische Linienführung in der Komposition hergestellt werden. Die Hervorhebung bestimmter Elemente durch das Setzen in den Vorder- oder Hintergrund des Bildes, die Schärfeverteilung oder auch die Lichtführung wird unter dem Begriff salience zusammengefasst (vgl. Kress/van Leeuwen 2006: 175ff.). Darüber hinaus ist mit modality der Wahrheitsgehalt und die Glaubwürdigkeit von Darstellungen gemeint (modality = ›reality value‹). Es geht hier um die Art und Weise, inwieweit versucht wird, ein Bild realitätsnah oder eher künstlich zu gestalten (vgl. ebd.: 154; Lobinger 2012: 250).







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4. D IE E RFORSCHUNG VON VISUELLEN S TEREOTYPISIERUNGEN IN M ASSENMEDIEN Eine zunehmende Zahl von Studien zur visuellen Darstellung von Personen befasst sich mit der Analyse visueller Stereotypisierungen im Forschungsfeld von race, class und gender, wobei der Schwerpunkt hier im Bereich der angloamerikanischen Kommunikationsforschung zu verorten ist (vgl. Bell/Milic 2002; Fahmy 2004; Kahle/Yu/Whiteside 2007; Fahmy/Kim 2008). Hierbei werden oftmals sowohl verschiedene inhaltsanalytische Methoden als auch Elemente der sogenannten ›Frame-Analyse‹ und der Bildsemiotik auf kreative Weise zusammengeführt, um spezifische Forschungsfragen mit einem angemessenen Untersuchungsinstrument beantworten zu können. 8 Nach einer ersten Erfassung der Frequenz von Darstellungen verschiedener Personengruppen hinsichtlich der Kategorien wie Geschlecht oder nationaler und ethnischer Zugehörigkeit schließt sich in diesen Studien zumeist die Frage an, wie sich die Muster der visuellen Repräsentation bestimmter Personengruppen ausformen und welche Darstellungsaspekte und Fototechniken verwendet werden, um Stereotypisierungen bildspezifisch zu produzieren und aufrechtzuerhalten. Einen ersten thematischen Schwerpunkt bilden hierbei Studien, die sich auf einer inhaltsanalytischen Ebene mit der Berichterstattung US-amerikanischer Medien beschäftigen. Eine Untersuchung von Shannon Kahle, Nan Yu und Erin Whiteside (2007) hat diesbezüglich in einer Analyse von Pressefotografien der vier auflagenstärksten Tageszeitungen der USA nach den Darstellungsunterschieden in den Abbildungen von afro- und angloamerikanischen Personen gefragt, die in den Berichten zu dem Hurrikan ›Katrina‹ im Sommer 2005 veröffentlicht wurden. Als Vorüberlegung in der Konzeption der Studie diente dabei die durch zahlreiche Analysen von Rassismus bestätigte Stereotypisierung von Schwarzen durch die Darstellung als weitestgehend passives Subjekt. Um zu überprüfen, wer in den Fotografien in aktiven und wer in passiven Rollen dargestellt wurde, konzipierten die Autoren ein umfassendes Codier-Schema, um den sogenannten ›bildimmanenten Handlungskontext‹ der jeweils dargestellten Menschen zu bestimmen und vergleichen zu können. Teil dieses Schemas waren drei Variablen, die bei der Codierung der Fotografien berücksichtigt wurden: Erstens die Rollen der dargestellten Personen, zweitens die Tätigkeiten, die diese Perso-

8

Eine ausführliche Überblicksdarstellung aktueller Analysen von visuellen Stereotypisierung in Printmedien und Werbung findet sich in der umfangreichen Studie Visuelle Kommunikationsforschung. Medienbilder als Herausforderung für die Kommunikations- und Medienwissenschaft von Katharina Lobinger (2012: 231ff.).



B ILDER POSTKOLONIAL LESEN ?

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nen in dem Foto ausführen und drittens eine Bewertung dieser Handlungen als aktiv oder passiv. Unter Berücksichtigung dieser Kategorien und der Codierung von aktiven oder passiven Handlungen und sozialen Rollen konnten in einer Analyse von insgesamt 1160 Fotografien eindeutige Ergebnisse hinsichtlich der unterschiedlichen Darstellungsweise nachgewiesen werden: African-Americans were shown in passive activities 72.28 percent of the time, while Anglos were shown in passive activities 27.72 percent of the time. […] African-Americans were identified in an active social role 20.89 percent of the time, while Anglos were identified in active social roles 74.44 percent of the time. (Kahle/Yu/Whiteside 2007: 82f.)

Der Fokus auf den Handlungskontext der dargestellten Personen wies somit nach, dass durch visuelle Kommunikation in den Medien tradierte rassistische Stereotype des hilfsbedürftigen, unselbstständigen und passiven africanamerican reproduziert werden. Eine Studie von Shahira Fahmy, James D. Kelly und Yung Soo Kim (2007) befasste sich ebenfalls mit der US-amerikanischen Berichterstattung über den Hurrikan Katrina, fokussierte jedoch weniger die Beschaffenheit rassifizierter Stereotype als vielmehr auf einen Vergleich zwischen dem visuellen framing innerhalb der Berichterstattung auf den Titelseiten von Tageszeitungen und den von den Presseagenturen AP und Reuters angebotenen Pressefotografien. Besonders interessant vor dem Hintergrund der Frage nach visuellen Stereotypen ist hierbei der Vergleich in der Darstellungsweise von ›nicht-weißen‹ Opfern des Hurrikans: Während in dem Angebot der Presseagenturen lediglich ca. 30 Prozent eine solche Abbildung beinhalteten, waren es auf den Titelseiten ca. 50 Prozent. Damit konnten die Autoren dem oftmals vorgebrachten Vorwurf, vor allem die Presseagenturen würden mit ihrer eigenen Bildselektion eine determinierende Instanz innerhalb des visuellen Framingprozesses einnehmen, widersprechen. In diesem Fall waren es vielmehr die jeweiligen Zeitungsredaktionen, die die Zentrierung der Rolle der nicht-weißen Bevölkerung als hilfsbedürftig und als passives Opfer durch ihre Bildauswahl mitbestimmt haben (vgl. ebd.: 554ff.). Ein weiterer Forschungsschwerpunkt, der sich mit rassifizierten/ethnisierten oder geschlechtsbezogenen Stereotypisierungen auseinandersetzt, greift in der methodischen Ausrichtung implizit oder explizit auf die von Kress und van Leeuwen beschriebenen Metafunktionen von Bildkommunikaten zurück. Hierbei werden neben Häufigkeitsverteilungen gerade auch Darstellungsaspekte in den Abbildungen analysiert, denen ein entscheidender Einfluss auf die Bildwirkung zugeschrieben wird. Dazu zählen u.a. die Untersuchung des Bildausschnitts, also die Frage, ob beispielsweise eher körper- oder eher kopfbetonte Portraits vorlie-





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gen, sowie die Analyse von Kameraperspektiven und Positionen der dargestellten Personen im Bildaufbau (vgl. Grittmann/Lobinger 2011: 153). Des Weiteren werden Aufnahme- und Darstellungstechniken analysiert, um Aussagen über die in Bildern produzierte soziale Distanz zwischen Bildbetrachtenden und abgebildeten Personen treffen zu können. Durch die Art der Darstellung und den Grad an Distanz zu dargestellten Personen in Bildern lassen sich, so die bildsemiotische Überlegung, Aussagen darüber treffen, ob in der Bildwirkung abgebildete Menschen z.B. eher als Freunde oder Fremde wahrgenommen werden: »Images allow us to imaginarily come as close to public figures as if they were our friends and neighbors – or to look at people like ourselves as strangers, ›others‹.« (Kress/van Leeuwen 2006: 126) Für die Frage nach visuellen Stereotypisierungen findet sich hier demnach ein Analyseinstrument für eine spezifische Darstellungstechnik, das je nach Fragestellung operationalisiert werden kann. Eine analytisch-methodische Umsetzung bietet etwa die Untersuchung von Philip Bell und Marko Milic (2002). In Anschluss an Erving Goffmans Studie Gender Advertisement (1979) wurde eine Fragestellung entwickelt, die die Theorie der visuellen Grammatik von Kress und van Leeuwen (2006) aufgreift und hier insbesondere die auf der Ebene der interaktiven Metafunktion verortete soziale Distanz für eine empirische Erhebung operationalisiert (vgl. Bell/Milic 2002: 208ff.). So wurden für die Untersuchung verschiedene Abstufungen in der Erfassung der genderspezifischen Intimisierung oder Distanzierung in Produktwerbekampagnen entwickelt, die in der Codierung von 827 Bildern Berücksichtigung fanden. Dazu gehörten mitunter die Aufnahmeperspektiven long shot, close up und medium close shot. Die Auswertung fasste diese Kategorien dann zu drei unterschiedlichen Stufen der sozialen Distanz zusammen: persönliche, soziale und öffentliche Distanz (vgl. ebd.: 216). Die Autoren kamen zu dem Ergebnis, dass Frauen in den untersuchten Werbebildern in einer größeren sozialen Nähe dargestellt werden und damit häufiger als männliche Personen eine persönliche Interaktion zu den Bildbetrachtenden aufnehmen sollen. Ganz ähnlich fragte auch Shahira Fahmy (2004) in ihrer vergleichenden Analyse zur Darstellungsweise afghanischer Frauen in Pressefotografien, die vor und nach dem Sturz des Taliban-Regimes erschienen waren, nach der Kategorie der sozialen Distanz. Diese ermittelte sie ebenfalls durch die Codierung der Aufnahmedistanz (close-up, medium shot oder long shot) sowie darüber hinaus über die Art der fotografischen Portraits von afghanischen Frauen (background oder foreground). Durch den Vergleich der jeweiligen Datensets konnte Fahmy herausstellen, dass Frauen offensichtlich nach dem Ende des Regimes viel häufiger in nahen Aufnahmepositionen dargestellt wurden als zuvor. Die visuelle Kommunikation baute nach der »Befreiung« der afghanischen Frauen somit eine



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größere soziale Nähe zwischen ihnen und den betrachtenden Leser_innen auf (vgl. ebd.: 102f.). Fahmy erhob des Weiteren noch einen zweiten spezifischen Darstellungsaspekt, der ebenfalls das Blickverhältnis zwischen den abgebildeten Frauen und den Betrachter_innen betrifft. Der Aufnahmewinkel (point of view) entscheidet nach Forschungsergebnissen der Bildsemiotik darüber, in welchem Machtverhältnis die abgebildeten Personen zu den Rezipient_innen gesetzt werden. Der herabschauende Blick auf eine Person erhebt die Bildbetrachtenden beispielsweise in eine machtvollere Position als ein Aufnahmewinkel, der auf Augenhöhe zu dem dargestellten Menschen angesetzt wird (vgl. ebd.: 96). So zeigte die Analyse von Fahmy durch die Codierung der Einstellungsperspektive (low angle, equal angle oder high angle), dass nach dem Regime-Ende die Darstellungsweise öfter auf Augenhöhe zu den Bildbetrachtenden wechselte (vgl. ebd.: 108).

5. R ESÜMEE Studien der Visual Culture Studies und der Bildsemiotik ermöglichen ein Verständnis von visueller Kommunikation, das nicht nur auf die für das Wesen von Bildern prägenden strukturellen Relationen aufmerksam macht, sondern auch auf den konventionalisierten Umgang mit Bildern hindeutet. Bilder in einer Pierce’schen Lesart als Zeichen zu betrachten, ermöglicht dabei mitunter, diese als »Produkt[e] soziokultureller Praxis« (Halawa 2008: 46) zu verstehen, also auch die sozial bedingten Prozesse der Wahrnehmung von Bildern in die Analyse mit einzubeziehen. Die für ikonische Zeichenrelation postulierte Ähnlichkeit zwischen Bild und Abgebildeten ist dabei nur ein Kriterium, das zum besseren Verständnis von Bildlichkeit und der vielfach beschworenen Formel von der ›Macht der Bilder‹ beitragen kann. Für die Forschungspraxis ist in diesem Sinne das von Kress und van Leeuwen (2006) konzipierte Instrumentarium einer soziosemiotischen Bildanalyse von Bedeutung, da es ein durchaus regelgeleitetes analytisches Vorgehen zur Untersuchung von Bildern zur Verfügung stellt. Als Grundannahme ist hierbei vorausgesetzt, dass visuelle Kommunikation (in ihrer hier untersuchten westlichen Ausprägung) kulturspezifischen Konventionen folgt, die bei der Entschlüsselung von Bildbedeutungen einbezogen werden sollten. Überlegungen der visuellen Semiotik können als Untersuchungsvariablen nutzbar gemacht werden und bieten sich deshalb insbesondere auch für die Analyse von großen Bildbeständen an, so etwa bei einzelnen Diskursereignissen in der massenmedialen visuellen Berichterstattung. Durch die von Kress und van Leeuwen vorgestellten drei Metafunktionen von Bildkommunikaten sind ganz wesentliche





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bildspezifische Kategorien für eine zeichenhafte Analyse visueller Kommunikation skizziert. Wie diese theoriegeleiteten Überlegungen in der empirischen Forschung angewandt werden können, wurde anhand der exemplarischen Vorstellung verschiedener Studien der angloamerikanischen Medienforschung erläutert. Hinsichtlich der Erforschung visueller Konstruktionen des Eigenen und des Anderen bieten bildsemiotische Analyseverfahren somit fruchtbare Anknüpfungspunkte. So kann z.B. die Erhebung der visuellen Darstellung sozialer Distanz herangezogen werden, um der Frage nachzugehen, wie Prozesse der Stereotypisierung auf bildlicher Ebene beschaffen sind. Mit Hilfe eines entsprechenden Erhebungsinstrumentes lässt sich ermitteln, welche Personengruppen zumeist mit geringer und welche mit großer Distanz zu der Betrachter_in des Bildes dargestellt und inwieweit Menschen durch bestimmte Aufnahme- und Darstellungstechniken so abgebildet werden, als wären sie Fremde. Weitere Erhebungsvariablen betreffen beispielsweise den Blick der dargestellten Personen und die damit einhergehende Interaktionsweise mit den Bildbetrachtenden sowie dem verwendeten Kamerawinkel, der spezifische Machtpositionen visuell darstellt.9 Eine Bedeutungsanalyse von Darstellungsaspekten der interaktionalen Ebene (Distanz, Kontakt und Blickwinkel) sowie der kompositorischen/gestalterischen Ebene (information value, framing, salience und modality) nimmt demnach also vor allem die Beziehung zwischen abgebildeter Person und den Bildbetrachtenden in den Fokus der Untersuchung und kann dabei sowohl auf vorliegende empirische Studien aufbauen als auch auf entsprechende Analyseergebnisse vergleichend zurückgreifen. Diese bildsemiotischen Analyseaspekte lassen sich außerdem mit inhaltsanalytischen Verfahren (wie z.B. der Erfassung des bildimmanenten Handlungskontextes) verknüpfen, um hinsichtlich visueller Stereotypisierungen aufzuzeigen, welche Personengruppen in bestimmten massenmedialen Diskursen in aktiven und welche eher in passiven Rollen und Handlungen dargestellt werden. Die hier vorgestellten Forschungsansätze verdeutlichen, wie postkoloniale Analysen ihre bisherigen Gegenstandsbereiche auf Dimensionen visueller Alltagskommunikation erweitern und dabei auf bereits vorliegende Methoden und Analyseergebnisse aufbauen können. Es wäre daher wünschenswert, diese Ansatzpunkte zur medialen Ausweitung der postkolonialen Studien aufzugreifen und im Feld visueller Differenzproduktion und der damit einhergehenden postkolonialen Formierung deutscher/okzidentalistischer Selbst- und Fremdbilder nutzbar zu machen. Zugleich ermöglichen postkoloniale Analyseansätze eine theoretische Fundierung dieser visuellen Kommunikationsmodi in einen histori-

9



Siehe hierzu ausführlich Lobinger (2012: 260ff.).

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sierenden und machtkritischen Referenzrahmen. Nicht zuletzt angesichts der beständig wiederkehrenden (Re-)Produktion stereotypisierender und rassifizierender Images in den aktuellen massenmedialen Diskursen um Flucht und Migration sowie in politischen Debatten um Integration und ›deutsche Leitkultur‹ scheint eine stärkere Verknüpfung beider Forschungsperspektiven für eine kritische Analyse postkolonialer Problemzusammenhänge dringend geboten.

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Die Stimme aus dem Buch Über fingierte fremdkulturelle Mündlichkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur am Beispiel von Thomas Stangls Roman Der einzige Ort1 L AURA BECK

E INFÜHRUNG : Z UR

FREMDEN S TIMME IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN G EGENWARTSLITERATUR »Niemand hier kann eine Stimme haben«2 (Stangl 2006: 200). So heißt es in Thomas Stangls 2004 erschienenem Roman Der einzige Ort, der die kolonial grundierte Suche seiner beiden historischen Hauptfiguren, des Franzosen René Caillié und des Briten Alexander Gordon Laing, nach der Stadt Timbuktu zum Thema hat. Das ›hier‹, von dem der Text spricht, bezeichnet das Westafrika des frühen 19. Jahrhunderts, das die europäischen Protagonisten auf zwei voneinander unabhängigen Expeditionen kurz hintereinander durchqueren. Und diejenigen, denen ›hier‹ der Besitz einer Stimme abgesprochen wird, sind – zumindest vordergründig – die afrikanischen Bewohner des Gebietes, das die europäischen Figuren reisend und schreibend zu erfassen versuchen. Mit seinem provokativen Diktum schließt Stangls Text an eines der zentralen Probleme des postkolonialen

1

Bei diesem Artikel handelt es sich um eine stark gekürzte Version des Theorie- sowie entsprechenden Analysekapitels meiner Dissertationsschrift, die unter dem voraussichtlichen Titel Niemand hier kann eine Stimme haben? Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus postkolonialer Perspektive 2016 in der Reihe »Postkoloniale Studien in der Germanistik«, herausgegeben von Gabriele Dürbeck und Axel Dunker, bei Aisthesis erscheinen wird (vgl. Beck 2016b).

2



Im Folgenden zitiert unter der Sigle ›O‹ und Seitenzahl.

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Diskurses an: Bereits 1988 formulierte Gayatri Chakravorty Spivak als eine der Mitbegründerinnen der postcolonial studies in einem gleichnamigen Aufsatz die Frage »Can the Subaltern speak?« (1988) und lenkte damit implizit die Aufmerksamkeit auch auf die mediale Dimension sprachlicher Repräsentation. Dabei geht es Spivak weniger darum zu behaupten, dass the Subaltern, das kolonisierte oder ehemals kolonisierte Subjekt, gar keine Stimme besitze. Sie problematisiert vielmehr die Möglichkeiten des subalternen Subjektes, sich mit dieser Stimme in einer kolonialen oder nachkolonialen Welt zu repräsentieren und Gehör zu verschaffen, einer Welt also, in der sowohl das Lesen als auch »das Hören hegemonial strukturiert« (Castro Varela/Dhawan 2005: 76) und demnach abhängig ist von den Standards, den Vermittlungs-, Übersetzungs-, und Kanonisierungsprozessen ›westlicher‹ Gesellschaften (vgl. Bachmann-Medick 1998: 267). Anschließend an Spivaks Überlegungen ist das Problem der Repräsentationsmöglichkeiten fremdkultureller Stimmen und Perspektiven in der Literatur zu einer Leitfrage der (auch germanistischen) postkolonialen Literaturwissenschaft geworden, die spätestens seit Uwe Timms (inzwischen partiell relativierter) Äußerung »Einfühlungsästhetik wäre ein kolonialer Akt« (Hamann/Timm 2003) ausgesprochen kontrovers diskutiert wird (vgl. dazu u.a. Dunker 2005: 13; Albrecht 2012: 67-111; Göttsche 2010: 214). Konkret bezogen auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur steht die Frage im Mittelpunkt, wie es in fiktionalen Texten, deren Handlung in kolonialen, aber auch nachkolonialen Kontexten situiert ist, überhaupt gelingen kann, fremdkulturelle Stimmen und Perspektiven präsent zu machen, ohne einer illegitimen und exotistischen Vereinnahmung, beispielsweise – um mit Uwe Timm zu sprechen – im Sinne einer problematischen »Einfühlungsästhetik«, Vorschub zu leisten. Angeheizt wird die Debatte durch das Problem, dass die Aussparung jener Perspektiven, auf die sich einige Autoren in der Folge zurückziehen, Gefahr läuft, genau die Ausschlussmechanismen zu wiederholen, die koloniale Texte kennzeichnen. Auf die von Ingo Cornils und Sabine Wilke gestellte Frage »Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma, entweder die Stimmen der Anderen auszuschließen oder aber sie einzuschließen und sie dadurch illegitim zu vereinnahmen? « (Cornils/Wilke 2011: 190f.) hat, so scheint es, weder die postkoloniale Literaturwissenschaft noch die deutschsprachige Literatur eine abschließende und wirklich befriedigende Antwort gefunden.3

3

Während beispielsweise Axel Dunker dafür plädiert, dem Problem durch »eher formale Repräsentationen der Kolonisierung, etwa auf der Ebene einer ›figurativen Stra-



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Dass das sogenannte »Repräsentationsdilemma« (Domdey 2009: 50) dabei eine entschieden mediale Komponente besitzt, ist in der postkolonialen Germanistik, anders als beispielsweise in der romanistischen oder angloamerikanischen Literaturwissenschaft, zwar verschiedentlich punktuell angesprochen, bislang jedoch kaum systematisch untersucht worden.4 Dabei zeigt sich, dass die mediale Komponente der Repräsentationsproblematik eng mit der Frage einer postkolonialen Kanonrevision verknüpft ist, welche einen wesentlichen Bestandteil postkolonialer Kritik bildet. Hier geht es einerseits darum, den eurozentrischen Charakter westlicher Kanonisierungsprozesse zu konstatieren und die Ausschlussmechanismen aufzudecken, die in diesen Kanonisierungsprozessen am Werk sind (vgl. z.B. Uerlings 2012: 41), und andererseits darum, genau diese Mechanismen auf ihre Umkehrbarkeit hin zu befragen. Jene Selektivität drückt sich schließlich nicht nur im Fokus auf im Wesentlichen europäische und amerikanische Autoren und europäische Sprachen aus, sondern eben auch durch eine Beschränkung der ›kanonisierbaren‹ Genres und Medien, denen anscheinend unumstößlich vor allem eines gemein ist: Sie sind schriftlich verfasst. Dies, so entsteht der Eindruck, gibt das Selbstverständnis westlicher Kulturen als Schriftkulturen beinah zwingend vor. Für die postkoloniale Literaturwissenschaft stellt sich also ein über die inhaltliche Kritik an einzelnen Werken hinausgehendes Problem; nämlich das der Schriftzentriertheit und damit der Medialität europäischen Kanons. Sven Werkmeister, der die postkoloniale Dimension der Medienfrage als einer der ersten in Bezug auf die deutschsprachige Literatur (vor allem um 1900) in mehreren einschlägigen Arbeiten extensiv thematisiert hat, bringt es auf den Punkt: Zu fragen ist ganz grundsätzlich, inwieweit nicht bereits die Definition des Gegenstandsbereiches der Literaturwissenschaft selbst eine ungedachte eurozentristische Dimension in

tegie‹ [hier Susan L. Meyer zitiert; L.B.], in der das Tableau der Figuren koloniale Strukturen abbildet« (Dunker 2005: 13) zu begegnen, ist die Frage der Legitimation für Hansjörg Bay schlichtweg »nicht nur in dieser Allgemeinheit nicht zu beantworten, sondern in ihrer Orientierung an einem fragwürdigen Konzept von kultureller Identität und einem nicht minder fragwürdigen Konzept von Autorschaft falsch gestellt.« (Bay 2009: 135) 4

Punktuell wird die Medienfrage in diversen Einzelstudien aufgegriffen: vgl. Werkmeister (2009), Dunker (2012a; 2012b), Bay (2009; 2012), Beck (2011: 133-148), Domdey (2006), Hagestedt (1995) und Hielscher (2003). Zu einer systematischen und großangelegten Analyse des Themas aus postkolonialer Perspektive und bezogen auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur vgl. Anm. 1.





256 | L AURA B ECK sich birgt, die die Frage nach der Möglichkeit und den Grenzen kultureller Horizonterweiterung in unmittelbarer Weise betrifft. (Werkmeister 2014: 105)5

Für ihn kann daher gerade die Ethnologie mit ihrem Fokus auf ›schriftlose‹ Kulturen, deren oralen Ausdrucksformen in dieser Disziplin allerdings zunächst keine ästhetische Qualität zugemessen wurden, als »Anregung für eine postkoloniale Erweiterung des literaturwissenschaftlichen Kanons dienen, die auch außereuropäische Texte in den Blick nimmt, welche nicht den medialen Gesetzen europäischer Texttradition folgen.« (Werkmeister 2014: 106) 6 In diesem Sinne forderte bereits Doris Bachmann-Medick die »Durchsetzung anderer Literaturformen« (1998: 268) und damit einen Einbezug von mündlicher Wissenssowie Literaturproduktion und der Perspektiven derjenigen, die sich nicht in der ›westlichen‹ Alphabetschrift äußern. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit solche Überlegungen sich in der deutschsprachigen ›postkolonialen‹ Gegenwartsliteratur niederschlagen, beispielsweise als über einen eher inhaltlich-abstrakten Bezug hinausgehende Versuche, fremdkulturelle Mündlichkeit literarisch zu inszenieren. Versuche also, wie sie Bachmann-Medick in Bezug auf außereuropäische Literaturen beschreibt und als Ausgangspunkt für eine postkoloniale Kanonerweiterung verstanden wissen will: Die Dominanz des sprechenden Subjektes, eingeflochtene Anekdoten, Sprichwörter, Dorfgeschichten und andere Formen der Oralliteratur machen in nichteuropäisch geprägter Literatur auch eine Neubewertung von Mündlichkeit geltend, ganz entgegen ihrer weitgehenden Verdrängung durch den schriftlichkeitsfixierten Modernisierungsprozess. (Bachmann-Medick 1998: 270)

So scheint gerade die Diversifizierung medialer Ausdrucksmöglichkeiten etwa durch den Erfolg moderner Informationstechnologien und die in diesem Zusammenhang ausgerufene »Re-Oralisierung« (Schröder/Voell 2002a: 32) ›westlicher‹ Gesellschaften eine Chance zu bieten, dem postkolonialen Projekt einer

5

Vgl. dazu neben dem Beitrag im vorliegenden Band auch allgemein Werkmeister (2010) sowie Werkmeister (2015).

6

Relevant ist in diesem Zusammenhang auch das aus der Writing Culture-Debatte resultierende Bemühen um Polyphonie.



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interkulturellen und medialen Pluralisierung literarischer Stimmen näherzukommen (vgl. Schröder/Voell 2002b: 303).7

I. ›D ECOLONIZING MEDIA ?‹ Z UR D EKONSTRUKTION DES T OPOS VON DER M ACHT DER S CHRIFT UND ZUR FINGIERTEN M ÜNDLICHKEIT Eine auf deutschsprachige Gegenwartsliteratur bezogene, postkolonial perspektivierte Lektüre muss zunächst ganz allgemein von der Frage ausgehen, wie die Texte mit dem Topos einer angeblichen Überlegenheit europäischer Schrift gegenüber fremdkultureller Oralität umgehen. Dieser Topos, der auch der Schriftzentriertheit westlicher Kanons implizit zugrunde liegt, lässt sich schließlich deutlich auf koloniale Diskurse zurückverfolgen. Wie eine Reihe von Untersuchungen gezeigt hat, erfährt der (tatsächliche oder angebliche) europäische Schriftbesitz, beispielweise symbolisiert durch ›das‹ europäische Buch sowie die Praxis des Schreibens als ordnendes, domestizierendes und letztlich Wissen produzierendes Verfahren, im kolonialen Diskurs eine bedeutende ideologische Aufladung (vgl. dazu grundlegend Harbsmeier 1986, 1989, 1992; Krüger 2003, 2009: bes. 304; Schüttpelz 2005: bes. 15-28; Werkmeister 2010: 29-51). Wenn Erhard Schüttpelz in diesem Zusammenhang von einer »Szene der (medien)technischen Überlegenheit« (2005: 20) der Alphabetschrift spricht, die in einer Vielzahl an kolonialen Texten geradezu inflationär wiederholt werde, so zeigt sich, dass europäischer Schriftbesitz zur Stabilisierung dessen beiträgt, was Uerlings als »ethnisierendes Inferioritätsaxiom« bezeichnet (Uerlings 2005: 18) und damit an der dichotomen Positionierung von Kolonisierer vs. Kolonisierter partizipiert. An diese Feststellung lässt sich die Frage anschließen, ob prinzipiell postkolonial informierte Gegenwartstexte, die sich offenkundig an bestimmten kolonialen Klischees abarbeiten, auch die problematische Rolle ihres eigenen Mediums innerhalb kolonialer Diskurse reflektieren. Wie verhalten sie sich dazu, dass Mündlichkeit und Schriftlichkeit in eben jenen Diskursen häufig als mediale Marker kultureller Differenz zwischen vorgeblich ›rationalen‹, ›überlegenen‹, europäischen ›Schriftkulturen‹ und außereuropäischen, vorgeblich ›pri-

7

Für Ingo W. Schröder und Stéphane Voell geschieht diese Re-Oralisierung »insbesondere über Telefon und Handy, Fernsehen und Radio und neuerdings über die elektronische Kommunikation im Internet, die zwar auf der Verwendung von Schrift basiert, aber daneben zahlreiche Elemente mündlichen Informationsaustausches beinhaltet.« (Schröder/Voell 2002a: 12)





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mitiven‹, ›sinnlichen‹, ›oralen Kulturen‹ dienen? Inwiefern problematisieren sie, dass der Besitz der Schrift als Medium der Wissensorganisation (vgl. u.a. Fiedler 2005: 152) und der kolonialen Be-Schreibung und Besitzergreifung als Bedingung und Rechtfertigung für die Unterwerfung und ›Zivilisierung‹ fremder Völker instrumentalisiert wurde? Beziehen sie sich selbstreflexiv auf die Schriftzentriertheit, die literarischen Kanonisierungsprozessen noch immer zugrunde liegt? All diese Überlegungen führen schließlich zurück zur Einstiegsfrage, die die Möglichkeit einer gewissermaßen intratextuell simulierten Intermedialität berührt und die im zweiten Teil dieses Beitrags in Bezug auf Thomas Stangls eingangs zitierten Roman Der einzige Ort exemplarisch verhandelt werden soll: Wird die weitgehende Verdrängung von Mündlichkeit auf formaler Ebene literarisch verarbeitet durch ästhetische Strategien der Repräsentation, mithilfe derer fremdkulturelle Oralität und damit auch mediale Alterität gewissermaßen als Abwesendes im Text präsent gemacht werden? Auf das postkoloniale Potential einer strukturellen Integration von (nicht-europäischer) Oralität, welche sie explizit im Rahmen eines Writing Back verortet, hat bereits Marion Gymnich hingewiesen: Gerade der Roman diente in der Geschichte der Kolonisierung oft als ›tool of imperial representation‹ (Ashcroft 2000: 26); zugleich stellt er aber auch eine relativ flexible literarische Form dar, die Raum für eine Inszenierung von nicht-europäischen Erzähltraditionen bietet. Wenn im Roman beispielsweise Oralität nachgeahmt wird, dann kann auch auf diesem Wege ein ›decolonizing genre‹ erfolgen. (Gymnich 2004: 80)

Im Anschluss an Gymnich ließe sich hier unter Vorbehalt von einem ›decolonizing media‹ sprechen. Dass fremdkulturelle Mündlichkeit in einem auf Schriftlichkeit basierenden Medium allerdings nicht einfach einzuholen ist, bildet dabei eine besondere Herausforderung an die Literatur. Zwar bietet beispielsweise der Versuch einer literarischen Verarbeitung fremdkulturellen mündlichen Quellenmaterials in der deutschsprachigen Literatur einerseits die Chance, eine interkulturelle Dialogizität, eine »Redevielfalt und Vielsprachigkeit« (Honold 2014: 85) in die Erzählstruktur ›einzuschleusen‹; dies ist andererseits unweigerlich mit dem Problem der mehrfachen, sprachlichen und medialen Vermittlung des Materials konfrontiert. Diese Vermittlungsmomente wiederum sind nicht losgelöst von den häufig hegemonial strukturierten Archi-



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vierungsbedingungen zu denken. 8 Werden diese Bedingungen in den Texten mitreflektiert? Dabei ist die kontrovers diskutierte Frage, ob in deutschsprachigen Texten aus der Perspektive des Kolonisierten gesprochen werden kann, meiner Ansicht nach von Text zu Text neu zu verhandeln, wobei weniger die zweifelhafte Kategorie der ›Authentizität‹ als die ästhetischen Strategien der Texte maßgeblich sind. Wie aber kann die vorgeblich spezifische Medialität von Oralität im Text überhaupt präsent gemacht und beschrieben werden? Eine Strategie, die selbstverständlich nicht nur in postkolonialen Kontexten Anwendung findet, ist die Simulation von Mündlichkeit durch bestimmte literarische Stilmittel, ein Verfahren, dass von dem Anglisten Paul Goetsch als »fingierte Mündlichkeit« bezeichnet worden ist (Goetsch 1985). In seinem grundlegenden Artikel subsumiert Goetsch unter diesem Begriff zunächst ganz heterogene literarische Phänomene wie »geschriebene Dialoge, simuliertes mündliches Erzählen, die Verwendung bestimmter, gemeinhin mündlicher Kommunikation vorbehaltener Stilmerkmale und sprachlicher Register, den Gebrauch von Dialekten usw.« (Ebd.: 202) Goetsch und andere haben in den darauf folgenden Jahren versucht, besonders jene »gemeinhin mündlicher Kommunikation vorbehaltene[n] Stilmerkmale« sowohl ganz allgemein als auch explizit auf koloniale Kontexte bezogen anhand konkreter Textanalysen näher zu umreißen.9 Aus diesen lassen sich zwar häufig genannte Merkmale wie beispielsweise eine Vorliebe für Wiederholungen, Rhythmisierung, Alliterationen, formelhaftes Sprechen, ein additiver und episodischer Stil oder der explizite Bezug auf die Sprecher- und Hörsituation herausfiltern. 10 Bereits der Versuch, eine eindeutige Definition herauszuarbeiten, er-

8

Dies betrifft beispielsweise orale Wissensbestände, die von europäischen Ethnologen niedergeschrieben wurden.

9

Beispielhaft genannt aus einer inzwischen schier unüberschaubaren Anzahl an Publikationen seien hier besonders die Bände der Reihe »ScriptOralia«, die zunächst als Publikationsorgan des Freiburger Sonderforschungsbereichs »Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit« seit 1989 herausgegeben wurde und Studien zu Texten europäischer Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, aber auch afrikanischer, afroamerikanischer, indianischer und indianischamerikanischer Autoren versammelt. Dezidiert aus Perspektive des Postkolonialismus und der Interkulturalität, im Wesentlichen aber bezogen auf außereuropäische Autoren vgl. beispielhaft besonders Arndt (1998), Julien (1992), Kreutzer (2008) und Schuchardt (2006: 132-138).

10 Die Merkmale, die in solchen Studien zu Tage treten, decken sich meist stark mit denen, die seit den 1960er Jahren von den Vertretern des sogenannten ›technologischen





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weist sich jedoch als problematisch, da diese schließlich auf einer klaren Abgrenzung beruhen müsste, die ›mündlichen Stil‹ als Abweichung von einer impliziten (schriftlichen) Norm fasst (vgl. Julien 1992: 28). Wenn jedoch, wie etwa Versuche der Gattungsbestimmung zeigen, diese implizite Norm letztlich ein uneinholbares Ideal abbildet, das die ästhetische Vielfalt europäischen (und außer-europäischen!) Schreibens naturgemäß nicht abzubilden vermag und ›Oralität‹ als ihr ebenso künstliches Gegenbild entwirft, stellt sich folgende Frage: Wird fingierte Mündlichkeit nur dann als solche erkennbar, wenn sie den Erwartungen entspricht (vgl. Julien 1992: 33)? Neben einer ideologischen Schwierigkeit, die sich aus der idealtypischen Gegenüberstellung vorgeblich komplett differenter medialer Mechanismen ergibt, welche besonders im kolonialen Kontext zudem mit kultureller Differenz assoziiert werden, birgt die Kategorie der ›fingierten Mündlichkeit‹ dementsprechend ein methodisches sowie rezeptionsästhetisches Kernproblem. Dabei betrifft, wie Irina Rajewski feststellt, das Problem der Abgrenzbarkeit die Beschreibung intermedialer Phänomene allgemein (vgl. Rajewsky 2002: 32-38) – und als ein solches intermediales Phänomen lässt sich Oralität in der Schrift durchaus fassen. Letztlich lässt sich jedoch heuristisch kaum anders vorgehen – eine nominelle und kritische Übernahme des Konzeptes kann sich zudem darauf berufen, dass Goetsch selbst auf die Flexibilität und partielle Offenheit der Kategorie verweist, ihre kontextuell geprägte Verfasstheit hervorhebt und die Notwendigkeit betont, ›fingierte Mündlichkeit‹ jeweils in Bezug auf den einzelnen Text zu untersuchen. Damit macht Goetsch sie anschlussfähig für ihre Verwendung im Rahmen einer postkolonialen Lektüre, die auf das Aufbrechen essentialistischer Denkmuster und ästhetischer Normativität abzielt. Im Hinblick auf eine Untersuchung literarisch fingierter fremdkultureller Mündlichkeit aus postkolonialer Perspektive gilt aber ebenfalls, dass eine einfache Umkehrung der Wertungen, zum Beispiel in Form einer Idealisierung von Mündlichkeit als vorgeblich authentischerem Medium selbstverständlich ebenfalls keineswegs befriedigend wäre. Eine solche kennzeichnet beispielsweise häufig exotistische, primitivistische und teils antikoloniale Diskurse wie den der Négritude-Bewegung (vgl. Julien 1992: 18); auch der postkoloniale Diskurs Karin Barber zufolge gegen dergleichen Essentialisierungen nicht gefeit:

Determinismus‹ als typisch für Mündlichkeit herausgearbeitet und extensiv theoretisiert wurden (vgl. u.a. Ong 1987: 37-61). Zur Kritik an Ong aus dezidiert postkolonialer Perspektive vgl. z.B. Biakolo (1999).



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»›[O]rality‹ sometimes remains the last unexamined, essentialist concept, projected as an imagined antithesis of writing.« (Barber 1995a: 6)11 Stattdessen trüge gerade eine idealisierende Darstellung fremdkultureller Mündlichkeit ebenso wie eine prinzipielle Kritik an Schriftlichkeit – wie sie letztlich auch in Werkmeisters Rede von der »koloniale Hypothek« von Schrift anklingt (Werkmeister 2008) – zu einer Festschreibung essentialistischer Kategorien bei, die der Vielschichtigkeit kultureller und medialer Übergangsmomente nicht gerecht werden kann.12 Aus dieser Überlegung ergibt sich wiederum die Frage, ob die Texte die strikte Gegenüberstellung von ›europäischer Schriftlichkeit‹ und ›fremdkultureller Schriftlosigkeit/fremdkultureller Mündlichkeit‹ aufbrechen und künstlerisch die Vielfältigkeit des Zusammenspiels von mündlichen und schriftlichen Wissens- und Kommunikationsformen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten sowie in interkulturellen Begegnungssituationen inszenieren. Gelingt es ihnen, die Dichotomie ›fremdkulturelle Mündlichkeit vs. europäische Schriftlichkeit‹, wie Herbert Uerlings es für koloniale Binäroppositionen allgemein fordert, »in ein multidifferentielles Spiel« (Uerlings 2005: 32) zu übersetzen und durch ein »Zerschreiben europäischer bzw. eurozentrischer Wahrnehmungsmuster und Schreibweisen« (Uerlings 1997: 231) ein postkoloniales Potential zu entfalten, ohne das Simulieren fremdkultureller Mündlichkeit als allgemeingültige Lösung für das angesprochene ›Repräsentationsproblem‹ zu betrachten? Die folgende Analyse konzentriert sich vor dem Hintergrund der dargelegten Problemstellung besonders auf die Frage von Inszenierungsmöglichkeiten fremdkultureller Mündlichkeit. Zwischen Texten, denen zumindest partiell eine problematische und exotisierende Einfühlung in fremdkulturelle Perspektiven vorgeworfen werden kann – hier wäre zum Beispiel Ilija Trojanows Bestseller Der Weltensammler (2006) zu nennen – und solchen, die fremdkulturelle Perspektiven und Wortergreifungen im Wesentlichen aussparen, wie es beispielsweise in Christof Hamanns Usambara (2007) oder in Uwe Timms Morenga (1978) der Fall ist, gibt es wenige, die das Potential besitzen, ihre literarischen Bezüge auf fremdkulturelle Mündlich-

11 Vgl. zu diesem Gedanken u.a. Barber (1995b: 7), Hofmeyr (1996: 88-92) und Simo (2008: 29). 12 Vgl. zur Brüchigkeit des Schreibens als »Modus kolonialer Macht« Lubrich (2005: 33) und Bhabha (2000: 151ff.). Zur Möglichkeit einer subversiven, antikolonialen Aneignung von Schrift vgl. Krüger (2009: 11).





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keit so stark zu reflektieren wie Thomas Stangls nachfolgend untersuchter Roman Der einzige Ort.13

II. F INGIERTE M ÜNDLICHKEIT IN T HOMAS S TANGLS R OMAN D ER

EINZIGE

O RT

Die Rolle des Soundjata In Thomas Stangls 2004 erschienenen Roman Der einzige Ort werden die Geschichten zweier Entdeckungsreisender erzählt, die sich in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts auf die Suche nach der sagenumwobenen Stadt Timbuktu begeben. Aufgebaut ist die Handlung zunächst vor allem auf den Aufzeichnungen der beiden historischen Protagonisten, des Franzosen René Caillié, dessen Reise zunächst seinem persönlichen Entdeckungsdrang entspringt, und des Majors Alexander Gordon Laing, der durch die britische Regierung unterstützt wird. Charakteristisch für den Text ist der Rekurs auf schriftliche und mündliche, europäische und außereuropäische Quellen, die teilweise fiktionalen, teilweise nonfiktionalen Charakter besitzen; die Textpassagen, die sich auf die Expeditionen der beiden Protagonisten beziehen, werden verbunden »mit der europäischen Entdeckungs- und Forschungsgeschichte sowie den Mythologemen der vorkolonialen Zeit« (Holdenried 2007: 155). Dem formalästhetisch sehr anspruchsvollen Roman eignet zugleich eine Sensibilität für die Beschaffenheit seiner Quellen, auf die in der Forschungsliteratur schon verschiedentlich hingewiesen, die jedoch noch keineswegs erschöpfend behandelt wurde. Besonders im Hinblick auf seinen extensiven und experimentellen Einbezug nicht nur fingierter und fiktiver Oralität, sondern oral vermittelter Wissensbestände, die den subsaharischen Raum tatsächlich prägen, stellt Stangls Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine Ausnahme dar. Dabei exponiert er Verfahren der Intertextualität auf exzeptionelle Weise. Der Erzähler schildert, wie sich die Figuren mühsam auf Timbuktu zubewegen, wobei die Reiseverläufe – anders als im typischen Abenteuerroman mit seiner teleologischen Struktur und seinen souveränen Heldenfiguren – über weite

13 Eine differenziertere Analyse von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Trojanows Der Weltensammler sowie auch Lukas Bärfuss’ Hundert Tage und Urs Widmers Liebesbrief für Mary leistet meine Dissertationsschrift (Beck 2016b). Speziell zur Dekonstruktion des Topos von der Macht des europäischen Buchs in Stangls Roman vgl. auch Beck (2016a).



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Strecken durch Stillstand und Wiederholung, durch Wahnzustände, Krankheiten und den zunehmenden Identitätsverlust der beiden Protagonisten gekennzeichnet sind: Dabei treten Erfahrungsmuster, die in kolonialen Texten meist nur in disziplinierter und subtextueller Form präsent sind, an die Oberfläche und werden zu bestimmenden Faktoren für die Figuren (vgl. Dunker 2012: 318; Bay 2009: 123; Holdenried 2007: 155). Das (vor)koloniale Projekt der beiden Hauptfiguren erscheint somit in Stangls Roman nicht als Geschichte einer triumphalen Eroberung, sondern als notwendig scheiternde Suche nach einem sich immer weiter entziehenden ›Anderen‹ und damit weniger als Geschichte eines Gewinns und einer Aneignung denn eines Verlusts. Der Text problematisiert generell das Projekt einer (post-)kolonialen, aber auch speziell jenes einer schreibenden Erfassung des ›Anderen‹ und thematisiert koloniale Schreibweisen, deren Funktionen (ebenfalls im Hinblick auf bestimmte Genrekonventionen) und deren gewaltsames Potential sukzessive ausgestellt und dekonstruiert werden (vgl. dazu z.B. Bay 2012: 111). Der Roman bricht die binäre Gegenüberstellung zwischen europäischem Schreiben und fremdkultureller Schriftlosigkeit bereits dadurch auf, dass er mit der Bibliothek Timbuktus den Ort subsaharischer Schriftkultur schlechthin zum Zentrum des Textes macht, einem Zentrum, das sich zudem in der europäischen Bibliothek gespiegelt sieht, die den Schreib- und Rechercheort des namenlosen Erzählers bildet. Darüber hinaus verhandelt der Roman die Möglichkeit, fremdkulturelle Mündlichkeit gewissermaßen ›zu Gehör‹ zu bringen und entzieht sich besonders in Bezug auf letztere weitgehend Exotismen und potentiell problematischen Authentifizierungsstrategien. In Der einzige Ort wird nicht nur inhaltlich auf Formen mündlicher Informationsweitergabe und Glaubenspraxis verwiesen; der Text integriert auch explizit ehemals mündlich überliefertes Wissen als historiographisch ebenso valide Quelle über die Geschichte Timbuktus wie die Berichte europäischer und afrikanischer Reisender. Dabei geht der Roman über die Fingierung einer mündlichen ›afrikanischen‹ Perspektive, wie sie sich beispielsweise in Ilija Trojanows Roman Der Weltensammler findet, einerseits hinaus und tritt andererseits sehr bewusst hinter sie zurück. Fremdkulturelles mündliches Wissen wird in Stangls Roman nicht über eine dezidiert personalisierte Figurenperspektive in den Text eingeschaltet, sondern stattdessen über ein körperloses, nur aus Stimmen bestehendes Kollektiv von Griots, jene malischen Chronisten, die die Geschichte(n) ihres Gebiets durch mündliche Überlieferung weitergaben. Durch die Einführung dieser Kollektiv-Instanz arbeitet der Text gegen die Feststellung an, dass Afrika, wie es heißt, durch die Eroberer zu einer »Region außerhalb der Geschichte« (O 200) gemacht wurde und die Eroberten im europäischen Bewusst-





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sein im wahrsten Sinne des Wortes ›entmündigt‹ wurden. Zwar heißt es, wie eingangs schon einmal zitiert, zunächst: »[N]iemand hier kann eine Stimme haben« (O 200). Dennoch artikuliert sich im Text der Versuch, einer medialen eurozentrischen Selbstbezüglichkeit dadurch zu entkommen, dass die Präsenz einer oralen historischen Überlieferung als Alternative bzw. »Korrektiv zur Perspektive der beiden ›Entdeckungsreisenden«‹ (Bay 2009: 141) und zur westlichen Geschichtsschreibung nicht nur konstatiert, sondern diese darüber hinaus partiell in den Text integriert wird. Auf diese mediensensible Perspektive verweist bereits Sven Werkmeister, wenn er schreibt: Die Stimmen der Griots, der afrikanischen Geschichtenerzähler und Sänger, sind den Texten des europäischen Archivs auf doppelte Weise fremd. Nicht nur erzählen diese Stimmen die Geschichte jenes Ortes europäischen Begehrens aus der entgegengesetzten Perspektive, nämlich aus der Perspektive seiner Bewohner, sie verkörpern zugleich auch ein alternatives Medium der Überlieferung von Geschichte. (Werkmeister 2009: 281)

Die ursprünglich mündlich überlieferte Quelle, auf die sich der Erzähler in Der einzige Ort bezieht, ist das Mandingo-Epos Soundatja, welches die ruhmreiche Geschichte des titelgebenden Helden erzählt, der vom verachteten und anscheinend zurückgebliebenen Jungen zum gefürchteten Krieger wird, den Tyrannen Soumaro besiegt und zum Herrscher des Königreichs Mali aufsteigt. Die Integration dieses Stückes afrikanischer Überlieferung, ja Literatur, das auf die Präsenz einer ›anderen‹, aus dem europäischen ›Afrika-Diskurs‹ ausgeschlossenen Geschichtsschreibung verweist, wird dabei aber immer wieder problematisiert. So werden, artikuliert durch die Stimmen der Griots, generelle Vorbehalte gegen die Verschriftlichung des mündlich Überlieferten laut: [E]s ist, sagen die Griots, nur ein Grab für die Überlieferung: das Entscheidende, das Geheimnis und die Magie, ist ohne ihre Präsenz, ihre Intonation, ohne den Palaverbaum im Rücken, das Dorf und die Zuhörer im Umkreis, ohne die Stimme und das Hören, ohne das Verschweigen und das Wissen vom Verschwiegenen, das Wissen von den Orten und von den Grenzen vernichtet: stumme Blicke, eine notwendige Feindseligkeit. (O 539)

Impliziert wird hier, dass die Verschriftung eine unzulässige Form der Stilllegung, einen Verlust von Geheimnis, Magie und Präsenz beinhaltet; dem, so meine These, versucht der Erzähler durch das poetische Prinzip des Flottierens und Fließens zu entkommen, von dem noch die Rede sein soll. Dabei wird der Medi-



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enwechsel14, den Stangls Text durch die Verschriftung ursprünglich mündlich überlieferten Wissens unternimmt, als aggressiver und potentiell kolonisatorischer Akt der Vernichtung verstehbar: Die Kritik, die hier durch die Griots ›laut‹ wird, ist damit ein selbstreflexiver Kommentar auf die Entstehung von Der einzige Ort, welcher nicht nur die Legitimation dieser literarischen Aneignung fremdkultureller Mündlichkeit in Frage stellt, sondern ihr auch das Potential einer authentischen Wiedergabe des Gesagten abspricht. Die bewusste Verweigerung eines authentifizierenden Gestus’ manifestiert sich dadurch, dass der vorgebliche Zugriff auf eine Originalquelle und der Moment des Medienwechsels noch weiter vor die Genese von Der einzige Ort zurück ›verschoben‹ werden. Die problematisierte Verschriftung des Oralen geht, so zeigt sich, ihrer literarischen Verarbeitung in Der einzige Ort weit voraus: Der Text koppelt die Bezüge auf das Soundjata und die Stimmen der Griots mit dem konkreten Verweis auf die als Buch publizierte und damit bereits niedergeschriebene Version des Epos, dem er sie entnimmt: Störe nicht die Geister in ihrer ewigen Ruhe, warnen die Griots (das Bild eines schlanken Mannes in einer weißen Toba, mit weißer Schädelkappe auf dem kahlen Kopf und fein zurechtgestutztem weißem Kinnbart; eine isolierte Figur: da ist kein Dorf, da ist keine Schar von Zuschauern, kein Boden unter seinen Füßen) […] (O 6)

Nicht nur wird in dieser Passage mit der Warnung ›wörtlich‹ aus dem Soundjata-Epos zitiert; der Text beschreibt genau jenen weißbärtigen Griot, der auf dem Cover der in den Literaturanmerkungen zu Der einzige Ort erwähnten Reclamausgabe von 1987 abgebildet ist.15

14 Das Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie definiert Medienwechsel zunächst lapidar als »Übertragung von Thema, Handlung oder argumentativer Struktur eines Textes von einem Medium mit seinen spezifischen medialen Voraussetzungen und Bedingungen in ein anderes Medium.« (Bogner 2004: 437) 15 Dort heißt es ebenfalls: »Störe nicht die Geister in ihrer ewigen Ruhe. Geh nicht in die toten Städte, die Vergangenheit zu befragen.« (Niane 1987: 119) Vgl. bei Stangl auch O 173.





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Abb. 1: Cover der deutschsprachigen Übersetzung

Quelle: Reclam ©

Demnach ist der Zugriff auf ›orale‹ Quellen, die »Zuwendung hin zu einer auditiven Wahrnehmung« (Langer 2008: 37), bereits vermittelt. In dem Moment, in dem der Text den Bezug auf die Stimmen der Griots suggeriert, betont er gleichzeitig durch die Beschreibung der Coverabbildung, also eines bildlichen paratextuellen Elements, die Materialität und spezifische Medialität des Überlieferungsträgers, der zunächst eine reale Präsenz als Objekt ›Buch‹, in diesem Fall als Text-Bild-Medium, gewinnt.16 Der Hinweis auf den dörflichen Kontext, die Zuhörer, den Palaverbaum und den Boden unter den Füßen des Griots, ruft die ursprünglichen Entstehungs- bzw. Aufführungsbedingungen des traditionellen Erzählens auf. Diese sind jedoch in Der einzige Ort nur noch ex negativo präsent: Dient die Fotografie des Griots auf der Reclam-Ausgabe der Authentifizierungsstrategie, die der Verlag verfolgt, so weist Stangls Text im Gegenteil darauf hin, dass der malische Erzähler auf dem Cover zu einer isolierten Figur wird, die

16 Dem entsprechen u.a. die Verweise auf die Arbeit des Erzählers in der Bibliothek und die Haptik der durchblätterten Buchseiten.



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künstlich (oder gar gewaltsam?) herausgelöst ist aus ihrem konkreten geographischen und sozialen Erzählzusammenhang. Damit verweist der Text, diesmal bildlich, auf das Motiv des ›Ausschnitts‹ und unterstreicht den selektiven Charakter seiner eigenen Darstellung. Das, was im Bild von dem Griot zu sehen ist, schafft weniger Präsenz, als es auf das hinweist, was abwesend ist. Gerade in seiner über das Intertextuelle hinausgehenden, eben intermedialen Bezugsstruktur betont der Text die angestrebte Polyperspektivität seines Ansatzes, dessen eingeschränkter Realisierbarkeit er sich gleichwohl bewusst ist: Obwohl sich Der einzige Ort in seiner Integration fremdkultureller Stimmen prinzipiell auf orale Quellen bezieht, erweist sich die so in den Text hineingetragene ›Oralität‹ als fingiert und zudem als Resultat einer dieser bereits vorhergegangenen Niederschrift. In der Lektüre des verschriftlichten Epos geht, wie Stangl selbst in den poetologischen Überlegungen zu seinem Roman feststellt, dementsprechend der »soziale[ ] Zusammenhang der mündlichen Überlieferung« verloren (Stangl 2009: 272), der wesentlich, wie in der Einleitung der verwendeten SoundjataAusgabe geschildert, von den Kommentaren des Publikums bestimmt ist: »[D]as Epos entstand also auch im Austausch von Schöpfer und Rezipienten.« (Rost 1987: 11) Ebenso fehlt in der textuellen Vorlage natürlich der Aspekt der Intonation sowie der musikalischen Begleitung des Vortrags, der als intermediales Ereignis erscheint. Stangls Roman problematisiert damit generell die Möglichkeit einer bruchlosen Übersetzung von Inhalten von einem Medium in ein anderes (bzw. bezieht sich auf die Künstlichkeit jeder Darstellung) und verweist auf den prinzipiell prekären und ambivalenten Charakter der Weitergabe von Geschichten. [D]er Djeli Mamadou Koyaté überlässt einem Autor die Geschichte: sobald sie verraten ist, kann sie die Sprache, die Gestalt wechseln, zerschnitten und neu zusammengesetzt werden, auf dem Papier ruhen oder (fast) verloren gehen, in der Fremde unverständlich 17

werden (O 6f.).

Die Erzählinstanz suggeriert hier einen ›Verrat‹ an der Geschichte im Moment des Weitererzählens, welches sie mutwilligen Modifikationen (durch Übersetzung, Bearbeitung und Verschriftung) unterzieht. Der Verweis auf das Zerschneiden und Neu-Zusammensetzen ist dabei eine selbstreflexive Charakterisierung des montierenden und kompilierenden Verfahrens, das dem Roman Der einzige Ort zugrunde liegt. Diesem ist, wie das Zitat betont, über einen medialen

17 In der Einleitung wird Niane als derjenige genannt, der das bisher nur oral tradierte Epos erstmalig verschriftete.





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Wechsel hinaus auch ein sprachlicher vorausgegangen. Als Quelle genannt wird eine ursprünglich mündlich und auf Arabisch vermittelte Überlieferung, aktualisiert durch den Djeli Mamadou Koyaté, die zunächst von dem guineischen Historiker Djibril Tamsir Niane auf Französisch übersetzt, verschriftlicht und schließlich für Reclam ins Deutsche übertragen wurde.18 Darüber hinaus wurde der Text von Niane mit einem Vorwort sowie mit erklärenden, ergänzenden und teilweise widersprechenden Fußnoten versehen; in der Ausgabe finden sich weiterhin ein kurzer historischer Abriss über das Mandingo-Reich von einem Autor namens Wladyslaw Filipowiak nebst drei Abbildungen, von denen zwei kartographisch sind und das ›alte Mandingo‹ sowie Soundjatas Reich zeigen (vgl. Niane 1987: 14). 19 Zudem wird das Epos ergänzt durch eineinhalb Seiten mit Wort- und Sacherklärungen, die über die Fußnoten Nianes hinausgehen und Wörter erklären, die außerhalb einer afrikanischen Leserschaft (an die sich Niane im Vorwort explizit richtet) schwer zu verstehen wären und vermutlich erst in der deutschen Ausgabe eingefügt wurden (vgl. Niane 1987: 15). Schließlich wurde die deutsche Ausgabe zudem stilistisch bearbeitet. In der Einleitung von Rost heißt es: Der Intensivierung der Spannung und Eindringlichkeit dienen die bewußt rhythmisierte Sprechweise des Griot, deren Nuancen uns kaum zugänglich sind, und – für uns überraschend – die zahlreichen inhaltlichen und wörtlichen Wiederholungen. Diese konnten wegen unserer, besonders heutzutage, andersgearteten Rezeptionsgewohnheiten nicht in ihrer ganzen Fülle in die deutsche Übersetzung übernommen werden. (Rost 1987: 11)

Festzustellen ist, dass es sich bei der schriftlichen Quelle um eine mehrfach übersetzte und bearbeitete handelt, die an europäische und ›aktuelle‹ Rezeptionsgewohnheiten angepasst wurde – dazu gehört bemerkenswerterweise auch, dass mit Rhythmisierung und Wiederholung gerade die Merkmale getilgt wurden, die gemeinhin als charakteristisch für orales Erzählen genannt werden.

18 Niane verweist im Vorwort und immer wieder in den Fußnoten auf den kollektiven Charakter des Epos und auf die »Lehrmeister[ ] von Fadama, Djeliba Koro, Keyla und besonders Djeli Mamadou Kouyaté aus dem Dorf Djeliba Koro (Siguiri) in Guinea.« (Niane 1987: 14) 19 Obwohl Niane im Vorwort schreibt: »Ich bin nur Übersetzer«, wertet und kommentiert er das Erzählte in den Fußnoten teilweise extensiv. Der kartographischen Aufbereitung der geographischen Angaben im Epos wiederum steht in Der einzige Ort der Verzicht auf eine dem Roman vorangestellte Karte entgegen (vgl. dazu Werkmeister 2009: 273).



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Das ›ursprüngliche‹ Soundjata kann, so wird suggeriert, nur andeutungsweise präsent sein. Wenn der Text aber darauf hinweist, bei diesem handele es sich um eine »geheime Geschichte, von der die erzählte Geschichte bloß eine Variante ist« (O 99), geht er schließlich noch weit darüber hinaus, nur auf interkulturelle, historische und mediale Übersetzungsprozesse hinzuweisen, und impliziert stattdessen eine generelle Unmöglichkeit, auf die ›Urgeschichte‹ zuzugreifen. Diese entzieht sich ebenso wie die Ereignisse, die hinter den schriftlichen Quellen stehen und nur partiell vermittelbar bleiben. Dabei zeigt sich, dass die Erzählweise der Griots gekennzeichnet ist durch eine Dialektik aus Erzählen und Verschweigen: »[D]ie Griots haben gelernt und geschworen, zu vermitteln, was zu vermitteln ist, und zu verschweigen, was zu verschweigen ist« (O 7). Hier zitiert der Erzähler sinngemäß aus dem Soundjata und betont so, dass die Pflicht, das Gedächtnis an bestimmte Dinge aufrecht zu erhalten, Hand in Hand geht mit der Pflicht, andere Dinge als Geheimwissen zu verschweigen.20 Dass das Unausgesprochene bzw. Ungeschriebene für Der einzige Ort zentral ist, zeigt sich ferner in der poetologischen Feststellung des Autors Stangl: »Das, was Laing nicht schreibt (und an wen er nicht schreibt und nicht schreiben kann, seine eben geheiratete Ehefrau) ist für das Bild so bedeutsam, wie das, was er schreibt.« (Stangl 2009: 271) Das schriftlich und mündlich Überlieferte ist somit im poststrukturalistischen Sinne nur als ›Spur‹ zu verstehen, die auf einen uneinholbaren Ursprung verweist.21 Oralität verspricht hier demnach ebenso wenig Authentizität, Unmittelbarkeit und Zuverlässigkeit wie Schriftlichkeit.22 In seiner Inszenierung einer »weltliterarische[n] Übersetzungskette« (Schüttpelz 2005: 64) kann der Roman zumindest teilweise als eine befriedigende Antwort auf die unter Bezugnahme auf Erhard Schüttpelz formulierte Forderung Werkmeisters gelesen werden: An die Stelle der stets wiederholten Konstatierung uneinholbarer Differenz zwischen fremder Realität und beschreibendem Text hätte aus dieser Perspektive der genaue Nachvollzug jener Übersetzungsschritte zu treten, die von der Situation des Kontakts in der Fremde über die Archive der Ethnologie in den literarischen Text führen. (Werkmeister 2014: 24)

20 So wird u.a. an zentraler Stelle des Soundjata-Epos, im letzten Satz, auf die notwendige Selektivität des Erzählten verwiesen (vgl. Niane 1987: 119). 21 Vgl. dazu auch Langer (2008: 34) sowie Werkmeister (2009: 276). 22 Axel Dunker bezeichnet Stangls Text aufgrund der Vielzahl an Verweisen auf die Unzuverlässigkeit der Quellen und auf den vermittelten, konstruierten Charakter der Geschichte als ›historiographische Metafiktion‹ (vgl. Dunker 2012: 317).





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Statt eine exotisierende Authentizität durch fingierte Mündlichkeit zu behaupten, reflektiert Der einzige Ort die Verdrängung von Oralität durch den schriftzentrierten kolonialen Diskurs und dem europäischen Kanon gerade durch den letztlich ›intertextuellen‹ Einschluss von Oralität; die mündliche Überlieferung der Griots wird dementsprechend als Abwesendes präsent gemacht; so entgeht der Text auch einer umstrittenen ›Einfühlungsästhetik‹. In diesem Zusammenhang stellt Bay fest: Die Gefahr einer illegitimen An- und Enteignung und eines bloß projektiven Entwurfs einer Gegenperspektive, der dem Reden der ›Anderen‹ eine letztlich doch wieder europäische oder gar kolonialistische Sicht unterschiebt, scheint jedoch begrenzt. Denn in dem Maße, in dem Stangls Erzähler sein Sprechen als eine Lesebewegung markiert, erzählt er eben nicht einfach aus der Perspektive der ›Anderen‹, sondern liest ihre Texte. […] Stangls Erzähler kennt seinen (europäischen) Ort und bleibt ihm treu: Es ist der ›einzige Ort‹ der Bibliothek. (Bay 2009: 142)

Da im Roman, im Medium der Schrift, tatsächliche Oralität generell ausgeschlossen bleiben muss, kann die ursprüngliche Oralität der Vorlage nur durch den inhaltlichen Bezug auf die ›Stimmen‹ der Sprecher, das »Echo ferner Geschichten« (O 56), immer wieder in Erinnerung gerufen werden, ohne deren Präsenz jedoch tatsächlich einholen zu können. Dabei dekonstruiert der Text aber auch eine ebenso exotistische Idealisierung fremdkultureller Mündlichkeit als demokratischeres, hierarchiefreies Medium, das potentiell einen unverstellten Zugriff auf eine ›afrikanische Wirklichkeit‹ verspreche: Wenn es über die von den Griots erzählte Geschichte heißt, sie könne »den Zwecken von Macht und Glauben gemäß zurechtgeschnitten« (O 99) werden, ist dies auch ein Verweis darauf, dass die Erzählungen der Griots ebenso mit der Stabilisierung von hegemonialen Strukturen (verkörpert durch die Herrscher, in deren Dienst die Griots stehen) verknüpft sind, wie europäische und nicht-europäische historiographische Texte an der Entstehung und Etablierung von (auch kolonialen) Herrschaftsdiskursen partizipieren.23 Widerspruch gegen dieses mündliche intrakulturelle, gleichermaßen kanonisierte master narrative wird nur laut, wenn in die

23 Eileen Julien verweist darauf, dass die Aufwertung von Oralität gegenüber Schriftlichkeit, die Kouyaté in Soundjata formuliert, nicht aus der Idee resultiert, dass Mündlichkeit frei von Machtstrukturen sei – stattdessen verweist sie darauf, dass Mündlichkeit wie Schriftlichkeit an der Stabilisierung bestimmter Herrschaftsdiskurse beteiligt sein könne (vgl. Julien 1992: 15).



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Kollektiverzählung der Griots »schrille Klänge hineinschneiden« (O 6). Langer stellt fest: Es wird nicht etwa von einer einzigen, authentischen unterdrückten Stimme oder von einem einheitlichen subalternen Subjekt ausgegangen, sondern von einer heterogenen Stimmenvielfalt, die ihrerseits durch Dissonanzen produktiv irritiert wird. (Langer 2008: 37f.)

Dabei bleiben die Gegenstimmen, auf die hier angespielt wird, aber nur auf lautlicher Ebene präsent: Eine semantische Sinndimension, die über die Störung der Erzählung hinausgeht, wird durch die schrillen Klänge nicht transportiert – in diesem Sinne bleiben die Gegenstimmen zwar nicht laut-, wohl aber wortlos. So lässt sich die von Langer konstatierte ›Produktivität‹ der Störung zumindest partiell in Zweifel ziehen, da sich die Unterbrechung in der Negation des Gesagten erschöpft, durch die schrillen Klänge aber keine eigenständige Gegenerzählung zum innerafrikanischen Herrschaftsdiskurs der Griots entstehen kann. Wiederholung und Flottieren: Intertextuelle Polyphonie als Oralität? Der einzige Ort fingiert aber auch ästhetisch eine Art Intermedialität, wenn er über einen inhaltlichen und zitierenden Bezug auf fremdkulturelle Oralität hinausgeht und ›orale Muster‹ in die formale Anlage des Textes hineinträgt. Während in der deutschen Übersetzung des Soundjata, wie das Vorwort verrät, die Wiederholungen als angebliches Strukturprinzip oraler Erzählungen getilgt wurden, um den Stil den Rezeptionserwartungen eines deutschen Publikums anzupassen, bestimmen sie doch die Erzählweise in Stangls Roman, besonders im Bezug auf das afrikanische Epos. So wird beispielsweise der Hinweis auf die »notwendige Feindseligkeit« der Griots, der zu Beginn des Textes auftaucht, auch an dessen Ende wiederholt (O 7 und O 540). Es entsteht eine zirkuläre Struktur, die auf die prinzipiell unendliche Wiederholbarkeit des Erzählens verweist, wie es die Griots verkörpern. Werkmeister weist auf »[d]ie strenge, monotone Rhythmik des Textes, die fast gebetshaft anmutenden rhythmischen Wiederholungen und parataktischen Reihungen, das Aufrufen fremder Namen und Begriffe« hin und folgert: »Die Sprache des Romans zielt auf ein Transzendieren der Bezeichnungsfunktion als solcher.« (Werkmeister 2009: 278) Darüber hinaus gelten aber gerade die von Werkmeister genannten Merkmale (Rhythmik, Wiederholung, Parataxe, Integration fremdkultureller Begriffe), wie bereits ausgeführt, als Marker fingierter Mündlichkeit. Diese Sprache, die wie Axel Dunker





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feststellt, darauf abzielt, dass sich »der Wahrnehmungsprozess verlängert« (Dunker 2012: 325), ist potentiell auch als Reaktion auf den Vorwurf der Griots zu verstehen, Verschriftung impliziere Stilllegung. Auch in der partiellen Aufgabe einer zentralen Erzählinstanz lässt sich eine Orientierung am Erzählen der Griots erkennen. Der Erzähler tritt als Leser, Übersetzer und Arrangeur fremder Textfragmente hervor, insistiert auf den subjektiven Kreuzungspunkt der Diskurse und stellt den Konstruktcharakter ›seiner‹ Geschichte heraus. In dem Hinweis auf den seriellen und letztlich polyphonen Charakter des Erzählten, nähert er sich zumindest ein Stück weit dem kollektiven Erzählen ›der Griots‹ mit seiner Abkehr von einem typisch ›europäischen‹ Konzept von individueller Autorschaft an. Dass diese Form des Erzählens keineswegs nur für die mündlichen, sondern auch für die schriftlichen fremdkulturellen Quellen typisch ist, wird in der Schilderung der im 17. Jahrhundert auf Arabisch verfassten Chronik Tarikh es Soudan deutlich. Wenn diese als Text bezeichnet wird, »der eher weitergeschrieben wurde als das Werk eines Individuums zu sein« und der gekennzeichnet sei durch »fließende Übergänge zwischen den Autoren, zwischen dem Abgeschriebenen und dem Hinzugesetzten« (O 202), dann ist auch dies als Verweis auf die Poetik von Der einzige Ort lesbar. Entsprechend werden im Roman keine Anführungszeichen verwendet, die die einzelnen Aussagen voneinander abtrennen; stattdessen verwebt der Text die unterschiedlichen Stimmen häufig übergangslos miteinander. So führt eine Vielzahl an schriftlichen und oralen Spuren24 aus Stangls Text heraus zu anderen ›Texten‹. Über die Verortung innerhalb eines Diskurses hinaus, der sich mit Reise und Fremdbegegnung beschäftigt, reflektiert der Erzähler durch die punktuelle Dekonstruktion der Schrift sowie den Bezug auf orale Überlieferung zugleich die Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Mediums, auf das er trotz seiner Fehlbarkeit angewiesen bleibt: »Wenn das Geschriebene auch auf den ersten Blick wie ein fast zufälliger Schnitt durch die Vorgänge des Denkens, Erlebens, Erinnerns, Erzählens erscheint: nur von hier aus wird Denken, Erleben, Erinnern, Erzählen möglich sein.« (O 7) Das Schreiben erscheint als Voraussetzung für ein Mindestmaß an Stabilität und Strukturierung; gleichzeitig präsentieren sich die Ergebnisse des »Denkens, Erlebens, Erinnern, Erzählens« in Der einzige Ort keineswegs als teleologisch strukturiert und eindeutig. Stattdessen mäandriert der Text, korrigiert sich, wiederholt sich, folgt einer mal subordinierenden, mal additiven Struktur und besitzt damit viele Qualitäten, die traditionell eher dem mündlichen Erzählen zugerechnet werden. Die zentrale Metapher für den Gesang der Griots ist »ein Fluß mit Klippen, Strömungen, Engstellen und Untiefen doch unveränderlichem Lauf« (O

24 Vgl. zum Begriff der Spur in Bezug auf Stangls Text Langer (2008: 34).



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6). Das verbindet Stangls Text mit Der Weltensammler von Ilija Trojanow. Gregor Streim verweist auf die »Metaphorik des Fließens und Zusammenfließens«, die in Der Weltensammler besonders für die Geschichte des afrikanischen oralen Erzählers Sidi Mubarak Bombays zentral sei, und stellt fest: »Der geschichtlichorganologische Charakter dieses Modells des ›Zusammenfließens‹ wird noch dadurch betont, dass es in Analogie zum mündlichen Erzählen gesetzt wird.« (Streim 2010: 83) Entsprechend wird das Motiv des Fließens und des Flusses von Stangls Text aufgenommen, wenn es um die Reise seiner Hauptfiguren und die Geschichte Timbuktus geht und es heißt: »immer wieder schreiben sich in ihrer Rolle als Quelle des Lebens oder des Todes die Flüsse in die Geschichte ein« (O 226). In gewisser Hinsicht kann der ›Fluss‹, das ›Fließen‹ als eine Leitmetapher des Stangl’schen Textes gesehen werden, die dessen Erzählweise beschreibt. Dabei ist das Fließen auch mit der Bewegung zu vergleichen, die die Wüste laut Langer repräsentativ für die grenzauflösende dissémination des Textes vollzieht (vgl. Langer 2008: 40). Ozean, Fluss und Wüste sind außerdem präsent in einer rätselhaften Passage, in der sich die instabile Position der kompilierenden, körperlosen Erzählerinstanz ausdrückt. Anschließend an ein wörtliches Zitat aus dem Soundjata heißt es ganz am Ende des zweiten Roman-Teils: Da sind die Laute, im Licht zerstäubt, im Hintergrund der Ozean, auf den, kaum mehr als eine optische Täuschung, ein winziges Ruderboot hinaustreibt, am Horizont die Wüste, die, unaufhaltsam – wie die Wörter hinwegdrängen über die fremde Stimme (ich) und den Sinn, für uns – über den breiten Fluß zu wandern, sich auszubreiten scheint ins Klare Land (O 173).

An der einzigen Stelle, an der im Text ein ›ich‹ laut wird, wenn auch nur – wie um die eigene Marginalität zu unterstreichen – in Klammern, wird es gleich wieder von den Wörtern und der Wüste verdrängt und überspült. Im Moment der Überspülung hinein ins klare – ließe sich sagen ›unmarkierte‹? – Land wird ganz deutlich das Fremdwerden des Eigenen beziehungsweise das Hervortreten des Eigenen im Fremden vorgeführt: Hinter der »fremden Stimme« verbirgt sich das »ich«. Überspült durch die Laute, Wörter und die Wüste wird ebenso alles ›für uns‹ Semantisierbare, das sich im ›Wandernden‹, ›Fließenden‹, in Bewegung Begriffenen verliert. Dementsprechend ist die Poetik des Textes gerade nicht eine des Festschreibens, sondern eine der Dynamik und des Flottierens, die versucht, der Stilllegung sowohl der schriftlichen als auch der oralen Überlieferung zu entkommen. Die Unmöglichkeit einer objektiven Repräsentation von kultureller Fremdheit sowie ganz generell einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit, die aus der historischen und kulturellen Standortgebundenheit der Erzäh-





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linstanz resultieren, wird damit in Struktur und Stil des Textes hineingetragen. Der einzige Ort, so wird deutlich, will kein »Grab für die Überlieferung« (O 539) sein, sondern folgt vielmehr einem dialogischen Prinzip. Dabei bleibt immer ein Zweifel an den Möglichkeiten des eigenen Mediums bestehen, denn »der Fluß der Wörter kommt in dem Niedergeschriebenen (Orte, Geschichten und Namen) ins Stocken« (O 538). Über ein inhaltlich kolonialismuskritisches Programm hinaus realisiert der Text damit eine postkoloniale Ästhetik. Zu den Elementen dieser postkolonialen Ästhetik gehören hier Aufruf, Dekonstruktion, Dissemination von Mustern des kolonialen Diskurses und der davon nicht zu trennenden kolonialen Ästhetik im Sinne einer Ad-Absurdum-Führung dichotomischer Konstrukte, ein Ausstellen des Konstruktcharakters der eigenen Position, Selbstreflexion und metafiktionale Repräsentation der Entstehungsbedingungen und ein nicht-erwartbarer Umgang mit zentralen Kategorien auch des Postkolonialismus. (Dunker 2012: 325)

Nicht zuletzt gehört dazu ebenfalls die Sprache, die vor allem da, wo sie Mündlichkeit imitiert, diese immer als eine künstlich konstruierte markiert. In diesem Sinne handelt es sich bei Thomas Stangls Roman Der einzige Ort um einen Text, der das Entstehen interkultureller (und zum Teil intrakultureller) Diskurshoheiten und deren medialer Bedingtheit sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene reflektiert und dabei das »Repräsentationsdilemma« postkolonialen Schreibens ganz speziell in Bezug auf eine Integration fremdkultureller Mündlichkeit als eine Leerstelle europäischer Fremdheitsdiskurse thematisiert. Der Text eröffnet so den Blick auf einen ›intermedialen‹ weltliterarischen Raum des Dialogs und der Polyphonie. Damit kann er als Anregung, ja vielleicht sogar als Aufforderung verstanden werden, vor dem Hintergrund einer vorgeblich plurimedialen und plurivokalen globalisierten Gegenwart (vgl. Schröder/Voell 2002b: 303) weiterhin die Mechanismen literarischer Kanonisierungsprozesse kritisch zu beleuchten. Und dazu gehört ganz entscheidend, nach der Präsenz außereuropäischer Literaturen sowie männlicher und weiblicher Stimmen in ›unserer‹ europäischen Literaturlandschaft zu fragen, ob sich diese Stimmen nun schriftlich artikulieren oder mündlich. 25 Dass die Zeichen tatsächlich auf eine gewisse, auch interkulturelle ›(Re)-Oralisierung‹ des Literaturbetriebs hinweisen, dafür sprach allein im letzten Jahr immerhin einiges: So wurde 2015 der Literaturnobelpreis an die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch für ihre

25 Gerade die literarische Ausgestaltung von fremdkulturellen ›weiblichen‹ Stimmen in der deutschsprachigen ›postkolonialen Literatur‹ stellt einen blinden Fleck dar.



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vielstimmigen Interviewcollagen verliehen, die dem Poetryslam verpflichtete Nora Gomringer gewann für ihr Polyphonie simulierendes Werk den IngeborgBachmann-Preis und die Wahl Indonesiens als Gastland der Buchmesse führte im deutschen Feuilleton zu einer Diskussion alternativer respektive auch mündlicher Literaturformen und zu einer Beklagung selektiver europäischer Übersetzungspraxis (vgl. dazu z.B. Spreckelsen 2015; Reichwein 2015). All dies lässt zumindest darauf hoffen, dass der literarische ›Rezeptionsboden‹ für eine tatsächliche (kulturelle, mediale, gendersensible und ästhetische) Mehrstimmigkeit langsam aber sicher bereitet wird. Ob Literaturen aus ehemals kolonisierten Ländern, egal ob mündlich oder schriftlich, sich im europäischen Literaturbetrieb langfristig exotistischer Etikettierung entziehen können und als eigenständige ästhetische Werke wahrgenommen werden, bleibt abzuwarten.

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Nilpferdpeitsche und Botanisiertrommel (Post-)Koloniale Dinge in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur J ULIAN O STHUES

E INLEITUNG : D INGE IM K ONTEXT VON E XPEDITION , E XPLORATION UND E XPANSION Ende September 1889: Die Tage werden allmählich rauer, der Regen nimmt deutlich zu, als sich das Expeditionsteam endlich am Fuß des Kilimandscharos befindet. »Die Jahreszeit drängte zu rascher Arbeit« (Meyer 1890: 106), wird Hans Meyer später in seinem Reisebericht niederschreiben. Zu diesem Zeitpunkt wähnt er sich bereits nah am Ziel. Diesmal soll jedoch nichts schiefgehen. Denn die »Erfahrungen des Jahres 1887« hatten ihn »belehrt« (ebd.: 107), bei seinem nun dritten Anlauf, den Kilimandscharo zu erklimmen, umso planvoller vorzugehen. Noch vor Beginn der eigentlichen Reiseschilderung rückt Meyer den Blick des Lesers zunächst auf die »Wahl der Reisemittel«, deren »Zweckdienlichkeit« in seinen Augen »die erste Bedingung für den Erfolg der Reise« darstelle (ebd.: 19). Über sechs Seiten widmet er sich detailliert der Aufzählung der Reiseausstattung: von »Kleidung« über »Zelte und Feldbetten«, von der »Reiseapotheke« bis hin zu »Waffen«. Am meisten Platz räumt er der »wissenschaftliche[n] Instrumentenausrüstung« ein, »ergänzt um das für zoologische, botanische und geologische Sammlungen erforderliche Werkzeug« sowie die »unentbehrliche Ausrüstung« (vgl. ebd.: 20ff.), die zur Bewältigung der alpinen Herausforderung benötigt werde. Bevor der Aufstieg gewagt werden kann, referiert der Expeditionsleiter abermals über die Bedeutung des Reise-Equipments, bei dem es an einer Reihe von weiteren Dingen nicht fehlen darf:



282 | J ULIAN O STHUES Unsere alpine Ausrüstung bestand aus warmer Wollkleidung, Wollhandschuhen und starken, genagelten Bergschuhen, aus Rucksäcken, Eispickeln, Gletscherseilen, Schneebrillen und Schneeschleiern. Herr Purtscheller war dazu noch glücklicher Besitzer von Steigeisen, während die meinigen in Aden mit den Zelten nach Ceylon gewandert waren. Von den Instrumenten begleiteten uns der Theodolit, der fotografische Apparat, die Hypsometer, Aneroide, Maximum-Minimum-Thermometer, Peil- und Routenkompasse und das geologische und botanische Sammelwerkzeug. (Ebd.: 108)

Dinge wie diese gehören im Kontext von Entdeckungsreisen stets zum unverzichtbaren Handwerkszeug von Entdeckern. Dort, wo ›entdeckt‹ (etym. u.a. von ›aufdecken‹)1 wird, es also darum geht, das Fremde, (noch) Unbekannte ins Bekannte, in die eigene Ordnung zu überführen; wo es gilt, zu vermessen, zu beschreiben, zu kartographieren, zu archivieren, zu sammeln, zu klassifizieren, zu inventarisieren, zu konservieren, zu botanisieren, zu ordnen, aufzuzeichnen, zu beobachten, zu bezeichnen, zu protokollieren, zu messen, zu systematisieren, zu benennen, zu beschreiben oder zu fotografieren, werden Dinge gewissermaßen zur materiellen Voraussetzung von Forschungs- und Entdeckungsreisen. Sie machen das Entdecken dadurch nicht nur rein (medien-)technisch betrachtet, sondern vor allem epistemologisch überhaupt erst möglich. Der Reisebericht Meyers, den er 1890 unter dem Titel Ostafrikanische Gletscherfahrten veröffentlicht, führt exemplarisch den Stellenwert von Vermessungspraktiken und -geräten vor Augen, deren Zweck für Forschung und Entdeckung durch Meyer geradezu ostentativ ausgestellt wird (vgl. Hamann/Honold 2011: 87f.). Kritisch betrachtet werden diese Dinge mithin zu Instrumenten, die als Teil der kolonialen Wissensproduktion und Herrschaftspraxis unweigerlich am Kolonialismus partizipierten. Denn die Geographie war als wissenschaftliche Leitdisziplin im 19. Jahrhundert, wie Jürgen Osterhammel betont, »mit einer Seite ihres Wesens ein globaler, zunehmend auch ein imperialer Diskurs« (Osterhammel 2011: 53; Hervorh. i. Orig; vgl. Fiedler 2005: 113-121). »Wenn es eine Art von Komplizenfach der europäischen Expansion gibt«, so schreibt Osterhammel an anderer Stelle, »dann am ehesten die Geographie.« (Ebd.: 1164) In diesem Licht erscheinen jene Dinge, die etwa der Vermessung dienen, als Machtwerkzeuge, als Mittel zum Zweck, der sie aus postkolonialer Perspektive zu Komplizen, zu Wegbereitern und Erfüllungsgehilfen kolonialer Projekte werden lässt. Was dabei den Anteil von Entdeckern und Forschungsreisenden am weltweiten Kolonialismus betrifft, ist sich die Forschung einig: Expedition, Exploration

1

Zur Etymologie des Verbs ›entdecken‹ und seine Bedeutung im Kontext von Kolonialismus vgl. Bendix/Danielzik (2011).



N ILPFERDPEITSCHE UND B OTANISIERTROMMEL

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und Expansion gingen stets nicht nur Hand in Hand, sie waren vielmehr unauflösbar miteinander verquickt. »Denn ob ihre Protagonisten dies wollten oder nicht: ›Entdeckungsreisen‹ sind zugleich Vorbereitung und Beginn der kolonialen Durchdringung und insofern immer schon koloniale Projekte.« (Bay 2012: 108) Ähnlich resümiert die Historikerin Marina Münkler in Bezug auf das Problem der Distinktion zwischen Entdecker und Eroberer, dass »der Begriff der Entdeckung nicht von dem der Inbesitznahme zu trennen ist, Entdeckung und Besitznahme vielmehr identisch waren« (Münkler 2002: 159). Auch Matthias Fiedler hat in seiner für diesen Zusammenhang wichtigen Studie Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus. Der deutsche Afrikadiskurs im 18. und 19. Jahrhundert darauf hingewiesen, dass Entdecker und Forschungsreisende »von Beginn an als Teil des Prozesses der Kolonisierung des afrikanischen Kontinents angesehen werden müssen« (2005: 112), da sie nicht nur zur »Erschließung des afrikanischen Kontinentes«, sondern »damit auch zur Legitimation deutscher Ansprüche in Afrika beigetragen« haben (ebd.: 91).2 Aus den Entdeckungsreisen wurden »nicht selten territoriale Ansprüche der jeweiligen Nationen abgeleitet« (Eckert 2013: 140; vgl. Fiedler 2005: 203), wie etwa Meyers Inbesitznahme des Kilimandscharos durch den symbolischen Taufakt der »Kaiser-Wilhelm-Spitze« (Meyer 1890: 134) exemplarisch demonstriert.3 In diese historisch-diskursiven Fußstapfen tritt auch Meyers Reisebericht. Bemerkenswert an Meyers Inventur der Instrumente ist insbesondere die Art und Weise ihrer erzählerischen Inszenierung, d.h. ›wie‹ Entdeckerpersonal und Rei-

2

An anderer Stelle formuliert Fiedler seine These, dass Afrikareisende »in einer direkten Kontinuitätslinie zum deutschen Kolonialismus und dem kolonialen Diskurs im 18. und frühen 19. Jahrhundert gesehen werden müssen, da sie sowohl in persona als auch durch ihre Texte aktiv teilgenommen haben an der Inbesitznahme des afrikanischen Kontinents.« (Fiedler 2005: 87; Hervorh. i. Orig.) Hans Meyer, selbst ein prototypischer Eroberer und Entdecker, trianguliert in einem seiner Vorträge den Zusammenhang zwischen Entdeckung, Diskurs und Kolonialisierung: »Die physischgeographische Erforschung des Landes bildet die einzige sichere Grundlage für die praktische Kolonisation […]. Es wäre mir eine große Genugthuung, wenn in dieser Hinsicht mein Buch der deutschen Kolonie einigen Nutzen brächte.« (Meyer 1900: VII)

3

Der Kulturgeschichte der Erstbesteigung des Kilimandscharos und deren Anteil am kolonialen Imaginären haben Alexander Honold und Christof Hamann in den vergangenen Jahren eine Reihe an Forschungsarbeiten gewidmet, von denen einschlägige hier genannt werden sollen: Honold (1999), Honold (2004), Hamann (2008) und Hamann/Honold (2011; 2013).





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seausrüstung gleichermaßen zum Gegenstand des Erzählens werden: In geradezu syntaktischer Parallelführung der Sätze erscheinen die Instrumente gewissermaßen zu ›Begleitern‹, zu Reisegefährten anthropomorphisiert: »Von den Instrumenten begleiteten uns der Theodolit, der fotografische Apparat, die Hypsometer, Aneroide, Maximum-Minimum-Thermometer, Peil- und Routenkompasse und das geologische und botanische Sammelwerkzeug.« (Ebd.: 108) Diese Lesart wird dazu durch Meyers Verlustbekundung, seine »Steigeisen« seien zuvor versehentlich »in Aden mit den Zelten nach Ceylon gewandert« (ebd.), weiter verstärkt. Hinzu kommt, dass die Reiseausrüstung sogar noch vor der Wahl des Reisepersonals Vorrang hat. Auf Meyers eingangs geschilderte Affinität gegenüber dem Materiellen folgt erst sechs Seiten später die personelle Frage: »Nun fehlte noch eins, fast das Wichtigste: die Anwerbung eines Reisegefährten.« (Ebd.: 25) Kurzum: Die menschlichen Begleiter scheinen eben nur ›fast‹, aber nicht vorrangig »das Wichtigste« zu sein. Wenn den Dingen im Kontext von Entdeckungsreisen also eine solch zentrale Bedeutung zukommt, drängt sich die Frage auf, ob sich allgemein von ›kolonialen Dingen‹ sprechen ließe, welche aufgrund ihrer Zweckbestimmung – z.B. für das Vermessen, Beobachten oder Beschreiben – dem Kolonialismus in gewisser Weise Vorschub leisten?

D ING UND L ITERATUR : G EGENSTAND , F ORSCHUNGSFRAGE , V ERORTUNG Im Horizont der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist seit der Jahrtausendwende eine beachtliche Anzahl an Romanen erschienen, die historische Reisebzw. Entdeckungsberichte literarisieren und sich durchaus kritisch mit ihren Prätexten auseinandersetzen, wenngleich sie immer auch Gefahr laufen, »dem kolonialen Sog ihres Stoffs zu erliegen« (Bay 2012: 130) und dadurch koloniale Diskursmuster zu wiederholen sowie widerwillig fortzuschreiben. Robert Stockhammer hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Figur des ›Landvermessers‹ im Gegenwartsroman eine erstaunliche »Konjunktur« (Stockhammer 2009: 88) erfahren habe.4 In Anschluss an Stockhammer ist festzustellen, dass im Umfeld dieses Figurentyps häufig Dinge auftauchen, mit denen vermessen, beobachtet

4

Stockhammers Textkorpus umfasst die Romane Der Weltensammler von Ilija Trojanow (2006), Die Vermessung der Welt von Daniel Kehlmann (2005), Kain und Abel in Afrika von Hans Christoph Buch (2001), Eine Frage der Zeit von Alex Capus (2007) und Herero von Gerhard Seyfried (2003).



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und beschrieben, aber auch beherrscht, erobert und diszipliniert wird. Solche Dinge kommen in Romanen wie Hans Christoph Buchs Kain und Abel in Afrika (2001) und Sansibar Blues oder Wie ich Livingstone fand (2008), Thomas Stangls Der einzige Ort (2004), Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005), Max Blaeulichs Kilimandscharo zweimeteracht (2005), Ilija Trojanows Der Weltensammler (2006), Christof Hamanns Usambara (2007), Alex Capus’ Munzinger Pascha (1997) und Eine Frage der Zeit (2007) sowie Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet (2009) vor. Auch in früheren Romanen wie Uwe Timms Morenga (1978) oder Die Forschungsreise (1974) von Urs Widmer, ein Text, der innerhalb der Forschung bislang weitestgehend unberücksichtigt geblieben ist,5 spielen Dinge eine nicht unbedeutende Rolle. Ausgangspunkt dieses Beitrags bildet nicht nur die Beobachtung, dass in diesen Romanen den Dingen eine herausragende Bedeutung zuteilwird. Auffällig ist besonders, dass jene Dinge nicht immer so funktionieren, wie sie innerhalb der kolonialen Praxis eigentlich sollten. Hier rückt gerade die These von der Ambivalenz ›(post-)kolonialer Dinge‹ 6 in den Mittelpunkt. Demnach ist die Semantik der Dinge in der Literatur keineswegs stabil entworfen, anders als etwa im Fall des eingangs zitierten Reiseberichts Meyers. 7 Kurz gesagt: Es ist gerade die Bedeutungsinstabilität und Ambivalenz, die das koloniale Ding innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur kennzeichnet. Über Verfahren der ›Inversion‹ werden koloniale Semantiken virulent und ein postkoloniales Potential realisiert, das eine kritische, postkoloniale Lektüre der Texte ermöglicht.8 Die Leistung von (post-)kolonialen Dingen ist es, so die Hypothese, dass sie ihr subversives Potential darin entfalten, was Herbert Uerlings als zentrales Merk-

5

Vgl. so auch Bay (2012: 107). Meiner Beobachtung nach wurde allerdings die Dissertationsschrift von Christophe Bourquin (2006) bislang nicht rezipiert.

6

Die Schreibweise ›(post-)kolonial‹ in Klammern trägt der Ambivalenz der Dinge Rechnung, die zwischen Affirmation und Subversion kolonialer Bedeutungen oszillieren können.

7

Der Frage, inwiefern die Repräsentation von Dingen in klassischen Kolonialromanen und Reiseberichten eine Lesart eröffnet, die dem kolonialen Diskurs zuwiderläuft, gälte es noch genauer nachzugehen.

8

Unter ›Inversion‹ werden hier allgemein ästhetische Strategien verstanden, die zur Irritation und Destabilisierung, ja gar zur Umkehrung und De-Plazierung, Entstellung und Verrückung kolonialer Ordnungen und ihrer Dichotomien führen. Vgl. hierzu allgemein meinen Beitrag zu Steinaeckers Schutzgebiet (vgl. Osthues 2015), ausführlich zu den Überlegungen einer ›postkolonialen Ästhetik der Verschiebung‹ meine Dissertationsschrift Osthues (2017a).





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mal einer ›postkolonialen Ästhetik‹ (vgl. Uerlings 2012; Dunker 2012) beschrieben hat. In den Fokus rücken demzufolge ästhetische Strategien, welche die koloniale Ordnung irritieren bis unterlaufen können und dadurch zur »Dekonstruktion des kolonialen Imaginären« (Uerlings 2012: 53) beitragen, indem sie u.a. die »Faszinationen, Aporien und Paradoxien des kolonialen Begehrens« (ebd.: 56) kritisch ausstellen. Um die Herausarbeitung dieses Potentials, das über die Dinge lesbar wird, soll es in diesem Beitrag insbesondere gehen. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Status von Dingen im Forschungsfeld postkolonialer Studien bislang nicht explizit diskutiert, sondern allenfalls thematisch berührt worden ist.9 Dies mag wenig überraschen, denn erst seit einigen Jahren hat innerhalb der Literaturwissenschaft das allgemeine Interesse an Dingen in der Literatur sichtbar zugenommen. Neben einigen Einzelstudien (vgl. Niehaus 2009; Kimmich 2011; Bischoff 2013; Christ 2015), Themenschwerpunkten in Zeitschriften (Frank 2007; Vedder 2012) sind inzwischen auch Sammelbände zu dem Thema erschienen (Pfaffenthaler u.a. 2014; Brunner 2015; Neumann 2015), wenngleich ihre Zahl (noch) überschaubar bleibt. Vereinzelt ist sogar von einer »literarische[n] Konjunktur des Materiellen« oder gar einem »Aufschwung« der »Dingforschung in der Literaturwissenschaft« (Kimmich 2014: 305f.) die Rede, wobei es – unter Vorbehalt – abzuwarten gilt, inwiefern diese Entwicklung nachhaltig Einfluss nehmen kann auf den Kanon der Germanistik; eine Aufnahme des Themas in literaturwissenschaftliche Einführungen, Handbücher und Lexika trüge z.B. diesen Tendenzen Rechnung. Im Rahmen der hier geführten Überlegungen zum ›(post-)kolonialen Ding‹ werden solche Arbeiten interessant, die sich mit dem Zusammenhang von Ding und Alterität beschäftigen, so u.a. mit ›fremden Dingen‹10 und ›exotischen Dingen‹ (vgl. Kohl 1996; Schröder 2014) im Allgemeinen bis hin zu der Frage nach ›interkulturellen Dingen‹ (Niehaus 2010) im Besonderen, speziell mit deren Repräsentation in der Literatur. Im Anschluss daran, aber vor allem als Auftakt der Beschäftigung mit Dingen in postkolonialer Literatur, ist der vorliegende Beitrag gerade um die Klärung dessen bemüht, was unter der literarischen Kategorie ei-

9

Vgl. hier etwa die Ausführungen Axel Dunkers zur ›Nilpferdpeitsche‹ bei Karl May und Uwe Timm (vgl. Dunker 2011: 177-180), Ute Gerhards zur ›Botanisiertrommel‹ in Hamanns Usambara (2007) oder Christof Hamann zum ›Ballon‹ in Timms Morenga (1978) (vgl. Gerhard 2009: 325f.; Hamann 2009: 27f.).

10 Siehe hier den Themenschwerpunkt »Fremde Dinge« der »Zeitschrift für Kulturwissenschaften« (Frank u.a. 2007), die eine Reihe von Beiträgen zu diesem Thema versammelt. Vgl. auch den kürzlich erschienenen Sammelband »Präsenz und Evidenz fremder Dinge im Europa des 18. Jahrhunderts« (Neumann 2015).



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nes ›(post-)kolonialen Dings‹ verstanden werden kann. Zwei Fragen sind daher leitend: Was ist überhaupt ein ›koloniales Ding‹? Und darauf aufbauend: Was ist ein ›postkoloniales Ding‹? Steht im Mittelpunkt der folgenden Analyse die Ambivalenz (post-)kolonialer Dinge, die zwischen Affirmation und Subversion kolonialer Diskursmuster changieren, so ist dem Schluss der Versuch einer näheren Bestimmung der Kategorie des ›postkolonialen Ding‹ gewidmet – und dass insbesondere mit Blick auf ein spezifisch subversives Potential dieser Literatur, das über die Dinge in Verhandlung tritt und eine dekonstruktive, postkoloniale Lektüre der Texte ermöglicht.

Z WISCHEN A FFIRMATION UND S UBVERSION . Z UR K ATEGORIE DES ( POST -) KOLONIALEN D ING IM S PANNUNGSFELD VON L ITERATUR UND K OLONIALISMUS 1. Die koloniale Ordnung der Dinge: Dinge im Kontext kolonialer Bemächtigung Wenn nachfolgend von ›kolonialen Dingen‹ die Rede ist, so dient dieser Begriff zunächst als heuristische Kategorie der Textanalyse. Allerdings ist zu betonen, dass kein Ding gewissermaßen von Natur aus kolonial ist. Meist wird erst in den Händen von Entdeckern und Eroberern den Dingen – emphatisch formuliert – ihre Unschuld genommen. Die Bedeutung von Dingen, seien es ihre instrumentellen oder symbolischen Funktionen, ist dabei »keineswegs statisch und ein für allemal festgelegt, sondern mehrdeutig und durch den Kontext des Gebrauchs stets veränderbar.« (Stollberg-Rilinger 2014: 86) Die Art und Weise, wie Dinge also zu ihrer Bedeutung kommen, hängt ganz wesentlich von den historischen, kulturellen wie gesellschaftlichen Zusammenhängen ab, in denen das Ding aktualisiert wird (vgl. Bausinger 2004: 196, 199). Der Kolonialismus bildet diesbzgl. einen besonderen Referenzrahmen, wobei das Verhältnis von Macht und Ding eine zentrale Rolle einnimmt.11 Anders formuliert: Steht im Fokus kulturwissenschaftlicher Dingbetrachtung insbesondere das Verhältnis, das der Mensch zu Dingen eingeht (vgl. Böhme 2006), so ist der Kolonialismus als ein historischer Kontext zu betrachten, in dem das Ding eine eigentümliche Beziehung zu Menschen beschreibt, die ganz wesentlich durch Machtasymmetrien

11 Über den allgemeinen Zusammenhang von ›Macht und Dingen‹ vgl. StollbergRilinger (2014).





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(vor)geprägt ist. Wenn Dinge in die Hände von Kolonisierern geraten und entweder direkt an der Ausübung kolonialer Herrschaft mitwirken oder aber in anderer Weise in den Dienst kolonialer Akteure treten, wie etwa als Instrumente von Entdeckungs- und Forschungsreisenden, welche – wie eingangs thematisiert – stets Wegbereiter kolonialer Projekte darstellen, so ließe sich idealtypisch von ›kolonialen Dingen‹ sprechen. Unter kolonialen Dingen, so ein Definitionsversuch, werden demnach Dinge verstanden, die aufgrund ihrer Zweckgebundenheit innerhalb kolonialer Praxis sowohl an der Hervorbringung als auch an der Stabilisierung von Herrschafts- und Machtverhältnissen unmittelbar beteiligt sind. Als solche sind koloniale Dinge zugleich Repräsentanten einer symbolischen Machtordnung, wie z.B. die ›Nilpferdpeitsche‹ als Dingsymbol kolonialer Macht exemplarisch vor Augen führt (vgl. ausführlich 3.). 2. Von Aneroid bis Theodolit: Dinge der Vermessung Wie eingangs bereits thematisiert, spielen in der Gegenwartsliteratur auffällig häufig Dinge eine bemerkenswerte Rolle, die zur Vermessung und Beschreibung eingesetzt werden. So präsentieren die Texte teils umfangreiche Materiallisten an Ausrüstungsgegenständen: Zu diesen Dingen zählen technische Werkzeuge wie etwa Sextant, Theodolit, Barometer, Hydrometer, Thermometer, Fernrohr, Kompass, Uhr oder Botanisiertrommel.12 Solche ›Dinge der Vermessung‹ bilden im Kontext von Entdeckungs- und Forschungsreisen Instrumente kolonialer Wissensproduktion, anhand derer sich das noch unerschlossene Fremde vermessen und verdaten lässt, um es den (Wissens-)Koordinaten der eigenen, kolonisierenden Kultur unterzuordnen, es diskursiv in Besitz zu nehmen und dadurch gewissermaßen epistemologisch zu kolonisieren. In Anlehnung an die Arbeiten Michel Foucaults hat der Historiker Sebastian Conrad über den Zusammenhang von Wissen und Macht geschrieben, dass die »Generierung von Wissen über die außereuropäischen Länder« im 19. Jahrhundert »eine zentrale Voraussetzung des Kolonialismus« bildete,

12 Romane wie Hamanns Usambara (2007: 112, 145f.) oder Widmers Die Forschungsreise (1976: 8ff.) geben Einsicht in ganze Materiallisten. In weiteren Texten kommen Vermessungsdinge zur Anwendung (Stellen in Auswahl): Vgl. Die Vermessung der Welt von Kehlmann (2005: 37, 41, 47ff., 77, 101, 107, 168, 163f., 170, 206f.), Morenga von Timm (2009: 286, 294, 325), Der einzige Ort von Stangl (2006: 42, 145, 153, 184, 246, 404, 423, 430, 516), Kain und Abel in Afrika von Buch (2001: 81, 137, 149), Munzinger Pascha von Capus (2008: 116) und Der Weltensammler von Trojanow (2007: 21f., 121f., 127, 278, 282f., 294, 374, 383, 389).



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und zugleich hat die koloniale Erfahrung in unterschiedlichen Formen des Wissens ihre Spuren hinterlassen. Wissen und Wissenschaft waren keine Instrumente neutraler und ›objektiver‹ Beschreibung; vielmehr waren sie von den Hierarchien der Macht und den Mechanismen der Herrschaft nicht zu trennen. (Conrad 2012: 80)

Praktiken der »Vermessung und Kartographierung des Landes«, darauf weist auch Axel Dunker mit Stephen Greenblatt hin, zählten »zu den Hauptinstrumentarien der kolonialen Inbesitznahme außereuropäischen Territoriums.« (Dunker/Hamann 2016: 357; vgl. Greenblatt 1998: 92f.) Jene Dinge, die dem Entdecker zur Hand gehen, vollziehen aus diesem Blickwinkel immer auch einen Akt kolonialer Gewalt. Ihre Funktion, Wissen zu generieren, führt dabei nicht nur dazu, dass fremdkulturelle Praktiken und Formen des Wissens ausgeschlossen, sondern gleichzeitig gewaltsam einverleibt bzw. überschrieben werden. Wir machen nichts anderes, als das Unbekannte an das Bekannte anzubinden. Wir fangen die Landschaft ein wie ein wildes Pferd. Mit technischen Mitteln. Wir sind die zweite Vorhut der Aneignung. Zuerst wird erobert, dann wird vermessen. Unser Einfluß steht auf kariertem Papier. (Trojanow 2006: 121)

Mit diesen Worten fasst Hauptmann Walter Scott in Trojanows Der Weltensammler seine Aufgabe der »kartographische[n] Erschließung« zusammen, welche zugleich »von enormer militärischer Bedeutung« sei (ebd.). Die Rolle von Dingen der Vermessung als Werkzeuge kolonialer Inbesitznahme und Machtausübung macht der Text noch weiter dingfest, wie Hauptmann Scott den Protagonisten Richard Burton wissen lässt: »Der Kompaß, der Theodolit und die Nivellierwaage sind unsere wichtigsten Waffen. Wer sich in dem Koordinatennetz verfängt, das wir auswerfen, der ist für die eigene Sache verloren.« (Ebd.) 13 Deutlicher noch als bei Trojanow macht der Erzähler in Stangls Der einzige Ort keinen Hehl aus der kolonialen Komplizenschaft von Entdeckungsreisenden: Die Geographie ist eine Kriegswissenschaft; […]. So unerreichbar die fremden Städte auch erscheinen, da sie fest in einem Sinnzusammenhang verortet sind, der die ganze Welt umschließt, sind sie doch nahe und den Geschichten wie den Wissenschaften und den Glaubenswahrheiten verfügbar; kein Abgrund trennt einen von der Fremde. (Stangl 2006: 59f.)

13 Vgl. zu dieser Textstelle auch die Ausführungen Stockhammers (2009: 98).





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Bei Stangl ist es gerade die kritische Modellierung der Erzählinstanz, die den Zusammenhang von Entdeckung und Inbesitznahme thematisiert und die Gefahr aufzeigt, die dem Willen zum Wissen unterlegt ist. Praktiken des Wissens (kartographieren/schreiben) erscheinen dadurch als epistemologische Gewaltakte. Denn die Lesart, die Stangls Passage nahelegt, macht deutlich, dass im Wissen das Andere um seine Andersartigkeit, d.h. zum Verschwinden gebracht, kurz: kolonialisiert wird. Der Entdecker »muß, um etwas zu entdecken, zerstören, was er entdecken will,« so spielt der Erzähler bei Stangl zwei Handlungsoptionen durch, oder seinen eigenen Wunsch zerstören, etwas zu entdecken: ein Feld von Möglichkeiten zwischen dem Realen und dem Imaginären, zwischen dem Mord, der Entzauberung und Enttäuschung und der Selbstauslöschung. Das Fremde und der eigene Traum von der Fremdheit (das Gleichgewicht zwischen dem Eigenen und dem Fremden) stehen auf dem Spiel, die Namen drohen sich von geheimnisvollen Chiffren in bloße Bezeichnungen zu verwandeln. (Stangl 2006: 13f.)

Zum einen reflektiert der Roman an dieser Stelle das interkulturelle Potential von Nicht-Wissen im Umgang mit dem kulturell Fremden, wenn das Aufgeben des Wunsches nach Entdeckung bedeuten würde, die »Andersheit des Anderen« zu wahren. »Denn wenn sie gewusst würde, wäre das Andere nicht mehr anders, sondern dem (eigenen) Wissen einverleibt.« (Heimböckel/Weinberg 2014: 132)14 Zum anderen entfaltet Stangls Der einzige Ort ein subversives Potential darin, tradierte Bilder von Entdeckern in ein Zwielicht zu rücken, um auf diese Weise jene kolonialen Mythen, die quer zur kolonialen Wirklichkeit stehen, in ihrer Fiktion zu entlarven und kritisch auszustellen. Ein Motiv, über das koloniale Mythen desavouiert werden, stellt etwa der Verlust an Orientierung – und damit letzlich auch an Handlungsmacht – dar. Diese Ohnmacht tritt in Stangls Roman u.a. über das Ding des Kompasses in Verhandlung, der in der Fremde seine

14 Das heuristische Problem von interkulturellem Verstehen und das Potential von Nicht-Wissen hat Dieter Heimböckel in einem anderen Beitrag treffend beschrieben: »Am Wissen geht das Fremde zunichte, weil es im Moment des Wissens aufhört, seinen Anspruch auf Fremdheit noch einzulösen. Es bringt das Fremde zum Verschwinden, während es im Nichtwissen unangetastet bleibt. Im Nichtwissen über das Fremde generiert Interkulturalität ihr grenzüberschreitendes (und vielleicht auch provokatives) Potential.« (Heimböckel 2012: 37; vgl. auch Heimböckel/Weinberg 2014: 132)



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eigentliche Funktion verliert (vgl. Stangl 2006: 423, 430).15 Den Aufgaben und Pflichten des Entdeckers, zu vermessen und zu beschreiben, geht bei Stangl zunehmend der Sinn abhanden: »er will nichts mehr beschreiben« (ebd.: 246) heißt es an einer, »[e]r sollte vielleicht zählen und vermessen, er denkt nicht daran« (ebd.: 427) an einer anderen Stelle. Die Einsicht droht sich breit zu machen, dass die Dinge, die »Beziehungen zu irgendwelchen anderen Orten oder Zeitpunkten aufrechterhalten«, und damit gleichermaßen ihr Zweck sich mehr und mehr als »überflüssig« herausstellen, »wie die meisten anderen Lasten in seinem schweren Gepäck.« (Ebd.: 276) Kurzum: Über die Dinge werden in Der einzige Ort Fragen der Sinnstiftung verhandelt, die den Dingen zunehmend verlustig geht: »[U]nd sogar diverse technische Geräte erweisen sich den klimatischen Verhältnissen nicht gewachsen; die Uhr ist zwischen Beni Ulid und Ghadames stehengeblieben, die Barometer zeigen nur noch unsinnige Angaben« (ebd.: 153). Indem die Dinge also nicht mehr so funktionieren, wie sie sollen, indem sie sich ihrem Dienst und Zweck – und damit auch dem Entdecker – verweigern und von Gegenständen zu Widerständen avancieren, wird schließlich der koloniale Sinn des Entdeckens unterlaufen und gleichsam die Möglichkeit einer dekonstruktiven Lektüre angeboten, den kolonialen Mythos vom ›heldenhaften Entdecker‹ gegen den Strich zu lesen. Neben der Aufgabe der geographischen Vermessung spielen Dinge zudem im Rahmen ethnographischer Beschreibung eine wichtige Rolle. Die Fotoausrüstung (z.B. Kamera, Helligkeitsmesser, Fotoplatten, etc.) in Romanen wie Timms Morenga (2009: 281f.), Blaeulichs Kilimandscharo zweimeteracht (2005: 8ff.) oder Steinaeckers Schutzgebiet (2009: 145, 199, 203ff.) dient etwa dazu, den Fremden als Objekt des Wissens in Besitz zu nehmen und ihn entlang rassenbiologischer Kriterien der eigenen Kultur unterzuordnen. So zieht es in Steinaeckers Schutzgebiet Dr. Rüdiger Lautenschlager in die Kolonie DeutschTola, um im Dienst der »Nachwelt« und »Wissenschaft« (ebd.: 145) die »Stämme im tolalesischen Hinterland fotografisch zu katalogisieren« (ebd.: 203), die durch ihre »überaus faszinierenden Ohren« (ebd.: 195) das Interesse des Forschungsreisenden wecken. Allerdings realisiert der Roman über die Dinge gleichsam ein subversives Potential, das die koloniale Machtordnung irritiert: Als sich der Begleiter Lautenschlagers, Henry Peters, bei seiner Rückreise »in einer Schrecksekunde bewusst wird«, dass die »langen Ohren, der Chief, die Eingeborenen […], einmal ins chemische Bad getaucht, auf den Negativen weiß

15 Auch in Max Blaeulichs Roman Kilimandscharo zweimeteracht (2005) verliert der Kompass seine Funktion: »Kein Kompass half, weder Wissen noch Mut. Sie schienen in dieser unzugänglichen Gegend verschluckt zu sein«. (Ebd.: 174)





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erscheinen werden – er selbst dann aber schwarz« (ebd.: 205), wird die koloniale Ordnung buchstäblich auf den Kopf gestellt und koloniale Diskursmuster projektiv-bedrohlich verschoben. Auch in Schutzgebiet verweigern sich die Dinge ihrer eigentlich zugedachten Funktion. Nach der Entwicklung zeigen die Fotos nicht die aufgenommenen »Tätowierungen«, »Menschen, Tiere oder Landschaften«. Stattdessen sind unentzifferbare »Linien, Kreise und Spiralen […], nur abstrakte Formen« (ebd.: 327) zu erkennen. Nicht nur die Dinge selbst, sondern auch mit ihnen die Macht der Aneignung qua Repräsentation entgleiten der Verfügungsgewalt des Entdeckers. 3. Dinge kolonialer Gewalt: Die Nilpferdpeitsche Neben ›Dingen der Vermessung‹ kommt in den Romanen auffällig häufig ein Ding zur Anwendung, das gleichsam eines der zentralen Symbole kolonialer Macht- und Herrschaftspraxis repräsentiert: Die Nilpferdpeitsche.16 Auch unter der Bezeichnung Sjambok (dt. ›Schambock‹) oder Kiboko bekannt, handelt es sich bei der Nilpferdpeitsche, worauf der Name bereits hinweist, um eine aus der Haut des Nilpferdes hergestellte Peitsche, die aufgrund ihres Materials ebenso strapazierfähig wie scharfkantig ist und dadurch starke Verletzungen hervorrufen kann (vgl. Schnee 1920: 111). Ein grausames Bild ihrer Verwendung zeichnet Timms Morenga (1978). Der Autor montiert in dem Kapitel »Von der milderen, menschlicheren und doch pädagogisch nachhaltigeren Wirkung des Tauendes« (ebd.: 151-156) historisch verbürgte Briefwechsel zwischen Kolonialbeamten und hohen Militärs. Im Mittelpunkt steht die Diskussion um die »Wiedereinführung des Tauendes als Züchtigungsmittel« (ebd.: 152). Dort heißt es z.B. im Brief Graf Doerings: Wenn ich auch als Freund der Prügelstrafe mir wohl bewußt bin, daß ja gerade eine kräftige Züchtigung als abschreckende Strafe erwünscht erscheint, so bin ich in den vier Monaten, in denen nunmehr hier mit Flußpferdpeitschen gezüchtigt wird, doch zu der Überzeugung gekommen, daß diese Art der Züchtigung eine Grausamkeit darstellt, die wohl nicht beabsichtigt worden ist. Es ist fast unvermeidlich, daß von den Hieben der Flußpferdpeitsche Löcher in die Haut gerissen werden und gerade an der Stelle, die dem Menschen und besonders im Auge des Verletzten am schwersten zugänglich ist. Die Wundpflege ist daher für den Geprügelten selber recht schwer, die Wunden schwer rein zu hal-

16 Auch in Meyers Reisebericht wird diese Bedeutung des Machtsymbols aufgerufen, wenn der Antreiber auf Befehl Meyers hin am Morgen die Träger mit der »Nashornhautpeitsche« zur Ordnung rufen lässt (vgl. Meyer 1890: 66).



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ten, der Verletzte bedarf des Gesäßes zum Sitzen, die Wunde wird schmutzig, eitert und der Gezüchtigte bleibt wochenlang arbeitsunfähig. (Ebd.: 153)

Ähnliche Gedanken wägt auch die Figur Ludwig Gerber, Verwalter der Festung Benēsis, in Steinaeckers Schutzgebiet. Deutlich spielt die Stelle ein typisch koloniales Diskursmuster aus, das dem Kolonisierten den Subjektstatus abspricht und ihn als nützliches Objekt verdinglicht: Benutze ich die Flusspferdpeitsche, ist der Schwarze kaputt. Er fällt für Tage aus und fehlt mir im Wald. Der Dumme bin also am Ende ich. Benutze ich hingegen das Tauendchen, wird das von den Schwarzen möglicherweise als erträgliches Übel betrachtet. Übermutig begehen sie die Tat erneut. Sie sehen, die Sache ist so einfach nicht. (Steinaecker 2009: 57)

Auf zynische Weise führen die Texte die Unmenschlichkeit dieser grausamen Züchtigungspraktik vor Augen und spitzen diese weiter zu, indem der Nutzwert der Arbeitskraft betont wird. In Morenga setzen sich die Kolonialbeamten für die »Wiedereinführung des Tauendes« als »humaneres Instrument« und »Ideal eines Züchtigungsmittels« ein (Timm 2009: 154), das gegenüber der Nilpferdpeitsche von »milder, menschlicher und doch von pädagogisch nachhaltigerer Wirkung« sei (ebd.: 153). Die Dingbedeutsamkeit der Peitsche als koloniales Machtsymbol wird umso deutlicher, als in dem Kapitel »Vorzeichen« gleich zu Beginn des Romans der Herero- und Nama-Aufstand ausbricht und daraufhin »dem Farmer Strohmeier«, wie es im Text heißt, »von einem schwarzen Arbeiter die Peitsche entrissen [wird], mit der Strohmeier die Eingeborenen bei ihrer Arbeit anzutreiben pflegt.« (Ebd.: 6) Die Peitsche als Instrument der physischen Disziplinierung behält hier zwar ihre symbolische Funktion bei, nur haben sich die Vorzeichen der kolonialen Machtordnung verkehrt. Neben Romanen wie Morenga (ebd.: 98, 125, 319) und Schutzgebiet (2009: 28, 57, 151-156, 173, 184, 288f., 338) kommt die Nilpferdpeitsche darüber hinaus in Trojanows Der Weltensammler (2007: 240, 387f.), Hamanns Usambara (2007: 24, 73, 117), Capus’ in Eine Frage der Zeit (2007: 43, 62f., 89ff., 193, 197ff., 205, 214, 232ff., 274) und Munzinger Pascha (2008: 140f.), Blaeulichs Kilimandscharo zweimeteracht (2005: 8f., 207, 223) sowie in Buchs Kain und Abel in Afrika (2001: 75, 83) und Sansibar Blues oder Wie ich Livingstone fand (2008: 230) vor. Der Roman Die Nilpferdpeitsche (1986) des südafrikanischen Autors André Brink, ein meiner Beobachtung nach bislang nicht beachteter Text in den postkolonialen Studien, stellt diese sogar titelgebend in den Vordergrund der Erzählung.





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4. Tauschdinge und Geschenke – Dinge der Täuschung Eine dritte Gruppe an kolonialen Dingen lässt sich als ›Dinge des Tausches‹ fassen.17 Entdecker, Händler und Kolonialbeamten führten stets Dinge im Gepäck, mit denen sich handeln ließ.18 Dazu zählen etwa Glasperlen und Schmuck, Waffen und Alkohol. 19 Der Handel fand jedoch meist nicht auf Augenhöhe statt. Häufig dienten diese Dinge dazu, der einheimischen Bevölkerung Rohstoffe, Waren oder gefragte Exotika abzuringen, die andernorts einen höheren Gewinn versprachen, vor allem aber in der Heimat dem Handelnden Ruhm und Anerkennung in Aussicht stellten.20 Auch als Geschenke waren diese Dinge keinesfalls zweckfrei, sondern als Tauschdinge stets an Erwartungen und Dienstleistungen geknüpft. Unter diesen Voraussetzungen avancierten Dinge des Tausches nicht selten zu ›Dingen der Täuschung‹. Sie verweisen damit auf die fundamen-

17 Über die Rolle von Tauschobjekten im Kontext kolonialer Kontaktsituationen vgl. Fabian (2001: 143-174). 18 Das Lemma ›Geld der Eingeborenen‹ im deutschen Koloniallexikon gibt Einsicht in die Wahrnehmung der Kolonisierer von Dingen, die als Tauschwährung (Bsp. Muscheln, Elfenbein, Korallen) verstanden wurden (vgl. Schnee 1920: 692). Vgl. dazu auch Meyers Ausführungen (1890: 36). 19 Auffallend häufig kommen Glasperlen vor. Vgl. hierzu Timms Morenga (2009: 175, 249, 287), Hamanns Usambara (2007: 118, 146), Trojanows Der Weltensammler (2007: 380, 408), Widmers Die Forschungsreise (1976: 9), Blaeulichs Kilimandscharo zweimeteracht (2005: 136), Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005: 121), Steinaeckers Schutzgebiet (2009: 201), Stangls Der einzige Ort (2006: 96, 108, 311, 313, 318, 404), Capus’ Munzinger Pascha (2008: 88, 103), Buchs Kain und Abel in Afrika (2001: 128), Sansibar Blues oder Wie ich Livingstone fand (2008: 97, 191, 193) und Nolde und ich. Ein Südseetraum (2013: 60, 101, 106). In den Romanen Imperium von Christian Kracht (2012: 64), Schutzgebiet (2009: 198), Usambara (2007: 146), Der einzige Ort (2006: 81, 96) und Sansibar Blues oder Wie ich Livingstone fand (2008: 193) werden Waffen zu Tauschobjekten und Geschenken. Siehe auch die Rolle solcher Dinge in Buchs Kain und Abel in Afrika (2001), wie etwa von »Feuerwerkskörpern« (ebd.: 67), »Spieldosen und Mundharmoniken, Negerpuppen und Hampelmännern« (ebd.: 70) sowie »Puppen und Spiegeln« und »Ellen Stoff« als »Tribut« (ebd.: 76) an die lokalen Herrscher. 20 Das Sammeln etwa von »›ethnographischen Objekten‹« und ihr Transport nach Europa wurde, so schreibt Johannes Fabian, mehr und mehr zum »Hauptzweck« (2001: 256) von Entdeckungsreisen.



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tale Machtasymmetrie kolonialer Beziehungen, die im ungleichen Tauschmoment zum Tragen kommt. In Stangls Roman Der einzige Ort führt der Major Alexander Gordon Laing einen »Haufen von Perlen« mit sich, »die für anspruchslosere Tauschpartner vorgesehen waren.« (2006: 404f.) Ähnlich verhält es sich bei Hamanns Usambara (2007), dessen Roman nicht nur die vorsätzliche Täuschung desavouiert, sondern darüber hinaus ironisch-komisch vorführt. Am Ende von »Meyers Checkliste« (ebd.: 145), welche die erforderlichen Ausrüstungsgegenstände der Expedition verzeichnet, stehen die »Geschenke für die Häuptlinge in Dschagga«. Zu diesen gehören auch »25 kaputte Uhren, 18 kleine Spielzeugtelefone, 43 Taschenmesser mit abgebrochenen Klingen, Uniformknöpfe, 13 bunte Regenschirme, 300 Pfund verschiedene Glasperlen, 19 Steinschlossflinten, 150 Pfund Salz plus eine Nähmaschine für Mareale.« (Ebd.: 146) Hamanns komische Inszenierung der Tauschdinge ist als ein ›parodistisches rewriting‹ des Reiseberichts Meyers zu lesen. 21 Bei Meyer heißt es, er habe nebst »›gängigen‹ Tauschwaren auch noch allerlei hübsche Geschenkartikel gern als Zugabe [mit]genommen«, ohne dabei ihre, aus Meyers Sicht, Zwecklosigkeit zu verschleiern: »[K]aufen kann man jedoch nichts«, behauptet Meyer und verweist auf seine Auswahl an Geschenken: So hatte ich diesmal besonders für die Häuptlinge in Dschagga eine ganze Auslese von Uhren, Spieldosen, kleinen Telefonen, Maschinenmodellchen, Masken, vielklingigen Taschenmessern, Uniformstücken usw. mitgenommen, die als Geschenke ihre erhoffte Wirkung selten verfehlten. (Meyer 1890: 36f.)

Die komische Übertreibung in Usambara entlarvt den offensichtlichen Zweck der Dinge in seiner Intention der Täuschung. Wenn Hamanns Roman an gleicher Stelle auf Francis Galtons »Longseller Kunst des Reisens« (Hamann 2007: 145) verweist, der der Meyer-Figur in Usambara zum Vorbild der Reisevorbereitung wird, so erscheint die Parodie darüber hinaus als ironisches Zitat des kolonialen Diskurses insgesamt; sie legt die Asymmetrie der kolonialen Beziehungen kritisch bloß: Der britische Geograph und Forschungsreisende Francis Galton hatte 1855 in seinem Reiseratgeber The Art of Travel in dem Kapitel »presents, and articles for payment and exchange« (Galton 1855: 173f.) auch über die Möglichkeit betrügerischen Handelns geschrieben. Galtons Ausführungen lassen

21 Vgl. zu den spezifischen Registern eines postkolonialen rewritings innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ausführlich Osthues (2017a) und den Artikel »rewriting« im »Handbuch Postkolonialismus und Literatur« (Osthues 2017b).





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deutlich werden, dass dem Tauschmoment eine kulturelle Differenz eingeschrieben ist, die hierarchisch zwischen der Höherwertigkeit der kolonisierenden Kultur auf der einen und der Primitivität der Kolonisierten auf der anderen Seite unterscheidet. 5. Vehikel, Technik und Erfindungen Eine weitere Klasse an kolonialen Dingen bilden technische Innovationen. In einigen der Texte kommen etwa Entwürfe von Flugzeugen, Ballons, Schiffen und Autos vor, die teils über ihren Nutzwert im kolonialen Alltag hinaus ins Phantastische abgleiten.22 Im technischen Forscherdrang bricht sich ein koloniales Begehren Bahn, das über den Willen, die Natur zu beherrschen, gleichsam einen Machtanspruch formuliert, der analog für ein Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen herrschendem Subjekt (Kolonisierer) und zu beherrschendem Objekt (Kolonisierte) steht. Aus diesem Blickwinkel erscheint der koloniale Raum als ›Laboratorium der Moderne‹ (vgl. Conrad 2012: 90-93; van Laak 2004), in dem sich Experimente jenseits des kolonialen Zentrums durchführen und technische Erfindungen ausprobieren lassen. Die Figur des Landevermessers Treptow aus Timms Morenga ist beispielhaft dafür, wie die Vorstellung vom ›leeren Raum‹ dem Kolonisierer eine Projektionsfläche bietet, ein imaginäres Test- und Experimentierfeld gewissermaßen, an der sich Faszinationen von Technik und Innovation entzünden: Am stärksten aber war seine Lust, etwas aufzubauen, wo nichts war. Treptow war von der bezwingenden Macht der Technik überzeugt. Wo die Natur noch Defekte zeigte, würde man sie über lang oder kurz mit technischen Mitteln beheben. Man würde Wüsten bewässern, Flüsse, die alljährlich weite Landstriche durch Überschwemmungen verwüsteten, regulieren, aufstauen oder umleiten. Alles war technisch machbar, und zwar so, daß es den Menschen zum Nutzen gereichen würde. (Timm 2009: 287)

Die Texte stellen auf besondere Art und Weise kritisch heraus, dass der Versuch einer zivilen Nutzung der Dinge oftmals fehlschlägt. Im kolonialen Kontext scheint geradezu jede Ambition zu scheitern, die sich einem humanistischen Er-

22 Vgl. hier z.B. die Rolle von Vehikeln wie das Flugzeug/Luftschiff in Timms Morenga und Steinaeckers Schutzgebiet, das Schiff in Capus’ Eine Frage der Zeit, das Tropenauto in Morenga, das Branntweinfass in Morenga und Schutzgebiet, der Ballon in Morenga oder die Idee einer überdimensionalen Kanone in Schutzgebiet, mit der sich die Rotation der Erde stillstellen ließe (Steinaecker 2009: 267f.).



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findergeist verpflichtet fühlt. Ihr Potential verkehrt sich sogar ins Gegenteil, um dadurch nur wieder dem kolonialen Projekt, vor allem dem militärischen Zweck, Vorschub zu leisten. In Morenga etwa gibt der heterodiegetische Erzähler Einblick in die Gedanken des Protagonisten Gottschalk, dessen »Vermittlungsaufgaben von technischem und kulturellem Wissen« (ebd.: 171) in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika nicht nur misslingen: »Nach einer geheimnisvollen Gesetzmäßigkeit«, so der Erzähler, »schien sich in diesem Lande jeder Versuch Gottschalks, helfend einzugreifen, in sein Gegenteil zu verkehren.« (Ebd.: 411) Vielmehr noch avanciert seine humane Absicht zum Katalysator kolonialer Projekte, der die Unterwerfung der zu kolonisierenden Kultur nur noch weiter vorantreibt. An anderer Stelle stellt Gottschalk resigniert fest: »Sicherlich, damit hatte er geholfen die Maschinerie in Gang zu halten, aber jetzt sollte er auch noch helfen, sie zu beschleunigen.« (Ebd.: 339) Dass technisch-innovative Dinge in Morenga schließlich nicht wirklich zum Einsatz kommen, sondern entweder auf mysteriöse Weise verschwinden, wie etwa die Konstruktionszeichnung eines Tropenautos des Landvermessers Treptow, oder aber ihre Funktion verlieren bzw. sich dieser verweigern, ermöglicht eine Lektüre gegen den Strich, die den kolonialen Entdeckungsehrgeiz in ein ironisch-absurdes Licht rückt. Jene »skurrilen Erfindungen«, zu diesem Schluss kommt Michaela Holdenried, »Gottschalks Kuhgebiss, Treptows Molotows und das Tropenauto – sie landen auf der Abraumhalde der Geschichte, bleiben im Sand stecken oder enden als merkwürdige Skulptur.« (Holdenried 2011: 146) In Morenga wird z.B. das Tropenauto zum kolonialen Denkmal, dessen ursprüngliche Funktion die Erzählinstanz spöttisch vor- bzw. ad absurdum führt, freilich nicht ohne die christliche Missionierung, erkennbar an dem berühmten Leitspruch Martin Luthers, ironisch aufs Korn zu nehmen: Einige dieser Tropenautomobile wurden auch gebaut, und eines wurde auf Initiative des deutschen Oberleutnants Troost nach Deutsch-Südwestafrika verfrachtet. Zischend und dampfend zog es von Swakopmund zwei Wagen acht Kilometer ins Landinnere, dann blieb es im Sand stecken, wo es noch heute, als Denkmal geschützt, steht, vom Volksmund Luther genannt: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. (Timm 2009: 317)

Ein ähnliches Ding-Symbol, das im Verlauf der Erzählung ins Absurde kippt, bildet das deutsche Schiff ›Götzen‹ in Capus’ Roman Eine Frage der Zeit, das drei Schiffsbauer der Papenburger Werft am Vorabend des Ersten Weltkrieges in Einzelteilen an den Tanganjikasee transportieren, um es dort wieder zusammenzusetzen und als Transportschiff fahrtüchtig zu machen. Als der Krieg schließlich auch die Kolonie Deutsch-Ostafrika erreicht, ist der Plan schnell zur Hand,





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die Götzen zum Kriegsschiff umzurüsten, um gegen die Belgier und Engländer in See zu stechen. Der topographische Raum des afrikanischen Sees wird so zum absurden Schauplatz des Ersten Weltkrieges, auf dem sich fernab der Heimat »ohne erkennbaren Anlass Briten, Belgier und Deutsche einander mit Spielzeugbooten zu Tode schossen.« (Capus 2007: 210) Das Schiff Götzen, aufgrund seiner Größe von der Entente gefürchtet, avanciert insofern zum Symbol kolonialer Absurdität, als es inmitten des Konflikts militärisch gar nicht erst zum Einsatz kommt. Zeichnen sich zuerst Sabotageakte, an denen die Papenburger nicht unbeteiligt sind, für die Verzögerung des Stapellaufs verantwortlich, so hat die Götzen schließlich »ihre 105-mm-Kanone wieder hergeben müssen, da das Oberkommando diese im Norden gegen General Smuts einsetzen wollte.« (Ebd.: 287) Die Not der Lage führt schließlich zu einem irrwitzigen Plan: »Um das Schiff nicht gänzlich wehrlos erscheinen zu lassen, hatte der Kapitänleutnant den Papenburgern befohlen, anstelle des Geschützes eine hölzerne Attrappe zu montieren.« (Ebd.) So wurde die »großmächtige Bordkanone durch eine grau bemalte Kokospalme ersetzt« (ebd.: 296). Bleibt in Timms Morenga das Vehikel im Sand stecken, so verliert auch in Capus’ Roman das Schiff seine Funktion, indem es sich der Kontrolle und Macht widersetzt. Denn »[m]it einer hölzernen Kanone aber konnte sich die Götzen nicht mehr auf den See hinauswagen und saß im Hafen fest.« (Ebd.: 287) Dass dieses Täuschungsmanöver von dem englischen Commander Spicer Simson unerkannt bleibt, der »sich nicht mehr aufs Wasser [wagte], seit er die imposante Gestalt der Götzen gesehen hatte – nicht ahnend, wie wehrlos sie war« (ebd.: 296), unterstreicht die Absurdität der Konstellation weiter. Am Schluss wird die Götzen durch die Deutschen versenkt, um nicht in die Hände der Gegner zu fallen. Mit der eigenmächtigen Versenkung des Schiffes endet nicht nur die Erzählung, mit ihr geht gleichsam die wahnwitzige Idee dieses europäischen Konflikts um einen See in Ostafrika unter, der zum symbolischen Zankapfel der Kolonialmächte wurde.

S CHLUSS : V OM G EGENSTAND ZUM W IDERSTAND – EINIGE Ü BERLEGUNGEN ZUM ( POST -) KOLONIALEN D ING Dass Dinge sich dem Zugriff des Kolonisierers verweigern können, wie die Ding-Analysen zeigen, indem sie nicht tun, was von ihnen verlangt wird, ermöglicht eine Lektüre der Texte, die kritische Perspektiven auf koloniale Denk-, Handlungs- und Wissensordnungen freigibt. Ihre Widerständigkeit verweist darauf, dass die Semantik kolonialer Dinge keinesfalls durchweg stabil und eindeutig bleibt. Dinge können demzufolge nicht nur aus ihrer kolonialen Dingbedeut-



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samkeit ausbrechen, sie stellen die Verhältnisse sogar zeitweise auf den Kopf. Zweckentfremdung, Zweckverlust und Dysfunktion sind dabei Modi einer Eigen- und Handlungsmacht (›agency‹) der Dinge, die Hartmut Böhme an einer Stelle seiner Studie Fetischismus und Kultur als ›Bartleby-Effekt‹ (vgl. 2006: 41-49) näher umschrieben hat, für dessen Begriff Hermann Melvilles literarische Figur ›Bartleby der Schreiber‹ aus dem gleichnamigen Roman Pate stand. Dinge können sich Böhme zufolge »abwenden, verschließen, verstummen, wegziehen – der Bartleby-Effekt.« (Ebd.: 45) Die Bartleby-Figur steht für eine radikale Haltung der Arbeitsverweigerung, die auf Bartlebys Ausspruch ›I would prefer not to‹ zurückgeht. Böhme überträgt dieses Prinzip auf Dinge: Denken wir also, so könnte es uns mit den Dingen ergehen: they would prefer not to. Die Dinge würden es vorziehen, nicht unseren Anweisungen zu folgen. Sie verharrten in stummer Verweigerung. Wären nur da, lungerten herum, anspruchslos und unansprechbar. […] Sie wären nicht mehr ›zuhanden‹, zu keinem Gebrauch fügsam, jede Verwendung entglitten. (Böhme 2006: 43)

Wenn die Dinge also ihrem ursprünglich zugedachten Zweck entgleiten und sich verweigern, werden sie für den Kolonisierer zum bedrohlichen Fremdkörper innerhalb der eigenen kolonialen Machtordnung. (Post-)koloniale Dinge vermögen dabei nicht nur, ihre Macht ins Gegenteil umschlagen zu lassen und sie gegen den Kolonisierer zu wenden, wie das Beispiel der Nilpferdpeitsche veranschaulicht. Auch können Dinge ihr Potential gerade darin entfalten, dass sie sich ihrer »repräsentativen Zeichenhaftigkeit« entziehen, sodass »die Dinge für uns […] an sich selbst fremd«, ja gewissermaßen unverfügbar werden: »Sie ziehen sich zurück in eine fundamentale Opazität.« (Niehaus 2010: 33) Ein solches Potential von Dingen, das die koloniale Ordnung irritiert, wurde innerhalb der Analyse u.a. am Beispiel des Schiffs, des Tropenautos, der Fotoplatten und des Kompasses thematisiert. Durch diesen Rückzug in eine Fremdheit können Dinge auch interkulturelle Fragestellungen verhandeln. Ein Beispiel hierfür wäre die Botanisiertrommel23, ein Ding der Vermessung, das in Hamanns Usambara auf eine besondere Art und Weise zum Einsatz kommt. An einer Stelle wird die Botanisiertrommel gerade nicht als »Werkzeug des Botanisierens«, sondern »in ihrer buchstäblichen Funktion genutzt«, wie Ute Gerhard bemerkt: »mit ihr wird getrommelt.« (Gerhard 2009: 325f.) »Als Musikinstrument steht sie«, so Gerhard weiter,

23 Die Botanisiertrommel taucht darüber hinaus in Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2009: 107, 168, 206) und Widmers Die Forschungsreise (1976: 10, 15) auf.





300 | J ULIAN O STHUES in deutlicher Opposition zu den Vermessungsinstrumenten, die von den anderen Entdeckungsreisenden benutzt werden. Insofern geht die Botanisiertrommel tatsächlich fremd, denn über das Trommeln wird zugleich eine gewisse Nähe zu den schwarzen Trägern hergestellt, in deren Gesänge sich Hagebucher einmischt. (Ebd.: 326)

Über das ›Fremdgehen‹ der Trommel als »Musikdose«, die von der Figur Leonhard Hagebucher »in Gang gesetzt« wird (Hamann 2007: 24), steht die koloniale Bedeutung des Dings innerhalb der kolonialen Machtordnung zur Disposition. Es verliert bzw. wechselt temporär seine Funktion, denn die Trommel wird als Medium ästhetischer Erfahrung verwendet – und das in einer Weise, die ihr aufgrund der Materialität und Form eigen ist. Die Leistung des postkolonialen Dings ist es gerade, nicht nur koloniale Ordnungen zu irritieren und infrage zu stellen. Die Zweckentfremdung der Botanisiertrommel als Musikdose überführt auch ihre vormals koloniale Zweckmäßigkeit in einen Bereich des Ästhetischen, in eine ›ästhetische Alterität‹, die das Ding seiner Zwecklosigkeit bzw. -freiheit überlässt. Mit dieser Verfremdung wird eine sinnliche Dimension des Dings aufgerufen, die es ermöglicht, imaginäre Vorstellungsräume jenseits kolonialer Wirklichkeit zu entwerfen, in denen sich interkulturelle Begegnung so zumindest in Gedanken und Träumen durchspielen lassen. Die kulturelle Grenze zwischen Kolonisierern und Kolonisierten, welche im kolonialen Diskurs als absolut und unüberwindbar entworfen wird, kann somit auf ästhetischer Ebene zumindest kurzzeitig überschritten werden, bevor die koloniale Wirklichkeit die Figur Hagebucher wieder einholt: »Richtig, er wurde nicht für das Trommeln bezahlt, nicht dafür, dass er Namen in seinem Mund rollen ließ. Seine Aufgabe war das Botanisieren. So stand es in dem Vertrag.« (Ebd.: 23) Im Horizont der hier untersuchten Texte eröffnet die literarische Inszenierung von Dingen eine kritische Perspektive auf typische Formationen des kolonialen Imaginären (Mythen, Phantasmen, Stereotype). Über die ›agency‹ der Dinge, die sich dem kolonialen Zweck widersetzen, entfalten die Texte ein subversives Potential, das koloniale Ordnungen und Dichotomien irritiert, unterläuft und dekonstruiert. Literarische Dinge sind demzufolge als spezifische Elemente einer postkolonialen Ästhetik zu betrachten, die eine kritische Lektüre kolonialer Diskursmuster ermöglichen. Wenn Hans Meyer also, wie eingangs ausgeführt, in seinem Reisebericht glaubt, der Dinge Herr zu sein, so verhält sich die Sachlage innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur anders. Im Gegenteil: Die Dinge scheinen sich hier der Verfügungsgewalt des Kolonisierers zu verweigern. Sie entziehen sich der kolonialen Sache, was sie zu Fremdkörpern innerhalb der eigenen Ordnung werden lässt.



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Uerlings, Herbert (2012): Postkolonialismus und Kanon. Beobachtungen und Thesen. In: Ders./Patrut, Iulia-Karin (Hg.): Postkolonialismus und Kanon. Bielefeld, S. 39-66. Vedder, Ulrike (Hg.; 2012): Literarische Dinge. Zeitschrift für Germanistik XXII, H.1.







»An ihren Tänzen sollt ihr sie erkennen!« Anmerkungen über Jazz, Tanz und Politik1 I NGO B REUER

Jazz erlebt ein Revival, wenn man den Bachmann-Wettbewerb 2015 als Indikator werten will, bei dem speziell die alten Jazztänze eine eigentümliche Wiedergeburt erlebten: Dies gilt indirekt für die Preisträgerin Nora Gomringer, die mit Günter Baby Sommer, dem berühmtesten (auch Free-Jazz-)Schlagzeuger der D.D.R., der lange mit Günter Grass tourte, in ihrem gemeinsamen Programm ›Betrommeltes Sprachvergnügen‹ an die Jazz- und Lyrik-Tradition anknüpft. Unmittelbarer gilt dies für Teresa Präauers Text Oh, Schimmi, mit dem sie auf den Shimmy, einen Jazztanz der 1920er Jahre, anspielt, und für Ronja von Rönne, die in ihrem Prosatext Welt am Sonntag eine Hochzeit, bei der zu Jazz getanzt wird, imaginiert: Ich will Fremde küssen und weinen, pöbeln und beleidigen und das kann man nur auf Hochzeiten. […]. Am besten wäre also die Hochzeit eines sehr hippen Paares […]. Nach der Trauung gibt es Showeinlagen von Freunden. […] Danach wird getanzt. Am Anfang zu Jazz, damit beweist das junge Paar, dass es Geschmack hat. Dann zu Britney Spears, damit beweist das junge Paar, dass es ironisch ist. Ich grinse breit und verschütte versehentlich Grauburgunder und tanze, natürlich ironisch, was eigentlich so ist wie normales Tanzen, nur dass man dabei ein bisschen zu oft seine Hände in die Luft wirft, um zu beweisen, dass man ja nur ironisch tanzt und nicht ernsthaft auf Nin[e]ties-Trash steht. (Rönne 2015)

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Für wichtige Hinweise danke ich René Michaelsen und Verena Hepperle, für die Mitarbeit bei Recherche und Korrektur Leonie Carell und Linda Rustemeier.



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Hier vermischt sich die Vorstellung vom frühen Jazz, der wesentlich Tanzmusik war und der ›niederen‹ Kultur zugeordnet wurde, mit derjenigen von Jazz als Musik für ein distinguiertes Publikum, wie sie sich seit den 1940er und 1950er Jahren durch den Bebop, Cool Jazz und nicht zuletzt auch die Reihe Jazz at the Philharmonic etabliert hatte. Was hier zu welchem Jazz getanzt wird, bleibt unklar, weil nur der Gestus der Distinguiertheit abgerufen werden soll. Entsprechend bleibt unbeachtet, dass bereits im frühen Jazz, z.B. beim Cakewalk oder bei Josephine Baker, das ›ironische‹ Moment bereits stärker und vor allem politischer war, als dies Britney Spears oder die Protagonistin jemals zu präsentieren in der Lage sein dürften. Im Fokus steht hier ein aktueller ›Metropolen-Habitus‹, wie ihn Enrico Ippolito am 10. Januar 2014 in der taz beschrieb: »Das ist doch das Markenzeichen der Hauptstadt – immer alles ironisch und cool zugleich. Zu Britney Spears wird getanzt – aber nur so als ironische Reminiszenz.« (Ippolito 2014; Hervorh. i. Orig.) Jazz erscheint dagegen bei Präauer – wenn man die Logik dieser Passage ernst nimmt – als un-ironische Musik, ohne dass Jazz gegenüber dem »Trash« zum Signum einer post-ironischen Epoche würde, wie sie David Forster Wallace (1993) indirekt ausgerufen hatte. Wahrscheinlich soll er vielmehr das Symbol einer vermeintlich prä-ironischen Moderne darstellen. Diese Karte spielt die Autorin jedoch nicht aus; die Handlung löst sich von der Musik, die Protagonistin will ja einerseits »Fremde küssen und weinen«, andererseits »pöbeln und beleidigen«, schließlich »hassen«, wozu das hippe bzw. ironische Tanzen zu Jazz und Disco-Pop nur als Durchgangsstadium, vielleicht Randphänomen, dient. Dies ist jedoch nicht selbstverständlich, denn der Tanz ist vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kulturell und politisch höchst signifikant, wird sogar zu einem Paradigma kulturpolitischer Auseinandersetzungen. Der Symbolwert von Jazz als Tanzkultur im 20. Jahrhundert erweist sich ex negativo bereits in kolonialen Klischees, selbst im Bachmann-Wettbewerb mit Teresa Präauers ›ironischem‹ Text über Schimmi (d.h. Jimmy), der im Affenkostüm und mit Bananen in der Tür steht, um seine Angebetete zu beeindrucken, nachdem sein Handy zuvor Dschungelmusik-Klingeltöne von sich gegeben hatte, aber auch in Zeichentrickfilmen wie The Jungle Book und Tarzan (im Fernsehen auch unter dem Titel Tarzan bei den Affen gesendet), in denen jeweils längere Jazzpassagen durch grotesk agierende Affen gespielt werden. Damit wird – bewusst oder unbewusst, ironisch oder zustimmend – ein ganzes Sammelsurium z.T. kolonialistischer und rassistischer Klischees des Jazz-Mythos anzitiert. Das hat nicht unbedingt etwas mit ›gutem Geschmack‹ oder ›Ironie‹ zu tun, ist aber in jedem Fall hochgradig politisch. Diese Spur soll nun anhand der bei Ronja von Rönne angedeuteten Bedeutungsunterschiede der Tanzformen



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sowie ihrer dezidiert (kultur-)politischen Dimensionen in der Weimarer Republik, dem Dritten Reich und der frühen Bundesrepublik versuchsweise weiterverfolgt werden.

1. » ICH

BRAUCHE NUR

M USIK , M USIK , M USIK «

»An ihren Tänzen sollt ihr sie erkennen!«, so hieß es, durch Sperrung hervorgehoben, am 28. Februar 1938 in einem längeren Beitrag zur Zeitung Der S.A.Mann unter dem kruden Titel Deutsche Tanzmusik! Ausländische und deutsche Schlager, fremde oder einheimische Kapellen, – eine ungelöste Frage? Nein! Der Verfasser ruft entsprechend der nationalsozialistischen Parteilinie zu einem Kampf der Tanz-Kulturen auf, bei denen es sich zunächst einmal um MusikKulturen handele: Auf dem Podium sitzt die Kapelle. Einer singt. Mehrere blasen, streichen und schlagen […]. Und das Ganze trägt den Namen Tanzmusik. Es ist eine Kunst, diese Tanzmusik, eine verteufelt schwere. Wenn man nach dem Verbrauch gehen würde, käme heraus, daß die »Produktion« auf diesem Gebiete gewaltigere Anforderungen stelle als die ›ernste Musik‹. Der Zahl nach stimmt das. Aber dem Wert nach? Daß die seligen »Bananen«, die ein geschäftstüchtiger Schmierer den Deutschen vor langen, langen Jahren […] an den Kopf warf, die stattliche Blüte von einer Million bezahlter Druckexemplare erreicht haben, ist ein Rekord, mit dem weder Johann Strauß (im Verhältnis der Zeitdauer!) noch ein gewisser Beethoven wetteifern konnten. (o.A. 1997; Hervorh. i. Orig.)

Gemeint ist wahrscheinlich der Song »Yes! We Have No Bananas« aus dem Broadway-Musical Make It Snappy von 1922, dessen deutsche Version Ausgerechnet Bananen 1923 erschien, in der Weimarer Republik zu einem Riesenerfolg wurde und im Nachkriegsdeutschland durch Billy Wilders Film Eins, zwei, drei von 1961 ein Revival erlebte. Beim Bananen-Song handelt es sich um einen Shimmy-Foxtrott, einer der beliebtesten und einflussreichsten der zahlreichen Jazztänze der 1920er Jahre, und dieser steht hier im Gegensatz zur Musik von Beethoven und Johann Strauß (und nicht Richard Strauß, den die Nazis 1933 zum Präsidenten der nationalsozialistischen Reichsmusikkammer machten, der aber 1935 in Ungnade fiel und abgesetzt wurde, und dessen Salome wenige Zeilen später explizit als »fremdes Gewächs« bezeichnet wird). Auch wenn den Verfasser in besonderem Maße die Dichotomie von sogenannter E- und UMusik zu interessieren scheint, geht es in diesem Artikel dann doch um ›kultu-





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relle‹ Unterschiede in der Unterhaltungsmusik, die im Folgenden in xenophober und rassistischer Fokussierung diskutiert werden. Als Grundübel gilt dem Verfasser die »fremde Tanzmusik«; sie sei im »Ton fremd, im Rhythmus, in der Sprache – und die Kapelle ist oft genug ausländisch noch dazu.« (Ebd.) Und so fragt er: »Aber warum spielt man ausländische Musik gerade in Deutschland, dem klassischen Land der Instrumente, dem Land der Töne? Die deutschen Tanzkapellen sind beinahe gänzlich schuldlos – sie verlangen nach deutscher Tanzmusik – ›aber der Film!‹« Und so gebe es nicht mehr den »deutschen oder Wiener Walzer« zu hören, sondern den »Jazz« (ebd.). Dabei hat der Verfasser nach eigenen Angaben nichts gegen afrikanische Musik einzuwenden, sondern ›nur‹ gegen die Verbreitung und Kommerzialisierung durch das ›internationale Judentum‹: Der geheimnisvolle ›Jazz‹ kommt nicht von den Negern. Er kommt von den Niggern, aus der augenverdrehenden Inbrunst ihrer Spirituals und der weit, weit an die schwarzen Ahnen in Afrika erinnernden Ekstase ihrer Tänze. Aber nicht sie haben uns das ›geschenkt‹. Die Geschäftigkeit der amerikanischen Musikindustrie machte sich die Musik der heimatentwurzelten, in die Segnungen der Zivilisation hineingepferchten Nigger zunutze […]. (Ebd.)

Bei Jazz handele es sich nicht um einen mehr oder weniger authentischen Ausdruck einer authentischen afrikanischen ›Eingeborenenkultur‹ der »Neger[ ]«, sondern um eine afro-amerikanische Mischform der nach Amerika verschleppten »Nigger«. Jazz als gleichsam ›urtümliche‹ Musik gilt – sei es in der afrikanischen, sei es in der afro-amerikanischen Variante – innerhalb dieser Logik als regionale oder ›Volks-Kultur‹ und damit als unproblematisch. Als Feindbild fungiert dagegen eine angeblich jüdisch dominierte Musik- und Filmindustrie, die den Jazz und seine Tänze als Mittel zur Stärkung ihrer Macht funktionalisiert habe, womit zugleich das rassistische Klischee einer besonderen jüdischen Geschäftstüchtigkeit bedient wird. Im selben Zusammenhang warnte Hans Severus Ziegler 1938 im Katalog der Ausstellung Entartete Musik vor dem »Kulturbolschewismus« des »nach 1848 voll entfesselte[n] Judentum[s]«, das selbst »die Kulturgebiete in den Bereich seines händlerisch-geschäftlichen Denkens einbezog« (Ziegler 1938: 8, 16). Der Jazz sei so etwas wie eine »Internationale der Musik« geworden, denn er habe sich mit »Schnelligkeit auf der ganzen Welt ausgebreitet«; und: »Die erste Geige spielen dabei die Kinder des auserwählten Volkes, das ja auch in der ganzen Welt ›beheimatet‹ ist.« (o.A. 1938) Der Shimmy als Jazztanz verliere nach dieser Logik bei seinem Heraustreten aus dem ›natürlichen Habitat‹ seine politische Unschuld und werde zur ideologi-



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schen Waffe einer internationalen jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung: ›die‹ zentrale rassistische Chimäre des Nationalsozialismus. Der Kulturkampf, der hiermit zwischen den unterschiedlichen Tanztraditionen entfacht und von unterschiedlichen politischen Lagern ausgerufen wurde (vgl. Weiner 1991: 476f.), findet denn auch seinen folgenreichen Niederschlag sowohl in der unmittelbaren Realität als auch in demjenigen Feld, das der Autor in der Zeitung Der S.A.-Mann als besonders prekär benannt hatte: dem Film. In der Realität gestaltet sich die Lage allerdings alles andere als einheitlich: Während die ideologischen Vorbehalte gegenüber dem Jazz in der nationalsozialistischen Führungsriege massiv waren und es immer wieder auch – eher lokale bzw. auf bestimmte Aspekte (zu große ›Wildheit‹, englische Texte usw.) beschränkte – Verbote von Jazz gab, blieb er dennoch mehr oder weniger verdeckt während der gesamten Nazi-Zeit präsent, auch wenn weiterhin der Mythos eines NSSwingverbots in der Jazzrezeption kursiert (vgl. Erdl/Nassauer 2002: 192-200, Fackler 2015). Dies gilt nicht nur für die staatlich finanzierten Jazzbands, die für Propaganda-Radiosendungen zur Ausstrahlung im Ausland benötigt wurden und daher der deutschen Bevölkerung in der Regel unbekannt waren, sondern auch für die Unterhaltung der deutschen Truppen. Zudem unterstand dieser Bereich direkt dem Oberkommando der Wehrmacht, das – zur Motivation der Truppen und möglicherweise aufgrund teils eigener musikalischer Präferenzen – eine besonders liberale Musik- und Tanz-Politik verfolgte (vgl. Kater 1995: 226f.). Doch selbst der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda und Leiter der Reichskulturkammer Joseph Goebbels, der auch die Ausstellung Entartete Musik 1938 in Düsseldorf zu verantworten hatte, agierte vergleichsweise liberal, teils aufgrund gesellschaftlichen Drucks, teils aus eigener Überzeugung (vgl. ebd.: 204f., 330f.). Auch wenn ab 1935 ein Verbot für »Niggerjazz« im Rundfunk existierte, allzu ›wilde‹ Spielweisen (mit ›gestopften‹ Trompeten, exaltierten Gebärden, grotesken Tänzen) Strafen nach sich ziehen konnten und die Hamburger »Swing-Jugend« massiv verfolgt wurde, ist der Jazz »von den Nazis nie durch Gesetz verboten« worden, und beim »Erlaß des Reichssendeleiters Eugen Hadamovdky« handelt es sich um das »einzig reale Jazz-Verbot« in der Zeit von 1933 bis 1945. Dagegen existierten von »1936 bis 1944 […] in Deutschland ein knappes Dutzend Hot-Clubs bzw. Jazz- oder Swing-Clubs, in denen sich die Elite der damaligen Jazzliebhaber zusammenfand« (Lange 1997: 391, 397; Hervorh. i. Orig.). Insgesamt scheint zudem die Grenze zwischen Schlager und Jazz oft derart unscharf gewesen zu sein, dass eine wirksame Kontrolle unmöglich wurde. Und auch in Anbetracht der ungebrochenen Popularität des Jazz und als wesentlicher Faktor der nationalsozialistischen Unterhaltungsindustrie – von der Tanzveranstaltung bis zum Unterhaltungsfilm – hatten die





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ideologischen Hardliner einen schweren Stand. So sind in der Nazi-Zeit Unterdrückung und Verfolgung, Tolerierung und sogar Förderung des Jazz eng miteinander verwoben; das Bild gestaltet sich extrem uneinheitlich, auch wenn die grundsätzliche kulturpolitische Richtung nie in Frage stand. Ein besonders eklatantes Beispiel stellt der Musikfilm Hallo Janine mit Marika Rökk als Janine und Johannes Heesters als Graf René dar, der im Mai 1939 in die deutschen Kinos kam und einerseits (nach Angabe von ›www.filmpor tal.de‹) bereits im Juli von der Nazi-Zensur mit einem Jugendverbot versehen und als »nicht feiertagsfrei« klassifiziert wurde, andererseits im selben Jahr sowohl polnisch und italienisch synchronisiert werden sollte: im ersten Fall für die Zeit nach dem bereits geplanten Einmarsch in Polen, im zweiten Fall für die Biennale in Venedig, was organisatorisch nicht funktionierte (vgl. Hobsch 1998: 100). Das Lexikon des internationalen Films fasst die wesentlichen Punkte knapp zusammen: »Eine junge Revue-Tänzerin schafft trotz vielerlei Intrigen den Aufstieg und gewinnt nach einigen Irrungen und Wirrungen einen Grafen als Ehemann. Sympathisch unterhaltendes Revue-Lustspiel, naiv und voller Pathos, doch flott und gut gespielt.« (Lux 1985: 2224) Die zeitgenössischen Kritiken lobten bereits die durchweg hohen schauspielerischen Leistungen, vor allem der Hauptdarstellerinnen und -darsteller; besonders die in Budapest aufgewachsene Marika Rökk habe, so hieß es im Film-Kurier, »der amerikanischen Konkurrenz« etwas voraus: »den burschikosen Schalk im Nacken, den sprudelnden Charme und nicht zu vergessen das Paprika im Blut« (zit. nach Hobsch 1998: 101). Damit liefert dieser Film, wie die üppige Ausstattung bei Kostümen und Kulissen sowie der illustre Kreis der Akteure vor und hinter der Kamera nahelegen, ein Paradebeispiel für die Nazi-Unterhaltungsindustrie, die während des Zweiten Weltkriegs unter Hochdruck und in dezidierter Konkurrenz zum amerikanischen Unterhaltungsfilm produzierte (vgl. Jockwer 2005). Die in der Rezeption bisher weitgehend übersehene propagandistische Dimension offenbart sich im ausufernden Finale mit seinem mehr als impliziten, eindrucksvoll inszenierten Kulturkampf der Musik- und Tanzkulturen, der zugleich die Widersprüchlichkeit der nationalsozialistischen Jazz-Rezeption evident werden lässt. Dort hat es Janine nach zahlreichen Intrigen und buchstäblich in letzter Sekunde geschafft, die Hauptrolle im neuen Musical zu bekommen, das auch für den Komponisten Pierre den künstlerischen Durchbruch bedeutet. Dieses Finale besteht in der etwa elfminütigen pompösen Aufführung des zu Beginn des Films komponierten und dann immer wieder angespielten berühmten Schlagers Musik! Musik! Musik!, inszeniert mit aufwendigen Kulissen und Kostümen, mit Orchester und Tänzerinnen und dem berühmt gewordenen Refrain »Ich brauche keine Millionen, mir



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fehlt kein Pfennig zum Glück, ich brauch nur deine Liebe und Musik, Musik, Musik«. Mit dem Aufziehen des Vorhangs ertönt die Melodie (1:15:15), gut dreißig Sekunden später beginnt der Gesang (1:15:50). Eineinhalb Minuten später (1:17:20) beginnt eine längere Instrumentalpassage mit einer aufwendigen Tanzchoreographie und vor allem einem eindrucksvollen Stepptanz Marika Rökks (1:17:50), auch über die Klaviere hinweg (1:19:00), in den die Tänzerinnen schließlich einstimmen (1:19:25). Eine Minute später tauchen sechs befrackte Männer am oberen Bühnenrand auf (1:20:25), zusammen mit Janine, die eine glänzende (goldene?) Rassel spielt; wenig später (1:20:40) erscheinen dort zahlreiche Tänzerinnen mit je einer Rassel in der Hand. Dieser Schlager beginnt also als Foxtrott mit eindeutigen Jazzsignalen: Eine dunkelhäutige Pianistin spielt die synkopierte Melodie und improvisiert dazu, es gibt einen langen Stepptanz und eine etwa dreißig Sekunden dauernde, stark rhythmische Passage mit afrikanischen Perkussionsinstrumenten, auch wenn zugunsten einer zwar dynamischen, aber im Rahmen einer gemäßigten Revue auf exaltierte (und damit tatsächlich politisch gefährliche) Tänze verzichtet wird. Den Umschlag dieser musikalischen Inszenierung markiert zunächst – gleichsam als Vorausdeutung – ein in die Perkussionspassage anschwellender, immer pompöser werdender Chorgesang (1:20:45) und schließlich eine eindeutige musikalische Überleitung (1:21:40) in eine unbegleitete Chorpassage (1:21:55) mit einer langsamen Überblendung in ein anderes Bühnenbild, das – mit einer riesigen modernistischen, geschwungenen Showtreppe und mit großen Vorhangarrangements an den Seiten und im Bühnenhintergrund – vergleichsweise schlichter als die Jazzpassage eingerichtet ist (1:22:25). In eklatanter Weise geht damit ein fast unmerklicher Übergang vom jazzigen Foxtrott- zum Walzer-Rhythmus einher, d.h. das Lied Musik! Musik! Musik! verwandelt sich von einem swingenden Viervierteltakt einer angeblich ›kulturbolschewistischen‹ Musik- und Tanzkultur mit einem sanften Übergang in einen schwungvollen Dreivierteltakt des ›urdeutschen‹ Walzers, der über eine Dauer von vier Minuten mit einer zunehmenden Zahl von Tänzerinnen und Tänzern vorgeführt wird (bis 1:26:28). Auch wenn – vielleicht bezeichnenderweise – die Foxtrott-Passage etwa doppelt so viel Zeit wie das Walzerfinale einnimmt, inszeniert die nationalsozialistische Filmindustrie mit diesem Finale den Sieg der deutschen Musikund Tanzkultur. Der Film Hallo Janine stellt eine hochpolitische Rücknahme der kulturellen Öffnung in der Weimarer Republik dar, die immer wieder gerade im Gegensatz von afro-amerikanischem Jazz (Ragtime, Shimmy usw.) und ›deutschem‹ Walzer beschrieben worden war. Im Kapitel »Vom Walzer zum Blackbottom« ihres Buchs Auferstehung der Dame formulierte Paula von Reznicek 1928:





314 | I NGO B REUER Das Alpha und Omega unseres Ballsaalprogramms, doch was sage ich – Ballsaal? Überlebter Begriff! »Tanzplatte« ist Ersatz geworden, volkstümlicher. In welcher Stadt, welchem Dorf, welcher Sommerfrische gibt es kein Rondell, kein glühbirnenumflossenes Steinfliesenviereck, kein Parkettrund, das Tag und Nacht vibrieren, dröhnen und zittern muß? […] Die Saxophonfanfaren blasen Alarm. Die Armee der Seidenbeinchen und Baumwollsüße paradiert ausschlagend, die Ohren lauschen verzückt einem mitreißenden Rhythmus, der zum Affekt treibt – berauschend – vergewaltigend. Und so geschieht es … Urwaldmelodien kultivieren moderne Tanzsucht. Bananas, Jazz, Blackbottom sind die Pseudos, die diktieren, und nur als Kontrast, als anmutiger »beau reste« einer beschaulicheren Zeit bleibt – der Walzer! (Reznicek 1928: 138)

So harmlos – als hübsche Reminiszenz alter Zeiten – sahen es aber selbst die Jazzer in der Zeit der Weimarer Republik nicht, da Ernst Křenek im Finale seiner ›Jazz-Oper‹ Jonny spielt auf von 1927 die Hauptfigur auf einem Globus sitzend musizieren ließ, während auf der Bühne die Europäer zu seiner Musik tanzten. Um die Epochenzäsur des Jazz zu markieren, hatte der Verlag jedoch statt der Geige das symbolträchtigere Saxophon als Motiv für das Cover der Buchausgabe gewählt (vgl. Dümling 2015). Und als Reaktion benutzten die Nazis dieses Motiv als Vorlage für das Plakat der Ausstellung Entartete Musik 1938 in Düsseldorf (vgl. Ziegler 1938), denn diese Oper galt den Nationalsozialisten nicht nur (oder nicht so sehr) als Einbruch einer vermeintlichen afrikanischen Wildheit in das zivilisierte Europa, sondern vielmehr als Paradigma des zu bekämpfenden ›Kulturbolschewismus‹. Im Jahr 1943 schrieb Carl Hannemann in der Zeitschrift Musik in Jugend und Volk: In der Schlußszene der Jazzoper »Jonny spielt auf« von Ernst Krenek, dem Schwiegersohn des Juden Gustav Mahler, dreht sich auf der Bühne langsam ein fast den ganzen Bühnenraum ausfüllender Globus. Auf dem Globus steht der Neger Jonny und spielt [auf] seiner Geige. Unten um den Globus herum, also zu Füßen des Negers, tanzt die weiße Rasse Jazz. Der Schlußgesang heißt: »So spielt Jonny auf zum Tanz. Es kommt die neue Welt übers Meer gefahren mit Glanz und erbt das alte Europa durch den Tanz.« (Hannemann 2015: 49)

Bei Křenek heißt es unmittelbar davor: »Die Stunde schlägt der alten Zeit, die neue Zeit bricht jetzt heran. Versäumt den Anschluß nicht, die Überfahrt beginnt ins unbekannte Land der Freiheit.« (Křenek 1926: 51) Jazz erscheint in der Weimarer Republik, aber auch wieder in der Zeit nach 1945, geradezu als Paradigma von Demokratie und Freiheit, von Avantgarde und Moderne, nicht selten



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auch als Einbruch des ›Authentischen‹ in die im Niedergang befindliche Zivilisation (vgl. Anglet 2002; Rasula 2004; Breuer 2011; Nicholson 2014: 179-185, 205-240). Hans Janowitz, der vor allem als Drehbuchautor des Films Das Cabinet des Dr. Caligari bekannt blieb, schrieb 1925 in seinem Roman Jazz: Die Zeit hat ihren Offenbach gefunden. Er hieß: Jazz! So hieß der Ausdruck der Zeit, die sich den Lehrsatz unseres lächerlichen Psychiaters: ›Du sollst Caligari werden‹ auf ihre Art zu Herzen genommen hatte. Die Welt war nicht gerade Caligari, aber Jazz war sie geworden, gründlich Jazz geworden. (Janowitz 1999: 8)

Für Janowitz produziert diese Musikrichtung eine neue Ästhetik und eine neue Form des Romans (vgl. ebd.: 112), stellt aber auch grundsätzlich das Symbol einer neuen Zeit dar. Der Jazz als Soundtrack des modernen Lebensgefühls blieb durch die gesamte NS-Zeit populär; Repressalien und Verbote blieben stets auf einzelne Bereiche (Radio) und Regionen beschränkt, nahmen bedrohliche Maße erst dort an, wo, wie z.B. bei der massiv verfolgten Hamburger Swing-Jugend, politischer Widerstand vermutet wurde. Ansonsten lässt sich eine teils subversive, teils staatlich erwünschte, aber auch nicht konsequent betriebene ›Verdeutschung‹ der ausländischen Musik- und Tanzkulturen beobachten: »Unauffällig änderte man die Etiketten: One-Step verwandelte sich vorübergehend in ›Marsch‹, Tango in ›Wechselschrittler‹, Foxtrott in ›Zweitakter‹.« (Eichstedt/ Polster 1985: 73f.) Generell kam vor allem die neue Swing-Welle mit ihrer größeren Tanzbarkeit und ihrer geringeren Körperlichkeit einer solchen Anpassung theoretisch entgegen, auch wenn die nationalsozialistischen Jazzfeinde immer wieder Benny Goodmans jüdische Herkunft als Argument für ihre Verdammung des vermeintlich jüdisch-bolschewistischen Jazz nutzten.

2. O SKARS L IEBE ZUM J AZZ : P ETER A LEXANDER , G ÜNTER G RASS U . A . Gefördert wurde die Popularität des Jazz nach 1945 nicht nur durch den gezielten amerikanischen Kulturimport als Maßnahme zur Re-Demokratisierung der Westzonen, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sich hier teilweise bruchlos eine populärkulturelle Tradition fortsetzen ließ, die die Schlagerkultur der Nachkriegszeit mitbestimmte. In den 1950er Jahren blieb dennoch ein Bewusstsein für den Jazz als Zeichen nun nicht mehr der Moderne, aber doch der ›neuen Zeit‹ bestehen, was sich in besonderem Maße in einer ganzen Serie von Schla-





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gerfilmen mit Peter Alexander manifestierte. Hierzu zählten unter der Regie von Paul Martin Liebe, Tanz und 1000 Schlager (1955) mit Caterina Valente, die in den 1950er/60er Jahren in den U.S.A. Karriere als Jazzsängerin machte, und unter der Regie von Geza von Cziffra Musikparade (1956), Die Beine von Dolores (1957) und Wehe, wenn sie losgelassen (1958) mit Bibi Johns. Diese spielte auch in Liebe, Jazz und Übermut (1957) mit, in der der spätere Hauptdarsteller der berühmten TV-Serie Der Kommissar Erik Ode Regie führte und eine Nebenrolle als Musikagent spielte; in einem höchst konservativen Musikinternat setzt der neue Musiklehrer und Hobbyjazzer, gespielt von Peter Alexander, neben dem Klassik- auch ein Jazzprogramm durch und sichert dadurch zudem den weiteren Erfolg des Internats. Alte Zeit (Klassik) und neue Zeit (Jazz) treten hier in Konkurrenz, in der jedoch nicht der zeitgenössische Jazz, also der Bebop, siegt, sondern der verjazzte Schlager (bzw. der zum Schlager abgesunkene Swing). Die Bedeutung des Jazz für den Unterhaltungsfilm zwischen Weimarer und Bonner Republik ist ein Desiderat der Forschung, wahrscheinlich weil spätestens in den 1960er Jahren der Jazz angesichts des rasanten Aufstiegs der Soul- und Beatmusik (aber auch aufgrund der neuen, zunehmend nicht-tanzbaren und elitäreren Jazzrichtungen) seine Position als eine zentrale Richtung der Musik- und Tanz-Kultur verloren hatte und auch der jazzige Unterhaltungsfilm der 1930er bis 1950er Jahre mit seiner Revue- und Musicalform sein – allerdings langlebiges – Schattendasein im TV-Sonntagnachmittagsprogramm fristet. Doch nicht nur der Unterhaltungsfilm der 1950er Jahre, der immer wieder dem Jazz als Signum der neuen Freiheit und Prosperität huldigt, zeigt interessante Phänomene. Der Umbruch in eine völlig neue Epoche mit einem radikalen Bedeutungsverlust des Jazz lässt sich an einem zugleich typischen und untypischen Beispiel andeuten: Eine späte Reprise des Kulturkonflikts verschiedener Tänze, wie er im Nationalsozialismus die Musicalfilme mitbestimmte, findet sich wesentlich modifiziert in Günter Grass’ Roman Die Blechtrommel, dessen Verfilmung durch Volker Schlöndorff den oben beschriebenen paradigmatischen Gegensatz von Walzer und Jazztanz noch weiter verschiebt und in seiner Bedeutung geradezu zu verkehren droht. Grass lässt in der berühmten Szene »Die Tribüne« seinen Protagonisten Oskar in die Marschmusik einer Nazi-Kundgebung hineintrommeln und stürzt damit die Veranstaltung schließlich in ein Chaos. Während also die Angehörigen des »Spielmannszuges […] in übelster Landsknechtmanier in ihr sidolingeputztes Blech« bliesen, lässt Oskar »die Knüppel in [s]einen Händen spielen und legte mit Zärtlichkeit in den Handgelenken eine[n] kunstreichen, heiteren Walzertakt« auf seine Trommel (Grass 1980: 102). Auf der Tribüne hört man erste »Lacher«, und »da sangen schon welche mit, oh Do-



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nau« (ebd.), doch endgültig ins Chaos stürzt er den Aufmarsch durch einen Wechsel in Jazzrhythmen: […] und ich wechselte in einen Charleston, »Jimmy the Tiger«, über […]; doch die Jungs von der Tribüne kapierten den Charleston nicht. Das war eben eine andere Generation. Die hatten natürlich keine Ahnung von Charleston und »Jimmy the Tiger«. […] Aber dennoch trommelten, pfiffen, trompeteten die Jungs vom Fanfarenzug und Spielmannszug auf Teufel komm raus, daß es Jimmy eine Wonne war […], daß es die Volksgenossen, die da zu Tausenden und Abertausenden vor der Tribüne drängelten, endlich begriffen: es ist Jimmy the Tiger, der das Volk zum Charleston aufruft. (Ebd.: 103)

Der Walzer wird hier bereits nicht mehr, wie in der Nazi-Zeit eigentlich üblich, als Gegensatz zum Jazz verstanden, sondern nur als erster Schritt einer Auflösung der Nazi-Veranstaltung mit dem Marsch als symbolischer Takt- und Bewegungsform des nationalsozialistischen Militarismus. Grass begreift innerhalb dieser Logik alle Tanzrhythmen als subversiv, so dass mit dem Walzer die Auflösung des Aufmarsches beginnt und anschließend durch den Charleston nur noch eine Steigerung erfährt. So habe Oskar, wie es wenig später in der Blechtrommel heißt, »Marschmusik, auch Choräle in Walzer und Foxtrott umgebogen« (ebd.: 105), während in der Weimarer Republik und Nazizeit die letzten beiden Musikrichtungen als kategorial unterschiedlich aufgefasst wurden. Dies führt bei Schlöndorffs Verfilmung zu der geradezu aberwitzigen Variante, dass die Reihenfolge der beiden Rhythmen, die die Nazi-Versammlung sprengen, umgekehrt wird. Es beginnt mit dem Einsatz von Marschkapellen (59:15), die durchkreuzt werden durch Oskar, der unter der Tribüne sitzt und zunächst beginnt, Synkopen zu trommeln (1:00:00), bis die Nazi-Kapellen offensichtlich – merkwürdigerweise zunächst vor allem melodisch – falsch zu spielen beginnen (1:00:52), bevor die im Gleichschritt nahenden Nazi-Oberen aus dem Takt kommen (1:00:56). Die Nazi-Versammlung wird nun allerdings nicht in einen Jazztanz verfallen, sondern es findet ein weiterer Rhythmus-Wechsel, jetzt zum Walzer statt (1:01:10), in den zunächst die Blaskapelle und die aufgereihte Hitler-Jugend mit ihren zum Hitler-Gruß ausgestreckten Händen verfällt, was bei einem ¾-Takt rhythmisch nicht völlig einleuchten will (1:01:26), bis der komplette Platz Walzer zu tanzen beginnt (1:01:40). Doch wird die Versammlung letztlich weder durch Synkopen noch durch den Walzertakt aufgelöst, sondern durch ein aufziehendes Unwetter (1:02:40). Hier handelt es sich um eine Mischung einerseits einer aus Trivialgenres bekannten Mehrfachmotivierung von Handlungen, andererseits einer politischen Rücknahme des anfangs als subversiv gesetzten Jazz-Signals. Aus dem Kulturkonflikt wird ein Wetterproblem.





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Darüber hinaus wird der Walzer, dessen Sieg im Nazi-Unterhaltungsfilm Hallo Janine zugleich als Sieg der faschistischen Ideologie über den ›Kulturbolschewismus‹ verstanden werden sollte, hier in einer völligen Verkehrung des musikgeschichtlichen Sachverhalts zum anti-faschistischen Rhythmus. Und nicht mehr der Walzer ist das Signum einer abgelebten Zeit, sondern der Marsch – ein Grundgedanke, der sich bereits angedeutet findet in Das ist unser Manifest von 1946/47, in dem Wolfgang Borchert den Jazz in einen paradigmatischen Gegensatz zur Marschmusik gebracht hatte. Jazz und Walzer sind hier keine unüberbrückbaren Gegensätze mehr. Sie verschmelzen in einer nivellierenden Schlagerkultur der Nachkriegszeit, die sich – trotz aller kulturpolitischen Kontroversen und Konflikte – bereits in der Zeit des Nationalsozialismus ausbildet. Die Zähmung des Jazz durch eine oft nur diffuse politische Unterdrückung auf der einen Seite, durch die Revuekultur der nationalsozialistischer Unterhaltungs- und Filmindustrie auf der anderen Seite dürfte nicht nur zur Schlagerkompatibilität im Wirtschaftswunderland Deutschland beigetragen haben, sondern manifestiert möglicherweise auch eine fatale Kontinuität der Geschmackskultur. Die Jazzrhythmen des Schlagers befinden sich im Bereich älterer Stilrichtungen des Jazz, vor allem des Swing, der bereits während der Zeit des Zweiten Weltkriegs große Erfolge erzielte und das Kriterium der Tanzbarkeit erfüllte. Was in der Weimarer Republik (trotz eines oft wenig latenten Rassismus, der mit der Annahme einer zivilisationskritisch gedeuteten, vermeintlich authentischen Jazzkultur verbunden ist) zum Signum einer urbanen freiheitlichen Kultur wurde und damit einer Ablösung vom erdrückenden kulturellen und politischen Vermächtnis des 19. Jahrhunderts dienen sollte, wurde nach 1933 oft genug entweder domestiziert oder lebte in bestimmten Reservaten weiter – beim Film Hallo Janine (und anderen Fällen) in der abstrusen Variante, dass der Film einerseits von der staatlichen Filmindustrie aufwendig und für eine nationale wie internationale Rezeption produziert, andererseits mit einem Jugendverbot und zudem einem Aufführungsverbot für WochenendVorstellungen versehen wurde: wahrscheinlich weil darin die Künstler-, Musiker- und allgemein die Revueszenerie mit den für damalige Verhältnisse nicht allzu üppig bekleideten Frauen und lockeren Sitten als potentiell moralisch verderblich für die Jugend angesehen worden sein dürfte – zudem sind der Jazz und seine Tänze, wenn auch nicht die sogenannten ›grotesken‹ Tänze, aber doch der Stepptanz, trotz Sieg der Walzerkultur am Filmende an keiner Stelle negativ gezeichnet. So wird zwar einerseits der angeblich durch jüdische Profitsucht verursachte Einbruch afro-amerikanischer Musik- und Tanz-Kultur in Europa tendenziell domestiziert und propagandistisch nutzbar gemacht, andererseits bleibt die Vorstellung einer permanenten Gefährdung bestehen, die nach 1945 den Mythos



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des Jazz als antifaschistischer Widerstandskunst und des Jazztanzes als Befreiung des Körpers von dessen nationalsozialistischer Unterdrückung durch den Marschschritt zu begründen half. Bebop, Cool Jazz und Modern Jazz, um nur drei Stilrichtungen des Jazz in den 1940er und 1950er Jahren zu nennen, markieren dann die endgültige Abkehr des Jazz von der Tanzkultur und zunehmend auch von rassistischen bzw. kolonialen Klischees sowie die zunehmende Etablierung auch als Kunstform bzw. EMusik. Und sie finden Eingang in eine völlig andere Filmkultur – den französischen Film noir, den italienischen Neorealismus und andere ›avantgardistische‹ Filmströmungen ab den 1950er Jahren – und entsprechend auch in andere literarische Jazz-Kulturen.

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Waka Waka (This Time for Africa): Kritische Perspektiven auf eine popkulturelle Inszenierung von Hybridität C HRISTOPHER Q UADT

So sicher wie das offizielle WM-Maskottchen, die offiziellen WM-Tröten und die offizielle WM-Bratwurst kommt alle vier Jahre die offizielle WM-Hymne übers Land. […] [E]in offizieller WM-Song weist grundsätzlich nur ein Qualitätsmerkmal auf: Text und Rhythmus müssen möglichst einfach sein. Das Ding soll ja ein Welthit werden. Eine simple Mitsing-Melodie, dazu Bum-Bum-Gestampfe und ein paar Ethno-Elemente, die entfernt an den Austragungsort des Turniers erinnern. Shakiras offizieller WM-Song Waka Waka erfüllt diese Mindestanforderungen. […] Zentrale Botschaft des Waka-waka-Wahnsinns: hey, wir sind alle Afrika. Echt, hey? Wieso ist Shakira, eine Pop-Multimillionärin mit Wohnsitz auf den Bahamas, Tochter eines libanesisch-amerikanischen Vaters und einer spanisch-kolumbianischen Mutter, eigentlich Afrika? (Arnu 2010)

WM-Songs haben keinen guten Ruf im Feuilleton, wie dieses Zitat von Titus Arnu aus seiner Stilkritik: Shakiras WM-Song. Der Waka-Waka-Wahnsinn für das Süddeutsche Zeitung Magazin belegt. Zum einen fundiert Arnu in diesem Artikel einen allgemeinen Kulturpessimismus hinsichtlich der Funktion populärer Musik 1 im Kontext sportlicher Großveranstaltungen, hier der Fußball-

1

Innerhalb meines Verständnisses des Begriffs der ›populären Musik‹ beziehe ich mich auf die Ausführungen Peter Wickes zur Kulturgeschichte der Popmusik (2001). Die Begrifflichkeit des Populären möchte ich in diesem Aufsatz in Anlehnung an Rudolf Helmstetter als eine Steigerung der öffentlichen Zugänglichkeit nennen, indem nur das populär werden kann, »was publik ist« (Helmstetter 2007: 44) und gekauft werden kann. Dabei geht es mir bei der Verwendung der Begriffe nicht darum, ›Popmu-



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Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika, zum anderen offenbart er ein simpel erscheinendes Rezept, das einen WM-Song in den Augen des Autors zum Welthit werden lasse: Einfacher Text, einfacher Rhythmus und einfache Melodie, dazu »ein paar Ethno-Elemente, die entfernt an den Austragungsort des Turniers erinnern«, unterlegt mit einem »Bum-Bum-Gestampfe«, und schon habe man Shakiras WM-Song Waka Waka (This Time for Africa). Doch wenn die aus Kolumbien stammende Popsängerin, »mit Wohnsitz auf den Bahamas« (ebd.), zusammen mit einer in Südafrika gegründeten Band namens Freshlyground den offiziellen Song für die Fußball-WM in Südafrika präsentiert, der Elemente der Sprachen Englisch, Spanisch und Xhosa2 mit einem Remake des Liedes Zangalewa der Band Golden Sounds aus Kamerun aus dem Jahr 1986 verbindet, das auf ›Fang‹, einer in West-Afrika verbreiteten Sprache, gesungen wird, stellt sich die Frage: Ist das Rezept für eine globale Wir-sind-Afrika-Botschaft wirklich so simpel, wie es Arnu dem Leser glauben machen will? In meinem Beitrag werde ich diesen offiziellen WM-Song im Hinblick auf die Zusammensetzung der angesprochenen kulturellen Elemente betrachten: Denn diese Zusammenführung in einem scheinbar hybriden Musikgut kann, so meine These, als eine ökonomische Strategie zur Vermarktung eines Songs verstanden werden, der sowohl als Werbung für die Weltmeisterschaft als auch als eigenes Stück der Künstlerin Shakira funktionieren soll. Hier wird angeknüpft an eine positive Konnotation von Hybridität zur Darstellung kultureller Diversität. Hybridität wird dabei auf eine Weise inszeniert, die die einzelnen kulturellen Elemente gleichgestellt erscheinen lässt, diese aber eigentlich von der westlichen Musikindustrie angeeignet werden im Sinne einer »Re-Kolonialisierung« (Ha 2010: 233). Neben dem Verständnis von Hybridität werde ich nachfolgend sowohl die ökonomische als auch die werbende Funktion von populärer Musik herausstellen. Mein Ziel ist es, über eine Kontextualisierung des Songs Waka Waka (This Time for Africa) sowie eine Analyse seiner inhärent kulturellen Elemente insbesondere kritische Perspektiven auf eine solche popkulturelle Inszenierung von Hybridität zu generieren.

sik‹ in eine normativ-ästhetische Abgrenzung zur sogenannten ›E-Musik‹ zu setzen oder sie als einen Genre-Begriff darzustellen. 2

Xhosa, auch isiXhose genannt, wird in Südafrika gesprochen, dort besonders in den ehemaligen Gebieten der Kapprovinz und im Gebiet der Transkei (vgl. Klose 2001: 521).



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1. »H YPE

UM

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H YBRIDITÄT «

Wie Kien Nghi Ha in seinen Studien3 zur Hybridität (2005, 2006, 2010) herausstellt, zeige sich seit der Jahrtausendwende ein fortdauernder ›Hype‹ um diesen Begriff, der erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts als Fachterminus in der Biologie verwendet wurde. Immer häufiger, spätestens seit der Erfindung des Hybridautos, sei vor allem das Adjektiv ›hybrid‹ auch im Alltag anzutreffen (vgl. Ha 2005: 17f.). Innerhalb der postkolonialen Theorie ist der Begriff insbesondere durch Homi K. Bhabha in The Location of Culture (1994) geprägt worden, der Hybridität in Bezug auf Konstruktionen von kultureller Identität verwendet. Sein Verständnis von Hybridität geht einher mit einer Dekonstruktion der einseitigen Verteilung von Macht und somit auch einer Möglichkeit des kulturellen Widerstands durch die Unterdrückten, wie beispielsweise durch das Prinzip der ›Mimikry‹. Während seine Überlegungen sich weitgehend auf das Verhältnis zwischen Kolonisierern und Kolonisierten konzentrieren, stellt sich die Frage, wie man diese Auffassung auf den Bereich der Ökonomie übertragen kann, welches für ein Verständnis populärer Musik konstitutiv ist. Denn gerade im Bereich der Popkultur könne Hybridität nach Ha als eine ökonomische Strategie des Spätkapitalismus gesehen werden, »um als global seller ein heterogenes Publikum anzusprechen.« (Ha 2005: 72; Hervorh. i. Orig.) Im Musikgeschäft sieht Ha eine Tendenz zu einer beinah unüberschaubaren Hybridisierung, bei der durch Techniken wie Mixing, Sampling etc., aber auch durch die Vermischung unterschiedlichster Musikrichtungen eine Gefahr der »Re-Kolonialisierung der gesellschaftlichen Ränder« festzustellen sei, bei der die »ethnisierte Marginalität« nur als »Rohstofflager« diene (Ha 2010: 233). Eingebunden in eine »wachsende Ökonomie der Ethnisierung« (Ha 2005: 80) werde versucht, mithilfe ethnischnationaler Symbole sowohl die zugehörige Ethnie als Zielgruppe anzusprechen als auch »Produkte für den ›weißen‹ Mainstream mit einem kulturellen Mehrwert auszustatten.« (Ebd.) Diese »Re-Kolonialisierung« dürfe nicht als Macht-

3

Kritik gegenüber Has Arbeiten liefert Thomas Schwarz in einer Rezension, in der er an Has Dissertationsschrift Unrein und vermischt (2010) die relativ schmale Basis der inhaltlich ausgewerteten Quellen und die fehlende Rekonstruktion des Konzepts der Hybridität anhand von Primärtexten bemängelt (vgl. Schwarz 2012). Jedoch, und dies ist gerade im Kontext dieses Beitrages wichtig, lobt er den Fokus »auf die Gefahr einer kulturindustriellen Vereinnahmung des Postkolonialismus« (ebd.) und dabei speziell der Hybridität. Da ich mich auf das von Ha herausgestellte »kulturindustrielle Verwertungsinteresse« (Ha 2010: 40) von Hybridität konzentrieren werde, halte ich die Beschäftigung mit seinen Arbeiten trotz der genannten Kritik für sinnvoll.





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aneignung sichtbar sein, sondern müsse innerhalb der postmodernen4, spätkapitalistischen Kulturindustrie stattdessen als Innovation verkauft werden können (vgl. Ha 2005: 54, 77f.). Wenn Ha Innovation als eine »Generierung von Neuem« (ebd.: 54) beschreibt, ist dieses Verständnis sichtlich gebunden an die Funktionsweise des Kapitalismus: Zur wirtschaftlichen Entwicklung sucht der Unternehmer nach stetig neuen Kombinationen von Produktionsfaktoren, zu denen auch die Produktion von neuartigen Produkten gehört, um sich auf dem Markt gegenüber anderen Unternehmern einen Vorteil zu verschaffen und damit den Gewinn zu maximieren (vgl. Schumpeter 1964). Die Wirksamkeit von Hybridität, »Vermischungseffekte positiv aufzuladen und als wirksame Werbebotschaft einzusetzen« (Ha 2006: 77), werden dabei innerhalb der Produktion von musikalischen Gütern durch die Musikindustrie instrumentalisiert, um zum einen die Produktionszyklen zu beschleunigen, weil so stets neuartige musikalische Werke erzeugt werden können, und zum anderen um existierende Märkte zu erweitern (vgl. Ha 2005: 77f.). Die von Ha dargestellte Form der Hybridität ist weniger geprägt von einem Charakter der ›Transkulturalität‹, wie Wolfgang Welsch das Prinzip des heutigen Weltzustands als »transkulturelle[ ] Identitätsnetze […], die nicht mehr durch nationale oder geographische Vorgaben definiert sind« (Welsch 2005: 63), überwiegend positiv beschreibt. In Has Überlegungen stehen mehr die oben genannten kritischen Aspekte im Mittelpunkt, bei denen die Strategien der Hybridisierung nicht zu einer Form der »kulturellen Bereicherung« (Ha 2005: 14) genutzt werden: Stattdessen zielen sie auf eine möglichst ›multikulturelle‹ Inszenierung, obwohl die kulturellen Zuschreibungen dabei zu ethnischen Stereotypen verkommen. Daher möchte ich mich auch im Zuge der später folgenden Analyse für den Begriff der ›Inszenierung‹ starkmachen: Wenn in Waka Waka (This Time for Africa) eine Vielzahl kultureller Elemente zum Ausdruck kommen und hierdurch der Anschein eines Prozesses der sonst positiv konnotierten Hybridität entsteht, handelt es sich um eine ökonomische Strategie, bei der »nationale oder geographische Vorgaben« (Welsch 2005: 63) nicht aufgelöst werden, sondern weiterhin bestehen bleiben. Zur kritischen Betrachtung dieser Strategie bedarf es daher einer Verortung der musikalischen Ware auf dem kapitalistischen Markt, die deutlich macht, inwieweit innerhalb der ökonomischen Verwertungslogik Hybridität inszeniert werden muss, um Mehrwert zu generieren.

4

Postmodern bedeutet für Ha in diesem Zusammenhang vor allem »Fortschrittsoptimismus, Technikbegeisterung, Wertewandel und eine grenzenlose Populärkultur« (Ha 2010: 223). Dieses Verständnis ist eng verknüpft mit den Überlegungen Steven Bests und Douglas Kellners zum postmodern turn in den Cultural Studies (vgl. Ha 2006).



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2. H YBRIDITÄT

ALS ÖKONOMISCHE

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S TRATEGIE

Für den Musikethnologen Julio Mendívil ist der Kauf einer CD mit dem Kauf von Nahrungsmitteln oder Kleidung vergleichbar, da einige Menschen auch den Tonträger als einen »nützlichen« (Mendívil 2008: 57) Gegenstand ansehen würden. Die CD besäße für den Käufer »objektive Qualitäten«, die mit einer »Reihe von Normen, Ideen und Wünschen verbunden sind, die nicht trennbar sind von dem, was wir Ethnologen ›Kultur‹ nennen.« (Ebd.) Mendívil beschreibt hier sowohl die Grundlage für eine Analyse der oben genannten ›kulturellen Elemente‹ von Waka Waka (This Time for Africa) als auch die Problematik, mit der sich der Veranstalter der Fußball-WM, die ›Fédération Internationale de Football Association‹ (FIFA), bei der Auswahl eines offiziellen Songs möglicherweise konfrontiert sieht: Es soll ein Song sein, der überall konsumierbar, dazu leicht verständlich ist und aufgrund der Thematik oder gewisser Elemente in Verbindung mit der Veranstaltung gebracht werden kann. Zudem sollte er bei einer global verteilten Käuferschicht die oben genannten »objektive[n] Qualitäten« hervorrufen, um als nützlicher Gegenstand für eine breite Gruppe von unterschiedlich kulturell geprägten Adressaten zu gelten und dadurch zum Kauf zu animieren. Mendívil hält den Konsum von musikalischer Ware im Spätkapitalismus daher nicht für einen »kulturneutralen« Akt, da diese Güter für »konkrete, sozial und kulturell bestimmte Menschen produziert« würden (ebd.: 56). Wie für den Anthropologen Marshall Sahlins stelle Konsum für ihn einen »Ausdruck von Verhältnissen [dar], die bereits von einer anderen Art des Denkens gesetzt […] wurden« (Sahlins 1981: 243). Man konsumiere Waren, deren eingeschätzte Nützlichkeit »durch kulturell gelernte Bedeutungssysteme bedingt« ist (Mendívil 2008: 56). Übertragen auf die Überlegungen meines Beitrags muss bei Hybridität in Waren auf dem kapitalistischen Markt somit zwangsläufig eine Inszenierung erfolgen, weil sie bewusst auf genannte Bedeutungssysteme hin produziert wird und nicht als Dekonstruktion dieser Strukturen funktionieren kann. Auch Yvonne Spielmann plädiert in Hybridkultur (2010) dafür, sich innerhalb der globalen Medienkultur nicht auf einen Eindruck von kultureller Pluralität zu verlassen: Ausgehend von »einem durch westliche Vorgaben determinierten und standarisierten Kulturzusammenhang, der mit Einflüssen aus anderen Kulturen vorzugsweise adaptierend verfährt« (ebd.: 64), kämen zwar Elemente in hybriden Formen von Medien wie »Literatur, Theater, Malerei, Fotografie, Film, Internet etc.« vor (ebd.: 49), die eine kulturelle Vielfalt ausdrücken können. Die vorgebliche kulturelle Pluralität mit Unterscheidungskriterien wie »lokal und global« entstehe jedoch aus einer »marktstrategische[n] Anreicherung, um einen größeren internationalen Absatz zu erzielen.« (Ebd.: 66) Hieraus ergibt





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sich eine weiterführende Problematik, wenn die global agierende Medienindustrie die Dichotomie von westlichen und nicht-westlichen Elementen nicht auflöst, sondern diese vielmehr erhalten bleibt und dadurch konsumierbar wird (vgl. Resetarits 2013: 31). Eine Akzeptanz der sich gegenüberstehenden Elemente soll dabei laut Spielmann möglichst verhindert und reguliert werden: »Differenzen, die den Dialog befördern und mittels hybrider Kontaktmöglichkeiten die Sicht auf Veränderungen eröffnen können« (ebd.: 67), sind nicht erwünscht, da die Dichotomie bestehen bleiben müsse, um sie weiterhin kontrollieren und neue Waren erzeugen zu können. Ein Song kann beispielsweise seine kulturelle Vielfalt offen zeigen, was auch zur »markstrategische[n] Anreicherung« (ebd.: 66) gewünscht ist, um ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Eine Verhandlung neuer Bedeutungen und womöglich eine Dekonstruktion der bisherigen Machtposition der westlichen Musikindustrie soll hingegen vermieden werden, damit die inszenierte Hybridität weiterhin zu ökonomischen Zwecken genutzt werden kann. In Waka Waka (This Time for Africa) erhält die inszenierte Hybridität zudem noch eine werbende Funktion als offizieller Song der Fußball-Weltmeisterschaft 2010, die eingebettet ist in eine wachsende Verzahnung von populärer Musik und Werbung.

3. P OPULÄRE M USIK

ALS

W ERBUNG

Das Zusammenspiel von populärer Musik und Werbung wird von Timothy D. Taylor in The Sounds of Capitalism (2012) analysiert. Angefangen bei der Konzeption der ersten Radioprogramme in den späten 1920er Jahren, bei denen Firmen einzelne Stunden im Musikprogramm wie die ›Lucky Strike Hour‹ sponsern (vgl. Taylor 2012: 16f.), zeigt Taylor auf, wie sich die Verknüpfung von Industrie und Musik im Laufe der Jahrzehnte und speziell nach den schwindenden Verkaufszahlen von musikalischen Waren seit der Jahrtausendwende entwickelt hat. Alleine aufgrund der immer geringer gewordenen Sendezeit im Radio oder dem Verschwinden von Musikvideos auf Sendern wie MTV sieht sich die Musikindustrie (Labels, Künstler, Agenten, etc.) gezwungen, neue Wege der Distribution zu suchen. Ein entsprechendes Medium findet sie in der Fernsehwerbung, die deutlich häufiger gesendet wird und ein breiteres Publikum bietet. Diese Hinwendung zur Werbung habe nach Taylor Einfluss auf die Produktion von populärer Musik genommen: Heutzutage nähmen Werbeagenturen weitgehend die frühere Rolle eines Radio-DJs ein, da sie nicht nur die ihnen bekannten Stücke auswählen, sondern auch gezielt nach neuer Musik suchen wür-



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den. Ein Komponist einer New Yorker Musikproduktionsfirma spricht in diesem Zusammenhang davon, dass es keine Gegenkultur mehr gäbe, sondern nur noch »culture« (ebd.: 217), die von kommerziellen Interessen geschaffen werde. Taylor formuliert diese Produktion von Kultur durch die Werbeindustrie weiter aus: It is clear that people in the advertising music industry are not simply making (or choosing) music that they and/or their clients believe to be appropriate for a particular commercial, but that they are attempting to affect listeners – not just trying to get them to make a purchase, but on a deeper level. (Ebd.: 239)

Die Werbeindustrie sei somit nicht nur daran interessiert, ein bestimmtes Produkt mithilfe passender Musik zu verkaufen, zudem würde sie eine »production of culture« (ebd.: 240) anstreben, deren Regeln und Inhalte sie dabei selber bestimmen kann. Auch Niklas Luhmanns Ausführungen über Werbung in Realität der Massenmedien (1996) machen deutlich, mit welchen Mitteln der Werber beispielsweise ein Musikstück benutzen kann, um das Ziel seiner Werbung zu erreichen: Gerade weil der Werber sein Interesse an Werbung offenlegt, kann er um so ungenierter mit dem Gedächtnis und den Motiven des Umworbenen umgehen. Der bewußten Täuschung sind rechtliche Grenzen gezogen, aber das gilt nicht für die eher übliche Beihilfe zur Selbsttäuschung des Adressaten. Mehr und mehr Werbung beruht heute darauf, daß die Motive des Umworbenen unkenntlich gemacht werden. Er wird dann erkennen, daß es sich um Werbung handelt, aber nicht: wie er beeinflußt wird. (Ebd.: 86)

Übertragen auf das Beispiel des offiziellen Songs zur Fußball-Weltmeisterschaft ergibt sich somit für die Werber eine Strategie zur Verschleierung eigentlicher Interessen, bei der u.a. das Konzept der Hybridität instrumentalisiert wird: Das musikalische Stück kann im Rahmen der Berichterstattung über die Fußball-WM ausgestrahlt5 oder auch in anderen Situationen mit der Veranstaltung in Verbindung gebracht werden, wobei es nicht direkt als Werbung deklariert wird. Im Lied wird schließlich, wie die folgende Analyse zeigen wird, nicht explizit eine

5

Das Intro zum ›ZDF-WM-Studio‹ wird beispielsweise musikalisch mit Waka Waka (This Time for Africa) unterlegt. Visuell springt der Einspieler zwischen exotischen Aufnahmen der südafrikanischen Küste hin und her, in denen Löwen, Elefanten, Antilopen, Fußballspieler in einer Savanne und eine Menschenmenge zu sehen sind, die mit Landesfahnen ausgestattet zum Soccer City Stadion in Johannesburg laufen (vgl. BasicMasterReloaded 2011).





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Weltmeisterschaft besungen; eher steht hierbei die Relation zum Kontinent Afrika im Mittelpunkt, dessen Name bereits im Titel zu finden ist und auf den sich die im Song präsentierten kulturellen Elemente, wie beispielsweise die Sprachen Fang oder Xhosa, scheinbar beziehen sollen. Durch die Bezeichnung als ›Official Song of the FIFA World Cup 2010‹ kann die »getarnte Werbung« (Luhmann 1996: 89) jedoch ›enttarnt‹ werden, was sie aber nicht ihres Zweckes enthebt. Denn innerhalb ihrer Werbefunktion soll die Verbindung von Shakiras Song und der Fußball-WM beim Adressaten bestehen bleiben und dies auch innerhalb der Berichterstattung über die Veranstaltung. Der Song wird zu einem akustischen Markenelement der Weltmeisterschaft, das wiedererkannt werden will, aber dennoch weiterhin im Interesse der Künstlerin als ihr eigenes Werk auch abseits der Veranstaltung funktionieren soll.6 Mithilfe der inszenierten Hybridität kann der Song nicht nur durch die kulturellen Elemente, die in Verbindung mit afrikanischen Ländern gebracht werden können, auf die Weltmeisterschaft verweisen, sondern auch für Shakira als ein innovatives Werk gelten, das unterschiedliche kulturelle Elemente zu vereinen scheint; innovativ steht hierbei vordergründig als Synonym für ›einfallsreich‹, wodurch – aus kritischer Perspektive – ökonomisch problematische Mechanismen der Re-Kolonialisierung verschleiert werden. Dabei erweist sich die werbende Funktion des Songs für die Fußball-WM als weitaus komplexer. Dass die Werbung für die Fußball-WM u.a. zu einer Werbung für Südafrika eingesetzt wird, ist vor allem in der größtenteils europäischen Presseberichterstattung auf Kritik gestoßen, worauf ich nachfolgend näher eingehen will.

4. D IE F U SS BALL -W ELTMEISTERSCHAFT 2010 IN DER P RESSEBERICHTERSTATTUNG Bereits nach der Vergabe der Fußball-WM 2010 an Südafrika durch die FIFA wird spekuliert, ob das Land für die Durchführung einer solchen globalen Groß-

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Dabei besitzt nicht nur der Hörfunk eine tragende Funktion, der das Lied nach Veröffentlichung und natürlich gerade während der WM häufig spielte. Auch das Internet und in diesem Fall speziell das Videoportal ›YouTube‹, auf dem sich Adressaten das Musikvideo ansehen können, nimmt ein wichtiges Werbemedium ein. So wurde diese Möglichkeit seit Veröffentlichung des Videos am 04. Juni 2010 häufig genutzt: Mit mehr als 1,1 Milliarden Aufrufen (Stand Januar 2016) steht es auf Platz 22 der Liste der ›Most Viewed YouTube Videos of All Time‹ (vgl. MyTop10Videos 2016).



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veranstaltung geeignet sei.7 In Deutschland kritisiert besonders Uli Hoeneß, damaliger Präsident des FC Bayern München, die Wahl: »Ich war nie ein großer Freund einer WM in Südafrika oder überhaupt auf dem afrikanischen Kontinent, solange Sicherheitsaspekte nicht zu hundert Prozent geklärt sind« (zit. n. Spiegel Online 2010).8 Der Anschlag am 08. Januar 2010 auf den Bus der togolesischen Fußballnationalmannschaft während ihrer Fahrt zum ›African Cup of Nations‹ in Angola ist dabei Auslöser einer Debatte, die in deutschen Printmedien insbesondere vom Journalisten Stefan Hermanns auf die Sicherheit der deutschen Nationalmannschaft sowie der Zuschauer während der Fußball-WM bezogen wird, und dass trotz der knapp 1000 Kilometer Luftlinie zwischen den Grenzen Südafrikas und Angolas (vgl. Hermanns 2010). Besonders die problematische Einschätzung von Afrika als ein homogener Kulturraum äußert sich hier in der Übertragung der vermeintlich unsicheren Lage eines Landes auf den kompletten Kontinent. Neben der Frage nach der Sicherheit zeigt sich in den Medien eine Tendenz zur Thematisierung einer verbreiteten Skepsis beim Zielpublikum: Bisher ist die Nachfrage alarmierend, besonders bei den Vorrundenspielen. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) wurde in der am Mittwoch ausgelaufenen Verkaufsrunde für die Tickets seiner Vorrunden-Spiele gegen Australien, Ghana und Serbien nach SZ-Information nur um die tausend Tickets los – für alle drei Matches. (Kistner 2010)

7

Auch im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien werden die ehemaligen Spekulationen zur Sicherheit und Kompetenz der Veranstalter in Südafrika zum Vergleichswert für die Sicherheitslage im neuen Austragungsland, die Helmut Spahn, ehemaliger Sicherheitschef des DFB, »teilweise […] problematischer« (Ludwig 2014) als in Südafrika sieht. Zur weiterführenden kritischen Betrachtung solcher Spekulationen und der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft im Allgemeinen empfehle ich Barbara Unmüßigs Artikel »Brasilien: Fußball und Demokratie« (2014) und »Fußball-Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika: Profitieren die Armen?« (2010).

8

Speziell im Vereinsumfeld des FC Bayern München verteidigt der 2010 noch aktive DFB-Vizepräsident Franz Beckenbauer die Vergabe nach Südafrika und benennt dabei eine Widersprüchlichkeit in Bezug auf eine Kritik aus den Lagern der europäischen Fußballvereine: »Südafrika ist keine Fehlentscheidung. 2006 wäre es zu früh gewesen für eine WM dort. Aber mit dem Vorlauf bis 2010 haben sie die Probleme in den Griff bekommen. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nirgendwo. Die hatten wir in Deutschland 2006 auch nicht […] Europäische Clubs bedienen sich gerne mit den besten afrikanischen Spielern. Aber eine WM in Afrika wollen sie nicht. Das passt nicht zusammen.« (zit. n. stern.de 2010)





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So würden nicht nur im deutschen Nationalverband weniger Tickets verkauft werden, auch in den einzelnen Ländern Afrikas selbst sei die Nachfrage nach Karten für die einzelnen Spiele geringer als bei vorausgegangenen FußballWeltmeisterschaften. Dies läge den Medienberichten zufolge insbesondere an den zu hohen Ticketpreisen, die für viele der Bewohner afrikanischer Länder zu teuer seien und sie zudem die Bestellmöglichkeiten über das Internet mit der Zahlungsmöglichkeit einer Kreditkarte nicht nutzen könnten, weil die meisten keine besäßen (vgl. ebd.; Smith 2010). Danny Jordaan, Chef des Organisationskomitees der Fußball-WM, stuft speziell die geringe Nachfrage der südafrikanischen Bevölkerung für Spiele der eigenen Nationalmannschaft, der ›Bafana Bafana‹, als problematisch ein: This will be the first time in World Cup history that the host nation are [sic] not topping the ticket sales list […]. South Africa has more supporters of England than Bafana […]. It will be tragic if this trend continues and I appeal to local fans to come out and support their country. (zit. n. Smith 2010)

Daher ist die FIFA, so lässt sich schlussfolgern, im Interesse einer profitablen WM gezwungen, einerseits den ›westlichen Blick‹ auf Südafrika durch die Herausstellung der Sicherheit und Attraktivität der Veranstaltung zu korrigieren und andererseits ein globales Repräsentationsangebot zu schaffen, bei dem sich auch die Zielgruppe aus den Ländern des südlichen Afrikas angesprochen und gleichzeitig nicht vereinnahmt fühlen soll. Meiner These nach kann der Song Waka Waka (This Time for Africa) für diese Zielsetzung eine zentrale Rolle spielen, indem mithilfe einer scheinbaren Hybridität ein direkter Bezug zu Afrika durch den Titel sowie auf die Veranstaltung selbst durch die Bezeichnung als Official Song of the FIFA World Cup 2010 inszeniert werden kann. Dieser angeblich kulturellen Weltoffenheit haften jedoch weiterhin koloniale Machtstrukturen an, die Ha mit dem Begriff der »Re-Kolonialisierung« (2010: 233) beschreibt und sich bereits in anderen popmusikalischen Werken zeigen.

5. R E -K OLONIALISIERUNG

IN DER

P OP -M USIK

Der Jurist und Journalist Dibussi Tande hat in seinem Artikel Undermining African Intellectual and Artistic Rights: Shakira, Zangalewa & the World Cup Anthem (2010) dargelegt, wie bekannte Künstler auf dem internationalen Musikmarkt Werke von Künstlern aus afrikanischen Ländern plagiieren. Was Tande dabei »Undermining African Intellectual Property« (ebd.) nennt, ist ähnlich zu



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Has Begriff der Re-Kolonialisierung zu sehen, der, wie bereits ausgeführt, das musikalische Produkt in seiner positiven Aufwertung durch die Bezeichnung als ›hybrid‹ kritisch in den Blick rückt. Stücke von Künstlern aus afrikanischen Ländern können demnach als »Rohstofflager« (Ha 2010: 233) zur Umsetzung dieses Zieles dienen. So kopiert etwa James Brown im Jahr 1975 mit seiner Single Hustle!!! (Dead on it) Melodie und Beat aus Hot Koki, ein Stück des Künstlers André-Marie Tala aus Kamerun, den er zuvor auf einer Tour durch Kamerun kennenlernte. Ein Einverständnis über die Nutzung von Talas Musikgut holt Brown im Vorfeld seiner Produktion jedoch nicht ein und wird danach erfolgreich von Tala und seinem Label Fiesta Records verklagt. Auch Michael Jackson kopiert in Wanna Be Startin‘ Something (1982) das Werk eines Musikers aus Kamerun, indem er den Rhythmus und die prägnante Wortfolge »Ma ma se, ma ma sa, ma ma coo sa« aus Manu Dibangos Song Soul Makossa (1972) ohne sein vorheriges Einverständnis nutzt. Obwohl es zu einer außergerichtlichen Einigung kommt und Jackson zugibt, die genannten Elemente kopiert zu haben, erlaubt er 2007 der Künstlerin Rihanna in ihrem Song Don’t Stop The Music die oben genannte Wortfolge im Refrain zu verwenden. In der Auflistung der ›Credits‹ wird wieder nur Michael Jackson genannt, Manu Dibango bleibt unerwähnt (vgl. Tande 2010). Bei Waka Waka (This Time for Africa) sieht die Ausgangslage ähnlich aus: 1985 veröffentlicht die Band Golden Sounds, deren Mitglieder zum Großteil als Wachpersonal des kamerunischen Präsidenten arbeiten, einen Song namens Zangalewa. Dieser basiert auf einem in Kamerun bekannten parade song der kamerunischen Armee und avanciert zu einem Hit für Golden Sounds, der über die Grenzen Kameruns hinaus bekannt wird. 25 Jahre später wird der damalige Bandleader John-Paul Ze Bella von Bekannten darauf aufmerksam gemacht, dass Shakira eine Version von Zangalewa veröffentlicht habe. Wie auch bei den Fallbeispielen zuvor werden Ze Bella sowie die übrigen Mitglieder weder von Shakira noch von ihren Produzenten oder von ihrem Label Sony Music um Erlaubnis gefragt. Aufgrund der Popularität von Zangalewa jedoch, speziell in Teilen Afrikas, berichten immer mehr Menschen im Internet darüber, dass Waka Waka (This Time for Africa) nicht alleine aus der Feder Shakiras stamme, weshalb sich 2010 die FIFA und Sony Music gezwungen sehen, sowohl die Bandmitglieder Ze Bella, Emile Kojidie und Eugene Victor Dooh Belley in die Credits des Songs aufzunehmen als auch sich finanziell mit ihnen zu einigen (vgl. Tande 2010).





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6. D IE I NSZENIERUNG VON H YBRIDITÄT IN W AKA W AKA (T HIS T IME FOR A FRICA ) Ende April 2010 ernennt die FIFA zusammen mit Sony Music Entertainment den Song Waka Waka (This Time for Africa), »written and co-produced by global superstar Shakira« (Sony Music 2010), zum offiziellen Song der FußballWeltmeisterschaft 2010. Dabei wird die südafrikanische Band Freshlyground, mit der dieser Song produziert wurde, in der Pressemitteilung anfangs nur als die Gruppe genannt, die am 11. Juli 2010 in Kapstadt zusammen mit Shakira bei der Abschlusszeremonie auftreten werde. Shakira allerdings räumt ein, dass der Song gemeinsam mit der Band entstanden sei: »African music is so inspiring and is poised to take its place on the global pop culture stage. I was proud to be able to work with one of South Africa’s most acclaimed groups, Freshlyground.« (Ebd.) Die Hierarchie zwischen Shakira als federführende Künstlerin und der lediglich nebenbei erwähnten Zusammenarbeit mit Freshlyground bleibt jedoch bestehen, sodass keineswegs der Eindruck eines gleichwertig produzierten Songs entsteht. Weiterhin offenbart Shakira an dieser Stelle eine problematische Einschätzung von »[a]frican music« (ebd.), indem sie von einer global afrikanischen Musik spricht und somit keineswegs zwischen der Musik einzelner afrikanischer Länder differenziert. Die Pressemitteilung zeigt zudem, wie der Song als Aushängeschild der Veranstaltung inszeniert wird. Joseph Blatter, damaliger Präsident der FIFA, sieht ihn als »the personification of the African rhythm and identity and [it] sets the pace for this unique event« (ebd.); für Shakira selbst repräsentiert er »an event that has the power to unite and integrate, and that’s what this song is about.« (Ebd.) Im Zuge der angesprochenen Re-Kolonialisierung ist ein weiterer Satz auffällig: »The chorus borrows from a favorite Cameroonian marching chant made popular by the group Golden Voices.« (Ebd.) Dabei wird in dieser offiziellen Pressemitteilung nicht nur der Name der Band Golden Sounds falsch benannt, zudem wird die Sachlage des Plagiats beschönigt: Denn nicht nur der Refrain gleicht dem Original, der Song ist in seiner harmonischen Abfolge identisch mit Zangalewa.9 Auch das Zustandekommen der Zusammenarbeit zwischen Shakira und Freshlyground kann als Re-Kolonialisierung bezeichnet werden. Peter Cohen, der Schlagzeuger der Band, äußert sich in einem Interview mit John Scharges dazu wie folgt:

9

Hierbei wird die Reihenfolge der Akkorde D-Dur, A-Dur, h-Moll und G-Dur das komplette Stück hindurch beibehalten.



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This opportunity fell into our lap – when we were in New York making Radio Africa and we landed up working with her [Shakiras; C.Q.] producer, it was total fluke… He was three floors down and he came down and said to our producer – I’m working on this track for Shakira and I need something South African … And our guy said – well I’ve got this band right here, […]. (Scharges 2010)

Die Band ist somit nur deshalb in den Fokus des Interesses gerückt, weil man »something South African« benötigt. Weniger die Qualität oder das bisherige Schaffen der Band steht im Vordergrund, sondern ausschließlich die ethnische oder in diesem Fall die nationale Zugehörigkeit. Weiterhin wird die untergeordnete Rolle der Band bei der Betrachtung des mit der Pressemitteilung der FIFA veröffentlichten Pressefotos offensichtlich: Shakira (in Farbe) ist mittig, groß und im Vordergrund positioniert, während die Mitglieder von Freshlyground (in S/W) in wesentlich kleinerer Größe den Platz hinter Shakira einnehmen (vgl. FIFA 2010). Aushängeschild des Songs ist somit eindeutig die bekannte Popmusikerin Shakira, während Freshlyground vor allem »something South African« sind (Scharges 2010). Bei der Betrachtung der einzelnen kulturellen Elemente im Song fällt zu Beginn des Stückes eine eindeutige Fokussierung auf das Themenfeld ›Krieg‹ auf: You’re a good soldier Choosing your battles Pick yourself up and dust yourself off And back in the saddle You’re on the frontline Everyone’s watching You know it's serious, we're getting closer This isn’t over The pressure is on You feel it But you’ve got it all Believe it When you fall, get up, oh oh

Diese Kriegs-Metaphorik, die häufig in der Berichterstattung über Fußball genutzt wird (vgl. Küster 1998; Siefert 2002), bleibt der einzige Bezug, die der





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Song zur Sportart herstellt. Dabei spricht das lyrische Ich speziell einen einzelnen »soldier« an und motiviert ihn zum Kampf. Die komplette Strophe steht allerdings zunächst in englischer Sprache. Erst im Refrain erfolgt eine Öffnung dieser sprachlichen Dominanz: (Refrain) Zamina mina zangalewa ‘Cause this is Africa Zamina mina eh eh Waka waka eh eh Zamina mina zangalewa This time for Africa

Im Refrain, dem Original Zangalewa entliehen, wird mit einem weiteren sprachlichen Element versucht, eine Relation des Songs zum Austragungsort der WM herzustellen, die aber mithilfe ungenauer Bezüge erfolgt: Die hier gesungene Sprache Fang ist nicht in Süd-, sondern in Zentralafrika verortet; zudem rekurrieren die Verse »This is Africa« und »This time for Africa« auf den gesamten Kontinent, nicht aber auf Südafrika. Ebenso undifferenziert gestaltet sich der musikalische Beginn des Liedes: Mithilfe klanglicher Repräsentationen, die der Musikwissenschaftler Adam Krims »›musical poetics‹« (Krims 2000: 27) nennt, wird ein musikalischer Bezug zu stereotypen Afrika-Vorstellungen hergestellt. So erklingt ein mit Hall und einem Basston unterlegter Schrei, der an Tarzan erinnert und auf typisch eurozentrische Afrikabilder und koloniale Topoi rekurriert, die den afrikanischen Kontinent als ›wilden Urwald‹ imaginieren. Mit dem Erklingen des basslastigen Beats (ab 0:06) setzt zudem eine tiefe männliche Stimme ein, die stimmhafte Geräuschlaute über den Beat singt. Die stereotypen Vorstellungen werden dabei mithilfe dieser beiden musical poetics um afrikanische Stereotype wie ›Sinnlichkeit‹ und ›Rhythmus‹ erweitert, die in der tiefen männlichen Stimme auf der einen und dem harmoniearmen Beat auf der anderen Seite zum Ausdruck kommen.10 Ähnliche Merkmale erkennt Julio Mendívil bereits in seiner Betrachtung

10 Ähnliche Zuschreibungen von stereotypen Vorstellungen zeigt Edward Said bereits in Orientalism (1978) für einen im Westen kreierten orientalischen Raum auf: So würden dem Orient Eigenschaften zugesprochen wie »eccentricity, […] backwardness, […] silent indifference, […] feminine penetrability […] [or] supine malleability« (Said 1978: 206), die ihn als Ort darstellen, der Hilfe vom Westen benötige: »Thus whatever good or bad values were imputed to the Orient appeared to be functions of



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des Schlagers Wenn die Trommel ruft von Erik Silvester aus dem Jahr 1976. Unter dem Aspekt der musical poetics macht er in diesem Stück »›rufende[ ]‹ Trommeln, einen Tarzanschrei und […] tiefe[ ], männliche[ ] ›afrikanische[ ]‹ Stimmen in ›afrikanischer‹ Sprache« aus (Mendívil 2006: 310), die das Lied aus eurozentrischer Perspektive im ›imaginären Afrika‹ verorten sollen. Wenn Mendívil hier das Attribut ›afrikanisch‹ in Verbindung mit stereotypen Merkmalen wie den Trommeln, der männlichen Stimme oder dem Schrei aus dem Urwald bringt, so bezieht er sich auf die eben besagten Klischees, die dem Hörer vermitteln sollen, er befände sich in Afrika respektive an dem Ort, den er für Afrika hält. Dass sich diese Formen der musical poetics seit Silvesters Schlager aus den 1970er Jahren nicht geändert haben, ist ein weiterer Beleg dafür, wie kolonial der Blick auf Afrika in der Popmusik auch im Jahr 2010 weiterhin ist. Zusätzliche kulturelle Elemente, die im Zusammenhang mit der inszenierten Hybridität stehen, zeigen sich im Verlauf des Liedes explizit auf sprachlicher Ebene: So wird in einer Zeile mit »Y vamos por todo« (dt.: Wir werden gewinnen) neben Fang und Englisch noch Spanisch in das Lied integriert als eine direkte Verbindung zu der in Argentinien geborenen Sängerin Shakira.11 Während Fang durch den aus Zangalewa entliehenen Refrain begründet werden kann, erfolgt dieser kurze Wechsel ins Spanische willkürlich. Lediglich eine mögliche Dominanz der englischen Sprache wird dadurch vermieden, indem aufgrund der direkten Ansprache des lyrischen Ichs nicht mehr nur eine englischsprachige Person adressiert, sondern der Raum für mögliche Adressaten durch das Spanische insgesamt erweitert wird. Dabei wirken die vom Englischen abweichenden sprachlichen Elemente wie eine kulturelle Ausstaffierung. Erst durch die von Zolani Mahola, Lead-Sängerin von Freshlyground, gesungenen Strophe erhält der Song ein sprachlich hybrides Moment:

some highly specialized Western interest in the Orient.« (Ebd.) In Anlehnung an Saids Orientalismus-Konzept erkennt Michael Hofmann im europäischen Afrika-Diskurs einen ›Afrikanismus‹, der sich vom Orientalismus hingegen dadurch unterscheidet, dass »den Afrikanern eine genuin eigene ›Kultur‹ nicht zugesprochen wird, sondern diese vielmehr als mit der Natur verbundene und selbst Natur gebliebene Menschen vorgestellt werden.« (Hofmann 2012: 9) Diese Einschätzung deckt sich mit den herausgestellten musical poetics, die Afrika als ›wilden Urwald‹ lautmalerisch imaginieren. 11 Neben dieser Fassung, in der die englische Sprache dominiert, hat Shakira zusätzlich eine spanische Version mit dem Titel Waka Waka (Esto Es Africa) veröffentlicht. Hier wird der englische von einem neuen spanischen Text abgelöst, der bis auf eine Umschreibung der Kriegsmetaphorik innerhalb der ersten Strophe gleichbleibt.





338 | C HRISTOPHER Q UADT Abuya lamajoni piki piki mama, one a to z Athi susa lamajoni piki piki mama, from east to west Sathi waka waka ma eh eh Waka waka ma eh eh Zonk’ izizwe mazibuye… ‘Cause this is Africa

Hier werden Xhosa, Englisch und Fang auf eine Weise sprachlich verbunden, die alle Elemente gleichwertig erscheinen lässt, sodass die dargestellte kulturelle Vielfältigkeit nachvollziehbar auf das Fazit der letzten Zeile bezogen werden kann: »‘Cause this is Afrika«. Doch auch dabei wird Hybridität lediglich inszeniert, so ist der von Mahola gesungene Teil schließlich derart gering im Vergleich zu Shakiras, dass an dieser Stelle keineswegs von einem gleichwertigen Verhältnis gesprochen werden kann. Somit liefert die südafrikanische Sängerin mit Xhosa letztendlich den einzigen sprachlichen Bezug zu Südafrika im Song, sie bleibt ansonsten unscheinbar im Hintergrund. Während eine nicht ausgeglichene Varianz an sprachlich kulturellen Elementen auszumachen ist und die musikalischen Elemente einen Bezug zu einem stereotypen Afrika herstellen, orientiert sich die Harmoniegestaltung, wie bereits gezeigt, durchweg am Original Zangalewa. Ironischerweise beschreibt Shakira in einer im Zuge der WM stattfindenden Pressekonferenz die Situation, die sie zur Komposition des Songs inspirierte, als einen zufälligen und spontanen Moment: Bei einem Spaziergang auf ihrem Grundstück seien ihr plötzlich Text und Musik eingefallen (vgl. Kike Giles en el Mundial 2010: 02:27-03:15). Obwohl sich bereits im Vorfeld der WM finanziell mit Golden Sounds geeinigt und die Ähnlichkeit zu Zangalewa zugegeben wurde, wird hier eine kreative Inspiration der Künstlerin inszeniert, um so das Plagiat und die damit verbundene Machtaneignung bzw. Form der ›Re-Kolonialisierung‹ – um in der Terminologie Has zu bleiben – zu kaschieren, sodass kulturelle Elemente weiterhin als Hybridität verschleiert und als Innovation verkauft werden können. So gehen sowohl diese Aussage von Shakira als auch die vorher herausgestellten Ergebnisse mit der eingangs ausgeführten Überlegung einer popkulturellen Inszenierung von Hybridität einher, die mit einer Vielzahl an kulturellen Elementen ein großes Spektrum an interkulturellen Repräsentationsmöglichkeiten für ein breites Publikum bietet. Diese Elemente werden zwar herbeizitiert und in den Song eingearbeitet, aber die Dichotomie aus scheinbar westlichen und nicht-westlichen Elementen bleibt bestehen – und wird erst bei einer kritischen Analyse sichtbar. Was als neuer, innovativer und kreativer Song in Erscheinung tritt, bleibt letztendlich die Auffrischung eines älteren Songs, der ohne



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vorheriges Einverständnis der Urheber als Rohstofflager herhalten muss und dem diese sogenannte Innovation aufgesetzt wird. Dass Waka Waka (This Time for Africa) nicht nur während der Fußball-Weltmeisterschaft beispielsweise in Deutschland populär war12, sondern auch weiterhin in den YouTube-Charts so hoch platziert ist, belegt nicht zuletzt den Erfolg einer ökonomischen Strategie, die Interkulturalität am Beispiel von Hybridität in den Dienst einer kapitalistischen Verwertungslogik stellt.

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12 Der Song steht in den Jahrescharts 2010 auf Platz 3 (vgl. Hits 2010 Deutschland).





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Antikolonialismus oder Postkolonialismus? Uwe Timms Roman Morenga und die Germanistik A XEL D UNKER /C HRISTOF H AMANN

Die folgenden Überlegungen gelten einerseits Uwe Timms Morenga von 1978, andererseits den an den postkolonialen Studien geschulten literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Roman. Steht zunächst der Aspekt der Stimme und damit die Frage ›Wer spricht?‹ zur Diskussion, geht es anschließend um Fragen von ›Konstruktion vs. Essentialismus‹ und den Stellenwert einer ›postkolonialen Lektüre‹ für einen Roman wie Morenga. Gemeinsame These der folgenden Überlegungen ist, dass sich die im ›Dazwischen‹ zu verortende Figurenposition, insbesondere des Protagonisten Gottschalk, nicht auf das Erzählen übertragen lässt. Daher wird in Morenga auch keine implizit postkoloniale Poetik realisiert, sondern eine antikoloniale, d.h. eine, die einer binären Logik verpflichtet bleibt. Dieser kritischen Einschätzung zum Trotz halten wir Uwe Timms Roman für einen herausragenden der deutschen Gegenwartsliteratur, der auf ästhetisch innovative Weise früh ein Thema, das des deutschen Kolonialismus, aufgegriffen hat, welches ansonsten im deutschsprachigen Raum literarisch intensiv erst ab den 1990er Jahren bearbeitet worden ist.

1. P ARTEI ERGREIFEN . Z UR F RAGE DER P OLYPHONIE

IN

M ORENGA

C HRISTOF H AMANN Im Mikro- und im Makrokosmos der Texte Uwe Timms werden hinsichtlich ihrer Topologie Merkmale gegensätzlicher Strukturen miteinander in Beziehung gesetzt. Für die Horizontale ist die Aktualisierung eines Raums zwischen Nähe und Ferne, für die Vertikale die eines Raums zwischen Oben und Unten die auf-



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fälligste. Der vertikale Zwischen-Raum wird vielfach durch unterschiedliche Realisierungen des Lexems ›schweben‹ in Szene gesetzt. Der Roman Rot beginnt mit dem Satz: »Ich schwebe.« (Timm 2001: 9) Am Beispiel meines Bruders setzt mit der ersten Erinnerung des Ich-Erzählers an seinen älteren Bruder ein: »und dann dieses Gefühl, ich werde hochgehoben – ich schwebe.« (Timm 2003: 9) In Der Mann auf dem Hochrad überkommt Schröter während des Sturzes nach der ersten gelungenen Hochradfahrt das »Gefühl, als schwebe er« (Timm 2002: 18). In Halbschatten verbindet die Fliegerin Marga von Etzdorf das Fliegen mit dieser Art und Weise des ›Dazwischenseins‹: »Wie sehr es bei mir der Lust entspringt zu schweben. Ich hatte als Kind viele Flugträume, die keineswegs mit Angst verbunden waren, ganz im Gegenteil, alles Schwere blieb zurück.« (Timm 2008: 165) Und – last but not least – wird in Morenga das Lexem ›schweben‹ an zwei Stellen aktualisiert (Timm 2000: 416, 442), die den Roman beschließende Ballonfahrt Gottschalks verortet ihn ebenfalls in einem quasi schwebenden Verweilen zwischen Himmel und Erde. Zu den Merkmalen dieses ›schwebenden Verweilens‹ gehören erstens weniger Aktivität als vielmehr vor allem Passivität, die in Der Mann auf dem Hochrad an »Glück« und »Mühelosigkeit« (Timm 2002: 18), in Am Beispiel meines Bruders an »Lachen, Jubel, eine unbändige Freude« (Timm 2003: 9), in Halbschatten an ›Schwerelosigkeit‹ und in Rot an »Überblick« (Timm 2001: 9) und »Frieden« (ebd.: 10) gekoppelt ist. Zweitens umfasst dieses Verweilen stets einen nur mehr oder weniger langen Moment, an dessen Ende das Scheitern, ein physischer bzw. psychischer Schmerz, ja der Tod steht. Literaturwissenschaftlichen Studien zufolge lässt sich für Morenga das semantische Merkmal des ›Schwebens‹, welches insbesondere dem Protagonisten Gottschalk zugerechnet werden kann, auch für das Erzählen reklamieren. Als Indiz für diesen Transfer wird u.a. Gottschalks Fahrt mit dem Ballon angeführt, die mit den Attributen ›zweckfrei‹ und ›Spiel‹ belegt und die auch als »Kunst, ein Kunstwerk« (Timm 2000: 442) bezeichnet wird. Die heterodiegetische Erzählinstanz erzähle von einem unvollendeten, weil stets vom Scheitern bedrohten ›schwebenden‹ Zwischenraum aus, der es ihr erlaube, Möglichkeiten eines, wie Uwe Timm in seiner Paderborner Poetikvorlesung von 1993 schreibt, ›schönen Überflusses‹ zu inszenieren (vgl. Timm 1993: 8). Dieses erzähltheoretische Argument stützt die vor allem in Bezug zu Morenga wiederholt vorgebrachte These, in diesem Roman werde eine implizit postkoloniale bzw. ›schwebende‹ Poetik realisiert, welche hybride Räume erzählter Welten konstituiert. D.h. strikte Grenzen zwischen dem Raum der Nama und dem der Deutschen würden zu einem ›third space‹ (Bhabha) erweitert, in dem die Differenzen zwischen den Kulturen nicht ausgeglichen oder harmonisiert, sondern immer wieder neu verhandelt werden.



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Allerdings offenbart eine differenziertere erzähltheoretische Lektüre die Fragwürdigkeit dieser Argumentation ebenso wie die der fast schon zum Konsens avancierten These. Zwar vermag sich auf der Ebene der Figurenkonstellation zumindest Gottschalk mittels seiner ›Wolkenpoesie‹ zwischen den an und für sich disjunkten Räumen der Deutschen und der Nama zu situieren. »Gottschalk«, heißt es im Roman, »hat offenbar den Versuch unternommen, ein Beschreibungssystem zu entwickeln, das jene Bewegung und Vielfalt in sich aufnimmt, ohne wiederum zu einer Nomenklatur zu erstarren.« (Timm 2000: 415) Aber auf der Discours-Ebene bleibt eine binäre Logik dominant, für die sich eine, wie es in der Erzählforschung verschiedentlich heißt, ›gottähnliche‹ Erzählinstanz (vgl. Lahn/Meister 2000: 68; Strasen 2004: 120) verantwortlich zeichnet. Diese These soll in den hier anschließenden Ausführungen dahingehend erweitert werden, dass es sich bei Morenga nicht um einen postkolonialen, sondern um einen antikolonialen Roman handelt, ja dass im Sinne Gayatri Chakravorty Spivaks von einem ›kolonialistischen Wohlwollen‹ (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 60) sowie einem ›unbeabsichtigten Eurozentrismus‹ (vgl. ebd.: 72) gesprochen werden muss. Dazu gilt es, zunächst zwei Aspekte vorzustellen, die in der postkolonialen Erzähltheorie im Rahmen der Kategorie der ›Stimme‹ verstärkt diskutiert werden. Anschließend gehe ich detaillierter auf Morenga ein. Für die postkoloniale Erzähltheorie, die wichtige Anregungen der feministischen Erzähltheorie verdankt (vgl. Allrath/Gymnich 2002: 35; Strasen 2004: 113), sind hinsichtlich der Stimme insbesondere die Situierung der Erzählinstanz und das Zurücktreten der Erzählerstimme zugunsten einer Stimmenvielfalt bzw. Polyphonie von Bedeutung. Mit der Situierung korrelieren Fragen nach dem Geschlecht (feministische Erzähltheorie) bzw. nach der kulturellen Verortung (postkoloniale Erzähltheorie), Fragen, die von der klassisch strukturalistischen Erzählforschung als »unerheblich oder gar unsinnig angesehen« wurden (Strasen 2004: 132; vgl. Wagner 2006: 142), weil es sich bei Erzählinstanzen um Textstrukturen und keine Personen handle. Postklassischen Erzähltheorien zufolge aber sind nicht nur Figuren-, sondern auch Erzählstimmen situiert, d.h. sie können geschlechtlich, kulturell, sozial, politisch etc. verortet werden, und aus ihrer Situiertheit gewinnen sie unterschiedliche Glaubwürdigkeit und diskursive Autorität (vgl. Wagner 2006: 145). Diese zu rekonstruieren, gerade auch bei verborgenen Instanzen, stellt postklassischen Forschungen zufolge eine wichtige Aufgabe der Erzählforschung dar. An diese Situierung der erzählenden Stimme schließt sich eine weitere Aufgabe an, die in der klassischen Erzähltheorie ebenfalls unberücksichtigt bleibt. Strukturalistische Narratologen wie z.B. Gérard Genette interessieren sich nicht für eine Verknüpfung der textanalytischen Kategorie der Stimme mit ethischen bzw. politischen Problemen. Von der Frage »Wer spricht« gelangen sie nicht zu





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der Frage »Wer darf für wen und mit welcher Legitimation sprechen?« (Ebd.: 142) Andere ErzähltheoretikerInnen wie z.B. Birgit Wagner betonen jedoch diesen »doppelten Status der Stimme« (ebd.: 141): Zu diesem Status gehören erstens ›eine Stimme im Sinne einer narratologischen Äußerung‹ (textanalytisch) und zweitens ›eine Stimme im Sinne einer Repräsentation‹ (ethisch/politisch) (vgl. ebd.: 145). Die Frage, wer eine Stimme hat und somit über etwas sprechen kann oder darf, ist eine zentrale, die im Rahmen von ›Stimme im Sinne einer Repräsentation‹ gestellt werden muss. Doch eine zweite ist nicht weniger von Bedeutung: Es geht hinsichtlich der stimmlichen Repräsentation auch darum, »wer für wen sprechen darf, wer sich anmaßen darf oder das Recht besitzt, für die stumme Andere oder den stummen Anderen zu sprechen (zu schreiben).« (Ebd.; Hervorh. i. Orig.) In den Diskussionen um das Problem der Fürsprache in literarischen Texten fällt immer wieder der Name Gayatri Chakravorty Spivak bzw. der Titel ihres zuerst 1988 publizierten Aufsatzes »Can the Subaltern speak?«. Darin untersucht sie historische und theoretische, nicht aber literarische Texte und Fallbeispiele, weshalb in der erzähltheoretischen Forschung die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit des Transfers der Spivak’schen Erkenntnisse von historiographischen/theoretischen Texten auf literarische Texte erörtert wird; dieses Problem sparen wir hier aus. Auf die titelgebende Frage »Can the Subaltern speak?« antwortet Spivak: »Die Subalterne kann nicht sprechen« (Spivak 2008a: 106), was zu vielen Missverständnissen geführt hat. Denn Spivak meint mit ›nicht sprechen können‹ keinesfalls den Verlust von Sprache, sondern die Unmöglichkeit, einen Sprechakt vollständig zu vollziehen. »Die Subalterne kann nicht sprechen«, das meint also, dass sogar dann, wenn die Subalterne eine Anstrengung bis zum Tode unternimmt, um zu sprechen, dass sie sogar dann nicht fähig ist, sich Gehör zu verschaffen – und Sprechen und Hören machen den Sprechakt erst vollständig. (Spivak 2008b: 127; vgl. Nandi 2006: 131)

Das Nicht-Gehörtwerden hängt mit ihrem Status als Subalterne zusammen, ein Terminus aus Antonio Gramscis Gefängnistagebüchern (vgl. Steyerl 2008: 8f.), der nicht mit dem Begriff des Proletariats gleichzusetzen ist. Denn die Subalternen wohnen nach Spivak – im Unterschied zum Proletariat – nicht nur auf dem Land; vor allem sind sie von jeglichen »Mobilitätslinien« (Spivak 2008b: 121), wie Spivak im eben zitierten Interview verdeutlicht, abgeschnitten, im wörtlichen ebenso wie im übertragenen Sinn: Sie können zum einen wie die Repräsentanten des Proletariats nicht reisen, zum anderen sind sie aber im Unterschied zum Proletariat eine heterogene, politisch unorganisierte Ansammlung von Menschen, bei der nicht von einer zusammenhängenden Gruppe gesprochen werden



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kann.1 Im Kontext der bestehenden Machtverhältnisse ist es ihnen nicht möglich, ihre vereinzelten ›Stimmen‹ wahrnehmbar zu machen (vgl. Spivak 2008a: 81). Dass Subalterne nicht sprechen können, heißt somit, dass es ihnen nicht gelingt, sich erfolgreich zu repräsentieren (vgl. Kerner 2012: 103ff.). Wenn nun zu einer mächtigen Repräsentation Fähige (etwa westliche Intellektuelle, Europäer, Angehörige der indischen Oberschicht etc.) für die Subalternen zu sprechen beginnen, dann, so Spivak, entspreche dies oft einem kolonialen Akt, in dem die Subalternen erneut zum Schweigen gebracht werden. Das ist auch im Hinblick auf die subalternen Nama in Morenga der Fall, wie später zu sehen sein wird. Ausgehend u.a. von dem historischen Beispiel des Verbots der indischen Witwenverbrennung durch die englischen Kolonialherren 1826 zeigt Spivak die Problematik eines europäischen Für-Sprechens für die Subalternen, in diesem Fall die indischen Witwen, auf. Keineswegs verteidigt sie dieses Ritual. Vielmehr zeigt sie, wie die Subalternen zwischen den lokalen frauenfeindlichen Traditionen und dem generellen Rassismus der Briten keine Möglichkeit der Artikulation hatten – sie wurden doppelt zum Schweigen gebracht. Die Inder feierten die Frauen als Heldinnen und verhießen ihnen einen über Selbstopferung gewonnenen Subjektstatus, die Briten instrumentalisierten sie in ihren Diskursen über das »heidnische Ritual« (Spivak 2008a: 88) in Indien. Spivak sieht in diesem Prozess ein, wie sie schreibt, »doppelt in den Schatten gerückt« werden (ebd.: 59). Sie bleibt aber nicht bei historischen Vorfällen stehen: Auch in der Theorie der Gegenwart wie dem Poststrukturalismus, dem Dekonstruktivismus und den postcolonial studies finde sich eine solche Anmaßung, die Anmaßung, für den subalternen Anderen sprechen zu können. Dass dies unmöglich ist, und dass der Andere – zumeist die Andere – dabei immer verstummen muss, bildet den Kern ihres Aufsatzes. Die These mag radikal, ja vielleicht auch zu radikal sein, weil damit jede Fürsprache über Subalterne vergeblich ist und somit letztendlich jeder politisch-protestfähige Einspruch. Doch deutlich wird auch das Problem, dass jede Fürsprache immer auch eine Vereinnahmung, eine Kolonisierung der Subalternen bedeutet. Für die postklassische Erzählforschung ergibt sich nach Spivak die Frage, ob in literarischen Texten ein Sprechen jenseits der Vereinnahmung prinzipiell möglich ist oder zumindest eines, das vereinnahmendes Sprechen zumindest als solches zu markieren und damit offenzulegen vermag – sie gibt darauf zwei Antworten: Ein solches Sprechen ist möglich, wenn sich die Position der Erzählinstanz, ihre Situierung, als instabil erweist und die von ihr etablierte Ordnung der erzählten Welt irritiert wird und/oder wenn deren Stimme immer wieder von

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Zum Begriff ›Subalterne‹ siehe auch Castro Varela/Dhawan (2005: 69).



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anderen Stimmen oder zumindest Sichtweisen konterkariert wird. Im ersten Fall spricht die Erzählforschung von einem ›unzuverlässigen Erzähler‹, dessen Positionen relativiert und überdacht werden müssen, im zweiten von einem ›polyphonen‹ und ›multiperspektivischen Erzählen‹. Bezeichnet das erste ein Sprechen, dem andere Stimmen, die miteinander konkurrieren, gleichberechtigt zur Seite gestellt werden, so bezieht sich das zweite auf eine Sichtweise, zu der alternative, sich widersprechende Wahrnehmungen gehören. Nach Genette müsste hier also genauer von einer ›multiplen Fokalisierung‹ im Unterschied zu einer ›variablen‹ oder ›fixierten‹ die Rede sein; sie betrifft nicht die Frage ›Wer spricht?‹, sondern die ›Wer sieht?‹. Hanne Birk und Birgit Neumann, die im deutschsprachigen Raum einen der wenigen Aufsätze zu einer postkolonialen Erzähltheorie publiziert haben, sind der Ansicht, dass durch Polyphonie »die Vorstellung einer homogenen und hierarchisch angelegten Weltsicht durch eine Vielzahl von heterogenen Wirklichkeitsmodellen ersetzt wird, so daß hybriden Identitäts- und Lebensentwürfen der Weg geebnet wird« (Birk/Neumann 2002: 134). In meinen nun folgenden Anmerkungen zu Morenga werde ich insbesondere das polyphone Erzählen thematisieren. Der Roman Morenga erzählt vom Krieg der deutschen Kolonialmacht mit den im damaligen Deutsch-Südwestafrika ansässigen Nama zwischen 1904 und 1908. Im Mittelpunkt steht der deutsche Veterinär Gottschalk, der sich im Verlauf der Geschichte der fremden Kultur der Nama annähert, die Grenze hin zu den Nama aber letztendlich nicht, allenfalls in der Sprache seiner ›Wolkenpoesie‹, zu überschreiten vermag. Der Titel des Romans zeigt bereits an, dass es einen zweiten Protagonisten gibt, nämlich den Anführer der Nama namens Morenga. Dessen Eigentümlichkeit besteht darin, dass ihm der Roman nur kurz einmal mittels Tagebucheinträgen eine Stimme verleiht. Ansonsten wird ausschließlich aus der Sicht unterschiedlicher Figuren und historischer oder erfundener Quellen über ihn gesprochen, wie z.B. in dieser Passage: Auskunft des Bezirksamtmanns von Gibeon: Ein Hottentottenbastard (Vater: Herero, Mutter: Hottentottin). Nennt sich auch Marengo. Beteiligte sich am BondelzwartsAufstand 1903. Soll an einer Missionsschule erzogen worden sein. An welcher, konnte nicht ermittelt werden. Zuletzt hat er in den Kupferminen von Ookiep im nördlichen Teil der Kapkolonie gearbeitet. (Timm 2000: 6f.)

Als Figur tritt er demnach vorrangig nur indirekt, durch die Stimmen und Erzählungen anderer, in Erscheinung. Die Mythisierung zum einen, die erzählerische Distanz zum anderen, die der Erzähler zu dieser Figur aufbaut, rücken Morenga in eine Ferne sowohl zu den handelnden Figuren als auch zu den Lesenden des Romans. Gleichsam allegorisch steht er für die Fremdheit der anderen Kultur



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schlechthin. Die Frage ist nun, wie diese Konstruktion der Fremdheit und der Entwurf der narrativen Instanz interferieren. Dazu bedarf es einer Untersuchung zweier erzählerischer Spezifika, erstens der beschränkten Nutzung der Möglichkeiten der erzählenden Instanz und zweitens der Besonderheit der Polyphonie. Zunächst einmal besitzt Morenga einen heterodiegetischen und verborgenen Erzähler, dessen Wahrnehmungen zwischen Null-, Intern- und Externfokalisierung wechseln. Die Besonderheit der Instanz liegt darin, dass sie sich weigert, den fremden, in diesem Fall afrikanischen Figuren, eine Stimme zu geben bzw. aus ihrer Sicht zu erzählen, um damit konkurrierende Positionen oder Sichtweisen zu etablieren. Uwe Timm hat diese Beschränkung der Möglichkeiten einer nullfokalisierten-heterodiegetischen Erzählinstanz in einem Interview wie folgt begründet: Von vornherein war mir daher klar, daß ich nicht mit einer auktorialen Erzählerfigur arbeiten wollte, die in alle Herzen hineingucken und alle Bewußtseinslagen ausforschen kann. Zumal die Nama, über die ich schrieb, mir doch sehr fremd waren. Und dann noch Nama, die vor gut siebzig Jahren gelebt hatten. Eine solche Einfühlungsästhetik wäre selbst ein kolonialer Akt. (Hamann/Timm 2003: 452)

Den naheliegenden Einspruch, dass dadurch ähnlich wie in kolonialen Texten fremde Figuren vielfach ihrer eigenen Stimme beraubt würden (vgl. Birk/Neumann 2002: 131), nimmt die Forschung zur Kenntnis, kehrt aber das Argument um: Die Afrikaner nicht zu Wort kommen zu lassen, heißt, ihnen Respekt zu erweisen (vgl. Hamann 2009; Hielscher 2005; Hofmann 2006: 170177; Holdenried 2011; Uerlings 2001; Wilke 2001). Oder in Spivaks Worten: Da das Sprechen über oder für die Subalternen per se kolonialistisch ist, spricht man gar nicht über oder für sie. Am differenziertesten wird dieses Argument von Stefan Hermes in seiner Dissertation vertreten. Zwar würden, so Hermes, die afrikanischen Figuren fast immer durch die Stimmen und die Wahrnehmungen der Weißen charakterisiert. Allerdings wird dabei nirgends der Eindruck erweckt, die Deutschen besäßen gesicherte Kenntnisse über das ›Wesen‹ der ›Eingeborenen‹; stattdessen bleibt fortwährend ersichtlich, dass ihr vermeintliches ›Wissen‹ vor allem auf Gerüchten und Vorurteilen gründet. Letztlich sind die Kolonisierten den Lesern daher ebenso unfassbar, wie sie den deutschen Eindringlingen erscheinen; ihre Fremdheit wird akzeptiert, und eben dies signalisiert den Respekt, den der Roman den Afrikanern durchweg entgegenbringt. (Hermes 2009: 186)

Die zweite Besonderheit besteht laut der Forschung darin, dass sich in Morenga die erzählende Instanz zurücknehme und stattdessen andere Stimmen zu Wort





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kommen, Stimmen, zu denen u.a. diejenigen von historischen oder erfundenen Quellen, von literarischen Zitaten oder von Tagebucheintragungen gehören würden. Michaela Holdenried spricht deshalb von einer »Kakophonie« (Holdenried 2011: 140) der Stimmen. Stefan Hermes argumentiert ähnlich mit Homi K. Bhabha, wenn er schreibt: Dichotomische rassentheoretische Wahrnehmungsmuster werden bei Timm nicht bloß reproduziert, sondern vermittels der […] polyphonen Romanstruktur unterminiert. Die Art und Weise der erzählerischen ›Wiedergabe der diskriminatorischen Identitätseffekte‹ führt zu einer ›Umwertung des Ausgangspunktes kolonialer Identitätsstiftung‹ (Hermes 2009: 189).

Beide Besonderheiten werden von der Sekundärliteratur angeführt, um Morenga als ersten postkolonialen Roman der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur auszuzeichnen. Beide Argumente treffen aber nur bedingt zu. Das erste ist problematisch, weil die erzählende Instanz aufgrund seiner Situierung und aufgrund seiner autoritären Ordnung der Welt, wenn auch implizit, für und über den anderen spricht. Das zweite ist in Frage zu stellen, weil obwohl mehrere Stimmen im Roman realisiert sind, letztendlich doch ein einstimmiges Erzählen vorliegt. Dem Text wird von der erzählenden Instanz eine binäre Grundstruktur unterlegt, die es erlaubt, strikt zwischen – von Ausnahmefiguren abgesehen – homogenen Gruppen der Nama und der Deutschen zu differenzieren. Während die Deutschen als fassbar, moralisch fragwürdig und allein einem zweckrationalen Denken verpflichtet qualifiziert werden, gelten die Nama als unfassbar, aber dennoch als moralisch integer und als eine Kultur, die in der Lage ist, mit allen Sinnen zu denken. Während die Deutschen immer wieder lächerlich gemacht werden, erfolgt dies für die Nama-Kultur an keiner Stelle. Zwar entwickelt sich Gottschalk im Verlauf des Romans insbesondere wegen seiner Sprachexperimente zu einer Ausnahme- bzw. Grenzgängerfigur, zwar besitzt auch Morenga aufgrund der ihm von verschiedenen Seiten einhellig zugesprochenen Merkmale einen stärker hybriden Ausnahmecharakter – doch damit werden erstens die disjunkten und homogenen Räume an sich an keiner Stelle des Romans in Zweifel gezogen. Es findet in der Terminologie Hans Krahs tatsächlich ein normales Ereignis statt, bei dem sich die Merkmalsmenge des Protagonisten Gottschalk verändert, aber kein ›Metaereignis‹ (vgl. Krah 2006: 309-311), bei dem die Raumstruktur verändert wird. Stattdessen erfolgt ein ›Einfrieren‹ der jeweiligen Parteien in abstrakten Überbegriffen oder, laut Spivak, in »masterwords« (Castro Varela/Dhawan 2005: 67): ›Die‹ Deutschen und ›die‹ Nama, wobei vor allem letztere zu ›einem‹ Widerstandssubjekt verklärt werden, das mit den subalternen



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Nama nur wenig oder nichts zu tun hat. Zudem besteht hinsichtlich der beiden Protagonisten Gottschalk und Morenga zumindest die Gefahr, sie zu individuellen Heroen auf Seiten der Unterdrücker ebenso wie der Unterdrückten zu romantisieren (vgl. ebd.: 71). Aus der Art und Weise des Erzählens, aus den Arten und Weisen der Konstruktion binär strukturierter Räume lassen sich nun auch Aussagen über den an und für sich verborgenen Erzähler treffen: Er ist Bestandteil der deutschen Kultur, mit der er sich aber nicht identifizieren will bzw. kann. Im Gegenteil: Zum Teil explizit, zum Teil implizit wird deutlich gemacht, dass er das deutsche Denken, die deutschen Tugenden etc. für überaus fragwürdig hält. Dieser fragwürdigen Lebensform hält er die andere, die fremde Lebensform entgegen, die als positivere, moralisch einwandfreie gesehen wird. Dies zeigt deutlich, dass die erzählende Instanz, auch wenn sie sich beschränkt, letztendlich doch aus einer Position des Überblicks spricht, die eine unantastbare binäre Ordnung entwirft. Aus dieser übergeordneten, sicheren Position spricht sie nicht nur über, sondern auch für die fremde Kultur der Nama, und selbst wenn diese in der Fürsprache gefeiert wird, wird sie doch auch, um mit Spivak zu sprechen, in den Schatten gestellt, zum Schweigen gebracht. Relativiert wird diese gottähnliche Autorität auch nicht durch andere, gleichberechtigte Stimmen, weil diese durchweg diese binäre Ordnung stützen. Keine ›Kakophonie‹, kein sich widersprechendes Stimmengewirr wird realisiert, sondern unterschiedliche Stimmen, die die Ordnung der vom Erzähler installierten Welt bestätigen. Bei Uwe Timms Roman Morenga handelt es sich daher nicht um einen postkolonialen Text oder ein schwebendes, Zwischenräume eröffnendes Erzählen, sondern um einen antikolonialen bzw. kolonialismuskritischen Roman, um einen Roman, der im Kontext der Unabhängigkeitskriege der afrikanischen Nationen steht und dabei eindeutig Partei ergreift, Partei für die Afrikaner. Antikolonial ist er in dem Sinne, dass er harsche Kritik am westlichen Denken übt und die Standpunkte der Kolonisierten würdigt, wenn nicht idealisiert; dass er die im kolonialen Erzählen selbstverständliche Möglichkeit, stellvertretend für das kulturell Fremde zu sprechen, problematisiert, indem er die Möglichkeiten der erzählenden Instanz beschränkt; dass er aber dennoch einer binären, hierarchisch organisierten, Homogenisierungen realisierenden (›die Deutschen‹, ›die Nama‹) Logik verpflichtet bleibt und deshalb nur bestimmte, andere Figuren- und Erzählerstimmen zulässt. In Morenga liegt eine ›gottähnliche‹ Autoritätsposition der erzählenden Instanz vor, die für die Nama zu sprechen vermeint und sie dadurch zu Objekten macht. Von daher kann m.E. von einem ›kolonialistischen Wohlwollen‹ bzw. ›unbeabsichtigten Eurozentrismus‹ gesprochen werden. In Timms 2008 erschienenem Roman Halbschatten, dessen intratextuelle Bezüge nicht nur, aber vor allem zu Morenga offenkundig sind, erscheint mir im





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Unterschied zu dem hier untersuchten Roman eine schwebende Poetik konsequenter realisiert. Wie Gottschalk repräsentiert die Protagonistin, die Fliegerin Marga von Etzdorf, die erste Frau, die 1931 allein nach Japan flog und im Alter von 25 Jahren nach einer Bruchlandung Selbstmord beging, eine Ausnahme- und Grenzgängerfigur: »Sie wollte nicht einfach nur in die Ferne, sie wollte verbinden, sie wollte Verständigung über die Grenzen hinweg schaffen.« (Timm 2008: 125; vgl. ebd.: 175) Zugleich wird mit dieser Heldin die Denkfigur des Schwebens im Sinne eines prekären Moments realisiert, in dem Kunst entsteht: Denn auch ihre Fliegerei zwischen Himmel und Erde ist wie die Ballonfahrt in Morenga eine »Kunst« (ebd.: 213) des ›schönen Überflusses‹, des »freie[n] Spiel[s]« (ebd.: 214), das beständig der Gefahr ausgesetzt ist, zu scheitern, d.h. in Jagd, Kampf und Krieg verstrickt zu werden. Im Unterschied zu Morenga jedoch wird in Halbschatten die in der Histoire zumindest indirekt propagierte Poetik des Schwebens auf die Discours-Ebene transferiert. Denn die unterschiedlichen Stimmen – die des autodiegetischen Rahmenerzählers, die des homodiegetischen Binnenerzählers, eines Spezialisten für den Berliner Invalidenfriedhof, und die der auf dem Friedhof begrabenen Toten, die (noch) sprechen können – sorgen für ein, wie es im Roman mehrfach heißt, »Stimmengewirr«, das der Rahmen- und der Binnenerzähler weder zu dominieren noch zu strukturieren vermag. Wenn der ›Graue‹, wie der Friedhofsführer immer wieder genannt wird, auch an der einen oder anderen Stelle die Stimme eines Toten zu unterbrechen und an dessen Stelle weiterzuführen in der Lage ist (vgl. ebd.: 46), so steht auch er den fortwährenden, zum Teil ihm widersprechenden Reden der Toten vielfach machtlos gegenüber. Und der Rahmenerzähler, dessen Reden sich über weite Strecken des Romans auf kurze Fragen im Sinne von »Wer ist denn das schon wieder?« (Ebd.: 42) oder »Wer spricht da?« beschränken, wird an der Stelle, an der er etwas von sich preisgeben will, von einer Totenstimme unterbrochen, die fragt: »Wer redet denn da?« (Ebd.: 93). Dadurch zeigt sich, dass seine Stimme keine größere Autorität hat als die der Toten. Timms Roman Halbschatten erzeugt eine Polyphonie, in der die Stimme des Rahmen- und des Binnenerzählers weitgehend ›neben‹ denen der Toten stehen. Diese konstituieren einen imaginären Zwischenraum, in dem jede Position nur als instabile und unvollendete realisiert wird. Dennoch lässt sich der Roman nicht wie andere Texte der Gegenwartsliteratur, etwa Assia Djebars Die Frauen von Algier und Wolfgang Herrndorfs Sand, als postkolonial bezeichnen, auch nicht als inter- oder transkulturell, weil weniger das Verhältnis von deutscher und japanischer Kultur – immer mal wieder wird der Flug Marga von Etzdorf nach Japan Anfang der 1930er Jahre thematisiert –, sondern der Umgang mit Geschichte im Zentrum des Geschehens steht. Literarisch expliziert Halbschatten das Problem der Fürsprache, das der Historiker Hayden White wie folgt for-



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muliert hat: Die Historiker des 19. Jahrhunderts erkannten nicht, »daß die Fakten nicht für sich selbst sprechen, sondern daß der Historiker für sie spricht, in ihrem Namen spricht […].« (White 1986: 149) Mit dem sich widersprechenden Stimmengewirr in Halbschatten wird die anmaßende Fürsprache nicht aus der Welt geschafft. Aber es legt durch die literarische Art und Weise des Erzählens offen, dass ›die‹ Geschichte nicht existiert, dass sie vielmehr in miteinander konkurrierenden Redeakten permanent aufs Neue ausgehandelt wird.

2. T ANZEN UND B ALLONFAHREN . Z U ZWEI M OTIVEN IN M ORENGA A XEL D UNKER Christof Hamanns Argumentation, bei Uwe Timms Roman Morenga handele es sich nicht um einen postkolonialen, sondern um einen antikolonialen bzw. kolonialismuskritischen Roman, lässt sich um weitere Argumente ergänzen. Offen ist in diesem Zusammenhang auch die methodologische Frage, ob sich Edward Saids in Culture and Imperialism entwickeltes Verfahren einer ›kontrapunktischen Lektüre‹ (Said 1994) auf Texte des 20. Jahrhunderts, noch dazu auf solche mit einer explizit kolonialismuskritischen Perspektive, anwenden lässt. Schon die Analyse einschlägiger deutschsprachiger Texte des 19. Jahrhunderts hat gezeigt, dass Saids Verfahren, das Manifeste der Texte mit ihrem Unausgesprochenen zusammenzubringen, zu modifizieren ist. Autoren wie Wilhelm Raabe benutzen Verfahren der Intertextualität und der Subtextbildung, um ihren Texten eine als kolonialismuskritisch zu verstehende Textschicht einzufügen, die aus einer postkolonialen Leseperspektive sichtbar wird, aber selbst natürlich nicht als ›postkolonial‹ zu verstehen ist (vgl. Dunker 2008). Ist nun überhaupt eine kontrapunktische Lektüre antikolonialer Texte des 20. Jahrhunderts denkbar? Wie sollte man sich diese vorstellen? Als ideologiekritische Überbietung der in den Texten selbst schon angelegten Ideologiekritik? Als Suche nach blinden Flecken? Oder ist auch hier eine Lektüre gegen den Strich möglich, die Vermeidungen und Verzeichnungen eine spezifische Rolle in der Konstruktion der Texte zuschreiben kann? Christof Hamann hat in seiner Morenga-Lektüre gezeigt, dass der gut gemeinte und gut nachvollziehbare Verzicht Timms auf eine Einfühlungsästhetik, die sich anmaßte, den Nama eine Stimme zu verleihen, vor dem Hintergrund der Struktur des Romans ihre problematischen Seiten hat. Ich selber habe an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass die Einführung von Verfahren des lateinamerikanischen Romans (in Form des ›wunderbar Wirklichen‹ etwa in den Erzählun-





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gen eines Zugochsens) auch exotistische Züge aufweisen könnte, wenn man darin wie Martin Hielscher einen Ersatz für die ›Stimmlosigkeit der Subalternen‹ sehen will: [I]m Erzählen wird der Rote Afrikaner zum Souverän seiner Geschichte. Diese Geschichten repräsentieren in gewisser Weise das, was Morenga nicht erzählen kann, sie sind der listig-subversive Ersatz für eine Leere, die bleiben muss, weil die Unterlegenen ihre Geschichte noch nicht selbst erzählen können. (Hielscher 2007: 89)

Im Gegensatz etwa zu Thomas Pynchon, der in Die Enden der Parabel Elemente aus den Mythen der Herero benutzt, ließe sich der unspezifische Zugriff auf Lateinamerikanisches als Nicht-Europäisches auch als eine Haltung sehen, die alles Außereuropäische gleich- und dem europäischen Rationalen entgegengesetzt sieht. Dieses Argument lässt sich aber dadurch entkräften, dass man auf das selbst schon Hybride des ›Wunderbaren‹ bei Cortázar, Vargas Llosa und García Márquez verweist, das genuin Lateinamerikanisches mit europäischen Einflüssen – des französischen Surrealismus vor allem – verbindet. Dichotomische Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem werden damit aufgelöst (vgl. Dunker 2012: bes. 49). Dennoch bleibt hier ein wenig Unbehagen, denn reflektiert wird das in Morenga keineswegs. Bevor ich auf das Motiv des Schwebens, wie es Christof Hamann nennt, zu sprechen komme, möchte ich noch ein anderes aufgreifen, das mir eines der stärksten Argumente dafür zu liefern scheint, dass wir es nicht wirklich mit einem postkolonialen Roman zu tun haben (könnten). Gottschalk, der schon länger die Frage ventiliert, ob er es dem Kropotkin lesenden Veterinär Wenstrup nachtun und desertieren soll, bietet sich dazu die Gelegenheit, als er mit einem Trupp deutscher Kolonialsoldaten von Morenga und dessen Leuten gefangengenommen wird. Abends am Lagerfeuer, als alle erbeutetem Wein und Kupferberg-Sekt zusprechen, wird getanzt: »Alle tanzten, die Aufständischen, die alten und die jungen Weiber, Kinder, Greise.« (Timm 2000: 419) Gottschalk versucht, mitzutun: Er, Gottschalk, habe zunächst nur den Takt mitgeklatscht. Dann aber habe er sich dazu hinreißen lassen mitzutanzen. Einen Moment habe er versucht, die Bewegungen Morengas nachzuahmen, der wegen seiner Wunde etwas steifer tanzte. Aber es wollte ihm nicht gelingen. Er verkrampfte sich regelrecht. Es war sogar entsetzlich lächerlich. Und noch während er versuchte zu tanzen, und trotz seines dunen Kopfes, war ihm klar, daß er nicht würde bleiben können. Diese Menschen waren ihm nah und doch zugleich so unendlich fern. Hätte er bleiben wollen, er hätte anders denken und fühlen lernen müssen. Radikal umdenken. Mit den Sinnen denken. (Ebd.: 419f.)



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Aus der Unmöglichkeit, den eigenen Körper so zu bewegen wie Morenga und die Nama – Michaela Holdenried sieht darin eine misslingende »performative Anpassung an den Anderen« als Spiegel der »subversive[n] Mimikry« (Holdenried 2011: 143) der ›Hottentotten‹ –, zieht Gottschalk den Schluss einer ›unüberbrückbaren Ferne‹, die hier nicht an einer (konstruierten) kulturellen Differenz festgemacht wird, sondern an (essentialistischer) Körperlichkeit. Die Bewegung gegen den Essentialismus in der interkulturellen Konstellation ist aber eine der grundlegenden Kriterien des Postkolonialismus, die er mit dem Poststrukturalismus teilt. Wenn Holdenried im Anschluss daran feststellt, »nur die Zunge hat in der Artistik der Schnalzlaute ihren eigenen tänzerischen Rhythmus gefunden, der Körper aber kann seine Ketten nicht abstreifen« (Holdenried 2011: 143), so wird das in dieser Szene durch die steife Gesprächswiedergabe in indirekter Rede dementiert. Gottschalk hat durch seine Übungen in den für die entsprechenden afrikanischen Sprachen charakteristischen Klicklauten scheinbar einen Weg ins Hölderlinsche »Offene« (Timm 2000: 388) gefunden. Während eines Ritts auf einem Rennkamel, der ihm eine Vision von Freiheit verschafft, rezitiert er Zeilen aus Hölderlins Hymne Brot und Wein: »mit eingestreuten Klicklauten: So komm! Das wir ein Eigenes Suchen, so weit es auch ist.« (Ebd.: 427) Das aber ist eine Illusion, wie der Text implizit selbst mitteilt. Korrekt lautet die betreffende Zeile aus Hölderlins berühmtem Gedicht, wie zuvor korrekt zitiert wird: »So komm! daß wir das Offene schauen, / Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.« (Ebd.: 388; vgl. Hölderlin 1982: 115) In Gottschalks Ekstase – »er war wie beschwipst« (Timm 2000: 426) – wird aus dem Offenen das Eigene; deutlicher könnte ein unausgesprochenes Dementi eigentlich nicht ausfallen. Auf derselben Seite in Morenga meint Gottschalk die Reste des gigantischen Branntweinfasses zu entdecken, das sein Vorläufer Klügge durchs Land gefahren hatte: »Gottschalk hob ein Holzstückchen auf, verkohlt, die Maserung noch erkennbar, geschliffen vom Sand, ein winziges Teil jener Steineichen, die vor fast fünfzig Jahren aus Frankreich in dieses Land gebracht worden waren, um die schlafenden Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.« (Ebd.: 427) Diese Wiederaufnahme des Tanz-Motivs erfolgt hier abermals durch ein Zitat, diesmal aus den Frühschriften von Karl Marx, der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: »Man muß jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als die partie honteuse der deutschen Gesellschaft schildern, man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt!« (Marx 2004: 25; Hervorh. i. Orig.) Im Kolonia-





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lismus aber ist die Melodie immer eine europäische, wie es sich ja auch bei der Mission Gorths um eine koloniale handelt.2 Im Gegensatz zwischen der hölderlin-marxschen Melodie und dem Tanzen der Nama tut sich eine Intellekt-Körper-Dichotomie auf, die mit einem wirklich postkolonialen Ansatz nur schwer zu vereinbaren ist. Statt die Seiten zu wechseln, zieht sich Gottschalk gewissermaßen in eine innere Emigration zurück. Er versucht, eine Sprache für die Beschreibung der südwestafrikanischen Wolkenbildungen zu erfinden, die sich einer meteorologischen und sonstigen Verwendbarkeiten – der Text nennt es »Fungibilität« (Timm 2000: 416) – entzieht. Der finanztheoretische Begriff der Fungibilität, der die Auswechsel- und Austauschbarkeit von Gütern meint, betont hier gerade das Streben nach einer Einzigartigkeit und Unübersetzbarkeit eines sprachlichen Code-Systems. Das entsprechende Kapitel hat den Titel »Die wunderbaren Wolken« (ebd.: 409), ein Zitat aus Baudelaires Prosagedicht Der Fremdling: »Wen liebst du am meisten, rätselhafter Mensch sprich? deinen Vater, deine Mutter, deine Schwester oder deinen Bruder?« »Ich habe weder Vater noch Mutter, weder Schwester noch Bruder.« »Deine Freunde?« »Du bedienst dich da eines Wortes, dessen Bedeutung mir bis heute unbekannt geblieben ist.« »Dein Vaterland?« »Ich weiß nicht, auf welchem Breitengrad es liegt.« »Die Schönheit?« »Wie gerne liebte ich sie, die göttliche, unsterbliche.« »Das Gold?« »Ich hasse es, wie du Gott hassest.« »Was liebst du denn, seltsamer Fremdling?« »Ich liebe die Wolken … die ziehenden Wolken … dort … dort in der Ferne … die wunderbaren Wolken!« (Baudelaire 1985: 119)

2

Dem – darauf verweist Holdenried – »eine Selbstbefreiung und Annäherung an das Fremde/den Fremden wenigstens temporär gelingt« (Holdenried 2011: 142): »Wie von Ketten befreit sprangen Gorths Beine. Er tanzte mit Lukas.« (Timm 2000: 137). Gorth hat Dagga geraucht, was eine durchschlagendere Befreiung herbeizuführen scheint als das Trinken von Kupferberg-Sekt oder das Reiten auf einem Rennkamel.



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Man kann das wohl als einen Versuch sehen, sich jeder Zugehörigkeit zu entziehen und sich in einen Fremdling zu verwandeln; ein Versuch, der durch das Verfahren der Intertextualität von der Histoire- auf die Discours-Ebene übertragen wird. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland widmet sich Gottschalk dem Ballonfahren, was – wie Christof Hamann oben schon ausgeführt hat – in Analogie zu einem Kunstwerk gesetzt wird: Die Ballonfahrt ist mehr als eine Möglichkeit der Fortbewegung, Ballonfahrt ist Kunst, ein Kunstwerk, in dem Ballonfahrer, der Ballon, Wind und Wetter, aber auch die Landschaft zusammenfinden. Nichts wird ausgebeutet, wenn man einmal vom Gas absieht. Kein Mensch, kein Tier gequält oder geschunden, alle Teile finden spielerisch zueinander […] Die Wirtschaftlichkeit ist […] unbedeutend. […] zum Transport von Gütern ist der Ballon ungeeignet. (Timm 2000: 442)

Die Forschung hat das dankbar aufgenommen: »Um jedoch jene Erfahrung eines Kunstwerks, jenes Zusammenspiels ohne Ausbeutung von Mensch, Gerät und Wetter, zu machen, ist er unersetzlich. So ist die Ballonfahrt auch eine Metapher für Wesen und Wirkung von Literatur.« (Hielscher 2007: 93) Der Autor hat dieser Deutung seines langjährigen Lektors zumindest nicht widersprochen, wenn er in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung ausführt, der Veterinär »wollte in die Luft, und der Autor ließ ihn fliegen […] Damit war das Ende gefunden, das etwas über die Wünsche, das Erzählen und das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit sagt.« (Timm 2009: 131f.) Aber ist sie korrekt vor dem Hintergrund des gesamten Romans? Das Ballonfahren wird im mit »Nachtrag« überschriebenen Schlusskapitel nicht zum ersten Mal erwähnt. Zuvor ist von einem Professor Bernhard aus Braunschweig die Rede, der – wie er in einem Brief mitteilt – »einige Gedanken« entwickelt habe, die »das Vermessungswesen revolutionieren würden, indem man nämlich das zu vermessende Gebiet einfach mit einem Ballon oder einem anderen Flugapparat überfliegen und fotografieren würde.« (Timm 2000: 308) Die Vermessung und Kartographierung des Landes gehört zu den Hauptinstrumentarien der kolonialen Inbesitznahme außereuropäischen Territoriums. Nach Stephen Greenblatt gehören Vermessung und Kartographierung zu einem »idealtypischen Katalog von Legitimationsgesten« (Greenblatt 1998: 92), um sich fremde Territorien anzueignen. Und an einer zweiten Stelle ist es Gottschalk selbst, der in seinem Tagebuch notiert: Ich will versuchen, die Untersuchungen über die Kamele noch in Keetmannshoop abzuschließen, damit die Zucht von Kamelen systematisch begonnen werden kann. Die Ent-





358 | A XEL D UNKER /C HRISTOF H AMANN fernungen würden schrumpfen. Der wirtschaftliche Vorteil läge – im Frieden – auf der Hand. Mein Wunsch, dieses Land einmal von oben zu sehen. In einem Ballon über Wüsten, Savannen fliegen, die ausgetrockneten Flußbetten, die Schluchten des Karrasgebirges. Ballonfahrten böten sich auch für Patrouillen an. (Ich werde mich hüten, davon zu reden.) (Timm 2000: 350f.)

Später heißt es: »Nach einer geheimnisvollen Gesetzmäßigkeit schien sich in diesem Lande jeder Versuch Gottschalks, helfend einzugreifen, in sein Gegenteil zu verkehren« (Timm 2000: 411), was gerade an den Kamelen deutlich wird, die gegen Gottschalks Absicht eben für beschleunigte Patrouillenritte eingesetzt werden. 3 Was in Europa einem Kunstwerk gleichkommt, das in einem freien Spiel gleichsam autonome Teile zusammenführt, wäre in den Kolonien nur ein weiteres Herrschaftsinstrument; es besteht eine Differenz zwischen Handlungen und Einstellungen in Europa und den scheinbar gleichen Handlungen und Einstellungen in den kolonisierten Gebieten der Welt. Es ist gerade diese Erkenntnis, die der Roman bei seinem Leser ins Werk setzen müsste, wenn man die Ballonstelle am Schluss mit den zwei Erwähnungen der Ballonfahrt zuvor zusammenbringt, also Teile des Romans zusammenführt. Notwendig dafür ist aber offenbar eine Lektüre gegen den Strich, die die Selbstauskunft des Romans an seinem Schluss nicht so stehen lässt, wie sie explizit getroffen wird, sondern sie in Frage stellt. Berücksichtigt man Timms Selbstauskunft in der Poetikvorlesung, wird man wohl sagen können, dass sich hier die Textintention gegen die Autorintention kehrt. Dieses gegen den Strich Lesen aber fordert genau jene Reflexionsleistung des Lesers heraus, die die Literatur – auch im Sinne von Selbstreflexivität – im postkolonialen Kontext anstoßen sollte, die Erkenntnis einer Differenz zwischen dem Westen und ›dem Rest‹. Timm selbst hat das an anderer Stelle ausdrücklich verlangt: Die Wahrnehmung dieser Differenz erst läßt eine Reflexion der eigenen Wahrnehmung zu und damit die Möglichkeit der eigenen emanzipatorischen Veränderung im Verstehen. Ein Verstehen, das sich bemüht, die eigene Wahrnehmung als vorläufig und geschichtlich bedingt anzunehmen, also auch sich selbst als fremd und abhängig zu erfahren, um so den anderen, Fremden in seiner Würde wahrzunehmen. (Timm 1997: 42)

3

Dass Gottschalk an der oben zitierten Stelle auf einem solchen Rennkamel sitzt, als er enthusiastisch Hölderlin mit eingestreuten Klicklauten rezitiert, wäre auch hierauf zu beziehen.



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So gesehen, ist die Herausforderung zu einer kontrapunktischen Lektüre – jedenfalls in diesem Falle – die Voraussetzung für Postkolonialität. Sie realisiert sich aber nur auf der Text-, nicht auf der Autorebene, letztlich nur in der ›schwebenden‹ Lektüre des Lesers. Trotz der formulierten Einwände bleibt Uwe Timms 1978 erschienener Roman Morenga einer der frühesten und auch immer noch überzeugendsten Beispiele für die Thematisierung des deutschen Kolonialismus in der deutschsprachigen Literatur. Dass er »den Übergang vom ›Dritte-Welt‹-Diskurs der 1960er Jahre zum Postkolonialismusdiskurs der Gegenwart« markiert (Göttsche 2003: 266), wird man bei kritischer Betrachtung, aber – wenn überhaupt – dann nur mit Einschränkung, festhalten können. Das Verdienst dieses Romans besteht darin, ein neues – damals auch von der Geschichtswissenschaft – noch weitgehend ignoriertes Thema in die deutschsprachige Literatur eingeführt zu haben. Damit hat er eine wichtige Vorreiterrolle für die eigentlich postkoloniale Literatur gespielt. Ähnliches gilt für die Germanistik, die sich nicht zuletzt über die Auseinandersetzung mit Morenga einen Zugang zu den zunächst fast ausschließlich im angloamerikanischen Bereich betriebenen postkolonialen Studien erarbeitet hat (Zantop 1997; Berman 1998; Friedrichsmeyer/Lennox/Zantop 1998).4 Insofern sind unsere kritischen Anmerkungen zum Roman auch nicht etwa als ideologiekritische Verdammung zu verstehen, sondern sie sollen zur Akzentuierung des Postkolonialen gegenüber dem Antikolonialen dienen. Sie zeigen Morenga als einen Text auf dem Weg zum Postkolonialismus.

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4



Für einen Überblick über die Entwicklung vgl. Dürbeck 2014.



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Verschobene Einbildungen Afrika-Konstruktionen in der jüngsten deutschsprachigen Gegenwartsliteratur D IETER H EIMBÖCKEL

1. N ORMALISIERUNG DES POSTKOLONIALEN B LICKS ODER : W IE SCHREIBT MAN ÜBER A FRIKA ? Seit Uwe Timms Morenga hält insbesondere das historiographische Interesse deutschsprachiger Autorinnen und Autoren am Afrika-Diskurs an. Auch in jüngster Zeit erschien eine Reihe von Romanen, die die Erinnerung an den deutschen Anteil am System des europäischen Kolonialismus und die Kritik des europäischen Afrika-Diskurses mit dem Bemühen um eine differenzierende Darstellung afrikanischer Lebenswelten verbinden. Wir haben es dabei mit einer beträchtlichen Kontinuität zu tun, die Literaturwissenschaft und Literaturkritik gleichermaßen dazu veranlasst hat, zwischenzeitlich von »Welle«, »Boom« und »Konjunktur« zu sprechen (vgl. Göttsche 2003: 264; Buch/Lubrich 2009: 174; Göttsche 2012: 171). Dabei konstatierte Dirk Göttsche, einer der profiliertesten Kenner des literarischen Afrika-Diskurses in der deutschsprachigen Literatur, in einem erst jüngst erschienenen Beitrag, dass sich im Bereich des historischen Romans »eine gewisse Normalisierung des ›postkolonialen Blicks‹« (Göttsche 2012: 172) abzeichne, nachdem er bereits 2003 im Zuge einer Bestandsaufnahme für die Gattung das Fazit gezogen hatte, dass der postkoloniale Blick in ihr »praktisch dominant geworden« (Göttsche 2003: 264) sei. Nun könnte man anlässlich einer solchen Diagnose fragen, worin sich diese Normalisierung äußert, was zu ihrer Entwicklung beigetragen hat und ob sie ästhetisch und bewusstseinsgeschichtlich überhaupt wünschenswert ist. Wenn Normalisierung bedeutet, dass nach dem Rückgang des Booms nicht nur der Weg für eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema des Kolonialismus bereitet wäre, sondern dass



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sie auch zur ihrer Verankerung im öffentlichen Bewusstsein beigetragen hätte, so wäre damit eine Situation markiert, die in der kritischen Ausrichtung der Romane selbst angelegt ist. Geht aber mit der Normalisierung die Erfüllung von Erwartungen einher, die an das Artefakt angelegt werden, so hätten wir es literarisch nicht nur mit einer Art Reproduktionseffekt zu tun; mit Blick auf den Gegenstand würde damit in letzter Konsequenz auch einer Entdifferenzierung Vorschub geleistet werden, die gerade im Widerspruch zum Projekt des rereading und rewriting colonialism stünde. In den anspruchsvolleren Texten, die diesem Muster folgen, zeigt sich, so Göttsche, die kritische Erinnerung an die vergessene deutsche Kolonialgeschichte als auch eine differenzierende Betrachtung afrikanischer Lebenswelten im kolonialen Zeitalter, die gegen die hartnäckigen Stereotypen der Primitivität, Rückständigkeit und Hilflosigkeit die Lebendigkeit, Eigenständigkeit und Vielfalt afrikanischer Kultur noch unter kolonialer Herrschaft herausarbeitet und zugleich den afrikanischen Widerstand gegen den Kolonialismus würdigt. (Göttsche 2003: 265)

Im Lichte dieser Beschreibung sollte man den Texten die Normalisierung nicht wünschen, die aus ihnen Produkte einer – wie auch immer gearteten – Konvention macht.1 Mir scheint das für den jüngsten Roman auch nicht unbedingt der Fall zu sein. Zumindest lässt er sich (1) nicht so ohne weiteres unter einem eindeutig konturierbaren Begriff des postkolonialen Blicks subsumieren, und (2) bedarf die Strategie des rewriting einer Spezifizierung in dem Sinne, in dem über die thematische Ausrichtung hinaus das bzw. die ästhetischen Verfahren deutlicher erfasst werden. Denn nicht so sehr, ›dass‹ man, sondern ›wie‹ man über Afrika schreibt, möchte ich nachfolgend in den Fokus meiner Ausführungen rücken und damit eine doppelte Perspektive eröffnen: einerseits auf die Selbstverständlichkeit, mit der von Afrika-Diskurs, Afrika-Literatur etc. die Rede ist, so als würde in dieser topographischen Zuschreibung nicht selbst schon ein Stereotyp bzw. eine unbotmäßige Verallgemeinerung angelegt sein, die die gewünschte Differenzierung verhindern, und andererseits auf die ästhetischen

1

In Remembering Africa, einer Untersuchung, die gleichsam die Summe seiner Arbeiten zur Afrika-Rezeption der deutschsprachigen Literatur bildet, geht Göttsche gesondert auf das Phänomen der Normalisierung ein, indem er ihr gerade auch im Kontext des Postkolonialismus attestiert, zuhöchst ambivalent zu sein: »Normalization […] is a testimony to the success of postcolonialism, establishing a new corridor of what is deemed acceptable, but it could also be seen as a threat to the criticial objective of the postcolonial project.« (Göttsche 2013: 89)



V ERSCHOBENE E INBILDUNGEN

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Verfahren und ihre Reflexion, d.h. besonders auf die Frage der Repräsentation, deren Problematisierung (im ethnologischen Diskurs der 1980er Jahre) eine wesentliche Voraussetzung für das hier zur Diskussion stehende Thema bildet. Im Nachfolgenden werde ich daher zunächst kurz das Problem der ethnologischen Repräsentation zu skizzieren versuchen, um von dieser Rahmung aus das für die Texte aus meiner Sicht zentrale ästhetische Prinzip der Verschiebung ins Zentrum der Auseinandersetzung zu rücken. Dabei werde ich mich in unterschiedlicher Gewichtung und Ausführlichkeit auf Thomas Stangls Der einzige Ort (2004), Alex Capus’ Eine Frage der Zeit (2007), Christof Hamanns Usambara (2007) und Hans Christoph Buchs Apokalypse Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern (2011) beziehen.

2. D AS P ROBLEM

DER

R EPRÄSENTATION

DES

A NDEREN

Das Problem der Repräsentation des Anderen ist nicht einfach vom Himmel gefallen. Es war bereits angelegt im Diskurs der Romantik und der Auseinandersetzung mit Fragen des Nichtverstehens und der Unverständlichkeit, es spielte eine tragende Rolle im linguistic turn und in den sprachkritischen Überlegungen der Literatur und Philosophie um 1900 sowie der Folgezeit, und es führte im Zuge des durch Fritz Boas begründeten Kulturrelativismus anthropologisch zu der Radikalannahme, dass »ein Verstehen fremdkultureller Erscheinungsformen und deren Übersetzung in den eigenkulturellen Erfahrungshorizont eigentlich unmöglich sein« müsse (Kohl 2000: 150). Was für die praktizierende Ethnologie der Absprache ihrer Existenzberechtigung gleichkäme, bildet den Bezugspunkt für eine durch den Poststrukturalismus fundierte Diskussion, mit der sich in der Ethnologie, aber prinzipiell auch in den Textwissenschaften, das Problem der Repräsentation auf breiter Front verschärfte. Als Ausgangspunkt hierfür kann die sogenannte Writing Culture-Debatte betrachtet werden, die Mitte der 1980er Jahre durch James Clifford und George E. Marcus ausgelöst wurde.2 Mit ihrer prinzipiellen Infragestellung der Repräsentierbarkeit fremder Kulturen radikalisiert sie die Grundannahme Clifford Geertz’, dass es sich bei ethnologischen Schriften um Fiktionen handele, und zwar in dem Sinne, wie es in Geertz’ Dichte Beschreibung heißt, dass sie ›etwas Gemachtes‹ bzw. ›etwas Hergestelltes‹ seien (vgl. Geertz 1987: 23). Was mit Clifford und Marcus (1986) zusätzlich in den Blick gerät, sind nicht so sehr die Spe-

2

Zur Writing Culture-Debatte vgl. Bachmann-Medick (1992), Gottowik (2007) und Moebius (2009: 114-117).





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zifika kultureller Bedeutungssysteme, also die Frage nach der Bedeutung der Dinge, sondern die Frage, wie sich das Fremde so darstellen lässt, dass es nicht in der vermeintlich objektivierten Perspektive des Betrachters so aufgeht, als wären die Kulturen etwas Fixes oder Fixierbares. »›Cultures‹«, so Clifford, »do not hold still for their portraits« (Clifford 1986: 10), womit er Kritik an traditionellen, mit dem Anspruch der Metaerzählung auftretenden Aufschreibeverfahren übte, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit der Narrativität insgesamt in Zweifel zog (vgl. Bachmann-Medick 2009: 149f.). Führte die Writing Culture-Debatte summa summarum zu einer Kritik und Krise der ethnographischen Darstellung des Anderen, so ist mit ihr, vor allem was ihre Frontstellung gegenüber hegemonialen Standpunkten der Repräsentation und des mit ihr einhergehenden Othering anbelangt, der Postkolonialismus eng verwoben. Das lässt sich bis in die Theoriebildung und die Schreibverfahren verfolgen. Der Orientalismus Edward Saids (2010) wäre demgemäß – als Erfindung einer fremden Kultur – ein Writing Culture-Topos par excellence. Wer dabei wem vorausgegangen ist, ist für den vorliegenden Zusammenhang sekundär; was Postkolonialismus und Ethnologie allerdings eint, ist nicht nur die Einsicht, dass »die Form der Repräsentation der Andersheit« (Bhabha 2007: 100; Hervorh. i. Orig.) in Frage gestellt werden müsse, sondern auch die Überlegung, wie man sich dem »Drama der Repräsentation« (Scherpe 2010: 234) entziehen könne. Für das ethnologische Schreiben selbst hatte dies zur Konsequenz, dass experimentelle Schreib- und Darstellungsweisen angeregt wurden, die, beispielsweise durch Anekdoten, persönliche Erlebnisse und andere Formen angereichert, gewissermaßen ein ethnologisches genus mixtum auf den Weg brachten und dadurch gleichzeitig das Scheitern der westlichen Ideologie von der objektiven Deskription des Fremden sinnfällig machten. Speziell James Clifford ging es dabei um ein Verfahren, das er mit dem Konzept der Poetics of displacement zu fassen suchte (vgl. Clifford 1988: 152163). Gemeint ist damit eine Strategie des rewriting oder writing back, eine Strategie »des Schreibens, Umschreibens und Übersetzens, auch der Visualisierung und der Aufführung (performance), mit der der Forscher einen Zugang zu den fremden Kulturen sucht und dabei seine ihm eigenen Erkenntnismöglichkeiten und hermeneutischen Fähigkeiten aufs Spiel setzt.« (Scherpe 1997: 297; Hervorh. i. Orig.) Clifford hatte seine Untersuchung hierbei vor allem auf das Werk Viktor Segalens und Michel Leirisʼ bezogen und in diesem Zusammenhang Theorie als »inseparable from displacement, transfer, and travel« verstanden (Clifford 1988: 158). In der postkolonialen Theoriebildung wurde das Konzept des »displacement« nachfolgend prominent von Homi K. Bhabha aufgegriffen, verstanden als ein Modus, der »die binäre Logik, mit der auf Differenz beruhen-



V ERSCHOBENE E INBILDUNGEN

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de Identitäten – Schwarz/Weiß, Selbst/Anderer – oft konstruiert werden«, auflöst und Grenzen »zwischen Heim und Welt« (Bhabha 2007: 5, 14) verschwimmen lässt.3 Was ergibt sich daraus für die Literatur und besonders für die Texte, denen mein Hauptaugenmerk gilt? Ich sehe in ihnen u.a. ein der experimentellen Ethnologie analoges Verfahren der Verschiebung am Werk, das auf UmSchreibungen, Umkehrungen, Inversionen, Übersetzungen gründet. Nicht von ungefähr interessiert sich der historiographische Roman insbesondere für die ethnographische Dimension der Reiseberichte (vgl. Hamann/Honold 2009: 13), auf die er sich vorzugsweise bezieht. Dabei kommt er, was man übergeordnet selbst schon als eine Form der Verschiebung auffassen kann, der ethnologischen Deplatzierung von der Faktizität zur Fiktion auf halbem Wege entgegen, indem er ihn umgekehrt vollzieht. Allerdings nicht im Sinne eines Konzepts der Entfiktionalisierung, sondern nach Maßgabe einer Verschiebungspraxis, unter der einerseits geläufige Aneignungen, Wahrnehmungen und Begriffe – wie ein bewegliches Heer von Metaphern – in der Schwebe gehalten werden; mit der es andererseits aber auch und vor allem darum geht, eine Gegenerzählung zur deutschen und europäischen Kolonialgeschichte zu begründen. Das Prinzip der Verschiebung ist daher primär ein Prinzip, das auf die Erzeugung von Gegenläufigkeiten ausgerichtet ist.

3. Z WISCHEN F AKTEN

UND

F IKTION

Die Nähe von Fakten und Fiktion ist dem historischen Roman vertraut. Zeichnet dieser sich zumeist durch »die scheinbar bruchlose Integration von fiktiven und historischen Handlungsbestandteilen sowie lit. und historiographischen Darstellungstechniken« aus (Fulda 2007: 318), so ist unter dem postkolonialen Blick – zumindest tendenziell – nicht einmal dieser Schein mehr gewahrt. Der Schein wird gewissermaßen zum Gegenstand der Analyse, der Bruch wird als solcher vorgeführt. Auf die Brüche, möchte man sagen, kommt es an. Brüche entstehen durch Verschiebungen. Sie hinterlassen Leere, Lücken, Räume des Dazwischen. Wie dem Postkolonialismus der Kolonialismus, so geht dem postkolonialen Blick der koloniale Blick voraus. So lässt sich jedenfalls Hans Christoph Buchs Frankfurter Poetik-Vorlesung Nähe und Ferne deuten, die 1991 mit dem Unterti-

3

Zur theoretischen Genealogie des Konzepts des displacement vgl. Heimböckel (2015: 250ff.). Nachfolgend wird displacement in seiner ästhetischen Dimension als ›Poetik der Verschiebung‹ für die Analyse zentral (vgl. Abschn. 3.2).





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tel Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks erschien. Seine Vorlesung zielte bezeichnenderweise darauf ab, die »Literatur im Grenzbereich von Fiktion und Realität« auszuloten, auf das, wie er es formulierte, »was dazwischen liegt«. Und dieses Dazwischen sollte kenntlich gemacht werden mit den Mitteln der Verfremdung, um den »Automatismus der Wahrnehmung zu durchbrechen, indem das Fremde vertraut und das Vertraute fremd gemacht wird.« (Buch 1991: 12, 14f.) Dem Schriftsteller hat hier ganz offensichtlich der Literaturwissenschaftler die Feder geführt, Buch war aufgrund seiner Dissertation Ut pictura poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács (1972) der Umgang mit der Verfremdung so vertraut, dass er sie zu Kernkategorie seiner ›Poetik des kolonialen Blicks‹ auserkor.4 Der postkoloniale Blick hat von Verfremdung sicherlich nicht abgelassen, er ist auch immer noch daran interessiert, habitualisierte Sehgewohnheiten in Frage zu stellen; aber im Durchgang durch die Krise der Repräsentation ist ihm der Glaube daran abhanden gekommen, dass man das Fremde vertraut machen könne. Oder sagen wir besser: die Gewissheit. »Anstelle von Wiederholungen, eingeübten Sätzen, Listen von Vorgängern, Lehrern und Vorvätern, durch die Text zu Text kommt, um das Wirkliche zu bestätigen«, heißt es in Thomas Stangls Der einzige Ort, »anstelle von Bestätigungen und Selbstbestätigungen etwas, das nicht einzuordnen ist, die Lücke des Unbekannten, eine andere Insel, in der Zeit: das Dritte, das Irrtümer (Wahrheiten, Lügen) einschließt.« (Stangl 2006: 173) 3.1 Afrika im Kopf Die Gewissheit und sein Manko sind jeweils der Gradmesser dafür, inwieweit hinter dem postkolonialen Blick die Souveränität der Erzähler und seiner Figuren zurücktritt. Je souveräner die Erzählerstimme, so lässt sich vielleicht verallgemeinernd sagen, desto abgeschwächter der postkoloniale Blick. Die Grenze verläuft in den Romanen, die ich behandle, zwischen historiographischer Metafiktion und historischem Roman: Ersterer sind Stangls Der einzige Ort und Christof Hamanns Usambara,5 Letzterem ist Alex Capus’ Eine Frage der Zeit zuzurechnen. Hans Christoph Buchs Apokalypse Afrika bildet als Romanessay einen Sonderfall, der sich in diese Unterscheidung so ohne weiteres nicht integrieren lässt. Anders als im historischen Roman ist für die historiographische Metafiktion das Moment der ästhetischen Selbstreflexion prägend, wobei diese mit der »theoretischen Reflexion über Probleme und Aporien« (Nünning 2002: 548)

4

Das gilt vor allem für sein entsprechendes Kapitel über Kafka (vgl. Buch 1972).

5

Diese Zuordnung findet sich auch bei Dunker (2012b: 317) und Catani (2009: 162).



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nicht nur der Geschichte, sondern auch ihrer Schreibung eng verknüpft ist. Die historiographische Metafiktionalität reflektiert insofern immer auch Sprache in ihrem eigenen, zeitgenössischen und geschichtlichen Gebrauch mit. Darin – in der Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart – liegt zugleich aber wieder ein Bezug zum aktuellen historischen Roman, der im Lichte seiner Entfaltung des Vergangenen das aktuelle Wissen stützt, negiert und/oder transzendiert. Bei dieser Gemeinsamkeit bleibt es freilich nicht: Christof Hamann und Alexander Honold haben im Gegenteil eine Reihe spezifischer Merkmale herausgearbeitet, die für die Literarisierung historischer Entdeckungsreisen konstitutiv sind und auf die ich mich gerne beziehen möchte. Dazu gehört: • die ausführliche Bezugnahme auf Prätexte in Form von Reiseberichten

oder in diesem Kontext stehende historische Darstellungen; • deren Überschreibung; • die Vervielfältigung von Figurenkonstellationen und Perspektiven; • das Nebeneinander unterschiedlicher Genres sowie von Dokument und

Fiktion; • die Arbeit mit unterschiedlichen Zeitebenen; • der Einsatz von zweispurigen Figuren (vgl. Hamann/Honold 2009: 13ff.).

Dass die beiden zuletzt genannten Punkte nicht unbedingt auf das Gleiche hinauslaufen, belegen meine Romanbeispiele. Allen ist zunächst gemeinsam, dass ihre Gegen-Geschichten parallel bzw. kontrastiv angelegt sind. Bei Thomas Stangl machen sich Ende der 1820er Jahre unabhängig voneinander und im zeitlichen Abstand von zwei Jahren der britische Offizier Major Alexander Laing und der aus Frankreich stammende »allseits belächelt[e] Proletenjunge« (Stangl 2009: 267) René Caillié auf den Weg in die sagenumwobene Stadt Timbuktu. Im Roman von Alex Capus bewegen sich zwei Geschichten aufeinander zu: die Geschichte dreier deutscher Schiffsbauer, die unmittelbar vor Ausbruch des 1. Weltkriegs beauftragt werden, die in ihre Einzelteile zerlegte ›Götzen‹ über Land und Wasser zu transportieren und am Tanganjikasee wieder aufzubauen, und die Geschichte des britischen Marineoffiziers Geoffrey Spicer Simson, der im Frühjahr 1915 das Kommando für eine militärische Operation an dem strategisch wichtigen See erhält. Christof Hamanns Usambara verschränkt die Kilimandscharo-Expedition Hans Meyers Ende der 1880er Jahre mit der Familiengeschichte Fritz Binders, eines aus Wuppertal stammenden Briefträgers, der 2006 an einem Berglauf auf den höchsten Berg im Kilimandscharo-Massiv teilnimmt und damit seinem Urgroßvater, Leonhard Hagebucher, einem fingierten Teilnehmer der Meyer-Expedition, in gewisser Weise nacheifert. Und Hans





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Christoph Buch führt collageartig historische Ereignisse der Geschichte Afrikas, seines Kolonialismus, aktuelle Konflikte und postkoloniale Be- und Ermächtigungen zusammen. Einerseits stehen die Erzählungen und ihre Figuren also in mehr oder weniger unmittelbar zeitlicher Nähe zueinander, anderseits überspannen sie einen weitreichenden Zeitraum, der sich wie im Falle Buchs auf rund 200 Jahre erstreckt und Figuren einbezieht, deren Gemeinsamkeit in einer mal bestimmten, mal unbestimmten Beziehung zur afrikanischen Vergangenheit und Gegenwart besteht. Im Rahmen dieser zeitlichen Perspektivierung kommt es nicht nur zur Verschränkung von kolonialer bzw. präkolonialer Vergangenheit und postkolonialer Gegenwart, es »überlagern einander distinkte historisch-geographische Referenzebenen, und dementsprechend auch zwei oder mehrere Diskursflächen.« (Hamann/Honold 2009: 15) Allerdings folge ich Hamann/Honold nicht in ihrer Einschätzung, dass, wie etwa in Usambara, aus der Einbeziehung eines fiktiven Protagonisten aus der Lebenswelt der europäischen Gegenwart »ein selbstbewusster, sowohl sachlicher wie literarischer Abstand zu den erzählten Gegenständen gewonnen« werde (ebd.: 14). Hat dessen Einführung u.a. die Funktion, die Gegenstände, also das Schreiben und Wahrnehmen des Anderen – in concreto Afrikas –, zu hinterfragen und letzten Endes zu dessen Dekonstruktion beizutragen, so ist er ebenso Vehikel wie Betroffener. Er trägt sich in die Differenz ein, auf die der Text ausgerichtet ist, und schreibt sie fort, bis sie, wie am Ende von Usambara, unkenntlich wird. Selbstbewusstsein hat aber etwas mit Behauptung zu tun, mit Gewissheit – und nicht mit dessen Verschwinden. 6 In seiner bemerkenswerten Rezension über Thomas Stangls Der einzige Ort spricht Thomas Kraft davon, dass dessen Debütroman sich in die Phalanx eines kulturanthropologischen Interesses einfüge, einer Faszination für das Fremde der Fremde, die zugleich »alle Gewissheiten europäischer Intellektualität« erschüttere, »ohne sie jedoch ganz aufzugeben« (Kraft 2004). Von dieser Gewissheitsreduktion handeln mehrheitlich die Romane, auch davon, dass sie sich auf Aussagen darüber, was Afrika ist oder sein könnte, nicht festlegen lassen wollen. So wird eigentlich nicht über Afrika, sondern über die Wahrnehmung Afrikas und deren Inbesitznahme und topische Festlegung geschrieben, über Afrika im Kopf und auf der imaginären Landkarte, und über die Spuren, die der Raum und das Milieu, in dem sich die Figuren bewegen, in ihnen hinterlassen. Wenn daher im

6

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Dunker in Bezug auf Stangls Der einzige Ort, wenn er dem postkolonialen Blick attestiert, »dass Autor wie Erzähler ihre eigene Wahrnehmungsposition in das Buch eintragen, dass sie die Begrenztheit ihrer Perspektive reflektieren.« (2012b: 321)



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Titel meines Beitrags von Afrika-Konstruktionen die Rede ist, so ist damit gemeint: dass es analog zu Yoko Tawadas Europa, 7 Robert Müllers und Peter Bichsels Amerika8 und Edward Saids Orient (vgl. 2010) auch Afrika eigentlich nicht gibt – oder zumindest so nicht gibt, wie es uns die Einbildung suggeriert. Auch diese will verschoben werden. 3.2 Poetik der Verschiebung 9 Verschiebungen sind keine Richtigstellungen, noch führen sie dazu. Verschiebungen setzen hinter, über oder unter dem Diskurs an und geben ihm eine Wendung, bis das, was er ausgegrenzt hat, in Sichtweite ist. Verschiebungen brechen die Texturen, sie brechen sie auf und/oder sie brechen in sie ein, sie bleiben jedenfalls nicht das, was man von ihnen – aristotelisch – erwartet, und ergreifen in einer umfassenden – Struktur, Narration, Figuration und Thematik gleichermaßen einschließenden – Form von ihnen Besitz. Dabei kann, wie Thomas Kraft zu Recht anmerkt, eine »minimale Verschiebung von Wahrnehmungsperspektiven« (Kraft 2004) hervorgerufen werden, es kann aber auch zu regelrechten Umkeh-

7

Vgl. den Essay »Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht« (Tawada 2008: 46ff.) sowie ihren Europa-Kommentar in Überseezungen: »Europa sieht ganz unterschiedlich aus, je nachdem, durch welchen Eingang man hineinkommt« (Tawada 2010: 39).

8

Vgl. Robert Müllers Essay Roman des Amerikanismus: »Amerika ist schon so oft entdeckt worden und wird von jedem neu entdeckt, es gehört geradezu zum guten Ton eines Weltmannes, Amerika zu entdecken. Und doch müßte man, um Amerika zu entdecken, wie es ist, und es unter eine Formel zu bringen, vorerst gestorben, und hernach auf dem Schauplatze seines Urteils wieder auf die Welt gekommen sein. Man müßte ein Leben dort verbracht haben, ohne alle europäischen Voraussetzungen, backfischgemäß, und dann am Schlusse zu jener amerikanischen Anschauung gelangen, daß Amerika auch in der Kategorie des Urteils den Amerikanern gehört. Urteile über Amerika, Abänderungsvorschläge in seinem angeblichen Sinne sind müßig. Ach was, Amerika liegt am Monde und es ist ein Mangel an Positivismus, sich darauf zu beziehen. Amerika gibts überhaupt nicht.« (Müller 1912: 255) Vgl. auch Peter Bichsels fast gleichlautende Erzählung »Amerika gibt es nicht«, die dritte seiner insgesamt sieben Kindergeschichten aus dem Jahre 1969 (Bichsel 1997: 31-46).

9

Bei den nachfolgenden Ausführungen handelt es sich um Weiterführungen meines Beitrags »Bewegung und/als Inversion. Yoko Tawada, Thomas Stangl und Hans Christoph Buch« (Heimböckel 2016).





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rungen kommen, durch die die gewohnte Perspektive förmlich auf den Kopf gestellt wird. In ihrer radikalen Ausprägung ist die Verschiebung inversiv. Mit einer Inversion beginnt Alex Capus’ Eine Frage der Zeit. Er beginnt mit einem auch so titulierten »Nachspiel« (2009: 7) und eröffnet damit die Handlung des Romans von ihrer Rückseite. Im Klappentext heißt es: »In einer aus den Fugen geratenden Welt muss jeder auf seine Art versuchen, mit heiler Haut davonzukommen.« (Capus 2009) Das klingt nach Abenteuer, doch ist die Haut des Schiffsbauers Anton Rüter, der im Nachspiel die Szene beherrscht, alles andere als heil. Es handelt sich bei ihm vielmehr um die personifizierte Bankrotterklärung einer kolonialen Weltmachtspolitik, deren Desaster ihm förmlich auf den Leib geschrieben ist. Blind und irr vor Erschöpfung kletterte Anton Rüter den Bahndamm hinauf, dem er seit der Morgendämmerung entgegengelaufen war. […] Sein Haar war filzig, der Bart lang, die nackten Beine waren übersät mit Dschungelgeschwüren. Seine Uniform, die in Fetzen an ihm herunterhing, war ein phantastisches Sammelsurium aus den Schlachtfeldern, über die er geflohen war. Die Jacke hatte er einem toten belgischen Askari abgenommen, die kurze Hose einem rhodesischen Sergeanten, den Tropenhelm einem südafrikanischen Offizier. (Capus 2009: 5)

Von der Vision eines Platzes an der Sonne sind nur noch Fetzen übriggeblieben. Und Rüter trägt ihre Absurdität und ihren Wahn gleichsam körperlich aus. Der Körper wird hier wie auch in anderen Texten nicht nur zum Sinnträger einer Gegenschrift, die die Heldengeschichte dekonstruiert und so unmittelbar zur Subvertierung der kolonialen Lektüre beiträgt; als das schlechthin Eigene mutiert er in der Fremde selbst zum Fremden. So jedenfalls hat es Thomas Stangl für die Figuren seines Romans beschrieben. »Ich stelle mir vor, wie ihnen der eigene Körper, vielleicht mehr als die beschreibbare Außenwelt, zu etwas Fremdem werden konnte; und wie, vielleicht, parallel zum Fremdwerden des eigenen Körpers die Beschreibbarkeit der Außenwelt für sie unsicher wurde.« (Stangl 2009: 268) Die Umkehrung besteht in diesem Zusammenhang darin, dass zum Bildfeld des Schwarzen, Orientalen und Wilden diskursiv und topisch dessen Krankheit und – darwinistisch gewendet – auch dessen geistige und körperliche Unterlegenheit gehört.10 Das »Gesetz, daß sich der Stärkere durchsetze, könne man doch

10 Für den Orientalismus vgl. Said: »Neben anderen Völkern, die verschiedentlich als rückständig, entartet, unzivilisiert und retardiert galten, sah man auch die Orientalen oft durch die Brille des biologischen Determinismus und der moralisch-politischen



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allenthalben beobachten«, betont Oberarzt Haring bereits in Uwe Timms Morenga, um damit zugleich den Vernichtungsfeldzug gegen die ›Hottentotten‹ zu legitimieren. »Das Schwache sterbe ab, damit das Stärkere Platz und mehr Licht fände. Nur so gehe es voran und hinauf. Der Kampf ums Dasein sei das grundlegende Gesetz des Lebens.« (Timm 2008: 257) An diese Vorstellung knüpfen Konsul Hanmer Warrington und seine Gattin in Thomas Stangls Der einzige Ort mehr oder weniger nahtlos an, indem sie auf Laings Eindrücke aus seiner Begegnung mit Völkern in Westafrika wider besseres Wissen an die überlieferte Vorstellung »von deformierten Negern« (Stangl 2006: 61) anschließen und Kinder, Wilde und Irre auf eine Stufe stellen (vgl. ebd.: 31). Dabei hatte schon der Veterinär Gottschalk in Morenga zu bedenken gegeben, dass sich seine Landsleute wie »Lahme und Blinde« (Timm 2008: 418) durch die fremde Welt bewegen würden, womit er ansatzweise eine Position vorwegnimmt, die bei Thomas Stangl eine radikale Ausweitung erfährt, indem er die Europäer als Kranke und Dahinsiechende vorführt, die von der einheimischen Bevölkerung gepflegt und vor dem Sterben bewahrt werden. Bei Caillié hat man fast durchweg den Eindruck, als würde er auf der Schwelle zwischen Leben und Tod sein Dasein fristen, während Laing zumindest ansatzweise, wenn auch nicht gänzlich, noch Herr im Hause seines Körpers ist. Dafür leidet er ebenso wie Caillié unter dem Dilemma sprachlicher Exklusion. Wo Kolumbus, wie Stephen Greenblatt für die Entdeckungsreise in der Renaissance herausgearbeitet hat, der sprachlichen Exklusion dadurch entgeht, dass er seine Geschichte des Anderen bereits im Vorfeld seiner Reise erstellt und für ihn insofern der Fremde nur als ein leeres Zeichen existiert (vgl. Greenblatt 1994: 87ff.), ist Caillié angesichts der »Unsicherheit über die mögliche Nebenbedeutung eines jeden Satzes« (Stangl 2006: 135) der Verzweiflung nahe. Er hat wie Laing »in der fremden Sprache keine Wörter für Eigenes« (ebd.: 241). Mit der sprachlichen Entmächtigung korreliert die Verschiebung der Wahrnehmungsperspektive. Das führt einerseits dazu, dass den vermeintlich Sprachlosen eine Stimme gegeben wird, dass aber andererseits diejenigen, die man herkömmlicherweise in einer Position der Überlegenheit wähnt, nicht mehr als Subjekte des Geschehens erscheinen, sondern unversehens in eine Objektposition gerückt werden. So greift Hans Christoph Buch in seinem Essay über die »Hottentotten-Venus« (Buch 2011: 48-82) die Geschichte der Sarah Baartman als präkoloniale Aneignung eines Rassendiskurses auf, den die Betroffene dadurch, dass Buch ihr eine Stimme gibt, kommentiert und seine Abgründigkeit auf seine

Unterweisung. Insofern standen sie auf einer Stufe etwa mit Delinquenten, Geisteskranken, Frauen oder Armen.« (2010: 237)





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Akteure zurückspiegelt. Die Sarah Baartman unterstellte Monstrosität als Zeichen ihrer physischen Devianz und kulturellen Inferiorität (vgl. Ritter 2009: 130) – ablesbar daran, dass sie dem Prozess, der ihr 1810 in London gemacht wurde, angekettet in einem Käfig beiwohnte –, kontert sie mit dem Hinweis auf ihre häufigen Misshandlungen und damit, dass der Kannibalismus, den das zivilisierte Europa Afrika untergeschoben habe, in Paris selbst an ihr praktiziert worden sei: Cuvier zog mir die Haut ab, die später unter ungeklärten Umständen aus dem Museumsdepot verschwand und bei einem Schausteller in England wieder auftauchte, mit Holzwolle ausstaffiert und einem Drahtgestell als Gerüst; ähnlich wie mein vom Körper abgetrennter Kopf, der zuerst aus dem Archiv gestohlen und dann zurückerstattet wurde. Und wie Dr. Frankenstein löste Cuvier die Knochen aus meinem Skelett, um sie in schweißtreibender Arbeit neu zusammenzusetzen und im Museum auszustellen. (Buch 2011: 80)

Im Gegenlicht des postkolonialen Blicks zeigt sich so die Projektion auf den Anderen als Phantasiegerüst,11 aber eben auch als Projektion dessen, was dem eigenen Handeln zugrunde liegt bzw. Ängsten entspringt, die kanalisiert werden müssen. Die den Arabern in Der einzige Ort nachgesagte Hinterlist und Verstellung ist exakt der Modus (vgl. Stangl 2006: 79), der in der Politik einen guten Diplomaten adelt: Es gibt, darin ist sich Laing ganz sicher, »keine Diplomatie ohne Lügen, keinen Erfolg und keine Erfüllung ohne kleine Betrügereien und eine fast automatisch gelingende, fast zur Natur gewordene Verstellung.« (Ebd.: 83) Christof Hamanns Leonhard Hagebucher, ausgestattet mit dem »1x1 moderner Entdeckungsreisender in Afrika« aus dem Jahre 1887, hat sich demgegenüber von drei Faustregeln auch diejenige zu Herzen genommen, die den Inder zum Juden Afrikas mache: »Verschlagen und heimtückisch, betrügt er alle, auch Vater und Mutter.« (Hamann 2007: 71) Nur Mord falle nicht in sein Ressort. Das sei eher eine Eigenart des »Negers«, der, »wie schon der große Philosoph Hegel wusste, die gedankenlose Unmenschlichkeit und ekelhafteste Roheit beweisen und gegen alles toben« kann, »was sich in seiner nächsten Umgebung befindet.« (Ebd.: 71f.) Caillié sitzt diesem Wissen soweit auf, dass er seine Angst

11 In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass die nachträgliche Ermächtigung auch als reproduzierte Entmächtigung gelesen werden kann, indem die Sarah Baartman in den Mund gelegten Worte ihre Entleibung aus der Position vermeintlicher Überlegenheit wieder-holen, statt den mit der Entleibung einhergehenden kolonialen Exzess aufzubrechen.



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in der Begegnung mit der einheimischen Bevölkerung kaum in den Griff zu bringen vermag; »was würden sie (die angeblich Hunde, Katzen, Ratten und Eidechsen essen) mit einem hilflosen Fremden, einem bleichen unbeweglichen Wesen anstellen, das wie vom Himmel gefallen unter ihnen erscheint« (Stangl 2006: 124). Dass man ihm zuvorkommend und freundlich begegnet, ist für ihn genauso gewöhnungsbedürftig und fremd wie der Umstand, dass nicht er der Beobachter, sondern dass er selbst das Objekt der Beobachtung ist. Das gilt auch für Laing. Anders als Sarah Baartmann unangekettet und auf freiem Fuß, fühlt er sich in dem Umfeld, in dem er sich bewegt, »splitternackt; er geht im Kreis und fühlt sich wie ein Tier im Käfig, er wird schreiben, er ist ein Löwe, aber er ist traurig, ein Löwe zu sein: im Käfig, im Zoo, mit abgezogenem Fell, allen Blicken ausgeliefert.« (Ebd.: 252) Mit der Umkehrung der Beobachtung geht eine Perspektivverschiebung einher, für die Viktor Segalens Ästhetik des Diversen eine Möglichkeit der weiteren Differenzierung zur Verfügung stellt. Nach Segalen ist nicht »die Reaktion des Reisenden angesichts eines Milieus, sondern jene des Milieus auf einen Reisenden« entscheidend (Segalen 1994: 36). Denn die Ethnologen, die, wie Geertz es einmal bezeichnete, »von Berufs wegen als Eindringlinge« (Geertz 1987: 202) gekommen waren, müssen sich darauf gefasst machen, dass man um sie herum aufgrund ihres »entweder feindseligen oder andächtigen Verhaltens« mit »Zeichen von Argwohn oder Zutrauen« reagiere (Segalen 1994: 36). Entsprechend gilt der empathisch begabte Anton Rüter unter den Massai, deren Arbeit er beaufsichtigt, als »Deutsche[r] ohne Peitsche« (Capus 2009: 87) und Caillié in Der einzige Ort als bemitleidenswerte Kreatur, die angesichts ihrer Zurückhaltung und krankheitsbedingten Gebrechlichkeit der unbedingten Fürsorge bedarf. Beide stoßen allerdings auch ersichtlich an Grenzen der Wahrnehmung ihres Umfeldes, besonders Caillié, der ungeachtet seiner forcierten Assimilation ein Fremder bleibt und im Sinne Segalens zur Kenntnis zu nehmen hat, dass die »Sitten, die Rassen, die Nationen, die Anderen« (Segalen 1994: 44) nicht zu assimilieren sind. Dieser anti-assimilatorische Affekt ist dem postkolonialen Blick nicht im Sinne einer Fortschreibung Segalens – obwohl man sie zumindest bei Stangl voraussetzen darf (vgl. Stangl 2006: 371) –, aber doch als eines seiner Spezifika eingetragen. Und das heißt: statt Verständlichkeit – Unverständlichkeit, statt Gewissheit – Unsicherheit, statt Entdeckung – die Möglichkeit ihres Scheiterns, statt Überlegenheit – Angst und das Gefühl des Ausgeliefertseins, statt Subjekt der Bobachtung ihr Objekt.12

12 In einer Art Vorläuferschaft zur postkolonialen Tendenz der Umkehrung und Verschiebung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur steht das ethnopoetische





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Mit diesen, noch erweiterbaren Umkehrbewegungen sind die Ingredienzien einer kontrapunktischen Lektüre bezeichnet, von der schließlich auch Narration und Struktur der Texte betroffen sind. So macht Christof Hamanns Usambara, obwohl in der populären Vorstellung Erinnerung mit Echtheit und Tiefe gleichgesetzt wird, keinen Hehl daraus, dass sie »schummelt« (Hamann 2007: 82). Und sein Roman führt die Ungewissheit der Erinnerung so weit, dass sie die Familiengeschichte Fritz Binders in Frage stellt. Was soll man auch von der kolonialen Großtat einer Bergbesteigung halten, wenn sie u.a. von einer importierten Romanfigur bewerkstelligt worden sein soll? Die Einführung Leonhard Hagebuchers aus Wilhelm Raabes Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge (1867) dient, worauf Christof Hamann selbst hinweist, zum einen dazu, ihn in den kolonialen Kontext einzubinden (vgl. Hamann 2010: 208), zum anderen wird mit dessen fiktiver Erstbesteigung einer »interpolierenden Relektüre« (Dunker 2012a: 158) der Schriften Baumanns, Meyers und anderer Vorschub geleistet, die zur Irritierung des kolonialen Diskurses beiträgt. Während sich im Verlaufe von Usambara die Unzuverlässigkeit der Erinnerung als Revers zur Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz herausstellt – Fritz Binder zeichnet als Erzähler nicht nur für seine Geschichte, sondern auch für die Geschichte seines Großvaters verantwortlich –, wird Der einzige Ort von einem nicht näher identifizierbaren und insofern ebenfalls ungewissen ›Wir‹ erzählt. Stangl selbst bezeichnete dieses ›Wir‹ als gespenstisch und begründete es mit der »Gleichzeitigkeit von Identifikation und Fremdheit« und seinem »freien Durchlaufen von Zeitebenen, das doch nirgendwo einen sicheren Boden« finde (Stangl 2009: 269). Die narrative Einlassung auf ein ›Wir‹ ist freilich nicht ohne Brisanz und wenn man etwa an Arbeiten von Elfriede Jelinek, der Landsmännin Stangls und Meisterin in der Inszenierung des ›Wir‹ denkt, einigermaßen heikel. Denn sie hat in unterschiedlichen Zusammenhängen die dem ›Wir‹ historisch und diskursiv eingeschriebene Herrschafts- und Ausschlussgeste durchgespielt und damit dramatisch und narrativ vorgeführt, dass mit der Behauptung eines ›Wir‹ der nicht zum ›Wir‹ gehörende Teil als fremd markiert wird (vgl. Heimböckel 2011: 307ff.). »Als fremd gilt«, so Bernhard Waldenfels in seiner Topographie des Fremden, »was aus der jeweiligen kollektiven Eigenheitssphäre ausge-

Werk Hubert Fichtes, dessen antikolonialistischer Schreibimpuls prinzipiell mit der Infragestellung eingeschliffener Wissens- und Organisationsformen einhergeht. In seinem programmatischen Beitrag »Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen« aus dem Jahre 1976 heißt es entsprechend: »Widersprüche, Lügen, das Unechte, die Übertreibung, das Inkohärente stehen lassen, nicht wegkitten – Zweifel, Niederlagen.« (Fichte 1980: 364)



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schlossen und von der kollektiven Existenz getrennt ist, was also nicht mit Anderen geteilt wird. Fremdheit bedeutet in diesem Sinne Nichtzugehörigkeit zu einem Wir.« (Waldenfels 1999: 22) Dass Stangl sich eines solchen, dichotomisch organisierten ›Wir‹13 in einem Roman bedient, der sich sprachlich gerade nicht an Gegensätzen abarbeitet, sondern sich »an der Grenze zwischen dem Wirklichen und der Täuschung, zwischen dem Eigenen und dem Fremden« (Stangl 2006: 16) ausprägen soll, wirkt selbst befremdlich und scheint der erzählerischen Intention eher zuwiderzulaufen, als sie zu bestätigen. Was aber geschieht, ist ebenso erstaunlich wie nachvollziehbar, wenn man Stangls ›Wir‹ als Produkt einer Entdichotomisierung liest, mit der einerseits Distanz zu sich selbst erzeugt und andererseits versucht wird, das Fremde, das faktisch abwesend ist, zu evozieren bzw. in der Evokation aufscheinen zu lassen. Stangl beschreibt es wie folgt: Ein möglichst dichtes Gewebe muss den sicheren Boden ersetzen; das »Wir« betritt jeden Moment der Vergangenheit, so wie ein »Entdecker« ein neues Stück Land betreten würde, schlüpft in einem fremden Körper, einem fremden Blick unter, vergisst dabei nicht, dass es seine Sprache dem Körper und dem Blick eines Toten leiht. Es ist das, was ich als zeitlichen Schnitt bezeichnet habe: eine ständige Bewegung der Selbstdistanzierung, die doch den Raum dieses Präsens nie verlässt; es geht nicht um die Beschreibung von etwas Vorhandenem, sondern um die möglichst intensive Evokation von etwas Abwesendem, das, aus den vorhandenen Spuren rekonstruiert und zugleich sozusagen nachgeträumt, in jedem Detail wiedererscheinen soll, die Notwendigkeit einer Fieberfantasie gewinnen, einen Punkt des Umkippens ins Überwirkliche erreichen. (Stangl 2009: 269)

So liegt in der Evokation des Abwesenden das eigentliche erzählerische Anliegen des ›Wir‹. Ob das ›Wir‹ darauf gefasst sein muss, dass es am Ende der Übermacht des habitualisierten Drangs zur Exklusion Tribut zollen muss, ist eine Frage, die sich der Leser beantworten muss, nicht aber der Text. Der Text ist mithilfe des ›Wir‹ und dessen Ausweitung darauf aus, die Zwischenräume bzw. dasjenige zu erkunden, das in den Abenteuerromanen und Entdeckungsberichten ausgelassen wurde: »die Leerläufe, das Nicht-Weiterkommen, die Missverständnisse in der Kommunikation, die körperliche Erfahrung des Reisens.« (Ebd.: 269) Darum ist dem Text anders als den herkömmlichen Reiseromanen nicht das

13 Zur dichotomischen Struktur des ›Wir‹ vgl. auch Said (2010: 261, 271) sowie Rorty (1992: 307): »Ich behaupte, daß die Kraft des ›wir‹ charakteristisch von einem Kontrast lebt: ›wir‹ bildet einen Kontrast zu ›ihnen‹, die ebenfalls Menschen sind – aber Menschen von der falschen Sorte.«





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Fortkommen, sondern das Steckenbleiben wichtig. Das »Festhängen ist die Reise« (Stangl 2006: 539), heißt es am Ende des Romans in einer Art UmkehrSchluss, weil sich in diesen Momenten der Raum für die Schriften öffnet, die nicht geschrieben wurden oder unerhört geblieben sind.

4. S CHLUSS »Eine reine postkoloniale Umkehrung des kolonialen Diskurses böte kein Entkommen aus dessen Kategoriensystem, es bedarf im Anschluss an die Dekonstruktion der Dissemination, der Auflösung des Koordinatensystems.« (Dunker 2012b: 324) Axel Dunker spricht damit ein Problem des kolonialen rewriting an, das er im Falle von Stangls Der einzige Ort dadurch ausgeräumt sieht, dass der Roman die Diskurse der Reihe nach nicht nur umkehrt, sondern im Prozess der Dekonstruktion auch zur Auflösung bringt (vgl. ebd.). Was damit gemeint ist, geht über die Kolonialismuskritik und Problematisierung traditioneller AfrikaWahrnehmungen hinaus; es geht auch hinaus über den Nachweis der Fortschreibung kolonialer Denkmuster in der aktuellen Auseinandersetzung mit Afrika wie auch im Postkolonialismus selbst. Mit welcher Sprache schreibe ich über den Anderen, wenn mir nur meine Sprache, die, um mit Derrida zu sprechen, nicht einmal die eigene ist (vgl. Derrida 2003), zur Verfügung steht? Eine Möglichkeit besteht darin, sie, wie bei Christof Hamann, in ihrer prätextlichen Bedingtheit vorzuführen – eine andere in der Demonstration ihrer Unverfügbarkeit, mit der aber zugleich der Eintritt einer fremden Sprache zugelassen wird, die zur Verschiebung der in meiner Sprache aufgehobenen Perspektive beiträgt. Bei Stangl sind es die zahlreichen Quellen aus der afrikanischen Überlieferung, die sich der Geschichte Timbuktus und der Niger-Region widmen und deren Einbeziehung einen doppelten Effekt erzeugt: »Zum einen macht sie klar, dass Timbuktu nicht der geschichtslose Ort ist, als den die Europäer die Stadt und den ganzen Kontinent imaginieren; zum anderen wird deutlich, dass die Afrikaner keine sprachlosen Objekte der europäischen Beobachtung sind.« (Bay 2009: 141) Die Gewissheitsreduktion des postkolonialen Blicks bildet insofern die Voraussetzung für die Korrektur der europäischen Perspektive, als sie auf deren Einsinnigkeit, Lücken und Unkenntnis hinweist; sie stellt damit aber auch das Eigene prinzipiell und radikal in Frage. In einem gewissen Gegensatz dazu stehen Alex Capus’ Eine Frage der Zeit und Hans Christoph Buchs Apokalypse Afrika. Bei Hans Christoph Buch trägt der postkoloniale Akt der Verschiebung – anders als vor allem bei Stangl – noch deutliche Spuren seines Verfremdungskonzeptes, das die in der Deplatzierung



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liegende Auflösungs- bzw. Überschreitungsgeste zum Teil wieder zurücknimmt. Denn insofern Verfremdung für Buch u.a. heißt, »den Automatismus der Wahrnehmung zu durchbrechen, indem das Fremde vertraut […] gemacht wird« (Buch 1991: 12), findet doch eine Fest- bzw. Zuschreibung statt, die dem Fremden die Andersheit nimmt. Die Figur Sarah Baartmans beispielsweise wird, indem sie in der Sprache ihrer Peiniger spricht, so in gewisser Weise noch einmal kolonialisiert. Von einer Kolonialisierung des Anderen kann demgegenüber bei Capus kaum die Rede sein. Das hängt aber insbesondere damit zusammen, dass die Lebenswelt der einheimischen Bevölkerung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, so gut wie keine Rolle spielt. Der postkoloniale Blick bleibt weitgehend auf die Europäer beschränkt. Und zweitens werden davon – und vielleicht auch als Konsequenz daraus – die Sprache und das Problem der Repräsentation nicht tangiert. Wir haben es bei dem Roman mit einem souverän erzählten Buch zu tun, vielleicht zu souverän angesichts des in ihm verhandelten Scheiterns.14 Die Gegengeschichte, die Capus zu erzählen hat, ist jedenfalls keine, die von der prekären Einsicht in die Textur des Fremdverstehens affiziert ist (vgl. Scherpe 2010: 251). Und die Frage, wie man über Afrika schreibt, wenn man denn überhaupt über Afrika schreiben kann, ist meines Erachtens unauflöslich damit verknüpft.

B IBLIOGRAPHIE Bachmann-Medick, Doris (1992): »Writing Culture« – ein Diskurs zwischen Ethnologie und Literaturwissenschaft. In: KEA. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 4, S. 1-20. Bachmann-Medick (32009): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek. Bay, Hansjörg (2009): Going native? Mimikry und Maskerade in kolonialen Entdeckungsreisen der Gegenwartsliteratur (Stangl; Trojanow). In: Hamann, Christof/Honold, Alexander (Hg.): Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen. Göttingen, S. 117-142. Bay, Hansjörg (2012): Literarische Landnahme? Um-Schreibung, Partizipation und Wiederholung in aktuellen Relektüren historischer ›Entdeckungsreisen‹.

14 Mit Hansjörg Bay ließe sich Capus’ Eine Frage der Zeit insofern jener Kategorie des postkolonialen Romans zuordnen, die Gefahr läuft, »dem kolonialen Sog ihres Stoffs zu erliegen.« (Bay 2012: 130)





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In: Ders./Struck, Wolfgang (Hg.): Literarische Entdeckungsreisen. Vorfahren – Nachfahrten – Revisionen. Köln (u.a.), S. 107-131. Bhabha, Homi K. (2007): Die Verortung der Kultur. Unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. Tübingen. Bichsel, Peter (1997): Kindergeschichten. Frankfurt a.M. Buch, Hans Christoph (1972): Entfremdung und Verfremdung in Kafkas ›Amerika‹-Roman. In: Ders.: Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács. München, S. 222-269. Buch, Hans Christoph (1991): Die Nähe und die Ferne. Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks. Frankfurt a.M. Buch, Hans Christoph (2011): Apokalypse Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern. Romanessay. Frankfurt a.M. Buch, Hans Christoph/Lubrich, Oliver (2009): Hans Christoph Buch im Gespräch mit Oliver Lubrich. »Wie ich Livingston fand«. Reise ins äußerste Afrika. In: Hamann, Christof/Honold, Alexander (Hg.): Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen. Göttingen, S. 171-179. Capus, Alex (92009): Eine Frage der Zeit. München. Catani, Stefanie (2009): Metafiktionale Geschichte(n). Zum unzuverlässigen Erzählen historischer Stoffe in der Gegenwartsliteratur. In: Hamann, Christof/Honold, Alexander (Hg.): Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen. Göttingen, S. 143-168. Clifford, James (1986): Introduction: Partial Truths. In: Ders./Marcus, George E.: Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Los Angeles/London, S. 1-26. Clifford, James (1988): The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art. Cambridge/Mass. Clifford, James/Marcus, George E. (1986): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Los Angeles/London. Derrida, Jacques (2003): Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese. München. Dunker, Axel (2012a): »Es ist eine Frage des Gedächtnisses.« Relektüren historischer und literarischer Texte in Christof Hamanns Usambara. In: Bay, Hansjörg/Struck, Wolfgang (Hg.): Literarische Entdeckungsreisen. Vorfahren – Nachfahrten – Revisionen. Köln (u.a.), S. 157-171. Dunker, Axel (2012b): Postkoloniale Ästhetik? Einige Überlegungen im Anschluss an Thomas Stangls Roman Der einzige Ort. In: Uerlings, Her-



V ERSCHOBENE E INBILDUNGEN

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bert/Patrut, Iulia-Karin (Hg.): Postkolonialismus und Kanon. Bielefeld, S. 315-325. Fichte, Hubert (1980): Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen (1976). In: Ders.: Petersilie. Die afroamerikanischen Religionen IV. Santo Domingo – Venezuela – Miami – Grenada. Frankfurt a.M., S. 359-365. Fulda, Daniel (32007): Historischer Roman. In: Burdorf, Dieter u.a. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart/Weimar, S. 318-319. Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. Gottowik, Volker (2007): Zwischen dichter und dünner Beschreibung: Clifford Geertz’ Beitrag zur Writing Culture-Debatte. In: Därmann, Iris/Jamme, Christoph (Hg.): Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren. München, S. 119-142. Göttsche, Dirk (2003): Der neue historische Afrika-Roman. Kolonialismus aus postkolonialer Sicht. In: German Life and Letters 56, H. 3, S. 261-280. Göttsche, Dirk (2012): Rekonstruktion und Remythisierung der kolonialen Welt. Neue historische Romane über den deutschen Kolonialismus in Afrika. In: Hoffmann, Michael/Morrien, Rita (Hg.): Deutsch-afrikanische Diskurse in Geschichte und Gegenwart. Literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Amsterdam/New York, S. 171-195. Göttsche, Dirk (2013): Remembering Africa. The Rediscovery of Colonialism in Contemporary German Literature. Rochester (NY). Greenblatt, Stephen (1994): Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker. Berlin. Hamann, Christof (2007): Usambara. Göttingen. Hamann, Christof (2010): Der Erzähler und sein Autor. Nachträgliche Gedanken zu meinem Roman Usambara. In: Literatur für Leser 33, H. 4, S. 205-209. Hamann, Christof/Honold, Alexander: Ins Fremde schreiben. Zur Literarisierung von Entdeckungsreisen in deutschsprachigen Erzähltexten der Gegenwart. In: Ders./Honold, Alexander (Hg.): Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen. Göttingen, S. 9-20. Heimböckel, Dieter (2011): Gewalt und Ökonomie. Elfriede Jelineks Dramaturgie(n) des beschädigten Lebens. In: JELINEK[JAHR]BUCH, S. 302-315. Heimböckel, Dieter (2015): »wie Dreirad und Derrida«. Yoko Tawadas Writing Back. In: Banoun, Bernard/Ivanovic, Christine (Hg.): Eine Welt der Zeichen. Yoko Tawadas Frankreich als Dritter Raum. Mit dem Tagebuch der beben-





382 | D IETER H EIMBÖCKEL

den Tage und zwei weiteren Originaltexten von Yoko Tawada. München, S. 246-263. Heimböckel, Dieter (2016): Bewegung und/als Inversion. Yoko Tawada, Thomas Stangl und Hans Christoph Buch. In: Hess-Lüttich, Ernest W.B./Maltzan, Carlotta von/Thorpe, Kathleen (Hg.): Gesellschaften in Bewegung. Literatur und Sprache in Kriesen- und Umbruchzeiten. Frankfurt a.M. Kohl, Karl-Heinz (22000): Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung. München. Kraft, Thomas: Die Reise nach Timbuktu. Thomas Stangls beeindruckender Debütroman »Der einzige Ort«. In: der Freitag 46, 05.11.2004, S. 14. Moebius, Stephan (2009): Kultur. Bielefeld. Müller, Robert (1912): Der Roman des Amerikanismus. In: Saturn 3, S. 253258. Nünning, Ansgar (2002): Von der fiktionalen Historie zur metahistoriographischen Fiktion: Bausteine für eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorie, Typologie und Geschichte des postmodernen historischen Romans. In: Fulda, Daniel/Tschopp, Silvia Serena (Hg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin/New York, S. 541-569. Ritter, Sabine (2009): ›Présenter les organes génitaux‹. Sarah Baartman und die Konstruktion der Hottentottenvenus. In: Hund, Wulf. D. (Hg.): Entfremdete Körper. Rassismus als Leichenschändung. Bielefeld, S. 117-163. Rorty, Richard (1992): Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M. Said, Edward (22010): Orientalismus. Frankfurt a.M. Scherpe, Klaus R. (1997): Grenzgänge zwischen den Disziplinen. Ethnographie und Literaturwissenschaft. In: Boden, Petra/Dainat, Holger (Hg.): Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Berlin, S. 297-315. Scherpe, Klaurs R. (2010): Der Schrecken der Anderen: Über koloniale und postkoloniale Repräsentation. In: Literatur für Leser 33, H. 4, S. 233-253. Segalen, Victor (1994): Die Ästhetik des Diversen. Versuch über den Exotismus. Frankfurt a.M. Stangl, Thomas (22006): Der einzige Ort. München. Stangl, Thomas (2009): »Black specks amid a waste of dreary sand…«. Traum, Enttäuschung und Fremdheit der Erfahrung. In: Hamann, Christof/Honold, Alexander (Hg.): Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen. Göttingen, S. 267-272. Tawada, Yoko (62008): Talisman. Tübingen.



V ERSCHOBENE E INBILDUNGEN

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Tawada, Yoko (32010): Überseezungen. Tübingen. Timm, Uwe (82008): Morenga. München. Waldenfels, Bernhard (21999): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1. Frankfurt a.M.







Autorinnen und Autoren

Beck, Laura, Dr. phil., Lektorin für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Liège, Belgien. Arbeitsschwerpunkte: Interkulturelle und postkoloniale Literaturwissenschaft, Neuere deutsche Literatur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Historischer Roman. Wichtigste Publikationen: Postkolonialismus und (Inter-)Medialität. Perspektiven der Grenzüberschreitung im Spannungsfeld von Literatur, Musik, Fotografie, Theater und Film (Mhg.; 2016); »Niemand hier kann eine Stimme haben«? Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus postkolonialer Perspektive (erscheint voraussichtlich 2016). Breuer, Ingo, Dr. phil., wiss. Mitarbeiter für Neuere deutsche Literatur an der Universität zu Köln, Studium in Marburg und Coventry, Hochschultätigkeit u.a. in Amsterdam, Bristol und Trento. Arbeitsschwerpunkte: Kulturwissenschaft und Literaturgeschichte des 17. – 21. Jahrhunderts. Wichtigste Publikationen: Die sieben Todsünden (Mhg., 2015); Gesprächsspiele und Ideenmagazine. Heinrich von Kleist und die Briefkultur um 1800 (Mhg., 2013); Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Hg., 2009); Theatralität und Gedächtnis. Deutschsprachiges Geschichtsdrama seit Brecht (2004), Kleist-Jahrbuch (Mhg., seit 2004); Robert Musils »Die Amsel«. Kritische Lektüren (Mhg., 2000); Der fremde Blick. Perspektiven interkultureller Kommunikation und Hermeneutik (Mhg., 1997). Domdey, Jana, M.A., Mitarbeiterin an der Universität Tübingen. Promoviert über postkoloniale Poetiken der neuen deutschen Afrikaliteratur (gefördert durch das Schlieben-Lange-Programm und die Landesgraduiertenförderung BadenWürttemberg). Wichtigste Publikationen: AnOther Africa. (Post-)Koloniale Afrikaimaginationen im russischen, polnischen und deutschen Kontext (Mhg., 2016).



386 | P OSTKOLONIALISMUS UND (I NTER -)M EDIALITÄT

Dunker, Axel, Dr. phil., Professor für neuere und neueste deutsche Literaturwissenschaft und Literaturtheorie an der Universität Bremen; Gastprofessuren in Bielefeld und Wien. Arbeitsschwerpunkte: postkoloniale Studien, Interkulturalität, Gegenwartsliteratur, Intertextualität. Wichtigste Veröffentlichungen: Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz (2003); (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der anglo-amerikanischen Literatur- und Kulturtheorie (Hg., 2005); Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts (2008); Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren (Mhg., 2014); Arno Schmidt und der Kanon (Mhg., 2015). Ellenbruch, Peter, M.A., als Filmwissenschaftler wiss. Mitarbeiter am Institut für Germanistik (Abt. Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik) an der Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: frühes Kino und Stummfilm, bundesdeutsches Kino und Fernsehen der 1950er und 1960er Jahre, Filmphantastik. Genç, Metin, Dr. phil., wiss. Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur, Literatur und Wissen, Literaturtheorie, literarische Zeit- und Raumformierungen. Wichtigste Publikationen: Ereigniszeit und Eigenzeit. Zur literarischen Ästhetik operativer Zeitlichkeit (2016); Institutionen der Pädagogik. Studien zur Kultur- und Mediengeschichte ihrer ästhetischen Formierungen (Mhg., 2016). Gerstner, Jan, Dr. phil., wiss. Mitarbeiter an der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Literatur des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Intermedialität, postkoloniale Literaturwissenschaft, Theorie und Geschichte der Idylle, Arbeit und Muße in der Literatur um 1800 (Projekt). Wichtigste Publikationen: Das andere Gedächtnis. Fotografie in der Literatur des 20. Jahrhunderts (2013). Hamann, Christof, Dr. phil., Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Literatur-, Kultur- und Mediengeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Wichtigste Publikationen: Zwischen Normativität und Normalität. Zur diskursiven Position der ›Mitte‹ in populären Zeitschriften nach 1848 (2014); Was Fußball macht. Zur Kultur unseres Lieblingsspiels (Mhg., 2014); Sprachen der Liebe in Literatur, Film und Musik. Von Platons ›Symposion‹ bis zu TV-Serien der Gegenwart (Mhg., 2015); Institutionen der Pädagogik. Studien zur Kultur- und Mediengeschichte ihrer ästhetischen Formierungen (Mhg., 2016).



A UTORINNEN UND A UTOREN

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Heimböckel, Dieter, Dr. phil., Professor für Literatur und Interkulturalität an der Universität Luxemburg. Arbeitsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Interkulturalität, Literatur- und Kulturtheorie, Drama und Theater, Literatur und Wissen/Nichtwissen, Moderne. Wichtigste Publikationen: Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit (1996); Sprachkritik im Werk Heinrich von Kleists (2003); Der Bildhunger der Literatur (Mhg., 2005); Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften (Mhg., 2010); Kein neues Theater mit alter Theorie. Stationen der Dramentheorie von Aristoteles bis Heiner Müller (2010); Verortungen der Interkulturalität (Mhg., 2012); Kleist. Vom Schreiben in der Moderne (Hg., 2013); Elfriede Jelinek. Begegnungen im Grenzgebiet (Mhg., 2014). Mitherausgeber der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (gegr. 2010). Lemme, Sebastian, Doktorand an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology und wiss. Mitarbeiter am Institut für Weltgesellschaft an der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Visual Culture Studies/Bildsemiotik, postkoloniale Theorie und kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Migrationsund Entwicklungssoziologie. Dissertationsprojekt (Soziologie) zu dem Thema: ›Postkoloniale Imaginationen, Weißsein und visuelle Kommunikation. Zur Kontinuität und Transformation deutscher Selbst- und Fremdbilder im visuellen Diskurs um nationale Zugehörigkeit‹. Nonoa, Koku G., Mag., Studium der interkulturellen Germanistik und pluridisziplinäres Vorpromotionsstudium (›Diplôme d'études approfondies pluridisciplinaires‹) an der Universität von Lomé (Togo); Stipendiat an der Universität Innsbruck im Rahmen des Doktoranden_innenkollegs ›Figuration Gegenkultur‹. Dissertationsprojekts zu dem Thema: ›Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater: grenzüberschreitendes Theater?‹. Arbeitsschwerpunkte: Formen des prädramatischen, dramatischen und postdramatischen Theaters im europäischen und außereuropäischen Raum, Ritualität/Performativität/Transkulturalität im Gegenwartstheater, Kunst/Gegenwartskunst. Außerdem: freier Schauspieler und Regisseur. Osthues, Julian, Dr. phil., wiss. Mitarbeiter an der Universität Bremen. 2004– 2012 Studium der Fächer Germanistik/Musik auf Lehramt und anschließend Doktorand an der TU Dortmund; 2012–2016 Stipendiat des Fonds National de la Recherche (FNR) und Promotion am Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität an der Universität Luxemburg. Arbeitsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Theorien des Postko-





388 | P OSTKOLONIALISMUS UND (I NTER -)M EDIALITÄT

lonialismus und der Interkulturalität, Intertextualität, Literarische Dinge, Literatur und Reisen. Wichtigste Publikationen: Postkolonialismus und (Inter)Medialität. Perspektiven der Grenzüberschreitung im Spannungsfeld von Literatur, Musik, Fotografie, Theater und Film (Mhg., 2016); Literatur als Palimpsest. Postkoloniale Ästhetik im deutschsprachigen Roman der Gegenwart (2017). Quadt, Christopher, M.A., Promotionsstipendiat der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne im Fach Deutsche Philologie an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Popkultur, Medientheorie. Mhg. der Literaturzeitschrift schliff. Staszczak, Justyna, M.A., Mitarbeiterin an der Universität Fulda (Sozial/Kulturwissenschaften). Dissertationsprojekts zu dem Thema: ›Antidiskriminierungsarbeit im Vergleich. Eine empirische Studie über den Trainingsansatz »Social Justice und Diversity« sowie »Blue Eyed« Workshop‹. Wichtigste Publikationen: Geduldet, nicht erwünscht. Auswirkungen der Bleiberechtsregelung auf die Lebenssituation geduldeter Flüchtlinge in Deutschland (Mhg., 2010). Thurn, Nike, Dr. phil., wiss. Mitarbeiterin an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Literarischer Antisemitismus, kulturwissenschaftliche Literaturtheorie. Wichtigste Publikationen: »Falsche Juden«. Performative Identitäten in der deutschsprachigen Literatur von Lessing bis Walser (2015); Themenheft Literarischer Antisemitismus in Der Deutschunterricht (Hg., 2015). Werkmeister, Sven, Dr. phil., Referent für universitäre Entwicklungsplanung an der Justus-Liebig-Universität Gießen; 2004–2007 Stipendiat des DFGGraduiertenkollegs »Codierung von Gewalt im medialen Wandel« an der Humboldt Universität zu Berlin (HU); 2007/08 wiss. Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur der HU; 2009–2014 Leiter des DAAD Informationszentrums Bogotá/Kolumbien und Dozent für deutsche Literatur an der Universidad Nacional de Colombia. Arbeitsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur, Diskurs- und Medientheorie, Geschichte der Ethnologie und Ethnographie. Wichtigste Publikationen: Techniken der Übereinkunft. Zur Medialität des Politischen (Mhg. 2009); Kulturen jenseits der Schrift. Zur Figur des Primitiven in Ethnologie, Kulturtheorie und Literatur um 1900 (2010); Los hermanos Alexander y Wil-



A UTORINNEN UND A UTOREN

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helm von Humboldt en Colombia. Huelleas históricas de la cooperación científica entre dos continents (Mhg., 2013). Wiegmann, Eva, Dr. phil., wiss. Mitarbeiterin im Projekt ›Diachrone Interkulturalität‹ am Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität an der Universität Luxemburg; Promotion an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; anschließend FNR- und Marie-Curie-Actions-Postdoc-Stipendiatin an der Universität Luxemburg. Arbeitsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur vom 19. Jhd. bis zur Gegenwart, ästhetische Innovation im Kontext von Epochenschwellen, Interkulturalität, postkoloniale Studien, Kulturkritik und Antimoderne, Ecocriticism, Literatur der Schweiz. Wichtigste Publikationen: Kulturkritik und Naturverbundenheit im Werk von Meinrad Inglin. Von der antimodernen Verweigerung zur konstruktiven Kulturkritik (2012); Interkulturelles Labor: Luxemburg im Spannungsfeld von Integration und Diversifikation (Hg., 2016).





Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft Lavinia Heller (Hg.) Kultur und Übersetzung Studien zu einem begrifflichen Verhältnis Februar 2017, ca. 250 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2963-7

Corinna Albrecht, Andrea Bogner (Hg.) Tischgespräche: Einladung zu einer interkulturellen Wissenschaft Januar 2017, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2206-5

Elena Enda Kreutzer Migration in den Medien Eine vergleichende Studie zur europäischen Grenzregion SaarLorLux Oktober 2016, 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3394-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft Schamma Schahadat, Stepán Zbytovsky (Hg.) Übersetzungslandschaften Themen und Akteure der Literaturübersetzung in Ost- und Mitteleuropa Februar 2016, 288 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3302-3

Michaela Holdenried, Weertje Willms (Hg.) Die interkulturelle Familie Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven (in Zusammenarbeit mit Stefan Hermes) 2012, 276 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1880-8

Thomas Ernst, Dieter Heimböckel (Hg.) Verortungen der Interkulturalität Die ›Europäischen Kulturhauptstädte‹ Luxemburg und die Großregion (2007), das Ruhrgebiet (2010) und Istanbul (2010) 2012, 316 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1826-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Gesine Lenore Schiewer, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6. Jahrgang, 2015, Heft 2

Dezember 2015, 204 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-3212-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-3212-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die ZiG - als print oder E-Journal - kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 27,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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