Grenz-Übergänge: Zur ästhetischen Darstellung von Flucht und Exil in Literatur und Film 9783839446096

The volume deals with literary texts and films that stand at odds with homogenizing notions of identity, highlighting th

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Grenz-Übergänge: Zur ästhetischen Darstellung von Flucht und Exil in Literatur und Film
 9783839446096

Table of contents :
Inhalt
Einleitung der Herausgeber
I. Flucht und Asyl
Multiperspektivität der Flucht in Maxi Obexers Wenn gefährliche Hunde lachen (2011), Daniel Zipfels Eine Handvoll Rosinen (2015) und Emad Blakes Mama Merkel (2016)
Befestigte Grenzen
Europa mit schwerer Havarie bei Merle Kröger
Flüchtlinge auf Überfahrt – Europa im Übergang?
Vom Norden in den Süden, vom Süden in den Norden
II. Migration und Mehrsprachigkeit
Flucht in den Norden
Flucht und Dasein
Mumbai als Schmelztiegel
Mumbai und Mehrsprachigkeit in indischen Filmen
Sprachverlust im Exil und Mehrsprachigkeit im Film
III. Exil und Diaspora
Hölderlins Hyperion: Eine europäische Flüchtlingsgeschichte?
Lückenhaft: Memoiren einer arabischen Prinzessin (1886)
Verbundene Zerstreuung
Bilder der ›erzwungenen Wanderschaft‹ in Jan Klatas Aufführung Transfer
Europa in Bewegung
Autorinnen und Autoren

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Matthias Bauer, Martin Nies, Ivo Theele (Hg.) Grenz-Übergänge

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft | Band 16

Editorial Differenzen zwischen Kulturen – und die daraus resultierenden Effekte – sind seit jeher der Normalfall. Sie zeigen sich in der Erkundung der »Fremden« schon seit Herodot, in der Entdeckung vorher unbekannter Kulturen (etwa durch Kolumbus), in der Unterdrückung anderer Kulturen im Kolonialismus oder aktuell in den unterschiedlichen grenzüberschreitenden Begegnungsformen in einer globalisierten und »vernetzten« Welt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Interkulturalität« erfuhr entscheidende Impulse durch die »anthropologische Wende« in den Geisteswissenschaften und durch das seit den 1970er Jahren etablierte Fach der Interkulturellen Kommunikation. Grundlegend ist dabei, Interkulturalität nicht statisch, sondern als fortwährenden Prozess zu begreifen und sie einer beständigen Neuauslegung zu unterziehen. Denn gerade ihre gegenwärtige, unter dem Vorzeichen von Globalisierung, Postkolonialismus und Migration stehende Präsenz im öffentlichen Diskurs dokumentiert, dass das innovative und utopische Potenzial von Interkulturalität noch längst nicht ausgeschöpft ist. Die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft greift die rege Diskussion in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften auf und versammelt innovative Beiträge, die den theoretischen Grundlagen und historischen Perspektiven der Interkulturalitätsforschung gelten sowie ihre interdisziplinäre Fundierung ausweiten und vertiefen. Die Reihe wird herausgegeben von Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg.

Matthias Bauer (Prof. Dr.), geb. 1962, lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Erzählforschung, Romantheorie und Kultursemiotik, Filmgeschichte und Medienästhetik. Martin Nies (Prof. Dr.), geb. 1969, ist an der Europa-Universität Flensburg beschäftigt. Er ist Herausgeber der Schriften des Virtuellen Zentrums für kultursemiotische Forschung (www.kultursemiotik.com). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Literatur- und Mediensemiotik, Narratologie, Mediale Konstruktionen von Raum und Grenze sowie von Identität und Alterität. Ivo Theele (Dr. phil.), geb. 1980, ist seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa-Universität Flensburg. Seine Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind Flucht- und Exilliteratur, Literatur- und Mediendidaktik sowie Kinder- und Jugendliteratur.

Matthias Bauer, Martin Nies, Ivo Theele (Hg.)

Grenz-Übergänge Zur ästhetischen Darstellung von Flucht und Exil in Literatur und Film

... für alle, die jene vermissen, die nicht angekommen sind ...

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Inhalt

Einleitung der Herausgeber: Grenz-Übergänge – Zur ästhetischen Darstellung von Flucht und Exil

Matthias Bauer / Martin Nies / Ivo Theele | 7

I. FLUCHT UND ASYL Multiperspektivität der Flucht in Maxi Obexers Wenn gefährliche Hunde lachen (2011), Daniel Zipfels Eine Handvoll Rosinen (2015) und Emad Blakes Mama Merkel (2016)

Riham Tahoun | 19 Befestigte Grenzen: Zur Kritik europäischer Abschottungspolitik in Björn Kuhligks Langgedicht Die Sprache von Gibraltar

Stefan Hermes | 39 Europa mit schwerer Havarie bei Merle Kröger

Elena Giovannini | 53 Flüchtlinge auf Überfahrt – Europa im Übergang? Plädoyers für interkulturelle Passagen am europäischen Zufluchtsort in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen (2013) und Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (2015)

Mumina Hafez Abd El-Barr | 63 Vom Norden in den Süden, vom Süden in den Norden: Vertikale Fluchtlinien und die Bedeutung des Topographischen in Bodo Kirchhoffs Widerfahrnis

Ivo Theele | 85

II. MIGRATION UND MEHRSPRACHIGKEIT Flucht in den Norden: Zum Einsatz von dokumentarischen Filmen in landeskundlichen Seminaren in Benin am Beispiel von A LS P AUL ÜBER DAS M EER KAM

Friederike Heinz | 101

Flucht und Dasein: Das Theaterprojekt Fluchtpunkte als didaktisches Mittel zum Fremdverstehen

Manjiri Paranjape | 119 Mumbai als Schmelztiegel: Zur Darstellung von Mumbai in literarischen Texten

Sneha Mahajan | 137 Mumbai und Mehrsprachigkeit in indischen Filmen

Atre Sonal / Dindore Gauri / Parkhe Aditi | 145 Sprachverlust im Exil und Mehrsprachigkeit im Film: Überlegungen anlässlich des Biopics V OR DER M ORGENRÖTE (2016)

Matthias Bauer | 153

III. EXIL UND DIASPORA Hölderlins Hyperion: Eine europäische Flüchtlingsgeschichte?

Raluca Rădulescu | 173 Lückenhaft: Memoiren einer arabischen Prinzessin (1886) – Ein Beispiel für legitimatorisches Schreiben mit beunruhigender Doppelkodierung

Carola Hilmes | 191 Verbundene Zerstreuung: Utopien der Diaspora in der europäisch-jüdischen Moderne

Caspar Battegay | 205 Bilder der ›erzwungenen Wanderschaft‹ in Jan Klatas Aufführung Transfer!

Eliza Szymańska | 221 Europa in Bewegung: Figuren des Übergangs in Catalin Dorian Florescus Jacob beschließt zu lieben

Klaus Schenk | 239 Autorinnen und Autoren | 259

Einleitung der Herausgeber Grenz-Übergänge: Zur ästhetischen Darstellung von Flucht und Exil Matthias Bauer / Martin Nies / Ivo Theele (Flensburg)

Grenzen sind zugleich Barrieren und Filter. Realisiert werden beide Funktionen durch die Kontrolle von Grenz-Übergängen, von grenzüberschreitenden Kontakten und Transaktionen. Einerseits gehört es zum Wesen der Grenze, dass sie überschritten werden kann; andererseits liegt die Macht der Grenz-Schützer darin, einer Person, einer Personengruppe oder einer Güterklasse den GrenzÜbertritt verwehren zu können, Kontakte zu versagen und Transaktionen zu unterbinden. Von Grenz-Übergängen kann aber auch noch in einem anderen Sinn die Rede sein. Gemeint ist dann nicht der Übergang von dem einen Gebiet diesseits der Grenze in das andere Gebiet jenseits der Grenze, sondern der Wandel des GrenzRegimes. So sind viele Grenz-Schützer in Europa dazu übergegangen, Automobile im Hinterland einer Grenze statt an der Demarkationslinie zweier Staaten zu kontrollieren oder durch Reisezüge zu patrouillieren, die sich auf eine solche Linie zubewegen – ganz zu schweigen von Grenzsicherungsmaßnahmen, die auf dem Einsatz von Nachtsichtgeräten oder Drohnen, auf der Erhebung, Speicherung und Vernetzung von Geodaten oder auf der Erstellung von Bewegungsprofilen beruhen. Grenzsicherung findet zunehmend schon im Landesinneren und nicht erst an den Grenz-Übergängen statt, so dass aus Grenzen Grenzregionen oder gar Grenzländer geworden sind. Für die Border Studies hat sich damit ein weites Feld aufgetan, in dem es nicht nur um die Untersuchung geografischer und territorialer, juristischer und politischer, sondern auch um die Aufarbeitung kognitiver und kultureller, metaphorischer und imaginärer Grenzziehungen geht. Der historische Wandel von Grenzen, Grenz-Kontrollen und Grenz-Regimes, vor allem aber der spätestens seit 2015 mit großer Resonanz in den Medien ge-

8 | Matthias Bauer / Martin Nies / Ivo Theele

führte Diskurs über die Migration nach Europa, über den Schengen-Raum und die Außengrenzen der EU, über Asyl und Integration hat ein Bewusstsein dafür entstehen lassen, wie sehr sich die ›alte Welt‹, die auf der Abgrenzung von der ›neuen‹ wie von der ›dritten‹ Welt beruhte, in einem Übergang, in einem Transformationsprozess befindet. Wohin dieser Prozess führt, ist noch kaum abzusehen; deutlich zu erkennen ist aber, dass die gewohnte Welt verschwinden wird und dass dieses Verschwinden Ängste auslöst: Ängste vor dem Verlust von Sicherheit und Selbstgewissheit, von Vertrautem und dem (vermeintlich) Gemeinsamen. Gleichzeitig mehren sich die Anzeichen dafür, dass man in Europa begonnen hat, den Übergang als ›Normalzustand‹ der eigenen Geschichtlichkeit anzusehen. Alle, selbst diejenigen, die es (noch) nicht wahrhaben wollen, ahnen, dass sich der status quo ante rem nicht wieder herstellen lässt und dass jeder gewaltsame Versuch, der Veränderungsdynamik Einhalt zu gebieten, mit schrecklichen Folgen für alle Beteiligten scheitern muss. Die unhaltbaren Zustände in vielen Flüchtlingslagern, die vielen im Mittelmeer ertrunkenen Menschen und das infame Gerede vom ›Asyltourismus‹ belegen vor allem, dass die Grenzen des Zumutbaren und Erträglichen längst überschritten wurden, weil man an kontrafaktischen ›Obergrenzen‹ und fingierten Unterscheidungen (›Biodeutsche‹ und andere) festgehalten hat. Europa befindet sich nicht nur – wieder einmal – im Umbruch; es muss sich neu entwerfen, um seiner Geschichte und seinen Werten treu zu bleiben, um den Umbruch als Übergang zu gestalten. Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass man das Heterogene und Diverse, das Fremde und Unvertraute endlich als Erneuerungsmomente begreift und ergreift. Es gilt, die Drohkulisse der ›Überfremdung‹, die einen Prätext für absurde Verschwörungstheorien (etwa die vom ›Umvolken‹) bildet, durch einen Prospekt der Zuversicht zu ersetzen. Damit sich ein solcher Prospekt beim Zusammenstoß mit der Realität nicht als selbstgefällige Täuschung und illusionistische Schönfärberei erweist, muss seinem Entwurf die nüchterne Erfassung der Lage, die unvoreingenommene Beschreibung der Gegenwart und die Erinnerung an das vorausgehen, was den Horizont in Europa wiederholt verdunkelt hat. Genau hier setzen literarische Texte, Filme und andere Kunstwerke, setzen die Bemühungen interkultureller, postkolonialer und gesellschaftskritischer Forschungen an. Sie beschreiben, wie es ist, und erinnern an das, was war; sie erhellen die Situation und entwerfen Alternativen; sie erfassen die Lage und ermöglichen Grenz-Übergänge. Ihre rezeptionsästhetische Pointe liegt gerade darin, dass diese Übergänge in der Interaktion von Text und Leser, an der Schnittstelle von produktiver und reproduktiver Einbildungskraft dergestalt angebahnt werden, dass auch der Übergang von der Vorstellung zur Handlung variabel erscheint.

Einleitung | 9

Wenn Europa unter den Bedingungen von Plurikulturalität und Mehrsprachigkeit neu gedacht wird, geht es also um Grenz-Übergänge im dreifachen Sinn des Wortes: Um die Ermöglichung von Kontakten und Transaktionen über Barrieren und Filter hinweg, um die kritische Reflexion von Grenz-Regimen, Grenzsicherungstechnologien und -ideologien und um den Übergang von der Kunst, die Reales reflektiert und transfiguriert, zur gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Zur Sprache kommen müssen folglich sowohl die Prozesse der Integration wie der Desintegration, der Inklusion wie der Exklusion; verantwortungsbewusst diskutiert werden müssen die moralischen und politischen Herausforderungen der Migration, aber auch die sozialen, kulturellen und ökonomischen Chancen, die sie bietet. Berührt wird damit jeweils auch das Selbstverständnis Europas. Begreift sich dieser Kontinent, begreift sich insbesondere die Europäische Union als Bollwerk und als Festung, als lediglich zum Zwecke der Gefahrenabwehr geschaffene supranationale Institution oder will sie ein produktives Fraktal der im Entstehen begriffenen Weltgesellschaft, eine den Übergang mitgestaltende, pluralistisch verfasste ›Risikogesellschaft‹, Staaten- und Völkergemeinschaft sein? Unmittelbare und konkrete Auswirkungen haben Antworten auf diese vermeintlich abstrakten Fragen, sobald es um die Menschen geht, die auf der Flucht sind und in Europa Asyl beantragen. Was ihnen geschieht, weckt Erinnerungen an jene Zeiten, in denen die Menschen aus Europa auswandern wollten oder ins Exil gehen mussten – Zeiten, die in literarischen Texten und Filmen vergegenwärtigt werden. Ebenfalls vergegenwärtigt wird in Gedichten, Theaterstücken und Erzählwerken die prekäre Situation von ›internen Fremden‹, von Menschen, die sich in der Diaspora befinden, wenn sie in Europa leben und nicht vergessen haben, dass ihre Vorfahren an den Rand gedrängt und herabgesetzt oder gar verfolgt und ermordet wurden. Indem Sprachkunstwerke und andere Artefakte Brücken zwischen dem kulturellen Gedächtnis und der aktuellen Bewusstseinslage, zwischen Geschichte und Gegenwartsdiskurs schlagen, ermöglichen sie in Gedanken, denen Taten folgen können, die zuvor undenkbar waren, Übergänge: von einer Einstellung, Denkart und Verhaltensweise zu einer anderen und – in the long run – von einer Kultur oder Gesellschaft zu einer anderen. Diese Anbahnung von Übergängen kennt mindestens drei Verfahren: das Andenken an und gegen Barrieren, das Verschieben und Auflösen von Grenzen und das Vergegenwärtigen der Folgen, die Blockaden haben. Der Konvergenzpunkt dieser Verfahren liegt in der Kontingenz-Steigerung, denn wo immer eine Barriere oder Grenze errichtet worden ist, wird auch die Vorstellung davon, was denkbar und machbar ist, arretiert. Es scheint dann keine Alternativen, keine weiteren Optionen als die zu geben, die das Grenz-Regime zulässt. Indem die

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damit verbundenen Implikationen aufgezeigt und die Konsequenzen der Grenzziehung im Vorstellungsraum der Künste durchgespielt werden, indem den faktischen Barrieren fiktive Handlungsräume entgegengesetzt und Grenz-Übergänge imaginiert werden, lösen literarische Texte oder Filme zunächst einmal DenkBarrieren auf und schreiben sich, an den Möglichkeitssinn ihrer Rezipienten appellierend, in die fortlaufende Umgestaltung der Lebenswelt ein. Angeregt werden kann der Möglichkeitssinn mehr oder weniger didaktisch durch eine Romanfigur wie Richard in Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen (2015) – eine Figur, die stellvertretend für seine Landsleute und die Leser eine aufschlussreiche Verwandlung vom indifferenten Zeitgenossen zum engagierten Bürger durchläuft; vermittelt werden kann dies wie in Merle Krögers Krimiparabel Havarie (2014) aber auch ex negativo durch das Zur-Schauund-Bloß-Stellen der Zynismen, mit denen die Arrivierten dem Elend der Welt und der Not anderer Menschen begegnen. In vielen Texten und Filmen geht es unter dem bedrängenden Eindruck rezenter Ereignisse darum, Empathie- und Solidaritätsblockaden aufzuheben. Komplementär zu ihnen verhalten sich jene Texte und Filme, die vor dem Vergessen bewahren, wie rasch ein jeder Mensch in die Lage geraten kann, eine Zuflucht in der Fremde suchen zu müssen. Ein Re-Enactment von ExilGeschichten wie im Doku-Drama VOR DER MORGENRÖTE (2016), eine TheaterInszenierung der zwischen Deutschen und Polen asymmetrisch geteilten Erinnerung an Krieg und Vertreibung wie Transfer! (2006) oder eine wissenschaftliche Aufarbeitung des jüdischen Diaspora-Diskurses im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts tragen in diesem durchaus politischen Sinne zur Gedächtnisbildung bei. Eine Horizonterweiterung, die vor Engstirnigkeit bewahrt, lässt sich freilich auch durch den Blick auf andere Länder, auf andere Umgangsformen mit interner Fremdheit oder Mehrsprachigkeit, mit Migration und Diversität erreichen. So kann man die Beiträge aus Indien wie andere Praxisberichte in diesem Band lesen: sie exemplifizieren das Interkulturelle in Performanz – im reflexiven Gebrauch literarischer Texte beim Fremdsprachenerwerb und beim Fremdverstehen, im szenischen Nachvollzug von Fluchtgründen und Fluchtgeschichten, im analytischen Umgang von afrikanischen Studierenden mit dem Film ALS PAUL ÜBER DAS MEER KAM (D: 2016) oder auch einfach nur im alltäglichen Aushalten von Alterität. Die für hermeneutisch geschulte Geistes- und Kulturwissenschaftler typische Tendenz, alles verstehen zu wollen, stößt in der Praxis an Grenzen. Mehr noch: sie stößt auf die erstaunliche Erfahrung, dass es mitunter hilfreich und lohnend sein kann, das Nicht-Verstehen zu akzeptieren. In einem Land mit mehr als zwanzig Sprachen wird diese Akzeptanz schon beim Kino-Besuch eingefordert; in einer Stadt wie Mumbai ist es – paradox formuliert – selbstver-

Einleitung | 11

ständlich, dass unverständlich bleibt, was zur Verständigung nicht unbedingt nötig ist. Anstatt das Differente zu betonen, empfiehlt es sich ›Indifferenz gegenüber Differenz‹ (vgl. Bhatti/Kimmich 2015: 16) zu üben, denn sie erleichtert das Zusammenleben und den Übergang von der Koexistenz zur Kooperation. Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen auf die Jahrestagung der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik zurück, die 2017 unter der Überschrift ›Europa im Übergang‹ an der Europa-Universität Flensburg stattfand.1 Sie befassen sich mit literarischen und filmischen Werken, die quer zu homogenisierenden Bildern und Identitätsvorstellungen stehen oder solche Bilder und Vorstellungen Europas kritisch hinterfragen. Sie stellen die Notwendigkeit von Transformationen und von kulturellen Transferleistungen heraus und sie nehmen mit bislang unterbelichtet gebliebenen Traditionen alternative Optionen der Verhandlung von Alterität und Divergenz in den Blick. Zudem führt der Band die beiden Forschungsbereiche Flucht und Exil zusammen, die in der Regel getrennt voneinander betrachtet wurden: Die Exilforschung ist, da sie sich vor allem mit der Zeit des Nationalsozialismus befasst, auf eine historische Perspektive geeicht, während sich die Fluchtforschung in erster Linie auf gegenwärtige Ereignisse und Phänomene konzentriert. In unserer Zusammenstellung werden, so hoffen wir, auch diesbezüglich Übergänge sichtbar. Bewusst vermieden werden sollte überdies eine eurozentrische Sicht der Dinge; angestrebt wurde dagegen eine gleichrangige Behandlung von Erfahrungsberichten und Forschungsbeiträgen, von unterrichtspraktischen und theoretischen, historisch angelegten und der Aktualität der Thematik verpflichteten Artikeln. Dieser Absicht entspricht denn auch die Gliederung des Bandes, die sich weder an der Chronologie der Entstehungsdaten noch an der Geografie der Herkunftsländer orientiert. Stattdessen zielt sie auf thematische und methodische Übergänge, also darauf ab, dass der eine Aspekt zum nächsten führt und dass sich – konjektural – die im Titel avisierte Deutungsperspektive, jeweils unterschiedlich akzentuiert, erschließt.

1

Weitere Tagungsbeiträge finden sich u.a. in: Johann, Wolfgang/Patrut, Iulia-Karin und Rössler, Reto (Hg.; im Ersch.): Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne. Bielefeld.

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Die erste Abteilung versammelt Beiträge zu literarischen Werken, die Flucht und Asyl behandeln – aus der Sicht derjenigen, die nach Europa, nach Sicherheit und Wohlstand streben, und aus der Sicht derjenigen, die dort bereits leben, abgesichert und vergleichsweise wohlhabend sind. Riham Tahoun bespricht mit Eine Handvoll Rosinen (2015) von Daniel Zipfel, mit Wenn gefährliche Hunde lachen (2011) von Maxi Obexer und mit Mama Merkel (2016) von Emad Blake drei aktuelle Versuche, der Thematik mit Mitteln des multiperspektivischen Erzählens gerecht zu werden. Es geht um komplementäre Möglichkeiten der Fokalisation angesichts eines komplexen, oft als frustrierend erlebten Geschehens, um die narrative Vermittlung von Alterität und Empathie, aber auch um die ethische Dimension von Grenz-Regimen, die das Handlungsrepertoire auf die krude Alternative von Einschleusung oder Abschiebung reduzieren. Stefan Hermes beschäftigt sich, ebenfalls im Kontext der aktuellen ›Fluchtliteratur‹, mit Björn Kuhligks Langgedicht Die Sprache von Gibraltar (2016). Die ästhetische Auseinandersetzung mit fremdem Leid wirft auch in diesem Fall Fragen nach der ethischen Dimension des Textes auf – bis hin zu einer grundsätzlichen Infragestellung interkultureller Verständigung, der allerdings die moralische Unmöglichkeit widerstreitet, zu verstummen und das Leid zu verschweigen. Elena Giovannini behandelt mit Havarie (2015) von Merle Kröger einen Roman, der die Genremuster des Krimis nutzt, um die Begegnung von Flüchtlingen und Touristen, von Arm und Reich provokativ zu gestalten. Das Motiv der Reise verbindet sich hier auf der Figurenebene – ganz anders als bei Kuhligk – nicht mit dem Vorsatz wahrzunehmen, sondern mit dem Bestreben, die Not der Anderen auszublenden. Umso drastischer fällt die Appellfunktion des Textes und damit – implizit – die Problematisierung der Lesererwartung aus, in unverfänglicher Manier unterhalten zu werden. Gegen Unverbindlichkeit und Indifferenz schreiben auf wiederum höchst unterschiedliche Art auch Elfriede Jelinek und Jenny Erpenbeck an. Mumina Hafez Abd El-Barr rückt den dramatischen Chor-Gesang Die Schutzbefohlenen (2013) in eine doppelte Vergleichsperspektive zu Aischylos’ Tragödie Die Schutzflehenden (etwa 466 v. Chr.) und zu Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (2015) – einem Roman, der sich von Jelineks tragischer (An-)Klage vor allem durch das

Einleitung | 13

Bemühen auszeichnet, Irritationen produktiv zu machen und Verständnisbarrieren wie Handlungsblockaden modellhaft zu überwinden. Ivo Theele wiederum befasst sich mit der Bedeutung des Topografischen hinsichtlich der Darstellung von Flucht und Migration in Bodo Kirchhoffs Novelle Widerfahrnis (2016). Während die beiden Pensionäre Reither und Palm ihrem bildungsbürgerlichen Sehnsuchtsort Italien entgegenstreben, also nur Geflüchtete im metaphorischen Sinne sind, werden sie auf ihrer Fahrt in den Süden zunehmend mit der Situation von (wirklichen) Geflüchteten konfrontiert, deren Fluchtlinie vom Süden in den Norden verläuft. Anhand der Kreuzungspunkte dieser Fluchtlinien wird die polyvalente Bedeutung von Flucht-Orten deutlich, darüber hinaus ist auch das Ausloten und Überschreiten von Raumgrenzen in der Novelle von immenser Bedeutung. Die zweite Abteilung verknüpft die Themen Migration und Mehrsprachigkeit. Besprochen werden Filme und Texte, Theaterprojekte und Unterrichtsmodelle, denen gemeinsam ist, dass der Blick nicht von Europa ausgeht, sondern von Afrika, Indien und Brasilien. Friederike Heinz schildert, wie der Dokumentarfilm ALS PAUL ÜBER DAS MEER KAM (2017) von Jakob Preuss an der Universität von Benin in landeskundlichen Seminaren eingesetzt wurde und wie er dazu dienen kann, unter den DeutschStudierenden Reflexionen und Kommunikationen über den Themenkomplex ›Migration und Integration‹ anzustoßen. Ähnliche Ziele verfolgt auch das szenische Projekt Fluchtpunkte unter der Leitung von Manjiri Paranjape, das an der Universität Pune entwickelt und auf der GIG-Tagung in Flensburg aufgeführt wurde. Spielvorlage der Theatergruppe, die aus DaF-Lernern, Lehrer*innen und Germanistikstudenten besteht, war eine Collage aus antiken, modernen und selbst verfassten Texten. Sneha Mahajan veranschaulicht anhand von literarischen Texten, die Mumbais ethnische und kulturelle Vielfalt widerspiegeln, wie der Übergang von Koexistenz zu Kooperation in einer Stadt gelingen kann, in der Heterogenitätserfahrungen seit Jahrhunderten alltäglich sind. Nichts ist unter diesem Gesichtspunkt so alltäglich wie die Erfahrung einer irreduziblen Mehrsprachigkeit, die denn auch im indischen Gegenwartskino selbstverständlich und erstaunlich unproblematisch ist, wie Atre Sonal, Dindore Gauri und Parkhe Aditi an ausgewählten Beispielen belegen. Demgegenüber bildet nicht-synchronisierte Fremd- und Mehrsprachigkeit in Deutschland wie in Österreich immer noch die Ausnahme

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von der Regel. Welche Funktionen die Suspension dieser Regel haben kann, erörtert Matthias Bauer am Beispiel des dokumentarischen Spielfilms VOR DER MORGENRÖTE (2016) von Maria Schrader, der das Schicksal von Stefan Zweig behandelt und damit eine Brücke zu den Themen der dritten Abteilung schlägt. Diese dritte Abteilung gilt dem Zusammenhang von Exil und Diaspora, der in fünf Fallstudien dargelegt wird, die in die Vergangenheit ausgreifen. Raluca Rǎdulescu liest Hölderlins Hyperion-Roman (1797/1799), anknüpfend an Peter Härtlings Essay Mein Europa (2016), als eine in die Gegenwart vorausweisende Gedankenflucht, die auf einer exzentrischen Bahn Refugien mit Momenten der Mentalitäts- und Zivilisationskritik in Richtung auf eine Vorstellung von Europa als transkulturellem Projekt durchläuft. Eine weit weniger visionäre, aber gleichfalls kritische Sicht auf Europa als Zufluchtsort ist den im 19. Jahrhundert verfassten Memoiren und Briefen der arabischen Prinzessin Sayyida Salme zu entnehmen, mit denen sich Carola Hilmes befasst. Deutlich werden die Schwierigkeiten einer transkulturellen Identitätsbestimmung unten den Vorzeichen familiärer und religiöser Loyalität einerseits und Assimilationsanforderungen andererseits. Caspar Battegay geht den utopischen Vorstellungen im jüdischen DiasporaDiskurs nach dem Ersten Weltkrieg nach, für dessen Verständnis auch eine Klärung des Exil-Begriffs notwendig ist. Zum Kontrapunkt des Exils wird in diesem Diskurs die Idee Zionismus, die den Gesellschaftsentwurf in Theodor Herzls Roman Abendland (1902) bestimmt. Von diesem Entwurf wiederum grenzen sich Autoren wie Nathan Birnbaum, Alfred Wolfenstein oder Alfred Döblin in ihren Schriften ab. Mit den Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs für die polnische und deutsche Erinnerungskultur und deren Vermittlung in Jan Klatas Gedächtnis-Theater Transfer! (2006) beschäftigt sich Eliza Szymańska. Deutlich werden in ihrem Beitrag sowohl die Differenzen, die hinsichtlich der Schuld an Krieg und Vertreibung bis heute bestehen, als auch die konzeptionellen Entscheidungen, die Sujet und Stil der Inszenierung bestimmt haben.

Einleitung | 15

Klaus Schenk schließlich setzt insofern einen Kontrapunkt, als er in Catalin Dorian Florescus Roman Jacob beschließt zu lieben (2011) ein (post-)modernes Wechselspiel pikaresker, karnevalesker und cervantesker Darstellungsformen erkennt und am Beispiel einer hauptsächlich im Banat spielenden Familiengeschichte die Veränderung Europas durch Flucht und Migration, Aus- und Einwanderung hin zu einem nomadischen Kontinent reflektiert. Der besondere Dank der Herausgeber gilt den Autorinnen und Autoren, die uns ihre Texte zur Verfügung gestellt haben, der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik (GIG), dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der Europa-Universität Flensburg (EUF), der Fördergesellschaft dieser Universität und der Georg Brandes-Gesellschaft, die zum Gelingen der Tagung beigetragen haben, sowie dem transcript Verlag, in dem dieser Band erscheint. Flensburg, im Juli 2019

Matthias Bauer, Martin Nies und Ivo Theele

LITERATUR Bhatti, Anil/Kimmich, Dorothee (2015): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. Konstanz, S. 7-31. Johann, Wolfgang/Patrut, Iulia-Karin und Rössler, Reto (Hg.) (im Ersch.): Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne. Bielefeld.

I. Flucht und Asyl

Multiperspektivität der Flucht in Maxi Obexers Wenn gefährliche Hunde lachen (2011), Daniel Zipfels Eine Handvoll Rosinen (2015) und Emad Blakes Mama Merkel (2016) Riham Tahoun (Universität Helwan/Ägypten)

1. EINLEITUNG Jeder, der geht, verlässt eine Welt, die er mit allen, die er auf dieser langen Reise antrifft, nie teilen wird können. [sic!] Jeder einzelne von ihnen trägt einsam eine solche Welt in sich. Fremd wirst du aber auch denen werden, mit denen du sie einmal geteilt hast. Denn das, was du auf deiner Reise erfährst und zu sehen bekommst, wirst du mit ihnen niemals teilen können. Es wird dich von den anderen für immer trennen. Maxi Obexer (2011: 101f., Hervorh. im Original)

Aktueller Anlass des vorliegenden Beitrags ist die Migration nach Europa, die seit 2012 mit den verheerenden Folgen des arabischen Frühlings im Nahen Osten und der verschlechterten wirtschaftlichen Lage in Afrika zunahm. Seither tritt die Flucht nach Europa verstärkt in den Mittelpunkt deutsch- sowie arabischsprachiger Literatur. Hauptakteure der Flucht sind vor allem die Flüchtlinge, die stets perspektivisch betrachtet werden. Der Flüchtling erscheint als Gruppe von Figuren, als ein Figurenkarussell. An ihm drehen all die am Flüchtling interessierten Akteure. Je nachdem, wessen Auslegung des Konzepts gerade obenauf ist, und je nachdem, aus welcher Perspektive man auf das Karussell schaut, kommt eine andere Figur in den Blick. (Inhetveen 2010: 148)

20 | Riham Tahoun

Je nachdem, welchem Konzept die Darstellung des Flüchtlings unterliegt, erscheint er als »Feind, Held [oder] Opfer [Hervorh. im Original]« (Friese 2017: 25). Das sind für Friese »Figuren der sozialen Imagination«, die dem Flüchtling bestimmte »Signifikation[en]« (ebd.) zuschreiben, die im Weiteren aufgefächert werden können. Mögliche Rollenzuschreibungen sind laut Inhetveen: Der Flüchtling erscheint mal als hilfsbedürftiges Opfer oder betrügender Schmarotzer, mal als illegaler Einwanderer oder als politisch mobilisierbare Ressource, als tüchtiger Selfmademan oder als getarnter Bürgerkriegsakteur auf der Suche nach einer sicheren Basis. (Inhetveen 2010: 148)

Anhand dieser perspektivischen »Signifikation[en]« gestaltet sich das Verhältnis des Flüchtlings zu seinen in der Heimat zurückgelassenen Angehörigen, Mitgeflüchteten, Fluchthelfern und Schleppern, Grenzschutzkräften, Fremdenpolizisten, Einheimischen und Flüchtlingshelfern. So entstehen »sowohl Bilder von Feindschaft, Bedrohung, Aggression als auch von Barmherzigkeit oder Solidarität mit den Ausgeschlossenen und Unterdrückten« (Friese 2017: 25). In narrativen literarischen Texten kommt diese perspektivische Signifikation u.a. durch Perspektivenvielfalt bzw. Multiperspektivität des Erzählens zum Ausdruck. Aufgrund der Fülle der Forschungsansätze und der noch nicht abgeschlossenen Diskussion über ›Perspektivenstruktur‹ und ›Multiperspektivisches Erzählen‹ wird die vorliegende Arbeit sich auf die Überlegungen von Vera und Ansgar Nünning beziehen, die sich m.E. mit der bisherigen Forschung der Narratologie auseinandersetzten und eine nachvollziehbare Definition liefern. Nach ihnen liegt ein multiperspektivisches Erzählen »in solchen narrativen Texten vor, in denen das auf der Figurenebene dargestellte oder erzählte Geschehen […] facettenartig in mehreren Versionen oder Sichtweisen aufgefächert wird« (Nünning 2000a: 18). Grundlage dieser Abgrenzungen ist die Unterscheidung, die Gérard Genette (1980) zwischen »narration« und »focalization« unternahm, um die Erzählinstanz »Who speaks?« von der Figurenperspektive »Who sees?« zu differenzieren (vgl. Nünning 2000a: 16). Nach Genette ergeben sich aus dieser Unterscheidung drei Fokalisierungstypen, die sich an der Figurenperspektive orientieren: (1) »Nullfokalisierung«: Es herrscht die Perspektive eines allwissenden Erzählers vor. (2) »Interne Fokalisierung«: Das Erzählen orientiert sich an der Perspektive einer erzählten Figur.

Multiperspektivität der Flucht | 21

(3) »Externe Fokalisierung«: Im Erzählen dominiert die Perspektive eines Erzählers, der keine Introspektion besitzt (oder diese nicht vermittelt). (Schmid 2014: 111)1

Vera und Ansgar Nünning sind im Anschluss an Gérard Genette, S. J. Schmidt und Manfred Pfister der Meinung, dass man die Erzähltexte nicht nach Formen der narrativen Vermittlung (Erzählperspektive/ Erzählsituation) analysieren, sondern den »Perspektivenbegriff auf die jeweils individuelle Wirklichkeitssicht der fiktiven Gestalten (Figuren und Erzählinstanzen)« (Nünning 2000a: 13) übertragen soll. Statt also pauschal von der Erzählerperspektive eines Romans zu sprechen, wäre vielmehr danach zu fragen, welche Perspektiven fiktiver Figuren und Erzähler in einem Text dargestellt werden, welche Relationen zwischen diesen Perspektiven bestehen und wie das als Perspektivenstruktur narrativer Texte bezeichnete Ensemble der Einzelperspektiven genauer charakterisiert werden kann. (Nünning 2000a: 13)

Dementsprechend lassen sich bei Nünning drei Grundformen der Multiperspektivität registrieren, die sich wiederum in verschiedene Erscheinungsformen gliedern: Typ 1: Bei multiperspektivisch erzählten Texten handelt es sich um Erzählungen, in denen das erzählte Geschehen von zwei oder mehreren Erzählinstanzen vermittelt wird. Dieser Typ zeichnet sich durch die Präsenz von zwei oder mehreren Erzählern aus. […]. Typ 2: Bei multiperspektivisch fokalisierten Texten handelt es sich um Erzählungen, in denen das erzählte Geschehen aus der Sicht von zwei oder mehreren Reflektorfiguren wiedergegeben wird. In diesem Fall bezieht sich Multiperspektivität somit nicht auf erzählende Aussagesubjekte, sondern auf die Präsenz von zwei oder mehreren Fokalisierungsinstanzen bzw. personalen Orientierungszentren (centers of consciousness). […]. Typ 3: Bei mulitperspektivisch strukturierten bzw. collagierten Texten handelt es sich um Erzählungen, in denen die Auffächerung des Geschehens in mehrere Versionen oder Sichtweisen nicht oder nicht allein auf personalisierten Instanzen beruht, sondern auf der montage- oder collageartigen Kombination verschiedenartiger Textsorten. […]. (Nünning 2000b: 42)

Vor diesem theoretischen Hintergrund widmet sich der vorliegende Beitrag der Analyse und Gegenüberstellung der Perspektivenstruktur in den Romanen Wenn

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Mehr zur ›Figurenperspektive‹ und ›Fokalisierung‹ siehe auch Hartner (2012: 57-74) und Köppe/ Kindt (2014: 208-235).

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gefährliche Hunde lachen von Maxi Obexer (2011), Eine Handvoll Rosinen von Daniel Zipfel (2015) und Mama Merkel des sudanesischen Autors Emad Blake (2016), die sich alle mit dem Thema Flucht befassen. Zu fragen ist, welche figuralen Perspektiven bzw. Fokalisierungsinstanzen sich auf narrativer Ebene beobachten lassen und wie sich die verschiedenen Perspektiven zueinander verhalten. Es gilt weiterhin zu ermitteln, inwiefern es sich in den Romanen um eine Multiperspektivität des Erzählens handelt, die sich im Weiteren auf die Figurenzeichnung, die zeitliche Gestaltung und die Lokalisierung der Flucht auswirkt.

2. NARRATION DER FLUCHT: FORMEN DER PERSPEKTIVENKONSTRUKTION UND PERSPEKTIVENINTERAKTION Für den Prosaschriftsteller ist der Gegenstand eine Konzentration von in der Rede differenzierten Stimmen, unter denen auch seine Stimme erklingen muß; diese Stimmen bilden den notwendigen Hintergrund für seine Stimme, einen Hintergrund, ohne den die Nuancen seiner künstlerischen Prosa nicht wahrnehmbar sind (Bachtin 2015 [1979]: 204)

Im Folgenden werden zunächst die in den drei Romanen beobachtete Figurenperspektivierung sowie die Perspektivenstruktur analysiert, um Formen der Multiperspektivität zu ergründen und gegenüberzustellen. 2.1 Eine Handvoll Rosinen: Alterität der Perspektiven Im Roman Eine Handvoll Rosinen von Daniel Zipfel (2015) erscheinen – ungewöhnlich für Fluchtromane – die Flüchtlinge bloß als Nebenfiguren. Im Mittelpunkt stehen zwei Figuren, die entgegengesetzte Positionen vertreten: Rechtsordnung versus Menschlichkeit. Somit sind schon ihre Perspektiven eindeutig und nachvollziehbar. Ludwig Blum, Fremdenpolizist in der Bundesbetreuungsstelle Traiskirchen/ Österreich, verherrlicht die Rechtsordnung und stellt sie über alles – sowohl im beruflichen als auch im privaten Leben. Das zeigt sich besonders in der Art und Weise, wie er seine Arbeit mit Verantwortungsbewusstsein und höchster Präzision ausführt. Die Schönheit der juristischen Sprache lag in ihrer Präzision, ihrer Logik, die der Schubhaft alles Aufgeregte, Ungerechte nahm und aus ihr das machte, was sie schlussendlich war, nämlich schlichtweg eine Maßnahme zur Durchsetzung der Rechtsordnung. (Zipfel 2015: 28)

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Ihm gegenüber steht Nejat Salarzai (Afghane und selbst ehemaliger Flüchtling), der inzwischen als Dolmetscher für das Bundesasylamt arbeitet. In Wahrheit ist er aber unter dem Deckmantel der Menschlichkeit ein Schlepper, der Flüchtlingen und Asylbewerbern scheinbar bei der Erlangung des Zulassungsbescheids hilft. »Ich bin Idealist«, sagte Nejat. »Mein ganzes Leben lang habe ich anderen geholfen. Aus Menschlichkeit. Ein Weg mit vielen Steinen, aber jeder hat nun einmal seine Geister.« (Zipfel 2015: 131)

Bewegt von den ständigen Vorwürfen seiner Mutter, er hätte sich damals in Kabul vor der Verantwortung für seinen Vater drücken wollen, entschied sich Salarzai, Geflüchteten in Istanbul über das Meer nach Europa zu helfen. Zu seiner Enttäuschung musste er jedoch feststellen, dass dieses Geschäft nach einer bestimmten ›Ordnung‹ läuft: Die Geflüchteten sind bloß »eine Handvoll Rosinen«, mit denen die Schlepper handeln. Um zu überleben, musste er den schlechten Beigeschmack der Schlepperei in Kauf nehmen und seine Kunden verantwortungslos in den Tod schicken (vgl. Zipfel 2015: 132-140). Nejat sah in die Richtung, in der Ungarn lag, holte eine Rosine aus der Packung in seiner Tasche und steckte sie in den Mund. Er spürte der Süße auf seiner Zunge nach, der leichten Bitterkeit, die darauf folgte und dachte an Istanbul, bevor er die Rosine zerbiss. (Ebd.: 132f.)2

Das Gegensatzpaar Ludwig Blum und Nejat Salarzai und ihre divergierenden Vorstellungen von Ordnung werden durch den konsequenten Szenenwechsel zwischen beiden Figuren narrativ inszeniert. Je nachdem, welche Figur im Mittelpunkt einer Szene steht, agieren entweder Blum oder Salarzai als Fokalisierungsinstanz. Das Geschehen ist trotz der auktorialen Erzählsituation intern fokalisiert und durch die konträren Perspektiven der fiktiven Figuren koloriert. Die interne Fokalisierung des Erzählens gewährt dem Leser zum einen Zugang zur Innenwelt der Figuren und bringt vor allem ihre Ambivalenz und Brüchigkeit zum Vorschein. Zum anderen wirft sie ein differenziertes Licht auf das Geschehen, wie es sich z.B. bei der Abschiebung von Aram Khalil nach Syrien zeigt, die sowohl Blum als auch Salarzai verhindern wollen. Dieser Vorfall wird aus

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Salarzai wird ständig von schlechtem Gewissen heimgesucht. Obwohl er nicht gläubig ist, sucht er in einem Kirchenbesuch Vergebung: »Vergib mir«, sagte Nejat über die Bänke hinweg, »vergib mir die Toten.« (Zipfel 2015: 108)

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beiden Blickwinkeln erzählt, wodurch sich ihre unterschiedlichen Perspektiven (inklusive Wissensstand, Beweggründe, Verhalten und psychologischer Zustand) manifestieren. Während Blum hastig und fassungslos verschiedene Behörden aufsucht, um den Flüchtling zu finden, lehnt sich Najat bequem am Flughafen zurück und löst das Problem mit ein paar Telefonaten. Wie grundverschieden sie sind, verdeutlichen die aufeinander folgenden Szenen aus dem Roman durch Modus und Zeittempo der jeweiligen Figurenperspektive: Das Rauschen brach ab. Blum zog an der Metallstange der Tür, rüttelte daran, drückte wieder die Türklingel, mehrmals, aber die Gegensprechanlage blieb stumm. Blum schlug gegen die Wand, mehrmals, aber alles, was er hörte, war der Regen, das metallische Scheppern von der Straße und das Dröhnen der abhebenden Flugzeuge. Er drehte sich um, drehte sich im Kreis und stolperte ein paar Schritte rückwärts, so dass ihm der Wind wieder ins Gesicht schlug, ihm das Wasser auf die Stirn trieb, in den Hemdkragen, auf die Wangen, in die Augen, vor allem in die Augen. (Zipfel 2015: 92) Entkräftet hatte die Stimme des Fremdenpolizisten am Telefon geklungen. Müde. Behutsam setzt Nejat die Tassen auf dem gläsernen Unterteller ab und griff wieder nach dem Telefon, strich mit dem Daumen über die silberne Hülle. Hinter dem Tresen reinigte der Kellner mit einem Geschirrtuch die Espressomaschine, aus der Dampf und heißes Wasser schossen. Vom Duty-free-Bereich schallte die Musik der neonbeleuchteten Geschäfte herüber, während hinter Nejats Rücken die Schritte der Reisenden vorbeiklapperten, in Richtung Sicherheitskontrolle, begleitet von Rumpeln der Räder an den Taschen und Koffern. (Ebd.: 95)

Wo beide Perspektiven aufeinandertreffen, entsteht entweder Annäherung oder Dissonanz. Die Begegnung mit Salarzai hatte anfangs eine aufklärerische Wirkung auf Blum, da er ihm eine neue ›Ordnung‹ vorstellt, die seiner Gesinnung eher entspricht: die gerechte ›Ordnung‹ der Dinge nach den Prinzipien der Humanität und der menschlichen Gleichheit, die nicht immer mit dem Rechtssystem kompatibel ist. Er zog die Rosinenpackung aus der Tasche, hielt sie Blum hin. »Sie könnten seine Fingerabdrücke löschen. […] Überlegen Sie es sich. Es geht um Menschlichkeit. Um Verantwortung.« Er wartete, die Packung in der Hand, bis Blum seinen Blick erwiderte. […] » Nehmen Sie sich eine Rosine«, sagte Nejat. » Ich bestehe darauf. Vorher gehe ich nicht weg.« Mit abgewandtem Gesicht griff Blum in die Packung. Lächelnd steckte Nejat die restlichen Rosinen ein und ging zurück zu seinem Wagen. (Ebd.: 145)

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Aufgrund dieses Reibungseffekts ändert sich Blums Perspektive allmählich: »Langsam gab das Morgenlicht das Segel der Barke seinem Blick frei […], und er konnte sich einer aufkeimenden Freude nicht erwehren, etwas in Ordnung zu bringen« (ebd.: 174). Nach der empfundenen Freude erlebt er allerdings einen Rückfall, als er feststellt, dass er vom Schlepper betrogen wurde und dass ihn dieser in kriminelle Machenschaften verwickelt, damit er weitere illegale Dienste leistet. Daraus ergibt sich wieder eine Dissonanz beider Perspektiven. Was die Ordnung in Wahrheit ist, kann ihm nur der resignierte Freund Kampl, der Flüchtlingshelfer in der Notfallstelle, erklären: »Es tut mir leid, Ludwig, aber es gibt keine Ordnung, es gibt nur Willkür, Chaos, und am Ende ist alles Glück. Was Ordnung ist, bleibt dir selbst überlassen. Wir sind mitten auf dem Meer.« (Ebd.: 214)

2.2 Wenn gefährliche Hunde lachen: Mehrschichtigkeit des Erzählens Während sich in Eine Handvoll Rosinen die Perspektiven von Blum und Salarzai abwechseln und somit die Gleichwertigkeit beider Schicksale akzentuieren, wird die Fluchterfahrung im Roman Wenn Hunde gefährlich lachen von Maxi Obexer (2011) ausschließlich aus der Perspektive der weiblichen Flüchtlingsfigur beschrieben:3 Helen, eine junge Frau aus Nigeria, träumt von einem freien, selbstbestimmten Leben in Europa, wo sie studieren und beruflich aufsteigen kann. Für sie ist Europa der Hort der humanistischen Werte und der Gleichstellung der Geschlechter. Die Bindung an Gesetz und Recht ist das, was sie am meisten an Europa fasziniert. Bei den Europäern ist das anders. Die gehen mit offenen Augen durch die Welt, sie kennen ihre Rechte, sie kennen ihre Pflichten, sie kennen die Regeln, und sie halten sich daran, weil sie den Sinn von Regeln und Gesetzen verstehen, und weil ihnen klar ist, dass sie wichtig sind, für die Ordnung insgesamt, aber auch für den einzelnen, und dass es, solange es keine gerechte Ordnung gibt, keine Ruhe, keinen Fortschritt, kein Garnichts geben kann. (Obexer 2011: 42f.)

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Nach Friese wurde die weibliche Flucht lange Zeit in akademischen Migrationsstudien vernachlässigt, weil sie immer als familienbedingte Mitflucht, als Teil der männlichen Flucht betrachtet wurde (vgl. Friese 2017: 60).

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Um ihr Ziel zu erreichen, muss sie auf ihrer Reise Betrug, Erniedrigung und sexuelle Gewalt über sich ergehen lassen. In Deutschland wird ihr jedoch gemäß des Rechtsystems, das sie anfangs bewundert, kein Recht verliehen. Vielmehr wird sie sogar entrechtet, weil sie die Kriterien des Asyls nicht erfüllt. Stattdessen bekommt sie den Status »homo sacer«4: Ich habe mir keine Gedanken gemacht darüber, dass man ein Recht auf ein freies Leben nur dann hat, wenn man nachweisen kann, dass es vorher kein Leben war [...], andernfalls hat man kein Recht auf ein Leben in Europa. [...] Aber der Preis, den ich für mein Europa schon bezahlt habe, ist für Europa kein Kriterium. (Obexer 2011: 153f.)

Das scheinbar monoperspektivische Erzählen wird im Roman durch die Überlagerung zweier Erzählebenen überformt. Es lassen sich eine übergeordnete Erzählebene der chronologisch geschilderten Ereignisse und eine untergeordnete Erzählebene in Form von Briefen mit Tagebuchcharakter registrieren, die in die erste Erzählebene eingewoben und optisch durch kursive Schrift hervorgehoben ist. In den Briefen stellt Helen eine Parallelwelt her, die die inhumane Realität verschönert und erträglicher macht. Die Multiperspektivität des Erzählens ergibt sich aus der unterschiedlichen Wahrnehmung und Wiedergabe der Geschehnisse auf beiden Ebenen. Während sich Helen tatsächlich in einer dunklen Erdhöhle versteckt, schreibt sie ihren Eltern folgenden Brief: Tanger, am 22. Januar Liebe Eltern, lieber Victor, Pat, ich sehe Europa, ich kann es sogar riechen, ich sehe die Lichter Europas, es sind die Lichter einer Hafenpromenade, die Straßenlaternen, unter denen die Menschen entlanglaufen, mit einem Eis in der Hand. (Ebd.: 34, Hervorh. im Original)

Ab dem zweiten Teil des Romangeschehens fällt es Helen jedoch schwer, alles, was ihr geschieht, als eigenes Schicksal zu schildern. Deshalb erfindet sie die

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»Homo sacer« bedeutet für Giorgio Agamben das nackte Leben, weil es das ist, was geopfert werden kann (wörtlich übersetzt bedeutet der Ausdruck: ›heiliger Mensch‹). Den Begriff entnimmt er aus dem archaischen römischen Recht und verwendet ihn zur Beschreibung des Flüchtlingsstatus. Ein »homo sacer« ist ein rechtsloser Mensch, dem der Staat die Bürgerrechte nimmt und der somit ohne rechtliche Konsequenzen getötet werden kann. Paradoxerweise ist er auch von der göttlichen Ordnung ausgeschlossen, so dass er nicht geopfert werden darf. Deshalb nimmt er seinen Platz an der Schwelle zwischen Leben und Tod ein. (Vgl. Agamben 2014: 195-198)

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Flüchtlingsfigur Grace, eine fiktive Figur, auf die sie ihren eigenen körperlichen und geistigen Verfall projiziert: »Grace ist erbärmlich einsam, sie war noch nie so allein« (ebd.: 99, Hervorh. im Original). Gleichsam maskiert als Grace erhebt Helen eine umfassende Anklage gegen den frauenfeindlichen Umgang mit Geflüchteten. Gegen Ende des Romans überwiegt die monologische Briefstruktur und somit wird die übergeordnete mit der untergeordneten Ebene vertauscht. Auf dieser Ebene hat die Flüchtlingsfigur die Möglichkeit, ihre Situation im Klaren zu reflektieren und Konsequenzen zu ziehen. Außerdem kann sie zur Wir-Stimme wechseln, um im Namen der pluralen Anderen zu sprechen, und sich in der DuStimme direkt an den Leser wenden, um ihre Isolation aufzubrechen: »Nur in Afrika ist es möglich, dass du ohne Grund und ohne kriminell zu sein, im Gefängnis sitzt. [...] Aber erstens sind wir in Europa. Und zweitens sind wir in keinem europäischen Gefängnis.« (Ebd.: 114, Hervorh. im Original) 2.3 Mama Merkel: Ein Patchwork-Roman? Die aussichtslose Lage des Flüchtlings, der in Europa ankommt und doch nicht ankommt, verbindet Helen mit dem sudanesischen Flüchtling Issa im Roman Mama Merkel von Emad Blake (2016), der das lange widrige Warten auf den Zulassungsbescheid nicht aushalten kann und vor seinem Selbstmord seinen Leidensweg in einem Roman niederschreibt, den er Mama Merkel nennt. Im Vergleich zu den Romanen Eine Handvoll Rosinen und Wenn gefährliche Hunde lachen bietet dieser Roman eine multiperspektivische Collage von verschiedenen Erzählstimmen, die in einem narrativen Netzwerk dynamisch miteinander verbunden sind. Der Roman besteht aus neun Kapiteln. Jedes Kapitel besteht aus kleinen Episoden, die Einzelschicksale erzählen, die fast überall auf der Welt geschehen, so dass es zunächst unvorstellbar ist, dass sie miteinander zu tun haben. Allerdings zieht sich die Flucht wie ein roter Faden durch alle Episoden, der sie zusammenhält und die unsichtbaren kausalen Beziehungen aufzeigt. Nichts ist Zufall, jede Figur führt zu einer anderen, jedes Schicksal findet in einem anderen Spiegelung oder Ursprung. Dergestalt wird die Flüchtlingsproblematik nicht nur multiperspektivisch, sondern als ein Teufelskreis dargestellt, der sich nie auflöst. Zu diesem multiperspektivisch vermittelten Netzwerk gehören eine junge Frau, deren Familie in Damaskus von einer Miliz ermordet wurde, und der ein Mittäter zur Flucht nach Deutschland verhalf; ein arabischer Arzt im deutschen Krankenhaus, der sich in sie verliebt und selber darunter leidet, dass er Ähnlichkeit mit einem Aktivisten der Al-Qaida aufweist; ein lybischer Schlepper, der die

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Flucht am eigenen Leib erlebte und statt die Flucht nach Europa fortzusetzen, als Schleuser tätig wird; eine britische Journalistin sudanesischer Herkunft, die sich in einen sudanesischen Flüchtling verliebt und deren Geschichte den Konflikt der zweiten Generation der Migranten aufzeigt, die sich zwischen zwei Kulturen bewegen und sich in keiner der beiden wiederfinden; alte griechische Flüchtlingshelfer und ehemalige Bäcker, die sich durch ihre Tätigkeit an der griechischen Küste in ihrem fortgeschrittenen Alter eine warme Speise pro Tag sichern; und nicht zuletzt Angela Merkel, die den Roman Hunger von Knut Hamsun (1888) liest – in der Hoffnung, dass er sie auf bessere Ideen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise bringt. In einem erzählerischen Rückgriff wird Hamsun bei der Arbeit an seinem Roman beschrieben. Der Roman Mama Merkel ist nicht nur ein mehrstimmiger, sondern ein mehrschichtiger Roman. Er besteht aus einem Vorwort, neun betitelten Kapiteln sowie einem Nachwort und weist eine mehrfache Rahmung auf: Im Vorwort dominiert die Stimme des impliziten Autors auf einer übergeordneten Metaebene, die den Patchwork-Roman einrahmt und ihm den Zusammenhang verleiht. Auf dieser Ebene reflektiert der implizite Autor über die Problematik der Auswanderung und betont die Fiktionalität seiner Figurenschicksale. Was bewegt die Menschen zur Auswanderung? Sind das die Kriege oder die wirtschaftlichen Krisen oder manchmal die sogenannte Selbstentfremdung: Wenn der Mensch feststellt, dass seinem Leben an einem Ort die Entspannung und Ruhe fehlen, und er nach einer sicheren Umgebung sucht, die ihn seiner eigenen Wahrheit annähern lässt? Der Wahrheit annähern!! Was für ein rätselhafter, irreführender Satz. Was für eine Wahrheit wünscht sich der Mensch in einer Welt, die selbst klare, leuchtende Bilder vermisst? (Blake 2011: 9) 5

Die zweite Erzählebene umfasst die erzählten Einzelschicksale der Figuren. Eine dritte Erzählebene stellt der Roman anhand der Figur von Issa her, dessen Episoden wie Puzzlestückchen jedes Kapitel abschließen und sich am Ende zu einem Ganzen zusammenfügen sollten. Seine narrative Identität bleibt allerdings bis zum Ende rätselhaft, was zur Verwirrung der Rezipienten führt: Ist er der implizierte Autor zweiten Grades von Mama Merkel? Ist er ein Doppelgänger des impliziten Autors ersten Grades oder dessen Projektionsfläche? Oder ist es reiner Zufall, dass er einen gleichnamigen Roman schreibt?

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Zitierte Stellen aus dem arabischen Roman Mama Merkel von Emad Blake (2016) wurden von der Verfasserin ins Deutsche übersetzt.

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Im Nachwort kommt das Erzählen wieder auf die Metaebene zurück, die den Roman einrahmt. Hier bezieht der Autor das gesamte Geschehen auf sich und sein Leben als Migrant. Das Schreiben ist für ihn ein Weg, sich selbst zu definieren und Antworten auf die Fragen zu finden: Wer bin ich? Und: Was will ich? Wir schreiben in dem Moment, in dem wir uns Freiheit wünschen und unsere eigene Wahrnehmung der Dinge um uns herum, unsere Vorstellung von der Welt bestimmen wollen. Für Migranten wie mich und die Leute, die ihre Heimat für lange Zeit verlassen, gibt es Sachverhalte, die man nicht genau wahrnehmen kann, als erstes die eigene Identität, die zu einem unbekannten Wesen wird, das man nicht fangen oder verstehen kann. (Ebd.: 274f.)

2.4 Zusammenfassung Zusammenfassend lassen sich in den drei Romanen Formen der Multiperspektivität feststellen. Die Romane Eine Handvoll Rosinen und Wenn gefährliche Hunde lachen entsprechen dem Typ 2 der multiperspektivischen Texte nach Nünning, die in der Einleitung des vorliegenden Beitrags erwähnt wurden. Dementsprechend sind sie »biperspektivisch fokalisierte« Romane, in denen das Geschehen »alterierend oder nacheinander aus der Sicht von zwei […] internen Fokalisierungsinstanzen wiedergegeben wird« (Nünning 2000b: 44). Zudem sind sie multiperspektivisch strukturiert (Typ 3, ebd.): In Zipfels Roman ist das durch offizielle Berichte und Abschiebungsbescheide gegeben, die in die Handlung eingebettet sind. In Obexers Roman erfolgt dies durch die Verflechtung der zwei Perspektivenstrukturen, der Perspektive der eigentlichen Handlung und der fingierten Handlung der Briefe. Blakes Patchwork-Roman hingegen ist ein polyperspektivisch fokalisierter Text (vgl. ebd.: 44), weil er mehrere bruchstückartige, personalisierte Sichtweisen präsentiert, die trotz ihrer Diversität um das Thema Flucht kreisen.

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3. AKTEURE DER FLUCHT: AMBIVALENZEN UND BRÜCHE Du wirst zu einer eigenen Gattung, einer Gattung, die es im gesamten Universum nur ein einziges Mal gibt, und dieses einzige Exemplar bist du bis ans Ende deines Lebens. (Obexer 2011: 102, Hervorh. im Original) Die Multiperspektivität des Erzählens, wie sie sich in verschiedenen Erscheinungsformen manifestiert, schlägt sich in der Figurenzeichnung und Figurenkonstellation nieder. Diejenigen, die an der Flucht beteiligt sind, sie verursachen, begleiten, begrüßen oder bekämpfen, werden in den untersuchten Romanen so gestaltet, dass erstens ihre Individualität und Einzigartigkeit sichtbar wird. Zweitens manifestiert sich jenseits der Fassade, die sie aufrechtzuerhalten suchen, ihre menschliche Schwäche. Es sind vor allem gebrochene Figuren, die so die ambivalente Handhabung der Fluchtkrise aufdecken, wie im Folgenden zu sehen ist. 3.1 Menschenrechte versus Status des ›homo sacer‹ ... wie sonderbar, dass du Antilope bist, dass es, ein Kamerateam gibt und Millionen, die zuschauen, wie du deine letzten Atemzüge tust, du läufst ... wirst müde alle Muskeln zerren an deinem Herzen, dann drehst du dich um, deinem Tode zu, dort ist niemand, der Gnade kennt (Hamza 2018: 12f).

Dem Bild des Prototyps Flüchtling entspricht Helen in Wenn gefährliche Hunde lachen vollkommen. Die hier im Gedicht inszenierte Ankunft in Europa ist wie aus Obexers Roman entnommen (vgl. Obexer 2011: 108-110) und kann auch für andere Flüchtlingsfiguren gelten, wie z.B. Randa Al-Qaissi in Mama Merkel, die mit Helen den Status des ›homo sacer‹ teilt: Sie ist eine junge Frau aus Syrien, deren Familie von einer terroristischen Miliz ermordet wurde. Nachdem sie mehrere Tage von den Terroristen vergewaltigt wurde, verhalf ihr jemand, von dem sie glaubt, er sei ein Mittäter, zur Flucht. Anders als Helen, die ihre Flucht ge-

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plant hat, musste Randa unüberlegt ihrem Helfer folgen, weil es für sie kein Zurück mehr in die Heimat gab. Ab diesem Zeitpunkt verlor sie die Kontrolle über ihr Leben. Während Helen schließlich elend im Flüchtlingsheim landet und Selbstmord begehen will, bleibt Randa an ihren Rollenstuhl gefesselt und muss ihre Träume gegen ein sicheres Leben mit einem Mann, den sie nicht liebt, tauschen. Sie tastete ihre Seele ab, aber sie spürte sie nicht, sie findet sie nicht. Sie fühlt nur die Leere, die Sprache des Todes und des Endes. Sie hatte viele Träume, sie wollte Dichterin werden, eine Sängerin wie Lady Gaga [...] Jetzt werden ihre Träume und ihre Pläne für die Zukunft zerstreut. Sie kann nicht an das denken, was vor ihren Augen passiert ist. Sie schreit beinahe, dann schweigt sie endlich, für ewig. Es ist aber eine vorläufige Ewigkeit, weil sie noch nicht gestorben ist. (Blake 2016: 38)

Genau wie Helen sind die Flüchtlingsfiguren im Roman Eine Handvoll Rosinen, »eine Handvoll Obdachloser«, »die einen imaginären Punkt fixierten, der ins Nichts führte, zerbrechliche Blicke, die dem Betrachter sofort auswichen, als wäre es eine kompromittierende, peinliche Situation« (Zipfel 2015: 173 u. 167). Diese peinliche Situation ergibt sich daraus, dass die Flüchtlinge einer Form der »rechtlich legitimierte[n] Ausschließung aus dem Recht« unterliegen (Schulze Wessel 2017: 70). Rechtlich gelten für sie zwar die Menschenrechte, aber in der Tat werden alle Rechte für sie aufgehoben, da sie sich an einer Schwelle befinden: Und so kann auch der homo sacer deshalb bei Agamben als eine Figur auf der Grenze, als eine Grenzfigur gefasst werden. Der Flüchtling als der moderne homo sacer ist weder nur jenseits des Rechts noch nur im Recht, sondern auf der Grenze dazwischen angesiedelt. (Ebd., Hevorh. im Original)

Diese »Existenz auf der Grenze« (ebd.) gilt gleichermaßen für den sudanesischen Flüchtling Issa im Roman Mama Merkel, der vor allem über die willkürlichen Asylgesetze und die nur scheinbar beachteten Menschenrechte klagt. Es gibt keine klaren Kriterien, sondern nur Parteinahme. Europa ist in einigen Hinsichten genau wie unsere Länder. Es herrschen temporäre Verführungen genauso wie politische und rassistische Parteinahme. Hörst du nicht vom Trubel um Menschenrechte? Das sind bloß leere Parolen. (Blake 2016: 122)

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An diesen Figuren zeigt sich nicht nur der ambivalente Umgang mit Menschenrechten, sondern auch, wie die Flüchtlinge langsam ihr Menschsein verlieren und in Isolation und Entfremdung enden. Flüchtling ist stets eine vorläufige Zuschreibung; gleichzeitig ist sie ein Master-Status, der alle anderen Identitäten und Eigenschaften dominiert. Hier wird das grundlegend Transitorische der Flüchtlingsfigur deutlich: Ein Flüchtling ist nichts als Flüchtling, andere Rollen und Eigenheiten treten dahinter zurück – und doch ist dieser Status niemals ein endgültiger. Das Einzige, was der Flüchtling ist, kann er nicht bleiben. In sein Herkunftsland kann er oft jahrzehntelang nicht zurückkehren. Was dem Flüchtling bleibt, ist ein dauerhaft vorläufiges Dasein in den Zwischen- und Sonderräumen der nationalstaatlichen Ordnung. (Inhetveen 2010: 159)

3.2 ›Opfer‹ versus ›Verbrecher‹ Den Flüchtlingsfiguren Helen und Randa, die sich eindeutig auf der Opferseite befinden, stehen die »gefährlichen Hunde« gegenüber, denen sie auf ihrem Fluchtweg begegnen: Benjamin und Magd, ihre angeblichen »Beschützer« (Obexer 2011: 82), die allein fliehende Frauen auf ihrem schwierigen Fluchtweg professionell begleiten, um sie später in die Prostitution zu schicken und die eigene Migration zu finanzieren. Zu den »gefährlichen Hunden« zählen auch die Grenzpolizisten, die Bordellbesitzer und die Sextouristen in Tanger sowie die spanische Krankenschwester, die Helen bei einer Abtreibung geholfen hat, und nicht zuletzt die männlichen Mitbewohner im Flüchtlingsheim. In den anderen Romanen werden die Flüchtlingsfiguren ebenfalls perspektivisch dargestellt: Im Roman Eine Handvoll Rosinen stellt sich heraus, dass Aram Khalil, der syrische Flüchtling, der abgeschoben werden soll, kein Regierungsgegner war, wie er angab, sondern seine Kollegen beim Staat denunzierte, um aufzusteigen. Ludwig Blum, der Fremdenpolizist, leistete illegalen Flüchtlingen aus Menschlichkeit Hilfe. Die Schlepper Najat Salarzai in Eine Handvoll Rosinen und Malcom X in Mama Merkel weisen eine ähnliche Lebensgeschichte auf: Beide kommen aus ordentlichen Verhältnissen und mussten sich aus politischen Gründen auf die Flucht machen und in das Geschäft der Fluchthilfe einsteigen, was dazu führt, dass sie innerlich zerrissen sind. »Malcom X fragt sich, ob ein Verbrecher und ein aufrichtiger Mensch aus demselben Lehm geschaffen sein können.« (Blake 2016: 76) Der sudanesische Ga´far in Mama Merkel täuscht Malida Omar, der britischen Journalistin sudanesischer Herkunft, Liebe vor, damit sie ihm bei der Flucht von Italien nach England hilft. Im selben Roman flieht der Terrorist Ab-

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dalla Bakshi vor den amerikanischen Angriffen auf Islamabad und trifft sich bei seiner Ankunft in Griechenland mit einem einheimischen Paar, bei dem er vor 15 Jahren gearbeitet hatte, ohne ihnen seine wahre Identität zu verraten. Neben der Fluchtproblematik wird in Mama Merkel auch die Identitätskrise der Migranten aus der Perspektive von Malida Omar, einer Migrantin der zweiten Generation, dargestellt: Sie hat festgestellt, dass der Mensch bestimmte Eigenschaften besitzt, die er nicht tilgen kann, bestimmte Sachverhalte, die zu peinlich sind, um darüber öffentlich zu sprechen wie die kulturellen Unterschiede und die persönlichen Erfahrungen. Es ist wahr, dass Malida in Großbritannien aufgewachsen ist und dort studiert hat. Aber ihr Leben im Elternhaus, jene quadratische Fläche im siebten Stock, hat ihre unsichtbaren Eigenschaften geprägt. Diese ererbten Eigenschaften tauchen an der Oberfläche auf und stören ihren Frieden, gerade in solchen Situationen. (Blake 2016: 150)

3.3 Zusammenfassung Gemeinsam haben die drei Romane, dass sie die Figuren in einem differenzierten Licht präsentieren. Bei der Figurenzeichnung ersetzt die Individualisierung die Typisierung. Statt Stereotype zu reproduzieren, treten die Figuren mit ihren persönlichen Eigenheiten, Brüchen, Ängsten und Ambivalenzen in Erscheinung. In den Romanen sind alle unterschiedlich leidende Menschen, die das Gute und Böse in sich tragen. Die Schlepper und Vergewaltiger waren ursprünglich gute Menschen. Unter den Flüchtlingen gibt es neben Opfern auch Verbrecher und Verräter. Durch die multiperspektivische Figurendarstellung wird die Frage nach Schuld und Verantwortung relativiert und aufgehoben, wie der fiktive Autor in Mama Merkel gegen Ende des Romans selbst betont. Mir schwebt in meiner tiefen Verzweiflung die Frage vor: Was bringt den Menschen dazu, bösartig zu sein, bis zum extremsten Grad? Diese Frage hängt mit der Natur der Figuren zusammen, die ich in meinem Roman kennen gelernt habe und die mich durch den Roman begleitet haben. Ist die Bösartigkeit in ihnen verankert? Oder haben bestimmte Umstände zu dieser Bösartigkeit geführt? Können wir Menschen immer rechtfertigen oder müssen wir ständig strenge Richter spielen? (Blake 2016: 278)

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4. LOKALISIERUNG DER FLUCHT: HYBRIDE NICHT-ORTE Du blickst überall in ungewisse Richtungen, hinter Dinge und Orte, in der Hoffnung, deinen Ort, dich selbst, zu finden. Aber deine Reise dauerte so lange, dass dein bitteres Schicksal dich von einem Flughafen zu einem anderen, von einer Hölle zu einem Fluch verfolgte. (Blake 2016: 205)

Das multiperspektivische Erzählen wird durch die multiple Lokalisierung des Romangeschehens unterstützt. Gemeinsam haben die Romane den hybriden, transitorischen Charakter der Orte. In Eine Handvoll Rosinen mischt sich in den individuell zugeschnittenen Szenen Öffentliches mit Privatem. Die Handlung spielt u.a. in der Betreuungsstelle für Asylbewerber, im Bundesasylamt, im Notquartier, am Flughafen, in Blums und Nejats Wohnungen, auf der Autobahn, an fernen verlassenen Orten, an denen Nejat und Blum Geschäfte vereinbaren, und schließlich im Gefängnis. Die Zeit wirkt ebenfalls auf die Wahrnehmung der verschiedenen Orte. Es ist tiefer Winter, kahl, kalt und trüb. Krähen begleiten Blum und Salarzai und geben ihre innere Stimmung wieder. Der Wind wird oft als Ausdruck von Gefahr oder unerwarteten Ereignissen verwendet. Der Roman weist ein langsames Erzähltempo auf, das sich in entscheidenden Situationen beschleunigt, wie bei den Versuchen Blums, die Abschiebung von Khalil zu stoppen und die sterbenden Flüchtlinge im Kühlwagen zu retten. Im Roman wird auch ständig auf die glückliche oder unglückliche Vergangenheit zurückgeblickt. Diese Analepsen werden in Form der erlebten Rede in das chronologisch erzählte Geschehen eingebettet. Ähnlich wie im Roman Eine Handvoll Rosinen beginnt Helens Reise im Roman in Wenn gefährliche Hunde lachen im Winter und dauert von Januar bis November 2010. Helen nimmt zunächst die Sahara-Route von Nigeria über Libyen bis Tanger, dann die Meeresroute nach Spanien. Ihre Reise verbindet die typischen Orten der Flucht: Erdhöhlen, Wüste, verschiedene Checkpoints, Bordell, ein Boot auf dem Meer, Erstaufnahmelager, Lastwagen und Krankenhaus; letztlich landet sie im Flüchtlingsheim. Neben den realen Räumen stellt Helen irreale Parallelräume in ihren Briefen und Berichten an ihre Familie her, in denen sie sich ausruht, Energie tankt, Ereignisse kommentiert und reflektiert. Der Roman besitzt durch seinen immensen Spannungsbogen und dreiteiligen dramatischen Aufbau ein schnelles Erzähltempo. Im ersten Teil erlebt der Leser eine deutliche Spannungssteigerung auf Helens Reise durch die afrikanische Sahara, im zweiten Teil den Höhepunkt mit der Ankunft von Helen alias Grace in Tanger, der Trennung von ihrem Begleiter

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Benjamin und der Prostitution. Hier herrscht Ungewissheit, wie und wann es weitergeht. Im dritten Teil fällt die Handlung mit der Ankunft in Italien und der Weiterfahrt nach Deutschland ab – hin zum offenen, wenn auch mutmaßlich tragischen Ende der Figur als Asylbewerberin. Die Ereignisse werden sowohl durch direkte Rede als auch durch erlebte Rede vergegenwärtigt. In Mama Merkel finden die Episoden gleichfalls an authentischen Orten der Flucht und Migration statt: Inseln im Mittelmeer, italienische, griechische und lybische Meeresküsten, Deutschland (Berlin, Hamburg), Bundeskanzleramt, Cafés, Theater, Züge, Privathäuser und Flugzeuge. Die Episoden spielen ebenfalls überwiegend im Winter 2014 und 2015. Das Erzählen hält die Spannung durch das schnelle Erzähltempo, die Zeitsprünge sowie die häufigen Analepsen und Ellipsen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Räume der Flucht und Migration in den untersuchten Romanen »Nicht-Orte« sind, Räume der einsamen Reisenden ... die jene prophetische Beschwörung des Raums vernehmen, in der weder Identität noch Relation noch Geschichte wirklich Sinn haben, in der die Einsamkeit als Überschreitung oder Entleerung der Individualität empfunden wird und einzig die Bewegung der Bilder dem, der sie vorbeiziehen sieht, einen Augenblick lang die Hypothese einer Vergangenheit und die Möglichkeit einer Zukunft aufscheinen lässt. (Augé 20123: 91)6

5. FAZIT Denkt man an das typische Bild der Flüchtlingsboote, die gegen die hohen Wellen im Mittelmeer kämpfen, scheinen die Geflüchteten und ihre Helfer sowie ihre Bekämpfer tatsächlich ins gleiche Boot gestiegen zu sein, auf der Suche nach Gerechtigkeit, Hoffnung und Frieden. Schlagworte wie Ordnung, Menschlichkeit und Gerechtigkeit können nicht mehr zugeordnet werden, sie werden meistens für das eigene Interesse instrumentalisiert. Ob das Boot tatsächlich ans Ziel gelangt, bleibt in allen drei Romanen offen. In der Regel wird die Bedeutung eines gesamten literarischen Textes durch »Vergleich und Koordinierung verschiedener Perspektiven« ermittelt, wodurch

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Deshalb werden Flüchtlinge Grenzfiguren genannt, denn »[d]ie Grenze ist der Ort, an dem die Aushandlungskämpfe zwischen Weiterwanderung und Abwehr, zwischen Kontrolle und dem Versuch, diese zu umgehen, heute zu finden sind«. (Schulze Wessel 2017: 88)

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am Ende eine »geschlossene Perspektive« entsteht. Da aber in den drei Romanen »die verschiedenen Weltbilder in ganz verschiedene Richtungen deuten, [bleibt] die Perspektivenstruktur offen« (Fludernick 2013: 50). Es geht nicht darum, dass man ankommt, sondern dass man diese Figuren in ihrer Ambivalenz und Brüchigkeit sieht. In der Geschichte gibt es Ereignisse, die unterschiedlich begründet werden. Im Laufe der Zeit wissen die Menschen nicht mehr, wie und warum sich etwas ereignet hat. Beim Thema Zuwanderung nach Europa, d.h. in meinem Roman Mama Merkel scheinen mir die Gründe auch ein Rätsel zu bleiben. Niemand ist sicher, wo der richtige gewisse Punkt liegt, an dem die Chiffren entschlüsselt werden können. (Blake 2016: 278)

Geschaffen werden trotz der multiperspektivischen narrativen Struktur der Texte Berührungsmomente, die die Figuren in Dialog treten, ihre ähnlichen Sehnsüchte und Enttäuschungen aussprechen lassen und sie zur Selbstreflexion und -verortung anregen. Das entspricht vor allem der Natur der ›Grenze‹: Neben der Schließfunktion verfügen Grenzen zum anderen über die Verbindungs- und Öffnungsfunktion, durch die sie die Kontakte zum Außen herstellen. Grenzen verbinden also auch gleichzeitig, sie bergen immer die Möglichkeit des Passierens in sich und stellen Kontaktzonen zwischen Drinnen und Draußen dar. (Schulze Wessel 2017: 91f.)

LITERATUR Agamben, Giorgio (2014): Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. In: Andreas Folkers/ Thomas Lemke (Hg.): Biopolitik. Ein Reader. Berlin, S. 191-227. Augé, Marc (20123): Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. München. Bachtin, Michail (2015 [1979]): Die Ästhetik des Wortes, hrsg. v. Rainer Grüber u. Sabine Reese, Frankfurt am Main, S. 164-191. Abgedruckt in: Andreas Langenohlu.a. (Hg.): Transkulturalität. Klassische Texte. Bielefeld, S. 199212. Blake, Emad (2016): Mama Merkel. Khartum. Fludernik, Monika (20134): Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt. Friese, Heidrun (2017): Flüchtlinge: Opfer – Bedrohung – Helden. Zur politischen Imagination des Fremden. Bielefeld.

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Hamza, Aref (2018): Der Doppelgänger. Übersetzt aus dem Arabischen von Christoph Peters. In: Mahmoud Hassanein/Hans Thill (Hg.): Deine Angst – Dein Paradies. Gedichte aus Syrien, Heidelberg. S. 12-13. Hartner, Marcus (2012): Perspektivische Interaktion im Roman. Kognition, Rezeption, Interpretation. Berlin u. Boston. Inhetveen, Katharina (2010): Der Flüchtling. In: Stephan Moebius/Markus Schroer (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart. Berlin, S. 148-160. Köppe, Tilmann; Kindt, Tom (2014): Erzähltheorie. Eine Einführung, Stuttgart. Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (2000a): Von der Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte: Überlegungen zur Definition, Konzeptualisierung und Untersuchtbarkeit von Multiperspektivität. In: Dies. (Hg.): Multiperspektivisches Erzählen: Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier, S. 3-38. Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (2000b): Multiperspektivität aus narratologischer Sicht: Erzähltheoretische Grundlagen und Kategorien zur Analyse der Perspektivenstruktur narrativer Texte. In: Dies. (Hg.): Multiperspektivisches Erzählen: Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier, S. 39-78. Obexer, Maxi (2011): Wenn gefährliche Hunde lachen. Wien u. Bozen. Schmid, Wolf (20143): Elemente der Narratologie. Berlin u. Boston. Schulze Wessel, Julia (2017): Grenzfiguren – Zur politischen Theorie des Flüchtlings. Bielefeld. Zipfel, Daniel (2015): Eine Handvoll Rosinen. Wien.

Befestigte Grenzen Zur Kritik europäischer Abschottungspolitik in Björn Kuhligks Langgedicht Die Sprache von Gibraltar Stefan Hermes (Duisburg-Essen)

ZUR EINFÜHRUNG: KUHLIGKS GEDICHT UND DIE AKTUELLE ›FLÜCHTLINGSLITERATUR‹ Seit Mitte der 1990er Jahre ist die Zahl europäischer Binnengrenzen, an denen im Regelfall keine Einreisekontrollen mehr stattfinden, stetig angewachsen.1 Allerdings geht die relative Freizügigkeit innerhalb des Schengen-Raums mit einem umso rigideren Grenzregime an seinen Rändern einher: Neben der inzwischen nahezu vollständigen Abriegelung der sogenannten Balkanroute bezeugen dies unter anderem jene Maßnahmen, die der illegalen Einwanderung über das Mittelmeer Einhalt gebieten sollen. Mit dieser Abschottungspolitik der EU, ihren Voraussetzungen und Folgen befasst sich Björn Kuhligks Langgedicht Die Sprache von Gibraltar, das 2016 in einem Band gleichen Titels erschien, am Beispiel der in Nordafrika gelegenen, von schier monströsen Befestigungen umgebenen spanischen Enklave Melilla, in die der Berliner Autor 2015 gereist war. Von den meisten Werken der deutschsprachigen Literatur, die sich den rezenten Flucht- und Migrationsbewegungen nach Europa widmen, unterscheidet sich Kuhligks Text schon aufgrund seiner Gattungszugehörigkeit eklatant. Denn wie nicht anders zu erwarten, liegen (auch) zu diesem Sujet überwiegend Roma-

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Es sollte jedoch nicht ausgeblendet werden, dass sich zahlreiche Staaten, darunter Deutschland, wiederholt veranlasst gesehen haben, derartige Kontrollen vorübergehend zu reinstallieren, um terroristischen Akten vorzubeugen oder aber Migrationsbewegungen abzuwehren.

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ne vor – exemplarisch genannt seien Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (2015) und Michael Köhlmeiers Das Mädchen mit dem Fingerhut (2016) –; darüber hinaus ist Elfriede Jelineks (Theater-)Text Die Schutzbefohlenen (2013) relativ breit rezipiert worden. Ein Sonderstatus kommt Kuhligks Gedicht außerdem dadurch zu, dass es eben nicht auf die prekäre Lage von Geflüchteten fokussiert, die es trotz allem ›zu uns‹ geschafft haben und sich zumindest vorübergehend ›hier‹ aufhalten. Stattdessen thematisiert es die systematische Vereitelung von Anstrengungen, nach Europa zu gelangen, sowie das Los derjenigen, die darunter zu leiden haben.2 Der vorliegende Aufsatz soll nun skizzenhaft erörtern, inwiefern Kuhligk einerseits lyrikspezifische oder -typische Formelemente aufgreift und andererseits Textverfahren zur Anwendung bringt, die für die gewählte Gattung eher unüblich sind – und inwiefern er damit zu einer Ausdrucksweise findet, die der Situation an den EU-Außengrenzen wenigstens im Ansatz gerecht wird. Prinzipiell scheint eine Beschäftigung mit seinem Gedicht gerade deshalb von Interesse zu sein, weil sich etliche der in der Einleitung zu diesem Band entfalteten Analysebegriffe nur in negierter Form darauf beziehen lassen: Vor allem von unterbundener Transkontinentalität kündet Die Sprache von Gibraltar, von verhinderten Übergangs- und Transferprozessen. Derlei Phänomene aber sollte die interkulturelle Literaturwissenschaft gewiss nicht ignorieren.

LYRIK UND ETHIK: FREMDES LEID ALS GEGENSTAND VON GEDICHTEN Die Frage, ob die Literatur oder, enger gefasst, die Lyrik dazu imstande ist, auf extremste Leiderfahrungen angemessen zu reagieren (was immer das im Einzelnen heißen mag), hat man vielfach kontrovers diskutiert: Zu denken wäre insbesondere an die langanhaltende Debatte, die Adornos berühmtes, erstmals 1951 publiziertes Diktum, »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch« (Adorno 1977: 30), ausgelöst hat. Diese Debatte kann und muss hier nicht rekapituliert werden, doch sei daran erinnert, dass Adorno 1966 relativierend festge-

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Freilich kommen gerade die oft tödlich endenden Versuche, in kaum seetauglichen Booten das Mittelmeer zu überqueren, auch bei Jelinek und ferner bei Erpenbeck zur Sprache. Von großer Bedeutung sind sie überdies für Romane wie Maxi Obexers Wenn gefährliche Hunde lachen (2011) und Merle Krögers Havarie (2015). Vgl. zu den genannten und einigen verwandten Werken die entsprechenden Beiträge in Payne/Kleine/Hardtke (2017).!Vgl. zudem Hermes (2016).

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stellt hat, »[d]as perennierende Leiden« habe »soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.« (Adorno 1970: 353)3 Damit aber ist ja noch längst nicht geklärt, unter welchen Bedingungen und auf welche Weise womöglich auch jemand, der das erwähnte Leid nicht selbst hat erdulden müssen, darüber schreiben darf, kann oder gar sollte. Unübersehbar ist jedoch, dass Adornos Äußerungen zahllose LyrikerInnen nicht davon abgehalten haben, den Schmerz und die Traumata anderer zu verbalisieren. Und tatsächlich taugt (fehlende) persönliche Betroffenheit eines Autors bzw. einer Autorin wohl kaum zum entscheidenden Kriterium, wenn es zu beurteilen gilt, ob ein literarisches Werk sein Sujet in adäquater oder immerhin akzeptabler Weise verhandelt. Dass diese Aspekte für die Auseinandersetzung mit Kuhligks Die Sprache von Gibraltar von erheblicher Relevanz sind, liegt auf der Hand – wenngleich es mehr als problematisch wäre, das darin thematisierte Grenzregime der Gegenwart in die Nähe der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu rücken, von der bei Adorno die Rede ist. Dessen ungeachtet sind die EU-Staaten mitverantwortlich dafür, dass jährlich tausende Menschen bei dem Versuch, ihr Territorium zu erreichen, das Leben verlieren (vgl. etwa o.A. 2017). Wie ein sich damit befassender deutscher Schriftsteller die eigene privilegierte Position gestaltet und reflektiert, ist demnach nicht bloß in ästhetischer, sondern desgleichen in ethischer und politischer Hinsicht bedeutsam.

›REISELYRIK‹: DIE SPRACHE VON GIBRALTAR ZWISCHEN TRADITION UND INNOVATION Festgehalten sei eingangs, dass Kuhligks Text nicht forciert an die Tradition der (threnetischen) Elegie anschließt – was ja durchaus denkbar gewesen wäre. Ebenso wenig repräsentiert Die Sprache von Gibraltar einen überkommenen Typus von (Agitprop-)Lyrik, der in erster Linie auf die Vermittlung festgefügter Überzeugungen und unmittelbare politische Wirkung ausgerichtet ist. Dies impliziert jedoch nicht, wie im weiteren Verlauf ersichtlich werden wird, dass Trauer und Empörung in seinen reimlosen und freirhythmischen Versen keinen Platz hätten, im Gegenteil.

3

Vgl. zum Gesamtkomplex Kiedaisch (1995), Lamping (1996), Stein (1996), Weninger (2004) und Hofmann (2005) sowie zuletzt Johann (2018).

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Zunächst aber sticht ins Auge, dass sich Kuhligks Gedicht, darin anderen Werken des Autors ähnelnd, in das Feld der Reiseliteratur einschreibt:4 in ein Feld mithin, in dem die Gattung der Lyrik einen relativ geringen Stellenwert einnimmt. Zwar existieren Gedichte ganz unterschiedlicher Epochen, die schon von ihren Urhebern, etwa von Ludwig Tieck und Günter Kunert,5 oder aber von der Forschung als Reisegedichte bzw. Reiselyrik etikettiert worden sind (vgl. z.B. Pohl 1993; Röhnert 2003; Donko 2011), doch ändert dies nichts daran, dass die Reiseliteratur in ihrer übergroßen Mehrheit der Epik zuzurechnen ist.6 Ohne deshalb in toto als ›Erzählgedicht‹ verstanden werden zu müssen, erzählt freilich auch Die Sprache von Gibraltar etwas. Der Aufbruch des Ich nach Melilla und sein dortiger Aufenthalt werden im Wesentlichen chronologisch nachvollzogen, sodass sich eine rudimentäre Geschichte ergibt.7 Dass diese Geschichte als wahre Geschichte rezipiert werden soll, verdeutlicht eine Reihe paratextueller Faktualitätssignale.8 So enthält Kuhligks Band ein Kurzporträt des Verfassers, in dem es heißt:

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Zu denken wäre zum einen an jene Bände, die Kuhligk gemeinsam mit Jan Wagner (Der Wald im Zimmer. Eine Harzreise [2007]) bzw. Tom Schulz (»Wir sind jetzt hier«. Neue Wanderungen durch die Mark Brandenburg [2014] und Rheinfahrt. Ein Fluss, seine Menschen, seine Geschichten [2017]) publiziert hat, zum anderen an etliche Texte aus seinen Lyriksammlungen Am Ende kommen Touristen (2002), Von der Oberfläche der Erde (2009) oder Die Stille zwischen null und eins (2013).

5

Tieck schuf die Reisegedichte eines Kranken während seiner Italienreise 1805/06 und ließ sie 1821/23 erscheinen; Kunert veröffentlichte den mit dem Untertitel Reisegedichte versehenen Band Verlangen nach Bomarzo 1978.

6

Vgl. exemplarisch die umfängliche Aufsatzsammlung von Holdenried/Honold/Hermes (2017).

7

Als Minimaldefinition des Erzählens sei diejenige von Lahn/Meister (2013: 4) angeführt: Ihr zufolge kann unter Erzählen »das (sprachliche) Ausdrücken, Verknüpfen und gleichzeitige thematische Ordnen von (wahren oder vorgestellten) Fakten zu Geschichten« verstanden werden.

8

Grundsätzlich aber werden seit geraumer Zeit neben Berichten über tatsächlich unternommene Reisen auch fiktionale Werke zur Reiseliteratur gezählt. Vgl. etwa Holdenried (1997) und Jäger (2003). Die fundamentalen Schwierigkeiten, die sich beim Versuch ergeben, eindeutig zwischen faktualen und fiktionalen Reiseschilderungen zu unterscheiden, rekapitulieren bereits Segeberg (1983: 14-31) und Heinritz (1998: 7184).

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2014, als es noch leichtfiel, die strandenden Menschen, die Menschen auf den Booten als Problem der Mittelmeeranrainer zu verdrängen, ließen Björn Kuhligk die Berichte vom berüchtigten Grenzzaun nicht mehr los. Er reiste [im Oktober 2015; S.H.] dorthin, um sich ein Bild zu machen und eine Sprache für das zu finden, was er empfand und was er sehen würde. (O.A. 2016)

Mit dieser biographischen Mitteilung korrespondiert eine knappe, dem zur Diskussion stehenden Gedicht beigegebene »Anmerkung«, die über die nicht abreißenden Versuche von »Flüchtlinge[n] aus den Subsahara-Regionen« informiert, »eine der bestgesicherten Grenzanlagen der Welt« (Kuhligk 2016: 37) zu überwinden, um nach Melilla vorzudringen und von dort aus in andere Teile der EU zu gelangen. Hinzuweisen ist ferner darauf, dass Kuhligks Nordafrika-Reise nicht allein in Die Sprache von Gibraltar Niederschlag gefunden hat, sondern auch in einer am 28. Oktober 2015 online publizierten Reportage, die partiell mit den gleichen Motiven aufwartet (vgl. Kuhligk 2015). Zu all dem fügt es sich, dass das Gedicht von einem Topos durchzogen ist, der für die Reiseliteratur spätestens im Zeitalter der Aufklärung konstitutiv wurde: der emphatischen Autopsiebehauptung.9 Einzig das mit eigenen Augen Gesehene, nicht aber das aus schriftlichen Quellen oder vom bloßen Hörensagen Bekannte soll demnach in den Text einfließen; angepeilt wird ein Maximum an Authentizität, der vermeintlich ein ungleich höherer Wert zukommt als dem Spiel der Phantasie und der Lust am Fabulieren. Bemerkenswert ist indes, dass Kuhligk just auf genuin lyrische (Wiederholungs-)Strukturen zurückgreift, um den autoptischen Charakter seiner Schilderungen zu markieren, etwa wenn er bei der Auflistung teils verstörender visueller Wahrnehmungen anaphorischen Gebrauch von der Formel »ich sehe« macht. »[I]ch sehe, wie Schlagstöcke den Grenzverkehr regeln / ich sehe, wie eine Faust ein Gesicht trifft« (Kuhligk 2016: 16), konstatiert seine Sprechinstanz, um dann hinzuzufügen: ich sehe Mädchen auf einem Esel ich sehe Männer sitzen und Frauen laufen ich sehe Kühlschränke auf Mopeds ich sehe Plastiktüten in jedem Strauch (ebd.: 17).10

9

Vgl. die nach wie vor grundlegende Studie von Stewart (1978: 22-40).

10 Überhaupt sind Anaphern, die andernorts in noch weit stärkerer Häufung verwendet werden und so eine gewisse Monotonie erzeugen (vgl. Kuhligk 2016: 27, 33-36), für das Gedicht charakteristisch.

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Die Benennung des Perzeptionsaktes erfolgt hier nachgerade inflationär; zugleich verhalten sich die lakonisch-reduzierten, einem touristisch-voyeuristischen Begehren demonstrativ entsagenden Verse rein additiv zueinander: Eine synthetisierende Darstellung, in der wie auch immer gelagerte Beziehungen zwischen den einzelnen Beobachtungssplittern etabliert werden, kommt nicht zustande. Allenfalls punktuell sind bei Kuhligk »Zusammenhänge […] vorhanden«, meist aber ist zu registrieren, dass »Zusammenhänge flöten gehen / […] Zusammenhänge keine mehr sind« (ebd.: 33). Vor diesem Hintergrund mutet jenes Konzept einer »philosophische[n] Reisebeschreibung«, das Georg Forster (1967: 13) vor fast zweieinhalb Jahrhunderten in den Präliminarien zur Reise um die Welt (1778/80) skizziert hat,11 nur mehr wie eine ganz und gar unzeitgemäße Utopie an. Zugleich entfaltet Kuhligks wiederholtes »ich sehe« eine völlig andere Wirkung als jenes »Ich sah«, mit dem Christoph Ransmayr alle siebzig Kapitel seines Atlas eines ängstlichen Mannes (2012) beginnen lässt (vgl. dazu Schmitz-Emans 2017: 32f.). Während nämlich das von Ransmayr verwendete Präteritum die Distanz seines Erzählers zum Gesehenen und damit auch ein Mindestmaß an narrativer Verarbeitung anzeigt, simuliert Kuhligk ungebrochene Gegenwärtigkeit. Auf jegliche – und sei es subjektive und unvollständige – Einordnung der disparaten Eindrücke, die auf das Ich einströmen, verzichtet er also über weite Strecken.12 Dadurch läuft der vorgeführte Beglaubigungsgestus bisweilen ins Leere, vor allem wenn er in eine (auch noch verdoppelte) Tautologie mündet: »Ich sehe, was ich sehe / […] ich sehe, was ich sehe« (Kuhligk 2016: 13).

BEFESTIGTE GRENZEN: DIE UNMÖGLICHKEIT VON INTERKULTURALITÄT Nicht minder tautologisch und daher unergiebig fallen häufig die Auskünfte der Sprechinstanz über ihre Bemühungen aus, die eigene kulturelle und soziale Ver-

11 Vgl. aus der kaum mehr zu überschauenden Forster-Literatur die in Bezug auf epistemologische Fragen besonders instruktiven Beiträge von Neumann (1994), Strack (1994) und May (2011). 12 Neben visuellen Wahrnehmungen schildert Kuhligks Text stets auch auditive, olfaktorische und taktile Reize, die in ihrer Unmittelbarkeit einen scharfen Gegensatz zum üblichen Medienkonsum des Ich bilden: »es ist kein Zeitungsartikel, kein Diskurs / kein surrealer Film, es ist zum Riechen / zum Anfassen, zum Durchgehen« (Kuhligk 2016: 18).

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ortung zu klären. Denn es nützt ihr kaum etwas, dass sie die Notwendigkeit, sich mit der Tradition ›weißen‹ Superioritätsdenkens auseinanderzusetzen, ebenso erkannt hat wie den Umstand, dass der rassistische Diskurs nicht durch einen bloßen Willensakt außer Kraft zu setzen ist: Die Geschichte meiner Abstammung ist die Geschichte meiner Abstammung die Geschichte meiner Hautfarbe ist die Geschichte meiner Hautfarbe (ebd.: 12).

Eine selbstironische Lossagung von der gängigen Privilegierung von whiteness vollzieht das Ich in Die Sprache von Gibraltar zwar durchaus, wenn es die eigene Hautfarbe als die »eines Brötchens / das zu kurz gebacken wurde« (ebd.: 18), beschreibt,13 doch mildert dies seine permanente Verstörung kaum. So durchlebt Kuhligks Reisender nach einem »Montag der Unruhe« (ebd.: 11) einen ebensolchen Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag und Samstag (vgl. ebd.: 14, 16, 20, 24, 30) – was wesentlich daran liegt, dass mit den »Geschichte[n]« seiner »Abstammung« und seiner »Hautfarbe« handfeste, speziell ökonomische Vorteile verbunden sind. Diese geben ihm Anlass zu massiven Schuldgefühlen: »[I]ch bin bei den Satten, den Siegern / das ist mein Standpunkt«, diagnostiziert er, »ich habe den Reisepass, ich kann mir / das Essen aussuchen, das Hotel« (ebd.: 12). Und weiter: »[I]ch bin der VISA-König« (ebd.: 16) mit »der mitteleuropäischen Zufriedenheitsstirn« (ebd.: 23). Inwiefern aber bestimmt dies das Verhältnis des Ichs zu denjenigen, derentwegen es doch nach Melilla gereist ist: den gen Norden strebenden MigrantInnen? Ein Ansatzpunkt zur Beantwortung dieser Frage ergibt sich daraus, dass der Titel von Kuhligks Gedicht fast unweigerlich das Syntagma ›Straße von Gibraltar‹ assoziieren lässt – was insofern irritieren mag, als Melilla mehr als 200 Kilometer von der Meerenge entfernt liegt; direkt gegenüber von Gibraltar befindet sich vielmehr Ceuta, die zweite spanische Enklave in Nordafrika. Jedenfalls ist zu beobachten, dass das Mittelmeer bei Kuhligk nicht als ein Raum erscheint, der Europa und Afrika miteinander verbindet, sondern als einer, der die Kontinente voneinander trennt. Denn obwohl die Distanz zwischen ihnen an der schmalsten Stelle der Straße von Gibraltar lediglich 14 Kilometer beträgt, fungiert das Meer für die Mehrheit der afrikanischen Bevölkerung – anders als für die meisten Europäer – als unbezwingbares Hindernis: »mare nostrum, nicht eu-

13 Vgl. zum keineswegs neutralen, sich eben nicht auf objektive Gegebenheiten beziehenden Konzept ›Hautfarbe‹ Arndt (2011).

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res« (ebd.: 12), bemerkt Kuhligks Reisender.14 Angesichts dessen geht er plausiblerweise davon aus, dass europäische Selbstdefinitionen oftmals auf einer strikten, nicht nur geographischen Abgrenzung von Afrika basieren, auf der Abwehr von Transkontinentalität und Übergängigkeit, von Interkulturalität und Hybridität: »das Ende Europas ist da / wo der Anfang Afrikas ist« (ebd.: 11); »das Ende Afrikas ist da / wo der Anfang Europas ist« (ebd.: 32) – ungeachtet der Tatsache, dass sich Teile der politischen Entität Europa eben sehr wohl innerhalb der geographischen Entität Afrika befinden. Analog hierzu werden in Die Sprache von Gibraltar die Verhältnisse in Melilla inszeniert. So gelingt es der Sprechinstanz dort nicht, persönliche Kontakte mit Geflüchteten zu knüpfen, denn für diese ist die leitmotivisch erwähnte »Grenze« – die als »Grenzzaun«, bewehrt mit »Grenzzaunlichter[n]« (ebd.: 31) und »NATO-Draht« (ebd.: 30), konkrete Gestalt annimmt (vgl. auch ebd.: 14, 22-28) – eine schier unüberwindliche Barriere: »es gibt die Grenze, die Grenze gibt es« (ebd.: 20), lautet der chiastisch-redundante Befund. Zwar ist einmal von einem »Jungen« die Rede, »der die Kontrolle / durchbrach, Richtung Spanien rannte« (ebd.: 18), doch stoppen ihn die wachhabenden Soldaten umgehend mit physischer Gewalt. Dagegen steht es dem mit einem EU-Pass versehenen Reisenden frei, die Grenze nach Belieben zu überqueren: »Heute […] / passiere ich die Linie« (ebd.: 16); »[h]eute […] / miete ich hinter der Grenze / einen weißen, aufgeplatzten Mercedes / und seinen siebzigjährigen Fahrer« (ebd.: 24). Von etwaigen Begegnungen mit weiteren MarokkanerInnen aber erfährt man nichts Nennenswertes, und jeder Versuch, mit MigrantInnen aus subsaharischen Staaten zusammenzutreffen, scheitert kläglich. Allein die Überreste eines »verlassene[n] Lager[s] in den Bergen« geraten für einen Moment ins Blickfeld, »Plastik, Planen, Bretter« (ebd.). Es versteht sich, dass all dies die Feststellung Foucaults, der zufolge »[d]ie Grenze und die Überschreitung […] einander die Dichte ihres Seins [verdanken]« und »[e]ine Grenze, die absolut nicht überquert werden könnte, […] inexistent [wäre]« (Foucault 2003: 69), nicht entkräftet. Demgemäß sind immer wieder Verzweiflungsakte wie der des »Jungen« zu erwarten: »Grenzüberschreitungsversuche«, heißt es in Kuhligks nun schon gewohnter tautologischer Diktion, »sind neue Grenzüberschreitungsversuche / sind neue Grenzüberschreitungsversuche« (Kuhligk 2016: 26).15 Und dennoch: Insgesamt wird in Die Sprache von Gibraltar gerade keine – sei es auch noch so konflikterfüllte – europäisch-

14 Komplementär dazu heißt es kurz darauf: »air nostrum, nicht eure« (Kuhligk 2016: 15). Tatsächlich existiert ja eine spanische Fluggesellschaft namens Air Nostrum. 15 Vgl. in diesem Kontext den Band von Horn/Kaufmann/Bröckling (2002).

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afrikanische contact zone präsentiert.16 Stattdessen bleibt ein hohes Maß an Distanz zwischen dem Ich und den ›Anderen‹ gewahrt; es verläuft eine klare »Linie / […] zwischen denen, die Krieg haben / und denen, die keinen haben« (Kuhligk 2016: 26; vgl. auch 32). Während Literatur, die sich sinnvollerweise als interkulturelle fassen lässt, gemeinhin durch die Inszenierung von Kommunikationsbemühungen zwischen Fremden geprägt ist, bleibt derlei in Kuhligks Gedicht weitgehend aus.17 Entsprechend vermag die Sprechinstanz nur hilf- und haltlos darüber zu spekulieren, was die nach Europa Aufgebrochenen denn eigentlich »wollen«: »ein Stück vom Kuchen« vielleicht, »musikalische Früherziehung« oder »Stundenhotels«, »Daueraufträge« oder »alle Staffeln der deutschen Geschichte«, »Wunschkonzerte« oder »Homöopathie« (ebd.: 27). Damit aber wird de facto gar nichts über die Bedürfnisse der MigrantInnen ausgesagt, sondern satirische Kritik an der eigenen Fixierung auf (vermeintliche) first world problems geübt. Hierin kann eine politische Intervention mit nachvollziehbarer Stoßrichtung erkannt werden, die es zudem vermeidet, orientalistisch-afrikanistische Klischees zu bedienen – und doch birgt sie die Gefahr eines Verharrens im Monologischen, in bloßer Selbstbespiegelung. Ähnlich der Straße von Gibraltar scheint bei Kuhligk auch die Sprache weit eher eine trennende denn eine verbindende Funktion zu übernehmen. In diese Richtung deuten unter anderem einige recht befremdlich, da zutiefst bildungsbürgerlich anmutende Referenzen auf den Höhenkamm der deutschsprachigen Literatur: Vorangestellt sind dem Gedicht thematisch einschlägige Äußerungen Schillers18 und Heiner Müllers19 (vgl. Kuhligk: 7); des

16 Den Begriff contact zone definiert Mary Louise Pratt (1992: 6) in ihrer einflussreichen Studie Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation als »the space in which peoples geographically and historically separated come into contact with each other and establish ongoing relations, usually involving conditions of coercion, radical inequality, and intractable conflict. […] ›Contact zone‹ in my discussion is often synonymous with ›colonial frontier‹«. Vgl. auch Holdenried (2017). 17 Der Tendenz nach trifft dies auch auf seine schon angesprochene Melilla-Reportage zu, in der aber immerhin einige Begegnungen mit SpanierInnen – darunter ein durch gravierende Verständigungsprobleme gekennzeichnetes, rasch eskalierendes Zusammentreffen mit Angehörigen von Armee und Guardia Civil – rekapituliert werden. 18 »Sobald ich Ihnen sage, ich bin auf der Flucht, sobald hab ich mein ganzes Schicksal geschildert.« (Schiller 1956: 43) 19 »[U]nd auf der Tagesordnung steht der Krieg um Schwimmwesten und Plätze in den Rettungsbooten, von denen niemand weiß, wo sie noch landen können, außer an kannibalischen Küsten.« (Müller 1992)

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Weiteren wird einmal ironisch-pathetisch aus dem ersten Teil von Goethes Faust (1808) zitiert: »der Menschheit / ganzer Jammer fasst mich an« (ebd.: 28; vgl. Goethe 1986: 667).20

LYRIK ALS LUXUS? DIE UNMÖGLICHKEIT DES VERSTUMMENS Allerdings blendet Die Sprache von Gibraltar die oben benannte Gefahr mitnichten aus. Reflektiert wird sie etwa, wenn in Kuhligks Reisendem die Befürchtung aufsteigt, ein Gedicht im »XXL«-Format könnte sich rasch als »Überfluss«, als »Luxusartikel« (Kuhligk 2016: 19) erweisen. Darauf reagiert er, indem er sich ostentativ von bestimmten ästhetischen Prämissen absetzt, welche die europäische Lyrik seit jeher geprägt haben, und zwar speziell von sämtlichen Bestrebungen, das Naturschöne in den Bereich des Kunstschönen zu transponieren: »ich habe es aufgegeben / zwischen Patrouillenbooten und Hügeln / nach Schönheit zu suchen« (ebd.), betont die Sprechinstanz, »ich wollte die Natur beschreiben / warum sollte ich das tun« (ebd.: 21). Mit anderen Worten: »ich esse eure Naturlyrik-Suppe nicht / eure Naturlyrik-Suppe esse ich nicht« (ebd.: 22). Damit aber wird keineswegs jede »Naturlyrik-Suppe« als ungenießbar zurückgewiesen; offenbar sind es lediglich verklärende und damit eskapistische Naturgedichte, die mit konsequenter Ablehnung bedacht werden. Folglich gelangen in Die Sprache von Gibraltar stets »Palmen und Gitter« (ebd.; Hervorhebung S.H.) zur Darstellung; anstatt in idyllisierende Schwelgereien zu verfallen, werden die Versehrungen und Verheerungen der nordafrikanischen Landschaft – durch die überdimensionalen Grenzanlagen, aber auch durch den allgegenwärtigen Müll (vgl. ebd.: 17, 22, 24, 32) – permanent ins Bewusstsein gehoben. Dadurch aber erscheint ein lyrisches »Gespräch über Bäume«, wie schon in Brechts bekanntem Exilgedicht An die Nachgeborenen (1939), eben nur »fast« als »Verbrechen« (Brecht 1988: 83; Hervorhebung S.H.). Grundsätzlich also erfährt die Produktion von Versen über fremdes Leid in Die Sprache von Gibraltar keine Delegitimierung. In der vom Gedicht angebotenen Perspektive stehen LyrikerInnen – trotz aller Unzulänglichkeiten der ihnen zu

20 Als problematisch erweisen sich derartige, dort allerdings viel häufiger hergestellte intertextuelle Bezüge auch in Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (vgl. Hermes 2016: 183), während Jelinek in den Schutzbefohlenen ungleich überzeugender – das heißt nicht zuletzt: in subversiver Manier – auf den literarischen Kanon rekurriert. Vgl. dazu etwa Schlicht (2018).

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Gebote stehenden Sprache – eben nicht auf einer Ebene mit jenem Sportler, der einst auf die Frage »Papa, was hast du gemacht, als die Leute / von den Zäunen geschossen wurden«, die denkbar zynische Antwort »ich habe etwas für meinen Körper getan« (Kuhligk 2016: 13) wird geben müssen. Entsprechend ist man geneigt, der (gewiss etwas marktschreierischen) Charakterisierung Kuhligks im schon erwähnten Kurzporträt grosso modo beizupflichten. Dort nämlich wird er als »dezidiert politischer Mensch« vorgestellt, der »zeigt, was ein Gedicht vermag: Es greift uns an, es ist eine Zumutung, weil es Bilder in uns erzeugt, die wir nicht wegwischen können, es trifft mit seinem rauen Ton ins Mark und duldet doch keine bloß emotionale Reaktion.« (O.A. 2016) Die notorische Forderung, in der Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus (1921) kulminiert – »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen« (Wittgenstein 1963: 115) –, wird mithin zurückgewiesen: Obwohl Kuhligks Reisender insbesondere von den ›Anderen‹ kaum angemessen sprechen kann, will er über sie nicht schweigen. Das Ende des Gedichts bildet denn auch eine Art – wiederum anaphorisch strukturiertes – Epitaph für die Tausenden, die den Aufbruch nach Europa bereits mit dem Leben bezahlt haben. Und doch scheint statt Resignation die vage Hoffnung auf, dass nicht alles bleiben wird, wie es ist: Im Mittelmeerraum ist Mittelmeerboden im Mittelmeerraum treiben Ertrunkene die Ertrunkenen werden zu Mittelmeerboden die Ertrunkenen werden zu Mittelmeerraum die Ertrunkenen verändern die Geografie die Ertrunkenen machen das (ebd.: 36).

Das ist nicht viel, aber das ist, vielleicht, nicht nichts.

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Europa mit schwerer Havarie bei Merle Kröger Elena Giovannini (Rom)

Während zweier Nächte und eines Tages begegnen sich ein Kreuzfahrtschiff, ein Frachtschiff, ein Schlauchboot mit Migranten, ein spanisches Rettungsboot und die algerische Küstenwache im westlichen Mittelmeer. Zusammen mit den Wasserfahrzeugen überschneiden sich auch die Schicksale der Menschen an Bord. Merle Kröger stellt diese Schicksale anhand von elf Flüchtlingen, Urlaubern, Kreuzfahrtschiffs-, Seenotrettungs- und Frachtarbeitern im Roman Havarie dar. Die 1967 in Schleswig-Holstein geborene Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Filmproduzentin wurde zu diesem Text durch ein You-Tube-Video über die Begegnung eines Kreuzfahrtschiffes mit einem Flüchtlingsboot inspiriert. Das auf dokumentarischer Recherche basierende literarische Werk hat Kröger ermöglicht, Wirklichkeit und Fiktion eng miteinander zu verknüpfen und »aus der Realität heraus Figuren zu entwickeln, die es so nicht gibt, aber geben könnte« (Kröger 2015: letzte, nicht nummerierte Seite). Die Beschreibung des Zusammenpralls unterschiedlicher Welten erfolgt schonungslos durch den häufigen Wechsel der Erzählperspektive und die Bevorzugung eines knappen Stils, der die Schilderung direkt und intensiv werden lässt. Die Verwendung mehrerer Sprachen (u.a. Spanisch, Französisch, Englisch, Arabisch, Russisch und Gälisch) spiegelt auf der formalen Ebene die menschliche Vielfalt wider, die den Inhalt kennzeichnet, und steigert den mosaikartigen Charakter der Erzählung, den der Text auch visuell widergibt, indem zehn SchwarzWeiß-Fotos am Ende des Bandes – die Erinnerungen oder Erlebnisse der Figuren konkretisieren und an wirkliche, tragische historische Ereignisse seit 1916 anknüpfen – das Geflecht von unterschiedlichen Orten, Zeiten und Lebensabschnitten noch expliziter werden lassen. Dank der Anspielungen auf Konflikte u.a. in der Ukraine, Algerien, Syrien, Nordirland und auf den Philippinen erweist sich Havarie in Text und Bild als ein

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Werk der jüngsten Weltgeschichte. Es ist aber auch eins der Jetztzeit, denn der Leser wird sich bewusst, dass die Welt durch die gegenwärtige Einwanderung nach Europa aus Afrika und aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten »an einem historischen Wendepunkt« steht (ebd.: 145). Der Blick geht über die einzelne dargestellte Episode im Mittelmeer hinaus, und der Text konturiert die Umrisse der Migrationswelle als Massenphänomen, dessen Ursachen die Erfahrungen, Erinnerungen und Betrachtungen einiger Figuren knapp andeuten: Im Gedächtnis des Syrers Marwan Fakhouris sind die tödlichen Heckenschützen und Bombardierungen in seiner Heimat bewahrt (ebd.: 48), während Zohra Hamadi die tägliche Gewalt der algerischen Islamisten nicht vergessen kann (ebd.: 121), obwohl sie schon in Europa angelangt ist und hier auf ihren Verlobten Karim Yacin wartet, der zum sechsten Mal als Fahrer eines Schlauchbootes von Algerien nach Spanien fährt, sich gerade auf dem havarierten Boot befindet und desillusioniert feststellt: »[I]n Algerien gibt es keinen Frühling. Keinen arabischen und auch sonst keinen« (ebd.: 115, 121). Karim möchte schließlich nach Frankreich, denn »dort können wir [Algerier und Flüchtlinge] zu anderen Menschen werden. Obwohl wir durch die Franzosen zu denen geworden sind, die wir sind« (ebd.: 184). Die Schuld des Kolonialismus, dessen negative Folgen noch in der Gegenwart zu spüren sind, ist also nicht vergessen, und der Text deutet knapp, aber wirksam auf die historische Verantwortung Europas hin. »Ich war auch ein Flüchtling, ich weiß, wie sich das anfühlt. Es nimmt den Menschen ihre Würde« (ebd.: 93), stellt das nepalesische Mitglied des Sicherheitsdienstes des Kreuzfahrtschiffes Lalita Masarangi fest. Die schmerzhafte Erfahrung der Auswanderung zeigt sich psychisch sehr bedrückend; eine sicherere Zukunft ist, wie Zohra erfährt, nicht garantiert, als sie trotz sehr ernster Rückenprobleme die Abweisung aus Frankreich riskiert. »Wir sind die unsichtbaren, les invisibles« (ebd.: 185) stellt ihr Verlobter Karim auf dem von den Radargeräten nicht aufspürbaren Schlauchboot fest; genauso ›unsichtbar‹ bleiben aber oft die Flüchtlinge auch nachdem sie die europäische Küste erreicht haben, denn sie haben keine Papiere und keine Aussichten: »Unser Leben im Ausland ist ohne jeden Sinn. […] Wir haben keine Zukunft« (ebd.: 220f.), nimmt Marwan mit resignierter Nüchternheit wahr, als er noch auf der Reise ist. Hoffnungen können schwinden und Träume platzen – bereits bevor man den ersehnten europäischen Boden betritt. »Geschichte spielt nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum«, bemerkt Karl Schlögel (Schlögel 2003: 9). Diese Feststellung trifft im Fall von Havarie besonders zu, denn das Meer ist im Roman nicht nur der Schauplatz des Geschehens, sondern es gilt auch als Verräumlichung der Migration dank der symboli-

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schen Bedeutung der See – d.h. Geburt, Verwandlung aber auch Tod (Chevalier, Gheerbrant 1999: 67) –, die die Erwartungen sowie die Gefahren der illegalen Auswanderung aufruft. Das Meer wird außerdem durch eine deutliche Duplizität gekennzeichnet: Auf der visuellen Ebene wirkt es wie »eine harmlose blaue Fläche« (Kröger 2015: 127), sieht aber auch »kalt und gefräßig« (ebd.) aus; auf der raumtheoretischen Ebene zeigt es sich sowohl als permeabler Übergangsraum, in dem Schiffe und Boote Erdteile verbinden, als auch als eine Grenzlandschaft, die unsichtbare und trotzdem deutliche Binnenabgrenzungen (z. B. diejenigen der Territorialgewässer) enthält. »Die Grenze ist […] ein dramatischer Ort, denn es ist ein Ort der Spannung, ein Ort des Zusammentreffens zweier Identitäten« (Karahasan 2003: 13), die in Havarie hauptsächlich an Europa und Afrika festgemacht werden: an dem als wohlhabend und friedlich geltenden ›Abendland‹ und an den Ländern, aus denen die Flüchtlinge kommen. Im Rahmen der »Ich-Du-Beziehung« (ebd. 2003: 11), die aus dieser Begegnung entsteht, können sich die zwei Identitäten durch den Dialog oder den Konflikt erfahren. In Krögers Text überwiegt der Konflikt, sodass sich Havarie als der Roman der »Festung Europa« (Nilius 2015) enthüllt, in dem das besitzanzeigende Adjektiv in der Bezeichnung mare nostrum die Konnotation der Inklusion und der Gemeinsamkeit zugunsten der Exklusion und der Alterität verliert. Trotzdem wird die Permeabilität des Meeres nicht komplett aufgegeben. Das beweist die »Wand aus Nebel« (Kröger 2015: 12), die das Schlauchboot schützt, als die algerische Küstenwache nach ihm sucht. Diese »Nebelgrenze« (ebd.) – so bezeichnet sie Karim – ist also durchlässig und steigert die Übergangsfunktion des Meeres, indem sie die Weiterfahrt der Flüchtlinge in Richtung Spanien ermöglicht. Diesbezüglich ist außerdem zu bemerken, dass der Nebel als Symbol der Unbestimmtheit gilt (Chevalier, Gheerbrant 1999: 122) und somit die Lage der durch ihn versteckten Migranten versinnbildlicht. Die Durchlässigkeit der See als Grenze bezeugen zudem die Schiffe, die sie durchziehen. Sie sind »Orte ohne Ort« (Foucault 2012: 327) und gelten als Bilder der »Orts- und Heimatlosigkeit« (Renolder 2013: 30). In Havarie fördern sie einerseits die Inklusion, indem sie zwei grenzbildende Identitäten – Touristen und Migranten – verknüpfen und somit ermöglichen, dass sich zwei sehr unterschiedliche Welten und Erdteile annähern1, andererseits verfestigen Schiffe die

1

Zu beachten ist, dass die Kreuzfahrer und die Frachtarbeiter keine direkte Verbindung mit den Flüchtlingen haben, weil sie sie nur vom Schiff aus betrachten. Der Kontakt unter ihnen besteht also nur auf der visuellen Ebene. Trotz der Annäherung bleibt die Distanz doch bestehen. Das spanische Rettungsboot hat außerdem überhaupt keinen

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Exklusion und enthüllen, dass das Zusammenprallen von »ungleiche[n] Welten« (Kröger 2015: 196) keine neuen Kommunikationswege öffnet und die Kenntnis des Fremden nicht fördert. Beispielhaft dafür ist die Tatsache, dass nicht das ›Du‹ im Mittelpunkt steht, wenn die Begegnung mit den Auswanderern Überlegungen, Betrachtungen und Erinnerungen auf dem Kreuzfahrtschiff auslöst, sondern immer noch das ›Ich‹ des jeweiligen Fahrgastes. Die Selbstbezogenheit der Touristen, die diejenige Europas und des Abendlandes widerspiegelt, wird durch die Begegnung mit armen Menschen aus anderen Weltteilen, die bei ihnen als ›Problemzonen‹ gelten, nicht gemildert. Unter den Schiffen ist das Kreuzfahrtschiff von besonderem Interesse und spielt im Text die Hauptrolle. Es ist das drittgrößte der Welt, mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet und Unterhaltungsangeboten rund um die Uhr. Insgesamt sind 5000 Menschen aus über fünfzig Nationen an Bord, (vgl. ebd.: 7f., 19f., 51). In seiner Architektur und Ausstattung spiegelt es die »soziale Segregation« (Günzel 2010: 287) wider, die die touristischen Räume kennzeichnet, und gilt – wie jeder Raum – als »Reproduktion sozialer Ungleichheit« (Löw 2001: 210). Das bezeugt die scharfe Abgrenzung im Schiff sowohl bei den Kabinen der Fahrgäste und Mitarbeiter, als auch bei denen für wohlhabende und weniger vermögende Kreuzfahrer, sodass »die aus den Suiten […] immer schön separiert vom gemeinen Volk« (Kröger 2015: 42) sind. »Mit touristischen Räumen werden zugleich Kulturen definiert und Identitäten geschaffen sowie verändert« (Günzel 2010: 288), stellt Stephan Günzel fest. In Havarie geht es aber kaum um Veränderungen, sondern eher um das Festhalten am erhabenen Selbstbild eines Erdteiles, wie der Name des Kreuzfahrtschiffes verrät: The Spirit of Europe. Dieses Schiff stellt einen Mikrokosmos dar, in dem das Verhalten und die Gedanken einiger Fahrgäste und Mitarbeiter die Geldgier, die Ausbeutung, den Klassenkampf, den Zynismus, den Egoismus, die Kontaktarmut, die Oberflächlichkeit und die Gleichgültigkeit bloßstellen, die den Makrokosmos ›Europa‹ charakterisieren.2

Kontakt mit dem Schlauchboot, das die Küste Kastiliens trotz der Panne heimlich erreichen konnte. Die einzigen, die sich den Auswanderern auf dem havarierten Boot physisch nähern, sind einige Crew-Mitglieder des Kreuzfahrtschiffes, die Migranten schnell mit Wasser und Decken versorgen (Kröger 2015: 150). 2

Beispielhaft z. B. für die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte sind u. a. folgende Zitate: »Gold Cruises kennt kein Limit, wenn es ums Geldverdienen geht«, »die Gage [auf der Spirit of Europe] ist ein Witz« und »auf diesem Schiff [dem Kreuzfahrtschiff] herrscht der pure Klassenkampf« (Kröger 2015: 200, 30, 194). Weitere negative Ei-

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Solche negativen Züge verschärfen sich durch den »Zwischenfall« (Kröger 2015: 190) – so ein Fahrgast – der die Ankunft auf Mallorca durch die Begegnung mit dem havarierten Flüchtlingsboot verzögert. Nicht einmal die Mitarbeiter des Kreuzfahrtschiffes bleiben davon verschont, wie der erste Offizier Léon Moret beweist, der drei Monate zuvor ein an Bord geholtes Schlauchboot mit Eis füllte, um während einer Party Wodka zu kühlen, und der sich jetzt genervt fragt: »Wie viele von diesen verdammten Dingen schwimmen denn im Mittelmeer rum? Und gehen auch noch direkt vor [m]einer Nase kaputt?« (Ebd.: 85). Vor allem sind es aber die Urlauber, die gleichgültig, mitleidlos oder sogar verachtend auf die Flüchtlinge reagieren, wie die Aussagen auf Deck 12 bezeugen: »›Warum müssen wir hier warten, bis jemand den Müll da abholt?‹, ›Selbst schuld‹, ›lass sie doch verrecken‹, […] ›Sollte man die nicht gleich zurückschicken?‹, ›Mama was machen die Leute da in dem Boot? – Die baden, Kind. Siehst du doch‹« (ebd.: 127), »wer will die hier schon haben? Sollen doch ihre eigenen Leute kommen und sie rausfischen« (ebd.: 47), »›Officer […] nehmen wir diese Ne- diese Afrikaner an Bord?‹. ›Nein Ma’am. Wir warten, bis die Küstenwache kommt‹. Sie nickt erleichtert« (ebd.: 55). Das Interesse an dem Schlauchboot, das wie eine Sehenswürdigkeit fotografiert und gefilmt wird, lässt aber sehr schnell nach, denn die Lautsprecher kündigen das Bingo an: In der »Kultur des Spektakels [muss doch] alle fünf Minuten […] eine neue Sensation fabriziert werden« (ebd.: 139), bemerkt eine alte Urlauberin, außerdem »[möchte] menschliche Tragödien […] hier niemand vor der Nase haben, nicht im Urlaub« (ebd.: 56), stellt der Security Chief des Kreuzfahrtschiffes fest.3 Der Entmenschlichung, die diese Reaktionen zeigen, stellen sich wenige Ausnahmen entgegen: Der irische Urlauber Seamus Clarke bemerkt, dass aus dem Kreuzfahrtschiff ein Mensch heimlich ins Schlauchboot transportiert wurde. Da der Urlauber dieses Verhalten sehr ungewöhnlich findet, filmt er die Szene und schickt sie einer Bekannten, die in einer NGO für Flüchtlinge engagiert ist. »Man muss was tun« (ebd.: 198), behauptet er, und lässt somit die Hoffnung aufscheinen, dass Mitleid und Menschlichkeit doch noch nicht gänzlich ver-

genschaften unseres Erdteiles werden sich im Laufe des Artikels zeigen, wenn das Verhalten der Urlauber näher betrachtet wird. 3

Dem Zynismus entzieht sich zum Teil nicht einmal das Mitglied der Seenotrettung in Cartagena, Diego Martinez, der denkt: »Die Welt ist so wie sie ist. Wir stecken alle in der Krise, und der Job ist sicher. Je mehr Leute seine Hilfe brauchen, umso sicherer ist er. So ist es doch« (Kröger 2015: 75). Egoistisch und rein berechnend verhält sich außerdem der Kapitän des Frachters ›Siobhan‹, der das Schiff nicht anhalten will, um festzustellen, ob der im Wasser gesichtete Mensch noch am Leben ist (ebd.: 69).

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schwunden sind. Im letzten Kapitel informiert Lalita Masarangi außerdem ihren Vater, den Inhaber der Sicherheitsfirma, die für Gold Cruises arbeitet, über dasselbe Ereignis: »Jemand wurde heimlich von Bord gebracht. Hier stimmt was nicht. Mach was Papa« (ebd.: 227), sagt sie am Telefon; »Nein Tochter, jetzt hörst Du mir zu. Gold Cruises ist unser größter Auftraggeber« (ebd.), lautet die trockene Antwort ihres Vaters. Am Ende des Romans setzen sich also wieder Habgier und Eigennutz durch, und die Wiederherstellung der Menschlichkeit scheint nur der Initiative von Einzelnen überlassen zu sein, die trotz fehlender Unterstützung von oben weiter versuchen, einen kleinen Beitrag zur Gerechtigkeit zu leisten. Wichtig ist schließlich die literarische Gattung, der Havarie angehört: Der Text ist ein Kriminalroman, der 2015 in der Krimi-Reihe des Argument-Verlags erschien, gleich auf Platz eins der Krimi-Bestenliste der Zeit stand und 2016 auf Platz zwei des Deutschen Krimipreises landete.4 Vermisst wird Jo, ein philippinischer Sänger des Kreuzfahrtschiffes, den seine Liebhaberin Lalita Masarangi in ihrer wenigen Freizeit auf dilettantische, unsystematische und uneffektive Weise an Bord sucht. Erstaunlicherweise ist aber die Geschichte vom Verschwinden des Sängers nebensächlich und kann als nur eines der vielen ›Steinchen‹ betrachtet werden, die die Mosaik-Handlung von Havarie bilden. Untypisch für einen Kriminalroman ist auch die Struktur des Textes, die der Reihenfolge ›Mord – Fahndung – Aufklärung‹ (vgl. Nusser 1992: 33) nicht entspricht; außerdem fehlt eine deutliche Ermittlerfigur, denn die Rolle der hilflosen Lalita stimmt mit der eines Detektivs nicht ganz überein. Schließlich setzt sich die ›Ordnung‹ im Kampf gegen die ›Unordnung‹ (vgl. Caillois 1980: 100) am Ende nicht durch: Ist Jo tatsächlich gestorben und ruht jetzt im Meer? Falls ja, wurde er umgebracht, war es ein Unfall oder hat er vielleicht Selbstmord begangen? Die Antwort auf diese Fragen fehlt, und das Los des jungen philippinischen Mannes bleibt ein Rätsel. Was nicht fehlt, ist eine weitere Frage, und zwar die zentrale der Kriminalliteratur: »Wer ist der Täter? Oder ›whodunit?‹« (Alewyn 1992: 381). Sicher steht das begangene Verbrechen fest: Mord. Mehrfacher Mord. Erstens kann Jo als Opfer gelten. Eine Leiche mit einer ähnlichen Frisur wie seine und mit zahlreichen Knochenbrüchen, die mit einem Sturz aus einem

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Für weitere Informationen dazu siehe http://www.krimilexikon.de/dkp/ und http:// www.zeit.de/kultur/literatur/2015-12/krimizeit-bestenliste-2015?print [Stand: 01.09. 2018]. Zahlreiche Rezensionen des Werkes sind auf Merle Krögers Webseite unter der Adresse http://merlekroeger.de/de/5/reviews/havarie [Stand: 01.09.2018] zu finden.

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Schiff kompatibel sind, wird von der spanischen Seenotrettung gefunden, ist aber leider nicht identifizierbar. Die Sicherheit, dass es sich um Jo handelt, hat der Leser trotz hoher Wahrscheinlichkeit also nicht. Zweitens muss man folgende Worte Siegfried Kracauers beachten: »Das Verbrechen begreift der Detektiv-Roman als Gefahr. […] Wie die Tat, so ist auch der Täter nichts anderes als die Negierung des Legalen: ein Störenfried der Gesellschaft im engeren Sinne, ohne einbegriffen zu sein in die Gesellschaft als Totalität« (Kracauer 2006: 163). In Anbetracht dieser Definition wie auch der Perspektive eines Teiles der europäischen Bürger, die in Havarie zahlreich vertreten sind, sind in diesem Roman weitere Täter zu ergreifen: Die vielen Flüchtlinge, die illegal das Mittelmeer durchkreuzen und durch ihre Anwesenheit die europäische Gesellschaft verändern oder, wie mehrere von Merle Krögers Figuren metaphorisch sagen würden, ›töten‹. Opfer dieser destabilisierenden und daher gefährlichen ›Fremdkörper‹ wären also die Europäer, deren Wohlstand und deren Sicherheit die Flüchtlinge gefährden.5 Die Ermittler, die sich mit dem angeblichen ›Mord‹ an der bisherigen sozialen, kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Ordnung Europas beschäftigen, sind die Küstenwache und Behörden wie Frontex (vgl. Kröger 2015: 75), die aber im Text hauptsächlich repressiv handeln, d.h. durch das Patrouillieren an den (Meeres-)Grenzen und durch Ausweisungen. Eine richtige ›Ermittlung‹, die die Gründe des angeblichen ›Verbrechens‹ an Europa klärt, führen im Übrigen die dafür zuständigen Institutionen und ihre Vertreter nicht; es sind nur die Stimmen von ›Verbrechern‹ wie Karim, Marwan oder Zohra, die für die Aufklärung ihrer ›Beweggründe‹ sorgen. Wenn man aber ihr Verhalten nicht irrational nach Ängsten und Vorurteilen, sondern nach dem Gesetz beurteilt, lautet die von ihnen begangene Straftat nicht ›Mord‹, sondern nur ›illegale Einwanderung‹.6 In diesem Fall fehlt also dem Text jene Objektivität, die in einer Kriminalgeschichte die Identifikation der Straftat, die Ermittlung und die Aufdeckung der Täter charakterisieren soll.

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Beispielhaft dafür sind die Überlegungen von Diego Martines, d. h. die eines Mannes, der beruflich das Leben der Flüchtlinge im Meer rettet und eine gewisse Sensibilität und Verständnis für die Auswanderung aus Afrika und aus weiteren Kriegsgebieten haben sollte: »Sollen wir alle [Migranten] ins Land lassen? Wir haben die Krise, wir brauchen jeden Job. Sollen wir sie weiterschicken in die reichen Länder […]? Nach Deutschland vielleicht, zu Frau Merkel? Geschähe ihr recht« (Kröger 2015: 105).

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Obwohl Karim Yacin mehrmals als Fahrer eines Schlauchboots gedient hat, wirkt er im Text nicht ›krimineller‹ als seine Mitfahrer. Solche Differenzen werden durch die gemeinsame Zugehörigkeit zur Kategorie ›Flüchtlinge‹ aufgehoben.

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Drittens wird im Roman die gerade eben aufgezeigte Vorstellung über den angeblichen ›Mord‹ an Europa verkehrt, denn als Mordopfer gelten vor allem die Flüchtlinge, deren Leichen im Meer aufgefunden werden: Eine wird von der algerischen Küstenwache in den nordafrikanischen Hafen von Oran transportiert (»Olek [ein Frachtarbeiter] sieht zu, wie ein nasses Bündel an Land fliegt. Oje. Dem kann keiner mehr helfen. Er bekreuzigt sich. Ein Toter«, ebd.: 18), eine andere sichtet Olek im Meer während einer Fahrt (vgl. ebd.: 69) und eine weitere, Jo ähnliche, zieht die spanische Küstenwache an Bord (vgl. ebd.: 75). »Das Mittelmeer füllt sich mit Toten wie ein Massengrab« (ebd.: 172), nimmt diesbezüglich Diego Martinez wahr. Diese tragische Konsequenz lenkt die Aufmerksamkeit der Leser auf die Verantwortung für Armut, Aussichtslosigkeit und Gewalt in anderen Erdteilen, die das Abendland auf sich geladen hat. Nicht nur im Wasser aber sterben die Flüchtlinge: Marwan, der sich illegal auf dem Kreuzfahrtschiff befand, sich während einer aufreibenden Schicht Schwarzarbeit in der Wäscherei schwer verletzte und heimlich vom Schiff auf das Schlauchboot transportiert wurde, damit Gold Cruises das Geld für den Nottransport mit dem Hubschrauber spart, stirbt am Strand, nachdem das Boot trotz der Havarie die spanische Küste erreichen konnte (ebd.: 225). In erster Linie ist Marwan kein Opfer der Auswanderung, sondern des Abendlandes, denn »der Erwerb von Geld und immer mehr Geld ist das zentrale Ethos der Leistungsgesellschaft« (Herlyn 2012: 115), d.h. der kapitalistischen, europäischen Gesellschaft, die – wie auch diese Geschichte beispielhaft zeigt – das Leben eines Mannes für weniger wertvoll hält als den eigenen Gewinn. Viertens beweisen aber die Leichen der Migranten, dass Europa und das Abendland nicht nur für die Tode der Flüchtlinge verantwortlich sind, sondern auch des ›Mordes‹ an der Humanität und an der Menschlichkeit schuldig sind. Als Mordwaffe können Gleichgültigkeit, Egoismus und Habsucht ausgemacht werden. Wer ermittelt aber wegen dieser Straftaten? Thomas Narcejac behauptete, dass der Leser ein wesentlicher Bestandteil jedes Kriminalromans sei (Narcejac 1976: 185), und das gilt besonders für Merle Krögers Text, in dem Worte und Bilder dem Leser anhand der diegetischen Verhältnisse reale Verhältnisse vorführen, die an die Emotionen und vor allem an das Gewissen appellieren. Die Härte und Trockenheit der Erzählung versperren dem Leser jeden Fluchtweg. So muss er Tatsachen abwägen, Konsequenzen ziehen und Stellung nehmen. Mit anderen Worten: Er muss auf die Frage ›whodunit?‹ selber antworten und die Rolle des Ermittlers übernehmen. Ist aber der Leser als Europäer und Mensch an dem Tod von vielen Flüchtlingen, die das Mittelmeer in Richtung Südeuropa durchfahren, mitschuldig? Trägt er selbst eine Verantwortung an der tödlichen Lähmung des Ethos? Hava-

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riert scheint also nicht nur das Schlauchboot der Auswanderer zu sein, sondern vor allem ein Erdteil samt seinen Einwohnern. Die Schuld überträgt sich in diesem Roman vom fiktiven Einzelnen auf die reale Kollektivität (die durch die Gesamtheit der Roman-Figuren widergespiegelt wird) und schließlich auf jeden Menschen aus Fleisch und Blut. Auf uns Leser, die die Rolle des Ermittlers übernehmen mussten, aber wahrscheinlich bis auf einige Ausnahmen selbst als ›Mörder‹ handeln, sei es auch aus Intoleranz oder Desinteresse. In Merle Krögers ungewöhnlichem Kriminalroman verschwimmt somit die in der traditionellen Kriminalliteratur deutlich gezogene Trennungslinie zwischen Detektiv und Täter, als wären wir alle – die Romanfiguren und der Leser – auf einem Boot im Mittelmeer, da, wo das Meeresblau alle Differenzen zwischen Himmel und Erde verwischt.

LITERATUR Alewyn, Richard (21992): Anatomie des Detektivromans [1968]. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman, 2 Bände, München. Caillois, Roger (1980): Il Ritorno all’Ordine [aus: Du Roman Policier, 1941]. In: Renzo Cremante/Loris Rambelli (Hg.): La Trama del Delitto. Teoria e Analisi del Racconto Poliziesco, Parma: S. 99-109. Chevalier, Jean/Gheerbrant, Alain (131999): Dizionario dei Simboli, 2 Bände, Milano. Foucault, Michel (72012): Von anderen Räumen [1967]. In: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagetexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: S. 317-329. Günzel, Stephan (2013): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart / Weimar. Herlyn, Heinrich (1992): Anfälligkeit – Kritik und Utopie. In: Bernd Balzer (Hg.): Heinrich Böll 1917−1985. Zum 75. Geburtstag, Bern u.a.: S. 117-134. Karahasan, Dževan (2003): Zur Grenze. In: Dževan Karahasan/Markus Jaroschka (Hg.): Poetik der Grenze. Über die Grenzen sprechen – Literarische Brücken für Europa, Graz, S. 10-15. Kracauer, Siegfried (2006): Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat [1925]. In: Inka Mülder-Bach/Ingrid Belke (Hg.): Siegfried Kracauer: Werke, Bd. 1, Frankfurt am Main: S. 107-209. Kröger, Merle (2015): Havarie, Hamburg. Löw, Martina (2001): Raumsoziologie, Frankfurt am Main.

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Narcejac, Thomas (1976): Il Romanzo Poliziesco [Une Machine à lire: le Roman Policier, 1975], Milano. Nilius, Klaus (2015): Spirit of Europe havariert. In: Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft, 18, online unter http://www.ossietzky. net/18-2015&textfile=3215 [Stand: 01.09.2018]. Nusser, Peter (21992): Der Kriminalroman, Stuttgart. Renolder, Klemens (2013): Nachwort. In: Klemens Renolder (Hg.): Stefan Zweig, Schachnovelle. Kommentierte Ausgabe, Stuttgart: S. 126-166. Schlögel, Karl 2003: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München.

Flüchtlinge auf Überfahrt – Europa im Übergang? Plädoyers für interkulturelle Passagen am europäischen Zufluchtsort in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen (2013) und Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (2015) Mumina Hafez Abd El-Barr (Kairo)

EINLEITUNG Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll? (Jelinek 2013: 328, 329)

Tagtäglich verlassen Menschengruppen aus konflikt- bzw. katastrophenbetroffenen Gebieten weltweit ihre Heimatländer und begeben sich auf lange Fluchtwege durch unwegsame, steinige Wüsten und über weite, gefährliche Meere – mit ungewissem Ausgang. Einige europäische Länder, aus denen einst Menschen flohen und auswanderten, stellen die Zielstaaten der Migration dar. Vom aktuellen Zustrom sind insbesondere Österreich und Deutschland, das wirtschaftlich stärkste Land Europas, betroffen. Elfriede Jelineks Theaterstück Die Schutzbefohlenen (2013) und Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen (2015) thematisieren – anders als frühere deutschsprachige Werke, die zumeist nur einzelne Fluchtfälle darstellen – verschiedene Aspekte des globalen Flüchtlingsproblems, das gegenwärtige und zukünftige Auswirkungen auf Europas Wirklichkeit hat.

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Jelineks Text nimmt schon im Titel explizit Bezug auf Aischylos’ (525-456 v. Chr.) Tragödie Die Schutzflehenden1 (etwa 466 v. Chr.), dem ältesten überlieferten griechischen Drama überhaupt, in dem es bereits um die Menschen geht, die heute als ›Asylbewerber‹ bezeichnet werden. Konkreter Anlass für Jelineks Stück war ein Protest von Flüchtlingen in der Wiener Votivkirche im Jahre 2012. Auch Erpenbecks Roman geht auf einen ähnlichen Vorfall, nämlich auf den Hungerstreik afrikanischer Flüchtlinge auf dem Alexanderplatz im Mai 2014 (vgl. Geißler) sowie auf einen späteren Protest am Oranienplatz zurück. Neben diesen Prätexten sind die beiden Werke offenbar durch intertextuelle Beziehungen miteinander verbunden, so dass es im Folgenden einerseits um die realen Kontexte und andererseits um die Partizipation (vgl. Lachmann 1990: 65) der Literatur an der rezenten Flüchtlingsdebatte gehen wird. Grundlegend für diesen Zusammenhang ist Julia Kristevas Theorie, dass »jeder Text [...] Absorption und Transformation eines anderen Textes« (Kristeva 1972: 345-375, hier 348) sei und die damit übereinstimmende Vorstellung von Roland Barthes: »Der Inter-Text ist nicht unbedingt ein Feld von Einflüssen; vielmehr eine Musik von Figuren, Metaphern, Wort-Gedanken« (Barthes 1978: 158). Zu unterscheiden ist dieses Konzept der Intertextualität vom Begriff der Paratextualität.2 Spezifiziert werden kann es anhand der von Gérard Genette vorgelegten Kriterien sowie der Formen-Skala von Manfred Pfister.3

1

Im Gewande des Danaiden-Mythos setzt sich Aischylos in seiner Tragödie mit der Flüchtlingskrise humanistisch auseinander, in dem das Flehen von den fünfzig Töchtern des ägyptischen Königs Danos um Schutz von dem griechischen König von Argos und seinem Volk erhört wird, die die Flüchtlinge schließlich in ihren Schutz nehmen. Siehe den ganzen Inhalt des Mythos bzw. der Tragödie bei Jäger [Stand: 20.6.2017].

2

Die Übernahme von einrahmenden Versatzstücken eines Textes wie Titel, Vorwort, Anmerkungen, Nachwort etc. in einen anderen ist eine Form von Intertextualität, die sich Paratextualität nennen lässt. Siehe die Typologie intertextueller Relationen bei Genette 1993.

3

Pfister gibt sechs Möglichkeiten der Skalierung von intertextuellen Verweisen an. Vgl. Pfister 1985.

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1. FLÜCHTLINGE AUF ÜBERFAHRT 1.1 Eine ›andere‹ Welt jenseits des europäischen Kontinents Zeus, Flüchtlingshort, Schau gnädig herab auf unseren Zug, Der zu Meer von des Nilstroms Mündungen her, Von den feinsandigen, Aufbrach; und verlassend die heilge Heimat, die an Syria grenzt, flohn wir. (Aischylos, 466 v.Ch.)

So wie Aischylos die fünfzig Ägypterinnen, die übers Mittelmeer zum griechischen Stadtstaat Argos geflüchtet sind und dort beim König um Schutz flehen, zum Chor in seiner Fluchttragödie macht, lässt Jelinek ihre Flüchtlinge in den Schutzbefohlenen auch als Chor auftreten, und zwar als unheimlichen Chor, der einen endlosen, wütenden Monolog führt. Mit einer Wir-Stimme, die einem Flüchtlingskollektiv zugewiesen ist, äußert sich der Chor wiederholt über sein Elend, um beim Rezipienten einen Überdruss an seiner Lage zu provozieren. Auch Erpenbeck lässt ihre Flüchtlinge an verschiedenen Stellen von Gehen, ging, gegangen zu Wort kommen. Indem sie konkrete Schicksale, einzelne Personen auf die Bühne holt, gibt sie den abstrakten Zahlen Gesichter. Allerdings treten die Flüchtlinge bei Erpenbeck nicht alleine, geschweige denn als Hauptfiguren auf, sondern als Nebenfiguren, die in verschiedene Dialoge mit Richard, der Hauptfigur des Romans, einem kürzlich emeritierten deutschen Universitätsprofessor, verwickelt werden. Krieg, Terror und Not gelten als grundsätzliche Fluchtgründe in den beiden ausgewählten Werken. Das folgende Zitat ist ein Beispiel für Jelineks wiederholte Beschreibung von Familienverlust infolge von andauernden Kriegen und Terrorakten in den Heimatländern von Flüchtlingen, die oft als letzte und einzige von ihren großen Familien übriggeblieben sind: Und unsere Mutter haben sie ja auch umgebracht, schon lang, unsere Geschwister, unsere ferneren Verwandten, ferner die ganz fernen Verwandten, alle, alle, und unseren Cousins haben sie die Köpfe abgeschnitten und uns die DVDs davon zugeschickt, [...]. (Jelinek 2013: [ohne S.])

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Fast dieselben Szenen kommen bei Erpenbeck vor – nur mit dem Unterschied, dass die schmerzlichen Kriegserfahrungen der Flüchtlinge in verschiedenen Geschichten detaillierter zur Sprache kommen: Von einem Tag auf den andern hatte ich keinen Vater mehr, keine Familie, kein Haus, keine Werkstatt. Von einem Tag auf den andern war unser ganzes bisheriges Leben vorbei. Wir konnten unseren Vater nicht einmal begraben. (Erpenbeck 2015: 114)

Für traumatisierte Kriegsopfer ist eine gefährliche Überfahrt ins Nirgendwo auf einem überfüllten und unsicheren Boot, das schnell ins Schwanken gerät und zu kentern droht, eine Alternative zum Selbstmord. Lange Passagen in den Schutzbefohlenen werden der Beschreibung von Todesgefahren eingeräumt, denen Bootsflüchtlinge ausgesetzt sind. Die Darstellung desselben Aspekts in Erpenbecks Roman, wo das Massensterben im Unterschied zu Jelineks Stück realistisch beschrieben wird, unterliegt einer weiteren Transformation, die in der Umsetzung des kollektiven Verzweiflungsschreis von Jelineks Flüchtlingschor in die stummen Reflexionen einer europäischen Romanfigur besteht. Als Außenstehender denkt Richard über die lebensgefährliche Überfahrt von hunderten afrikanischen Bootsflüchtlingen nach, deren Überlebenskampf im Meer innerhalb von wenigen Minuten mit dem Tod endet: Den Unterschied zwischen den Flüchtlingen, die heutzutage auf dem Meer irgendwo zwischen Afrika und Europa ertrinken, und denen, die nicht ertrinken, macht allein der Zufall. In diesem Sinne ist auch jeder von den afrikanischen Fllüchtlingen hier, denkt Richard, gleichzeitig ein Lebendiger und ein Toter. (Erpenbeck 2015: 208)

1.2 Eingetroffen, aber nicht angekommen am europäischen ›Ufer‹ [...], wir sind ja schon tot, zumindest schauen wir so aus. Und [...] hier steht nicht, daß Tote eingebürgert werden können, nein, auch nichts von lebenden Toten steht hier, nichts, nichts von denen, deren Tote noch so lebendig und deren Lebendige tot sind [...]. (Jelinek 2013: [ohne S.])

Zu diesem Zitat weisen Richards zuvor angeführte Gedanken intertextuelle Bezüge auf. Sie belegen auf der Ebene von Aussagegehalt, Darstellungsweise und Wortwahl die Aufnahmen verschiedener inhaltlicher und formaler Elemente aus Jelineks Schutzbefohlenen in Gehen, ging, gegangen. Die Flüchtlinge, die es bis zum europäischen ›Ufer‹ schaffen, werden sowohl bei Jelinek als auch bei Er-

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penbeck zugleich als Lebendige und Tote beschrieben – zum einen weil sie beinahe gestorben wären, und zum anderen weil ihre Rettung am europäischen Ufer keinesfalls bedeutet, dass ihre Leiden zu Ende sind. Auch der Rechtsstaat erweist sich für sie als ein schwankender Boden – nicht unähnlich dem Meer, dem sie entkommen sind. Ihre prekäre Lage – fortgegangen, aber noch nicht gerettet und angekommen zu sein – reflektieren die Zeilen: »Denn unser schönes Meer, auf das wir uns so verlassen hatten, ist jetzt weg, [...], das ist jetzt fort und abgeschafft. Das neue Meer ist [...] noch nicht angekommen [...]« (ebd.). Jelineks Drama beginnt mit dem Protest der Flüchtlinge in der Wiener Votivkirche gegen ihre menschenunwürdige Abschiebung in ein Kloster, »wie Tiere, wie wild gescheucht durch die Gänge des Heims« (ebd.). Dort werden sie weder gehört noch gesehen. Über ihre Misshandlung in Österreich und ihre Beschwerden werde vom Staat hinweggeschaut, sodass für sie das Gotteshaus der einzige Ort bleibt, wo sie Zuflucht suchen können: Jesus, Messias, Messie, egal, der du das Haus, das Geschlecht, alle Frommen bewahrst [...], wir sind [...] in deine Kirche gekommen, als schutzflehender Zug, bitte helfen Sie uns, Gott [...], unser Fuß hat Ihr Ufer betreten, unser Fuß hat noch ganz andre Ufer betreten [...]. Fast hätte uns die See vernichtet, fast hätten uns die Berge vernichtet, jetzt sind wir in dieser Kirche, morgen werden wir in diesem Kloster sein [...], doch wo werden wir übermorgen sein und danach? Wo wird uns ein Bett versagt werden [...], wo werden sie uns wieder rauswerfen, wo werden wir unsre eigenen Knochen vergraben können [...]. (Ebd.)

Auch in Gehen, ging, gegangen werden die wiederholten Proteste und Hungerstreiks von Flüchtlingen in Berlin gegen ihr ständiges Fortschaffen von einem Ort zum anderen veranschaulicht. Die Vorläufigkeit all ihrer Aufenthaltsorte wird durch das Fortbewegungsverb ›gehen‹ in seinen verschiedenen Zeitstufen im Romantitel vergegenwärtigt. Erpenbecks Protestierende erleben in Berlin dieselbe Unsicherheit wie diejenigen, die in der Wiener Votiv-Kirche campieren:

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Ein Dreivierteljahr war [der Junge] in einem Camp auf Sizilien, mit zehn Leuten in einem Zimmer. Dann musste er raus. Von dem Moment an, in dem sie dich aus dem Haus rausschicken, musst du selbst einen Schlafplatz finden, du bist frei! Kein Job, kein Ticket, kein Essen, du kannst keine Unterkunft mieten. [...] Es gibt keine Arbeit. Und am Ende des Tages bist du immer noch auf der Straße. [...] Tagsüber lief ich herum, abends kam ich in den Bahnhof zum Schlafen. (Erpenbeck 2015: 82)

Das für die Flüchtlinge entsprechend der gesetzlichen Regelungen geltende Arbeitsverbot ist ein Zentralproblem der Migration in Europa, das beide Werke unterstreichen, denn es bedeutet nicht nur ein notdürftiges Leben für die Betroffenen, sondern auch, dass ihnen ein elementares Menschenrecht vorenthalten wird. Dieses Problem kommt in Gehen, ging, gegangen zur Sprache, wenn es heißt: »[W]enn du mich arbeiten sehen könntest, sähest du einen ganz anderen Raschid. [...] Arbeiten ist für mich so natürlich wie Atmen.« (Ebd.: 241) Während Erpenbeck die Mängel bzw. die absurde Gegensätzlichkeit der Asylrechtsverordnung, Dublin II, die die Einweisung in Heime und die Beschäftigung von Flüchtlingen in Europa regelt, entlarvt, enthüllt Jelinek insbesondere die Doppelmoral ihres wohlhabenden Landes bei der Ausführung seiner willkürlichen Asyl-, Einbürgerungs-, und Arbeitsgesetze. Diese würden tadellos gebrochen, wenn es um berühmte oder reiche Asylbewerber gehe, die sich das »Bleiberecht, ja Staatsrecht erkauf[en]« (Jelinek 2013: [ohne S.]) könnten, im Gegensatz zu den wirklich hilfsbedürftigen »[u]nangekündigten [...] Schutzflehenden« (ebd.), die zum ewigen Warten verurteilt würden, »weil [sie] nämlich nicht für [sich] zahlen können und keine Namen haben und weil für [sie] auch kein andrer zahlt«. (Ebd.) Dass und wie die Flüchtlingsproteste durch den Einsatz von schwerbewaffneten Polizisten, die die Votivkirche oder einige Heime in Berlin mit Gewalt evakuieren, beendet werden, wird von den beiden Autorinnen ebenfalls kritisiert. Paradoxerweise widerfährt unschuldigen Schutzsuchenden am europäischen ›Ufer‹ damit erneut ein Unrecht, das dem ähnelt, dass sie in ihren Heimatländern kriegsbedingt erlitten haben. Gleichgültigkeit und Abweisung bestehen beiden Autorinnen zufolge nicht nur seitens der Politiker, sondern vor allem seitens der Aufnahmegesellschaft. Viele selbstzufriedene Mitglieder der österreichischen Wohlstandsgesellschaft lehnen die Asylsuchenden ab und gewähren ihnen keinerlei Hilfe. Ihre Selbstbezogenheit wird in Gehen, ging, gegangen an Richard deutlich, der sich anfangs von den anderen deutschen Passanten, die achtlos an den streikenden Flüchtlingen vorbeigehen, kaum unterscheidet. Die nachstehenden Zitate belegen, dass Erpenbeck Textelemente, die schon bei Jelinek vorkommen, aufgreift:

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Mitleidig schauen nur wenige auf uns. Andre thronen über uns und sehen uns nicht, obwohl sie genau über uns sind, die müßten uns sehen, [...]. Doch nein. Sie wenden sich ab! Schauen woanders hin [...]. (Ebd.) Denkbar ist, dass [sie] sehen, was auf dem Platz alles los ist, aber um zum Beispiel zu lesen, was auf dem Schild steht, sind sie sicher zu weit entfernt. (Erpenbeck 2015: 23f.)

Viele europäische Bürger missachten Kriegsflüchtlinge und werfen ihnen Untätigkeit vor. Nicht selten werden die Asylsuchenden heftigen, rassistisch motivierten Angriffen ausgesetzt. Zu den Beispielen von Fremdenfeindlichkeit, die bei Erpenbeck vorkommen, gehört das folgende: In der U-Bahn stehen die Italiener auf und setzen sich woandershin, wenn ich mich neben sie setze. [...] Sie denken, ich bin kriminell. Jeder Schwarze. [...] Es macht keinen Unterschied, ob wir es sind oder nicht sind. (Ebd.: 245)

Dabei versäumt die Romanautorin nicht, auf die Gründe für solche Haltungen einzugehen: Unkenntnisse, reale Ängste und Vorurteile gelten ihr als Hauptgründe für abneigende Haltungen und Anfeindungen. Diese Gründe werden auch bei Jelinek geltend gemacht: [W]ir sind keine Rätsel mehr für die Gastgeber, [...] sie kennen uns schon, bevor sie uns kennenlernen, sie werden uns trotzdem richten, [...] als Schnellgericht, und dann in Wasser lösen, [...] das vertragen die Länder nicht mehr [...]. Mehr von uns geht nicht. [...] Zuerst richten, dann nicht mehr retten [...]. So werden sie sich mit unserer Sichtung und Aufnahme gar nicht mehr aufhalten müssen, [...] das Meer nimmt alle und alles auf, das Meer beklagt sich nicht [...]. (Jelinek 2013: [ohne S.])

Für die Flüchtlinge bedeutet die Überfahrt nach Europa nicht nur einen Ortswechsel von einem Kontinent zum anderen. Vielmehr markiert sie den Übergang von einer Lebensform zu einer völlig anderen: einen Übergang vom Eingebundensein in die Herkunftsfamilie zum Alleinsein in der Fremde, von Geborgenheit und Zugehörigkeit zu Unsicherheit und Verlorensein: »[W]ir gehören keinem, wir gehören niemand, wir gehören nicht zum Gemeinwesen, wir dürfen keinen Beitrag leisten, wir sind für uns selbst verantwortlich [...]« (ebd.). Ähnlich heißt es bei Erpenbeck: »Ich vermisse meine Orte. Ich bin ganz auf mich gestellt.« (Erpenbeck 2015: 217) Der Zusammenhang von Heimat- und Identitätsverlust wird von den Geflüchteten in Gehen, ging, gegangen deutlich herausgestellt:

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Wenn man ein Fremder wird, sagt Awad, hat man keine Wahl mehr. Man weiß nicht, wohin. Man weiß nichts mehr. Ich kann mich selbst nicht mehr sehen, das Kind, das ich war. Ich habe kein Bild mehr von mir. [...] Und ich – ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ein Fremder werden. Sich selbst und den andern. So also sah ein Übergang aus. (Ebd.: 80f.)

Für den Literaturwissenschaftler Richard wird die Identitätskrise von Flüchtlingen in Europa anhand von Goethes Theaterstück Iphigenie auf Tauris klar, dessen Titelfigur den Verlust ihrer Heimat ebenfalls in einem geradezu leibhaftigen Sinn als Verlust ihrer Identität erfährt: Und auch Goethes Iphigenie, Emigrantin auf Tauris, ist zugleich da und abwesend, das Land ihrer Kindheit mit der Seele suchend. Wenn man das so sah, war es geradezu lächerlich, einen Übergang am Vorhandensein eines Körpers zu messen. Wenn man das so sah, stand für einen Flüchtling die Unbewohnbarkeit von Europa plötzlich in einem Verhältnis zur Unbewohnbarkeit seiner eigenen Hülle aus Fleisch, die dem Geist eines jeden Menschen eigentlich auf Lebenszeit als Wohnung zugewiesen ist. (Ebd.: 83)

Auch der hier von Erpenbeck erhellte Zusammenhang zwischen der Unbewohnbarkeit Europas für Flüchtlinge und deren Selbstverlust beruht auf Jelineks Drama. In diesem Kontext ist Nicolai Buschs Hinweis auf Jelineks Rezeption von Heideggers Existenzphilosophie in Sein und Zeit (1927) und Über den Humanismus (1947) zu berücksichtigen. Laut Busch verstehe sich das Dasein eines Menschen, um mit Heidegger zu sprechen, als »›In-der-Welt-Sein‹« bzw. als »die aktive Einordnung in den größeren Zusammenhang ›Welt‹«. In diesem Sinne könne ein Mensch – nach Heidegger und wie es sich demzufolge bei Jelinek in ihren Schutzbefohlenen offenbart – »ganz eindeutig nicht für sich selbst stehen«, denn es gebe »›kein Ich ohne die Anderen‹«; jeder Mensch brauche unbedingt »ein anderes ›Seiendes‹« (vgl. Busch 2016), um zu existieren. Dieses Daseinskonzept Heideggers wird bei Erpenbeck in Richards Auslegung der antiken Geschichte von Iphigenie auf Tauris integriert. Da die Flüchtlinge aus Richards Sicht von ihren europäischen Mitmenschen abgewiesen und verachtet würden, und ihnen somit alle »Seinsmöglichkeiten des Miteinanders« (Jelinek 2013: [ohne S.]) verweigert blieben, sei ihr Dasein in Europa bzw. ihr Dasein als Menschen überhaupt zweifelhaft, wie es Jelineks Flüchtlinge zum Ausdruck bringen: »[D]ie Menschenwürde [...] ergibt sich durch unsre Existenz als Menschen, und wenn wir keine Menschen sind, haben wir auch keine Würde, wenn wir keine Würde haben, sind wir keine Menschen [...].« (Ebd.) Busch nimmt Bezug auf Jelineks Rezeption von Heideggers Konzept, dass der Mensch ohne die Wechselwirkung mit seinen Mitmenschen zum Ding werde – ein Konzept, das sowohl

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auf die Flüchtlinge in ihrem Drama als auch auf die Flüchtlinge in Erpenbecks Roman zutrifft. In einer Rezension zu Jelineks Stück wird das Problem der Verdinglichung direkt angesprochen: In der Regel wird ihnen nicht nur der Flüchtlingsstatus und damit das Anrecht auf Schutzbedürftigkeit verweigert, man raubt ihnen auch die Identität, indem man sie zu Unpersonen im Flüchtlingslager degradiert. (Berger o. J.)

Die Überfahrt der Flüchtlinge, auf der sie zu verhungern, erfrieren und ertrinken drohen, endet in einer Hoffnungslosigkeit, die Jelinek wie Erpenbeck auf ähnliche Art und Weise verdeutlichen: [U]ns verhüllt naht schon die Zukunft, doch, obwohl verhüllt, sehen wir sie, [...] die [...] im noch geheimeren Dunkel, sagen Sie uns, worum wir noch flehen sollen und vor allem [...]? Zu wem? Daß uns Recht geschieht, darum beten wir, [...] aber es wird nicht geschehen. [...] Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da. (Jelinek 2013: [ohne S.]) Ein Leben, in dem eine leere Gegenwart besetzt ist von einer Erinnerung, die man nicht aushält, und dessen Zukunft sich nicht zeigen will, muss sehr anstrengend sein, denkt Richard, denn da ist, wenn man so will, nirgends ein Ufer. (Erpenbeck 2015: 340f.)

Jenen Flüchtlingen, denen das Recht zum Aufenthalt am europäischen ›Ufer‹ abgesprochen wird, bleiben als Zufluchtsorte nur noch Tagträume, grundiert von Zukunftsängsten. Diese Tagträume bestimmen ihre Gespräche in den sozialen Netzwerken und in den Gesprächen, die sie mit den Angehörigen führen, die in der Heimat geblieben sind. Richard merkt [...], dass die Männer in den paar Funkwellen mehr zu Hause sind, als in irgendeinem der Länder, in denen sie auf eine Zukunft warten. Ein Netz aus Zahlen und Kennwörtern spannt sich quer über die Kontinente und ersetzt ihnen nicht nur das, was für immer verloren gegangen ist, sondern auch den Neuanfang, der nicht stattfinden kann. Das, was ihnen gehört, ist unsichtbar und aus Luft. (Ebd.: 220)

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2. EUROPA IM ÜBERGANG? 2.1 Zur Dialektik der ›Flüchtlingspolitik‹ Die bislang angeführten Zitate offenbaren, wie sich der Tenor der Wutrede, die die Flüchtlinge bei Jelinek anstimmen, im Kontext von Erpenbecks Roman ändert. Statt des Blickwinkels der um Schutz Flehenden, der das Drama bestimmt, stellt der Prosatext auf die Komplementarität ihrer Perspektive und derjenigen der Aufnahmegesellschaft ab, die Richard exemplarisch vertritt. Er setzt sich intensiv mit der Lage der Asylbewerber auseinander. Seine anfängliche Ignoranz ihrer Lage weicht zunehmend einem vertieften Verständnis für ihre prekäre Situation. Die Bilder der Hungerstreikenden, die Richard im Fernsehen sieht, gehen ihm lange nach und führen dazu, dass er sein eigenes Verhalten hinterfragt: Warum hat er die Demonstration [...] nicht gesehen? [...] Manchmal schon hat er sich dafür geschämt, dass er Abendbrot isst, während er auf dem Bildschirm totgeschossene Menschen sieht, Leichen von Erdbebenopfern, Flugzeugabstürzen, hier einen Schuh von jemandem nach einem Selbstmordanschlag, dort in Folien gewickelte Körper von Opfern einer Seuche, nebeneinander im Massengrab liegend. Er schämt sich auch heute, und isst trotzdem weiter, wie sonst auch. Als Kind hat er gelernt, was Not ist. Aber deswegen muss er nicht, nur weil ein Verzweifelter heutzutage einen Hungerstreik macht, gleichfalls verhungern. Sagt er sich. [...] Und ginge es dem so gut wie ihm, würde der genauso beim Abendbrot sitzen und essen. [...] Eingesperrt in den Luxus, wählen zu können, wäre sein Nichtessen um nichts weniger kapriziös als die Völlerei. (Ebd.: 27f.)

Der Selbstzentriertheit, die Jelineks Flüchtlinge europäischen Bürgern vorwerfen, versucht Richard zu entkommen. Für den Appell der Migranten, gehört, gesehen und verstanden zu werden, ist er durchaus empfänglich. Richard informiert sich über ihre Lebensumstände und wechselt von der Position des unbeteiligten Zuschauers zu der eines Beteiligten, der sich mit den Notleidenden in dem Bewusstsein der Unterschiedlichkeit ihrer und seiner eigenen Lage solidarisiert. Keiner von ihnen hat eine eigene Wohnung oder auch nur ein eigenes Bett, die Kleidung stammt aus der Kleidersammlung, es gibt kein Auto, keine Stereoanlage, keine Mitgliedschaft in einem Sportclub, keinen Ausflug, keine Reise. Es gibt keine Frau und keine Kinder. Und auch keine Aussicht auf eine Frau oder auf Kinder. (Ebd.: 219)

Aber nicht nur über das Flüchtlingsleben macht sich Richard Gedanken, sondern auch über den Tod, der eine alltägliche Erfahrung im Leben ist. Er kommt zu

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dem Ergebnis, dass es selbst beim Tod einen Luxus gebe, der Menschen aus armen Ländern versagt bleibe: Einen Grabplatz zu haben, ist [...] auch ein Luxus [...]. Die längste Zeit seines Lebens hat [Richard] im hintersten Winkel seiner Seele gehofft, dass die Menschen aus Afrika weniger um ihre Toten trauern, weil das Sterben dort schon seit jeher so massenhaft auftritt. Jetzt saß in diesem hintersten Winkel seiner Seele stattdessen die Scham darüber, dass er es sich die längste Zeit seines Lebens so leicht gemacht hat. (Ebd.:209)

In diesem Sinne geht Richards wachsendes Interesse an Flüchtlingen mit einer Infragestellung seiner selbst einher. Die Vorwürfe, die Jelineks Figuren gegen Europa erheben, wandeln sich bei ihm zu einer Selbstkritik, die sein stabiles Leben als Europäer erschüttert und seine selbstverständliche Weltordnung sprengt: Einfach so, im Dunkeln, durch sein eigenes Haus gestreift wie durch ein Museum, als gehöre er selbst schon nicht mehr dazu. Zwischen den Möbeln, von denen er manche doch seit seiner Kindheit kennt, ist ihm sein eigenes Leben [...] plötzlich vollkommen fremd erschienen, vollkommen unbekannt [...], mit Scham denkt er daran, wie er [...] ohne den Grund selbst zu wissen, aufgeschluchzt hat wie ein Verbannter. (Ebd.: 115)

In einem weiteren Schritt verfolgt Richard die Spuren solcher Grenzen in kritischen Reflexionen über verschiedene Phasen in der Geschichte Deutschlands, angefangen bei der Kolonialzeit im Deutschen Reich bis in die jüngste Gegenwart hinein. Dabei stellt er eine heikle Beziehung seines Vaterlandes zum Anderen im Allgemeinen und zu Schwarzafrikanern im Besonderen fest: Als hier der Kanal war, hatte Deutschland noch Kolonien. Kolonialwarenladen stand in verwitterter Schrift an manchen Fassaden im Osten Berlins noch bis vor zwanzig Jahren zu lesen, [...]. Kolonialwaren und die Einschüsse vom Zweiten Weltkrieg auf ein und derselben Fassade [...]. Auf dem Globus, der bei ihm im Arbeitszimmer steht, ist noch Deutsch-Ostafrika verzeichnet. [...] Gab es zu der Zeit [...] in dem Kaufhaus da drüben vielleicht Sklaven zu kaufen? Haben womöglich schwarze Diener den Zeitgenossen Lennés die Kohlen in den vierten Stock hinaufgetragen? Bei dieser Vorstellung muss er grinsen [...]. (Ebd.: 49f.)

Aus postkolonialer Sicht kritisiert Richard den Kolonialismus Europas, dem ein Rassismus zugrunde gelegen habe. Es sei, Richard zufolge, ein kulturverankerter Rassismus gewesen, der nicht selten auch in europäischen Ländern hervorgetre-

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ten sei, die keine Kolonien besessen hätten, was aus einer in Österreich vorgefallenen Begebenheit zu schließen sei: Ein gewisser Dr. Thaler zum Beispiel hatte vor rund 200 Jahren in Wien dem gebürtigen Nigerianer Soliman nach dessen Tod mit höchster Erlaubnis durch Kaiser Franz die Haut abgezogen, [...] dem Mann, der dem Fürsten von Kobkowitz in einer Schlacht das Leben gerettet hatte, [...] einem Neger [...] dem Fürstenerzieher derer zu Liechtenstein, einem Schwarzen [...], einem Mohren [...], einem Afrikaner, hatte [...] einem angesehenen Mann der Wiener Gesellschaft, der allerdings vor langer Zeit einmal ein afrikanisches Kind gewesen war, [...] hatte einem Menschen, der zu Beginn seines Lebens auf dem Sklavenmarkt eingetauscht worden war für ein Pferd und später weitergekauft [...], kurz gesagt: einem ehemaligen Sklaven niederer Rasse mit Namen Soliman die Haut abgezogen. Hatte die Haut dann gegerbt, auf einen Corpus aus Holz aufgespannt, und, entgegen der Bitte von dessen Tochter, die darum bat, dass ihr die Haut ihres Vaters ausgefolget werden möge, um ihn ordnungsgemäß in der Erde zu bestatten, entgegen dieser töchterlichen Bitte deren ausgestopften Vater zur Erbauung des Wiener Publikums in einen Schaukasten im 4. Stockwerk des Kaiserlichen Naturalienkabinetts gestellt. [...]. Einen Moment lang stellt Richard sich vor, im Staatlichen Museum von Kairo fände sich in einem Schaukasten zum Beispiel der ausgestopfte Archäologe Heinrich Schliemann, [...]. Was für Barbaren, könnte man in so einem Fall von den Ägyptern wohl mit Fug und Recht sagen. In Wien war der edle Wilde irgendwann aus dem Schaukabinett genommen, jedoch nicht beerdigt, sondern nur ins Depot gebracht und dort abgestellt worden, war dort eingestaubt und beinahe vergessen worden, bis sich während der bürgerlichen Erhebung 1848 endlich ein Feuer seiner sterblichen Überreste erbarmte. Es gibt schwarze Vögel, warum nicht auch schwarze Menschen? Dieser Satz aus der Oper ‚Die Zauberflöteʼ hatte für Richard immer erschöpfend erklärt, was es über den Unterschied zwischen den Hautfarben zu sagen gab. (GG, 289 f.)

Die derzeitige Manipulation afrikanischer Regime durch europäische Regierungen zugunsten ihrer eigenen Interessen, vor allem beim Waffenhandel, ist aus Richards Sicht eine Bestätigung für das Fortbestehen des rassistischen Denkens. Ebenso sieht er die Ausnutzung von afrikanischen Ländern durch gigantische europäische Staatskonzerne, die durch Erdöl- und Uranabbau hohen Gewinn auf Kosten von Menschenleben vor Ort erzielen. »Dort, sagt Richard, ist das Trinkwasser inzwischen verseucht, die Kamele sind hin, die Menschen kriegen Krebs, ohne zu wissen, warum – der Strom aber fließt in Frankreich und hier bei uns, in Deutschland.« (Ebd.: 182) Auch von der Mitverantwortung für die katastrophalen Zustände in bestimmten afrikanischen Ländern, wie z.B derzeit in Libyen,

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aus dem arbeitslose und verhungerte Arbeiter nach Europa fliehen, kann Richard jene europäischen Instanzen nicht freisprechen. Insofern ist Richards Kritik, was die Machtverhältnisse zwischen Afrika und Europa angeht, gleichermaßen historisch und gegenwartsbezogen. Seine Sicht der Dinge umfasst auch die Erkenntnis: [V]on dem Moment an, in dem [die protestierenden Flüchtlinge] eine Vereinbarung unterzeichnen, muss man sie auch verwalten. Die Kolonisierten wurden durch Bürokratie erstickt. Gar nicht der ungeschickteste Weg, sie am politischen Handeln zu hindern. [...] Das Volk der Dichter beschützt vor der Gefahr, noch einmal das Volk der Mörder zu heißen? [...] Hatte der Senat also die Afrikaner in Sicherheit gebracht oder vielmehr sich selbst? Im letzteren Fall wäre das, was getan wurde – die wirkliche Unterbringung der Flüchtlinge in einem besseren Quartier – also nur eine Maske. Und was dann dahinter? (Ebd.: 64)

Richard ist der Ansicht, dass die Flüchtlingspolitik seines wohlhabenden Vaterlandes einschließlich der Gewaltanwendung beim Abtransport von Flüchtlingen für die Vertiefung von schon vorhandenen Klüften, die Eskalation von Konflikten und den Bau von neuen Grenzen zur Abwehr von Fremden verantwortlich sei. Er bedauert insbesondere, dass die vom Staat geschaffenen Grenzen von seinen Mitbürgern verinnerlicht werden. Bei der Darstellung dieser verinnerlichten Grenzen und Abgrenzungen verwendet Erpenbeck eine doppelte Verfremdungstechnik. Zum einen führt sie die Ausgrenzung von Flüchtlingen in Berlin vor Augen; zum anderen rückt sie diese Ausgrenzung in eine Beziehung zu der Mauer, die Ost- und Westberlin von 1961 bis 1989 trennte. Richard ist sich der Paradoxie bewusst: »Hatte man ausgerechnet in Berlin schon wieder vergessen, dass eine Grenze sich nicht nur an der Größe des Gegners bemaß, sondern ihn auch erschuf?« (Ebd.: 262) Tatsächlich geschieht das willkürliche Fortschaffen und Verteilen von Flüchtlingen genau einen Tag vor dem Tag der Deutschen Einheit, dem »Geburtstag unserer Republik« (ebd.: 55), in der Freiheit und Humanität als Grundwerte gelten sollten. Für Richard stellt die Abschiebung die Geltung dieser Werte in Frage. 2.2 Überbrückung kultureller Klüfte im europäischen Kulturerbe Der Bau von Brücken zum Anderen stellt nicht nur einen Teil der Urgeschichte Berlins dar, sondern schaut auf eine viel ältere Tradition in Europa zurück, wie im Rückblick auf den Danaiden-Mythos und die darauf beruhende Tragödie von Aischylos, Die Schutzflehenden, klar wird. Die transkontinentale Fluchtreise, die

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die mythische griechische Figur Io von Europa nach Asien und von Asien nach Afrika bzw. Ägypten macht, wo sie sesshaft wird, lässt sich als Überbrückung kultureller Gegensätze in der antiken Tradition begreifen. Mit der Überfahrt von Ios ägyptischen Enkelinnen, den fünfzig Töchtern von Danaos, die vor einer Zwangsehe mit ihren Vettern, den Söhnen von Aigyptos, zurück nach Griechenland flüchten und dort als Schutzsuchende landen, endet die kreisförmige Reise, die der Mythos schildert. Er profiliert ein Denken in Übergängen und rückt die starke interkontinentale Beziehung zwischen Europäern und Afrikanern in den Fokus. Aber anders als bei den ägyptischen Schutzflehenden, die im griechischen Argos, abgesehen von ihrem kulturellen Anderssein, als Asylbewerber4 behandelt werden und denen zur Wahrung des göttlichen Gebots sowohl vom König als auch vom Volk Schutz gewährt wird, stehen Jelineks Schutzbefohlene an der Schwelle nach Europa, ohne sie überschreiten zu können. Die kulturellen Klüfte zwischen ihnen und Europa bleiben bis zum Ende des Stücks unüberbrückbar. Der intentionale bzw. deklarierte Rückbezug von Jelineks Schutzbefohlenen auf Aischylos Schutzflehende lässt sich unter diesem Blickpunkt nicht als Parallele, sondern als Kontrast beschreiben. Aischylos Drama propagiert Humanität als zentralen Wert in der antiken Welt, wo vor Tausenden von Jahren Menschenrechte geachtet wurden, während aus der Sicht der politisch engagierten Nobelpreisträgerin Menschenrechte in Europa heute nur für diejenigen gelten, die es sich leisten können. Asyl für Heimatlose war in der Hochkultur der Antike ein selbstverständliches heiliges Recht; es wurde auch den ägyptischen Flüchtlingen nicht verweigert. Dagegen darben hilfsbedürftige Geflüchtete im Österreich der Gegenwart halb verhungert und erfroren auf kaltem Kirchenboden. Jelinek hat Aischylos Prätext ins Gegenteil transformiert, um das idealisierte Europa der Gegenwart zu demaskieren, in dem die Politiker als die neuen Götter firmieren, die mit dem Leben anderer Schicksal spielen. Entsprechend enttäuscht äußert sich bei ihr der Flüchtlingschor: Können Sie uns bitte sagen, wer, welcher Gott hier wohnt und zuständig ist, hier in der Kirche wissen wir, welcher, aber es gibt vielleicht andere, woanders, es gibt einen Präsidenten, einen Kanzler, eine Ministerin, so, und es gibt natürlich auch diese Strafenden [...]. (Ebd.: [ohne S.])

4

Ásylon hießen die Orte, wo die geflüchteten ägyptischen Bräute Zuflucht fanden und unter Zeus' Schutz kamen. (Vgl. Prüwer [Stand 25.4.2017])

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Es gilt als Hauptziel von Jelinek zu zeigen, dass Europa paradoxerweise nicht das ist und nicht mehr das sein kann, was man uns [...] als Europa ›verkauft‹ hat. Eben das vermitteln uns die Schutzbefohlenen in ihrer Funktion als willenloses Sprachrohr [...]. In und durch sie dekonstruiert sich die Sicherheit und Definiertheit Europas quasi selbst. Gleichzeitig sind es ihre Geschichten [...], die Europas kulturelle, politische und geographische Grenzen fragil werden lassen und so eine Desidentifikation Europas mit sich selbst einleiten. (Busch [Stand: 11.10.2017])

Das europäische Identitätskonzept wird in Gehen, ging, gegangen ebenfalls angesprochen, wobei Erpenbeck zu ähnlichen Vorstellungen wie Jelinek gelangt. Unter dem Einfluss der in den Schutzbefohlenen aufgegriffenen griechischen Tradition macht Erpenbeck ihren Romanhelden Richard zum Universitätsprofessor für Klassische Philologie, der sich wiederholt auf Texte prominenter griechischer Denker und Autoren beruft, die die Aussage des Romans mitbestimmen. Richards Äußerung in diesem Kontext, dass »über die Jahrhunderte hinweg der eine Nachdenkende die Gedanken eines andern aufnimmt und versucht, ihnen das Eigene hinzufügen und sie so am Leben zu halten« (GG, 297) fällt einerseits mit Kristevas Konzept, dass kein Text ein selbstgenügsames Gebilde, sondern ein Kreuzungspunkt anderer Texte sei, zusammen und stimmt andererseits mit Manfred Pfisters Begriff der ›Autoreflexivität‹ (vgl. Pfister 1985: 1-30) überein, da es eine Romanfigur ist, die über die intertextuelle Bedingtheit des Textes reflektiert, in dem sie auftaucht. Allerdings wird die Wiederverwendung von griechischen Elementen, die Jelineks Drama entnommen sind, auf der Ebene der erzählerischen Gestaltung von Gehen, ging, gegangen ausgebaut und vertieft – was sich auf Pfisters Begriff der ›Selektivität‹ (ebd.) beziehen lässt. Dabei geht es um ein markiertes Verweben von verschiedenen historischen, mythischen oder literarischen Textausschnitten ins Romangeschehen. Die Intentionalität bzw. die deutliche Markierung intertextueller Bezüge in Erpenbecks Roman sowie deren Vergegenwärtigung entspricht Pfisters Auffassung von der ›Kommunikativität‹ (ebd.) der Intertextualität. Die Einbettung der jeweiligen markierten, direkten bzw. indirekten Zitate an verschiedene Stellen von Gehen, ging, gegangen lässt diesen nicht mehr als ›Phänotext‹ eines einzigen ›Genotextes‹ (vgl. Kristeva 1978: 94-97), nämlich von Jelineks Schutzbefohlenen, erscheinen, sondern als Intertext einer Vielzahl von Referenztexten, als »Mosaik von Zitaten« (Kristeva 1967: 348), die ihn auf semantischer Ebene bereichern. Das Verfahren des Arrangierens von kulturell unterschiedlichen Texten lässt neben Kristevas Auffassung von der Pluralität der Genotexte auch Roland Barthes Intertextuali-

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tätskonzept als theoretische Grundlage von Erpenbecks Roman hervortreten, denn: Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unterschiedlichen Stätten der Kultur. […] Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen. (Barthes 2000: 190f.)

Über seine Lektüre des griechischen Historikers Herodot fasst Richard den deutlichen Kulturaustausch zwischen den Garamanten, den Vorfahren des afrikanischen Berbervolks der Tuareg und den Griechen im fünften Jahrhundert vor Christus ins Auge: »Die Kunst, einen Streitwagen zu lenken, hätten die Griechen von den Männern dieses Berbervolkes gelernt, und von deren Frauen die Poesie.« (Erpenbeck 2015: 175) Richard zählt über den Danaiden-Mythos hinaus verschiedene Beispiele für die Integration afrikanischer Länder bzw. Völker in griechische Mythen auf: [E]r versteht plötzlich neu, was es bedeutet, dass sich für die Griechen das Ende der Welt da befand, wo heute Marokko ist [...]. Die Gegenden, die heute Libyen, Tunesien, Algerien heißen, waren in der Antike das Gebiet vor dem Ende der Welt, also die Welt. Auf libyschem Sand stand der Sohn der Gaia, der Gigant Antaeus [...]. Die eulenäugige Athene [...] wuchs bei ihrem Ziehvater Triton am Ufer des Tritonsees auf, im heutigen Tunesien. [...] Auch Medusa [...] sei [...] einmal ein schönes libysches Berbermädchen und eine erfolgreiche Kriegerin gewesen. (Ebd.: 176f.)

Dabei stellt der Altphilologe fest, dass der Wertschätzung afrikanischer Völker bei den Griechen die Konzepte der Ebenbürtigkeit aller Menschen, der Umkehrbarkeit der Verhältnisse und des fortwährenden Übergangs zugrunde liegen. Diese Konzepte, die für Richard im gegenwärtigen europäischen Denken fehlen, wurden schon in der griechischen Philosophie propagiert; später drangen sie in verschiedene römische Kulturbereiche ein, was Richard durch Beispiele aus Senecas und Ovids Schriften bestätigt: So wie Richard bei Seneca liest: Zwinge Dich ständig daran zu denken, dass der, den Du Deinen Sklaven nennst, gleichen Ursprungs ist wie Du, dass er sich an demselben Himmel erfreut, dass er wie Du atmet, lebt und stirbt – so liest Seneca bei Platon, es gebe keinen König, der nicht von Sklaven, und keinen Sklaven, der nicht von Königen abstamme. Nur der Wechsel der Zeit habe all dies durcheinander geworfen und das Schicksal alles mehrfach umgekehrt. Und fanden sich bei Ovid nicht am Ende der Metamorphosen die glei-

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chen Gedanken wie bei Empedokles: Keines verbleibt in derselben Gestalt, und Veränderung liebend, schafft die Natur stets neu aus anderen andere Formen, und in der Weite der Welt geht nichts – das glaubt mir – verloren; Wechsel und Tausch ist nur in der Form. Entstehen und Werden heißt nur, anders als sonst anfangen zu sein, und Vergehen, nicht mehr sein wie zuvor. (Ebd.: 297)

Weitere Werte, auf denen Europa ruht, und auf die Gehen, ging, gegangen ein erhellendes Licht wirft, finden sich in der christlichen Tradition: Trost schenke der ganzen weiten Welt nur der neue Papst [...] Franziskus: Wo Barmherzigkeit und Klugheit sind, da ist nicht Verschwendung noch Täuschung! Und von Franziskus kommt der Anwalt geradenwegs auf die alten Römer zu sprechen: [...] Wenn das Haus deines Nachbarn brennt, geht es auch dich an. (Ebd.: 302f.)

Richards Überlegungen, die Einigkeit aller Quellen der europäischen Kultur betreffend, werden durch eine Nebenfigur des Romans, durch einen Anwalt, bestätigt, der sich zu den Germanen äußert. Sie seien das »gastfreundlichste Volk« (ebd.: 309) gewesen, wie man Tacitusʼ (55-120 n. Chr.) Buch Germania entnehmen könne: Es gilt bei den Germanen als Sünde, einem Menschen sein Haus zu verschließen, wer es auch sei; jeder empfängt ihn mit einem seinen wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechend reich zubereiteten Mahle. Sind die Vorräte aufgezehrt, dann weist der, der eben noch Gastgeber gewesen war, den Weg zu einem anderen gastlichen Hause und geht selbst mit, uneingeladen betreten sie den nächsten Hof: und der Empfang ist nicht weniger herzlich. Im Gastrecht macht keiner einen Unterschied zwischen Bekannten und Unbekannten. Zwischen Gastgeber und Gast gibt es keinen Unterschied von mein und sein. (Ebd.: 309f.)

Mit dem germanischen, antiken und christlichen Kulturerbe Europas tritt Erpenbeck dem von ihr wie von von Jelinek kritisierten Rassismus im modernen europäischen Bewusstsein entgegen. 2.3 Übergang ist eigentlich nichts! Dort, wo das eine Leben eines Menschen an das andere Leben desselben Menschen grenzt, muss doch der Übergang sichtbar werden, der, wenn man genau hinschaut, selbst eigentlich nichts ist. (Ebd.: 52)

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So wie in diesem Zitat stellt sich Richard Übergänge vor. Für ihn gibt es kein besseres Beispiel für die vielen aufeinanderfolgenden Übergänge, die Deutschland und Europa durchlaufen haben, als die historische Phase des Zweiten Weltkriegs, der Nachkriegszeit und der Nachwendezeit, als die Teilung Deutschlands mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung endete. »Es ist noch gar nicht so lange her, denkt Richard, da war die Geschichte der Auswanderung und der Suche nach Glück eine deutsche Geschichte.« (Ebd.: 222) Richard setzt die unaufhörliche Menschenwanderung, die ein wiederkehrendes Motiv der Weltgeschichte ist, sogar mit den unaufhörlichen Vogelreisen von einem Kontinent zum anderen und mit der »immerwährende[n] Bewegung« (ebd.: 297) transkontinentaler Winde gleich, was sie aus seiner Sicht zum Teil des Naturganzen macht: Der Scirocco komme aus Afrika bis über die Alpen und bringe manchmal sogar den Wüstensand mit. Und wirklich, auf den Weinblättern sah man den feinen, rötlichen Staub, der aus Afrika kam. (Ebd.: 71)

Solchen naturgeschaffenen Übergängen können Richard zufolge keine menschengeschaffenen Grenzen widerstehen. Diese Einschätzung bestätigt sich für den gebürtigen Ostberliner Richard auch im Rückblick auf die deutsch-deutsche Teilung und Wiedervereinigung immer wieder: 1990 war er plötzlich, von einem Tag auf den andern, Bürger eines anderen Landes gewesen, nur der Blick aus dem Fenster war noch derselbe. Die beiden Schwäne, die er so gut kannte, schwammen an diesem Tag, von dem an er ein sogenannter Bundesbürger war, genauso von links nach rechts wie am Tag davor, als er noch Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hatte genannt werden können, ein paar Enten saßen genauso wie am Tag davor auf der Ecke des Stegs [...], für dessen Bau er sich damals Schwellen von der Deutschen Reichsbahn besorgt hatte. Die Deutsche Reichsbahn wiederum hatte ihren faschistischen Namen auch in der sozialistischen Republik behalten müssen [...]. Machte es einen Unterschied, wie etwas hieß? (Ebd.: 103)

2.4 Abschaffung kultureller Barrieren – Gründung interkultureller Passagen Während Jelineks Drama mit dem Fortbestand der kritischen Lage, in der sich Flüchtlinge in Österreich befinden, ohne jede Aussicht auf Besserung endet, lässt Erpenbeck ihren Romanhelden konkrete Schritte zur Überwindung von Ignoranz und Eurozentrismus unternehmen. Motivierend wirkt dabei auf Richard seine Kenntnis der Kultur- und Ideengeschichte des Kontinents:

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Am Anfang war ein unterschiedliches Ganzes, das alles enthielt: das Weibliche und das Männliche, den Raum und die Zeit, das Gleiche und das Verschiedene. Dieses Ganze [...] hat sich dann in den verschiedenen Gestalten gezeigt [...]. Aber all diese Erscheinungsformen bedingen sich gegenseitig, keine ist der anderen übergeordnet, sie ergänzen sich und bleiben in ihrer Verschiedenheit das eine Ganze [...]. Genauso sind die einzelnen Menschen in der Gesellschaft Teile einer lebendigen Ganzheit – wie unterschiedliche Organe eines Körpers üben sie in der Gesellschaft unterschiedliche Funktionen aus, sind aber untrennbar miteinander verbunden. (Ebd.: 174f.)

Eine wichtige Etappe im gegenseitigen interkulturellen Übergang, auf die Jelinek nur flüchtig verweist, ist das Erlernen der Sprache des Zufluchtsstaates, das von Erpenbeck mit dem Titel ihres Romans, der an eine Konjugationsübung erinnert, aufgerufen wird. Gehen, ging, gegangen – so lernen Menschen die Grundformen einer fremden Sprache. Aus dem fortwährenden Ortswechsel von Flüchtlingen ergibt sich allerdings die wiederholte Unterbrechung ihres Deutschunterrichts, so dass sie sich schließlich in ihrer neuen Welt nicht ausreichend ausdrücken und vertreten können. Da der Mensch, so Heidegger, erst durch die Wechselwirkung mit seiner Mitwelt existiere und da diese Wechselwirkung sich vor allem in der Sprache artikuliere, ist das Erlernen der Sprache, die am Zufluchtsort gesprochen wird, eine wesentliche Bedingung für die Existenzbestätigung, nach der sich die Flüchtlinge sehnen. Um wahrgenommen und in ihrem Daseinsrecht anerkannt zu werden, müssen sie »durch die autonome Rede [ihren] Welt- und Selbstbezug eigens strukturier[en]« (ebd.). Um das Ausgegrenztsein der Flüchtlinge, das auf ihrer Unfähigkeit mitzureden beruht, zu beenden, erteilt auch Richard ihnen als ›volunteer‹ Sprachunterricht. Seine Schüler wissen, dass die Sprache des Zufluchtsortes ihre Brücke »geradenwegs in die Zukunft hinein« (Erpenbeck 2015: 191) ist, und dass die Aussichtslosigkeit ihrer Zukunft zu ihrer sprachlichen Entwurzelung noch mehr beiträgt, denn es »ist schwer, eine Sprache zu lernen, wenn man nicht weiß, wozu.« (Ebd.: 95) Somit lässt Erpenbeck ihre Hauptfigur ihren neuen Freunden auch beim Einstieg in eine bessere Zukunft, in der sie ein selbstbestimmtes Leben führen können, Hilfe leisten. Richards Begleitung von Flüchtlingen zur Ausländerbehörde, zu Rechtsanwälten und zu Ärzten, seine Angebote von Gelegenheitsarbeiten bzw. seine materielle und moralische »Unterstützung bei der Entwicklung ihrer beruflichen Perspektiven« (ebd.: 299), profilieren ihn als »Pionier der Willkommenskultur« (Schneider [Stand: 1.9.2017]). Deutlich wird hier erneut die Gegenseitigkeit der Beziehung zwischen Richard und den Flüchtlingen, deren Hilfsbedürftigkeit ihn von seiner Einsamkeit losreißt und in eine neue Lebensphase geleitet:

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Wann ist der Übergang passiert, der aus ihm, dem mit den großen Hoffnungen für die Menschheit, einen Almosengeber gemacht hat? [...] [I]rgendwann unterwegs ist er eingeknickt und versucht nun im Kleinen, wie man so sagt, hier und da, wo es halt möglich ist, das eine oder das andere Gute zu tun. (Ebd.: 217)

Richards Übergang in eine neue Lebensphase fällt mit seinem Übergang in ein neues Lebensjahr zusammen. In der letzten Romanszene feiert er mit seinen weißen und schwarzen Freunden Geburtstag. Symbolisch lässt sich diese Geburtstagsfeier als Signal für einen Übergang zu einem anderen Umgang mit Fremden in Europa deuten: Als es zu dämmern beginnt, und Richard die Spirituslaternen anzündet, ruft Raschid: Wie in Afrika! Ein Gruppenfoto!, ruft daraufhin Anne, die Fotografin. Bevor es ganz dunkel ist! Und nun hockt sich Raschid mit der Laterne in der Hand [...], beleuchtet damit die schwarzen und weißen Gesichter rings um ihn her und fühlt sich ganz wie zu Hause im fernen Kaduna. (Ebd.: 342)

Mit diesem Neubeginn endet der Roman, nicht aber die Flüchtlingsproblematik. Zwar gibt Erpenbeck durch die Endszene Hoffnung auf die Transformation Europas im Umgang mit Flüchtlingen – realisiert wird dieser Übergang aber nur auf der individuell-privaten, nicht auf der kollektiven bzw. politischen Ebene. Neben dem Staat bleibt auch der größte Teil der Gesellschaft bei seiner anfänglichen Haltung: Die Berliner insgesamt, sagen, was sie schon vor zwei Jahren gesagt haben, als die Männer aus Italien nach Deutschland gekommen sind, um in Zelten auf dem Oranienplatz zu wohnen, und was sie auch vor einem halben Jahr gesagt haben, als die Männer den Platz räumten: Wozu gibt es das Gesetz Dublin II, das die Zuständigkeit regelt? (Ebd.: 331)

Richards Einstellungs- und Verhaltensänderung bleibt damit im Kontext des Romans eine Ausnahme – zweifellos aber eine solche, an der sich Erpenbeckes Leser ein Beispiel nehmen sollen.

LITERATUR Aischylos [466 v. Chr.]: Die Schutzflehenden, Kapitel 2; online unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-schutzflehenden-4497/2 [Stand: 29.12.2017].

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Baasner, Rainer (1996): Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Unter Mitarbeit von Maria Zens. Berlin. Barthes, Roland (1978): Über mich selbst. Berlin. Barthes, Roland (2000): Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart, S. 185-193. Berger, Jürgen (o. J.): »Theater der Welt« startet mit Jelinek. Die Katastrophe namens Lampedusa; online unter: http://www.spiegel.de/kultur/ gesellschaft/theater-der-welt-startet-mit-jelinek-die-schutzbefohlenen-a971564.html [Stand: 23.9.2017]. Busch, Nicolai (2016): Mythos Europa. Dekonstruktion in Elfriede Jelineks »Die Schutzbefohlenen«. Ein Essay; online unter: https://jelinetz.com/ 2016/04/ 06/nicolai-busch-mythos-europa-dekonstruktion-in-elfriede-jelineks-dieschutzbefohlenen [Stand: 11.10.2017]. Erpenbeck, Jenny (62015): Gehen, ging, gegangen. München. Genette, Gérard (1993): Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. Jelinek, Elfriede (2013): Die Schutzbefohlenen; online unter: http:// www.elfriedejelinek.com/fschutzbefohlene.htm [Stand: 24.7.2017]. Kristeva, Julia (1972) [1967]: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. Aus dem Französischen von Michel Korinman und Heiner Stück. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Band 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II. Frankfurt am Main, S. 345-375. Kristeva, Julia (1978) [1974]: Die Revolution der poetischen Sprache. Aus dem Französischen von Reinhold Werner. Frankfurt am Main. Lachmann, Renate (1990): Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. Nünning, Ansgar (Hg.; 32004): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze-Personen-Grundbegriffe. Dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart. O.A.: Literaturtheorien im Netz. Online-Seite der Freien Universität Berlin. http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/littheo/glossar/index. html. [Stand: 07.07.2017]. O.A.: Poeticon: Online-Lexikon für poetische Verfahren. http://www.poeti con.net/intertextualitat/ [Stand: 11.07.2017]. Otto-Friedrich-Universität Bamberg (2009): Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft I. Überblick zu Literaturwissenschaftlichen Theorien/Modellen und Methoden (Auswahl). Bamberg.

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Vom Norden in den Süden, vom Süden in den Norden Vertikale Fluchtlinien und die Bedeutung des Topographischen in Bodo Kirchhoffs Widerfahrnis

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Ivo Theele (Flensburg)

Bodo Kirchhoffs im Herbst 2016 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Novelle Widerfahrnis steht beispielhaft für eine deutschsprachige Gegenwartsliteratur, die sich zunehmend mit aktuellen Fluchtbewegungen auseinandersetzt, sowie einen Literaturbetrieb, der diesen Werken zunehmend literarische Qualität zuspricht. In ihrer Begründung nennt die Jury Kirchhoffs Widerfahrnis einen »vielschichtige[n] Text, der auf meisterhafte Weise existenzielle Fragen des Privaten und des Politischen miteinander verwebt und den Leser ins Offene entlässt« (Deutscher Buchpreis 2016).2

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Teile dieses Aufsatzes wurden von mir bereits in der Zeitschrift Der Deutschunterricht (Themenheft »Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Literatur«, Heft 1, 2018) publiziert. Der vorliegende Aufsatz setzt aber einen anderen Schwerpunkt und untersucht einige zusätzliche Aspekte.

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Bereits 2015 wurde mit Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen ein Werk auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises aufgenommen, das sich mit der aktuellen Fluchtthematik befasst (vgl. hierzu auch den im Sammelband vertretenen Aufsatz von Mumina Hafez Abd El-Barr). Eine ähnliche Beobachtung lässt sich überdies für den Bereich der Kinder- und Jugendliteratur machen, in dem mit dem Kinderbuch Die Flucht von Francesca Sanna (2017) ein Werk für den Jugendliteraturpreis nominiert bzw. mit Sommer unter den Flügeln von Peer Martin (2016) eines gar mit dem Preis der Jugendjury ausgezeichnet wurde.

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Als Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit dem Werk habe ich die herausgehobene Bedeutung des Topografischen gewählt, die u.a. in zwei einander entgegengesetzten und sich begegnenden Fluchtbewegungen von Süd nach Nord und umgekehrt sowie in der unterschiedlichen Wahrnehmung von Flucht-Orten erscheint.

1. SEHNSUCHT NACH EINEM SPÄTEN ABENTEUER ODER: GEFLÜCHTETE IN ANFÜHRUNGSZEICHEN Topografischer Ausgangspunkt für die Novelle ist eine vorwiegend von Senioren bewohnte Residenz im Weissachtal, die ›Wallberg-Apartments‹, in der sich die beiden Protagonisten Julius Reither und Leonie Palm nach ihrem beruflichen Scheitern niedergelassen haben. Reither musste seinen belletristischen Verlag aufgeben, weil es »allmählich mehr Schreibende als Lesende gab« (Kirchhoff 2016: 10), Palm hingegen sah sich gezwungen, ihr Hutgeschäft aufzulösen, weil es für ihre »Hüte immer weniger Gesichter [gab]« (ebd.: 15). Beiden jedoch will es nicht so recht gelingen, sich mit der endgültigen Ruhe, die in der Wohnanlage vorherrscht, zu arrangieren. Die passiven (Reither) und aktiven (Palm) Suchbewegungen der beiden treffen an Reithers Wohnungstür aufeinander. Was sich im Folgenden daraus entwickelt, ist, folgt man Goethes Auffassung, die erste für eine Novelle charakteristische ›unerhörte Begebenheit‹ (vgl. Eckermann 1976: 225). Denn es bleibt nicht bei der von Palm zunächst angedachten Verabredung eines Gesprächs über Literatur für den nächsten Vormittag: Stattdessen entsteht einige Zigaretten und Gläser Wein später, wohlgemerkt mitten in der Nacht, die Idee eines spontanen Ausflugs zum nicht weit entfernten Achensee, um dort gemeinsam den Sonnenaufgang anzusehen. Der plötzliche Aufbruch lässt sich auch als ›Flucht‹ deuten – die wenigen notdürftig gepackten Sachen sowie die nächtliche Aufbruchszeit deuten darauf hin. Es wäre eine ›Flucht‹ vor einem ereignisarmen, einsamen letzten Lebensabschnitt, der nichts Überraschendes mehr bereithält. So merkt Palm beispielsweise an: »[W]enn nichts Unerwartetes mehr auf uns zukommt, sind wir tot.« (Kirchhoff 2016: 22) Allerdings handelt es sich um eine völlig andere, weil nicht existenzielle Art von Flucht, als jene der etwa aus Afrika Geflüchteten, die im weiteren Verlauf der Novelle ebenfalls thematisiert wird.3 Reither und Palm bekom-

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Kirchhoff lässt diese beiden Arten von Flucht gegeneinander laufen – vermutlich verbunden mit der Absicht, die existenziell nicht notwendige ›Flucht‹ (die ich daher hier

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men übrigens, durchaus symbolträchtig, ausgerechtet von einer Geflüchteten Starthilfe für ihre eigene ›Flucht‹: Aster, die den Fluchtweg von Eritrea nach Süddeutschland bewältigt hat und nun als eine von zwei Empfangsdamen in der Seniorenwohnresidenz arbeitet, gelingt es, Palms Auto trotz der leeren Batterie zum Fahren zu bringen. »Nicht das erste Auto, das ich anschiebe, sagte sie und öffnete dem Aufbruch damit Tür und Tor« (ebd.: 39). So kommt es, dass »die Evidenz der Welt mit Abermillionen von Fluchtgeschichten, […] sich im Gehäuse eines Autos [verlor], als die Palm noch eine Faust an seine Schulter drückte und He, wir verreisen rief.« (Ebd.: 43) Wie groß gerade bei Reither auch die Sehnsucht nach einer späten Liebe und diese ursächlich für den Aufbruch ist, wird im Verlauf der ›Flucht‹ immer wieder deutlich: So bemerkt er an einer Mautstelle sein »pochende[s] Herz[]« und dass dieses »seit Jahr und Tag nur für ihn selbst schlug«. Ihm kommt daraufhin der Begriff »Blindpumpwerk« (ebd.: 64) in den Sinn, eine mechanische Anlage also, die zwar sein Überleben zuverlässig gesichert hatte, aber ansonsten nicht weiter von ihm bemerkt wurde.

2. BEWEGUNGSLINIEN – ZUR BEDEUTUNG DES TOPOGRAFISCHEN Das zunächst während der Unterhaltung in Reithers Wohnung auserkorene Ziel des Aufbruchs, der Achensee, wird mit fadenscheinigen Begründungen schnell verworfen. Stattdessen geht es für die beiden Pensionäre ohne konkretes Ziel weiter über den Brenner gen Süden: »Über alle Berge, Leonie, das wollten Sie doch« (ebd.: 53), kommentiert Reither nicht ohne ironischen Verweis auf den fluchtartigen Aufbruch. Nach und nach kristallisiert sich der Süden Italiens als Ziel ihrer ›Flucht‹ heraus. Die Zwangsläufigkeit gründet sich dabei in der Verankerung Italiens als bildungsbürgerlicher Sehnsuchtsort, als ein Ort der Kultur und der ›Dolce Vita‹. Bei Reither ist dies zunächst familiär bedingt: Während sein Vater, ein Lateinlehrer, sein ganzes Leben dem alten Rom gewidmet hat, ohne jemals selbst dort gewesen zu sein (vgl. ebd.: 66), äußerte seine Mutter auf dem Sterbebett als plötzliche Eingebung den (allerdings nicht mehr umsetzbaren) Wunsch, unbedingt noch Italien sehen zu müssen (vgl. ebd.: 57-58). Doch auch in Reithers eigener Biographie ist Italien emotional verortet: »Er kannte die Strecke, er kannte sie nur zu gut« (ebd.: 80), wie der Leser (und später auch

auch in einfache Anführungszeichen setze) als typisches ›first world problem‹ zu entlarven.

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Palm) erfährt. Und es war eigentlich »eine Richtung, in die er nie mehr hatte fahren wollen.« (Ebd.: 88) Es zeigt sich, dass Reither die Strecke bereits mit seiner ehemaligen, damals schwangeren Partnerin absolviert hat, und die Reise dann in Bari damit endete, dass beide sich gegen eine späte Elternschaft entschieden (wobei angedeutet wird, dass bei dieser Entscheidung offenbar vor allem Reither die treibende Kraft gewesen war). Im Gegensatz zu Reither ist Italien für Palm weitgehend unbekanntes Terrain: »[I]ch war nur einmal in Rom und in Venedig. Man kann fast sagen: Ich war noch nie in Italien.« (Ebd.: 57) Allerdings lässt sich Italien auch im kulturellen Gedächtnis verorten – und dies insbesondere in der Vorstellung des deutschen Bildungsbürgertums (zu dem Reither und Palm zweifellos zu zählen sind). Dort ist Italien ebenfalls ein Sehnsuchtsort, ein imaginiertes ›Arkadien‹,4 mit weit zurückreichender Tradition, das vor allem in zahlreichen (literarischen) Reiseberichten Niederschlag gefunden hat und deren zumeist idealisierte Landschafts- und Kulturbeschreibungen bis in die Gegenwart fortwirken. Goethes Italienerfahrung, sicherlich die bekannteste, war dabei auch »das Paradigma eines Fluchtsyndroms«. Die Konfrontation mit dem Fremden führte bei ihm wie auch zahlreichen anderen Literaten »zu Selbstfindung, v.a. wenn die Antike als Bezugspunkt für die Erfahrungen moderner Italienreisender dient« (Brunner 2014: 61). Wenngleich Reisen nach Italien in erster Linie Bildungsreisen waren, erscheint Italien »auch als Land der Verführungen und Bedrohungen« (ebd.: 70). Joachim Wieder erklärt sich die »zauberische Anziehungskraft« Italiens für die Deutschen nicht zuletzt mit der »Sehnsucht nach einem Sinne und Geist anregenden, leichteren Dasein unter südlicher Sonne.« (Wieder 1980: 134) Während die ›Fluchtlinie‹ von Reither und Palm also gen Süden dem bildungsbürgerlichen Sehnsuchtsort Italien zustrebt (und sich die genannten Konnotationen in Reithers und Palms Wahrnehmung von Italien wiederfinden), treten im Verlauf der Handlung zunehmend weitere Fluchtlinien in Erscheinung, die der bisher beschriebenen diametral entgegengesetzt von Süden nach Norden verlaufen: Es ist die gängige Route von zumeist aus Afrika stammenden Geflüchteten, die sich über das Mittelmeer und Italien in Richtung verschiedener nordeuropäischer Staaten bewegen und, wie sich gegen Ende der Novelle am Beispiel des aus Nigeria geflüchteten Taylor zeigt, mit Deutschland einen anderen Sehnsuchtsort als Ziel ihrer Flucht auserkoren haben. Im Gegensatz zu thematisch ähnlich gelagerten Werken der Gegenwartsliteratur5 wird Deutschland

4

Zum Arkadien-Topos in der Literatur vgl. Garber (2009).

5

Im Roman Wenn gefährliche Hunde lachen von Maxi Obexer (2011) wird dieser Aspekt weit umfangreicher verfolgt. Bedingt durch die Erzählinstanz, die mit Helen

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bzw. (Nord-)Europa als Sehnsuchtsort für geflüchtete Menschen in Kirchhoffs Novelle jedoch nicht weiter ausgebreitet bzw. als explizite Leerstelle belassen (etwa indem besagter Taylor auf Reithers Fragen mit Gegenfragen reagiert und auf diese Weise kaum etwas von sich und seinen Fluchtmotiven verrät). In der literaturwissenschaftlichen Forschung herrscht Einigkeit darüber, dass »Raum […] in literarischen Texten nicht nur Ort der Handlung, sondern stets auch kultureller Bedeutungsträger [ist].« (Hallet/Neumann 2009: 11) Zugleich gilt, dass »›Raum‹ ohne ›Bewegung‹ nicht denkbar ist«, denn: »Literaturwissenschaftlich gesehen ergibt sich diese Interpendenz bereits aus dem Umstand, dass Räume in literarischen Texten immer in einer Beziehung zu sich darin bewegenden oder zu wahrnehmenden Individuen stehen.« (ebd.: 20) Die beiden in Widerfahrnis beschriebenen Fluchtlinien durchziehen, zumindest partiell, mit Italien bzw. Südeuropa ein und denselben Raum. Für Reither und Palm, aber auch für die zunächst namenlosen Geflüchteten aus dem Süden gilt dabei gleichermaßen: »Verortungen im Raum [sind] so gut wie immer mit orientierenden bzw. explorierenden Bewegungen verbunden […], mittels derer Räume aktiv in Anspruch genommen, vermessen und durchquert, Raumgrenzen ausgelotet und überschritten werden.« (Ebd.: 21) Die Wahrnehmung des Raumes bei Reither und Palm kommt dabei dem touristischen Entdecken eines gemeinsamen bildungsbürgerlichen Sehnsuchtsortes gleich, so bezeichnet Reither ihre Fahrt als »reine Augensache, fahren und schauen; er zeigte nur auf die Kuppe des Ätna über Wolkenbändern, wie gelöst von der Masse des Berges, schwebend, und sagte Schau nur.« (Kirchhoff 2016: 118). Sie kann dennoch als exploratives Raumdurchschreiten bezeichnet werden, etwa als sie auf der Suche nach einer Unterkunft in die immer enger werdende Innenstadt von Catania fahren: Reither bog in eine Straße, die sich schon nach kurzem zur Gasse krümmte; immer mehr Menschen musste er ausweichen, weil die Gasse wohl ihr Vorzimmer war, Männern, die einfach herumstanden, redeten und rauchten, junge Afrikaner zumeist, dazwischen auch einzelne Ältere, wie wartend auf nichts. (Ebd.: 120)

Im Gegensatz dazu besitzt derselbe Raum für die Geflüchteten aus dem Süden von Beginn an einen existenziellen Charakter – auch wenn die personale Erzäh-

vorwiegend eine geflüchtete Frau aus Nigeria als Fokalisierung wählt (vgl. hierzu auch den im Sammelband vertretenen Aufsatz von Riham Tahoun), wird für den Leser erfahrbar, wie Europa als Ziel-Ort von den Geflüchteten so weit idealisiert wird, bis es letztlich mehr Utopie denn Realität ist.

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linstanz (Reither) dies nur subtil andeutet, wird für den Leser deutlich, dass für die Geflüchteten derselbe Raum weniger ›Erlebnisraum‹ als ein ›Überlebensraum‹ ist, der sie vor immer neue Herausforderungen stellt: So finden Reither und Palm kurz zuvor an der Lichtung eines Olivenhains »Plastikflaschen neben aufgeweichten Kartons, […] eine Feuerstelle, rußige Steine in einem Ring um schwarzes Holz« sowie einen »Bewässerungslauf, an einer Stelle provisorisch gestaut, mit Steinen, mit Lumpen, mit Zweigen […]. Es war ein Waschplatz, so aufgegeben wie das Tageslager mit der Feuerstelle.« (Ebd.: 98f.) Entsprechend sind auch die materiellen Voraussetzungen, unter denen die jeweiligen Fluchtverläufe in Wiederfahrnis absolviert werden, geradezu konträr. Während sich im Umfang ihres ›Gepäcks‹ die einzige Übereinstimmung finden lässt (sowohl Reither und Palm als auch die zumeist aus Afrika Geflüchteten haben das wenige Hab und Gut, das sie mit sich führen, in einer oder wenigen Tüten bzw. Bündel verstaut – Reither und Palm fallen dadurch dem Besitzer ihrer Unterkunft auf [vgl. ebd.: 122], Reither macht diese Beobachtung bei den Geflüchteten von der Autobahn aus [vgl. ebd.: 90]). Ein grundlegender Unterschied besteht aber darin, dass Reither und Palm während ihrer ›Fluchtroute‹ keinen Bewässerungslauf stauen müssen, um ihre wenigen Kleidungsstücke zu waschen (vgl. den oben genannten verlassenen Waschplatz der Geflüchteten, ebd.: 99), sondern finanziell in der Lage sind, sich spontan in einer Shopping-Mall – durchaus dekadent – mit neuen Dingen einzudecken: [Sie, Reither und Palm; I.T.] zogen […] in das nahe Kaufhaus und besorgten, was für unterwegs noch fehlte, für sie beide Zahnbürsten und eine gemeinsame Zahnpasta, da waren sie sich schnell einig, und für die Palm zwei T-Shirts, Wäsche und eine Jeans, desgleichen für ihn, Reither, bis auf die Jeans; dafür kaufte er noch Rasiersachen und eine Sonnenbrille, das Polizeimodell á la Hollywood […]. Und danach noch ein Gang durch die Lebensmittelabteilung, dort kauften sie Wasser in großen Flaschen, Brot, Schinken und Käse und guten Rotwein samt einem Korkenzieher. (Ebd.: 76)

3. GRENZ-ÜBERGÄNGE Darüber hinaus ist jedoch auch das Ausloten und Überschreiten von Raumgrenzen in der Novelle von immenser Bedeutung. Durch die für EU-Bürger vorherrschende Reisefreiheit innerhalb Europas sind die zumeist stillgelegten Grenzstationen für Reither und Palm nur noch Relikte aus einer vergangenen Zeit. Für beide gilt es auf ihrer ›Flucht‹ lediglich noch die verschiedenen Mautstationen zu passieren, die Grenze selbst wird von ihnen dabei kaum noch als eine solche

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wahrgenommen – »Wir sind übrigens seit eben in Italien«, merkt Reither geradezu beiläufig an (ebd.: 63) – wie das Passieren der Grenzstation am Brenner zeigt: »[I]ch sehe nur, dass es schon über den Brenner geht«, äußert sich Palm, »oder was ist das hier? Sie zeigte auf das alte Grenzgebäude, stillgelegt, nur mehr graues Gestein« (ebd.: 62). Dabei wird auch die neue Bestimmung der Grenzregion deutlich: »[R]ingsherum neue kastanienförmige Großbauten, hingestapelt wie von Kinderhand, Warenlager mit Outletverkauf, um den Pass damit wiederzubeleben.« (Ebd.) Das Passieren der Mautstellen wird dabei im Verlauf der Fahrt für Reither und Palm zu einem wiederkehrenden Ritual, das voreinander mit demonstrativer Gelassenheit vollzogen wird: Beide rauchen, auf der Fahrerseite wird das Fenster geöffnet, der Beifahrer reicht ein wenig Geld bzw. das Mautkärtchen herüber, welches durch das Fenster zum Kassenhäuschen gegeben wird. Das Wechselgeld wird gegebenenfalls noch dem Beifahrer zurückgereicht, bevor sich die Schranke öffnet und die Fahrt fortgesetzt werden kann (vgl. ebd.: 55, 64 u. 69). Gelegentlich bleibt dabei sogar noch Zeit und Raum für ein wenig Romantik, wenn etwa Palm bei der Wechselgeldübergabe nach Reithers Hand greift und diese fest umschließt (vgl. ebd.: 70). An mehreren Textstellen wird deutlich, dass die innereuropäischen Grenzen ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben. Sie sind stattdessen einem ökonomischen Zweck überführt worden, der (bei entsprechendem finanziellen Hintergrund und der ›richtigen‹ Staatsbürgerschaft) kein nennenswertes Hindernis mehr darstellt. Die Grenzüberschreitung ist zum selbstverständlichen Akt geworden, dem explorativen Raumdurchschreiten von Reither und Palm innerhalb Europas sind im worteigenen Sinne keine Grenzen mehr gesetzt. Die hier beschriebenen Umbrüche transformieren also »nicht zuletzt […] die territorialen Grenzen selbst – und damit auch die Bedingungen ihrer illegalen Überschreitung. Viele Demarkationslinien […] sind so durchlässig geworden, daß Grenzgänger sie kaum noch bemerken; andere, so die Außengrenzen der EU, werden schärfer kontrolliert denn je.« (Kaufmann/Bröckling/Horn 2002: 20) Für die Geflüchteten aus dem Süden dagegen bedeutet bereits die Überwindung von Europas Außengrenzen, die im Zuge des Funktionsverlusts der innereuropäischen Grenzen an Bedeutung gewonnen haben, der Schritt in die Illegalität. Ihre Bewegungen in Richtung Norden sind aus juristischer Sicht fortwährende illegale Grenzübertritte, wie sich in Widerfahrnis ebenfalls an der jeweiligen Wahrnehmung des Raumes und dem damit verbundenen Verhalten ablesen lässt. Während Reither und Palm beispielsweise (selbst)sicher und entspannt den zentralen Marktplatz von Catania erkunden und dabei ihren Blick auf touristische Sehenswürdigkeiten wie dem Brunnen und den schwarzen Elefanten richten, ist der Blick von Geflüchteten wie dem namenlosen Mädchen, das sich

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ihnen später anschließen wird, am selben Ort auf andere Dinge gerichtet: einerseits auf (mutmaßliche) Touristen wie eben Reither und Palm (die eine ›Einnahmequelle‹ versprechen), andererseits aber immer wieder auch in Richtung Polizei, die für sie eine Bedrohung darstellt. Als Reither und Palm gemeinsam mit dem geflüchteten Mädchen im Außenbereich eines Restaurants an einem Tisch sitzen und der Wirt die Bestellung in sein Headset spricht, scheint »das Mädchen irgendetwas verstanden zu haben, es sah ruckartig über die Schulter zu der Straße vor dem Bahndamm, als drohte von dort Gefahr.« (Kirchhoff: 134) Der angstvolle Blick erweist sich als begründet, da nur wenig später zwei Polizisten auftauchen und das Mädchen dazu veranlassen, vom Tisch aufzuspringen und zu flüchten (vgl. ebd.: 138). Die von Angst und Unsicherheit geprägte Existenz von Geflüchteten in der Illegalität wird darüber hinaus auch am Ende des Romans nochmals aufgegriffen, als die Frau von Taylor, der Reither in dessen Verzweiflung hilft und verarztet, auf Zuruf und nur zögerlich mit ihrem Neugeborenen aus dem »Dunkel zwischen den Containern« (ebd.: 209) hervortritt, wo sie sich versteckt hatten. Es wird deutlich: Die beiden Arten von Flucht, die Kirchhoff in Widerfahrnis gegeneinander laufen lässt, lassen sich in ihren unterschiedlichen Bedingungen, den damit verbundenen Wahrnehmungen, Zielsetzungen und Wunschvorstellungen (der kulturelle Sehnsuchtsort Italien steht dem existenziellen Bedürfnis von Verbesserungen der Lebensbedingungen gegenüber) nur als Gegensatz begreifen. Eine Erkenntnis, die dem Protagonisten Reither erst langsam, dafür aber umso nachdrücklicher kommt.

4. KONFRONTATION MIT GEFLÜCHTETEN, OHNE ANFÜHRUNGSZEICHEN Am Bahnhof Brenner, einem Grenzbahnhof zwischen Österreich und Italien, bemerkt Reither überhaupt zum ersten Mal die sich in Richtung Norden bewegenden großen Gruppen von Geflüchteten: [E]iner der Bahnsteige nahe der Straße quoll über vor Menschen. Aberhunderte standen dort zu einer Masse gedrängt neben einem Zug mit wohl verschlossenen Türen, eine trotz des Lichts dunkle Schlange, aber mit Farbpunkten, von unzähligen Bündeln und Rucksäcken, von Decken, Mützen und farbigen Kopftüchern, von allem, was man nur tragen konnte. (Ebd.: 63)

Auch später noch ist die Vielzahl von Geflüchteten eine nur nebenbei wahrgenommene Kulisse – »eine Sekundensache« (ebd.: 90) am Rande der Autobahn

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oder eines Rastplatzes, an dessen Rand Reither schließlich »eine Art Bewegung« wahrnimmt, »ein Leben, als würden sich dort Tiere drängen«, bis er bemerkt, dass es »Menschen waren, an ihre Habe geklammert, Rücksäcke, Bündel, Plastiktüten.« (Ebd.: 70) Die Rolle als distanzierter Beobachter behält Reither zunächst noch bei, erst als er am nächsten Tag Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen einem Camper mit nervösem Hund und einer Gruppe von Geflüchteten wird, sieht er sich gezwungen, diese Position aufzugeben. Als er den Grund der Auseinandersetzung erfährt (der Geflüchtete wird beschuldigt, nachts einen Topf mit Hundefutter gestohlen zu haben) entscheidet sich Reither, den verängstigten Geflüchteten seine gerade erst getätigten Einkäufe zu überreichen (es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass er zuvor noch den Wein und den Korkenzieher herausnimmt, vgl. ebd.: 77-79). Den dargestellten inneren Konflikt, wie mit offensichtlich hilfsbedürftigen Menschen umzugehen ist, hat er damit zunächst für sich zufriedenstellend gelöst. Die folgende Bitte eines der Geflüchteten um Geld weist Reither schließlich entschieden zurück – »[D]amit war es gut, damit reichte es, wie man sagt« (ebd.: 79). An der Passage zeigt sich, dass die beiden dargestellten Fluchtlinien (von Nord nach Süd und umgekehrt) in Kirchhoffs Novelle nicht aneinander verbeilaufen, sondern sich an verschiedenen Stellen begegnen. Anhand dieser Kreuzungspunkte wird nochmals die polyvalente Bedeutung von Flucht-Orten (vgl. Wrobel: 10-11) deutlich: Als Reither und Palm etwa am späten Abend des ersten Tages beschließen, bei offenem Autoverdeck eine Nacht unter freiem Himmel zu verbringen, landen sie auf der Lichtung einer Olivenpflanzung. Während die Szenerie ihnen ein romantisches Erlebnis unter Sternen ermöglicht (inklusive Verköstigung mit Wein, Käse, Brot und Artischockenherzen), deuten sichtbare Spuren um sie herum (Plastikflaschen, aufgeweichte Kartons und ein Waschplatz mit Lumpen) darauf hin, dass am selben Ort Geflüchtete auf ihrem Weg nach Norden offenbar kurz zuvor eine weniger privilegierte Nacht verbracht haben (vgl. Kirchhoff: 98 f.). Ist die große Anzahl Geflüchteter in Richtung Norden für die beiden zunächst nicht wesentlich mehr als die Kulisse ihrer eigenen ›Flucht‹, so ändert sich dies grundsätzlich mit der Ankunft auf Sizilien. Denn mit dem Erscheinen eines geflüchteten Mädchens, das Reither erstmals vom Balkon der Unterkunft bemerkt, dem er zunächst zögerlich zuwinkt (was er bereits im selben Moment schon wieder bereut) und das fortan immer wieder den Kontakt zu ihm sucht, werden Reither und Palm (bedingt durch die Hartnäckigkeit des Mädchens) nun wesentlich nachdrücklicher als bisher mit der Thematik konfrontiert. Zwar versucht Reither, das Mädchen, das ein »fetzenartiges rotes Kleid, dazu Flipflops« trägt und dem um den Hals »etwas wie eine Scherbe« (ebd.: 123) hängt, zu-

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nächst mit etwas Kleingeld loszuwerden – ein im Verlauf der Handlung wiederkehrendes und durchaus fragwürdiges Muster, mit dem er den inneren Konflikt für sich zu lösen versucht. Da jedoch diesmal das nötige Kleingeld fehlt und der einzige Schein in seiner Hosentasche ihm zu groß zum Weggeben erscheint (vgl. ebd.: 129), bleibt der Konflikt bestehen. Dies führt dazu, dass das geflüchtete Mädchen während des romantischen Bummels durch die Altstadt hartnäckig immer wieder an ihrer Seite auftaucht. Mit der Halskette führt Kirchhoff auch das für eine Novelle charakteristische zentrale Motiv ein: Bereits beim ersten Aufeinandertreffen bietet das Mädchen Reither die Halskette zum Kauf an. In der Abenddämmerung fällt es ihm schwer, den Gegenstand richtig zu erkennen, aber auch später gelingt es ihm nicht, dessen Herkunft und Bedeutung zu erschließen. So hält er es etwa für möglich, dass der Anhänger »ein größerer Splitter von etwas [sein] konnte […], aufgesammelt nach einem Unfall, einer Explosion […] oder womöglich jener Granate, die ihre Eltern zerrissen hat« (ebd.: 156). Letztlich bleibt die Halskette mit dem Anhänger, bedingt auch durch die Sprachlosigkeit des Mädchens, ein Symbol für die Alterität und das Unbegreifliche, mit dem sich Reither durch das Mädchen konfrontiert sieht. Der Hintergrund des Mädchens bleibt trotz der (unbeholfenen und letztlich überschaubaren) Bemühungen Reithers ebenso in der Dämmerung verborgen wie der Anhänger der Halskette selbst. Reither und Palm nehmen sich, trotz einiger Unsicherheiten, schließlich aber doch des Mädchens an – und sie entscheiden sich gerade in Erwartung der ersten gemeinsamen Liebesnacht dazu. So bekommt die von Palm geäußerte und ursprünglich wohl nur auf die Liebe bezogene Wendung, dass kein Kuss gelinge, »ohne dass man sich selbst übertrifft« (ebd.: 103) eine neue, allerdings auch irritierende, weil ideologisch aufgeladene Bedeutungsebene: Indem Reither sich dazu entscheidet, sich eines hilfsbedürftigen Menschen wirklich, d.h. verbindlich, anzunehmen (und somit durch den humanitären Akt eine vermeintlich innere Vervollkommnung erreicht), gelingt ihm auch bei Palm der erste Kuss.

5. FLUCHTHILFE ALS AKT DER MENSCHLICHKEIT Während die Heimat, aus der das Mädchen geflohen ist, Reither und Palm bis zuletzt unbekannt bleibt (sie vermuten lediglich, dass es arabisch versteht, womit sich der Kreis möglicher Herkunftsländer nur grob eingrenzt), ist ihr Ziel im Gegensatz dazu nicht schwer zu erraten. Jedenfalls meint Palm ausgemacht zu haben, dass dem Mädchen »klar [ist], wo wir herkommen, und dort will sie hin.« (Ebd.: 158; auf die Leerstelle hinsichtlich des Ziel-Ortes der Geflüchteten in

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Kirchhoffs Novelle habe ich bereits hingewiesen.) Zunächst aber nehmen die beiden das Mädchen mit in die antike Stadt Taormina und während der gemeinsamen touristischen Besichtigung (die aufgrund der existenziellen Situation des Mädchens durchaus irritiert – Reither und Palm machen hier ihre bildungsbürgerliche Vorstellung geltend, dass man diesen Ort unbedingt gesehen haben muss – und als ein weiteres Beispiel für die polyvalente Bedeutung von (Flucht-) Orten angeführt werden kann), kommen Reither zum wiederholten Male familienähnliche Gedanken. Doch mit der Entscheidung, das Mädchen auf der Rückfahrt nach Deutschland mitzunehmen, ihr also zur Flucht zu verhelfen, tut sich Reither schwer. So äußert er gegenüber Palm immer wieder Einwände wie diese: »Wir können sie nicht einfach mitnehmen, soll man uns verhaften?« (Ebd.: 162), wenngleich immer auch deutlich wird, dass »ihm die Rechtslage nicht im Einzelnen klar war.« (Ebd.: 166) Während Reither also vor allem die juristische Dimension der Fluchthilfe beschäftigt (möglicherweise dient ihm diese auch als Alibifunktion) und er dabei im Kopf mögliche Konsequenzen (vor allem für sich selbst) durchspielt, reduziert Palm die angedachte Fluchthilfe auf die humanitäre Ebene (und bezieht ihre Gedanken somit in erster Linie auf die Geflüchtete und nicht auf sich selbst). Erst gegen Ende der Novelle wird offenbar, dass Palms vergleichsweise radikal humanitäres Handeln vor dem Hintergrund ihrer fortgeschrittenen Krebserkrankung zu sehen ist – sie demnach also wie ein geflüchteter Mensch selbst auch auf ganz existenzielle Fragen des Lebens zurückgeworfen ist. Schließlich aber gibt auch Reither seine Bedenken auf und rutscht gewissermaßen in die Tätigkeit der Fluchthilfe,6 einen humanitären und kriminellen Akt zugleich, hinein und er, der sonst so Vernunft gesteuerte, tut dies auch im Überschwang der Gefühle – vor allem für Palm, aber auch der zwar romantischen, aber letztlich nicht uneigennützigen Vorstellung einer (späten) Familie folgend (vgl. ebd.: 176; der biografische Hintergrund – Reithers Entscheidung gegen eine späte Elternschaft auf der früheren Italien-Reise – klingt hier für den Leser deutlich mit). Mit der differenzierten Darstellung der Tätigkeit der Fluchthilfe unterläuft Kirchhoff, wie andere Gegenwartsautoren übrigens auch,7 mutmaßli-

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Zum nicht unproblematischen Begriff der ›Fluchthilfe‹ (wie auch zu Begrifflichkeiten wie ›Schlepper‹, ›Schleuser‹ etc.) sowie der Abhängigkeit in der Bewertung dieser Tätigkeit von historisch-politischen Umständen vgl. die grundlegenden Überlegungen in folgendem Aufsatz: Theele (2017): hier 287-289.

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Der Fluchthelfer scheint in der Gegenwartsliteratur zum Thema Flucht eine für AutorInnen besonders interessante weil offensichtlich ambivalente Figur zu sein. Neben Obexers bereits genannten Roman Wenn gefährliche Hunde lachen nimmt die geleis-

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che Lesererwartungen hinsichtlich einer stereotypen Darstellung der Figur des ›Schleppers‹, wie sie als dämonisierte Figur im öffentlichen (vor allem medialen und politischen) Diskurs noch immer weitgehend vorherrscht, und berücksichtigt bei seiner Auseinandersetzung auch die (mögliche) differente Motivlage. Daher ist die geleistete Fluchthilfe auch die zweite ›unerhörte Begebenheit‹, von der die Novelle erzählt, schließlich verstoßen zwei ältere Menschen in vollem Bewusstsein gegen weit verbreitete moralische Vorstellungen und geltendes Gesetz – und sie tun es, um, ihrer Ansicht nach, humanitäre Hilfe zu leisten. So zeigt sich anhand der Figuren Reither und Palm, die zunächst Grenzen ganz legal passieren und dort, wo finanzielle Beiträge zur Grenzübertretung geleistet werden müssen (Mautstellen), dem bereitwillig Folge leisten – und die sich nun, auf ihrem Rückweg, auch für sich selbst überraschend, zu Fluchthelfern wandeln: »Konformität und Abweichung, geregelter Grenzverkehr und Grenzvergehen sind […] wechselseitig ineinander eingeschrieben.« (Kaufmann/Bröckling/Horn 2002: 8) Darüber hinaus wird aber auch deutlich: »Fluchthilfe als solche entzieht sich nicht nur einer klaren begrifflichen Definition und objektiven Beurteilung, sondern vor allem einer generellen moralischen Bewertung«, so der Soziologe Florian Schneider. Das hat vor allem damit zu tun, dass »der Fluchthelfer im Unterschied zum Schmuggler keine Waren transportiert, sondern ein lebendiges, ganz besonderes Gut: Menschen.« (Schneider 2002: 55) Die geleistete Fluchthilfe endet jedoch – insbesondere für Reither – in einem Desaster. Bereits bei der Fahrt auf die Fähre wird er aufgrund der stichprobenartigen Polizeikontrollen nervös (so mahnt er das Mädchen etwa an, Hut und, erneut symbolträchtig, die Halskette abzunehmen, vgl. Kirchhoff: 183). Im Bauch der Fähre verstärkt sich das Gefühl noch, und weil er befürchtet, dass das Mädchen den umherstehenden Sicherheitskräften in die Arme laufen könnte, verschließt er im Auto Fenster und Türen mit Kindersicherung. Infolgedessen aber gerät das Mädchen in Panik – eine Reaktion, die offensichtlich von traumatischen Erfahrungen im Kontext ihrer Flucht herrührt (hier zeigt sich erneut, wie an so vielen Stellen des Werkes, eine Leerstelle hinsichtlich der Perspektive der aus dem Süden Geflüchteten, die vom Leser zu füllen ist). Die Situation endet in tumultartigen Szenen, in denen Reither, zunächst noch im Bemühen, das Mädchen zu beruhigen, dann aber lediglich an der Flucht aus dem Auto zu hindern, handgreiflich wird (vgl. ebd.: 188). Während es dem Mädchen schließlich ge-

tete Fluchthilfe auch in ihrem Theaterstück Illegale Helfer sowie u.a. in Daniel Zipfels Roman Eine Handvoll Rosinen und Merle Krögers Kriminalroman Havarie (vgl. auch den Aufsatz hierzu von Elena Giovannini in diesem Band) eine herausgehobene Rolle ein.

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lingt zu entkommen, erleidet Reither bei der Auseinandersetzung eine Verletzung an der Hand, zugefügt durch den Anhänger der Halskette des Mädchens. Die erlittene Verletzung ist dabei ähnlich symbolträchtig wie der Anhänger selbst, sie ist »ein Klaffen […] entlang der Lebenslinie, als hätte sie jemand zur Gänze aufgeschnitten, um so das Geheimnis des Lebens freizulegen.« (Ebd.: 191) Durch die Auseinandersetzung verliert er nicht nur das Mädchen, das im Bauch der Fähre verschwindet (und somit auch die Aussicht auf ein spätes Glück einer familienähnlichen Konstellation), sondern auch seine Geliebte Palm, die sich, entsetzt über Reithers Brutalität, auf die Suche nach ihr begibt – und die er daraufhin ebenfalls nicht mehr auffinden kann. Im bemitleidenswerten Zustand wird Reither schließlich an einer Hafentreppe aufgefunden, ausgerechnet von einem Geflüchteten, der sich ihm als Taylor vorstellt. Nachdem dieser ihn fürsorglich verarztet hat, erfährt Reiter, dass sein Herkunftsland zugleich dem Sehnsuchtsort von Taylor und seiner Familie entspricht. Entsprechend folgt auch die direkte Bitte um Fluchthilfe: »Can you help us, Rider?« (Ebd.: 211) An Reithers Reaktion zeigt sich schließlich die Wandlung, die sich bei ihm vollzogen hat, denn diesmal wägt er nicht die juristische mit der humanitären Dimension der Fluchthilfe ab und benötigt niemanden, der ihn zur Hilfeleistung drängt. Vielmehr stellt er für sich selbst fest: [M]anchmal sind Dinge, die lange unmöglich erscheinen, zeitlebens fast, plötzlich ganz leicht, wie sich selbst loszulassen oder, aus umgekehrter Sicht, von sich abzurücken und für jemanden da zu sein, nicht irgendwann und irgendwo und auch nicht in Gedanken, also später, sondern gleich. (Ebd.: 215)

So legt Reither zum Ende der Novelle die ›Fluchtlinie‹ in umgekehrter Richtung zurück, und er absolviert sie als Fluchthelfer, um – diesmal tatsächlich uneigennützig – einer afrikanischen Familie einen Neuanfang in Deutschland zu ermöglichen.

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II. Migration und Mehrsprachigkeit

Flucht in den Norden Zum Einsatz von dokumentarischen Filmen in landeskundlichen Seminaren in Benin am Beispiel von ALS PAUL ÜBER DAS MEER KAM Friederike Heinz (Universität Abomey-Calavi, Benin)

1. EINLEITUNG Auf der Suche nach einem aktuellen gesellschaftlichen Thema, das Studierende der Germanistik im westafrikanischen Benin interessieren könnte, kommt man am Themenkomplex ›Migration und Integration‹ nicht vorbei. In Österreich und Deutschland bestimmen Fragen zur Flüchtlingspolitik die öffentliche Diskussion. Es ist abzusehen, dass dies in den kommenden Jahren ein bestimmendes Thema bleiben und die Gesellschaft wie das Zusammenleben nachhaltig verändern wird. Insgesamt tragen die Bilder der afrikanischen Bootsflüchtlinge im Mittelmeer seit einigen Jahren viel zur häufig stereotypen Wahrnehmung von Menschen afrikanischer Herkunft im deutschsprachigen Raum bei, was zum Verständnis vieler politischer und gesellschaftlicher Veränderungen in Deutschland wichtig ist. Für den landeskundlichen Kurs ›Allemagne d’aujourd’hui‹ wurde daher das Thema ›Flucht nach Europa – Zur Situation afrikanischer Flüchtlinge in Deutschland‹ gewählt, da in diesem Kurs das kulturelle Lernen über aktuelle politische, ökonomische oder gesellschaftliche Ereignisse und Phänomene in den deutschsprachigen Ländern im Mittelpunkt steht (vgl. DEG 2014: 56). Ausgehend von den mutmaßlichen Interessen der Studierenden wurde der Dokumentarfilm ALS PAUL ÜBER DAS MEER KAM (Preuss 2017) als Einstieg in die Thematik gewählt.

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Die Vermittlung von landeskundlichen Inhalten in der afrikanischen Auslandsgermanistik ist an besondere Herausforderungen wie große Teilnehmerzahlen, ein schlechter Zugang der Studierenden zu Informationsmedien, fehlende Bibliotheken, Distanz zum Zielland u.a. geknüpft. Die aktuellen Diskussionen über die Flüchtlingspolitik in Europa und in Deutschland zu deuten, stellt daher einen hohen Anspruch an das Vorstellungsvermögen der Studierenden. Anhand einer Analyse des Filmeinsatzes im Landeskundeseminar zum Thema Flucht und Migration, den zugehörigen didaktischen Überlegungen sowie einer Evaluation des Kurses reflektiert dieser Erfahrungsbericht die eigene Lehre und gibt Anregungen für den Einsatz des dokumentarischen Filmes ALS PAUL ÜBER DAS MEER KAM in einem landeskundlichen Seminar im nicht-europäischen Kulturraum. Zuvor soll der theoretisch-wissenschaftliche Bezugsrahmen dargestellt werden.

2. KONTEXT Die Studierenden des dritten Studienjahres des dreijährigen Licence-Studienganges ›Etudes Germaniques‹ an der größten staatlichen Universität AbomeyCalavi in Benin folgen, wie in vielen frankophonen Ländern Westafrikas üblich, einem stark strukturierten Curriculum, das im Klassenverband absolviert wird, d.h. die Studierenden eines Studienjahrganges besuchen alle zusammen bis zum 5. Semester dieselben Kurse. Erst im 6. Semester teilt sich die Gruppe nach den Optionen ›Linguistik/Didaktik‹, ›Interkulturelle Germanistik‹ und ›Literatur‹ (vgl. DEG Stand 2014). Am Ende jedes Semesters werden in der Regel mit einer schriftlichen Klausur die Lernergebnisse kontrolliert. Der Umfang des Seminars ›Allemagne d’aujourd’hui‹ betrug insgesamt 25 Stunden/ 2 SWS (1 Stunde SWS entspricht 60 Minuten) und es konnten zwei ECTS-Punkte dafür erworben werden. Die Lernergruppen sind recht groß, im genannten Kurs umfasste sie rund 90 aktiv teilnehmende Studierende. Das Sprachniveau der Studierenden variierte stark, im dritten Studienjahr wird ein B1-Sprachniveau vorausgesetzt, jedoch erreichen viele Studierende aufgrund schlechter Studienbedingungen dieses Sprachniveau nicht. Das Alter der Studierenden liegt zwischen 19 und 27 Jahren. Eine weitere Besonderheit ist die Geschlechterverteilung: Der Großteil der Studierenden ist männlich, was am insgesamt niedrigeren Bildungsniveau bei Frauen und damit auch an gesellschaftlich festgeschriebenen Geschlechterrollen liegen kann. Die meisten Studierenden haben keine Möglichkeit, einen Auslandsaufenthalt im deutschsprachigen Raum zu absolvieren: auch andere Kontakt-

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möglichkeiten mit muttersprachlichen Deutschsprechenden sind selten, daher ist die Distanz zum Zielsprachenland recht groß. Viele junge Beniner sind politisch interessiert, Nachrichten werden größtenteils über das Radio rezipiert (vgl. Uhlmannsiek 2014: 5). Die Studierenden haben gleichzeitig aber kaum Möglichkeiten, sich über fachliche Themen zu informieren, da es keine für alle zugängliche und aktuelle Fachbibliothek gibt. Vor allem die sozialen Medien dienen als Informationsquelle, viele Studierende haben ein Smartphone. Aufgrund hoher Mobilfunkgebühren für die Datennutzung benutzen aber viele nur die sozialen Medien (z.B. Facebook), für die es Sondertarife gibt.

3. ZIELE UND THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN 3.1 Überlegungen zum kulturbezogenen Lernen im nicht-europäischen Ausland Die konzeptionelle Offenheit des Seminars stellt es der Lehrperson frei, aktuelle Themen zu wählen und eigene Akzente zu setzen. In der Landeskundedidaktik hat sich nach dem ›cultural turn‹ das kulturelle Lernen als zeitgemäßes Konzept durchgesetzt. Dabei geht es bei der Lernzielbestimmung weniger um die Vermittlung von Fakten (kognitiver Ansatz), kommunikativen Konventionen (kommunikativer Ansatz) oder die Schulung von Perspektivwechsel und Haltungen (interkultureller Ansatz), sondern vielmehr um die Teilhabe an Diskursen in der Zielgesellschaft (vgl. Altmayer 2004, 2006). Die Verstehens- und Verständniskompetenz deutschsprachiger Texte und Diskurse steht im Mittelpunkt, auf der produktiven Seite wird die Partizipation an Diskursen und die Mitgestaltung und Veränderung von Diskursen betont. Zum Begriff des kulturellen Lernens schreibt Altmayer: Von ›kulturellem Lernen‹ soll also dann die Rede sein, wenn Individuen in der und durch die Auseinandersetzung mit Texten (in einem sehr weiten Sinn von Kommunikationsangeboten aller Art) über die ihnen verfügbaren Deutungsmuster reflektieren und diese so anpassen, umstrukturieren, verändern oder weiterentwickeln, dass sie den kulturellen Deutungsmustern, von denen die Texte Gebrauch machen, weitgehend entsprechen, sie diesen Texten einen kulturell angemessenen Sinn zuschreiben und dazu angemessen (kritisch oder affirmativ) Stellung nehmen könnten. (Altmayer 2006, S. 17)

Die Landeskunde habe daher die Aufgabe, so Altmayer, das Vertraute in Frage zu stellen, verfügbare Muster umzustrukturieren, zu erweitern oder zu ergänzen

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und die in deutschsprachigen Texten und Diskursen implizit verwendeten Muster zu identifizieren. Dieser Vorgang ist höchst komplex und nicht nur auf kognitiver Ebene zu bewältigen, sondern auch auf affektiver Ebene (vgl. Altmayer 2006, S. 18). Die Betonung der Verzahnung von Kognition und Emotion ist bei der Auswahl von landeskundlichen Themen daher ein wichtiger Aspekt, der sich als hochgradig individueller Prozess vollzieht und zwar im Sinne von »Deutungslernen oder deutungsmusteranknüpfendes Lernen« (vgl. Altmayer 2017: 4). Das Anknüpfen an bereits vorhandene Muster, die den Lernenden zur Verfügung stehen, wird dabei als zentraler Punkt bei der Auswahl von Material angesehen. Dabei sollten die im Unterricht einzusetzenden Materialien und die im Unterricht stattfindenden Interaktionen den Lernern Gelegenheit bieten, ihre eigenen Deutungsressourcen zu erproben, zu reflektieren und untereinander auszutauschen, der Unterricht sollte aber darüber hinaus auch die (irritierende) Erfahrung der Begrenztheit der jeweils eigenen Muster zulassen und sogar bewusst herbeiführen und auf diese Weise Anlass bieten, die eigenen Deutungsressourcen zu hinterfragen und weiterzuentwickeln oder neue aufzubauen – also im engeren Sinn zu lernen. (Altmayer 2017: 4) Es wird deutlich, dass die Auswahl des Themas sowie die Auswahl des Materials im Vorfeld didaktisch auf diese Prinzipien hin geprüft werden muss: Ist das Thema an Erfahrungswelten der Studierenden anknüpfbar? Wie können die Lernenden ermächtigt werden, Diskurse mitzugestalten, um das Lernziel »Diskurspartizipation« in der Zielsprache (Altmayer 2017: 4) zu erreichen? Hier werden die kommunikativen, interkulturellen und kognitiven Ansprüche der Landeskunde vor dem Hintergrund eines veränderten Kulturbegriffs vereint, der sich von den Vorstellungen der Nationalkultur löst. Letztendlich sollen die Lernenden sprechfähige ›global citizens‹ sein, die sich in einer multi- und transkulturellen Welt bewegen, wo sich Identitäten nicht mehr über Nationalidentitäten festschreiben lassen. Neben dem Lernziel der diskursiven Teilhabe ist auch das Lernziel des Fremdverstehens zu erläutern, das in der Konzeption des Seminars eine wichtige Rolle gespielt hat. Dies bedeutet, dass Fremdsprachenlernende •



die eventuelle ›Fremdheit‹ und Unverständlichkeit von fremdsprachigen Texten und Äußerungen prinzipiell auf diesen Texten/ Äußerungen möglicher Weise zu Grunde liegende andere und unbekannte kognitive Schemata zurückführen können; die ›fremden‹ Schemata als potenzielle Gründe, die für die mit fremdsprachigen Texten und Äußerungen erhobenen Geltungsansprüche sprechen könnten, rekonstruieren können;

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auf der Basis dieser Rekonstruktion der rationalen Gründe von Geltungsansprüchen dazu begründet Stellung nehmen, d.h. die Gründe als hinreichend akzeptieren oder als inakzeptabel zurückweisen können (Altmayer 2004, 70).

Doch welche Kriterien sind für die Themenwahl beim kulturellen Lernen wichtig? Schweiger u.a. stellen einige Orientierungshilfen für die Auswahl der Materialien vor: • • •

• •

• •

Das Material soll exemplarisch sein und zuverlässig relevante Themen anschaulich darstellen (vgl. Schweiger u.a. 2015: 7). Es sollen realistische und funktionale Einblicke in die Lebenspraxen des Sprachraumes angeboten werden (vgl. ebd.: 4). Der fremde Kulturraum sollte nicht homogenisiert werden (vgl. ebd.); vielmehr soll die Darstellung der Komplexität und Vielfalt des deutschsprachigen Lebensraumes entsprechen. Gesellschaftliche Probleme und Konflikte sollen dargestellt werden, harmonisierende oder beschönigende Texte sind zu vermeiden. Das Thema soll eine gesellschafts- und machtkritische Auseinandersetzung mit Klischees, Zuschreibungen und Unterstellungen ermöglichen, aber auch zur Eigeninitiative ermächtigen (vgl. ebd.: 5). Die Texte sollen authentisch sein. Der Unterricht soll lernerorientiert und partizipativ sein: Die Themenauswahl muss in Abstimmung mit Lernenden und unter Bezugnahme auf deren Vorwissen, Interessen, Bedürfnisse und Daseinserfahrungen getroffen werden (vgl. ebd.: 8).

Doch gerade diese Vorerfahrungen können in der Auslandsgermanistik nicht immer erwartet werden: zu groß ist oft die lebensweltliche Distanz. Erzählungen bieten hier eine Ressource der Überbrückung und sind in Gesellschaften, in denen orale Traditionen eine wichtige Rolle spielen, als Quelle des Lernens und der Anpassung und Bildung kultureller Schemata nicht zu unterschätzen. Der Dokumentarfilm ALS PAUL ÜBER DAS MEER KAM erfüllt mehrere dieser Ansprüche. 3.2 Zur Funktion von Filmen im Landeskunde-Unterricht Auch wenn der Einsatz von Filmen im universitären Kontext in Benin eine größere Herausforderung darstellt, sprechen doch zahlreiche Gründe dafür: Die wichtigsten Gründe für den Einsatz sind sicherlich die Neugier und Lern-

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Motivation, die der Film durch seine audiovisuelle Attraktivität bei Studierenden hervorrufen kann, die personale Bedeutung, das gleichzeitige Training rezeptiver Kompetenzen, die Förderung produktiver Kompetenzen oder der Ausbau intellektuell-literarischer Kompetenzen (vgl. Thaler 2010: 142). Köster (2017) nennt zusätzliche Vorteile: so werden Filme als authentische Kulturprodukte gesehen, die nonverbale und paraverbale Aspekte von Kommunikation im Kontext zeigen. Sie werden im Wechsel von Emotion und Kognition erlebt und fordern zu persönlichen Reaktionen und Stellungnahmen heraus: sie ermöglichen das interkulturelle Lernen und sie können durch die analytische Beschäftigung mit ihren Gestaltungsmitteln zu einer evaluativen Rezeptionskompetenz führen (vgl. Köster 2017: 243). Horstmann stellt neben interkulturellen Lernzielen zudem noch das Kennenlernen multikultureller und multilingualer Situationen, die Reflexion der Eigen- und Fremdkultur, die mediale Inszenierung zentraler Kulturthemen als Vorteil heraus (vgl. Horstmann 2010: 61). Filme ermöglichen also eine vermittelte indirekte Erfahrung des Fremden. Dabei stellt die Form des Dokumentarfilms eine besondere Situation dar. Dokumentarfilme bilden als non-fiktionale Filme mit Material, das in der Realität vorgefunden wird, Aspekte der Wirklichkeit ab. Kepser (2015: 9f.) betont allerdings, dass man einen Dokumentarfilm trotz seines faktualen Charakters als Kulturprodukt zu sehen habe. Die gezeigte Welt wird behauptet als eine natürliche und historische, die auf prinzipiell nachprüfbaren Fakten basiert […] Sofern darin Personen auftreten, handelt es sich normalerweise um reale Persönlichkeiten in ihren üblichen sozialen Rollen und nicht um Berufsund Laienschauspieler. […] Aber Achtung: Kein dokumentarischer Film gibt das, was man Wirklichkeit nennen kann, wirklich objektiv wieder: Es handelt sich stets um eine filmisch gestaltete Wirklichkeit. (Kepser 2015: 9f.)

Doch darin liegt auch das Potential von dokumentarischen Filmen: Sie erlauben eine intensive, authentische Partizipation an einer real scheinenden und fremden Welt. Sie können zur Erweiterung politischen, ökologischen und wirtschaftlichen Bewusstseins beitragen oder dieses auch erst schaffen (vgl. Kepser 2015: 9f.). Horstmann betont die Rolle der Lehrenden, die ihre eigene Position mit reflektieren müssen. Als Lehrender entscheiden wir, welche Wirklichkeits(re-) konstruktionen Gesprächsgrundlage werden und entscheiden, welche Gespräche dazu angeregt, zugelassen und gefördert werden (vgl. Horstmann 2010: 68). Sie plädiert daher dafür, dass die Filme so ausgewählt werden, dass Kultur und Interkulturalität ein Thema unter anderen seien und Protagonisten verschiedene Zugehörigkeiten haben, die zu Interessenkonflikten führen. Wichtig sei, dass

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sich die Positionen und Einstellungen der Personen verändern und die Protagonisten mit ihren Identitäten spielen (vgl. Horstmann 2010: 68). Der Schwerpunkt sei, so auch Lütge, auf die Komplexität und Vielschichtigkeit kultureller Kontakte zu richten (vgl. Lütge 2016: 458). Daher eignet sich der Film ALS PAUL ÜBER DAS MEER kam besonders, so die Hypothese. Der Film erzählt die Geschichte einer nicht konfliktfreien Freundschaft: der zwischen dem Flüchtenden Paul Nkamani aus Kamerun und dem deutschen Regisseur Jakob Preuss.

4. ZUR FILMAUSWAHL: A LS P AUL ÜBER DAS M EER KAM 4.1 Inhalt Der Traum von Europa, von einem besseren Leben, ist einer, den viele junge Afrikaner haben. Tausende von ihnen versuchen jedes Jahr das europäische Festland über das Mittelmeer zu erreichen. Auch wenn der Traum für viele tödlich, in Gefangenschaft in Libyen oder in Armut in Südeuropa endet, brechen sie doch täglich voller Hoffnung auf. So auch der junge Paul Nkamani im 97-minütigen dokumentarischen und preisgekrönten Film des Filmemachers Jakob Preuss (2017). Paul bricht aus dem frankophonen Kamerun auf, um ein besseres Leben zu suchen. Die Geschichte beginnt mit der Begegnung des Filmemachers mit dem Kameruner in einem Wald bei Nado, einer Stadt im Norden Marokkos, unweit von der spanischen Enklave Melilla, deren Grenze, eine hohe Mauer, viele Flüchtlinge zu überqueren suchen, um auf europäischen Boden zu gelangen, und die inzwischen zum Symbol der europäischen Abschottungspolitik geworden ist. Die Begegnung des Deutschen mit dem höflichen, hoffnungsvollen und religiösen Paul sowie die Entwicklung ihrer ungleichen Freundschaft ist neben der Flucht Pauls Thema des Filmes. Außerdem erlangt der Zuschauer Einblicke in die Arbeit eines Dokumentarfilmers. Zunächst sollte es ein Film über die Außengrenzen Europas werden – die schicksalhafte Begegnung des Filmemachers mit dem charismatischen Protagonisten veranlasste ihn jedoch, seinen Plan zu ändern. Diesen Prozess macht er im Film transparent, denn er wendet sich vom Phänomen ›Festung Europa‹ hin zu einem Einzelschicksal, welches das Ausmaß dieser Politik erfahrbar macht. Der Protagonist Nkamani gibt denvielen Flüchtenden ein Gesicht und eine Stimme. Nach ersten Begegnungen der beiden erzählt Paul dem Filmemacher seine bisherige Flucht, die filmisch in animierten Bildern nacherzählt wird. Die Wege der beiden trennen sich zunächst wieder, aber als Jakob Preuss einige Wochen später zufällig im Fernsehen von einer spektakulären Rettungsaktion eines sinkenden Flüchtlingsbootes vor Spanien er-

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fährt, erkennt er unter den Geretteten Paul Nkamani wieder und macht sich auf, um ihn in Spanien zu treffen. Der Filmemacher begleitet Paul von einem spanischen Gefängnis über Paris bis nach Berlin, wobei er die Haltung des distanzierten Dokumentarfilmers nicht einhalten kann und bald aktiv ins Geschehen eingreift. »Wenn nicht ich helfe, wer dann?«, fragt Preuss in einem der zahlreichen Kommentare, die er in den Film einstreut. Der fragende Charakter gibt Einblicke in die Gefühlswelt des Filmemachers, gleichzeitig repräsentiert er auch einen Teil des gesellschaftlichen Diskurses: die Stimme der Europäer, die die europäische Flüchtlingspolitik nicht verstehen und fragend nach Auswegen im zivilgesellschaftlichen Engagement suchen. Nicht unhinterfragt bleiben dabei die vorherrschenden Machtverhältnisse: So weckt der Filmemacher bei dem Flüchtenden Erwartungen auf einen Vorteil. Eine Stärke des Films ist, dass diese Erwartungshaltungen transparent gemacht werden. Auch seine privilegierte Position, sich frei in der Welt bewegen zu können, hinterfragt Preuss. Preuss begleitet Paul bei der Begegnung mit Mitarbeitern des Roten Kreuzes, anderen Migranten, dem Beratungsgespräch usw. Letztendlich führt Pauls Weg nach Berlin. Bald wird klar, dass sein Ansuchen auf Asyl kaum eine Chance auf Bewilligung hat, denn Kamerun gilt als sicheres Herkunftsland. Paul wurde von Freunden in Frankreich geraten, eine Frau zu heiraten, um doch noch in Europa bleiben zu können, aber das stellt sich als nicht so einfach heraus, wie es sich anhörte. Auch in dieser Hinsicht erhofft er sich Hilfe von seinem neuen Freund. Als Preuss beschließt, nicht mehr in das Geschehen einzugreifen, entstehen starke Szenen: An einem Busbahnhof im brandenburgischen Eisenhüttenstadt, wo Paul auf einen Bus wartet, um zu seiner Asylunterkunft zu fahren, wird ihm der Zutritt zum Bus verweigert, da er keinen Euro für das Ticket hat. Er erwartet Hilfe vom Dokumentarfilmer, doch als der sich weigert, die Rolle des neutralen Beobachters zu verlassen, ist sein kamerunischer Freund tief enttäuscht. Am Ende beschließt Preuss, sich komplett auf die Rolle des Freundes zu beschränken und lässt Paul bei seinen Eltern einziehen, Preuss‘ Vater bezahlt dem Gast einen Deutschkurs. Doch die Beziehung der beiden ist nicht einfach, wie Preuss durch die immer wiederkehrenden Fragen aufzeigt. Pauls konservative Ansichten zum Thema Grenzen beispielsweise fordern die Freundschaft heraus. 4.2 Didaktische Überlegungen Der Film ALS PAUL ÜBER DAS MEER KAM hat zum einen ein informatives Potenzial, da er eindrücklich die Gefahren und bürokratischen Torturen zeigt, die Flüchtlinge auf sich nehmen müssen, um ins vermeintliche Paradies zu gelangen, sowie die Konsequenzen der gegenwärtigen Flüchtlingspolitik Europas darstellt.

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Er hat zum anderen aber auch aus filmdidaktischer Sicht ein großes Potenzial, da die Grenzen des distanzierten Journalismus überschritten werden und das Entstehen von Dokumentarfilmen selbst thematisiert wird. Zudem zeigt der Film, wie problematisch und hegemonial die Beziehungen zwischen Europa und Afrika nach wie vor sind. Bei der Auswahl des Filmes wird von einem mittleren bis großen Identifikationspotential ausgegangen, das mit der Herkunft und der Situation des Hauptdarstellers begründet wird: Paul war in seiner Heimat, einem afrikanischen Land der ehemaligen Kolonialmacht Frankreichs, ein Student, der sich in einer Streikbewegung engagierte und deswegen von der Uni verwiesen wurde. Das Thema ist auch in Benin sehr aktuell, da die Université d’Abomey-Calavi fast jährlich von Streikbewegungen der Studierenden lahmgelegt wird. Zudem leben in dem relativ stabilen Benin zahlreiche Flüchtlinge aus umliegenden Ländern, gleichzeitig gibt es auch hier ein Problem in Bezug auf die Jugendarbeitslosigkeit und die damit einhergehende Perspektivlosigkeit. Pauls Bemühungen, im Heimatland als Bauer seinen Lebensunterhalt zu verdienen, scheitern; die bittere Armut kostet seinem Vater sogar das Leben. Sprachlich interessant ist der Film für die Studierenden aus Benin, da die Originalgespräche zwischen Paul und anderen Kamerunern oft auf Französisch geführt werden, der Amtssprache von Benin, so dass sie das Gesprochene gut nachvollziehen können. Die Sprachen Französisch (Paul), Spanisch (Behörden, Rotes Kreuz) und Deutsch (Jakob Preuss, Beamte, Freunde und Familie von Jakob, Radionachrichten) spielen im Film wichtige Rollen. Durch die multilinguale Situation kann der Fokus mehr auf das inhaltliche und bildliche Verstehen gerichtet werden (vgl. Blell 2015: 35), gleichzeitig deutet sie auf die interkulturelle Situation, in der sich die Protagonisten befinden. 4.3 Lernziele Die Lernziele des Seminars sind auf pragmatischer Ebene die Erweiterung des Wortschatzes und die Schulung des Hör- und Sehverstehens. Auch wenn nach dem vorliegenden Curriculum der Schwerpunkt im Bereich Kulturstudien liegt, werden trotzdem sprachliche Fähigkeiten trainiert, denn eine strikte Trennung ist nicht immer sinnvoll. Durch die produktiven Aufgaben, die sich an das Sehen des Filmes anschließen, sollte die Textproduktionskompetenz erweitert werden. Zudem soll filmanalytisch gearbeitet und die Rolle des Filmemachers in Dokumentarfilmen diskutiert werden. Auf der Wissensebene waren Kenntnisse über die Situation afrikanischer Geflüchteter in Deutschland sowie über die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen (europäisches Asylrecht, Genfer Flüchtlingskonvention, Menschenrechte, politische Parteien in Deutschland etc.)

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zu erwerben. In Bezug auf Einstellungen und Werte sollen sich die Studierenden mit den beiden Hauptpersonen des Filmes auseinandersetzen (Lernziel Fremdverstehen), diese und deren Handlungen verstehen und dazu (kritisch) Stellung nehmen. Außerdem soll die interkulturelle Beziehung der beiden kritisch reflektiert werden. Für die inhaltliche und filmpädagogische Auseinandersetzung lieferte das Filmheft des Filmverleihers wichtige Anregungen, einige Fragen zur Erarbeitung wurden daraus entlehnt (vgl. Selg o.J.). Auch das Themenheft des GoetheInstituts zum Thema Flucht und Asyl bietet Anregungen zur Didaktisierung (vgl. Weiss-Tuite 2016).

5. UMSETZUNG Im Folgenden werden die durchgeführten Unterrichtseinheiten skizziert, die sich mit dem Film auseinandersetzten. Insgesamt wurde der Film in 5 Sitzungen à 3 Unterrichtseinheiten behandelt. Dabei wurde der didaktische Dreischritt, der die Phasen ›Vor dem Sehen‹, ›Während des Sehens‹ und ›Nach dem Sehen‹ umfasst, angewendet. 5.1 Vor dem Sehen (1 Unterrichtseinheit) Als Einstieg in den Film wurde das Filmplakat an die Wand projiziert. Auf ihm ist der Protagonist mit seinem Gepäck, auf einer Bank sitzend, zu sehen. Die Studierenden sollten zunächst die Person beschreiben und mögliche Hypothesen über das Thema des Films sowie ihre Erwartungen über den Inhalt formulieren. Es wurden zudem erste für das Verständnis notwendige Vokabeln eingeführt und an der Tafel erklärt. Die Aufgabenstellung für das Sehen des Filmes soll die Aufmerksamkeit der Lernenden lenken. Daher wurde im Anschluss ein Fragebogen an alle Studierenden ausgegeben und gemeinsam gelesen, dieser sollte die Aufmerksamkeit der Studierenden im Film lenken. Die Fragen, entlehnt aus dem Filmheft, lauteten: 1. Woher kommt Paul? 2. Wohin möchte er? Was ist sein Plan? 3. Notiere dir stichpunktartig Informationen über den Fluchtweg von Paul Nkamani (Länder, Orte). 4. Warum verlässt er sein Heimatland?

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5. Wie wird versucht, afrikanische Flüchtlinge an den Außengrenzen Europas aufzuhalten? 6. Welche Optionen hat Paul, um in Europa zu bleiben? 7. Was hilft Paul bei der Reise? 8. Welche Fragen haben Sie noch? 9. Neue Wörter und Ausdrücke, die ich verstehen möchte: _____________ Aufgrund der Filmsichtung sollten die Studierenden die Fragen beantworten. 5.2 Während des Sehens (6 Unterrichtseinheiten) Der Film wurde nach dem Prinzip des »guided movie afternoons« präsentiert, bei dem Block-Präsentation und Aufgabenlenkung verbunden werden (vgl. Thaler 2010: 143). Der Film wurde an zwei Nachmittagen angesehen. Es gab nur wenige und kurze Unterbrechungen, um das globale Verständnis des Filmes nicht zu gefährden. Eine größere Unterbrechung wurde nach der sogenannten Bus-Szene vorgenommen, in der Paul in Eisenhüttenstadt in den Bus steigen möchte, der Fahrer ihn aber nicht mitnehmen möchte, da Paul kein Geld hat, um das Ticket zu bezahlen. Die Weigerung des Filmemachers, in dieser Situation seine Rolle des neutralen Beobachters aufzugeben, führt zu großem Ärger bei Paul und zu einem Streit. An dieser Stelle wurde die Aufgabe gestellt: • •

Was passiert in dieser Szene? – Beschreibe die Szene aus der Perspektive des Regisseurs. Beschreibe die Szene aus der Perspektive der Hauptperson (vgl. Selg o.J.: 9).

Die Studierenden sollten die Gedanken der beiden – Paul und Jakob – aus ihrer jeweiligen Perspektive formulieren. Die Szene wurde nochmals ohne Ton abgespielt und zwei Studierende lasen jeweils die Introspektion, also die Gedanken der beiden, während des Abspielens laut vor. Der Film wurde dann bis zum Ende weitergeschaut.

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5.3 Nach dem Sehen (8 Unterrichtseinheiten) Am Ende des Films sollten die Studierenden in Partnerarbeit ihre ersten Eindrücke zu zweit diskutieren. Dabei wurde die Aufgabe offen gestellt, um Emotionen und spontanen Äußerungen Raum zu lassen. Die Partnerarbeit sollte dazu anregen, dass sich alle frei äußern konnten – ohne Angst, bewertet zu werden. Anschließend sollten sich mehrere Paare zusammenschließen und in größeren Gruppen (8 Personen) die wichtigsten Fragen notieren, die nach dem Film noch offen sind. Die Gruppen präsentierten ihre Eindrücke und ihre Fragen, diese wurden an der Tafel notiert. Anschließend wurde der Film im Plenum diskutiert. Dabei wurde zunächst nach den W-Fragen das Aufgabenblatt ausgewertet (Wer? Was? Wo?). Die Studierenden sollten im Anschluss eine schriftliche Aufgabe zur Perspektivübernahme in Einzelarbeit lösen. Die Aufgabenstellung lautete: 1. Du hast Paul auf seinem Weg nach Deutschland gesehen – könntest du dir vorstellen, etwas Ähnliches zu tun, wenn du in einer vergleichbaren Situation wärst? Die Aufgabe wurde aus dem Filmheft entlehnt. Anschließend wurden Fragen zur Beziehung des Filmemachers mit dem Geflüchteten diskutiert: 1. Welche Rolle spielt der Regisseur des Films für die Geschichte des Hauptdarstellers? Was erwartet er von ihm? 2. Welche Rolle spielt Paul Nkamani für Jakob? Was erwartet er von ihm? An dieser Stelle steht die Machtfrage im Raum. Welche Aspekte des Anderen werden gezeigt und thematisiert? Wer stellt die Fragen? Wer bestimmt die Themen? Die formale Seite des Filmes wurde im Anschluss in Gruppenarbeit erarbeitet: 1. Wie wird Pauls Flucht von Kamerun bis Marokko gezeigt? 2. Wie tritt der Dokumentarfilmer in Erscheinung? 3. Handelt es sich um eine Dokumentation? Was denken Sie? (Ja, denn … / Nein, denn …) Im Plenum wurde zu diesem Thema eine lebhafte Diskussion geführt. Eine Definition von ›Dokumentarfilm‹ wurde besprochen, anhand derer der Film eingeordnet werden sollte. Es stellte sich heraus, dass die Kriterien der Trennung zwischen dokumentarischem und fiktionalem Film nicht eindeutig sind. In der letzten Phase sollten die Studierenden in Gruppenarbeit Vermutungen über die Kernaussage des Films äußern: Was sollte die Botschaft des Filmes

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sein? An wen richtet sich der Film? Die Diskussion wurde im Plenum zusammengefasst und an der Tafel festgehalten. Viele der offenen Fragen der Studierenden bezogen sich auf die rechtliche Situation von Geflüchteten im Allgemeinen, um den Verbleib der Hauptperson etc. In der darauffolgenden Sitzung wurde daher der Fokus auf den Erwerb von zum Verständnis notwendigen Hintergrundinformationen gelegt. In zwei Gruppen (mit mehreren Untergruppen) wurde zu verschiedenen Themen gearbeitet. Die Themen wurden den beiden Hauptpersonen zugewiesen und auf einem Papier folgendermaßen dargestellt: ›Pauls Welt‹ und ›Jakobs Welt‹. Unter ›Pauls Welt‹ wurden Stichworte wie ›Migration‹, ›Genfer Flüchtlingskonvention‹, ›Dublin-Verfahren‹, ›Asyl – Asylbewerber – Asylantrag – Recht auf Asyl‹, ›Flüchtling, Wirtschaftsflüchtling‹ festgehalten, auf dem Plakat für Jakob Stichworte wie ›Willkommenskultur‹, ›Außengrenzen‹, ›Frontex‹, ›Integration‹, ›Angst vor Fremden‹, ›Angst vor Terrorismus‹. Begriffe wie ›Angst vor Fremden‹ oder ›Angst vor Terrorismus‹ sind im Diskurs über Flüchtlinge im deutschsprachigen Raum zentral und wurden interessanterweise von den Studierenden selbst angesprochen. Jede Untergruppe sollte sich mit einem Begriff intensiv auseinandersetzen. Hier lieferte das pädagogische Begleitmaterial zum Film teilweise gute Textvorgaben, zudem sollten die Studierenden zusätzliche Bilder, Statistiken und Tabellen recherchieren, die Begriffe definieren, ihre Bedeutung an Beispielen illustrieren und Info-Plakate zu jedem Begriff erstellen. Die entstandenen Info-Plakate wurden im Plenum präsentiert und an die Wand gehängt.

6. AUSWERTUNG UND EVALUATION: WAS MEINEN DIE STUDIERENDEN? Vor dem Seminar wurden die Studierenden zu ihren Vorkenntnissen befragt. Es wurden rund 40 Antworten ausgewertet. Nur zwei Studierende gaben dabei an, noch nichts über das Thema ›Zur Situation afrikanischer Flüchtlinge in Deutschland‹ erfahren zu haben. Die meisten hatten jedoch sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Thema, die entweder als sehr positiv oder als sehr negativ aufgefallen sind. Beispiele für ein sehr negatives Bild sind die folgenden Aussagen, die hier so wiedergegeben werden, wie sie getroffen wurden: •

»Nach was ich gehört und gelesen habe, sind die Flüchtlinge in Deutschland nicht frei, froh. Die Deutschen hassen sie. Die Deutschen sagen, immer, sie müssen ihrer Heimat zurückgehen.«

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»Sie [die Flüchtlinge; F.H.] sind nicht gut behandelt, sie haben schlechte Situation.«

Beispiele für ein sehr positives Bild, liefern diese beiden Antworten: • •

»Deutschland hat sie beherbergen, ihnen die deutsche Sprache gelehrt, sie in der Gesellschaft integriert.« »Flüchtlinge werden vom Staat geschützt.«

Nach dem Seminar wurde nochmals eine Evaluation des Kurses erstellt. An der Umfrage nach dem Seminar haben 21 teilgenommen. Alle Befragten gaben an, dass das Thema sie sehr interessiert habe. Einige beispielhafte Antworten geben Aufschluss über die Wahrnehmung der Studierenden, auch wenn an dieser Stelle keine empirisch fundierte und valide Studie präsentiert werden kann. • •

»Ich habe die Realität von Europa gelernt. Und ich weiß jetzt, dass das Leben nicht so immer leicht in Europa, wie wir denken.« »Was ich persönlich besonders gelernt und erfahren habe, war wie man ein Asyl in Europa betrachten kann. Nicht alle Fluchtgründe sind gültig.«

Auf die Frage, welche Fragen noch offenbleiben, gab es zahlreiche Nennungen, wie z.B. »Welche positive Aspekt hat die illegale Migration? Was kann man machen, um diese Tatsache zu stoppen?«, »Mögen die europäischen Menschen die Afrikaner?«, »Wie werden die Leute integriert?«, »Was macht Europa gegen diese illegale Migration?« »Welche Initiativen gibt es gegen den Terrorismus, der auch die illegale Migration verursacht?« In filmanalytischer Hinsicht kam es vor allem auf die Frage an: »Zeigt der Film die Wirklichkeit?« eine sehr heftige Diskussion. Einige Studierende waren überzeugt, dass die Geschichte inszeniert war, um Afrikaner von der Flucht abzuhalten. Es wurde nach Beweisen und Argumenten gesucht, die die Inszenierung zu belegen versuchten. Andere hielten dagegen. Die Frage: »Was ist die Botschaft des Filmes?« wurde besonders kontrovers diskutiert. Interessanterweise wurde der in den Filmkritiken oft als sympathisch und optimistisch beschriebene Paul von den Studierenden kritisch und distanziert betrachtet. Dies zeigt beispielhaft der Text eines Studierenden, der hier, wie von ihm verfasst, wiedergegeben wird:

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Jedes Jahr fliehen viele Leute durch Meer und Wald nach Europa. Das ist illegale Migration. Hier ist der Fall von Paul, ein Afrikaner aus Kamerun, der als Flüchtling nach Deutschland kam. Leute, die sich für illegale Migration entschieden, riskieren ihr Leben. Ich persönlich lasse mich nicht dieses Risiko nehmen. Die Geschichte von Paul war richtig traurig. Er hat studiert. Er hatte einen bestimmten Plan für die Zukunft und macht alles möglich, sein Ziel zu erreichen. Und plötzlich wurde er von der Uni wegen eines Streiks entlassen, an dem er nicht schuld ist. Er hat später ein Stipendium und man erlaubt nicht ihm das Visum zu haben. Sein Vater starb an Mangel von Geld. Alles das ist schade und tut weh. Das ist doch keine Gründe, um solche schlimme Entscheidung zu treffen. Man lebt besser bei sich selbst. Es ist besser in meinem Land zu leiden als in einem anderen. Ich habe in meinem Land Leute, die mich kennen und die können mir vielleicht dabei helfen, eines Tages mein Problem zu lösen. Es gibt kein Problem ohne Lösung. Wenn man Problem in seinem Land hat, soll man auch da nach Lösung suchen, nicht fliehen. Wenn alle das Land verlassen wer wird es entwickeln? Ich berate alle nach Lösungen im Heimat zu suchen. Das Leben in der Fremde ist nicht immer das beste. Wenn im Ausland möchte soll man nach guten Gelegenheiten suchen, Sprachkurs, Studium, Au pair usw.

Das Thema regt zum Fremdverstehen und zur Einübung von Empathiefähigkeit an. Die folgende Antwort zeigt besonders deutlich, wie die Flucht von Paul für die Studierenden auf emotionaler Ebene einen kreativen Schreibprozess ausgelöst hat: Wenn ich auch ans Meer komme, werde ich Angst haben. Ich werde mich fragen, ob ich auch gut das Meer schwimmen kann. Ich werde das breite Meer sehen. Ich werde kalt haben, weil ich schon erfahren habe, dass viele Leute im Meer gestorben sind. Ich werde an den gestorbenen Kameruner denken. Ich werde an meine Familie denken (meine Frau wenn möglich, meine Kinder, meine Eltern und Freunde). Ich werde an das Tod denken, weil was ich machen wollte gefährlich ist. Ich werde Zweifel haben, wie möglich nach Hause zurückgehen. Ich werde an was ich im Ausland machen wollte denken. Vielleicht es nichts dorthin gibt und ich lasse meine Familie um im Ausland durch Meer zu gehen. Ich werde ganz traurig sein wie möglich weinen. Ich werde an die Dauer der Fahrt auf Meer denken. Ich werde an den Bevölkerungsbedingungen des Landes, wo ich gehe, ob es leicht oder das Leben dorthin einfach ist. Ich werde mich fragen, ob ich dort drüben mein Leben erreichen kann. Ich werde an der Rassismus denken. Ich werde immer beten, damit die Fahrboot gut landet. Ich werde an wo ich dort schlafen kann, denken. Ich werde an das Essen, die Wohnung, die Staatsangehörigkeit denken. Ich werde an, wie die Ureinwohner die Fremde herzlich willkommen. Endlich werde ich alles an Händen des Gottes lassen, weil ohne Fleiß kein Preis.

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Studierenden durch die Auseinandersetzung mit dem Film größtenteils in der Lage sind, das Thema mit ihrer persönlichen Situation in Verbindung zu bringen. Insgesamt ermöglicht der Einsatz des Filmes ALS PAUL ÜBER DAS MEER KAM einen kognitiven und affektiven Zugang zum Thema ›Flucht nach Europa‹. Er befähigt die Studierenden, sich produktiv zum Thema zu äußern, was selbstverständlich zum Lernziel der Partizipation an Diskursen gehört. Dabei wird deutlich, dass der Filmeinsatz vor allem ein wichtiges Lernziel erreicht hat: Die Neugier und das Interesse am Thema bei den Studierenden zu wecken, das die Weiterarbeit am Thema angeregt hat. Die methodisch-didaktischen Szenarien des Filmheftes sind aktuell, realitätsnah und unterstützen das handlungs- und lernerorientierte interkulturelle Lernen der Studierenden, dabei eignen sich die Aufgaben auch für den Unterricht im Ausland, wobei eine Modifikation des Materials immer in Hinblick auf die Vorkenntnisse der Lerngruppe vorgenommen werden sollte. Kulturelles Lernen soll zur Eigeninitiative ermächtigen. Kritisch ist zu fragen, ob die Auswahl des Themas verallgemeinernde Rückschlüsse zulässt und die stereotype Rolle des Afrikaners als hilfsbedürftige Person (Paul, der nicht ohne das Eingreifen des Filmemachers Jakob weiterkommt) oder das Bild des sogenannten Wirtschaftsflüchtlings aus Afrika zementiert. Hier könnte das Konzept insofern erweitert werden, als das Thema ›Flucht nach Europa‹ mit einem afrikanischen Blick gezeigt wird. Beispielsweise könnte hier der viel beachtete Film Die Piroge von Moussa Touré (2012) mit dem Film von Preuss verglichen werden: Welche Aspekte der Flucht zeigen die beiden Dokumentarfilme? Wie unterscheiden sich ihre Blickwinkel auf die Flüchtenden voneinander? Dennoch kann der Einsatz des aktuellen Filmes im Hinblick auf kulturelles Lernen, Motivation, Fremdverstehen und Diskurspartizipation als eine konstruktive Bereicherung des Hochschulalltags gesehen werden, von dem die emotionalen und engagierten Textprodukte der Studierenden zeugen.

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LITERATUR Altmayer, Claus (2017): Landeskunde im Globalisierungskontext: Wozu noch Kultur im DaF-Unterricht? In: Peter Haase u. Michaela Höller (Hg.): Kulturelles Lernen im DaF/DaZ – Paradigmenwechsel in der Landeskunde. Materialien Deutsch als Fremdsprache, Band 96, S. 3-22. Ders. (2006): Landeskunde als Kulturwissenschaft. Ein Forschungsprogramm. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 32, S. 181-199. Altmayer, Claus (2004): Kultur als Hypertext. Zur Theorie und Praxis der Kulturwissenschaft im Fach Deutsch als Fremdsprache. München. Bundeszentrale für politische Bildung (2011): Dossier Filmbildung in der kulturellen Bildung. Online unter http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/ kulturelle-bildung/60378/filmbildung [Stand: 28.09.2018]. Département d'Etudes Germaniques (DEG)/ Université d'Abomey-Calavi: Offres de formation. Licence en Etudes Germaniques. Stand: 2014. o.O. Filmdidaktisches Portal der PH Freiburg: DaF-Filmportal. Online unter https://www.ph-freiburg.de/daf-filmportal/filmdidaktik-daf/non-fiktionalefilme/dokumentarfilme.html [Stand: 01.11.2018]. Horstmann, Susanne (2010): »Förderung von interkultureller Kompetenz durch Auseinandersetzung mit Filmen?« In: Christoph Chlosta u. Matthias Jung (Hg.): DaF integriert: Literatur – Medien – Ausbildung. Tagungsband der 36. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2008. Göttingen, S. 59-71. Preuss, Jakob (2017): Als Paul über das Meer kam. Tagebuch einer Begegnung. Farbfilm Verleih. DVD. Kepser, Matthias (2015): Film im Kontext schulischer Bildung – Herausforderungen, Potenziale und Perspektiven. Vortrag Filmmuseum Potsdam 25.05.2015. Online unter https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/filead min/bbb/themen/Medienbildung/filmbildung/Tagungsdoku_Klappe/Klappe_ 1/Vortragskript_Prof._Matthis_Kepser.pdf [Stand: 23.09.2018]. Köster, Lutz (2017): Film. In: Ingelore Oomen-Welke u. Bernt Ahrenholtz (Hg.) Deutschunterricht in Theorie und Praxis (DTP): Deutsch als Fremdsprache, hg. v. Winfried Ulrich. Band 10. Hohengehren, S. 242 -251. Schweiger, Hannes/Hägi, Sara/Döll, Marion (2015): Landeskundliche und (kultur-)reflexive Konzepte. Impulse für die Praxis. In: Fremdsprache Deutsch. Zeitschrift für die Praxis des Deutschunterrichts 52, S. 3-10. Selg, Olaf (o.J.): Filmdidaktisches Begleitmaterial Als Paul über das Meer kam. Online unter: http://paulueberdasmeer.de/paul_schulmaterial.pdf [Stand: 11.08.2018].

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Flucht und Dasein Das Theaterprojekt Fluchtpunkte als didaktisches Mittel zum Fremdverstehen Manjiri Paranjape (Pune, Indien)

Da die indische Germanistik eine Auslandsgermanistik ist, ist man beim Germanistikstudium in Indien mehrfach mit Fremdheit konfrontiert: aufgrund der fremden Sprache, der fremden Kultur, der fremdsprachigen und fremdkulturellen Literatur sowie aufgrund der in der Literatur dargestellten fremden Menschen, Perspektiven und Weltanschauungen. In Anlehnung an Bredella u.a. gehe ich davon aus, dass Fremdverstehen lehr- und lernbar ist und dass innovative Projekte notwendig sind, um den Zugang zu dieser Fremdheit zu ermöglichen bzw. zu erleichtern (vgl. Bredella/Christ 1995 u. Bredella u.a. 2000: IX – LII). In diesem Beitrag wird ein solches Projekt, nämlich das Theaterprojekt Fluchtpunkte, das ich 2017 an der Universität Pune (Savitribai Phule Pune University) durchführte, dargestellt.

1. THEATER ALS DIDAKTISCHES MITTEL Unter dem Begriff Theater wird hier eine »schaubare künstlerische Darstellung äußerer oder innerer Vorgänge«, eine »echte Umsetzung des erhaltenen Dichterworts in schaubare, sinnfällige Handlung« (Wilpert1964:714), eine Theateraufführung bzw. szenisches Spielen verstanden. Das Theater als semiotisches System ist mehrdimensional und gekennzeichnet durch Plurimedialität. Es verfügt über verschiedene Codes: Visuelle Codes (Bühnenbild, Requisiten, Choreographie, Gestik, Mimik, Beleuchtung u.ä.), akustische Codes (Musik, Geräusche) sowie linguistische, para- und extralinguistische Mittel. Wie Roland Barthes sagt, gibt es im Theater sehr komplexe und in komplizierter Form aufeinander

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bezogene Zeichensysteme (vgl. Greiner 2004: 138). Das Theater besteht aus »einer regelrechten Polyphonie von Informationen.«1 (zit.n. Greiner 2004: 138) Das Theater wurde schon von Lessing und Schiller als eine Art Bildungsinstitution betrachtet. Auch Bert Brecht versuchte die Zuschauer mit den Möglichkeiten des Theaters zu belehren und zu verwandeln. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind in Europa die Anfänge eines völlig neuen Konzepts von der Bedeutung des Theaters als pädagogischem Mittel festzustellen. Mitte des 20. Jahrhunderts entstand in Großbritannien die Bewegung Drama in Education. Im deutschsprachigen Raum begann in den 1960er Jahren eine intensive Diskussion über die Arbeit mit dem Theater aus pädagogischer Perspektive. Aufgrund der in den 1970er Jahren neu entstandenen Tendenzen in der DaF- und Literaturdidaktik– wie z.B. Lernerorientierung, ganzheitliches, kreatives, kommunikatives Lernen, Mediendidaktik, Projektunterricht u.ä. – nahm das Theater als ein Mittel zur Verwirklichung didaktischer Zielsetzungen an Bedeutung zu (vgl. Esselborn 1988:392). Im 21. Jahrhundert wird Performatives Lernen als ein Oberbegriff für Dramen- und Theaterpädagogik benutzt (vgl. Schewe 2014: 174). Heute wird allgemein anerkannt, dass das Theaterspielen gelernt und geübt werden kann. Man geht davon aus, dass gerade die fremde Sprache das Theaterspielen in mancherlei Hinsicht erleichtert. Sie verfremdet und »wirkt wie ein Schutzmantel, hinter dem das Agieren leichter fällt.« (Bredella/Legutke 1985: 187)

2. DAS THEATERPROJEKT FLUCHTPUNKTE Die Theatergruppe 001 – gegründet von mir im Jahr 2001 – ist eine Theatergruppe aus Pune, Indien, die aus DaF-Lernern, -Lehrern und Germanistikstudenten besteht.2

1

Roland Barthes: Literatur und Bedeutung. In: Literatur oder Geschichte. Frankfurt am Main 1969 - S. 103.Vgl. dazu Pfister (1988): 25 f.

2

Die bisherigen wichtigen Produktionen der Gruppe sind Yuganta (Ende des Zeitalters. Deutsche Übersetzung eines Marathi-Theaterstückes), Kafkaesk (Bühnenaufführung von der Kurzprosa Franz Kafkas) und Übersetzte Welten (Bühnendarstellung ausgewählter Marathi Texte in deutscher Übersetzung). Es ist die allererste Studentengruppe aus Indien, die in Deutschland auftreten durfte. 2006 realisierte die Gruppe sieben Aufführungen von Kafkaesk in München, Dresden und Berlin. Bei jedem Projekt gibt es jeweils neue Teilnehmer.

Flucht und Dasein | 121

Der Umgang mit Flüchtlingen und Migranten wird derzeit in Europa und insbesondere in Deutschland in den Medien und sozialen Netzwerken, in Politik und Gesellschaft kontrovers diskutiert. Indien beschäftigt sich mit dem Phänomen der Flüchtlinge schon seit Jahrzehnten. Angesichts dieser Tatsache wurde 2017 von der Theatergruppe 001 das Theaterprojekt Fluchtpunkte in Angriff genommen. Es gab 18 Teilnehmer aus Pune: 8 Germanistik (M.A.)-Studenten, zwei Doktoranden, zwei DaF-Lerner und sechs DaF-Lehrerinnen. Der erste Schritt bestand bei diesem Projekt in der Auswahl der geeigneten literarischen Texte, wofür ich zuständig war. Außerdem sollten auch die Teilnehmer literarische Texte zum Thema ›Flucht‹ suchen bzw. vorschlagen. Etwa 20 deutsche und Marathi3-Texte wurden von den Teilnehmern gesammelt. Davon wurden fünf Texte für die Aufführung ausgewählt. Außerdem schrieben einige Teilnehmer selber Texte zum Thema ›Flucht‹, von denen zwei Gedichte ausgewählt wurden. Insgesamt wurden 25 kurze Texte für die Aufführung zusammengestellt. Bei der Textauswahl waren für uns drei Kriterien entscheidend: Erstens sollten die Texte einen Bezug zum Thema haben, zweitens sollten sie kurz sein, um daran intensiv arbeiten zu können, drittens sollten sie Möglichkeiten für eine Bühnenaufführung anbieten. Die ausgewählten Texte wurden dann, je nach Notwendigkeit, gekürzt, dekonstruiert und zum Teil dialogisiert. Es wurde entschieden, die unterschiedlichen Texte anhand passender Zitate4 und Musik miteinander zu verbinden, um ein sinnvolles Gewebe entstehen zu lassen. Fluchtpunkte ist also eine Collage von thematisch mit dem Begriff ›Flucht‹ verbundenen deutschsprachigen literarischen Texten aus unterschiedlichen Epochen. Dabei geht es um kurze Prosatexte, Theaterszenen und Gedichte von Autoren wie z.B. Aischylos, Schiller, Rilke, Kafka, Hölderlin, Brecht, Schnurre, Heißenbüttel, Erich Fried, Hans Manz, James Krüss, Wolfgang Hilbig, Gabriele Eckart, Jahn Kuhlbrodt, Sabri Çakır, Zafer Şenocak, Edward Said u.a. Die Collage versucht, unterschiedliche Nuancen von ›Flucht‹, den Zusammenhang zwischen ›Fliehen‹ und ›Dasein‹, verschiedene Fluchtsituationen, Fluchtversuche und -orte auf der Bühne darzustellen. Die Zeitspanne unserer Textauswahl reicht vom 5. Jh. vor Chr. (Die Schutzflehenden von Aischylos) über kanonisierte Tex-

3

Marathi ist die Muttersprache der Teilnehmer und eine der 22 offiziellen Sprachen Indiens.

4

Zitate, wie z.B. »Jede Flucht ist zwecklos, jedes Bleiben sinnlos. / Nur der Flüchtende kann den Schwindel der Freiheit aufspüren. / Nichts verdirbt uns mehr, als das stille Flieh'n vor uns selber. / Gelegentlich erfordert es mehr Mut, wegzulaufen als sich zu stellen.«

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te aus mehreren Jahrhunderten bis zu Texten von Migrantenautoren der letzten Jahrzehnte und sogar bis zu Flüchtlingsberichten aus dem Jahr 2016. Diese Auswahl von Texten aus unterschiedlichen Gattungen und Epochen verweist also auf das hybride Theater, was zum Thema passte. Dann folgten die Proben. Insgesamt machten wir zwei Monate lang Proben, jeden Tag etwa drei bis vier Stunden. Einige Teilnehmer kannten einige Texte, z.B. die Texte von Kafka oder Brecht, den meisten Teilnehmern waren jedoch viele Texte unbekannt. Da es das Ziel war, über den Inszenierungsprozess zum Textverständnis zu gelangen, wurden am Anfang der Proben die ausgewählten Texte gemeinsam vorgelesen und nur einige schwierige Wörter geklärt. Bei der Besetzung der Rollen waren Kriterien wie Aussprache, Körperbeschaffenheit, Stimmqualität sowie die Wünsche der Teilnehmer wichtig. Bei den Leseproben arbeiteten wir an der Aussprache, am Wortakzent, an der Intonation bzw. Satzmelodie und an der Diktion bzw. Redeweise. Für die Präsentation auf der Bühne benutzten wir unterschiedliche Verfahren: Bei manchen Texten gab ich Regieanweisungen für Choreographie, Gestik und Mimik. Bei anderen Texten improvisierten die Teilnehmer und probierten unterschiedliche Möglichkeiten der Darstellung aus. Die Proben waren eine kreative Teamarbeit im wahrsten Sinne. Am Ende der Probenzeit gab es dann eine ausführliche Diskussion über die ausgewählten Texte, über deren Gehalt und Form sowie über unterschiedliche Interpretationsansätze. Außerdem führte ich eine Umfrage unter den Teilnehmern durch, um das Textverständnis und die didaktischen Probleme und Vorteile des Projekts festzustellen. Bei der Aufführung5 wurden nur wenige Requisiten, die stets gleichen Kostüme und durchgängig dasselbe Bühnenbild für alle Texte benutzt. Musik und Beleuchtung dienten dazu, das Ende eines Textes bzw. einer Szenensequenz zu verdeutlichen. Die Spieldauer betrug ca. 1 Stunde 15 Minuten.

5

Die Premiere des Stückes fand am 22. Februar 2017 in Pune im Rahmen einer Internationalen Konferenz zum Thema ›Flucht und Migration‹ statt. Es folgten zwei weitere Aufführungen, eine davon am Goethe-Institut (Max Mueller Bhavan) in Pune. Die Gruppe wurde eingeladen, im September 2017 in Flensburg bei der GIG-Tagung ›Europa im Übergang‹ aufzutreten. Zwei weitere Aufführungen wurden in dem gleichen Monat in München organisiert, eine davon im Volkstheater zu München.

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3. DAS THEATERPROJEKT FLUCHTPUNKTE ALS EIN MITTEL ZUM FREMDVERSTEHEN Jetzt versuche ich anhand der Fachtheorie, der Diskussion mit den Teilnehmern, der durchgeführten Umfrage sowie einiger Beispiele aus dem Projekt zu verdeutlichen, wie ein solches Theaterprojekt zum Fremdverstehen beitragen kann. 3.1 Verständnis der fremden Sprache Das Projekt bestätigte, dass durch das Theater der Sprachgebrauch einen realen, relevanten Kontext bekommt und dass nicht nur der strukturelle, syntaktische, grammatische Teil der Sprache, sondern auch die emotionale Seite ins Spiel kommt (vgl. Ingendahl 1981: 396). Durch den Inszenierungsprozess konnten die Teilnehmer Konnotationen und die emotionale Seite mehrerer Wörter bzw. Ausdrücke verstehen, wie z.B. ›Flucht‹, ›Odyssee‹, ›Hingeworfensein‹, ›Auswanderer‹ im Gegensatz zu ›Vertriebenen‹, ›verfolgen‹, ›Verfolger‹, ›Verfolgte‹, ›Verfolgende‹, ›Dasein‹, ›Aufbruch‹ u.ä.6 Sie erkannten nach ihren Aussagen bei der Umfrage, dass ›Flucht‹ nicht nur ein Phänomen der Flüchtlinge oder Migranten ist, sondern, dass es unterschiedliche Nuancen von diesem vielschichtigen Begriff gibt, wie z.B. vor sich selbst fliehen, voreinander fliehen, vor Verantwortung fliehen, das Dasein als Flucht u.ä. Die Proben dienten zur Übung und Verbesserung der Aussprache und Intonation, was von allen Teilnehmern als sehr hilfreich betrachtet wurde. Nach einer Studie von Mehrabian und Ferris vollziehen sich 55% der Kommunikation über Körpersprache, 38% über die Intonation und nur 7% über den mitgeteilten Inhalt (vgl. Donohoe 2004: 87). Bei den Teilnehmern konnte durch das Spielen ein neues Bewusstsein entwickelt werden, was die Funktion sowohl von paraund extralingualen Elementen als auch die Körperlichkeit von Sprache anbelangt. Als Beispiele nannten die Teilnehmer u.a. die Körpersprache der Flüchtlinge, die Gestik und Mimik, um die existentielle Angst oder das ›Vor-SichSelbst-Fliehen‹ auszudrücken.

6

Diese Beispiele sowie die weiteren Zitate, Antworten und Aussagen von den Teilnehmern bzw. Zuschauern sind den jeweiligen Diskussionen bzw. der durchgeführten Umfrage entnommen und sind in dem weiteren Bericht nicht jedes Mal eigens belegt.

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3.2 Verständnis der fremden Kultur Das Theater ist eng mit dem jeweiligen Kulturraum verbunden. Erika FischerLichte meint: »Eine Semiotik des Theaters muss also [...] durch eine Semiotik der kulturellen Systeme fundiert werden.« (Fischer-Lichte 1983:29) Im Theater wird die Fremdsprache in ihrem soziokulturellen Kontext eingebettet. Pavis nennt das gesprochene Wort im Theater ›Körper-Wort‹, das »eine sprach- und kulturspezifische Regulierung von (gestischem und vokalem) Rhythmus und Text« (Pavis 1998, zit. n. Greiner 2004:142) ist. Die Teilnehmer lernten die soziokulturelle Seite der Sprache sowie kulturabhängige sprachliche und extraverbale Ausdrucksformen wie z.B. Gestik, Mimik und Diktion kennen. Die auch heute relevanten Schutzflehenden aus Syrien aus dem fünften Jahrhundert vor Christus, die Verfolgung im Dritten Reich, die Kriegsflüchtlinge, die DDR-Flucht sowie die gescheiterte Integrationspolitik und die psychologischen Probleme der Migranten sind einige kulturspezifische Elemente, die die Teilnehmer laut Umfrage durch das Spielen besser verstehen konnten. Besonders einleuchtend war für die Teilnehmer der Unterschied zwischen der deutschen Kultur und den unterschiedlichen Kulturräumen der Migranten, den sie durch das Spielen der Flüchtlingsberichte »richtig erleben« konnten. 3.3 Verständnis der fremden Literatur Ich möchte nun darstellen, inwiefern sich das Projekt als ein effektiver, differenzierter Zugang zur fremden Literatur und zu den darin dargestellten fremden Menschen und Weltanschauungen erwies. 3.3.1 Form der Collage Am Anfang der Collage Fluchtpunkte steht der Text Bäume von Kafka: Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.7

7

Franz Kafka: Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Frankfurt am Main: S. Fischer 2002, S. 33.

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Zum Schluss spielten wir den Text Nachts von Kafka. Versunken in die Nacht. So wie man manchmal den Kopf senkt, um nachzudenken, so ganz versunken in die Nacht. Ringsum schlafen die Menschen. Eine kleine Schauspielerei, eine unschuldige Selbsttäuschung, daß sie in Häusern schlafen, in festen Betten, unter festem Dach ausgestreckt oder geduckt auf Matratzen, in Tüchern, unter Decken, in Wirklichkeit haben sie sich zusammengefunden wie damals einmal und wie später einmal in wüster Gegend, ein Lager im Freien, eine unübersehbare Zahl Menschen, ein Heer, ein Volk, unter kaltem Himmel auf kalter Erde, hingeworfen, wo man früher stand, die Stirn auf den Arm gedrückt, das Gesicht gegen den Boden hin, ruhig atmend. Und du wachst, bist einer der Wächter, findest den nächsten durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Reisighaufen neben dir. Warum wachst du? Einer muß wachen, heißt es. Einer muß dasein.8

Dieser Anfang und dieses Ende wurden von den Teilnehmern auf folgende Weise interpretiert: Die Collage beginnt mit der Tatsache, dass das Fest-mit-demBoden-verbunden-Sein nur scheinbar ist, beginnt also mit der Entwurzelung der Menschen als Bedingung ihrer Flucht. Sie endet mit einem positiven, optimistischen Ton, nämlich, mit dem Satz »Einer muß dasein«. Nach diesem letzten Satz aus Nachts kann wieder der abrupte Bedingungssatz aus Bäume hinzugefügt werden, nämlich »Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee.« Diese Kreisförmigkeit der Collage zeigt nach Auffassung der Teilnehmer die Ausweglosigkeit und die Wiederholbarkeit der Fluchtsituationen. 3.3.2 Textverständnis und szenische Interpretation Die Aufführung war eine szenische Interpretation der ausgewählten Texte. Unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten der Literatur wurden durch die eigene Auseinandersetzung mit den Texten wahrgenommen. Die folgenden Beispiele aus der Umfrage zeigen, wie das Spielen das Verständnis vertiefte und die Interpretation der Texte beeinflusste. Die Beispiele beziehen sich auf den Text Bäume: Der Text Bäume war mir beim ersten Lesen völlig unklar. Erst beim Spielen habe ich die Bedeutung, dass wir wie die Baumstämme nur scheinbar verwurzelt sind, nachvollziehen können.

8

Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg, v. Jost Schillemeit. Franfurt am Main: S. Fischer 2002, S. 260 f.

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Die Baumstämme scheinen fest mit dem Boden verbunden zu sein, doch sie können leicht gefällt werden. So ist auch das menschliche Leben. Die Menschen streben vergeblich nach Sicherheit und Geborgenheit, wie Flüchtende, die kein Zuhause haben. Diesen Halt finden sie aber nicht. Die trügerische Realität, die sich ständig mit der Zeit und mit dem Raum ändert, erweckt Unsicherheit und existentielle Angst bei den fliehenden Menschen. Vor Fluchtpunkte habe ich den Text Bäume im Kontext von existentiellen Tendenzen in Kafkas Texten gelesen. Vor Fluchtpunkte habe ich auch das ›wir‹ im Text immer als Einzelne gegen den Kosmos verstanden. Nach Fluchtpunkte verstand ich den Text auch in einem sozio-politischen Kontext. Das ›wir‹ vertritt Völker an der Peripherie (Randexistenz), z.B. die Juden im Dritten Reich. Es scheint, dass man diese Völker ›mit kleinem Anstoß wegschieben‹ kann, aber durch ihre jahrhundert-langen Wurzeln in der Gesellschaft ›scheinen sie fest mit dem Boden verbunden‹ zu sein. Das ist aber leider auch nur scheinbar, z.B. Ereignisse wie Holocaust.

3.3.3 Verständnis der in der Literatur dargestellten fremden Personen Nach Winnicott kann das Theaterspiel als ein intermediärer Raum zwischen subjektiver und objektiver Wirklichkeit betrachtet werden (vgl. Spinner1993: 19 f.; Winnicott 1987). Anhand des Theaters lernt man Grenzüberschreitung, man kann sich in fremde Personen hineinfühlen. Theater ist ein Erprobungsfeld für Perspektivenwechsel bzw. -übernahme, für die Entgrenzung des Ich und für die Übernahme von fremden Rollen oder Identitäten, also für ›Performative Kompetenz‹ und für Empathiefähigkeit (vgl. Hallet 2008: 396 f. u. Fischer-Lichte 2004). Im Schutz des Spiel-Rahmens kann man die Erfahrung ›des Anderen‹ haben (vgl. Huber 2004: 70). Die Identifikation mit der Rolle führt zum tieferen Verständnis eines fremden Volkes, seiner Gefühle, Werte, Einstellungen und Weltanschauungen. Als Beispiele nannten die Teilnehmer die hungernden, müden Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg, die einander wegen einer Scheibe Brot belügen mussten, die entscheiden mussten, ob sie beim Fliehen ihren Säugling mitnehmen sollten oder den Schmuck, der das Leben ihrer anderen Kinder retten könnte. Das grausame Spiel des Verfolgens und Verfolgt-Werdens der Menschen im Dritten Reich und in der modernen Welt, der Schrecken der deutschen Teilung und das oft schmerzvolle Verlassen der DDR, die Heimatlosigkeit und das ewige Sich-Fremd-Fühlen der Migranten in Europa wurden als weitere Beispiele genannt. Da die Teilnehmer in Indien in ihrem Alltag zwar nicht mit Flüchtlingen, aber doch mit Menschen aus unterschiedlichen Religionen und Kasten konfrontiert sind, war Fluchtpunkte für sie ein besonderes Erlebnis. Ein neues Bewusst-

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sein wurde entwickelt, was die ›Anderen‹ betrifft: Wenn die anderen für uns fremd sind, sind auch wir fremd für die anderen. Hier sind einige Bemerkungen aus der Umfrage über die Flüchtlinge: Am wichtigsten ist mir aber, dass das Stück viele Denkanstöße gegeben hat, um über die gegenwärtige Flüchtlingsproblematik in Europa nachzudenken. Die heutigen Flüchtlinge sind Menschen, die vor Bürgerkriegen fliehen, vertrieben worden sind oder der Armut entkommen wollen. Nicht nur die äußeren, sondern auch die inneren Veränderungen sind für sie herausfordernd. Sie müssen auf verschiedenen Ebenen um ein besseres Leben kämpfen. Darüber hinaus werden sie in dem neuen Land häufig mit Heimweh, Isolation und Geringschätzung konfrontiert, was ihre krisenhafte Lage weiter verschärft. Das verstanden wir, indem wir ihre Rollen spielten.

3.3.4 Kreatives und ganzheitliches Verstehen Im Gegensatz zu dem rein kognitiven und eher passiven Verständnis im herkömmlichen Unterricht kann das Verstehen anhand des Theaters zum kreativen Konstruktionsprozess werden (vgl. Wolff 2000). Beim Theaterspielen erfolgt das Textverständnis »weniger über abstrakte Darstellungen, sondern mehr über eigenes schöpferisches Tun und die daraus resultierenden Erfahrungen.« (Söllinger u.a.1988: 204) Anhand des Spielens, der Vertonung eines Liedes, der Anfertigung der Kostüme, der Konzipierung des Bühnenbildes u.ä. wurde das Verstehen der ausgewählten literarischen Texte vertieft und differenziert. Das Verstandene wird ohne Zweifel besser behalten, da man 90% davon behält, was man selber macht (vgl. Vester 1983: 68). Das Projekt ermöglichte einen ganzheitlichen Zugang zum Text. Nach Manfred Spitzer ist die emotionale Beteiligung wichtig beim Verständnis eines Textes (vgl. Spitzer 2007). Es konnte festgestellt werden, dass das rationalkognitive, das emotional-affektive, das künstlerisch-ästhetische Verständnis der Texte in die Interpretationen von den Teilnehmern einfließen. Folgende Aspekte nannten die Teilnehmer, die sie anhand der Diktion, der Choreographie, der Körpersprache sowie der Beleuchtung differenziert verstehen konnten: die Leiden der Flüchtlinge, die Qual der Menschen in Hyperions Schicksalslied, das Ziel ›weg von hier‹ in Aufbruch, das Hingeworfensein zwischen kaltem Himmel und kalter Erde, die verunglückten Eisenbahnreisenden im dunklen Tunnel, das Vor-einander-Fliehen in San Salvador u.a.

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3.3.5 Synthese von Erleben und Reflexion Das Projekt ermöglichte eine Synthese von Reflexion und handelndem und erlebendem Lernen, was in der DaF-Didaktik gerade im 21. Jahrhundert angestrebt wird (vgl. Rösler 2012:159). Die Teilnehmer meinten bei der abschließenden Diskussion, dass sie beim Inszenierungsprozess, bei der Improvisation unwillkürlich über die Texte reflektierten. Das Spielen ließ den Textsinn erleben. Und am Ende der Probenzeit gab es wieder eine Diskussion. Dieses Zusammenspiel von einfühlendem (Nach-)Erleben und Reflexion fanden sie interessant und sehr nützlich für die Texterschließung. 3.3.6 Ein individueller Zugang zur fremden Literatur Durch das Selber-Spielen konnten die Teilnehmer den Textsinn intensiv auf sich selbst, auf ihr Leben, auf ihren Alltag bzw. ihre Umgebung beziehen und sie konnten einen persönlichen, individuellen Zugang zur fremden poetischen Kodierung finden. Der Text Die Vorüberlaufenden übt meiner Meinung nach starke Kritik an der spießbürgerlichen Mentalität. Beim Spielen verstand ich, dass Kafka das Wort ›man‹ verwendet, um darauf hinzuweisen, dass wir alle diese Mentalität innehaben. Wir sind so feige, so willenlos, dass wir sogar dem Verfolgten, obschon er schwach und zerlumpt ist, Hilfe verweigern. Die Vorüberlaufenden stellt auf diese Weise eine alltägliche Situation dar, wovor jeder von uns zu fliehen versucht.

3.3.7 Verständnis der literarischen Formen und Stilmittel Da wir bei dem Projekt Prosatexte, Theaterszenen, Gedichte und Flüchtlingsberichte auf der Bühne präsentierten, konnten die Teilnehmer die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Gattungen verstehen, wie z.B. das Vortragen der Gedichte im Gegensatz zum Spielen der Theaterszenen, das Lyrische bei der Prosa, das Dramatische bei der Lyrik, das Epische bei Brecht-Szenen. Durch das Spielen wurden die Teilnehmer aufmerksam auf die Form der einzelnen Texte. Hier sind einige Beispiele: Der Text Bäume beginnt abrupt mit einem ›Denn-Satz‹, der kurze Prosatext Nachts ist vielleicht ein Dialog mit sich selbst, der Text Entscheidung von James Krüss besteht aus einem einzigen Satz u.ä. Die Schauspieler erkannten die Leerstellen in Texten, wie z.B. in Schnurres Auf der Flucht, indem sie diese Stellen beim Spielen durch Gestik und Mimik ausfüllten. Stilmittel, wie z.B. Ironie und Satire (Der kaukasische Kreidekreis, Migrantenlyrik), Einschub (einer muss wachen, heißt es) konnten wegen der entsprechenden Diktion begriffen und nachvollzogen werden.

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3.3.8 Das Selber-Schreiben für das Theaterprojekt als Überwindung der Fremdheit Das Theaterprojekt bot den Teilnehmern auch eine Möglichkeit, Texte selber zu schreiben und zu spielen. Durch eigene Gestaltung kann man literarische Strukturen, Techniken, Ausdrucksmöglichkeiten, Gattungsmerkmale sowie Stilebenen und -elemente und die Wirkung poetischer Kodierung besser verstehen und die Fremdheit überwinden. Durch das eigene Schreiben werden Verständigung und Sensibilität für fremde Literatur, für deren Entstehungsprozess, für die handwerkliche und ästhetische Qualität erweckt. Wie Spinner meint, kann man sich beim kreativen Schreiben in fremde Empfindungs- und Erfahrungsweisen, in andere Personen und Zeiten hineindenken (vgl. Spinner 1993: 20). Als Beispiel gilt das folgende Gedicht9 über eine aus der DDR Flüchtende, das eine Teilnehmerin für das Projekt schrieb: Kalte Füße, leichte Tritte, Ihr Mantel flattert im Wind. Ängstliche Blicke, leise Schritte, Sie schleicht davon geschwind. Sterne beleuchten das blasse Gesicht, Sie spürt eine Träne auf der Wange. Sie hat die Nacht auf den Fersen, dicht, Ihr wird es im Herzen bange. Sie läuft, doch ihre Seele verweilt, Die lebenslang zur Heimat verband. Und seht, wenn sie sich wieder beeilt, Verschwindet das Vaterland!

3.3.9 Die Aufführung als Zugang zum Textverständnis für die Zuschauer Die M.A.- und B.A.-Studenten, die an dem Projekt nicht direkt, sondern nur als Zuschauer beteiligt waren, meinten, dass die audiovisuelle Darstellung der literarischen Texte den Sinn verdeutlichte. Als Beispiele nannten sie Texte von Kafka und Brecht, sowie Hyperions Schicksalslied von Hölderlin und San Salvador von Peter Bichsel. Die B.A.-Studenten schrieben über die gespielten Texte und über ihre Eindrücke. Hier ist eine kurze Bemerkung:

9

Das Gedicht ist von der Teilnehmerin Saee Kulkarni.

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Die Flüchtlinge sind auch Menschen und haben auch ein Leben, das aber nie sicher ist – das war die Wirkung des Dramas.

3.4 Verständnis der fremden Theaterwelt Für die meisten Teilnehmer war das Theaterspielen eine neue Erfahrung. Anhand des Projekts lernten sie die fremde Theaterwelt kennen. Als Beispiele nannten sie in der Umfrage die Funktion der Beleuchtung, der Musik, der Choreographie, des Bühnenbildes, der Pausen u.a. Sie verstanden z.B., dass die Verdunkelung zwischen zwei Szenen die Abtrennung von Textblöcken anzeigte und eine Collage entstehen lassen konnte, dass Musik und Beleuchtung die Stimmung einer Szene intensivierten, dass das Marathi-Lied gleich am Anfang des Stückes das Gefühl der Fremdheit beim deutschen Publikum erweckte, dass die eingeplanten Pausen ein besonderes Ausdrucksmittel waren, dass durch die Gleichheit und Neutralität der Kostüme unterstrichen werden konnte, dass das Gezeigte eher eine universale Aussage war und nicht auf einen bestimmten Ort oder Zeitpunkt reduziert werden durfte. 3.5 Fremde Mitspieler verstehen Es gab bei unserer Theatergruppe Teilnehmer aus vier verschiedenen StudentenGenerationen. Meine Beobachtung zeigt, dass sie sich während des Inszenierungsprozesses besser kennenlernten und versuchten, einander zu ergänzen, indem sie ein kreatives Erlebnis miteinander teilten. Theater basiert auf dem Prinzip des kooperativen Lernens. Die Umfrage zeigt, dass sich die Teilnehmer durch das Projekt bewusst wurden, wie wichtig Teamfähigkeit beim Gelingen eines gemeinsamen Vorhabens ist.

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3.6 Das Fremde in sich selbst verstehen »Es ist der Mensch nur dort ganz Mensch, wo er spielt«, so Friedrich Schiller. Das Projekt forderte das intellektuelle, motorische, affektive und interaktive Engagement der Teilnehmer. Anhand des Projekts lernten sie z.B. eigene Gefühle angemessen auszudrücken bzw. zu kontrollieren. Die Teilnehmer entdeckten durch die Inszenierung ihren eigenen Körper neu, die eigene Stimmqualität, vor allem aber ihre Fähigkeiten zu spielen oder zu singen. »Im Theater bietet sich die einmalige Gelegenheit, unter der Maske einer als Nicht-Ich definierten Person probeweise einen virtuellen Aspekt des Selbst zu verkörpern und sich mit ihm auseinanderzusetzen, als wäre es eine Andere.« (Huber 2004: 54) Das Theater ermöglicht so einen »fremden Blick auf das Eigene« (LeviStrauss, zit. n. Roche 2001: 13) und führt damit zur Auseinandersetzung mit sich selbst. In der Begegnung mit der fremden Rolle kann man sich selbst neu verstehen, meinten einige Teilnehmer. Als Beispiel wurde die Einsicht genannt, dass wir alle im Alltag fliehen – vor uns selbst, vor anderen Menschen oder vor eigenen Verantwortungen. Die Aufführung ging für die Teilnehmer mit einem wesentlichen Leistungsschub in ihrem Verständnis theatraler Ausdrucksformen und sprachlicher Mittel, vor allem jedoch mit nachhaltigen Erfahrungen der Selbstwirksamkeit einher. Sie konnten ihre eigene Arbeit selbst analysieren, beurteilen, eigene Fehler und Stärken besser erkennen. Das Projekt war für alle Beteiligten ein Mittel zum Verstehen diverser Fremdheiten, die sich quasi in einem gemeinsamen ›Fluchtpunkt‹ schnitten.

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Abbildung 1: Fluchtpunkte, Die Eisenbahnreisenden (Foto: M.P.)

Abbildung 2: Fluchtpunkte, Die Schutzflehenden (Foto: M.P.)

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Abbildung 3: Fluchtpunkt, Flüchtlingsberichte (Foto: M.P.)

Abbildung 4: Fluchtpunkte, Wir und die Anderen (Foto: M.P.)

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LITERATUR Bredella, Lothar/Legutke, Michael (1985): Schüleraktivierende Methoden im Fremdsprachenunterricht Englisch. Bochum. Bredella, Lothar/Christ, Herbert (Hg.) (1995): Didaktik des Fremdverstehens. Tübingen. Bredella, Lothar/Meissner, Franz/Nünning, Ansgar u.a. (Hg.) (2000): Wie ist Fremdverstehen lehr- und lernbar? Tübingen. Donohoe, Peadar (2004): Exploring Peer Learning in the Drama Classroom with Neuro Linguistic Programming and Reciprocal Teaching. In: GFL-Journal 1, S. 84-108. Esselborn, Karl (1988): Theater und szenisches Spiel im Fremdsprachenunterricht Deutsch. In: Info DaF, 15. Jg., Nr. 4, S. 388-406. Fischer-Lichte, Erika (1983): Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 1. Tübingen. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main. Greiner, Nord von (2004): Übersetzung und Literaturwissenschaft. Tübingen. Hallet, Wolfgang (2008): Staging Lives: Die Entwicklung performativer Kompetenz im Englischunterricht. In: Rüdiger Ahrens u.a. (Hg.): Moderne Dramendidaktik für den Englischunterricht. Heidelberg, S. 387-408. Huber, Ruth (2004): Persönlichkeit als Ressource: Rollenaushandlung und Gruppendynamik in theaterpädagogischen Prozessen. In: GFL-Journal 1/1, S. 52-72. Ingendahl, Werner (1981): Szenische Spiele im Deutschunterricht. Düsseldorf. Kafka, Franz (2002): Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Frankfurt am Main. Kafka, Franz (2002): Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg, v. Jost Schillemeit. Frankfurt am Main. Pavis, Patrice (1998): Semiotik der Theaterrezeption. Tübingen. Pfister, Manfred (51988): Das Drama. Theorie und Analyse. München. Roche, Jörg (2001): Interkulturelle Sprachdidaktik. Eine Einführung. Tübingen. Rösler, Dietmar (2012): Deutsch als Fremdsprache. Eine Einführung. Stuttgart. Schewe, Manfred (2014): Für das Ästhetische einen Ort schaffen. DaF als Bauhaus. Ein Vorentwurf. In: Nils Bernstein / Charlotte Lerchner (Hg.): Ästhetisches Lernen im DaF-, DaZ-Unterricht. Göttingen, S. 167-178. Söllinger, Peter u.a. (1988): Literatur unterrichten. Linz. Spinner, Kaspar H. (1993): Kreatives Schreiben. In: Praxis Deutsch, 20. Jg., H. 119, S. 17-23.

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Spitzer, Manfred (2007): Gefühle bleiben im Gedächtnis. In: Süddeutsche Zeitung, 21./22. April 2007. Vester, Frederic (101983): Denken, Lernen, Vergessen. München. Wilpert, Gero von (41964): Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart. Winnicott, Donald W. (41987): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart. Wolff, Dieter (2000): Sprachlernen als Konstruktion: Einige Anmerkungen zu einem immer noch neuen Ansatz in der Fremdsprachendidaktik. In: Fremdsprachen lehren und lernen, Heft 29, S. 91-105.

Mumbai als Schmelztiegel Zur Darstellung von Mumbai in literarischen Texten Sneha Mahajan (Pune, Indien)

1. EINLEITUNG 1.1 Historischer Überblick Mumbai, die Hauptstadt des indischen Bundeslandes Maharashtra, das Finanzund das Wirtschaftszentrum Indiens und der Geburtsort von Bollywood, gehört mit 18,4 Millionen Einwohnern zu den bevölkerungsreichsten Städten der Welt. Mumbai, das an der Westküste Indiens am Arabischen Meer liegt, ist die sechstgrößte Metropole der Welt. Früher bestand die Stadt aus sieben voneinander getrennten Inseln, die im Laufe der Zeit durch Landgewinnungsmaßnahmen zusammenwuchsen. Die Kolis, das sind die Drawidischen Fischer, die Ureinwohner, bewohnten die Region Mumbais schon seit Jahrtausenden. Die ersten Spuren hinterließen die arischen Siedler schon um das Jahr 1500 v. Chr. Bis 600 v. Chr. besiedelten sie das östliche Gangestal. Während der nachfolgenden zwei Jahrtausende gehörte die heutige Region Mumbai verschiedenen Reichen an, unter anderem dem Maurya-Reich (bis 185 v. Chr.), dem Shatavahana-Reich (bis 220 n. Chr.) und dem Kshatrapa-Reich (bis etwa 300 n. Chr.). Anfang des 7. Jahrhunderts n. Chr. wurde das Land von den Chalukyas erobert.1

Als wichtigster Hafen nicht nur Indiens, sondern des ganzen indischen Subkontinents wurde Mumbai als ein frei zugängliches ›Gateway‹ für die Ausländer bezeichnet. Vom 15. Jahrhundert bis 1974 wurde die Stadt und damit Indien von

1

https://de.wikipedia.org/wiki/Mumbai#Geographie [Stand: 07.07.2017].

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verschiedenen Ländern und Königreichen kolonialisiert. 1508 segelte der portugiesische Forscher und Händler Francisco de Almeida mit seinem Schiff auf die Insel Bombay und verschaffte sich Kolonien auf dem westlichen Küstengebiet Indiens. Die Moghuls, darunter der Fürst Babur, der aus seinen angestammten Gebieten in Zentralasien verdrängt worden war, etablierte sich in Kabul und drängte von dort aus beständig weiter nach Indien. Über den Khyberpass gelangte er nach Indien und eroberte das Gebiet von Mumbai etwa im Jahr 1526. Vom 17. Jh. an wurde Indien dann von den Engländern kolonialisiert und regiert. Nachdem Indien im Jahr 1947 die Unabhängigkeit erlangt hatte, wurde am 1. Mai 1960 das Bundesland Maharashtra gegründet; die Stadt bekam den Status einer Metropole und wurde die Hauptstadt von Maharashtra. Früher Bombay genannt, heißt die Stadt seit 1995 offiziell Mumbai. 1.2 Einwanderung und Vielfalt in Mumbai Die Allerersten, die als Einwanderer den Boden dieser Stadt betraten, taten dies bereits im 15. Jh. v. Chr. In der Zeit nach Christus, Anfang des 8. Jahrhunderts, siedelten sich Juden aus dem Jemen und die Anhänger der Religion Zarathusthras, also die Parsen (auch Zoroastrier genannt), aus Persien und dem heutigen Iran an der Westküste Indiens an. Sie waren aus ihrem Heimatland vor dem Ansturm der islamischen Eroberer geflüchtet. In der modernen Geschichte Indiens, insbesondere in den ersten Jahrzehnten des 20. Jhs., gab es in Indien große Wanderungsbewegungen. Nach der Aufteilung der Staatsgebiete von Indien und Pakistan kam es 1947 zu Vertreibungen auf beiden Seiten der Grenze, aber auch zu freiwilliger Migration. Zwischen 1991 und 2001 siedelten sich viele Menschen aus den Bundesländern Uttar Pradesh und Bihar auf der Suche nach beruflichen Tätigkeiten in Mumbai an. Die meisten wollten ihre Lebensqualität verbessern und in dieser wirtschaftlich, finanziell, technisch und sozial entwickelten Stadt ihre Träume verwirklichen. Wegen politischer Verfolgung und Naturkatastrophen flüchteten viele auch aus Bangladesch nach Mumbai, um sich dort ein sicheres und haltbares Leben aufzubauen. Mumbai nahm all diese Flüchtlingen und Zuwanderer auf. Manchen gelang es, ein gutes, ja sogar ein wohlhabendes Leben für sich zu schaffen; einige jedoch kämpfen nach wie vor ums tägliche Überleben. Die Arier, die Moghuls, die Einwanderer aus anderen Staaten und die indischen Staatsbürger aus anderen indischen Bundesländern sind alle nach Mumbai gekommen, um dort zu bleiben und ansässig zu werden. Deshalb ist hier eine Vielzahl verschiedener Ethnien mit unterschiedlichen Sprachen, Kulturen und Religionen sowie Kasten zuhause. Unter der heutigen Bevölkerung Mumbais ist

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die Zahl der Hindus am größten, gefolgt von Moslems, Christen, Sikhs, Jains, Buddhisten und Parsen. Die Vielfalt der Religionen bzw. Kulturen, Sitten und Sprachen macht Mumbai zu einer wahrhaft multikulturellen Metropole. Das Anliegen dieses Aufsatzes ist es, anhand der ausgewählten literarischen Texte Mumbai als ein Beispiel von Integration, Assimilation und Pluralität darzustellen.

2. BEGRÜNDUNG DES THEMAS UND TEXTAUSWAHL Mumbai wird in den ausgewählten literarischen Werken als eine Stadt der Einwanderer und Flüchtlinge dargestellt, was gut zum Thema der GiG-Konferenz in Flensburg und der Diskussion der soziopolitischen Veränderungen in Deutschland und Europa passt, die sich aus der Migration und den Schwierigkeiten der Integration von Flüchtlingen ergeben. Angeregt durch ein Seminar, das sich mit Berlin als erzählter Stadt beschäftigt und meinen Blick auf das Verhältnis von In- und Ausländern in dieser Kapitale gelenkt hat, fielen mir gewisse Parallelen zu meiner Heimatstadt Mumbai auf, insbesondere mit Blick auf die an beiden Orten zu beobachtende Pluralität der Kulturen. Diese Pluralität reflektieren denn auch die Texte, die im Folgenden besprochen werden. Die ausgewählten literarischen Texte sind in drei unterschiedlichen Sprachen, nämlich Deutsch, Englisch und Marathi, der Landessprache von Maharashtra, verfasst. Für den Beitrag sind Texte ausgewählt worden, die mir zugänglich waren und sich intensiv mit unterschiedlichen Aspekten der Großstadt Mumbai auseinandersetzen. Um sich mit der Vielfalt dieser Stadt und ihrer vielschichtigen Darstellung in der Literatur zu beschäftigen, habe ich mich absichtlich gegen Reiseberichte und Reisebücher entschieden und fünf literarische Beispiele ausgewählt. Bei der Auswahl habe ich berücksichtigt, dass sich alle Texte auf die Entwicklung Mumbais nach 1945 beziehen, also nach der Unabhängigkeit Indiens. Die Texte sind keine Lobestexte, die die Stadt glorifizieren. Sie sind eher kritische Texte, bei denen die Stadt aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird.

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3. AUSGEWÄHLTE LITERARISCHE TEXTE 3.1 Die endlose Stadt (Roman, Ulla Lenze) In dem 2015 erschienen deutschsprachigen Roman Die endlose Stadt von Ulla Lenze geht es um zwei Frauen und deren Abenteuer in zwei verschiedenen Metropolen der Welt, nämlich in Istanbul und Mumbai. Die Spurensuche von Holle und Theresa wird in diesem Roman mit wunderbaren Spiegelungen dargestellt. Theresa mietet die Wohnung von Holle in Mumbai, die der Liebe wegen zurück nach Istanbul geht. Theresa, die auf der Suche nach Fremdheit und exotischen Geschichten nach Mumbai kommt, erlebt hautnah, wie sich der Alltag in der indischen Metropole anfühlt. Sie flaniert durch die Stadt und erhält vielfältige Eindrücke. Es überrascht sie, wie die Menschen hier aus unterschiedlichen soziokulturellen Schichten nebeneinander leben. Sie tritt in Kontakt mit vielen Eliten und mit Hochgebildeten, lernt aber auch die Kehrseite der von Armut gekennzeichneten Stadt kennen. 3.2 The view from Chinchpokli (Gedicht, Dilip Chitre) Das englische Gedicht The view from Chinchpokli verschafft dem Leser eine anschauliche Vorstellung vom Leben der Bewohner Mumbais. Wie sieht ein Tag in dieser Stadt aus? Das Gedicht beschreibt die Geschwindigkeit von Mumbai und die Energie, die man braucht, um sich an das Leben in dieser Metropole anzupassen. Das lyrische Ich wohnt in einem Stadtteil Mumbais namens Chinchpokli, in dem viele Industriearbeiter leben, und stellt die Stadt aus seiner Sicht dar. Es sieht dabei jeden Tag, wie die Fabrikarbeiter in den Morgenstunden von der Nachtschicht zurück nach Hause kommen. Auf dem Weg zur Arbeit fährt das lyrische Ich auch an verschiedenen Orten Mumbais vorbei, wobei es vielen Hindus, Moslems und Christen begegnet. Das Gedicht endet mit einem Blick auf die Probleme der Großstadt. Drogensucht, Raubüberfälle, Mafia und Prostitution sind einige der Probleme, die dabei zur Sprache kommen. 3.3 Sea Breeze, Mumbai (Gedicht, Adil Jussawala) In dem Gedicht Sea breeze, Mumbai von Adil Jussawala wird ein Bild der Stadt Mumbai nach der Unabhängigkeit Indiens vermittelt. Das lyrische Ich beschreibt die Stadt als eine Metropole, in der Träume entweder verwirklicht oder zerstört werden, wo das Leben entweder aufgebaut oder zerstört wird, oder wo ständig

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etwas verloren geht, gesucht und manchmal, aber nicht immer wieder gefunden wird. Die Stadt Mumbai wird im Gedicht als eine entwurzelte Insel bezeichnet. Sie gehört nicht mehr dem Festland an und ist inzwischen gesichtslos geworden. Der Vers »Surrogate city of banks, brokering and bays, refugees’ harbor and port.« (Jussawala, S.27, Z. 14) verweist darauf, wie diese Stadt jeden Tag mit offenen Armen neue Flüchtlinge und Ausländer begrüßt und sie in sich integriert. 3.4 Mumbai (Gedicht, Narayan Surve) Das Gedicht Mumbai des marathischen Dichter Narayan Surve, das aus seiner 1966 erschienen Gedichtsammlung Maze Vidyapeeth stammt, stellt das Leben der Bewohner der Stadt Mumbai dar: Die Stadt Mumbai ist für viele die Stadt der Träume. Hunderte von Menschen kommen täglich in diese Stadt, um ihre Träume zu verwirklichen. Ein Bollywood-Star zu werden, ein eigenes Geschäft aufzumachen, eine Karriere zu machen, ein gutes Leben zu schaffen, sind einige von diesen Träumen. Diese Menschen glauben an die Macht und Stärke dieser Metropole und gehen davon aus, dass diese Stadt ein Glücksbringer sei und jedem etwas anzubieten habe.2

Das lyrische Ich erzählt die Lebensgeschichte seiner Familie in dieser Stadt. Der Vater, der mit hoffnungsvollen Träumen und starkem Willen nach Mumbai umgezogen ist, ermöglicht sich und seiner Familie nach größten Anstrengungen ein lebenswertes Leben. Die Familie repräsentiert die typische Arbeiterklasse Mumbais. Der Sohn übernimmt nach dem Tod seines Vaters dessen Stelle und beginnt in der Fabrik zu arbeiten. Weiterhin beschreibt das Gedicht, wie dort eine Koexistenz von verschiedenen Religionen, Kasten und Kulturen sowie unterschiedlichen sozialen Schichten möglich bzw. zu denken ist. 3.5 Mumbai chi Lavani (Volkslied, Annabhau Sathe) Bei Mumbai chi Lavani handelt es sich um ein Volkslied, geschrieben von dem populären Marathi Dalit-Volksdichter Annabhau Sathe. Das Lied stellt auf eine paradoxe Weise das Leben von Mumbai dar: Schon am Anfang lässt sich das Nebeneinander in den sozio-ökonomischen Verhältnissen dieser Stadt ablesen.

2

Vgl: http://theviewspaper.net/mumbai-a-magical-city/, http://theviewspaper.net/mum bai-%E2%80%93-the-city-of-dreams/ [Stand: 13.06.17].

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Einerseits gibt es die Wohlhabenden, ansässig in Mumbais Stadtteil Malabar Hill, deren Häuser mit Komfort überladen sind. Auf der anderen Seite stehen die Bewohner von Lower Parel, einem anderen Stadtteil (hier wohnt eine große Menge der Arbeiterklasse Mumbais), die täglich hart arbeiten müssen, um das Brot für ihre Familie zu verdienen und zu überleben. Die Gegensätze der Stadtteile werden nicht zuletzt an den Straßennamen deutlich. So gibt es im Elendsviertel sogar eine ›Scheißstraße‹. Demgegenüber erlebt das Finanzzentrum Indiens jeden Tag einen neuen Geschäftsrekord – freilich nicht nur auf dem Sektor des Gold- und Diamantenhandels, sondern auch auf dem Sektor der Prostitution. Die Stadt lebt von der Konkurrenz. Diese zwingt die Menschen, einander nicht nur körperlich, sondern auch psychisch auszunutzen und auszubeuten. Man betrügt und wird betrogen. Letztlich konkurrieren alle ums Überleben.

4. DARSTELLUNG MUMBAIS IN DEN AUSGEWÄHLTEN LITERARISCHEN WERKEN Der Analyse dieser ausgewählten literarischen Texte liegt ein Ansatz der Literatursoziologie zugrunde. Die Literatursoziologie betrachtet die Produktion und Rezeption von Literatur, die ästhetische Gestalt des Textes und/oder die Entwicklung literarischer Genres im Zusammenhang mit gesellschaftlichen und soziokulturellen Bedingungen. Sie beschäftigt sich also hauptsächlich mit der Frage, wie sich das Verhältnis von Literatur und gesellschaftlichem Leben beschreiben läßt. (Vogt o.J.: o.S.)

Bei der Analyse der Werke ist mir aufgefallen, dass es in allen Texten um eine genaue Beschreibung des Lebens der Bewohner dieser Stadt sowie um die Stadt selbst geht. Alle ausgewählten Autoren und Dichter haben ziemlich lange in Mumbai gelebt und die Stadt hautnah erlebt. In fast allen Texten kommen die Gegenpole dieser Stadt vor. Dass in Mumbai zwei ganz unterschiedliche soziale Schichten existieren, nämlich die Arbeiterklasse und die Eliteklasse, wird in den Gedichten The view from Chinchpokli und Mumbai chi Lavani deutlich. Einerseits gibt es Stadtteile wie Chinchpokli oder Parel, in denen die Arbeiter Mumbais mit ihren Familien wohnen und deren Überleben, wie Ulla Lenze in ihrem Roman beschreibt, eine Sache des Zufalls ist, weil der Lohn nicht reicht, um ausreichend Essen kaufen zu können (vgl. das Gedicht Mumbai chi Lavani). Andererseits leben in Malabar Hill, dem teuersten Stadtteil Mumbais, die Reichen und Wohlhabenden, die von dem indischen Gott

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des Wohlhabens ›Kuber‹ gesegnet sind und die in ihren Luxusautos zum Arbeiten in dem ›Manhattan-like Nariman Point‹ fahren. In allen Werken wird Mumbai als eine multikulturelle, multireligiöse Stadt beschrieben. So heißt es etwa in dem Gedicht Sea Breeze, Mumbai: »An opened people, fraying across the cut, country reknitted themselves on this land« oder in dem Gedicht The view from Chinchpokli: »And like a glorious Hindu hero reluctantly riding his chariot to the centre of the battlefield […] And the Christians and the Jews will inspire a brilliant critique of contemporary Indian Culture.« Betont werden somit die Multikulturalität und Multireligiösität dieser Stadt. Es ist dieses Zusammenleben der Religionen und Kulturen, das die Stadt bereichert. Weil es in Mumbai den unterschiedlichen Religionen gegenüber tolerant zugeht, ziehen viele Menschen aus der ganzen Welt dort hin, unter ihnen »Refugees wearing blood red wool in the worst heat«, also die Mönche aus Nepal und Bhutan sowie der Vater des lyrischen Ichs aus dem Gedicht Mumbai: »Restore us to fire. New refugees« (Surve, o.S., Z.1-4). Dieser Vers aus dem Gedicht Sea Breeze, Mumbai verweist auf die ständig zunehmende Einwanderung in diese Stadt, die positiv betrachtet wird. Die Flüchtlinge bereichern Mumbai und lassen die Stadt noch bunter erscheinen.

5. SCHLUSSFOLGERUNG Trotz gewaltiger Unterschiede im Lebensstandard und anderer Gegensätze in der Gesellschaft erweist sich die auf sieben Inseln errichtete Stadt als eine lebendige Metropole, die Besuchern wie Bewohnern, Ulla Lenze zufolge ›endlos‹ erscheint. Vielleicht liegt dies daran, dass die Menschen aus Mumbai davon ausgehen, dass die Stadt ein Mosaik ist: »[W]here different speech communities adjust and accommodate, where there is cultural diversity and linguistic plurality, where common community goods and services are shared«.3 Seit Jahrtausenden haben sie dank Kooperationen koexistiert. Das Bewusstsein, dass ihr Nachbar eine andere Sprache spricht und andere Verhaltensweisen hat, hat den Bewohnern dieser Stadt Toleranz beigebracht. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass eine multikulturelle Stadt wie Mumbai ein Schmelztiegel von nebeneinander bestehenden Kulturen, Sprachen und Ethnien ist. Dank dieser Vielfalt sollte von Mumbai als einer Stadt der Pluralität der Kulturen die Rede sein und nicht nur von Multikulturalität, weil es hier eine Koexistenz von verschiedenen Interessen gibt.

3

http://www.lingref.com/isb/4/141ISB4.PDF [Stand: 02.06.2017].

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LITERATUR UND MEDIEN Chitre, Dilip (2008): The view from Chinchpokli, As Is, Where Is: Selected Poems, Poertywala, Mumbai, S. 4. Jussa, Adil (1998): Sea breeze, Bombay. In: Vinay Dharwadker/A. K. Ramanujan (eds.) Oxford Anthology of Modern Indian Poetry. Mumbai, S. 27. Lenze, Ulla (2015): Die endlose Stadt. Frankfurt am Main. [lingref.com] http://www.lingref.com/isb/4/141ISB4.PDF [Stand: 02.06.2017]. [literaturwissenschaft.de] literaturwissenschaft.de/index.php?option=com_con tent&view=article&id=427:9-3-2-literatursoziologie&catid=46:kapitel-9 [Stand: 23.06.2017]. Sathe, Annabhau (o.J.): Mumbai chi Lavani. Surve, Narayan (1966): Mumbai, Maze Vidyapeeth, Popular Prakashan, Mumbai. [the viewspaper] http://theviewspaper.net/mumbai-a-magical-city/. [the viewspaper] http://theviewspaper.net/mumbai-%E2%80%93-the-city-ofdreams/. Vogt, Jochen (o.J.): Ohne Titel. http://www.einladung-zur-literaturwissen schaft.de/index.php?option=com_content&view=article&id=427:9-3-2literatursoziologie&catid=46:kapitel-9 [Stand: 23.06.2017]. [wikipedia] https://de.wikipedia.org/wiki/Mumbai#Geographie [Stand: 07.07. 2017].

Mumbai und Mehrsprachigkeit in indischen Filmen Atre Sonal / Dindore Gauri / Parkhe Aditi (Pune, Indien)

Mumbai hat sich in seiner Geschichte immer wieder als Ort einer beständig wachsenden Mehrsprachigkeit erwiesen: wegen der Vielfalt aller Lebensbereiche in Indien, wegen der Flüchtlinge und Einwanderer, wegen der Entwicklung dieser Stadt zum ökonomischen und kulturellen Zentrum Indiens und in jüngster Zeit aufgrund der Globalisierung. Es liegt auf der Hand, dass die Mehrsprachigkeit nicht nur im Alltag, sondern auch in der Literatur und in der Kunst zu finden ist. In diesem Beitrag wird versucht, die Mehrsprachigkeit in den in Mumbai entstandenen und dort spielenden Filmen zu analysieren.

1. MUMBAI UND MEHRSPRACHIGKEIT 1.1 Historischer Überblick Die Stadt Mumbai mit ihrer reizvollen Vielfalt wird weltweit als Prototyp Indiens aufgefasst. Seit dem 16. Jahrhundert kamen Portugiesen, Muslime und Juden nach Mumbai. Etwa ein Jahrhundert lang fungierte Mumbai als eines der wichtigsten Regierungszentren der englischen Herrschaft. Die rasante industrielle Entwicklung Mumbais während der Kolonialzeit und nach der Unabhängigkeit Indiens lockte Hunderte Einwanderer aus allen Teilen Indiens an (vgl. Kulkarni 2011). Zurzeit wohnen etwa 18 Millionen Menschen in Mumbai. Die Analphabetenquote ist besonders bei Frauen immer noch sehr hoch. Sie beträgt in der gesamten Stadt 10,79% Prozent (allgemein: Männer: 8,52 Prozent, Frauen: 13,55 Prozent) (O.A. 2011).

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1.2 Die Sprachen der Mumbaikar In einer Stadt wie Mumbai ist Kommunikation ein komplexes Phänomen, da hier Menschen mit unterschiedlichen Muttersprachen zusammenkommen. Neben Marathi, die die Muttersprache der meisten Einwohner und die Regionalsprache im Bundesland Maharashtra ist, gelten Hindi und Englisch als Amts- bzw. Kommunikationssprachen. Das Englische spielt eine wesentliche Rolle als Bildungs- und Verkehrssprache und kommt vor allem bei der Oberschicht der Gesellschaft als Erst- oder Zweitsprache vor. Alle amtlichen Dokumente und Publikationen werden neben Marathi auch auf Englisch herausgegeben. Sogar die Namensschilder von Geschäften oder Anweisungen in Regierungsbüros in Maharashtra sind nun zweisprachig. Daneben findet man weitere Sprachen wie Urdu, Gujarati, Tamil, Konkani, Telugu, Sindhi, Kannada, Malayalam, Punjabi usw. 1.3 Mehrsprachigkeit in Mumbai Els Okssar definiert Mehrsprachigkeit als »die Fähigkeit eines Individuums, hier und jetzt zwei oder mehr Sprachen als Kommunikationsmittel zu verwenden und ohne weiteres von der einen in die andere umzuschalten, wenn die Situation es erfordert.« (Oksaar 2003) In Mumbai lernt man andere Sprachen nicht nur formell – etwa in der Schule, sondern informell mittels direktem Kontakt mit anderen Sprachen durch die Umgebung, Filme, Nachbarn, Berufswelt usw. Man unterscheidet die folgenden wichtigen Arten von Mehrsprachigkeit: 1.3.1 Simultane Mehrsprachigkeit In Mumbai ist simultane Mehrsprachigkeit zu beobachten. »Man wächst auf mit dem Klang vieler Sprachen.« (Bhatti 2015: 107) Das heißt: Von Geburt an kommt man mit mehreren Sprachen in Kontakt und erwirbt sie gleichzeitig. Man lernt also zum Beispiel sowohl die Sprache der Mutter als auch des Vaters, wenn sie verschiedene Sprachen sprechen. Man spielt mit Kindern, die unterschiedliche Muttersprachen haben. So wird man schon ab der Kindheit mehrsprachig geprägt. 1.3.2 Sukzessive Mehrsprachigkeit Der nächste Typ ist die sukzessive Mehrsprachigkeit, wobei man innerhalb der Familie zuerst mit einer Sprache aufwächst und mit zusätzlichen Sprachen im weiteren Verlauf des Lebens (Kindergarten, Schule) in Berührung kommt. Man lernt andere Sprachen wie Hindi oder Englisch in der Schule. Mumbai zwingt

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die Leute mehrsprachig zu sein, weil man beruflich oder privat in Berührung mit anderssprachigen Menschen kommt. Daher können die Nordinder in Mumbai Marathi sprechen; Menschen mit der Muttersprache Marathi hingegen erlernen Gujarati. 1.3.3 Hybridbildungen Eine weitere Variante des Marathi, die ausschließlich in Mumbai zu finden ist, heißt Bumbaiya. Diese Variante ist eine bunte Mischung der Sprachen Marathi, Hindi, Konkani, Gujarati und Englisch – entstanden durch die gegenseitige Einwirkung unterschiedlicher Muttersprachen. Das Marathi, wie es in Pune gesprochen wird, ist wie Duden-Marathi. Dagegen ist Marathi in Mumbai anders, es ist eine Hybridbildung. Bumbaiya wird zum größten Teil als Umgangssprache auf den Straßen verwendet. Zwar wird diese Variante von den Traditionalisten nicht akzeptiert, sie wird aber von Menschen aus fast allen gesellschaftlichen Schichten verstanden und benutzt.

2. MEHRSPRACHIGKEIT IN DEN FILMEN Bollywood ist die größte Filmindustrie Indiens. Es ist nicht verwunderlich, dass sich die Mehrsprachigkeit in den meisten Bollywood-Filmen widerspiegelt, die entweder in Mumbai gedreht werden oder sich an diesem Ort abspielen. Die Mehrheit der Bollywood Filme hat Hindi als Basissprache; je nach der Konstellation der Hauptfiguren und ihrer sprachlichen Herkunft werden weitere Sprachen hinzugefügt. Seit Beginn der Globalisierung in den 1990er Jahren ist der Gebrauch der Mehrsprachigkeit in den Filmen stärker, bewusster und selbstverständlicher geworden. Als Beispiel kann der Film FERRARI KI SAWARI (Regie: Rajesh Mapuskar, 2012) genannt werden. Durch Code-Switching werden vier Sprachen, d.h. Hindi, Englisch, Parsi und Marathi, einbezogen, da es in dem Film um eine Parsi-Familie geht. Interessanter Weise kommt Mehrsprachigkeit sogar durch Musik zum Ausdruck. Es gibt in diesem Film ein Lied auf Hindi und Marathi. In dem Film TEEN BATTI CHAR RAASTA (1953) von V. Shantaram geht es um eine Multi-Kulti-Familie. Der Vater kommt aus Punjab, die Mutter aus Nordindien. Ihre Söhne sind mit Frauen aus verschiedenen indischen Staaten verheiratet. Sie kommunizieren miteinander auf Marathi, Sindhi, Bengali, Tamil und Gujarati. Sie haben ein Dienstmädchen, das in allen Sprachen das Notwendige sagen kann. Von den Zuschauern wurde diese Mehrsprachigkeit nicht als Störfak-

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tor betrachtet. Dies weist darauf hin, dass Mehrsprachigkeit in den Filmen ein inhärentes Phänomen der indischen Filmindustrie ist. In den Marathi-Filmen, die in Mumbai spielen, kommt es vor, dass neben Marathi auch Hindi und Englisch gesprochen wird. Bereits in dem 1939 erschienenen Film MANOOS von V. Shantaram gibt es sowohl Dialoge auf Hindi als auch Lieder in Sprachen wie Urdu, Gujarati, Punjabi und Bengali. In einem anderen Marathi-Film, in HARISHCHANDRACHI FACTORY (Regie: Paresh Mokashi) von 2009, wird neben Marathi auch Englisch benutzt, da der Film in der Kolonialzeit spielt. Eine weitere Sprache (Parsi) kommt auch vor, da eine Figur diese Muttersprache hat. Ein weiteres Beispiel für Mehrsprachigkeit wäre der Film MI SHIVAJIRAJE BHOSALE BOLTOY (Regie: Santosh Manjrekar, 2009). In diesem Film wird auf fünf Sprachen kommuniziert. Marathi ist die Hauptsprache des Filmes, aber Hindi und Englisch werden durch Code-Switching ebenfalls benutzt, was für die Menschen in Mumbai normal ist. Es gibt aber Charaktere, die noch weitere Muttersprachen haben, zum Beispiel Bhojpuri oder Gujarati.

3. MEHRSPRACHIGKEIT IN DEM MARATHI FILM C OURT Um zu zeigen, wie die Mehrsprachigkeit in Filmen dargestellt wird, wird hier der Film COURT (Regie: Chaitanya Tamhane) aus dem Jahr 2014 analysiert. Der Film hat viele nationale und internationale Preise erhalten. Er wurde aufgrund der Vielfalt der Sprachen ausgewählt. Die Sprachen, die in diesem Film hauptsächlich vorkommen, sind Marathi, Hindi, Englisch und Gujarati. 3.1 Handlung von C OURT COURT ist eine Collage von Gerichtsszenen und Szenen, die das Privatleben der Hauptfiguren, nämlich des Angeklagten, der Staatsanwältin, des Verteidigers und des Richters, darstellen. Ein Abwasserarbeiter namens Vasudev Pawar, der einer sehr armen Familie aus der untersten Schicht der Gesellschaft entstammt, stirbt aufgrund fehlender Sicherheitsgeräte und giftiger Gase in dem Kanalschacht, in dem er arbeiten muss. Sein Unfalltod wird aber von den Behörden als Selbstmord behandelt, damit die fehlenden Sicherheitsmaßnamen seitens der Regierung nicht bloßgelegt werden. Narayan Kamble ist ein Sänger, der durch selbstgeschriebene Volkslieder seine Gedanken und Meinungen über die politische Lage und das soziale System zum Ausdruck bringt. Darüber hinaus veröffentlicht er Bücher über das Elend der untersten Schicht der Gesellschaft und ih-

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re Ausbeutung durch die Oberschicht. Man behauptet, dass seine Lieder Vasudev Pawar veranlasst haben, Selbstmord zu begehen. Daher wird er verhaftet. Der Film schildert den sich anschließenden Gerichtsprozess. 3.2 Figuren Die Handlung dreht sich um vier Hauptcharaktere. Narayan Kamble, der Angeklagte, ist ein Mann mittleren Alters, der durch Nachhilfeunterricht für Schulkinder sein Brot verdient. Er ist ein freiberuflicher Sozialarbeiter und leistet Arbeit für Dalits, die kastenlose Unterschicht. Trotz wiederholter Warnungen der Polizei setzt er seine Arbeit fort. Kambles Verteidiger Vinay Vora gehört zur oberen Mittelschicht und ist ein gebildeter Mensch. Obwohl er selbst ein gutes Leben führt, setzt er sich für die Menschenrechte anderer ein und kämpft gegebenenfalls unter Verzicht auf angemessene Bezahlung für Klienten wie Narayan Kamble. Die Staatsanwältin Nutan ist eine typische Mittelschichtfrau aus Mumbai. Täglich pendelt sie mit der Bahn zur Arbeit. Der lang andauernde Gerichtsprozess belästigt die Staatsanwältin. Dadurch verliert sie sowohl am Gerichtsprozess als auch an den daran beteiligten Menschen das Interesse. Richter Sadavarte ist ein Mensch, der sich an die Regeln des Gerichts hält. Er genießt sein privilegiertes Leben. Er ist eine Verkörperung der tauben und blinden Gerechtigkeit. 3.3 System- und Sozialkritik in C OURT COURT ist eine Satire auf die Regierung, das Justizwesen, einzelne Charaktertypen und die in Indien herrschende soziale Ungerechtigkeit. Der Film wirft ein kritisches Licht auf verschiedene viktorianische Gesetze, die noch heute gelten. Als Beispiel kann man den seit 1876 existierenden Dramatic Performances Act nennen. Weiter wird gezeigt, dass die Verhöre ständig vertagt und verlagert werden. Ein Prozess dauert daher mehrere Jahre. Zum Beispiel findet bei einer Frau das Verhör nicht statt, nur weil sie ein ärmelloses Hemd im Gerichtshof getragen und damit die Verhaltensnormen des Gerichts missachtet hat. Die einfachen Menschen leiden unter den zumeist mehrjährigen Gerichtsprozessen. Die Frau des verstorbenen Vasudev Pawars fragt zum Beispiel, wie oft sie noch verhört wird, weil sie wegen der Abwesenheit bei der Arbeit ihren Job verlieren könnte. Es ist bemerkenswert, dass die bei dem Prozess am häufigsten verwendete Sprache Englisch ist, was für die einfachen Menschen schwer verständlich ist. Zum Schluss wird gezeigt, dass einige Kinder vergeblich versuchen, den eingeschla-

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fenen Richter zu wecken. Die Szene ist symbolisch zu verstehen und offensichtlich als Kritik am Justizwesen gedacht. Durch den im Film dargestellten Gerichtsprozess wird an der Regierung bzw. an dem politischen System ebenfalls starke Kritik geübt. Der Abwasserarbeiter bekommt keine Sicherheitsgeräte von der Regierung. Daher ist er auf Alkohol angewiesen, um die unerträgliche Arbeit überhaupt erledigen zu können. Er weiß, dass es im Kanalschacht giftige Gase gibt. Er muss daher nach Kakerlaken suchen, um den genauen Sauerstofflevel zu bestimmen. Das beweist, dass das System dem Leben der einfachen Menschen gegenüber gleichgültig ist. Der Film COURT übt auch Zeit- und Sozialkritik. Die Staatsanwältin und der Richter sind abgestumpft. Für sie zählen nur die Regeln, nicht das Menschliche. Sie sind Vertreter einer bornierten Gesellschaft. Als der Verteidiger den regressiven Brauch der Goymari-Sekte kommentiert, wird er von ihnen gedemütigt. 3.4 Analyse der Mehrsprachigkeit im Film 3.4.1 Funktionale Mehrsprachigkeit Laut der Argumentation von Canagarajah und Wurr (2011) ist funktionale Mehrsprachigkeit eine multilinguale Kompetenz, die eine hinreichende Kommunikation ermöglicht. (vgl. Bhatti 2015: 107) »Das Ziel der Mehrsprachigkeit in Mumbai ist nicht Sprachperfektion […]«, so Bhatti (ebd.: 107). [M]ultilinguals do not aim to master a language for all purposes and functions; they master the codes that are sufficient for the functions they want that language to perform; they adopt different codes for different contexts and objectives; therefore, there is no need for them to develop proficiency in all the languages to the same extent. (Duggirala o.J.: 77)

In COURT kann man das Beispiel von Sharmila Pawar nennen, die wie eine Analphabetin wirkt, aber Hindi und einige alltägliche englische Wörter versteht. Ihre Mehrsprachigkeit ist im Grunde eine Überlebensstrategie. Ein Gegenbeispiel dazu ist die Sprache des Verteidigers. Er spricht zu Hause Gujarati, aber im Gerichtshof und während der alltäglichen Kommunikation außerhalb der Familie bevorzugt er Hindi und Englisch als Kommunikationssprachen. Seine Mehrsprachigkeit verweist auf seine Bildung. 3.4.2 Rezeptive simultane und sukzessive Mehrsprachigkeit Neben funktionaler Mehrsprachig findet man in COURT auch rezeptive Mehrsprachigkeit. Rezeptive Mehrsprachigkeit bedeutet, dass man die Sprache anderer Teilnehmer, mit denen man kommuniziert, hinreichend verstehen, aber selbst

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nicht sprechen kann. Ein Beispiel dafür wäre wiederum der Strafverteidiger, der zwar Marathi hinreichend versteht, sich aber während des Gerichtsprozesses nicht auf Marathi, sondern auf Englisch oder Hindi äußert. Er verwendet also die Sprachen, mit denen er gut vertraut ist. Er ist ein Fall der Kombination von rezeptiver, simultaner und auch sukzessiver Mehrsprachigkeit. An dieser Figur merkt man, dass ein multikompetenter Sprecher durch die Entfaltung der kulturellen Sensibilität in unterschiedlichen sprachlichen Situationen charakterisiert wird. 3.4.3 Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel oder Code-Switching »Code-Switching ist ein sprachliches Phänomen, das im ›sanften Wechsel‹ (Müller et al. 2015: 11) zwischen zwei oder mehreren Sprachen bzw. Sprachvarietäten innerhalb einer Äußerung besteht [...]«, so Kamil Dlugose (O.J.: 9.) Code-Switching ist hier ein Ergebnis der sprachlichen Unsicherheit. Als Beispiel kann man die Staatsanwältin nennen. Beim Verhör benutzt sie Englisch, wie es gebräuchlich ist, aber um etwas spontan hinzufügen, benutzt sie Marathi. CodeSwitching ist manchmal notwendig, um die Aussagen besser und verständlicher zu machen, zum Beispiel werden im Film bei Dialogen einige gerichtsbezogene Wörter immer auf Englisch benutzt, weil die Synonyme auf Marathi so kompliziert sind, dass man sie kaum verstehen kann. Die Sprachen Marathi, Hindi, Englisch und Gujarati werden in COURT im Modus des Code-Switching benutzt. Im Gericht sind die Gerichtsverhandlungen auf Englisch, dagegen sind die informellen Gespräche, manchmal auch das Protokoll, in einer regionalen Sprache wie Marathi oder im überregionalen Hindi gehalten. Mehrsprachigkeit ist im Film stets verbunden mit der sozialen Schicht. Sharmila Pawar ist mehrsprachig, aber sie spricht nicht grammatikalisch korrekt. Ihre Diktion zeigt ihre Zugehörigkeit zur unteren Schicht. Demgegenüber gehört der Verteidiger zur oberen Mittelschicht. Das merkt man an seinem gepflegten Sprachgebrauch, wenn er sich auf Englisch oder Hindi äußert. Die Staatsanwältin gehört zur mittleren Schicht des Sprachgebrauchs, da sie über einen begrenzten englischen Wortschatz verfügt. Ihre Intonation des Englischen ist beeinflusst von Marathi. Mehrsprachigkeit zeigt sich in diesem Film auch in der Musik. In einer Szene, bei der sich der Verteidiger mit seinen Freunden in einer Kneipe unterhält, singt die Sängerin zunächst ein englisches Lied und danach ein portugiesisches. Die Aufklärungslieder von Narayan Kamble enthalten neben Marathi auch Hindi und englische Wörter wie »Dushman«, »jholjhal«, »free for all“, »down fall« usw.

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Der Film COURT spiegelt also die Mehrsprachigkeit in Mumbai wider und belegt: »Indian multilingualism is unique in itself. Sometimes it is need based, sometimes it is forced and at times it is natural.« (Pattanayak 1990: 41,42; O.A.: 75)

LITERATUR UND MEDIEN Bhatti, Anil (2015): Heterogenität, Homogenität, Ähnlichkeit. Online unter: http://www.academia.edu/19574580/Heterogenit%C3%A4t_Homogenit%C3 %A4t_%C3%84hnlichkeit [Stand: 19.06.2017]. Dlugose, Kamil (o.J.): Zum Einfluss von soziopragmatischen Faktoren auf Code-Switching bei mehrsprachigen Fremdsprachenlernern. Online unter: http://www.academia.edu/31739420/Zum_Einfluss_von_soziopragmatischen _Faktoren_auf_Code-Switching_bei_mehrsprachigen_Fremdsprachen lernern [Stand: 16.06.2017]. Duggirala, Vasanta (o.J.): (Re)searching Multilingulism in India: A Critical Review of Concepts [Stand: 18.07.2017]. http://www.census2011.co.in/questions/357/district-literacy/literacy-rate-ofmumbai-city-district-2011.html [Stand: 18.7.2017]. https://www.mehrsprachigkeit.uni-konstanz.de/informationen/was-istmehrsprachigkeit/ [Stand: 25.05.2017]. http://www.mumbailocal.net/961/languages-of-mumbai/ [Stand: 05.06.2017]. http://slangmela.pbworks.com/w/page/9837641/Bambaiyya%20Hindi Kulkarni, Kunal (2011): How Mumbai became a House for Migrants. Online unter: www.gateawayhouse.in/how-mumbai-became-a-house-for-migrants [Stand: 10.05.2017]. Oksaar, Els (2003): Zweitspracherwerb. Wege zur Mehrsprachigkeit und zur interkulturellen Verständigung. In: Lüttenberg, Dina (Hg.): Mehrsprachigkeit, Familiensprache, Herkunftssprache. Online unter: http://www.academia.edu/ 650731/Mehrsprachigkeit_Familiensprache_Herkunftssprache._Begriffsvielf alt_und_Perspektiven_f%C3%BCr_die_Sprachdidaktik._In_Wirkendes_Wor t_2_2010_S._299-315 [Stand: 06.06.2017].

Sprachverlust im Exil und Mehrsprachigkeit im Film Überlegungen anlässlich des Biopics VOR DER MORGENRÖTE (2016) Matthias Bauer (Flensburg)

Deutschsprachige Zuschauer, die im guten Glauben eine DVD mit einer Tonspur in ihrer Sprache erworben zu haben, VOR DER MORGENRÖTE ohne Untertitel abspielen, werden in den ersten sechs Minuten dieses Spielfilms von Maria Schrader aus dem Jahre 2016 womöglich kaum etwas verstehen, es sei denn, sie sind zufällig nicht nur des Englischen und Französischen, sondern auch des brasilianischen Portugiesisch mächtig. Erst ab der siebten Minute hält der von Josef Hader dargestellte Stefan Zweig eine kleine Ansprache auf Deutsch. Bis dahin haben es die Zuschauer mit einer ungewöhnlich langen fremd- und mehrsprachigen Plansequenz zu tun und werden sich irritiert fragen, was die Verfremdung ihrer Rezeptionssituation bedeuten soll. Die Antwort liegt, vordergründig betrachtet, auf der Hand: VOR DER MORGENRÖTE behandelt das Exil Stefan Zweigs. Der 1881 in Wien geborene Schriftsteller, der nach dem Anschluss Österreichs zunächst nach London geflohen war und später zwischen Nord- und Südamerika pendelte, sprach außer Deutsch zwar mehrere Fremdsprachen, aber nicht das in Brasilien vorherrschende Portugiesisch. Die Zuschauer, so könnte man schließen, sollen gleich zu Beginn des Films in die Lage des Protagonisten versetzt werden. Diese Antwort verkennt jedoch, dass Zweig die Szene erst unmittelbar vor seiner Ansprache betritt, so dass es zunächst nicht um die Widerspiegelung seiner Wahrnehmung gehen kann. Sie ignoriert außerdem die kulturelle Tatsache, dass die Zuschauer in Deutschland wie in Österreich gewohnt sind, ihre Landessprache auch dann zu vernehmen, wenn Filme im Ausland spielen – sei es das Ausland der Gegenwart oder der Vergangenheit. Mit dieser Gewohnheit bricht

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der Film von Maria Schrader nicht nur in der Anfangssequenz, sondern immer wieder aufs Neue, auch wenn ein Großteil der Dialoge – nämlich jene, die Zweig im Exil mit anderen Vertriebenen aus Europa führt – in der Regel auf Deutsch stattfinden. Es gibt aber auch Gespräche auf Jiddisch, versetzt mit Russisch, und neben Wortwechseln auf Portugiesisch solche auf Spanisch. Ungewöhnlich an VOR DER MORGENRÖTE ist mithin, dass die deutschsprachigen Zuschauer im Verlauf einer Spieldauer von 102 Minuten so frequent mit Mehrsprachigkeit konfrontiert sind, dass sie dies in zweierlei Hinsicht beschäftigen muss. Sie kommen weder umhin, ihre eigene Irritation zu reflektieren noch Empathie für den exilierten Schriftsteller zu entwickeln und werden womöglich beides aufeinander beziehen: die eigene Erfahrung, nicht alles zu verstehen, und das ihrem Einfühlungsvermögen geschuldete Verständnis für die Situation eines anderen. Diesem Zusammenhang gehen denn auch die folgenden Überlegungen nach.

1. IRRITATION, REFLEXION UND EMPATHIE Die mit Mehrsprachigkeit befassten Linguisten haben, soweit ich sehe, zwar eine Reihe von Definitionen und Spezifikationen vorgenommen, interessieren sich aber vornehmlich für die Genese individueller Mehrsprachigkeit oder für die soziale Funktion von Diglossie und nicht für die Frage, wie und wozu Mehrsprachigkeit in Spielfilmen inszeniert wird. Wenn sie sich überhaupt mit Spielfilmen befassen, so betrachten sie diese fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihrer Eignung als Lernmedien im Fremdsprachen-Unterricht. Immerhin kann ich hier auf einige Unterscheidungen der Sprachwissenschaft zurückgreifen, etwa auf die Unterscheidungen zwischen individueller, territorialer und sozialer Mehrsprachigkeit. Im Übrigen begebe ich mich, allein gestützt auf Hypothesen, in ein noch weitgehend unerschlossenes Untersuchungsgelände. Denn auch die Medienwissenschaft weiß über Mehrsprachigkeit im Spielfilm wenig zu sagen. Sie hat sich bislang lediglich mit der Gebärdensprache des Stummfilms, mit dem zweischneidigen Übergang vom Stumm- zum Tonfilm, mit Untertitelung und Synchronisation sowie mit den so genannten Multi Language Versions (verschiedenen Sprach-Fassungen eines Filmes) befasst. Der mehrsprachig inszenierte, nicht synchronisierte Spielfilm ist, zumindest in Europa, ein Novum. Abgesehen von der vergleichsweise geringen Zahl der Cineasten, die sich im Programmkino auch fremdsprachige Filme zumuten, ist zumal in Deutschland und Österreich bis heute kaum ein Fernsehzuschauer bereit, auch nur Originalfassungen mit Untertiteln zu goutieren. Von daher steht zu

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erwarten, dass die unmittelbare, nicht durch irgendeine Form der Übersetzung vermittelte Konfrontation mit Mehrsprachigkeit ein erhebliches Irritationsmoment darstellt. Ich vermute daher, dass die Zuschauer in VOR DER MORGENRÖTE einer Fremdheitserfahrung ausgesetzt und mit ihrer eigenen Exklusion konfrontiert werden sollen. Sie sehen und hören, verstehen jedoch entweder gar nicht oder nur sehr eingeschränkt, worum es im Einzelnen geht. Durch die mehrfache Wiederholung, durch die Iteration dieser Erfahrung wird nun aber früher oder später eine Reflexion in Gang gesetzt – ein Lernprozess, der allerdings nicht in den Bereich des Fremdsprachen-Lernens, sondern in den Bereich des interkulturellen Verstehens gehört. Dieses Verstehen geht zweifellos über die Empathie mit Stefan Zweig hinaus. Gewiss sollen die Zuschauer, die ja immer auch Zuhörer sind, zunächst einmal nachvollziehen, was es für einen Menschen, zumal für einen Dichter, bedeutet, aus der vertrauten Umgebung seiner Heimat und damit aus dem Milieu seines Idioms herausgerissen und in eine unvertraute Szene fremd- und mehrsprachigen Zuschnitts katapultiert zu werden. Gerade weil der Protagonist des Films ein Mann des Wortes, ein Schriftsteller und Redner war, der die öffentliche Meinung in Europa seit dem Ersten Weltkrieg immer wieder von den Ideen der Menschenrechte, der Völkerverständigung und der Friedenssicherung hatte überzeugen wollen, müssen die Zuschauer / Zuhörer bedenken, was es für einen solchen Mann heißt, erstens ausgebürgert und verleumdet zu werden, zweitens nur noch ausnahmsweise an deutschsprachige Leser appellieren zu können und drittens nicht wirklich zu wissen, wie er sich und all jenen helfen soll, die das gleiche Schicksal teilen, aber weder so berühmt noch so vermögend wie er selbst sind. Zum Thema der Filmrezeption wird damit das Exil im Allgemeinen, nicht nur die besondere Lage, in der sich Stefan Zweig ab 1938 befunden hat. Bezeichnend für die Inszenierung von Maria Schrader ist allerdings, dass sie das vielfache Elend der Exilierten nicht etwa melodramatisch ausmalt, sondern eher indirekt zu Bewusstsein bringt: Was Zweig an traurigen Nachrichten und Hilfsgesuchen erreicht, übersteigt mit der Zeit erkennbar seine Kräfte. Der Film suggeriert nicht, dass Zweig allein die Not der von Hitler Verfolgten, Unterdrückten und mit dem Tod Bedrohten in den Suizid getrieben habe, aber seine Dramaturgie läuft doch darauf hinaus, dass die Zuschauer einen Zusammenhang vermuten und bedenken sollen, welche Verkettung zwischen Flucht und Exil, Verzweiflung und Selbstmord besteht. Umso bedeutsamer erscheint Zweigs letzte Mitteilung. Bevor er am 22. Februar 1942, gemeinsam mit seiner zweiten Frau, aus dem Leben schied, setzte Zweig ein Schreiben auf, in dem er seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass die Menschheit kurz vor einer neuen Morgenröte stünde, einem Auftauchen aus der finsteren Zeit des Tota-

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litarismus, des Krieges und des Völkermords. Er selbst wäre jedoch inzwischen zu alt, um nun, da die Welt seiner Sprache untergegangen sei, noch einmal von vorn anzufangen. Mit dieser Mitteilung kommt der Film am Ende auf die Erfahrung zurück, die seine Zuschauer gleich zu Beginn gemacht haben: die Konfrontation mit einer Welt, an der sie mangels Sprachkenntnissen nicht teilhaben. Vom Schluss her betrachtet – also in der reflexiven Einstellung auf das dargestellte Geschehen – erweist sich die Irritation der Erwartung, in einem Spielfilm alles auf Anhieb verstehen zu können, als Initialmoment einer empathisch grundierten Auseinandersetzung mit Flucht, Exil und ›Sprachlosigkeit‹.

2. FLUCHT, EXIL UND ›SPRACHLOSIGKEIT‹ Als Stefan Zweig 1941 einen Bungalow in Petropolis, nahe Rio de Janeiro, mietete, war sein Buch Brasilien. Land der Zukunft gerade im Berman-Fischer Verlag, Stockholm, erschienen. Nichts deutete darauf hin, dass ausgerechnet dieser Schriftsteller binnen Jahresfrist, offenbar überzeugt davon, selbst keine Zukunft mehr zu haben, just in dem Land Suizid verüben würde, das für ihn zum Inbegriff seiner politischen Hoffnungen geworden war. Das Brasilien-Buch ist eine Eloge auf die multiethnische Gesellschaft und auf die Lösung, die sie für das Zentralproblem der Menschheit gefunden hat. Dieses Zentralproblem, das sich jeder Generation und somit auch der unseren aufzwingt, ist die Beantwortung der allereinfachsten und doch notwendigsten Frage: wie ist auf unserer Erde ein friedliches Zusammenleben der Menschen trotz aller disparaten Rassen, Klassen, Farben, Religionen und Überzeugungen zu erreichen? Es ist das Problem, das an jede Gemeinschaft, jeden Staat immer wieder von neuem gebieterisch herantritt. Keinem Lande hat es sich durch eine besonders komplizierte Konstellation gefährlicher gestellt als Brasilien, und keines hat es – und dies dankbar zu bezeugen, schreibe ich dieses Buch – in so glücklicher und vorbildlicher Weise gelöst wie Brasilien. (Zweig 2013: 16f.)

Vorbildlich findet Zweig insbesondere, wie Brasilien »das Rassenproblem, das unsere europäische Welt verstört, auf die einfachste Weise ad absurdum geführt [hat]: indem es seine angebliche Gültigkeit einfach ignorierte.« (Ebd.: 17-18) Zwar befinde sich das Land keineswegs im Idealzustand. »Vieles ist erst im Anbeginn und Übergang.« (Ebd.: 21) Allein: »Es ist ein Land, das den Krieg haßt und noch mehr: das ihn soviel wie gar nicht kennt.« (Ebd.: 22) In Brasilien geschieht genau das Gegenteil von dem, was in Europa passiert, wo die Unduldsamkeit gegenüber anderen zum Massenmord an Juden, Sinti, Roma oder Ho-

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mosexuellen führt; in Brasilien kommt es zur »friedliche[n] Schlichtung aller Konflikte durch gegenseitige Konzilianz.« (Ebd.: 89) Dank dieser Methode sei Brasilien in den letzten fünfzig Jahren zur Integration von vier bis fünf Millionen Weißen fähig gewesen und habe von diesem Menschenzustrom wie stets in seiner Geschichte profitiert (vgl. ebd.: 135). Möglich war die Integration »dank der besonderen assimilatorischen Kraft dieses Landes« (ebd.: 136). Genau besehen, so Zweig weiter, komme dem Land diese Kraft durch einen »Transfusionsprozeß« (ebd.: 148) zu, denn: Alles, was wir heute brasilianisch nennen und als solches anerkennen, lässt sich nicht aus einer eigenen Tradition erklären, sondern aus einer schöpferischen Umwandlung des Europäischen durch das Land, das Klima und seine Menschen. (Ebd.: 151)

Zweig entwirft in seinem Brasilien-Buch ein Modell des kulturellen Übergangs – ein Modell, das den Zustrom an Menschen nicht als Gefährdung sozialer und kultureller Homogenität, sondern vielmehr umgekehrt Diversität als Steigerung sozialer, ökonomischer und kultureller Produktivität begreift. Er spricht ausdrücklich von einem »Energieeinschuß für Brasilien« (ebd.: 135) und betont den »Mangel an Mißtrauen gegen den Fremden, gegen den Andersrassigen oder Andersklassigen« (ebd.: 156), der das ›Land der Zukunft‹ auszeichne. Kritiker haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Zweig in seinem Buch nicht nur die innenpolitischen Schwierigkeiten Brasiliens ausspart, sondern auch die autoritären Züge der Regierung Vargas unterschlägt, die 1937 durch einen Staatsstreich an die Macht gelangt war und die Verfassung aufgehoben hatte (vgl. Michels in Zweig: 2013: 312). Die Verklärung des Landes ist der rhetorischen Funktion, der politischen Relevanz von Zweigs Buch geschuldet: Da sich Brasilien unter dem für ihn entscheidenden Gesichtspunkt der Inklusion vollkommen konträr zu der Realität in Europa ausnimmt, die absolut hoffnungslos ist, zieht es all seine Hoffnungen auf sich. Tatsächlich fühlte sich Zweig, der in Brasilien auch außerhalb der intellektuellen Szene Bewunderung für seine literarische Leistung wie für seine pazifistische Weltanschauung erfahren hatte und, dem Urteil seiner Zeitgenossen zufolge, selbst ein ungewöhnlich konzilianter Mensch war, persönlich in Petropolis wohler als in London, auch wenn er sich nicht endgültig zwischen Süd- und Nordamerika entscheiden mochte. »Ich lebe lieber in Brasilien; Newyork wieder hat die Vorteile menschlichen Kontakts mit alten Freunden und gewisser Verdienstmöglichkeiten« (Zweig/Zech 1986: 111), schrieb er seinem Freund Paul Zech am 5. Juni 1941. Hin- und hergerissen zwischen der alten Welt, der ›Welt von Gestern‹, die er in seinem letzten Buch nicht ohne Wehmut beschreiben soll-

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te, und der Notwendigkeit, sich in der neuen Welt einrichten zu müssen, erlebte er sein Exil als einen prekären Übergang, der vor allem mit Verlusterfahrungen einherging, die weniger materieller als ideeller Art waren. Geradezu ungläubig fragte er Paul Zech in einem anderen Brief: […] wonach ich strebte, schon in meinen frühesten Jünglingsjahren, war die Betonung des ›Europäischen Menschen‹ und der ›Europäischen Geisteshaltung‹. Soll das jetzt vorbei sein? Total und unwiederbringlich? Nach all den jahrhundertelangen Anstrengungen unserer geistigen Größen? (zit. n. Zech in Zweig/Zech 1986: 130)

Zweig widerstrebte es zutiefst, diese Fragen mit ›Ja‹ zu beantworten und konnte doch nicht umhin, sich und Zech einzugestehen, wie unendlich viel Kraft das ›Nein‹ kosten würde: Mein Lieber, es wäre dumm und verlogen, Dir sagen zu wollen: sei guten Muts, wir werden siegen, es wird alles besser werden. Wir brauchen einen ganz anderen Mut, nicht den eines künstlichen Optimismus, den Mut des ›dennoch‹ und ›trotzdem‹. (Zweig/Zech 1986: 111)

Im bereits zitierten Brief vom 5. Juni 1941 findet sich allerdings eine doch schon recht resigniert klingende Bemerkung, die Zweigs Abschiedsworte antizipiert: Wir alle wissen eigentlich nicht mehr recht, wofür wir leben, wenn wir nicht mehr an die Zukunft glauben, und gerade unsere Generation wird wie manche unter den Kindern Israels in der Wüste umherirrend sterben, ohne vom Berg Nebo den Ausblick auf das gelobte Land gesehen zu haben. (Ebd.: 110f.)

Zweig hatte in Brasilien vielleicht nicht das gelobte Land, immerhin jedoch ein ›Land der Zukunft‹ erblickt, aber – spätestens bei der anschließenden Arbeit an Die Welt von Gestern – erkannt, dass es nicht mehr sein Land werden würde. Die Zukunft war nicht ihm verheißen, sondern anderen. Für sie, für seine Leser wollte er aller Verzweiflung und Erschöpfung zum Trotz Zeichen der Hoffnung setzen. Zech schrieb ein Jahr nach Zweigs Tod – ein Wort von Jakob Wassermann aufgreifend –, kein anderer Schriftsteller sei so sehr »der Mund der Schweigenden« (ebd.: 135) gewesen. Diesem Ethos blieb Zweig noch in seiner letzten Mitteilung verpflichtet. Zum Inbegriff der Hoffnung wurde unter diesen Umständen die Metapher von der ›Morgenröte‹. Ihre moralische Bedeutung ist evident, doch besitzt sie darüber hinaus biographische und politische Konnotationen – sowohl für Zweig

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als auch für Zech. Zech war bereits 1933 ins Exil getrieben worden und lebte in Buenos Aires mehr schlecht als recht, erst von der Unterstützung seines Bruders Rudolf, dann von Zuwendungen seines Freundes Stefan Zweig, des Theater- und Filmregisseurs Wilhelm Dieterle und anderer. (Vgl. Daviau in Zweig/Zech 1986: 157-159) Schon 1936 räumte er unumwunden ein: »Ich werde hier nie heimisch werden können. Man lebt wie ein Tier, das angeschossen ist und sich im Gebüsch verkrochen hat.« (Zweig/Zech 1986: 104) Trotz seiner Begeisterung für die Mythen der indigenen Bevölkerung, die er in Gedichten, Theaterstücken und Erzählungen aufgriff, und seines ungeheuren Arbeitsfleißes gelang es Zech bis zu seinem frühen Tod 1946 nicht, sich in Lateinamerika eine neue Existenz aufzubauen. Er war allerdings auch schon zuvor, noch in Europa, immer wieder auf die psychologische und finanzielle Unterstützung Zweigs angewiesen gewesen – zum Beispiel 1925 im Gefolge eines Rechtsstreits um die Übersetzung eines Theaterstücks mit dem Titel Les Aubes, zu Deutsch: Morgenröte. Es stammte von dem flämischen Autor Émile Verhaeren. Eben durch diesen Autor hatten sich Zweig und Zech 1909 kennengelernt. Verhaeren, der seinen Ruhm – er wurde sogar für den Literaturnobelpreis nominiert – dem unermüdlichen Einsatz von Zweig zu verdanken hatte, der in ganz Europa Vorträge über sein Idol hielt und die erste deutschsprachige Ausgabe seiner Werke besorgte, war wie Zech und Zweig überzeugter Pazifist. Einige Jahre nach seinem frühen Tod – er starb 1916 bei einem Unfall in der Nähe von Rouen – verklagte die Witwe Zech, weil dieser seine Übersetzung von Les Aubes nicht hatte autorisieren lassen. Zech wurde ihre Publikation untersagt. Zum Zeitpunkt des Gerichtsurteils war der Titel des Stücks im Briefwechsel von Zech und Zweig freilich längst zu einer Chiffre geworden. Bereits Anfang der 1920er Jahre, lange vor dem Prozess, schrieb Zech voller Pathos an Zweig: »Ich glaube an die Morgenröte der Vernunft in Europa. Die nationalistische Welle, die Deutschland jetzt durchtobt, berührt mich ebensowenig wie die von 1914.« (Ebd.: 82) Es gab in Zechs Augen also seit Beginn der ›nationalistischen Welle‹, von der die Weimarer Republik unterspült werden sollte, einen Gegensatz zwischen Revanchismus und Vernunft, zwischen Ratio und Volksaufhetzung. Es gab für ihn damit auch die Notwendigkeit, dem um sich greifenden Irrsinn literarisch und politisch zu begegnen. Dem Briefwechsel ist nicht zu entnehmen, dass Zech die Aporie bewusst gewesen wäre, die in einem ›Glauben‹ an die Widerauferstehung der Vernunft liegt. Historisch gesehen, war die europäische Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert mit der Kritik an bestimmten Dogmen der Kirche einher gegangen und im 19. Jahrhundert, im Gefolge des europäischen Nihilismus, bis an die Schwelle zu einer Umkehr aller Werte geraten, insbesondere aller christlichen.

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Als Kulminationspunkt dieser Entwicklung kann man die Gedanken über die moralischen Vorurteile betrachten, die Friedrich Nietzsche 1886 in einem Buch mit dem vielsagenden Titel Morgenröthe niedergelegt hatte. Der Titel erklärt sich aus dem Bild, das der Philosoph in der Vorrede für seine kritische Arbeit gefunden hat. Es sei die Arbeit eines »Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden«, der in die Dunkelheit der Gegenaufklärung hinabgestiegen sei, Licht und Luft lange entbehrt habe und nun mit der Publikation seiner subversiven Gedanken »seine eigne Erlösung, seine Morgenröthe« betreibe (Nietzsche 1980: 11). Bezieht man Zweigs Abschiedsworte an die Menschheit, allen voran die Metapher der ›Morgenröte‹, die in seinem Briefwechsel mit Paul Zech als Chiffre für den Zusammenhang von Vernunft und Hoffnung fungiert, über Verhaeren hinaus zurück auf Nietzsche, kann man zweierlei festzustellen: für Zweig musste der Glaube an die Rationalität 1942 selbst zunehmend irrational erscheinen. Er hatte dem grassierenden Wahnsinn nur noch einen ›künstlichen Optimismus‹ entgegenzusetzen, von dem er selbst nicht mehr überzeugt war. Das ist die eine, die tragische Seite. Und doch – das ist die andere Seite – hat ihm die Geschichte Recht gegeben. Mit dem Titel ihres Films bekräftigt Maria Schrader diese Wendung just zu einem Zeitpunkt, als es wieder einmal Anlass zu Pessimismus in Bezug auf Europa und seine Zukunftsfähigkeit gibt. Daher kann man die filmische Erinnerung an Stefan Zweig und seine letzten Worte im Jahre 2016 auch als Einspruch gegen die Sprachlosigkeit auffassen, die inmitten einer Situation droht, die durch Polyphonie, Heteroglossie und ›superdiversity‹ gekennzeichnet ist. Bedingt durch die Migration, die 2015 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte, befindet sich Europa derzeit in einem Übergang, der krisenhafte Züge aufweist. Der Kontinent steht vor der Entscheidung, entweder als Zufluchtsstätte oder als ›Festung‹ zu gelten, Flüchtlinge entweder aufzunehmen oder zurückzuweisen. Und wie schon so oft, geht die Tendenz zur Abschottung auch diesmal mit einer ›nationalistischen Welle‹ einher, nicht nur in der Bundesrepublik. Die Aggressivität, mit der xenophobe Einstellungen in den Sozialen Medien derzeit vertreten werden und von dort in den öffentlichen Diskurs eindringen, kann einen in der Tat ›sprachlos‹ machen. In einem noch viel grundsätzlicheren, bedenklicheren Sinne wird eine Gesellschaft durch die Schließung, durch die Exklusion alles Fremden ›sprachlos‹. Wer sich der Not anderer verschließt, die Grenzen dicht macht und jeden Anspruch auf internationale Verständigung leugnet, verstummt vor der Welt. Diese ›Sprachlosigkeit‹ beginnt erfahrungsgemäß damit, dass die ›schweigende Mehrheit‹ den politischen Diskurs denjenigen überlässt, die von der ›Blutgemeinschaft des Volkes‹ faseln und ›Transfusion‹ mit ›Infektion‹ verwechseln.

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Umso aktueller, relevanter erscheint Zweigs Brasilien-Buch. Das Bild, das er vom ›Land der Zukunft‹ gezeichnet hat, mag ein artifizielles, realhistorisch längst überholtes sein, doch erfüllt es nach wie vor seine rhetorische Funktion als Gegenentwurf zu jedem Staatswesen, durch das eine ›nationalistische Welle‹ rollt. Auf die Anfälligkeit gerade der Deutschen für eine solche Strömung hatte schon Nietzsche im Dritten Buch Morgenröthe hingewiesen. Dort kommt der Philosoph in Abschnitt Nr. 190 auf »Die ehemalige deutsche Bildung« zu sprechen. Was er über sie mit bitterer Ironie zu sagen hat, wirkt wie ein Vorgriff auf die verhängnisvolle Entwicklung der europäischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Als die Deutschen den anderen Völkern Europas anfingen interessant zu werden – es ist nicht zu lange her –, geschah es vermöge einer Bildung, die sie jetzt nicht mehr besitzen, ja die sie mit einem blinden Eifer abgeschüttelt haben, wie als ob sie eine Krankheit gewesen sei: und doch wussten sie nichts Besseres dagegen einzutauschen, als den politischen und nationalen Wahnsinn. Freilich haben sie mit ihm erreicht, dass sie den anderen Völkern noch weit interessanter geworden sind, als sie es damals durch ihre Bildung waren: und so mögen sie ihre Zufriedenheit haben! Inzwischen ist nicht zu leugnen, daß jene deutsche Bildung die Europäer genarrt hat und dass sie eines solchen Interesses, ja einer solchen Nachahmung und wetteifernden Aneignung nicht werth war. (Ebd.: 162f.)

Es wird vermutlich wenig nützen, all jenen, die Flüchtlinge und Schutzbedürftige als ›Asyltouristen‹ diffamieren, diese Zeilen ins Stammbuch zu schreiben und darauf hinzuweisen, dass die ›Bildung‹, auf die man sich in Deutschland gerne besonders viel einbildet – vor allem ›Überlegenheit‹ – sogar dazu taugt, der Indifferenz und Interpassivität ein gutes Gewissen zu verschaffen. Dennoch: die Linie, die von Nietzsche über Verhaeren zu Zech und Zweig führt, ohne ihre durchaus unterschiedlichen Positionen auf einer Geraden zu versammeln, lässt sich bis in die Gegenwart verlängern: als Trennlinie, die das Europa der Zukunft von seiner nationalistischen und kolonialistischen Vergangenheit abgrenzt, und als Richtschnur für eine Politik, die endlich mit der moralischen Aufladung der ›Nation‹ zu einem Fetisch und dem Ausspielen einer höchst fragwürdigen Staatsräson gegen die Forderungen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit bricht. Die Verfassung der Bundesrepublik, die Verträge der Europäischen Union und die Charta der Vereinten Nationen jedenfalls verlangen keine ›Abschottung‹; sie fordern vielmehr Empathie und Solidarität.

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3. IMMERSION, TRANSITION UND DIALOGIZITÄT Nun ist mit dem Ziehen einer Trennlinie und dem Aufspannen einer Richtschnur – beides Gesten, die sich auf dem Papier leicht ausführen lassen – noch nicht viel erreicht. Schlimmer noch: Demarkationen lösen häufig Widerstände und Abwehr- oder Trotzreaktionen aus. Statt auf Abgrenzung sollte man daher auf Einbindung setzen. Gerade Kunstwerke können eine solche Einbindung leisten, indem sie den Rezeptionsmodus der Immersion an Momente der Transition und der Dialogizität koppeln. Nicht ohne Grund wird der Begriff der Immersion sowohl von Linguisten gebraucht, die sich mit den Modalitäten des Fremdsprachen-Lernens befassen, als auch von Kultur- und Medienwissenschaftlern, die bemüht sind, eine spezifische Wirkungsdimension von Sprachkunstwerken, Spielfilmen und anderen Artefakten zu beschreiben. In der Literatur- und Filmwissenschaft wie in den Game-Studies versteht man unter Immersion das ›Eintauchen‹ der Rezipienten in jene diegetische Welt, die im Wechselspiel von Darstellung und Vorstellung, Präsentation und Imagination Gestalt annimmt. Das Spektrum reicht von der fesselnden Buchlektüre, während der man alles andere um sich herum vergisst, über die physiologische und psychologische Vereinnahmung der Zuschauer durch das Geschehen auf der Kinoleinwand bis zu der mehr oder weniger plastisch animierten Interaktion mit Avataren oder Antagonisten auf dem Computerbildschirm. Dabei kann es, wie zu Beginn von Schraders Film, zu durchaus paradoxalen Effekten kommen. In die Szene einer fremden Sprache versetzt, die sie nicht verstehen, sind die Zuschauer zugleich ›mittendrin‹ und ›außen‹ vor; ihre Partizipation qua Kameraeinstellung ist an ihre Exklusion qua Tonspur gekoppelt. Überhaupt haftet der Immersion etwas Paradoxes an: Einerseits befinden sich Leser, Zuschauer und Spieler mit ihrem Körper in der angestammten Lebenswelt, im so genannten ›Meatspace‹, andererseits agieren sie virtualiter an einem anderen Ort, an dem eigene Regeln gelten und der ebenso gut ein der vertrauten Welt ähnliches Paralleluniversum wie ein fantastischer Gegenentwurf zur Alltagswirklichkeit sein kann. Mit Blick auf das Fremdsprachen-Lernen spricht man von Immersion, wenn die Lernenden ganz und gar in das Milieu der zu erlernenden Sprache ›eintauchen‹, also für geraume Zeit ins Ausland gehen oder zumindest für die Stunden, die dem Spracherwerb dienen, ausschließlich in der zu erlernenden Sprache kommunizieren. Hier wie dort, beim immersiven Sprachen-Lernen wie bei der Nutzung immersiver Medien, kommt es offensichtlich auf die Steigerung der Erfahrungsintensität an. Der wesentliche Unterschied besteht – zumindest in didaktischer

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Hinsicht – darin, dass der Erfahrungsmodus der Immersion beim Spracherwerb im Kontext eines ausdrücklichen Lernens steht, während dieser Modus beim Filme-Schauen und Spielen offenbar nicht gegeben ist. Genau besehen sind die Unterscheidungen zwischen expliziter und impliziter, deklarativer und prozeduraler Kompetenzvermittlung allerdings weniger trennscharf, als es die Theorie erwarten lässt. In der Praxis werden sie nämlich performativ unterlaufen – im ›Sprachlabor‹ wie im ›Spiel‹- oder ›Lehrfilm‹ und selbstverständlich auch auf der ›Lernspielplattform‹. Es macht daher Sinn, den Erlebnismodus der Immersion an Momente der Transition zu koppeln: an Übergänge von einem Wissensoder Bewusstseinszustand in einen anderen. Dafür spricht unter anderem, dass jede Erfahrung, die diesen Namen tatsächlich verdient, einen Erwartungshorizont durchstößt. Unter dieser Voraussetzung kann man die Intensität des Erlebens bis zu dem Punkt treiben, an dem ein solcher Horizont nicht nur perforiert, sondern vaporisiert, nicht nur mehrfach durchstoßen, sondern gänzlich aufgelöst wird. Ein solches Ziel kann das ausdrückliche Fremdsprachen-Lernen freilich nicht haben, da die bereits erlernte Erstsprache stets die Vergleichsfolie für das Verstehen wie für die Verwendung der Fremdsprache bleibt. Insofern diese Vergleichsfolie einem Erwartungshorizont entspricht, wäre ihre Auflösung geradezu kontraproduktiv und dysfunktional. Allerdings kann die Immersion in eine Fremdsprache dazu führen, dass jemand nicht nur einen Teil der Kenntnisse, sondern auch der Vorurteile verliert, die mit dem primären Spracherwerb verbunden sind. Man kennt das von Menschen, die ausgewandert sind und nach einigen Jahren, etwa beim Zusammentreffen mit Gästen aus ihrem Herkunftsland, bemerken, dass ihnen neben bestimmten Lexemen mangels Gebrauch auch bestimmte Einstellungen abhandengekommen sind. In diesem Sinne folgt aus Ludwig Wittgensteins Axiom Nr. 5.6 im Tractatus logico-philosophicus – »Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt« (Wittgenstein 1983: 89) –, dass der Übergang zu einer anderen Sprache auch der Übergang zu einer anderen Welt ist. Individuelle Mehrsprachigkeit geht folglich mit der Fähigkeit einher, unterschiedliche Welten miteinander vergleichen und gegebenenfalls zwischen verschiedenen Haltungen wählen zu können. Selbstverständlich leistet kein einzelner Spielfilm die vollständige Auflösung eines wie auch immer gearteten Erwartungshorizontes, schon gar nicht des Horizontes, den die vertraute Sprache aufspannt. Es könnte jedoch sehr wohl sein, dass bestimmte Erwartungen erst ihre Relevanz und dann ihre Persistenz verlieren, wenn eine bestimmte Rezeptionssituation, an die man sich lange gewöhnt hat, dauerhaft suspendiert wird und die diegetische Welt als alternative Version

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der Welt in Szene gesetzt wird, die gemeinhin für die einzig mögliche gehalten wird. Zurzeit stellen mehrsprachige Szenen, wie sie in VOR DER MORGENRÖTE wiederholt vorkommen, zumindest in Deutschland und Österreich noch die Ausnahme von der Regel der Synchronisation oder Untertitelung dar. Doch das könnte sich schnell und nachhaltig ändern, wenn drei Entwicklungslinien zusammenlaufen, die sich schon jetzt abzeichnen: Da ist erstens die Zunahme territorialer und sozialer Mehrsprachigkeit in beiden Ländern, die im Zuge von Migration, Flucht, Vertreibung und – nicht zu vergessen – Freizügigkeit auf dem europäischen Arbeitsmarkt zustande kommt. Hinzu tritt zweitens die zunehmende individuelle Mehrsprachigkeit der in Deutschland oder Österreich aufgewachsenen Menschen und drittens der Trend, den Maria Schraders Film markiert. Wie viel sich bereits geändert hat, wird klar, wenn man auf frühere Zeiten zurückblickt: Thomas Mann beispielsweise reflektiert in seinen Buddenbrooks (1901) nur an wenigen Stellen den kulturellen Kontext der Diglossie, der in Lübeck zur Zeit der Romanhandlung bestand, wenn er einigen seiner Figuren ein Code-Switching zwischen Hoch- und Niederdeutsch erlaubt. Sehr ungewöhnlich waren und sind bis heute die seitenlangen Passagen auf Französisch, die Der Zauberberg (1924) enthält. Vergleichbares gab es in der deutschsprachigen Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum und findet sich auch später nur selten. Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre vollzog sich im deutschsprachigen Kulturraum der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm, der weniger linear und komplexer war, als er im Nachhinein vielfach dargestellt worden ist. Im Ergebnis war die Sache jedoch eindeutig: In Deutschland und Österreich wurden fremdsprachige Filme, sofern sie einen einheimischen Verleih fanden, durchweg synchronisiert, und wenn es aus dramaturgischen Gründen gleichwohl nötig war, dass die Figuren einmal nicht Deutsch sprachen, wurden diese wenigen Sequenzen untertitelt. Erst als Originalszenen, die in den deutschen Fassungen zunächst ausgelassen worden waren, später ohne Synchronisation wieder eingefügt wurden, verzichtete man auf diese kulturelle Praxis; freilich geschah dies zu einem Zeitpunkt, als es bereits signifikant mehr individuelle Mehrsprachigkeit in Deutschland und Österreich gab als in den beiden Dekaden unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. In einigen Fällen – der ersten deutschsprachigen Version von CASABLANCA (1942, Regie: Michael Curtiz), in NOTORIOUS (1946, Regie: Alfred Hitchcock) und in DR. STRANGELOVE ODER WIE ICH LERNTE, DIE BOMBE ZU LIEBEN (1964, Regie: Stanley Kubrick) – ging die Synchronisation sogar mit ideologisch motivierten Eingriffen in das Original-Skript respektive mit Auslas-

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sungen einher – angeblich aus Rücksicht auf die Empfindlichkeiten des westdeutschen Publikums. Mit der Zeit erübrigten sich diese Eingriffe und Auslassungen allerdings ebenso wie die Notwendigkeit, fremdsprachige Schrift im Bild durch Untertitel zu übersetzen. So wirkt es heute geradezu lächerlich, wenn ein älterer Schwarzweißfilm aus Hollywood im Fernsehen läuft, ein Gebäude mit der Aufschrift ›Airport‹ ins Bild kommt und dieses Bild dann mit dem Untertitel ›Flughafen‹ erscheint. Unabhängig von der sporadisch wieder belebten Diskussion über die Zunahme englischsprachiger Lehnworte im Deutschen, belegt dieses Beispiel meine These, dass Fremd- und Mehrsprachigkeit in der alltäglichen Lebenswelt von Deutschland oder Österreich kein gewöhnungsbedürftiges Phänomen mehr darstellt. Und damit komme ich zu meiner vorletzten These: Umso selbstverständlicher diese sich in zahlreichen Vorkommnissen manifestierende Mehrsprachigkeit der alltäglichen Lebenswelt wird, umso künstlicher, umso unnatürlicher wirken Synchronisation und Untertitel in Filmen, deren Schauplätze offensichtlich nicht in Deutschland oder Österreich liegen. Aus dieser These folgt zwar nicht zwingend, dass man ›on location‹ jeweils so drehen muss, wie ›on location‹ gesprochen wird, ich denke jedoch, dass es von der Mehrheit der Zuschauer / Zuhörer inzwischen als unrealistisch und störend empfunden wird, wenn in einer Szene, die zum Beispiel auf einer Straße in Madrid spielt, Stimmen zu hören sind, wie man sie nur auf einer Straße in München, Hamburg oder Berlin aufnehmen kann. Tatsächlich war es schon seit den 1970er Jahren üblich, die akustische Atmosphäre und Geräuschkulisse im Hintergrund der Figuren-Dialoge, die synchronisiert wurden, beizubehalten, so dass man bei genauem Hinhören zugleich die Fremdsprache vor Ort und den Figuren-Dialog in der Übersetzung vernehmen kann. Das setzt allerdings voraus, dass die Synchron-Studios mit der Original-Tonspur arbeiten können, was nicht immer der Fall ist (vgl. Bräutigam/Peiler 2015: 27). Wichtiger als der Verweis auf die Evolution der Filmsprache ist mir allerdings die letzte These, mit der ich an Michael Tomasello anknüpfe. Es geht um die Verschränkung von sozialer Szene, geteilter Aufmerksamkeit (›joint attention‹) und didaktischer Funktion. Tomasello hatte ja ein Modell für die kognitive Evolution des Kindes entworfen, die eng mit dem Spracherwerb, dem vor- und frühsprachlichen Dialog von Kind und Mutter, sowie mit der Kopräsenz von Gegenständen verknüpft ist, denen die Mutter ihre Aufmerksamkeit zuwenden kann. Indem das Kind beständig ihren Augen folgt, dieselben Gegenstände erblickt und jeweils hört, welche Namen ihnen die Mutter gibt, werden ›Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit‹ etabliert bzw. iteriert (vgl. Tomasello 2002). In

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diesen Szenen erwirbt das Kind mehr und mehr die Fähigkeit, einzelnen Gegenständen bestimmte Bezeichnungen zuzuordnen und diese Bezeichnungen irgendwann selbst dann eigenständig und sinnvoll zu verwenden, wenn die Gegenstände abwesend sind und die ursprüngliche Lernszene aufgehoben ist. Erst damit wird das Kind zu einem vollwertigen Mitglied der bestehenden Zeichengemeinschaft, besteht der eigentliche Witz des sozialen Redeverkehrs doch darin, dass nicht Gegenstände, sondern Vorstellungen verhandelt werden, über die im Kern weitgehende Einigkeit besteht. Wenn ›Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit‹ die Funktion eines Lernmediums haben, kann man die Auflösung der Mutter-Kind-Dyade wiederum als einen Vorgang der Immersion und Transition verstehen, als einen Vorgang des zunehmenden ›Eintauchens‹ in die Lebenswelt, die sich einem Heranwachsenden gleichsam in konzentrischen Kreisen, vom Lebensmittelpunkt der Familie aus, erschließt. Das Kind meistert den Übergang von der Ur-Szene des Spracherwerbs in immer neue Situationen, indem es soziale Beziehungen außerhalb der Familie eingeht, dergestalt seinen Welthorizont erweitert und neue Begriffe oder andere Verwendungsweisen der bereits erlernten zur Kenntnis nimmt. Auch wenn diese Beschreibung zugegebener Maßen idealtypisch anmutet, und ein Kind im Zuge dieser Transitionen immer wieder Repulsionen verkraften muss, kann doch kein Zweifel an der prinzipiellen Attraktivität der Lebenswelt bestehen, der die kindliche Neugier entspricht. Es scheint hier ein Wechselspiel von ›Affordanz‹ und ›Performanz‹ stattzufinden. Die wahrnehmbare Umwelt besteht, J. J. Gibson zufolge, in erheblichem Maße aus Angeboten, die sinnlich erfasst werden – Angebote, zu denen nicht zuletzt Sinnpotenziale zählen (vgl. Gibson 1979). Die Wahrnehmung dieser Angebote – also ihre Erfassung und Nutzung – ist nichts anderes als Aneignung im Vollzug und muss daher als ein performatives Geschehen der sensomotorisch-praktischen wie der intellektuell-theoretischen Welterschließung aufgefasst werden. Ab einem bestimmten Alter spielen Medien bei der von Neugier motivierten Welterkundung und -erschließung eine wichtige Rolle, das heißt: Ein nicht unerheblicher Teil dessen, was man Weltwissen und Menschenkenntnis nennt, beruht nicht auf persönlicher Anschauung und Erfahrung, sondern geht auf Vermittlungsakte zurück, dank der es dem Einzelnen möglich wird, sich Erfahrungen anderer anzueignen, anzuverwandeln und gemäß der eigenen Prädisposition und Lebenssituation umzugestalten. Der Oberbegriff dafür lautet: kulturelles Lernen. Ich behaupte also, dass sich auch die medial vermittelte Kommunikation aus Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit zusammensetzt, wobei es nicht darauf ankommt, dass diese Szenen von einem Kollektiv wahrgenommen werden. Ausschlaggebend für die sachgerechte Verwendung des Begriffs ist vielmehr, dass

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Szenen bestimmte Gegenstände, Beziehungen oder Ereignis-Zusammenhänge in den Fokus der individuellen Wahrnehmung rücken und mit Bedeutungen versehen, die Gemeingut sind. Da die Iteration solcher Szenen Lerneffekte generiert, die sich nicht auf die Wiedererkennbarkeit der einzelnen Gegenstände, Beziehungen oder Ereignis-Zusammenhänge einschließlich ihrer Bedeutung beschränken, sondern ein Netzwerk erzeugen, das zugleich ein semantisches und ein soziales Netzwerk darstellt, gehen Integration und Enkulturation Hand in Hand. Folgerichtig lautet meine letzte These, dass die Medien bei der politisch gebotenen Erweiterung des kulturellen zu einem interkulturellen Lernen von großer Bedeutung sein können und dass gerade Spielfilme mit fremd- und mehrsprachigen Szenen dazu geeignet sind, aus dem ehemaligen Ausnahmezustand den Regelfall zu machen. Sie vermitteln Alteritäts- und Diversitätserfahrungen immersiv und bewirken eine Transformation der Rezeptionssituation, die zunächst befremdlich wirken mag. In der Welt, in der wir mittlerweile leben, ist es aber nur wahrscheinlich, dass man mit Fremd- und Mehrsprachigkeit konfrontiert wird und auf Anhieb nicht jede Äußerung versteht. Daher sollte auch in den Medien gar nicht erst die Erwartung genährt werden, dass sich in einer solchen Situation das Wunder der Synchronisation oder der Untertitelung ereignet. Wie unwahrscheinlich Einsprachigkeit eigentlich ist, wird durch einen Blick auf indische Spielfilme deutlich. In einem Land, in dem es über zwanzig anerkannte Sprachen gibt und jeweils mehrere davon selbst in institutionellen Diskursen, etwa vor Gericht, verwendet werden, wäre es nicht nur ein hoffnungsloses, sondern ein geradezu sinnloses Unterfangen, jede Szene synchronisieren oder mit entsprechend vielen Untertiteln in allen relevanten Sprachen versehen zu wollen (vgl. dazu in diesem Band den Beitrag von Atre Sonal, Dindore Gauri und Parkhe Aditi). Wenn es aber schon für den intrakulturellen Umgang mit literarischen Texten oder Spielfilmen charakteristisch ist, dass man die Erfahrung der partiellen Unverfügbarkeit ihres Sinns macht, sollte die interkulturelle Verständigung nicht daran scheitern, dass die Beteiligten nicht alles verstehen. So gesehen liegt die Herausforderung weniger darin, durch Untertitelung oder Synchronisation Fremdheitserfahrungen zu verhindern, als vielmehr darin, das Nicht-Verstehen zuzulassen, um just so erfahrbar zu machen, dass die Grenze des kognitiven Verstehens nicht die Grenze der interkulturellen Verständigung ist. Um es noch einmal am Beispiel des Exils und des Films VOR DER MORGENRÖTE zu exemplifizieren: Kein Mensch, der nicht selbst genau das Gleiche wie Stefan Zweig erlebt hat, kann wirklich verstehen, was es bedeutet, ohne Schuld der eigenen Existenz und Identität beraubt und in eine Situation der zunehmenden Sinn- und Sprachlosigkeit getrieben zu werden – und doch fördern Texte oder Filme, die

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traumatische Erfahrungen wie diese einfühlsam vermitteln, in dem Maße, in dem sie ihren Rezipienten eine perspektivische und empathische Mimesis abverlangen (vgl. Gebauer/Wulf 1992: 333), eine Verständigung darüber herbei, was Not tut. Es geht hierbei nicht allein um jene Verständigung, die ausschließlich im Gespräch, im zwischenmenschlichen Erfahrungsaustausch, im interpersonalen Dialog zustande kommt. Es geht immer auch um das, was im Bewusstsein, im Bereich der intra-personalen Dialogizität stattfindet, also dort, wo das »innerlich überzeugende Wort« (Bachtin 1979: 232) als Antwort auf fremde Ansprüche entworfen wird. Diese Ansprüche müssen keineswegs expressis verbis erhoben werden, sie können in einem Blick, in einem Bild, in einer Film-Szene liegen und sind gewissermaßen das Andere der Affordanz. Zum entscheidenden Augenblick, zum Augenblick der Morgenröte, wird dann jener, in dem ein zunächst unverbindlich wirkendenes Angebot, zumal ein Unterhaltungsangebot, die Frage nach der eigenen Verantwortlichkeit aufwirft. Denn die Übernahme dieser Verantwortlichkeit eröffnet einen neuen Horizont, einen neuen Handlungszusammenhang, der in finsteren Zeiten Mut zur Hoffnung macht.

LITERATUR UND MEDIEN Bachtin, Michail M. (1979): Die Ästhetik des Wortes. Hg. u. eingeleitet v. Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt v. Rainer Grübel u. Sabine Reese. Frankfurt am Main. Bräutigam, Thomas/Peiler, Nils Daniel (2015): Erkenntnispotentiale einer Beschäftigung mit Filmsynchronisation. In: Dies. (Hg.): Film im Transferprozess. Transdisziplinäre Studien zur Filmsynchronisation. Marburg, S. 17-28. Daviau, Donald G. (1986): Die Freundschaft zwischen Stefan Zweig und Paul Zech. Eine biografische Studie. In: Zweig, Stefan/Zech, Paul (1986): Briefe 1910-1942. Hg. v. Donald G. Daviau. Frankfurt am Main, S. 141-167. Gebauer, Gunter/Wulf Christoph (1992): Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg. Gibson, J. J. (1979): The Ecological Approach to Visual Perception. Boston. Michels, Volker (2013): Ethnische Vielfalt gegen rassistische Gewalt. Zur Entstehungsgeschichte von Stefan Zweigs Brasilienbuch. In: Zweig, Stefan (2013): Brasilien. Ein Land der Zukunft. Berlin, S. 301-313. Nietzsche, Friedrich (1980): Morgenröthe. Gedanken über moralische Vorurtheile. In: Ders. Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 3. München, S. 9-331.

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Schrader, Maria (2014): VOR DER MORGENRÖTE. Spielfilm-DVD. Tomasello, Michael (2002). Die Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Aus dem Englischen v. Jürgen Schröder. Frankfurt am Main. Wittgenstein, Ludwig (1963): Tractatus logico-philosophicus/Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt am Main. Zweig, Stefan/Zech, Paul (1986): Briefe 1910-1942. Hg. v. Donald G. Daviau. Frankfurt am Main. Zech, Paul (1986): Stefan Zweig. Eine Gedenkschrift. In: Zweig, Stefan/Zech, Paul (1986): Briefe 1910-1942. Hg. v. Donald G. Daviau. Frankfurt am Main, S. 115-139. Zweig, Stefan (2013): Brasilien. Ein Land der Zukunft. Berlin.

III. Exil und Diaspora

Hölderlins Hyperion: Eine europäische Flüchtlingsgeschichte? Raluca Rădulescu (Bukarest)

In seinem 2016 erschienenen Essay Mein Europa entwirft Peter Härtling ein Bild Europas, in dessen Mittelpunkt die Figur des Fremden und Flüchtlings steht, der in der Geschichte dieses Kontinents von der Zeit der Völkerwanderung bis in die Gegenwart ein Zeichen des ständigen Grenzwandels und zugleich der dadurch geschaffenen Vielfalt einer Region darstellen soll, die als »Flickenteppich« und »Gewebe« beschrieben wird (Härtling 2016: 15). In Hölderlins 1797/1799 erschienenem Roman Hyperion kommt ein philosophisches Projekt zustande, in dem die »Dissonanzen der Welt« (Hölderlin 2014: 457) durch Rückgriff auf das aufklärerisch-klassizistische Ideal einer Weltharmonie versöhnt werden. Viel spannender ist es aber für den heutigen Leser, den Text aus der Sicht einer Poetik der Transkulturalität zu lesen. Die Hauptgestalt erklärt sich bereit, sich als Grenzgänger auf eine Wallfahrt bzw. in ein Eremitendasein zu begeben, um in der Fremde als Wanderer, Fliehender und Flüchtling »jenseits des Meeres Wahrheit zu finden« (Hölderlin 2014: 310). Diese Lesart als Flüchtlingsroman avant la lettre möchte auch auf transnationale Konstellationen des Zusammentreffens von Völkern und Kulturen (Ägypten-NordenGriechenland) über das Binom Eigenes-Fremdes hinaus untersuchen. Somit soll auch die Bedeutung eines damals entworfenen Europa-Bildes als »das Eine in sich selber unterschiedne« (Hölderlin 2014: 385) hinterfragt werden.

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1. VORÜBERLEGUNGEN Obwohl das Binom Eigenes-Fremdes im Werk Hölderlins oft angesprochen wird, hat die Forschung seine Texte bisher kaum aus Sicht der interkulturellen Germanistik beleuchtet. Vor allem heute, da die Themen Flucht und Flüchtlinge Hochkonjunktur genießen, erweist sich ein Roman wie Hyperion umso aktueller, zumal man aus der Lektüre eines kanonisierten Textes aus der Zeit des Idealismus neue Aufschlüsse im Hinblick auf die gegenwärtigen Begebenheiten ziehen kann. Neuere Forschungsergebnisse deuten ihn schon als »europäischen Briefroman«, der einen »internationalen Briefwechsel« enthält (Stiening 2005: 490), ohne jedoch auf die interkulturellen Begegnungen samt ihren Spannungen näher einzugehen. Man müsste wahrscheinlich zuerst anmerken, dass Hölderlin zumindest in den letzten zwei Jahrzehnten von Literaturwissenschaftlern eher gemieden wurde. Das mag verwundern, wenn man bedenkt, dass man auf das aufklärerische Gedankengut eines Herder oder Hegel seit der Gründung der EU häufig verwiesen hat. Aber nicht nur Philosophen waren mit Fragestellungen wie der Erziehung des Menschen, geschichtlichem Fortschritt oder Kulturbildung und -differenzierung (was Samuel Huntington viel später clash of civilisations bezeichnen sollte) beschäftigt. Lessings Ideendrama Nathan der Weise sowie Goethes Iphigenie auf Tauris machen auf den Zusammenstoß der Kulturen aufmerksam und schlagen wechselseitige Toleranz als vernünftige Lösung vor. Auch im Umfeld und nach der Französischen Revolution beginnt die Debatte um den Nationenbegriff, da auch im ausgehenden Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation Orientierungsmuster gebraucht wurden, um aus der jahrhundertelangen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zerrissenheit herauskommen zu können. Die deutsche Klassik, die damals in ihrer Blüte stand, hat sich für das Vorbild des antiken Griechenland entschieden, und wenn sich Schiller bis zu seinem Tod als eifriger Verehrer des Hellas erklärt, bestehen Goethe (schon ab dem West-östlichen Divan) und Hölderlin auf der Schaffung einer Kultursynthese. Während aber Goethes Blick immer noch einem gewissen Ethnozentrismus verhaftet bleibt, möchte Hölderlin das Eigene in einem Spannungsfeld zum Anderen betrachten, indem er zu einer doppelten Optik bereit ist, wobei das Fremde als kritischer Spiegel für das Selbst fungiert. Das ist tatsächlich eine der Errungenschaften, die Hölderlin als Post-Klassiker und Schwellendichter empfiehlt, der das Gedankengut einer Epoche erweitert und darüber hinwegschreitet.

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2. DIE »EXZENTRISCHE BAHN« In Hölderlins Briefen und Dichtungen kommt um das Jahr 1796 das Gefühl des zu Hause-Zerrissen-Werdens und des sich entgrenzend ins Offene LosreißenMüssens auf (vgl. Görner 1996: 62-74, hier 62). Das entsprach einerseits einem autobiografisch bedingten Bedürfnis, den engen Winkel seiner heimatlichen Daseinsbestimmungen zu sprengen, andererseits war das der Wunsch eines Dichters und Intellektuellen nach umfassender Horizonterweiterung. Bereits im Thalia-Fragment wird der Begriff der »exzentrischen Bahn« (Hölderlin 1976: 276f.) eingeführt. Dieser Begriff verwies für Hölderlin auf eine grundlegende Möglichkeit des Menschseins, zu der er sich umso mehr bekannte, als ihm diese Bahn als einziger Weg zur geistigen Vollendung des Lebens erschien. In meinem Versuch, Hölderlins Texte durch die Linse der interkulturellen Germanistik dem heutigen Leser überhaupt zugänglich und aufschlussreich zu machen, bin ich auf einen vor kurzem erschienenen Band mit politischphilosophischen Perspektiven auf das Thema Heimat gestoßen, in dem eine der Studien auf Helmuth Plessners Begriff der »exzentrischen Positionalität« rekurriert (Recki 2017, 31-46). Diese wird als Ursprung der Kultur, aber auch der Heimatlosigkeit angesehen, Plessner selbst spricht von einer »konstitutiven Heimatlosigkeit« (Plessner 1981: 383, 385). Im unmittelbaren Zusammenhang damit steht ein anthropologisches Gesetz, das Plessner als den »utopischen Standort« (ebd.: 363) bezeichnet. Es bedeutet, dass der Mensch konstitutiv auf Mobilität in Raum und Zeit eingestellt ist; er ist sozusagen vorprogrammiert, in der Kultivierung seiner Bedürfnisse immer schon weiter zu streben, über sich und den bereits erreichten Ort hinaus. Das, was Plessner als Bestimmung nicht nur des postmodernen Menschen, sondern als anthropologische Konstante definiert, und was sich natürlich auf heutige Migrations- und Mobilitätsverhältnisse anwenden lässt bzw. als sehr gutes Beschreibungsmuster fungieren könnte, ist bei Hölderlin ein Phänomen, das er als Bedürfnis zur Transzendenz artikuliert. Ich möchte nun einen Bogen zwischen zwei entfernten Begriffen spannen, um Phänomene der Bewegung, Mobilität und Migration in verschiedenen geschichtlichen Epochen zu postulieren und Hölderlins Terminus dann mit einer aktuellen Fragestellung in Verbindung zu bringen. So wird sich im Folgenden zeigen, dass eine transkulturelle Hermeneutik Hölderlins Werk und dessen interkulturelles Potential fruchtbar zu machen versteht. Zugleich wird sichtbar werden, dass das Thema Flucht keinesfalls ein Novum ist: In diesem Zusammenhang interessieren hier die ästhetischen Lösungen, die ein kanonischer Autor des Idealismus anbietet.

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Es ist bei Hölderlin der Mensch, der sich aus dem Goldenen Zeitalter, in dem eine Einheit mit der Natur bestand (vgl. Bothe 1994: 106), verbannt, exiliert, entfremdet, so dass ihm kein anderer Ausweg als das Pendeln zwischen Extremen bleibt. Der Mensch als Wanderer, wie er in der Wanderer-Elegie dargestellt wird, der mehrere unterschiedliche Kulturkreise kennenlernt, wird sich ihrer Gegensätzlichkeiten als Projektionen seines Inneren bewusst. So gesteht der Dichter: »Süd und Nord ist in mir« (Hölderlin 2014: 49). Doch er ist zugleich bereit, diese Gegensätzlichkeit osmotisch in sich verschmelzen zu lassen. In der zweiten Fassung des Gedichtes betrachtet sich das Ich als Flüchtling, Pilger und Fremden (»Da ich nahet, und bin, gleich Pilgern, stille gestanden. / Aber gehe hinein, melde den Fremden, den Sohn« [ebd.: 124]), der die Erfahrung der »heiligen Fremde« (ebd.) verinnerlicht, die Vielfalt der Andersartigkeit, ja des Exotendaseins anerkannt und aufgewertet hat. Somit fungiert das Eigene sowohl als Spiegel als auch als Kontrastfolie zum Anderen, das seinerseits in einer glücklichen Einheit mit dem Selbst aufgeht: »Ausgegangen von euch, mit euch auch bin ich gewandert,/ Euch, ihr Freudigen, euch bring ich erfahrner zurück« (ebd.). Das in der Romantik zur Utopie gewordene Ideal des Naturmythos in neuplatonischer und spinozistischer Auffassung wird bei Hölderlin zum Gegenstand einer überzeitlichen Ästhetik sublimiert. Auch werden dem Alteritätskomplex die Eigenschaften des Sakralen zugeordnet (»heilige Fremde«): das Fremde erweist sich als positiver Gegenpol, es wird als Gegenwelt zur eigenen Heimat geschätzt.

3. TRANSTOPIEN Im Folgenden möchte ich mich auf einige Topografien beziehen, die der Wanderer bzw. Flüchtling Hyperion durchstreift bzw. anspricht, und an denen die Begegnung mit dem Anderen stattfindet. Zweier Bedingungen ist sich das Ich bewusst, zum einen dass die Wahrheit »jenseits des Meeres« (Hölderlin 2014: 310) gefunden werden soll, und zum anderen: »Aber das Eigene muß so gut gelernt sein, wie das Fremde« (Hölderlin 1970: 927). Damit erklärt sich das Ich für die Überschreitung des Eigenen bereit, um die Grenzen des Egozentrischen zu überwinden. Auf der anderen Seite erweisen sich die zwei Kategorien als gleichberechtigt, indem sie zum Gegenstand einer Lernarbeit werden. Schon im ersten Buch des ersten Bandes wendet sich Hyperion von seiner Selbstwahrnehmung nur als Grieche ab. Ethnozentrismus wird als Borniertheit kritisiert, er erscheint Hyperion, »als schlüge man den Sargdeckel über mich zu« (Hölderlin 2014: 315). Die Orte, an denen Schwellenerfahrungen zustande kommen, kann man als hybride Räume bezeichnen. Sie bieten den inner-, vor allem aber den interkultu-

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rellen Begegnungen und dem gegenseitigen Austausch eine Unterkunft. An diesen Orten werden überlieferte Vorstellungen hinterfragt, Denkmuster und Standpunkte relativiert und neuformuliert. Sie werden zu Zwischenräumen, zu Übergangsorten, d.h. sie bezeichnen realisierte, aber zugleich verabschiedete Utopien, mit einem Begriff der neueren Migrationsforschung; sie sind »Transtopien« (Yıldız 2018: 57). 3.1 Smyrna So begibt sich Hyperion auf den Ratschlag seines Vaters auf eine Bildungsreise, die ihn von seiner Heimat nach Smyrna, zur Geburtsstätte Homers, führt und auf der er die See- und Kriegskünste sowie die Sprache gebildeter Völker erlernt (Hölderlin 2014: 327). Die Gegenden überblickt Hyperion vom Berg Tmolus aus als ein »himmlisch unendlich Farbenspiel« im »tausendfachen Wechsel des Lichts«. Insgesamt wird das Land als »paradiesisch« gewertet (ebd.: 328). Es ist eben diese Einheit der scheinbar unversöhnbaren Gegensätze, die das Ich unwiderstehlich bezaubert und die sich als ergänzender Alteritätspol zur eigenen Identität darbietet. Smyrna kommt ihm wie eine »Braut« vor, das Fremde und Unvertraute stösst Neugierde, aber vor allem Entdeckungslust und Freude an, alles lädt zur Entzifferung einer verschrifteten Gegenwelt der »freundlichen Hieroglyphen« ein (ebd.: 329). Die Stadt offenbart sich dem begeisterten Reisenden, der alle Einzelheiten sorgfältig wahrnimmt, wie ein entzückender Festort. Hyperion findet Vergnügen an diesem Festspiel, bei dem die Vielfalt und Mannigfaltigkeit das Auge reizt, und ist, wie er selbst gesteht, für ein Spiel mit Identitäten bereit. Überhaupt bildet die Vielgesichtigkeit Smyrnas ein gelungenes Potpourri, einen bunten Teppich von menschlichen Ausdrucksformen. Unterschiedliches wird als notwendige Ergänzung angesehen, es wird ein Lob der Vielfalt gesungen: Die geselligen Städter zogen mich an. Der Widersinn in ihren Sitten vergnügte mich, wie eine Kinderposse, und weil ich von Natur hinaus war über all die eingeführten Formen und Bräuche, spielt ich mit allen, und legte sie an und zog sie aus, wie Fastnachtskleider. (Ebd.: 328)

Die Beschwörung Smyrnas erinnert unmittelbar an Goethes idealisiertes Orientbild im West-östlichen Divan, wo z.B. im Gedicht Liebliches die »Teppiche des Festes« und die » Zelte des Vesires« (Goethe 1965: 16) in dem von den Nebeln um Erfurt erzeugten traumhaften Wunschbild der Stadt Schiras, Geburtsort von Hafis, besungen werden. Auch hier entsteht ein buntes Patchwork, eine kosmo-

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polite Identität: Alteritas wird konstruktiv eingesetzt und zur Unitas weiterentwickelt (vgl. Rădulescu 2018: 67-94, hier 79). Doch diese ursprünglich positiven Fremdbilder münden in eine kritische Darstellung. Insgesamt verfestigt sich schließlich eine Ambivalenz in der Beschreibung Smyrnas. Denn im näheren Umgang mit den »Gebildeten«, mit den »bessergezogenen« Leuten, die ihm »verwahrlost und verwest« (Hölderlin 2014: 328) vorkommen, muss Hyperion enttäuscht feststellen, dass der Geist des alten Griechenlands bei ihnen nicht zu finden ist, dass seine Begeisterung der Wirklichkeit vorgegangen war. Wenn man den Zusammenhang berücksichtigt, dass der Roman aus der Perspektive eines Griechen geschrieben ist, so muss man die Tatsache hervorheben, dass Hyperion hier Selbstkritik übt. Das bedeutet, dass eine subjektive, parteiliche Sicht auf das Eigene beseitigt wird; das Eigene wird somit relativiert, in Frage gestellt. In diesem Augenblick findet der wahrscheinlich erste Wendepunkt zum zunächst inneren Eremitendasein statt: der Wanderer ist nunmehr von der »Unheilbarkeit dieses Jahrhunderts« (Hölderlin 2014: 330) überzeugt. Folgerichtig entscheidet er sich jetzt für eine weitere Reise. 3.2 Ägypten, Norden Die Wallfahrt in der Begleitung Diotimas – »Wir müssen gleich hinüber zusammen« (Hölderlin 2014: 380) – bietet für Hyperion auch den Anlass zu einer Unterhaltung über die Vorzüge des im antiken Griechenland lebendigen menschlichen Genius, der sein Ideal ist (vgl. Bothe 1994: 107). In den Briefen an Bellarmin im zweiten Buch, mit denen der erste Band zu Ende geht, kommt Hyperion im Gespräch mit Diotima zu einer radikalen Stellungnahme zu dem, was andere Völker im Vergleich zu den alten Griechen bedeuten. Diesmal ist nicht mehr der Blick am Werk, der Unterschiede in ihrer Vielfalt schätzt. Gegen die Griechen als Vertreter der goldenen Mitte der Menschheit werden die Ägypter und die Söhne des Nordens ausgespielt: »Der Ägyptier trägt ohne Schmerz die Despotie der Willkür, der Sohn des Nordens ohne Widerwillen die Gesetzesdespotie, die Ungerechtigkeit in Rechtsform« (Hölderlin 2014: 384). Insgesamt wird dem ersten, der dem Orientalen subsumiert wird, vorgeworfen, dass er zu knien und sich hinzugeben wisse, während der Nordmensch durch ein Übermaß an Vernunft sündigt. Damit kommt Hölderlins Kritik am rationalistischen Überschuss der Aufklärung zum Ausdruck, der idealistische Hyperion ist der entschiedene Verteidiger einer durch die Synthese von klassischen und romantischen Gedankengut geborene Weltharmonie, in der die »heilige Theokratie des Schönen« (ebd.: 397) herrscht. Verstand ohne Geistes- und Herzensschönheit wäre, so Hyperion, »wie ein dienstbarer Geselle« (ebd.: 386).

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Zu diesem Zeitpunkt in der Entwicklung Hyperions haben nur die Liebe zu Diotima oder die Kunst als Wegweiser zum Ideal, die Antike wiederherzustellen, Bedeutung. Diese »Vereinigungsutopie« (Wackwitz 1997: 78f.) wird von nun an im Roman auf mehreren Ebenen angestrebt, sowohl im kulturellen, philosophischen und theologischen als auch im politischen Sinne. 3.3 Exkurs: Geschichte Hyperion klagt über das Unheil einer Gegenwart, die sich mit dem Glanz des antiken Griechenlands als Verkörperung des Idealzustands der Menschheitsgeschichte nicht messen kann und unberücksichtigt lässt, dass Europa auch in der Tradition des alten Ägyptens und des Orients steht. Obwohl die Handlung des Romans in Griechenland um das Jahr 1770 angesiedelt ist, werden Rück- und Querverbindungen hergestellt, die u.a. auch an die Französische Revolution erinnern. Überhaupt wird der griechische Aufstand gegen die Türken in seiner Gewalttätigkeit, die auch für die Distanzierung von Alabama verantwortlich ist, als Vorwand benutzt, um Hölderlins aufklärerische Ideale zu veranschaulichen. Sie gelten einer durch den friedlichen Rückzug zur gewaltlosen Natur möglichen Welt: »Ideal ist, was Natur war« (Hölderlin 2014: 368). Übrigens wird auch in der Fachliteratur neueren Datums Hyperions Scheitern an der Welt als Anspielung auf das gescheiterte Projekt der Französischen Revolution bzw. als Absage an Gewalt zugunsten von Vernunft und Humanität gedeutet (vgl. Bay 2003: 359). Hyperions Protest, der schließlich in seiner Entscheidung für das Eremitenleben gipfelt, richtet sich gegen die Gegenwart des eigenen griechischen Volkes. Somit rollt der Bildungsroman eine Folge an dystopischen Augenblicken auf, die von utopischen Vorschlägen ausgeglichen werden. Der Hang der Hauptgestalt und Reflektorfigur zu extremen Haltungen, die vom Enthusiasmus und Idealismus bis zum Nihilismus reichen, weist sie als gespaltenes modernes Ich avant la lettre aus. Nicht umsonst stellt Hyperion schon am Anfang des Romans deklamatorisch fest: »Ach! für des Menschen wilde Brust ist keine Heimat möglich […]« (Hölderlin 2014: 324). Dann fragt sich der Held im nächsten Brief weiter: »Wohin könnt ich mir entfliehen […]?« (ebd.: 325) und gegen Ende des Romans nochmals: »Und nun sage mir, wo ist noch eine Zuflucht?« (ebd.: 449). Während seines Reifungsprozesses wird die Verzweiflung des Ich an den Begebenheiten der Zeit immer größer, seine Entfremdung nimmt immer deutlicher zu. Und trotzdem bieten sich ausgleichende Momente an, die utopisch diesen Desillusionierungsvorgang kompensieren, um dann wieder von pessimistischen Betrachtungen abgelöst zu werden. Hölderlin wird dieses romantische Schwanken zwischen Extremen aber in klassizistischem Sinne harmonievoll ver-

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söhnen, und in Anlehnung an Heraklit die Welt als »das Eine in sich selber unterschiedne« (ebd.: 385) zu postulieren. Das bedeutet, dass gegensätzliche und doch komplementäre Prozesse wie Fortdauer und Bruch, Trennung und Wiederfindung, überhaupt der Wechsel von Öffnen und Schließen (vgl. Constantine 1992: 50f.) in seinem Sinne die Eigenart der menschlichen Existenz ausmachen. Es sind die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Lebensstufen in seinem eigenen Leben und auf der Makroebene der Geschichte die sich gegenseitig bedingenden Naturgesetze, die das All beherrschen. Echos aus Hegels Dialektik, die die Einheit als Einheit und Differenz postuliert, sind ebenfalls deutlich zu erkennen. Diese Öffnung zu einer Dauer im Wechsel ermöglicht auch ein flexibles Umgehen mit identitären Zuschreibungen, die bis zur Aufklärungszeit stereotypisierte Vorstellungen über das unbekannte Fremde bestimmt haben. Nicht nur, dass das Fremde oft positiv konnotiert wird, es wird zudem mit einigen stereotypenhaften Ausnahmen (die Türken, Russen, Albaner) aufgewertet bzw. zumindest kritisch objektiv beurteilt. Das Ich ist für die Entwicklung einer interkulturellen Kompetenz ständig bereit, das Eigene durch Kontakt und Kontrast mit dem Anderen zu bilden bzw. besser zu verstehen. 3.4 Deutschland Nach Diotimas Tod und dem Abschied von Alabanda verfestigt sich das Eigenbild Hyperions als Fremdling. Der schon früher ausgesprochene Gedanke einer ihm innewohnenden Heimatlosigkeit nimmt scharfe Konturen an: Ein Fremdling bin ich, wie die Unbegrabnen, wenn sie herauf zu Acheron kommen, und wär ich auch auf meiner heimatlichen Insel (…) ach! dennoch, dennoch, wär ich auf der Erd ein Fremdling und kein Gott knüpft ans Vergangene mich mehr. (Hölderlin 2014: 448)

In dieser Stimmung und mit dieser Erkenntnis einer endgültigen und tragischen Entbindung von der Urmatrix kommt Hyperion »demütig«, vom Schicksal geschlagen, »wie der heimatlose blinde Ödipus« in Deutschland an (Hölderlin 2014: 451). Der an Bellarmin gerichtete Brief über die Deutschen wurde in der Fachforschung als »Scheltrede« bezeichnet und stellt eine kulturtheoretische Erörterung bzw. eine kulturkritische Polemik (vgl. Stiening 2005: 472) des erzählenden Hyperion, selbstverständlich aber auch von Hölderlin selbst, dar.

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Das Porträt der Deutschen übertrifft an Vehemenz bei Weitem die Beschreibung der Türken und Russen, die ethnische Äquivalente der Rohheit und Barbarei kriegerischer Auseinandersetzungen darstellen sollten (wortwörtlich »Barbaren«, »Tyrannen«, ebd.: 424). Das Bild der Deutschen, von denen Hyperion, seine Isolierung bekräftigend, Abstand nimmt, fungiert als verkappte Kritik des Autors am Eigenen. Es ist der Höhepunkt der kritischen Darstellungen anderer Völker, mit denen die Leser des Romans konfrontiert werden: »Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark (…)«. (ebd.) Barbaren: der Begriff bezeichnete ursprünglich aus hellenozentrischer Sicht diejenigen, die sich einer anderen Sprache bedienten (vgl. Losemann 2018) und entstand in der Zeit zwischen Homer und Herodot, wobei die Anderen als Gegenüber, primär als kultureller Gegensatz, aufgefasst wurden. So wurde aus dem ethnischen Gegensatz ein politischer, der Herrschaftsansprüche legitimierte (vgl. Brather 2004: 118). Folglich ist der Terminus in stereotypen und klischeehaften Vorstellungen, Zuschreibungen und Ausgrenzungen verankert. Diese antike, griechisch-römische Sicht auf die Germanen kann der Neugrieche Hyperion nur bestätigen (vgl. Heinrichs 2007: 465) und als stereotypes Kulturbild verfestigen. Der Begriff kommt z.B. auch in Goethes Iphigenie auf Tauris vor, als König Thoas sich mit Hinweis auf seine Identität als Skythe, d.h. als Barbar, weigert, Iphigenie freizusprechen. Im Sprachgebrauch Hyperions wird dadurch eher auf den Mangel an Menschlichkeit seitens der Barbaren, als auf die Gefahr einer Überfremdung durch sie hingewiesen. In seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen unterscheidet Schiller zwischen Wilden und Barbaren, die folgendermaßen definiert werden: » […] Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder […] Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören […] der Barbar verspottet und entehrt die Natur« (Schiller 2016: 11). Während bei den Wilden gegen die Zügellosigkeit der Affekte und Triebe Stellung genommen wird, ist im Falle der Barbaren ein Übermaß an Vernunft an der Zerstörung natürlicher Verhältnisse Schuld. In Frage kommt also bei Schiller das kritische Nachdenken über eine problematische Entwicklung der neuzeitlichen Rationalität, die die Bildung und Verbreitung des populistischen Vorurteils zulässt (Hofmann 2003:101). Hölderlins Barbaren scheinen sich vom beschworenen Idealbild der antiken Griechen noch mehr entfernt zu haben, auch wird ihnen im scharfen Gegensatz zu diesen die »gottverlaßne Unnatur« (Hölderlin 2014: 451) vorgeworfen. Der Dichter schildert sie sogar im Kontrast zu den Wilden, die doch imstande sind, Natürliches als »göttlicherein« zu erhalten (ebd.: 452). Überhaupt nimmt Hyperion von ihnen dermaßen Abstand, dass er sie im Brief an Bellarmin »Deine

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Deutschen« (ebd.: 451) nennt. Wenn er ihre Zerrissenheit beklagt, werden sie zudem des Mangels an Menschlichkeit beschuldigt: »Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen […]« (ebd.) Hölderlin wiederholt die anthropologische Kulturkritik Rousseaus und Schillers, ergänzt sie aber im Sinne Kants, indem der bloße Utilitarismus einer zum moralisch-ästhetischen Geist unfähigen Gemeinschaft (vgl. Stiening 2005: 479) und der Verfall in das Mechanische als das Nicht-Freie (Acosta 2011: 86) entlarvt werden. Die Rede überschreitet die Grenzen einer Scheltrede und wird zum Klagelied eines hellsichtigen Propheten (vgl. Heinrichs 2007: 459). Das, was wir heute neo-liberale Wirtschaftsideologie nennen würden – die eine Kultur des Geistes, der Reflexion und der Natur außer Kraft setzten möchte –, diesen geistlosen Materialismus prangert hier Hölderlin an, und auch das macht die Aktualität des Romans aus. Trotzdem lässt sich eine gewisse Antithetik in der Darstellung der Deutschen (vgl. Aspetsberger 1971: 309) feststellen, auch wenn sie nicht ausdrücklich zur Sprache gebracht wird. Die Exklusionsproblematik ist im Roman durchgehend anwesend, schon auf den ersten Seiten bekennt sich Hyperion dazu, ein Ausgestoßener und Vertriebener zu sein – der Mensch steht in der Welt »wie ein mißrathener Sohn, den der Vater aus dem Hause stieß« (Hölderlin 2014: 317). Dies ist eine ontologische Betrachtungsweise, die auf Lukács’ Begriff der »transzendentalen Heimatlosigkeit« (Lukács 1971: 52), vorausweist und die existentielle Situation eines ständigen Wanderns, Pilgerns, Fliehens und Flüchtens zur Voraussetzung hat. Auch wenn Hyperion sich am Ende für das Eremitendasein entscheidet, schließt er sich von der Welt und seiner Vergangenheit nicht ganz aus. Doch wenn man die Romanstruktur berücksichtigt, darf man nicht außer Acht lassen, dass in diesem monologischen Briefroman der Adressat (der nur fiktiv da ist, ohne einzugreifen, vielleicht als Alter ego des Autors) ein Deutscher ist, jedoch ein ausgewählter, Bellarmin, eine schöne Ausnahme. Umso heller erstrahlt in diesem Zusammenhang der Restaurationswunsch Hölderlins – der Wunsch, die Verzweiflung zu heilen. In Hyperions Worten, dass man sich unter den Deutschen »wie Fremdlinge im eigenen Hause«, »wie der Dulder Ulyß« (Hölderlin 2014: 453) fühlen würde, ist die Stimme des Autors zu vernehmen, der über das Schicksal seines Volkes und über sich selbst klagt. Hyperions Odyssee ist nicht glücklich zu Ende gegangen, wie Ödipus bemitleidet er sich selbst: »Und wehe dem Fremdling, der aus Liebe wandert, und zu solchem Volke kömmt […]« (ebd.: 454). Damit kommt sein innerer Konflikt zum Klimax. Nur seine Entscheidung, Deutschland für immer zu verlassen und sich nach Griechenland als Eremit zurückzuziehen, besiegelt die Lösung der

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dramatischen Spannung. Hölderlin sieht keinen anderen Ausweg aus der leidvollen Gegenwart als die Flucht aus der Geschichte und Gesellschaft in ein zunächst ästhetisches Ideal, das nicht alleine die Kunst ist, sondern die Verwirklichung ethisch-ästhetischer Prinzipien, wozu auch die engagierte Aufgabe des PriesterDichters gehört, zur Erziehung seines Volkes beizutragen. 3.5 Der Eremit in Griechenland und Deutschland 3.5.1 Eremitentum Auf das Eremitentum wird nicht nur im Romantitel angespielt, der Rückzugswunsch wird überhaupt auf weiten Strecken des Textes geäußert; zudem wiederholt sich die Klage über das Alleinsein fast leitmotivisch. Das Ich spürt schon sehr früh ein Unbehagen an der Gegenwart, was sich auf seinem Initiationsweg, den es in den Briefen an den Freund rekonstruiert, beständig verstärken wird. So bekundet es sich zum Beispiel im ersten Buch: »ich […] so mit ganzer Seele fremd und einsam unter den Menschen« (ebd.: 333), oder in einem Brief an Diotima: »Ich bin verbannt, verflucht, wie ein gemeiner Rebell […]« (ebd.: 419). Ganz am Anfang, im Thalia-Fragment, wird das Thema Einsamkeit angesprochen, indem die Entfernung vom Transzendenten hervorgehoben wird, wobei zugleich das Fremde und das Göttliche gleichgesetzt werden: »Ach! der Gott in uns ist immer einsam und arm. Wo findet er alle seine Verwandten?« (ebd.: 295). Dies ist eine der Aussagen, die auf die korrumpierte Gegenwart hinweisen, und welche Hyperions Entfremdung von den Mitmenschen in die Nähe des Schicksals Christi rückt. Es nimmt deswegen nicht Wunder, dass er ihn nachahmen möchte. Die Entscheidung für das Eremitentum scheint in diesem Zusammenhang nur konsequent zu sein. Denn das Eremitenwesen ist eine Gegenbewegung zu den herrschenden Idealen der Zeit (vgl. Plattig 2017), denen man abschwört, um sich sich selbst zuwenden zu können. Die Etymologie verweist ebenfalls auf das griechische Lexem érēmos, das »Wüste«, aber auch »unbewohnt« bedeutet. Auch die Synonymbezeichnung »Anachoret« rekurriert auf das Griechische anachōreō, »sich zurückziehen vom ›Chora‹, der Gemeinschaft«. In der Nachfolge der Wüstentheologie des Alten Testamentes (der vierzigjährigen Wüstenwanderung nach dem Auszug aus Ägypten) und des vierzigtägigen Rückzugs Christi in die Wüste wird das Eremitentum als die früheste Form des Mönchtums in Europa betrachtet. Aber auch in anderen Religionen wie beispielsweise im Buddhismus wird der eremitische Rückzug aus der Gesellschaft als Herzenswandlung und Sehnsucht nach der Einswerdung mit dem Göttlichen angesehen. Überhaupt werden Einsiedler häufig als Weise beschrieben, die ande-

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re Menschen belehren – etwa in Grimmelshausen Der Abentheurerliche Simplicissimus Teutsch (1668). Der Eremit war ursprünglich Pilger. Schon Augustinus behauptete, alle Gläubigen seien Pilger in der Zeit. Sie wüssten, dass das wahre Leben erst im Jenseits beginnt und das Heil nicht in dieser Welt liegen kann. In De vita solitaria schreibt Justinian von Weltz, Vordenker und Pionier der Weltmission im 17. Jahrhundert: »Lieber Einsiedler, ist dir hier auf der Welt schon kein eigen Hauß bescheret, so hat Christus dir eine Wohnung in dem Himmel vorbehalten« (von Weltz 1727: 103). Der Eremit habe kein Zuhause und keine Heimat auf Erden, nur bei Gott erfährt er sie. Die ersten Eremiten des 3. Jahrhundert v. Chr. waren tatsächlich Wüstenväter d.h. frühchristliche Mönche in Ägypten und Syrien. Die Wüste wurde dann in der theologischen Fachliteratur als das Land der Selbstschöpfung und Verwandlung dargestellt, wo der Mensch seine alte Identität abstreift, um ein Anderer zu werden. Zygmunt Bauman deutet in seiner Studie Der Pilger und seine Nachfolger die Wüste als ein durch das Fehlen von Grenzen bezeichnetes Treibhaus, in dem der Eremit seine ursprüngliche Freiheit wiederfindet (vgl. Bauman 2002: 163-186, hier 165). Auch sei in diesem Zusammenhang an die Erwägungen Gaston Bachelards in seiner Poetik des Raumes über die Hütte des Eremiten erinnert. Drei Grundgedanken seien hier erwähnt: einmal die Tatsache, dass sie eine »konzentrierte Einsamkeit in sich birgt. Und dann, dass der Eremit allein vor Gott ist. Und drittens: sie gewährt Zugang zum »Absoluten der Zuflucht« (Bachelard 1960: 65). 3.5.2 Berge und Insel Im Falle Hyperions kommt die Wüste eher als symbolische Topografie innerer Niederlage und seelischer Verwüstung in Frage. Rein geografisch lässt sie sich durch die Transtopie des Bergs ersetzen. Es ist anzumerken, dass die wichtigsten Erkenntnismomente auf gewissen Bergen stattfinden: die Bildungsreise nach Smyrna beginnt auf dem Berg Tmolus – am Romanende befindet Hyperion sich auf dem Gipfel eines Gebirges in Deutschland. In beiden Fällen verspricht der Berg als herausgehobene isolierte Topografie in der Nähe des Himmels Spiritualität und Läuterung, man denke nur an die heiligen Berge der Bibel (z.B. Sinai, wo Moses die zehn Gebote empfangen hat) oder an den Olymp in der griechischen Mythologie (vgl. Butzer/Jacob 2012: 44). Der Berg ist für Hölderlins Held ein Offenbarungsort, aber auch ein Ort, an dem Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen stattfinden, ein hybrider Ort an der Schnittstelle von Kulturen oder epistemologischen Erfahrungen, an dem Denkmuster und Vorstellungen neugedacht werden, an dem Utopien entworfen werden, um dann relativiert zu

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werden: eine Transtopie per se. Eine andere Transtopie ist auch die Insel Salamis nahe dem Korinthischen Isthmus, wo Hyperions Griechenland-Reise endet, die ebenfalls ein Zwischenort ist, an dem er sich erneut zerrissen fühlt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Griechenland und Deutschland, Menschheit und Natur (vgl. Bay 2003: 378). 3.5.3 Der Eremit als Grenzgänger Doch nun zurück zu Hyperions Eremitentum: ist er wirklich ein Eremit, oder eher ein Pilger und Grenzgänger, der die Wiederherstellung der universalen Harmonie anstrebt, sich misstrauisch von seinen Zeitgenossen, seien es Türken, Russen, Deutsche oder Griechen abwendet, um schließlich doch einzusehen, dass der Wechsel, die Vielfalt der Welt in allen ihren Formen das Leben ausmacht und im Hinblick auf eine Transzendenz (sei es Natur, Gott oder Kunst) alles wieder versöhnen und vereinigen kann? Allein vor Gott erlebt Hyperion das Absolute seiner Verflüchtigung, die auch die Grenzen auflöst. Aber von einer eremitischen Trennung von der Welt ist eigentlich nicht die Rede. Vor allem weil er tatsächlich ein Ausländer ist, der den deutschen Blick durch die griechische Topografie trägt (vgl. Honold 2002: 32). Bereits im ersten Buch widersteht er den Zwistigkeiten der Welt im Sinne der romantischen Ironie mit Humor: »Lächle nur! Mir war es sehr Ernst. Bestehet ja das Leben der Welt im Wechsel des Entfaltens und Verschließens, in Ausflug und in Rückkehr zu sich selbst […]?« (Hölderlin 2014: 343). Als er Deutschland verlassen will, wird er, wie er selbst gesteht, vom himmlischen Frühling aufgehalten. Inmitten der Natur kommt er auf eine früher entstandene Einsicht zurück, die darauf schließen lässt, dass der Pilger seine Heimat doch gefunden hat: »nimmt […] die Flüchtlinge wieder in die Götterfamilie, nimmt in die Heimat der Natur sie auf, aus der sie entwichen!-« (ebd.: 445). Er weist sich nun im letzten Brief an Bellarmin als »Einsamer« und »durstigen Wanderer« aus, gesteht, sich der seligen Natur »fast zu endlos« hingegeben zu haben, und erlebt Augenblicke geistiger Ektase und Zeitenthobenheit (vgl. Ryan 1970: 62), in denen er eins mit der Natur, mit dem All, und auch mit den Menschen wird: »und o ihr Lieben, die ihr ferne seid, ihr Toten und ihr Lebenden, wie innig eines waren wir!« (ebd.: 455). Weiterhin ertönen Echos aus dem Lied an die Sonne des Franziskus von Assisi: »O Sonne, o ihr Lüfte«, rief ich dann, »bei euch allein noch lebt mein Herz, wie unter Brüdern!« (ebd.). Diese pantheistische Weltsicht versöhnt elementare Gegensätze in einem kontrapunktischen Zusammenspiel – Gegensätze, die auf den gemeinsamen Nenner der Liebe (verstanden als ästhetische und mystische Metaerfahrung) gebracht werden. Doch es entsteht hier ein neuer Naturbegriff: Hölderlin ergänzt Spinoza und Hegel und beschreibt die Na-

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tur als Teil eines dynamischen, integrativen Prozesses (vgl. Bay 2003: 401). Das Leben und die Geschichte bieten sich nun auf dieser Erkenntnisstufe als Prozess des »Tönewechsels« dar und lassen sich einem universalen Einheitszusammenhang subsumieren (vgl. Wackwitz 1997: 80), so Hyperion: »Wir stellen im Wechsel das Vollendete dar.« (Hölderlin 2014: 446) Der Roman blieb unvollendet, und dass Hyperion tatsächlich nach Griechenland zurückkehrt, ist nur eine Vermutung. Es steht jedenfalls fest, dass Hyperion zu diesem Zeitpunkt die Resignation und den Bruch mit seinen Mitmenschen überwunden hat. Da er die angestrebte Harmonie des Geistes erlangt, kann man am Ende der Erzählung den »Anfang einer neuen Weltgeschichte« (ebd.: 367) ansetzen, von dem selbst in einem Brief an Bellarmin geschwärmt hat.

4. EUROPA ALS TRANSKULTURELLES PROJEKT Im Thalia-Fragment sagt Melite, dass »das Vollkommene erst im fernen Lande kommen« werde (Hölderlin 2014: 307). Diese Faszination für das Fremde und die Sehnsucht nach dem schwer erreichbaren, miragehaften Ideal, die sich im Reisemotiv niederschlagen, überhaupt die Charakterisierung der Erzähler- und Reflektorfigur als Wanderer, Fliehender und Flüchtling, dem der DazwischenStatus eines Grenzgängers entspricht, sind auf das romantische Programm zurückzuführen. Was im Roman vorgeschlagen wird, ist eine »Verflüchtigung in den Geist«, und zwar nicht als Kompensation für das eventuelle Scheitern auf der Erde, sondern als das Ziel selbst (vgl. Anders 1996: 91-98, hier 97). Und doch wird vor allem an der expliziten Kritik der Deutschen ersichtlich, dass Hyperion bzw. der Dichter nicht in eine heile Welt der Kunst oder der Theologie fliehen und aus der Realgeschichte aussteigen wollte. Im Gegenteil wird die kulturkritische Perspektive durch den Brief über die Deutschen wiedergewonnen, was Hyperions Eremitage zum fruchtbaren Übergang zu einer Phase eingehender Erkenntnis werden lässt, in der die Vergangenheit mit ihren Verlusten und Niederlagen produktiv verwertet und in einen Reflexionsprozess integriert wird. Somit wird der politische Transformationsgedanke ins Epistemologische verlagert (vgl. Bothe 1994:174). Hyperion durchzieht verschiedene Räume und Länder, lernt verschiedene Völker und Kulturen kennen bzw. setzt sich mit Gesellschaften auseinander, die sich durch unterschiedliche Auffassungen, Sitten und Denkweisen auszeichnen. Damit werden politische, ideologische, ethnische und kulturelle Grenzen überschritten; im allesversöhnenden Projekt einer idealen Weltharmonie werden sie sogar gesprengt. In diesem metahistorischen Diskurs werden die »Dissonanzen

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der Welt« (Hölderlin 2014: 457) in der alles umarmenden Utopie der Humanitas eingeschmolzen, die Unstimmigkeiten einebnet und Geschichte als transkulturelles Projekt entwirft, indem machthabende und zentrische Diskurse dekonstruiert werden (vgl. Hörisch 1992: 68-92, hier 76). Jedoch ist eine solche Harmonie wohlgemerkt nur als Projekt und Projektion und möglicherweise nur in der Kunst zu verwirklichen. Dabei sollen Gegensätze als Gesichter einer Einheit betrachtet werden und als unitas multiplex zu bewundern sein: »in wandelnde Melodien teilen wir die großen Akkorde der Freude« (Hölderlin 2014: 446). Es sei in diesem Zusammenhang an Schillers Schrift Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet erinnert, in der er 1784 gegen Klischees und Vorurteile angeht: »wie sklavisch [sei] die größere Masse des Volks an Ketten des Vorurteils und der Meinung gefangen[…]« (Schiller 2014:13). Vor allem an die Textstelle, die sich mit der Frage des Nationalgeistes eines Volks befasst: dazu gehört laut Schiller die »Ähnlichkeit und Übereinstimmung seiner Meinungen und Neigungen bei Gegenständen, worüber eine andere Nation anders meint und empfindet« (ebd., S.14). Das bedeutet, dass das Spezifische, Andersartige als Identitätskern eines Volkes begrüßt wird. Ohne kulturelle Vielfalt konnte auch damals nicht die Rede von einem gesunden, vernünftigen »Europa« als Projekt einer transnationalen Kulturgemeinschaft sein. Aus dieser Sicht lässt sich ein komplexes Europa-Bild rekonstruieren, das im Lichte der Aufklärungsutopie in die Nähe der Puzzle-, Patchwork- oder MosaikMuster der letzten Jahrzehnte rückt. Ein ›Geflüchteter‹ im heutigen, politischen Sinne ist Hyperion sicherlich nicht. Hölderlins Roman bietet aber aufschlussreiche Einblicke in Dynamiken und Semantiken der Flucht um 1800 – etwas im Sinne der Suche nach einem Refugium vor den herrschenden (Gewalt-)Zuständen, der Ausflucht oder der Sehnsucht nach anderen Staats- und Lebensformen.

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Lückenhaft: Memoiren einer arabischen Prinzessin (1886) Ein Beispiel für legitimatorisches Schreiben mit beunruhigender Doppelkodierung Carola Hilmes (Frankfurt am Main)

Das deutsche Familienblatt Daheim berichtete 1871 die ganz und gar ungewöhnliche Geschichte einer arabischen Prinzessin, die es aus Liebe in den kalten Norden verschlagen hatte: Hören Sie die Geschichte, wie diese Dame aus altarabischem, fürstlichem Blute die glückliche Gattin unseres Mitbürgers wurde, sie ist es wert, erzählt zu werden, klingt wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht, zeigt, wie die Liebe über alle Schranken der Nationalität hinwegklettert und ist, was das Beste daran: vollkommen wahr bis auf das Tüpfelchen über dem i. (Zit. n. Schneppen 1999: 150)

Sayyida Salme, Prinzessin von Oman und Sansibar, flieht aus dem Harem, lässt sich in Aden taufen und heiratet den Hamburger Kaufmann Heinrich Ruete, von dem sie schwanger ist. Im Sommer 1867 kommen Emily Ruete und ihr Mann in Europa an. Diese als ›wahrer Roman‹ erzählte Klatschgeschichte hat damals viel Aufsehen erregt. Die afrikanisch-deutsche Liebesgeschichte – so der Titel des Artikels in Daheim in der Rubrik »Am Familientisch« (vgl. ebd.: 275) – ist für die kulturwissenschaftliche Forschung von beträchtlichem Interesse und hat eine Reihe von literarischen Bearbeitungen hervor gebracht: Einzelheiten werden recherchiert, das in den Dokumenten Fehlende wird durch Fantasie ergänzt. Ich möchte im Folgenden den Fokus auf die Lücken und Ungereimtheiten legen, um das doppelte Wertesystem dieser in Deutschland lebenden arabischen Prinzessin aufzuzeigen. Grundlage meiner Lektüre sind die von Emily Ruete verfassten Memoiren Leben im Sultanspalast (1886) sowie ihre posthum veröf-

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fentlichten Briefe nach der Heimat (1999). Diese beiden kulturanthropologisch und ethnografisch aufschlussreichen, autobiografisch gehaltenen Bücher gehören zusammen, denn die Erinnerungen an die ferne Heimat werden in den Briefen mit einer Kritik an den fremden gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland fortgeführt. Rekonstruierend erzählt wird das tragische Schicksal einer mutigen Frau: »Ihre Existenz war zerrissen zwischen ferner Herkunft und fremder Heimat.« (Nippa 1989: 278) In der Forschung wurde dieser Topos aufgegriffen von Ingrid Laurien, die Ruetes »Selbstzeugnis im kulturellen Zwischenraum« verortet: »its function is defined as a ›third space‹ between rigid concepts of the ›Oriental‹ and the ›Occidental‹.« (Laurin 2012: 237) Gegen diese These hybrider Identität möchte ich Einspruch erheben, indem ich Emily Ruetes feste, familienbasierte Werte herausarbeite, die ihre gesinnungsethische Position begründen. Dabei wird auch deutlich, dass sich dramatische Veränderungen jeweils einer erklärenden Motivation entziehen; diese Lücken bieten Platz für Re-Orientalisierungen, wie Kate Roy am Beispiel der dokumentarischen und romanhaften Bearbeitungen dieser Geschichte gezeigt hat.1 Mir geht es hier um eine verschobene Perspektive. Ich beginne mit einer Bestandsaufnahme der autobiografischen Texte, um im Weiteren dann die moralische und religiöse Dimension im verschriftlichten Selbstverständnis der Autorin aufzuzeigen; historische Geschehnisse und politische Einschätzungen stehen nicht im Fokus meiner Argumentation.2

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Während Emily Ruetes Erzählung ihrer Flucht in den Memoiren sachlich und knapp gehalten ist – das Kapitel »Große Wandelungen« umfasst nur wenige Seiten –, sind dokumentarische sowie literarische Bearbeitungen meist spekulativ und neigen zur Orientalisierung der Liebesgeschichte. Kate Roy (2013) analysiert den Dokumentarfilm Die Prinzessin von Sansibar (2007) von Tink Diaz, Hans Christoph Buchs kritisch angelegten Roman Sansibar Blues (2008) und Nicole C. Vosslers historischen Roman Sterne über Sansibar (2010). Auch der von Lukas Hartmann verfasste, dem Autor zufolge auf umfänglichen Recherchen beruhende Roman Abschied von Sansibar (2013), der aus der Perspektive von Emily Ruetes Sohn geschrieben ist, verfährt orientalisierend.

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Vgl. dazu ausführlich Donzel 1993; auf diese fundierte englische Ausgabe bezieht sich auch Schneppen 1999.

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1. BIOGRAFISCHE DATEN Emily Ruete wurde am 30. August 1844 im Harem des Sultans von Sansibar geboren; ihre Mutter war eine gekaufte Sklavin und soll, wie alle Tscherkessinnen, sehr schön gewesen sein; ich erwähne die ethnische Zugehörigkeit, weil sie für die innerfamiliären Beziehungen – einem besonderen Gefühl der Zugehörigkeit – wichtig wird. Nach dem Tod des Vaters 1856 wurde Sayyida Salme, so ihr arabischer Name, für volljährig erklärt. Nach dem Tod der Mutter 1859 war sie in eine erfolglose Palastrevolution verstrickt und zog sich vorübergehend auf ihre Landgüter zurück. 1866 dann die spektakuläre Flucht, Taufe und Heirat. Zusammen mit Heinrich Ruete (1839-1870) hat sie drei Kinder: Antonie (*1868), Said (*1869) und Rosalie (*1870); der erste Sohn (*1866) war noch auf der Reise gestorben. Die weiteren Orte ihres Lebensweges sind Deutschland (18671888) sowie Jaffa und Beirut (1889-1914); bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs kehrt Emily Ruete nach Deutschland zurück und lebt bei ihrer jüngsten Tochter in Jena, wo sie am 29. Februar 1924 stirbt. Beigesetzt wurde sie im Grab ihres Mannes in Hamburg. 1875 – sie lebte damals mit ihren Kindern in Dresden – beginnt Emily Ruete mit ihren autobiografischen Aufzeichnungen. Die Memoiren einer arabischen Prinzessin erscheinen 1886 und erleben in kurzer Folge mehrere Auflagen; 1888 erscheinen gleich zwei englische Übersetzungen, 1905 wird eine Übersetzung ins Französische publiziert. Nach dem unerwarteten Tod ihres Mannes hatte sich die finanzielle Situation verschlechtert, was u.a. ihre Umzüge erklärt (Hamburg war zu teuer) und weshalb sie später Erbansprüche an den damaligen Sultan von Sansibar, ihren Halbbruder Bargasch, stellte. Ein Treffen mit ihm in London 1875 wurde von den Diplomaten verhindert. Emily Ruete, geborene Prinzessin von Oman und Sansibar, geriet zwischen die Fronten englischer und deutscher Kolonialpolitik. Ihre erste Rückreise in die Heimat 1885, anfänglich von Bismarck befürwortet,3 verlief ebenso erfolglos wie eine zweite Reise nach Sansibar 1888. Durch Flucht und Heirat, vor allem aber durch den Übertritt zum Christentum hatte sie ihre Erbansprüche verwirkt: »Durch ihren Abfall vom Islam war Emily rechtlich nicht mehr existent.« (Schneppen 1999: 170) Juristisch argumentiert Ruete allerdings nicht – zumindest nicht vorrangig. Es geht ihr um Aussöhnung, um Rückkehr in die Familie, d.h. Ruete argumentiert vor allem moralisch; es ist von aufrichtigen Gefühlen und menschlichen Werten die Rede. Psychologisch ist das – damals wie heute – leicht nachvollziehbar, aber bei ihrer Be-

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Sogar eine deutsch-sansibarische Herrschaft mit Ruetes Sohn als Sultan wurde erwogen; vgl. Donzel 1993: 69.

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rufung auf ein gottgefälliges Handeln verstrickt sie sich in einen fundamentalen Widerspruch: Welcher Gott ist gemeint – der der Mohammedaner oder der der Christen? Bei der Lektüre ihrer autobiografischen Schriften wird man also mit Aporien einer Gesinnungsethik konfrontiert, die nicht mit der Differenz der Kulturen erklärt werden kann.

2. ERINNERUNGEN, MEMOIREN UND BRIEFE EINER ARABISCHEN PRINZESSIN Die Neupublikation Leben im Sultanspalast. Memoiren aus dem 19. Jahrhundert (1989) wurde als »andere Exotik des Alltags im Harem« – so der Klappentext – verkauft. Um einen authentischen Bericht handelt es sich allerdings nicht, denn im Stil autobiografischen Rückblicks wird die Kindheit auf Sansibar verklärt. Diesem ersten Teil der Erinnerungen (ca. 100 Seiten bis zum Tod des Vaters und der Trauer darüber) folgt ein Sittenbild, das eingeleitet wird durch Kurzporträts einiger Geschwister (Ruete 1989: 107-130). Wie für Memoiren durchaus üblich, diskutiert Emily Ruete »Die Stellung der Frau im Orient« (ebd.: 131-142), »Die Fastenzeit« (ebd.: 160-176) oder auch »Die Sklaverei« (ebd.: 193-198), wobei sie darum bemüht ist, die falschen (deklassierenden und exotisierenden) Vorstellungen der Europäer über den Orient zu korrigieren. Damit schreibt sich die Autorin in eine Tradition europäischer Reiseliteratur ein, die exklusive Einblicke in verbotene Räume eröffnet. Lady Mary Montagu (1689-1762) war die erste Europäerin, die über ihre Besuche im Harem berichten konnte; dabei entmystifizierte sie einige der im 18. Jahrhundert üblichen Orientphantasien. Lady Elisabeth Craven (1750-1828) schrieb ca. 50 Jahre später über ihre Reise im Osmanischen Reich eher als Abenteurerin. Der von Empathie geprägten Sicht der englischen Aufklärerin entgegengesetzt ist der imperiale Blick der Gräfin von Hahn-Hahn (1805-1880), die sich in ihrem Reisebericht über die orientalischen Frauen sehr abfällig äußert; geschlechtsspezifische Deklassierung wird hier rassistisch bestärkt (vgl. Hilmes 2004). In diesem Kontext lassen sich die Memoiren einer arabischen Prinzessin in einem postkolonialen Sinne als writing back lesen. Und in der Tat weist Emily Ruete ausdrücklich darauf hin, dass die auf Durchreise befindlichen Damen keinen wirklichen Einblick in das Leben im Sultanspalast nehmen konnten, da sie das wirkliche, alltägliche Leben gar nicht zu Gesicht bekamen (vgl. Ruete 1989: 138f.). Ihr eigener Bericht ist aus der Perspektive einer Betroffenen verfasst, d.h. sie kennt sich aus, und als ein außerordentliches ethnografisches Dokument sind ihre Memoiren auch gelesen worden (vgl. Donzel 1993: 10). Dieser Vorzug ver-

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kehrt sich allerdings in einen Nachteil, wenn aus der Korrektur falscher Ansichten eine Rechtfertigung orientalischer Sitten wird. Im Rückblick und aus der fernen Fremde betrachtet erscheint Emily Ruete das Leben in der alten Heimat als sorglos, abwechslungsreich und sehr freundlich, unbeschwert, bunt und warmherzig. Es handelt sich offensichtlich um eine Idealisierung, die gesellschaftskritische Aspekt ausblendet bzw. moralisch überblendet. In den posthum publizierten Briefen nach der Heimat hat sich die Schreibsituation für Emily Ruete verkehrt; hier erscheint eine zweite Variante des writing back. Inhaltlich beginnen die Briefe auf der Reise nach Hamburg 1867 und enden 1884 während Ruetes Zeit in Berlin. Biografisch schließen sie somit an die Memoiren an (lediglich bei den letzten beiden Kapiteln kommt es zu Überschneidungen). Die Briefe sind an eine Freundin in Sansibar gerichtet; da eine Anrede fehlt, ist von einem fingierten Selbstgespräch auszugehen.4 Neben der wiederholt ausgesprochenen Sehnsucht nach der fernen, verlorenen Heimat werden vor allem die Sitten und Gebräuche in Deutschland kritisiert. Trotz der allfälligen Verallgemeinerungen offenbaren sich dem fremden Blick viele Missstände und Ungereimtheiten. Seit Montesquieus Persischen Briefen (Lettres Persanes, 1721) profitierte die Reiseliteratur von einem solchen Perspektivenwechsel.5 Der Herausgeber von Ruetes Briefen nennt diese aufklärerische Tradition nicht, sondern spekuliert über einen literarischen Bezug zu Effi Briest als einer Leidensgefährtin, »die wie sie bereit gewesen war, gegen Gesetz und Konvention zu verstoßen« (Schneppen 1999: 162). Ruetes Selbststilisierung als Opfer unglücklicher Umstände und ihre Pflicht den Kindern gegenüber, die sie aus Pietät für ihren Gatten in Deutschland erziehen will (vgl. Ruete 1999: 72), treffen zusammen mit ihrer Hochschätzung als unkonventioneller, überaus couragierter Frau. »Emilys Geschichte ist die der unverstandenen Fremden und der vom Schicksal geprüften Frau.« (Schneppen 1999: 174f.) Spätestens an dieser Stelle kommt dann auch der Topos von der Zerrissenheit zwischen zwei Welten zum Einsatz: »[I]ch verließ meine Heimat als vollkommene Araberin und als gute Mohamedanerin und was bin ich heute? Eine schlechte Christin und etwas mehr als eine halbe Deutsche!« (Ruete 1989: 252)

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Vgl. Schneppen 1999: 7f. Anders als in der englischen Ausgabe der Briefe hat Schneppen diesen »Dialog mit sich selbst« (ebd.: 8) thematisch gegliedert und mit entsprechenden Zwischenüberschriften versehen, was »den Fluß der Erzählung« (ebd.) unterbricht. Diese Herausgeberstrategie setzt offensichtlich auf autobiografische Plausibilität und erstrebt eine leichtere Lesbarkeit.

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Vgl. für diesen Kontext aus ›weiblicher Perspektive‹ Hilmes 2007.

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Vor allem nach dem Tod ihres Mannes hatte Emily Ruete in Europa das Gefühl, »ein Fremdling zu sein« (Ruete 1999: 74). Mit den finanziellen Einschränkungen als Witwe – es waren Gelder veruntreut worden – war eine soziale Deklassierung verbunden; von einer akuten Notsituation kann aber wohl nicht gesprochen werden. Ihr ›fremdländisches‹ Aussehen führte zu gesellschaftlicher Ausgrenzung – wiederholt beklagt sich Emily Ruete in den Briefen darüber, neugierig angestarrt zu werden. Für sie war der soziale Abstieg von einer arabischen Prinzessin zur ›tüchtigen Hausfrau‹, wie ihr Schwiegervater einmal bemerkte,6 mit der Erfüllung ihrer Liebe und (in der damaligen Wertung) einem zivilisatorischen Aufstieg verbunden gewesen bzw. dadurch kompensiert worden. Für ihre Kinder wünschte sie eine soziale Integration in Deutschland, keine kulturelle Zerrissenheit. Eine »schlechte Christin« nennt sich Emily Ruete, weil sie keinen rechten Zugang zu diesem Glauben hat finden können. Sie beklagt die Oberflächlichkeit der Christen, deren mangelnde Andacht und Pietät; der »abendländische[...] Ritus« (Ruete 1999: 45) blieb ihr fremd. Den ersten Weihnachtsabend in Hamburg vergleicht sie mit »Götzenanbetung« (ebd.); in der Retrospektive geschrieben – mittlerweile ist Emily Ruete mit der deutschen Sprache und den kulturellen Gepflogenheiten durchaus vertraut – könnte das auch ironisch gemeint sein. Vieles spricht dafür, dass die getaufte Christin dem Glauben ihrer Heimat treu blieb. »She accepted the consequences of batism, but her attitude towards Islam remained positive.« (Donzel 1993: 33) Vor allem nach dem frühen Tod ihres Mannes findet sie Trost in der Religion; hier hilft ihr die vielzitierte Schicksalsgläubigkeit der Muslime. In den Briefen warnt sie die Freundin in Sansibar ausdrücklich: »Hüte Dich vor einem Religionswechsel ohne wahrhaftige Überzeugung.« (Ruete 1999: 15) Sie fühlt sich »moralisch so elend«, weil sie »[v]om alten Glauben getrennt [ist] und das Neue nur dem Namen nach kenn[t]« (ebd.). Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich ihr Verhältnis zum christlichen Glauben später gebessert hat; stattdessen bemerkt sie: »wie sehr der Mensch an seiner Erziehung lebenslänglich hängen bleibt« (ebd.: 16). Als Abtrünnige vom Islam hatte sie alle Rechte in Sansibar verwirkt; Ruete muss sich dieser Situation bewusst gewesen sein, denn sie schreibt: »In meinen Augen ist kein Opfer so groß wie gerade ein Religionswechsel.« (ebd.) Gleichwohl (evtl. auch deshalb) hielt sie an

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Vgl. Nippa 1989: 272. Warum Emily Ruete keinerlei Unterstützung in Hamburg bei ihren Schwiegereltern oder auch bei ihrem Schwager fand, ist unklar; in den autobiografischen Aufzeichnungen wird das mit keinem Wort erwähnt.

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den alten familienbasierten Werten fest,7 das zeigt ihre ethische Argumentation, wobei sich eine beunruhigende Uneindeutigkeit offenbart, wenn sie Gott als letzte moralische Instanz anruft. Verblüffend, um nicht zu sagen häretisch ist die Ansicht, die Emily Ruete im letzten Kapitel ihrer Memoiren einem ihrer wohlmeinenden arabischen Verwandten auf Sansibar in den Mund legt: »Ja, der Gott, welcher dich und uns von der Heimat getrennt hat, ist derselbe Gott, den alle Menschen anbeten und preisen; sein mächtiger Wille ist es gewesen, daß du wieder zu uns gekommen, und wir freuen uns alle darüber: Nicht wahr? Du bleibst nun mit deinen Kindern für immer bei uns?« (Ruete 1989: 265) Diese in ihre zweite Reise nach Sansibar verlegte Begegnung ist offensichtlich Ausdruck einer Hoffnung auf Rückkehr, der aber keine Taten folgten. Emily Ruete entzieht sich dem religiösen Zwiespalt, kehrt nicht nach Deutschland zurück und siedelt 1889 – die Kinder sind nun fast erwachsen – in den Vorderen Orient um. In Beirut findet sie eine multikulturelle Gesellschaft aus Europäern, Arabern und Juden, in der die Vielfalt der Religionen toleriert wird. Aus dieser Zeit sind keine weiteren literarischen Zeugnisse von ihr bekannt.8

3. KONSERVATIVE FAMILIENORIENTIERUNG – FESTE IDENTITÄT UND NARRATIVE LÜCKEN Emily Ruetes feudales Selbstverständnis lässt sich an drei Themenfeldern gut illustrieren: 1.) die schon zu ihrer Zeit vieldiskutierte Frage der Sklaverei, 2.) die Stellung der Frau im Orient, wobei allgemein die Perspektive der Kennerin geschätzt wird, und schließlich 3.) die Rolle der Religion, die als Legitimationsgrund überaus wichtig ist. Emily Ruete vertritt eine sehr standesbewusste Position; das kommt etwa in den Klagen über die für sie beengenden Verhältnisse in Deutschland zum Ausdruck. Gelegentlich wirkt sie in ihren Briefen überheblich, d.h. sie fühlt sich besser als die Mitmenschen in ihrer Umgebung, zumindest fühlt sie sich anders und so wird – gleichsam unter der Hand – das Andere zum Besseren, was ihre Verklärung der Zustände auf Sansibar erklärt. Emily Ruetes autobiografische Aufzeichnungen sind deshalb mentalitätsgeschichtlich wichtig und transkulturell aufschlussreich.

7

Ruetes »Wertesystem bleibt orientalisch geprägt, ihrem feudalen Ursprung, aber auch ihrer Zeit verhaftet. Sie war eine selbstbewußte, keine emanzipierte Frau« (Schneppen 1999: 163).

8

Nippa hat Ruetes Schreiben als therapeutisch eingestuft – das war jetzt im Vorderen Orient nicht mehr nötig (vgl. Nippa 1989: 280).

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»Die Sklaverei ist eine uralte Institution der orientalischen Völker« (Ruete 1989: 195) und als solche ist sie für Emily Ruete gerechtfertigt; als Begründung erwähnt sie den »Trieb zur Selbsterhaltung« (ebd.: 197), den sie als universalistisch einschätzt, der hier aber zur Legitimation der damals in Sansibar herrschenden politischen Verhältnisse dient. Abrupte Änderungen dieser für sie gottgewollten, natürlichen Ordnung lehnt sie als schädlich und gefährlich ab, denn die befreiten Sklaven verwahrlosten und ihre ehemaligen Besitzer würden ruiniert, weil nun die Arbeitskräfte für die Plantagen fehlten. (Die Engländer hatten bereits 1845 ein Verbot des Sklavenhandels für Sansibar durchgesetzt, der die Sklaverei auf der Insel jedoch nicht betraf.) Emily Ruete bedient rassistische Klischees, wenn sie die »Negersklaven« als arbeitsscheu, als »Diebe, Trinker, Ausreißer [und] Brandstifter« (ebd.: 194) einstuft. Einerseits rechtfertigt sie die von ihr grundsätzlich als inhuman eingeschätzte Prügelstrafe, andererseits behauptet sie, dass die Sklaven im muslimischen Sansibar deutlich bessere Lebensbedingungen hätten als im christlichen Amerika (vgl. Ruete 1999: 116 u. 132); hier bezieht sie sich auf die Fürsorgepflicht der Besitzer und die Möglichkeit, dass Sklaven unter bestimmten Umständen auch die Freiheit erhalten können; es gab also eine gewisse, sehr beschränkte soziale Durchlässigkeit.9 In ihren Memoiren widmet Emily Ruete auch der Stellung der Frau im Orient ein eigenes Kapitel, wobei sie lediglich das Leben im Sultanspalast schildert, also nur einen begrenzten und sehr privilegierten Bereich aufzeigt. »Die ebenbürtige Frau – denn die gekauften Sarari [Nebenfrauen; C.H.] sind natürlich auszuschließen – steht dem Mann in jeder Hinsicht gleich« (Ruete 1989: 132). Von einer prinzipiellen Gleichheit unter den wenigen Freien ist das Gros der Frauen jedoch ausgenommen. Die Abgeschlossenheit der Frauen im Harem, der von einigen Reiseschriftstellerinnen als Gefängnis wahrgenommen wurde, relativiert Ruete mit der generalisierenden Behauptung, »die Orientalin […] empfindet diesen Zwang gar nicht besonders hart.« (ebd.: 134) Lediglich die Polygamie nennt sie eine »üble Sitte«, die »in keiner Weise zu verteidigen und zu entschuldigen ist« (ebd.: 135). Die Herrschaft der Frau über den Haushalt und ihre alleinige Befugnis in der Kindererziehung sowie die Möglichkeit der Scheidung sprächen für eine starke Position der Frau in der arabischen Gesellschaft. Diese Einschätzungen Ruetes lassen ein patriarchal geprägtes, konservatives Verständnis des Geschlechterverhältnisses erkennen, wobei Respekt und Ehrfurcht gegenüber der geltenden Ordnung dominieren. Aufrichtigkeit und Treue werden als oberste Werte genannt; sie machen wahre Menschlichkeit aus. Ähnlich wie

9

Ruete berichtet, dass die Nebenfrauen im Harem (auch sie waren Sklavinnen) durch Mutterschaft meist zu Freien wurden (vgl. Ruete 1989: 135).

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beim Rassendiskurs ist Emily Ruete in Sachen Humanität mit der europäischen Tradition durchaus einig. Dass ihr Selbstverständnis auf Widersprüchen basiert, dass ihre Weltanschauung über blinde Flecken verfügt, verschlägt nichts. Ihr moralischer Diskurs funktioniert in legitimatorischer Absicht kulturübergreifend. Letzter Rechtfertigungsgrund für Emily Ruete ist stets die Religion. Während ihr außergewöhnliches Frauenschicksal in der Forschung bisher als Zerrissenheit zwischen den Kulturen dargestellt wurde, blieb Ruetes feste Verankerung in der Religion unbeachtet; dabei geht es um gemeinsame, in einem Humanitätsdiskurs begründete Werte, die vor allem die Familie betreffen. (Von den gesellschaftspolitischen Überlegungen zur Sklaverei abgesehen, argumentiert Emily Ruete nicht politisch, sondern verlegt sich auf die Familie, auf Sitten und Gebräuche.) Eine solche gesinnungsethische Position beansprucht zugleich verantwortungsethisch zu sein, wodurch sie sich letztlich unangreifbar macht. Emily Ruetes Selbstverständnis scheint unerschütterlich. Allerdings sind Doppelkodierungen, Blickwechsel und Lücken in den autobiografischen Aufzeichnungen zu erkennen.

4. LEERSTELLEN LEGITIMATORISCHEN SCHREIBENS In der englischen Ausgabe der Memoiren nennt Emily Ruete ihre Kinder als Adressaten der Lebenserinnerungen – ein autobiografischer Topos, der durch die Publikation relativiert wird (vgl. Said Ruete 2008: ix). Obwohl sie vorgibt, »kein gelehrtes Buch schreiben« zu wollen (Ruete 1989: 131), ist sie doch bestrebt, Vorurteile gegenüber dem Orient zu korrigieren. Ein herausragendes Beispiel für die Selbständigkeit der orientalischen Frau ist Emily Ruetes eigene Lebensgeschichte. Sie allerdings nennt andere Beispiele (vgl. ebd.: 140f.). Dass sie selbst die Tochter einer vom Sultan gekauften Sklavin ist, spielt für ihr Selbstverständnis keine Rolle. Dieser Teil ihrer Herkunft bleibt ausgeklammert (Mutter und Tochter erhalten nach dem Tod des Sultans Said ihre Freiheit). Relevant werden ethnische Aspekte, wenn die Prinzessin Allianzen oder Freundschaften mit anderen Tscherkessinnen oder auch deren Kindern schließt. Von den aus Schwarzafrika stammenden Nebenfrauen des Sultans grenzt sie sich als überlegen ab, d.h. rassistische Rangordnungen greifen auch im Harem, der außerdem eine klare Trennung zu den Sklaven einerseits und zu den Eunuchen andererseits kennt. Ein weiterer signifikanter Unterschied besteht zu den Hauptfrauen des Sultans, deren Söhne in der Thronfolge zuerst berücksichtigt werden. Dieses differenzierte Sozialgefüge (ein patriarchales Geburtsrecht und ethnische Deklassierungen) akzeptiert Emily Ruete und stellt es als eine gerechte gottgewollte Ordnung dar –

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sehen wir einmal ab von den persönlichen Eifersüchteleien und eventuellen Intrigen, auf die sie eigens hinweist. Grundsätzliche Veränderungen sind in einer solchen traditionell-patriarchal geordneten Gesellschaft nicht vorgesehen. Eine Palastrevolution oder eine Flucht aus dem Harem lassen sich innerhalb dieser als ›natürlich‹ angesehenen und deshalb statisch gedachten Sozialstruktur nicht legitimieren. Von beiden Ausnahmefällen aber berichtet Emily Ruete in ihren Memoiren; in den Briefen werden nur noch deren Konsequenzen thematisiert: das Leben in Deutschland sowie die (eigentlich verwirkten) Erbansprüche. Kate Roy hat überzeugend dargelegt, dass Emily Ruete in dem Kapitel »Große Wandlungen« ihre Liebe zu einem Ungläubigen, die Flucht aus dem Harem, ihre Konversion und Heirat nur auf wenigen Seiten, also ganz knapp, ohne weitere ethische Überlegungen zusammenfasst.10 Auf Ausschmückungen oder eine Rechtfertigung verzichtet sie, denn die Liebe ist offensichtlich ein hinreichender Grund, der keiner weiteren Erklärungen bedarf.11 Über die Palastrevolution 1859 berichtet Emily Ruete ausführlicher. Einen Grund für ihre Teilnahme daran nennt sie aber ebenso wenig wie ihre Motive, sich für einen der rivalisierenden Stiefbrüder zu entscheiden. »Aber neue Prüfungen traten bald darauf [nach dem Tod der Mutter; C.H.] an mich heran und ich erlag ihnen: ohne zu wissen, wie es gekommen war, fand ich mich plötzlich in eine Verschwörung gegen meinen edlen Bruder Madschid tief verwickelt.« (Ruete 1989: 200) Emily Ruete – oder sollte man hier besser sagen: Prinzessin Salme – spielte bei diesem Umsturzversuch eine wichtige Rolle: Sie schrieb konspirative Briefe – die Fähigkeit zu schreiben hatte sie autodidaktisch erworben – und war an der Befreiung des Aufrührers Bargasch beteiligt. Als Frauen verkleidet, also tief verschleiert, hatten einige Männer Bargasch aus dem Hausarrest befreit. Im Rückblick gesteht Emily Ruete ihre Fehler ein. Dass sie gegen die Familiensolidarität verstoßen hatte, blieb ihr selbst unerklärlich. So nimmt sie Zuflucht zu zweifelhaften Vergleichen: »Wir waren sämtlich von einer Art Krankheit befallen. […] Es liegt mir fern, auf alle die einzelnen Umstände einzugehen, welche die üble Verwicklung nach und nach heraufbeschworen; wir

10 Kate Roy (2013) spricht von »unethical narration«. Roys Analyse der Liebesgeschichte Ruetes im Kapitel »Große Wandlungen« hat mich dazu bewogen, die anderen Kapitel der Memoiren sowie die Briefe nach der Heimat auf ihre ethischen Voraussetzungen hin zu untersuchen. 11 Annegret Nippa weist darauf hin, dass es mit Leila und Madschnun (Der von Laila Besessene) ein sehr bekanntes arabisches Epos zur Legitimation ›verbotener Liebe‹ gibt (vgl. Nippa 1989: 277).

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waren alle wie betört und verblendet.« (Ebd.: 201; Hervorhebungen C.H.) Später ist dann von fehlgeleiteter Liebe und falscher Solidarität die Rede (vgl. ebd.: 202f.). Die »schwesterliche Pietät« (ebd.: 203) hätte ihr eine Teilnahme an der Palastrevolution verbieten müssen. Aber da sie sich den Umtrieben nicht entziehen konnte oder wollte, greift sie zu einer gesinnungsethisch aufgeladenen Legitimation, die weder die Motivation erklärt noch die Konsequenzen einer Verschwörung bedenkt. Emily Ruetes moralische Rechtfertigung lautet folgendermaßen: Die Warnung des edlen Bruders [Sultan Maschid; C.H.] kam zu spät. Ich hatte bereits Chole [eine der Lieblingsschwestern; C.H.] und Bargasch mein Wort verpfändet und hielt es nun für meine heilige Pflicht, das gegebene Verspechen auch zu halten und zu erfüllen. (Ruete 1989: 206)

Was dann folgt, ist eine recht detaillierte Verschwörungsgeschichte, in der mitgeteilt wird, dass vor allem die beteiligten Frauen gegen Sitten und Bräuche verstießen (vgl. ebd.: 211). Emily Ruete rühmt den Mut der Frauen – »aber uns schreckte keine Gefahr« (ebd.: 210) – und sie betont, »daß man von unserer Kühnheit sich nichts träumen ließ« (ebd.: 212). Während »Bargasch nach Britisch-Ostindien und zwar nach Bombay« (ebd.: 219) verbannt wurde, konstatiert die Autobiografin einigermaßen verblüfft: »Wir [die Frauen; C.H.] erhielten gar keine Strafe!« (Ebd.: 215). Die ›Verblendung aus Leidenschaft‹ (vgl. ebd.: 216) bleibt für die arabische Prinzessin weitgehend folgenlos. Ethisch und argumentationslogisch besteht zwischen der aktiven Beteiligung an der Palastrevolution und der »Großen Wandlung« im Leben von Sayyida Salme zu Emily Ruete ein Analogieverhältnis. Durchaus möglich, dass ihre Isolation nach der gescheiterten Verschwörung ein Motiv war, sich unter den Europäern nach neuer Gesellschaft umzusehen.12 Dazu aber schweigt sich die Autobiografin aus. Sie zieht sich zurück auf die Übermacht des Gefühls, auf ihre Aufrichtigkeit und ihre Treue, die durch ihr Handeln keineswegs überzeugend bestätigt wird. Letztlich nimmt sie Zuflucht zu einem religiös motivierten Fatalismus. Sie ist überzeugt, dass »des Herrn Wille geschieht, daß unser Schicksal seit Anbeginn der Welt von dem Allgütigen und Allweisen bestimmt sei.« (Ruete 1989: 218) Diese Haltung wird sich auch bei dem tödlichen Unfall ihres Mannes sowie in anderen schwierigen Lebenslagen bewähren.

12 Entsprechende Hinweise finden sich bei Donzel (1993: 11f.) u. Schneppen (1999: 146f.); dazu kritisch Nippa (1989: 273f.).

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Die feste Verankerung von Emily Ruetes Selbstverständnis in der Religion sowie eine damit verbundene irritierende Doppelkodierung lassen sich, gleichsam als Nachtrag, an ihrem 1883 verfassten Brief an ihren Stiefbruder Bargasch, den seit 1870 regierenden Sultan von Sansibar, veranschaulichen. Es geht vordergründig um Erbansprüche, die der Sultan wiederholt zurückgewiesen hat, vor allem aber geht es um die Wiederaufnahme in die Familie. Der Brief ist in einem ehrerbietigen, fast unterwürfigen Ton verfasst. Emily Ruete setzt ganz auf das Gefühl, also auf die emotionale Zusammengehörigkeit; an ihre Unterstützung der Palastrevolution erinnert sie nicht – immerhin agierte sie auf seiner Seite. Ruete schließt ihren langen Brief mit dem Verweis auf Gott, den Herrn der Welten: »If you forgive me, the Lord of the Worlds will be pleased with you.«13 Wer ist gemeint, wenn Emily Ruete als zum Christentum Konvertierte von Gott spricht? Wird hier eine Rückkehr zum Glauben ihrer Kindheit und Jugend signalisiert oder handelt es sich um eine Schreibkonvention? Eine Rückkehr zum Islam, die wiederholt als Voraussetzung einer Rückkehr nach Sansibar von wohlmeinenden Freunden vorgeschlagen wurde, lehnte Emily Ruete ausdrücklich ab. In dem arabisch geschriebenen Brief an ihren Bruder steht für Gott das Wort Allah.14 »O God, God, my brother, and again God, God, do not harden your feelings against me any longer.« (Zitiert nach Donzel 1993: 59) Die doppelte Wiederholung (hier als Emphase gemeint) markiert zugleich die uneindeutige Referenz des Wortes Gott, so als rufe sie beide Götter zugleich an; wodurch ihre blasphemische Position (als Schwester Salme und als Witwe eines Deutschen) bezeichnet wird. Geholfen haben der Briefschreiberin ihre nachdrücklich vorgebrachten Bitten nichts.

13 Zit. nach: Donzel 1993: 59. Hier wird nicht Gott verdoppelt, sondern die Welt (im Sinne von unterschiedlichen Kulturkreisen). 14 Vgl. Donzel 1993: 58; eine Anmerkung zur Übersetzung von Allah in God fehlt bedauerlicherweise, zumal dieser signifikante Unterschied an vielen Stellen des Briefes auftaucht. Ich danke meiner Studentin Suzan Bayram-Coskun für die Hilfe bei der Lektüre des arabischen Briefes.

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5. FAZIT – TRANSKULTURELLE LEBENSBILANZ IN MORALISCHER ABSICHT Die Geschichte der Prinzessin Salme von Oman und Sansibar sowie ihr weiteres Leben als Emily Ruete ist einzigartig: Sie war eine mutige, durchsetzungsstarke Frau mit großer Liebe zu ihren Kindern und zu ihrer Heimat. In allen Notlagen bewährt sich Emily Ruete durch Tugend und einer im Glauben verankerten Moral, die ihr einen festen Halt gibt. Sie findet sich an vielen Orten zurecht, spricht mehrere Sprachen (Arabisch und Suaheli; Deutsch, Englisch und auch etwas Französisch) und macht sich außerdem als Schriftstellerin einen Namen. Ihre Memoiren und ihre Briefe nach Hause zeugen aber nicht nur von einem Leben zwischen den Kulturen, sondern auch von dessen Bewältigung im Vertrauen auf menschliche, durch die Religion(en) vermittelte Werte. Diese Verankerung in einem (Schicksals-)Glauben bildet ein festes Fundament ihres Selbstverständnisses. Für Ruete gibt es zwei Erinnerungsorte: ein für Prinzessin Salme eingerichteter Museumsraum in Sansibar und das Familiengrab auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg.15

LITERATUR Donzel, E. van (1993): Introduction. In: Sayyida Salme/Emily Ruete: An Arabian Princess Between Two Worlds. Memoirs, Letters Home, Sequels to the Memoirs: Syrian Customs and Usages. Hg. v. E. van Donzel. Leiden/New York/Köln, S. 1-140. Hilmes, Carola (2004): Aufbruch ins Unbekannte: Frauen reisen in den Orient Lady Mary Montagu – Lady Elizabeth Craven – Ida Gräfin von Hahn-Hahn. In: Dies. (Hg.): Skandalgeschichten. Aspekte einer Frauenliteraturgeschichte. Königstein/Taunus, S. 21-42. Dies. (2007): »halb Fabel und halb Wahrheit« – »Reisen einer Negerinn« (1790). In: Sascha Feuchert/Joanna Jablkowska/Jörg Riecke (Hg.): Literatur und Geschichte. Festschrift für Erwin Leibfried. Frankfurt am Main. (u.a.), S. 367380. Laurien, Ingrid (2012): Emily Ruete, Prinzessin von Sansibar: »Memoiren einer arabischen Prinzessin« (1886). Ein Selbstzeugnis im kulturellen Zwischenraum. In: Ernest W. B. Hess-Lüttich (Hg.): Re-Visionen. Kulturwissenschaft-

15 Vgl. für Sansibar https://www.youtube.com/watch?v=7F2fIrGT2oc; und für Hamburg https://www.youtube.com/watch?v=lIRbJ0D8BXs [Stand: 11.05.2018].

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liche Herausforderungen interkultureller Germanistik. Frankfurt am Main, (u.a.), S. 237-253. Nippa, Annegret (1989): Nachwort. In: Emily Ruete geb. Prinzessin Salme von Oman und Sansibar: Leben im Sultanspalast. Memoiren aus dem 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main, S. 269-286. Roy, Kate (2013): »So ähnlich könnte es gewesen sein, aber (…) – unethical narrations of Emily Ruete’s »Große Wandelungen«. In: Emily Jeremiah/Frauke Matthes (Hg.): Ethical approaches in contemporary German-language literature and culture. Rochester, NY (u.a.), S. 115-138. Ruete, Emily (1989), geb. Prinzessin Salme von Oman und Sansibar: Leben im Sultanspalast. Memoiren aus dem 19. Jahrhundert. Hg. u. mit einem Nachwort von Annegret Nippa. Frankfurt am Main. Dies. (1999): Briefe nach der Heimat. Hg. u. mit einem Nachwort von Heinz Schneppen. Berlin/Bodenheim bei Mainz. Said Ruete, Emily (2008): Memoirs of an Arabian Princess of Oman and Zanzibar. The extraordinary life of a muslim princess between East and West. Coventry. Schneppen, Heinz (1999): Nachwort. In: Emily Ruete geb. Prinzessin Salme von Oman und Sansibar: Briefe nach der Heimat. Berlin/Bodenheim bei Mainz, S. 145-196.

Verbundene Zerstreuung Utopien der Diaspora in der europäisch-jüdischen Moderne1 Caspar Battegay (Basel)

Der Dichter Alfred Wolfenstein notierte 1922 in seinem Essay Jüdisches Wesen und neue Dichtung: In der Gegenwart trägt keiner die Zeichen des Übergangs so sichtbar wie der Jude. Krieg und Revolution, die geschwisterliche Katastrophe, hat all seine Problematik aufgewühlt. Vielleicht begann die Diaspora, wie nach der Zerstörung Jerusalems und nach dem Fall des Ghettos, von neuem jetzt. Sie ist freilich diesmal eine allgemeiner menschliche, eine verbundenere Zerstreuung. Doch ich glaube, der Jude ist zu ihr (die nicht besser und nicht einmal leidvoller sein muss als die Verwurzelung) für immer berufen. (Wolfenstein 1922: 8)

Im Zusammenhang ästhetischer Darstellungen von Exil können in diesem Zitat vier bemerkenswerte Aspekte beobachtet werden. Erstens vermutet Wolfenstein, dass der Epochenbruch des Ersten Weltkriegs und der Revolutionen in Russland und in Deutschland (wo Wolfenstein während der Münchner Räterepublik zusammen mit Ernst Toller beteiligt war) den Beginn einer neuen Diaspora markiere. Diesen Beginn parallelisiert er zum einen mit der römischen Eroberung Jerusalems im Jahr 70 – üblicherweise wird mit diesem Datum der Beginn des jüdischen Exils bezeichnet –, sowie zum anderen mit der jüdischen Emanzipation in den modernen europäischen Gesellschaften (»Fall des Ghettos«). Zweitens sei diese dritte Diaspora eine »allgemeiner menschliche«. Als merkwürdig kann festgehalten werden, dass Wolfenstein seine universelle Diaspora im Vergleich mit den zwei historischen Stadien der jüdischen Geschichte als »eine verbunde-

1

Der Aufsatz behandelt Aspekte meiner Habilitationsschrift Geschichte der Möglichkeit. Utopie, Diaspora und die ›jüdische Frage‹ (Battegay 2018).

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nere Zerstreuung« bezeichnet. Drittens hat »der Jude« in diesem universalistischen Diaspora-Modell dennoch eine partikulare, ontologisch herausgehobene Stellung, denn das »jüdische Wesen« (das seinem Essay den Titel gibt) sei »für immer berufen« in eine diasporische Existenz. Viertens fällt die in Klammern formulierte Umwertung des zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch deutlich negativ konnotierten Begriffs ›Diaspora‹ auf, die »nicht besser und nicht einmal leidvoller sein muss als die Verwurzelung«. An die vier Aspekte dieses Zitats (Meta-Historisierung, Universalisierung, Ontologisierung und Umwertung) anschließend, soll dieser Aufsatz zunächst klären, was der Begriff ›Diaspora‹ in unterschiedlichen Kontexten bedeutet und wie er sich zum Begriff des Exils verhält. Theoretisch relevant ist dabei die Kongruenz der Begriffsverwendung bei einigen Autoren der deutsch-jüdischen Moderne mit einer Begriffsverwendung von ›Diaspora‹, die sich erst in den 1990er-Jahren in den postkolonialen Studien entwickelte und im Zuge dessen, was man als Globalisierung bezeichnet, zu einer erfolgreichen neuen Disziplin, den diaspora studies geführt hat.2 An diese begriffsgeschichtlichen Ausführungen anknüpfend, möchte ich zwei Beispiele von Utopisierungen der Diaspora beschreiben, ein erzählender Text des Journalisten und Politikers Nathan Birnbaum sowie Konzepte Alfred Döblins aus den 1930er-Jahren. Diese Beispiele haben gemeinsam, dass sie Erfahrungen von individueller politischer Wirkungslosigkeit und Exil in das kollektive Muster der jüdischen Exiltradition einschreiben. Eine existentielle Krise wird damit zu einer Utopie umgedeutet, in der Zerstreuung nicht als Bedrohung, sondern als politisches und ästhetisches Ideal einer Gemeinschaft jenseits des territorial festgelegten und ethnisch homogenen Nationalstaates konzipiert wird.3 Obwohl diese Beispiele in manchem wie merkwürdige Spiegel unserer unruhigen Gegenwart erscheinen, werde ich sie im Folgenden nicht mit den gegenwärtigen Fragen von Diversität, Rassismus, Nationalismus und globalisierten Lebenswelten in Verbindung bringen – dies würde das Ziel dieses Aufsatzes, den Begriff der Diaspora im Hinblick jüdischer Antworten auf solche Fragen historisch zu reflektieren, bei weitem übersteigen.

2

Vgl. die umfassende Begriffs- und Forschungsgeschichte bei Dufoix 2011.

3

Zum historischen und systematischen Zusammenhang von Utopie und Exil vgl. Maeding/Siguan 2017.

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EXIL UND DIASPORA Anders als bei anderen antiken Völkern beginnt die jüdische Geschichte mit der Zerstörung des eigenen Reiches. Nach der Eroberung des Königreichs Juda durch die Perser im Jahr 597 v.u.Z., also in der Zeit des babylonischen Exils, beginnen jene, »die nun unwiderruflich Juden, also Exilierte, geworden sind« (Bodenheimer 2012: 40) dem geografischen Exil in Babylon eine heilsgeschichtliche Bedeutung zuschreiben: Sie kompilieren die biblischen Texte. In der biblischen Deutung des Exils (hebräisch: galut) ist das Versprechen auf die zukünftige Erlösung (geulah) als Rückführung in die Heimat enthalten. Doch auch das Nichtexil bleibt »immer ein Zustand des potentiell kommenden Exils« (ebd.). Exil heißt im Judentum also in doppelter Weise ein Noch-Nicht-Gewordenes. Allerdings kann spätestens seit den griechisch-jüdischen Gemeinden in Alexandria im ersten Jahrhundert n.u.Z. davon gesprochen werden, dass das geografische Exil immer auch als positives und auf Dauer gestelltes Domizil konzipiert wurde, während die negative Bedeutung in eine eschatologisch-theologische Dimension des Exils verschoben wurde. Die heute gängige Opposition von freiwilliger Zerstreuung (Diaspora) und unfreiwilliger Zerstreuung (galut/Exil; vgl. etwa die entsprechenden Artikel in der Encyclopaedia Judaica. Second Edition von 2007) ist bei näherer Betrachtung zweifelhaft. Das Element des Aufgezwungenen wird etwa von Robin Cohen (1997: 1) auch für den Begriff der Diaspora als essenziell eingeschätzt, wobei er sich auf die Passagen des Fünften Buch Moses bezieht, die für die Genese des Begriffs Diaspora ausschlaggebend sind. In diesen Passagen ist zentral, dass die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft nicht direkt zum Besitz des eigenen Landes führt, sondern zuerst zu einer vierzig Jahre dauernden Wanderung in der Wüste Sinai. In diesem Exil nach dem Exil gibt Moses dem Volk die Gesetze und kündigt drakonische Strafen für den Fall an, dass die Israeliten diese Gesetze und damit Gott vergessen sollten: Der HERR wird dich vor deinen Feinden schlagen; durch einen Weg wirst du zu ihnen ausziehen, und durch sieben Wege wirst du vor ihnen fliehen und wirst zerstreut werden unter alle Reiche auf Erden. (Deut 28, 25) Denn der HERR wird dich zerstreuen unter alle Völker von einem Ende der Welt bis ans andere; und wirst daselbst andern Göttern dienen, die du nicht kennst noch deine Väter: Holz und Steinen. Dazu wirst du unter denselben Völkern kein bleibend Wesen haben, und deine Fußsohlen werden keine Ruhe haben. Denn der HERR wird dir daselbst ein bebendes Herz geben und verschmachtete Augen und eine verdorrte Seele, dass dein Leben

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wird vor dir schweben. […] Und der HERR wird dich mit Schiffen wieder nach Ägypten führen, den Weg, davon ich gesagt habe: Du sollst ihn nicht mehr sehen. Und ihr werdet daselbst euren Feinden zu Knechten und Mägden verkauft werden, und wird kein Käufer dasein. (Deut 28, 64-68).

Das hebräische Substantiv za’avah, das Horror oder Grausamkeit meint, wurde in der Übersetzung der Bibel aus dem Hebräischen ins Griechische im 3. Jahrhundert mit dem Substantiv diasporá bezeichnet (das sich vom zusammengesetzten Verb dia-speíro ableitet, das ausstreuen, sich zerstreuen, getrennt werden bedeutet), was in der hier zitierten Lutherbibel wiederum mit »wirst zerstreut werden« wiedergegeben ist.4 ›Diaspora‹ stellt also einen Neologismus dar, um damit eine spezifische Situation zu bezeichnen, nämlich die eschatologisch umrissene Möglichkeit des kollektiven Exils während der Zeit politischer Unselbständigkeit. Der Terminus wird erst im 18. Jahrhundert wieder gebräuchlich, als damit auch protestantische und katholische Gruppen bezeichnet werden. Ab den 1930er-Jahren wird er zunehmend in den Sozialwissenschaften für nichtreligiöse Gemeinschaften angewandt (vgl. Dufoix 2009: 57-58). Auffallend an der Passage aus Deuteronomium ist, dass die Erinnerung an die ägyptische Sklaverei und die prekäre, jederzeit von Gewalt bedrohte Existenz in der Erzählung offensichtlich noch so frisch ist, dass sie als Drohkulisse wirkt: Das Exil ist von Gott potenziell als Nichtexil benannt. Auch befindet sich das Volk zum Zeitpunkt dieses Fluchs immer noch ganz konkret in der Situation, dass »die Fußsohlen keine Ruhe haben«. Die emigrierten Israeliten wandern im Sinai herum, die Landnahme Kanaans bleibt noch zu erzählen. Das heißt, dass dieser Schlüsseltext der Diaspora auch als Text des Exils verstanden werden muss, jedoch eines potenziellen und von Gott erst angedrohten Exils. Während galut in der Bibel auf das historische babylonische Exil verweist, eines von Menschen herbeigeführten Exils, meint Diaspora zunächst eine theologische Perspektive (vgl. Dufoix 2009: 52). Diaspora meint Exodus und kollektives Exil gleichermaßen, jedoch auch das solchen Zuständen inhärente Versprechen auf ihr Ende; der Begriff meint also eine Zerstreuung, die das Verbundensein des Zerstreuten durchaus noch erinnert und die Möglichkeit einer Wiedervereinigung impliziert.

4

Die Praxis in der Septuaginta ist jedoch nicht einheitlich. Gemäß Stéphane Dufoix wird das Wort diaspora in der griechischen Bibelübersetzung noch für andere hebräische Termini verwendet – jedoch nie für das hebräische Wort galuth. Vgl. Dufoix 2009: 51.

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Seit der Eroberung Jerusalems, der Zerstörung des Zweiten Tempels und der Niederschlagungen der jüdischen Revolten sind ›Wanderung‹ oder ›Zerstreuung‹ an den Verlust jüdischer politischer Autonomie gebunden, die als Einlösung der in Deuteronomium 28,25 angedrohten Strafe gedeutet wird. Galut und Diaspora legen sich begrifflich übereinander. Die Motive von Wanderschaft und Zerstreuung werden über die Jahrhunderte so eng mit der Verfassung und dem Sinn des Judentums verknüpft, dass auch der Zionismus und die Existenz des modernen Staates Israel die Identität der Diaspora nicht aufzuheben vermögen, ihr jedoch eine neue politische Dimension verleihen. Die Einschätzung der Bedeutung von Diaspora und Exil und überhaupt der Gebrauch der Begriffe hängen deshalb im jüdischen Kontext bis heute stark vom politischen und ideologischen Standpunkt ab. Generell wird der Begriff der Diaspora von modernen jüdischen Autoren nicht so häufig verwendet wie die Begriffe Exil, galut oder auch das jiddische golus. Verbreitet ist die negative Konnotation des Begriffs v.a. bei zionistisch geprägten Autoren. So spricht etwa der junge Martin Buber von den »Qualen der Diaspora«, wenn es ihm darum geht, ein neues jüdisches autonomes Selbstverständnis zu entwickeln (Buber 2007: 146). Unter dem Eindruck des vernichtenden Antisemitismus der deutschen Nazidiktatur radikalisiert sich diese Einschätzung teilweise noch. Dem entgegen steht allerdings auch eine schmale, aber erkennbare Linie der Utopisierung der Diaspora, der etwa der zitierte Alfred Wolfenstein angehört. Postkoloniale Theoretiker berufen sich mitunter auf die jüdische Erfahrung der Moderne als Modell oder Paradigma des Diasporischen,5 ohne allerdings die überwiegend diaspora-kritischen Tendenzen zur Kenntnis zu nehmen. Für ihre Theoriebildung greifen sie auf deutsch-jüdische Autorinnen und Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts zurück, die ihrem eigenen Jüdisch-Sein ambivalent gegenüberstanden, gemäß Paul Gilroy etwa »Lukácz, Adorno, Benjamin, Kafka« (Gilroy 1993: 206). Wie Aamir Mufti schreibt, sind die Bezüge zu diesen und anderen Autoren in den Diaspora-Studien nicht zufällig, denn die Juden werden als eine Gruppe wahrgenommen, die moderne Ordnungskategorien von Nation, Territorium oder ›Rasse‹ unterlaufe und »marginality, homelessness, exile, and uprooting« in Konzepte wie Transnationalität, Hybridität oder Minoritätspolitik« transformiert habe.6 Das Judentum als diasporische Gemeinschaft sprengt in die-

5

Mit den Worten von Vijay Mishra liefere die europäisch-jüdische Diaspora das Modell für »an entire history of travel, translation and displacement […].« (Mishra 2007: 10)

6

»The modes of critique generated from the history of the Jewish Question and in response to it, with their deep exploration of the implications of marginality, homeless-

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ser Perspektive den Gegensatz von Heimat und Exil und stellt gleichsam die Idee einer verbundenen Zerstreuung dar. Transnationales Denken avant la lettre ist der jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte, die in großen Teilen eine marginalisierte Geschichte ist, schon seit dem 18. Jahrhundert eigen. Doch die katastrophische Dimension der jüdischen Erfahrung der Moderne wird im abstrakten und utopisch aufgeladenen Diasporabegriff der Cultural Studies gerne zugunsten eines manchmal stereotypen Verständnisses von Judentum ausgeblendet. Zudem ersetzen die Mythopoetik des Unterwegsseins und des Minoritären sowie die Emphase des Weder-Noch eine kritische Auseinandersetzung mit den nationalistischen und exkludierenden Tendenzen, die jeder konkreten Diaspora immer auch eigen ist. Die beiden Judaisten Jonathan und Daniel Boyarin haben 2001 mit ihrem Essay The Powers of Diaspora einen unterdessen stark rezipierten Versuch unternommen, an die positive Konnotation und an die Konjunktur des DiasporaDenkens in den Kulturwissenschaften anzuknüpfen, ohne die Spezifität des jüdischen Kontexts aus den Augen zu verlieren. Sie plädieren dafür, die Diaspora als kulturelle Ressource des Judentums zu begreifen und nicht nur als Geschichte des Leidens und der Fremdbestimmtheit, die Betonung also mehr auf den Aspekt der Sammlung als auf den der Zerstreuung zu legen.7 Das aus diesem Ansatz resultierende »Forschungskonzept« (Lipphard 2009) kann hier nicht erörtert werden, steht aber für die literarhistorische Analyse der folgenden Beispiele aus der jüdischen Moderne im Hintergrund.

ness, exile, and uprooting, resonate in a powerful and complex way for an examination of the dialectic of minoritization, displacement, and partitioning of language, culture, and memory in modern India.« (Mufti 2007: 8) 7

Die Spezifizität der jüdischen Diaspora sei gemäß den Boyarins die lange Kontinuität ohne politisches Zentrum im Land Israel. In der jüdischen Geschichte hätten sich immer wieder neue Zentren konstituiert, die quasi als neue Zions konzipiert und vor allem als solche erinnert würden. Die ›Kraft der Diaspora‹ ergebe sich also durch die fortlaufende Substitution von Zion durch immer neue Quasi-Zions und die Herausbildung immer neuer Exile: Babylon, Alexandria, Speyer, Cordoba, Wilna usw. werden wie zuvor Jerusalem zu melancholisch erinnerten, symbolisch überdeterminierten Herkunftsorten innerhalb eines Kontinuums des Exils, das man insgesamt Diaspora nennen könne. (Boyarin/Boyarin: 2002: 1-33)

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DIASPORISCHE UTOPIE Zunächst möchte ich ein Fragment zu einer literarischen Utopie diskutieren, das als Kritik des politischen Zionismus auch eine Utopie einer Welt ohne Exil darstellt. Es handelt sich um den heute unbekannten Text Nach tausend Jahren des ebenfalls (außer bei Historikern des modernen Judentums) vergessenen Journalisten und Politikers Nathan Birnbaum (1864-1937).8 Birnbaum, der als Erfinder des Begriffs ›Zionismus‹ gilt, konzipierte sein utopisches Fragment als Gegenentwurf zu Theodor Herzls Roman Altneuland (1902). Dessen berühmtes Motto – »Wenn Ihr wollt, / Ist es kein Märchen.« – zeugt von einem dynamischinstrumentellen Bewusstsein und zeigt die Emphase des menschlichen Willens. Herzls Roman ist nicht nur ein fiktives Gegenbild zu einem antisemitischen Europa. Verschiedene Figuren sollen als Ingenieure und Wissenschaftler gerade die Verwirklichbarkeit des Judenstaats belegen. Seine Utopie korreliert mit dem Bewusstsein, die Diaspora mit Hilfe von Technik, Ökonomie und Politik zu beenden. Die Motive des Zeitsprungs, die Reise durch eine fiktive Gesellschaft, der im Text diskutierte wirtschaftliche und soziale Fortschritt und das Vertrauen auf liberale Gesellschaftsmodelle sowie die Technik sind ausgesprochen typisch für die Gattung der literarischen Utopie um 1900.9 Im zionistischen Kontext findet

8

Birnbaum war Mitgründer der ersten zionistischen Studentenverbindung in Wien, zionistischer Vordenker, trat dann für das Jiddische als jüdische Nationalsprache in Österreich-Ungarn ein und bekannte sich nach dem Ersten Weltkrieg zur Orthodoxie und bekämpfte die säkularen Standpunkte, die er selbst in seiner Jugend vertreten hatte. Durchgehendes Thema in diesen ideologischen Wendungen ist die Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität in der Diaspora (vgl. Battegay 2018: 113-154; Olson 2013).

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Die literarische Gattung der Utopie geht zurück auf Thomas Morus’ Text Utopia (1516), der auf äußerst komplexe Weise eine fiktive Inselgesellschaft beschreibt, wobei unklar bleibt, ob es sich hier um ein anzustrebendes Ideal oder eine Satire handelt. In den darauffolgenden Jahrhunderten transformiert sich dieses Modell zum ›Staats‹und ›Zukunftsroman‹. Die klassischen Utopien des Humanismus und des 18. Jahrhunderts sind Gegenbilder zur historischen Wirklichkeit oder Satiren. Doch literarische Utopien antworten nicht nur auf die Geschichte, wie man zu Beginn des 20. Jahrhunderts sieht, sie wollen auch Geschichte machen. Um 1900 imaginieren literarische Utopien in großer Zahl sehr detailreich die Optimierung der Menschheit durch fortschrittliche ökonomische Modelle, technische Innovation, neuartige Architektur, Krieg oder Kolonialisierungsprojekte. Bestseller waren etwa Edward Bellamys Looking Backward 2000-1887 (1886), eine sozialistische Vision Amerikas aus der Per-

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man aber noch ein zweites Utopie-Modell, das sich vom liberalen Fortschrittsglauben Herzls unterscheidet und weniger auf die Verwirklichung als auf eine Reflexion der Politik an sich zielt, wenn es auch nicht weniger nationalistisch ausgerichtet ist als das Modell Herzls. Dieses zweite Modell ist unter dem Begriff des ›Kulturzionismus‹ und mit Martin Bubers Schlagwort der ›jüdischen Renaissance‹ bekannt geworden. Es impliziert teilweise auch eine positivere Bewertung der Diaspora. Um 1900 wendet sich Birnbaum gänzlich vom politischen Zionismus ab, er spricht von den »Golus-Möglichkeiten« (Birnbaum 1902: 461), womit er die pragmatische Verbesserung der konkreten Lebensumstände »der über die Erde verstreuten Juden« (ebd.: 367) meint und zunehmend die Idee einer politischen jüdischen Autonomie innerhalb der Habsburger Monarchie vertritt. Für Birnbaum sollten die Juden eine eigenständig organisierte Nation innerhalb des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates bilden, wobei er in unterschiedlichen Artikeln und Artikelserien recht komplexe politische Strukturen reflektiert. Diese Idee hat sich nach dem Ersten Weltkrieg endgültig als illusionär erwiesen – und vielleicht sollte sich Birnbaum deshalb denn auch der Religion zuwenden. Das hier relevante Fragment zu einem utopischen Roman, das zuerst 1907 als Fortsetzung in einer Zeitung publiziert wurde und etwa 40 Druckseiten umfasst, versteht Birnbaum als Kritik an der Assimilation, aber auch als Kritik an der Idee einer zionistischen Transmission des Judentums nach Palästina, wie er in Herzls Roman Altneuland programmiert wird. Er steht auch im Zusammenhang mit Birnbaums gescheitertem Ansinnen, sich für seine Ansichten in ÖsterreichUngarn realpolitisch einzusetzen. Denn er kandidierte 1907 in Czernowitz als Reichsratsabgeordneter für eine Koalition jüdischer Nationalisten, verlor aber die Wahl. Die Romanskizze mit dem Titel Nach tausend Jahren. Entwurf eines jüdischen Zukunftsromans lässt Birnbaums Diasporismus als utopische Möglichkeit erscheinen: In der Welt Birnbaums gibt es keine Nationalstaaten mehr, die Juden leben über die ganze Welt verstreut, zum Beispiel in der fiktiven amerikanischjüdischen Metropole Moischestodt (=Moses-Stadt), haben jedoch eine gemein-

spektive eines fiktiven Jahr 2000; der Roman Freiland. Ein sociales Zukunftsbild (1890) des Wiener Nationalökonomen Theodor Hertzka oder Bertha von Suttners pazifistische Utopie Der Menschheit Hochgedanken. Roman aus der nächsten Zukunft (1911). Vgl. Leucht 2016. Typisch bei Herzl ist auch, dass dabei explizit so erzählt werden soll, als ob die Handlung »eine wirkliche Begebenheit und keine Utopie sei« (Herzl 1902: 90). Dass Herzl dabei freilich bewusst an literarische Vorbilder und Muster der erzählenden Utopie anknüpft, zeigt Peck 2012.

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same politische Struktur mit rotierendem Zentrum. So findet die jüdische Nationalversammlung zur Handlungszeit gerade in Vilna statt (dem heutigen Wilnius). Dort und überall sonst wird mehrheitlich Jiddisch gesprochen; die deutschsprachigen Juden sind ausgestorben; das Land Israel hat zwar noch eine zentrale kulturell-religiöse Bedeutung für das Judentum, doch findet dort auch gerade die arabische Nationalversammlung statt. Wie die Tschechen, die Japaner oder die anderen großen Völker der Birnbaum’schen Utopie besitzen die Juden in Nach tausend Jahren kein kohärentes Territorium, haben aber eine autonome politische Struktur und haben sich ihre (essentialistisch verstandene) »nationale Kultur« bewahrt, was Birnbaum immer wieder betont. Er unterscheidet sich in dieser Hinsicht deutlich vom Verständnis des Jüdischen bei Herzl, der dem Judentum als Kultur beinahe keinerlei positiven Eigenwert zuspricht. Multikulturalismus nach dem amerikanischen Modell des melting pot lehnt Birnbaum ebenfalls ab.10 Birnbaum imaginiert sich keinen ›Schmelztiegel‹, sondern eine transterritoriale Gesellschaft mit rotierendem Zentrum, in der die verschiedenen Nationen in sich überlappenden und durchdringenden Gebieten auf sich selbst bezogen und in sich abgeschlossen leben. Es wird aber auch deutlich, dass Birnbaum trotz seiner Ablehnung eines Territorialstaats keineswegs ein postmodernes Modell einer Diaspora der Vermischung und der Hybridisierung vertritt, sondern von festen und abgegrenzten nationalen Identitäten ausgeht, denen er in ihrer Differenziertheit eine neue Autonomie zuschreiben will. Auch die utopischen Metropolen sind in Birnbaums Text nach diesem in sich differenzierten Muster der nationalen Autonomie organisiert. Das wird sehr gut am fiktiven Wien ersichtlich, dem Birnbaum am meisten erzählerischen Platz einräumt. Wien ist in verschiedene Zonen unterteilt, in deutsche, tschechische und japanische Stadtviertel. Der Rundgang durch Wien ist dramaturgisch so aufgebaut, dass die Protagonisten zuerst durch die tschechische und die japanische Zone spazieren, bevor sie in den jüdischen Stadtteil kommen, wo sie angesichts »des jüdischen Lebens« sofort »die Heimat« fühlen (Birnbaum 1910: 335). Diese »Heimat« als narrative Synthese wird nicht durch ein bestimmtes Territorium gebildet, sondern viel eher von der stereotypen Eigenart des Volkes, der »nervösen Beweglichkeit der Juden« und dem »erhabenen Pathos« (ebd.). Die ver-

10 Explizit formuliert er diese Ablehnung in einem Essay mit dem Titel Der Amerikanismus und die Juden, der ebenfalls in der zweiten Hälfte der 1900er-Jahre entsteht. Mit diesem Essay verarbeitet Birnbaum seine USA-Reise von 1908. Auf dieser Reise sieht er auch eine Aufführung von Israel Zangwills seinerzeit gerade aktuellem Theaterstück The Melting Pot.

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schiedenen Nationen sind also essentialistisch klar differenziert und nach Stadtteilen innerhalb der Metropole aufgeteilt. Es gibt keine Hybridisierung (wie man auch immer eine solche denken würde) von Japanern, Tschechen oder Juden, sondern eine klare nationale Separierung, die als positiv geschildert wird. Im Gegensatz zu Herzl geht Birnbaum von einem sehr langsamen Prozess der utopischen Verschiebung aus. Dies liegt an seinem organistischen Rassedenken, das heute sehr problematisch erscheint. Allerdings ist er kein völkischer Rassist: Birnbaum stellt keine Rangliste der Völker auf, und er verknüpft die Volkskultur11 nicht mit dem Boden oder einem abgegrenzten Staatsterritorium. Vielmehr entwirft Nach tausend Jahren ein oppositionelles Modell zur zeitgenössischen Utopie. Während bei Herzl die Technik und die Besiedlung des Territoriums eine enorm große Rolle spielen, ist Birnbaum weder an der Machbarkeit oder der Wissenschaftlichkeit noch an der realen Topographie seiner Welt interessiert. Der zentrale Faktor ist für Birnbaum nicht ein zu besiedelnder Boden, sondern die als organisch vorgestellte Kulturtradition des osteuropäischen Judentums. Diese Tradition hat auch religiöse Implikationen. Letztlich bedeutet der Zeitraum von tausend Jahren im Titel einen messianischen Horizont, der der menschlichen Handlungszeit entzogen ist. Dies wird im Text deutlich: Immer wieder werden eschatologisch aufgeladene Momente beschrieben. So wird das Rathaus von Mojschestodt wie ein Tempel beschrieben; der Protagonist (ein jüdischer Politiker) ist auch eine Art Prophet, und am Schluss wird er von einem Engel wie der Prophet Elias in den Himmel entrückt. Diese traditionell religiösen Motive zeigen, dass die Utopie Birnbaums letztlich auch eine Utopiekritik darstellt. Denn die Prophetie unterläuft den politischen Anspruch auf autonome Verwirklichung und stellt sie in einen transzendentalen Horizont. Für dieses Denken ist das Land Israel immer noch das versprochene Land, doch dieses Versprechen liegt nicht in einem politischen Territorium. Als konkrete – wenn auch an einen Utopos entrückte – Existenzweise entwirft Birnbaum dagegen die politisch auszugestaltende Diaspora.

11 Birnbaum stellt im Gegensatz zu Herzl nicht das deutschsprechende liberale Judentum, sondern das osteuropäische Judentum ins Zentrum seiner Überlegungen. Der Grund dafür ist, dass Birnbaums Ideal von Kultur mit einer romantischen, kulturzionistischen Vorstellung von Volk und ›Rasse‹ verbunden ist. Mit einer in dieser Zeit beliebten Denkfigur unterscheidet Birnbaum ›Kultur‹ von ›Zivilisation‹: Während die westeuropäischen Juden zwar Zivilisation hätten, hätten sie keine Kultur. Denn Authentizität hat eine Kultur in Birnbaums Vorstellung nur, wenn sie rassisch begründet ist.

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Abschließend möchte ich nun ein Beispiel einer Utopisierung der Diaspora in der jüdischen Moderne skizzieren, das ein individuelles Exil während des Nationalsozialismus auf die jüdische Tradition der Diaspora bezieht.

WÜSTENWANDERUNGEN Im Jahr 1938 schreibt der Schriftsteller Alfred Döblin in seinem Essay Die Deutsche Literatur im Ausland seit 1933 folgende Zeilen: »Die Emigration ist nicht nur ein Schicksalsschlag, sondern auch eine Feuerprobe. Je länger sie dauert, umso mehr wird sie eine Wüstenwanderung.« (Döblin 1963: 197) Formulierung und Wortwahl – hier aus der Perspektive eines fiktiven »deutschen Schriftstellers im Ausland« vorgebracht – sind bemerkenswert. Das biblische Wort der »Wüstenwanderung« verweist darauf, dass Döblin sein Exil als Schriftsteller mit Deutungsmustern der jüdischen Tradition verbindet.12 Bis zu seiner Flucht in die USA lässt sich bei Döblin eine doppelte Bewegung im Exil beobachten. Zunächst engagiert sich Döblin praktisch und auf einer politischen Ebene für den sogenannten Neo-Territorialismus, also für Organisationen, die eine konkrete jüdische Besiedlung eines Landes (nicht ausschließlich in Palästina, sondern beispielsweise auch in Ostafrika) anstrebten.13 Döblins theoretische Konzepte für diese marginale Idee einer »Mobilisation der gesamten aktiven Diaspora« (Döblin 1995: 185) lassen sich in Flucht und Sammlung des Judenvolkes. Aufsätze und Erzählungen (1935) nachlesen. Ab 1935 steht für Döblin dann die Arbeit an seinem groß angelegten Roman über die Kolonialisie-

12 Nach seinem ersten großen Interesse für das Judentum Mitte der 1920er-Jahre, das mit seiner Reise in Polen (1924) zusammenhängt, kann ab 1933 eine zweite Phase einer solchen Hin- (und Ab-)wendung ausgemacht werden (vgl. grundsätzlich Kiesel 1986; Müller-Salget 1993; Horch 1995). 13 Der Territorialismus wurde als Abspaltung aus der zionistischen Bewegung 1905 während des 7. Zionistenkongresses in Basel unter dem britischen Schriftsteller Israel Zangwill (1864-1926) begründet. Die Organisation bestand aus Abgeordneten, die sich weigerten, den so genannten Uganda-Plan, also die von der britischen Regierung vorgeschlagene jüdische Besiedlung von ostafrikanischen Territorien, zugunsten Palästinas abzulehnen, hatte jedoch nie große Erfolge und wurde nach Zangwills Tod aufgelöst. Erst 1931 gab es an verschiedenen Orten erneute Bestrebungen, die territorialistische Bewegung als ›Neu-Territorialimus‹ oder ›Freiland-Bewegung‹ zu aktivieren. Döblin ist einer der führenden Intellektuellen dieser Bewegung und verfasst verschiedene Vorträge und Pamphlete (vgl. Horch 1995; Rovner 2014: 79-115).

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rung Südamerikas im Zentrum, als dessen Titel er Land ohne Tod vorsah, das heute aber als Amazonas-Trilogie bekannt und publiziert ist. In diesem Riesenroman findet sich ein Panorama aus immer wieder ansetzenden Flucht-, Verfolgungs- und Wanderungsbewegungen.14 Die literarische Arbeit löst für Döblin das publizistische Engagement ab, Politik verschiebt sich in die Utopie der Literatur. In Amazonas werden die ›Judenfrage‹ und die Bedingungen des Exils ab 1933 allerdings poetisch reflektiert. Zudem wird im Gelände Südamerikas auch der Diasporabegriff der post colonial studies in vieldeutigen Motiven und typischen Narrativen vorweggenommen, ohne dass er freilich so benannt wird. Ein Leitbegriff bildet ›Diaspora‹ allerdings wörtlich in Döblins Aufsätzen in Flucht und Sammlung. Abschließend sollen deshalb einige Aspekte dieses Sammelwerks hinsichtlich einer Utopisierung der Diaspora diskutiert werden. Im Juli 1935 nimmt Döblin als Höhepunkt seiner politischen Betätigung an einer Konferenz führender Territorialisten in London teil, wo die ›Internationale Freiland-Liga‹ gegründet wird, in deren Zentralrat Döblin gewählt wird. Die Schlagworte des ›freien Landes‹ und des ›Aufbruchs‹ sind für Döblin zentral,15 – eine Rhetorik, der er teilweise von Nathan Birnbaum übernimmt. Im vorliegenden Zusammenhang kann bloß darauf verwiesen werden, dass Döblin Mitte der 1930er-Jahre eine kurze Korrespondenz mit dem orthodox gewordenen Birnbaum führt – und drei längere Essays, die dann in Flucht und Sammlung übernommen werden, in dessen Zeitschrift Der Ruf publiziert. Zu dieser Zeit vertritt Birnbaum das nicht erst heute bizarr erscheinende Konzept einer »Verländlichung« des Judentums (Birnbaum 1927), womit er religiöse jüdische Kolonien

14 Wortwörtlich stößt man im Kontext der Jesuitengründungen auch auf den Begriff der »Wüste«, die diese analog zum Volk Israel durchqueren müssen, um das neue, nämlich das »indianische Kanaan« zu finden – ein Ort, den man durchaus als eine diasporische Utopie charakterisieren kann (vgl. Battegay 2018: 249-268). 15 Wobei Döblin in Flucht und Sammlung jede Bezugnahme auf konkrete Länder oder Orte vermeidet. Er spricht allgemein von der »Aufbruchsbewegung des Galuth« (Döblin 1995: 195) – explizite Erwähnung findet der biblische Exodus unter Moses. Er meint: »Wir wissen von dem Vorhandensein zahlreicher unerschlossener Kolonisationsräume. […] Für den Augenblick […] genügt es, von dem Vorhandensein freier Länder, brachliegender bewohnbarer Flächen Erde zu wissen.« (Ebd.: 195) Die Rede von freien »Kolonisationsräumen« erscheint vor der Szenerie krasser Gewaltorgien im ersten Teil des Amazonas-Buches irritierend. Diaspora meint denn beim Döblin der 1930er-Jahre keineswegs friedvolle Multikulturalität. Vielmehr taucht damit die Vorstellung einer Gesellschaft in ideologischer und physischer Unruhe auf, mit Konflikten beschäftigt und in steter (gewollter und ungewollter) Dynamik begriffen.

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abseits großer urbaner Zentren meint, was zu einer Re-Authentifizierung des Judentums nicht als Nation, aber als Volk Gottes führen soll (vgl. Horch 1995, Battegay 2018: 243-248). Döblin schließt an diese Ablehnung des territorialen Nationalstaates bei Birnbaum und an die Emphase des Natürlichen an, doch die Hinwendung zur jüdischen Tradition inklusive Messianismus lehnt er ab. Im Gegensatz zu Birnbaum, der ›golus‹ als religiös konnotiertes, eschatologisch aufgeladenes Exil religiös transformieren möchte, verwendet Döblin explizit den Begriff ›Diaspora‹. Döblin entwirft in Flucht und Sammlung wie Wolfenstein ein dreiteiliges Schema der jüdischen Geschichte. Während die »Gestalt des palästinensischen Volkes« (also bis zum Jahr 70) die erste Gestalt darstelle, sei die Diaspora die zweite Gestalt des Judentums. Die Moderne bilde nun die zweite Wende: »Jetzt wird die Diaspora selber angegriffen und soll sich zum Subjekt ihres Schicksals machen.« (Döblin 1995: 195). Diese Autonomisierung soll das Judentum in die dritte Gestalt überführen, in das sogenannte ›Neue Juda‹. Die Differenz zum politischen Zionismus und die Anlehnung an Birnbaum bestehen bei diesem Konzept darin, dass trotz aller territorialen Rhetorik nicht unmittelbar ein neuer Staat geschaffen werden soll.16 Vielmehr beschwört Döblin einen Aufbruch in ein diffuses Terrain der Zerstreuung und Rettung, ein Gelände des Übergangs, zu dem er auch »Wüste« sagt. Mit diesem Aufbruch in die transformatorische »Wüste« ist ausdrücklich nicht bloß die Emigration gemeint, sondern die »Schaffung von konzentrierter jüdischer Kolonisation auf freiem Lande« (ebd.: 185). Dies sei zwar nicht unmittelbar zu vollbringen, denn die Diaspora hätte weder einen »Plan« noch einen einheitlichen »Organisationskörper«. Was Döblin fordert, ist lediglich, »daß es möglich wird!« (Ebd.: 186) Der Aufruf zur Sammlung in der Zerstreuung ist also ein Aufruf zum Möglichkeitsdenken – ein Bewusstwerden der Diaspora als Raum des Möglichen, wobei eine politisch konkrete Realisierung in irgendeiner Form nach dem Ende des territorialistischen Denkens in der Einsamkeit des Exils nicht absehbar scheint. Döblins ziemlich obskures ›Neue Juda‹ ist nicht politisch verfasst, sondern religiös oder vielmehr spirituell. Die neu zu erlangende Spiritualität soll aus der »Fluchtjudenheit« (ebd.: 203) wieder ein mit der Natur verbundenes Judentum schaffen, wobei ›Natur‹ als durch die Offenbarung vermittelte Schöpfung verstanden wird. Dieser Prozess der Re-Naturalisierung ist auf eine longue durée

16 Denn »genau wie die Kolonialvölker im Kriege« sollte das Judentum nicht zum »Nachahmer oder Konkurrenten unserer bisherigen Herren und Sklavenhalter« (Döblin 1995: 203) werden, also nicht bloß eine Imitation eines europäischen Nationalstaates in die Welt setzen.

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angelegt, wie Döblin wiederum mit einer Anspielung auf den biblischen, 40 Jahre dauernden Exodus aus Ägypten meint: »Es sind Umwege nötig. Tausendmal mehr als die ägyptischen Juden haben die von heute Wüstenwanderungen nötig.« (ebd.: 208). Auf diesen nachbiblischen Irrwegen soll das partikularisierte Judentum der Moderne sich sammeln, in der Zerstreuung wieder zur Gemeinschaft (und damit zu Gott) finden.17 In einer katastrophischen Schwellensituation der europäischen Moderne zeichnet Döblin wie Wolfenstein das Bild einer Diaspora, die meta-historisch, universell, ontologisch aufgeladen und positiv konnotiert ist. Wenn Birnbaum in seiner kulturzionistischen Phase zu Beginn des 20. Jahrhunderts mittels einer erzählenden Utopie dieses Bild konkretisiert und später in den 1930er-Jahren jegliche Konkretion der traditionellen Religion überlässt, entwirft Döblin zur gleichen Zeit das diffuse Konzept einer utopischen Gemeinschaft im konstanten Aufbruch. Gegenüber einer sozialen und politischen Realität, die sich mehr und mehr verhärtete und dabei konsequent auf den Nullpunkt der Vernichtung zuläuft, öffnet dieses Konzept von Diaspora zumindest potentielle Denk- und Handlungsräume für Formen einer a-territorialen Organisation von Gemeinschaften. Diese moderne Umschreibung existentieller Erfahrungen von Diskriminierung, Flucht und Exil in eine traditionelle Matrix der Diaspora kann als der imaginäre Nicht-Ort (den Utopos) der ›verbundenen Zerstreuung‹ bezeichnet werden, der zumindest – vielleicht sogar bis heute – eines vermittelt: Hoffnung.

17 Döblins Gottesbilder und Überlegungen weichen allerdings stark von traditionell jüdischen Vorstellungen ab. So ist bei Döblin ein deutlicher Natur-Mystizismus auszumachen, der nichts mit der jüdischen Tradition zu tun hat. Bei Birnbaum spricht Gott aus der Überlieferung. Für Döblin versperrt die Überlieferung (also das Festhalten an den religionsgesetzlichen Geboten und den religiösen Gebräuchen) aber gerade den Weg zu Gott, der nur als neu zu formierendes Kollektiv und nicht innerhalb der Orthodoxie wiedergefunden werden kann, sondern einer anderen, noch zu schaffenden und ungewissen Form bedarf. Am Schluss von Flucht und Sammlung heißt es: »Nun denken sie [die Juden; C.B.], sie müßten beten, oder inniger beten. Als ob ein Einzelner überhaupt beten könnte. Daß man betet, stammt aus einer früheren Gemeinschaft. Ein Gebet aus einer zerfallenden Zeit, ein aufgelöstes Volk erreicht seinen Gott nicht. Es ist eine ungeheure Gewalt, Riesenkräfte müssen an ihm rütteln. […] Gott ist ein regentriefender Wald, wie schwer ist es, einen Stamm zum Brennen zu bringen.« (Döblin 1995: 211)

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Bilder der ›erzwungenen Wanderschaft‹ in Jan Klatas Aufführung Transfer! Eliza Szymańska (Universität Danzig)

Man kann im polnischen Theater der letzten Jahre die Tendenz beobachten, sich intensiv mit geschichtlichen Themen auseinanderzusetzen. Dabei spielen die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und dessen Folgen eine besondere Rolle.1 Die Theaterwissenschaftlerin Krystyna Dunin schreibt in diesem Zusammenhang Jan Klata bedeutende Verdienste zu. Ihrer Meinung nach kam es 2006 gerade mit seiner Aufführung Transfer! zum ›historical turn‹ im polnischen Theater (vgl.

1

Zu erwähnen wären in diesem Kontext u.a. Sebastian Majewskis Kamienica. das Haus, Tadeusz Sobodzianeks Unsere Klasse (Regie Ondrej Spisak), Małgorzata Sikorska-Miszczuks Der Bürgermeister in der Regie von Michał Kotański (Teatr Polskiego Radia) und Walizka [Der Koffer] in der Regie von Piotr Kruszczyński, Dorota Masłowskas Wir kommen gut klar mit uns (Regie Grzegorz Jarzyna), Artur Pałygas Żyd [Jude] in der Regie von Robert Talarczyk oder Paweł Demirskis und Monika Strzępkas Niech żyje wojna [Es lebe der Krieg!]. Eine deutliche Inspiration von Klatas Transfer! lässt sich unschwer in zwei Aufführungen des Theaters Rondo in Stolp erkennen. Dort fanden nämlich zwei Premieren statt, die auf den Erinnerungen derjenigen Menschen basierten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Pommern und Stolp sesshaft wurden. 2008 hatte Meine dni [Meine Tage] und ein Jahr später Mój nowy dom [Mein neues Haus] Premiere. 2014 wurde wiederum Deutschen, die bis 1946 in Stolp und Umgebung wohnten, dieses aber verlassen mussten, das Wort erteilt, und es fand die Premiere von Odzyskane [Das Wiedergewonnene] statt (vgl. Sobiecka 2015: 309). Andere von Klata inspirierte Aufführungen zählt Joanna Derkaczew auf (vgl. Derkaczew 2008).

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Dunin 2015).2 Dass ausgerechnet Klata als derjenige bezeichnet wurde, der den ›historical turn‹ im polnischen Theater einleiten sollte, ist nicht verwunderlich, denn er zählt zu den Regisseuren, die sich in ihren Aufführungen konsequent mit geschichtlichen Themen auseinandersetzen.3 In seinen Aufführungen äußert er sich zu solch entscheidenden Momenten der polnischen Geschichte wie dem Warschauer Aufstand, der Gründung der ›Solidarność‹ oder dem Umbruch von 1989 und dessen Folgen. Hervorzuheben ist darüber hinaus die Tatsache, dass seine Stimme in Polen besonders hörbar ist, und dies nicht nur unter Theaterleuten. Seine Aufführungen wurden vielmehr zu einem wichtigen Teil der in Polen geführten geschichtlich-politischen Debatten und das nicht erst von 2013 an, als er die Intendanz des nationalen Theaters in Krakau übernahm,4 was man als eine selbstverständliche Konsequenz seiner Tätigkeit deuten kann,5 sondern bereits früher, etwa als er 2006 mit den Arbeiten zu Transfer! begann.

2

Dunin sieht Klatas Aufführung als einen Wendepunkt an, von dem an das Theater »sich auf die universelle Erfahrung des 20. Jahrhunderts – das Kriegstrauma, die Shoa, die Schuld- und Opferthematik, ökonomisches Ausgeschlossen-Sein, Identitätsdilemma – konzentrierend, zugleich die mentalen Schemata, die vorgetroffenen Ansichten und die historischen Auslegungen zu zerbrechen und die Wirklichkeit kritisch zu kommentieren begann«. (Dunin 2015); dieses wie auch weitere Zitate, die im Original auf polnisch sind, wurden von mir ins Deutsche übersetzt). Über die führende Rolle Klatas im geschichtlichen Diskurs im polnischen Theater siehe auch: (Dobrowolski: 2013).

3

Bereits nach den ersten Aufführungen von Klata schrieb Maryla Zielińska: »[E]s ist ein Regisseur erschienen, der an der Realität nagt, den die Geschichte schmerzt, dem die Landsleute auf die Nerven gehen«. (Zielińska 2005). Bończa-Szabłowski ist der Meinung, dass die auf der offiziellen Seite des Słowacki-Theaters in Krakau veröffentlichten Worte über Wyspiańskis Aufführungen (»[S]ie betrafen sowohl die Gegenwart als auch die Geschichte und waren gegen die nationalen Fehler gerichtet, sie provozierten und versetzten mit der neuen Ästhetik einen Hieb«) genauso gut auf Klata zutreffen (vgl. Bończa-Szabłowski 2017). Rafał Węgrzyniak bezeichnet Klata als »einen der wenigen hervorragenden Theaterregisseure der mittleren Generation, die sich wirklich mit der nationalen Tradition identifizieren« (Mrozek 2017).

4

Im August 2017 ging die Intendanz zu Ende.

5

Monika Kwaśniewska bezeichnet Klatas Gesamtschaffen als »Reflexion über das Polentum« refleksja nad polskością (Kwaśniewska 2016: 309). Klata äußert sich in diesem Zusammenhang wie folgt: »Ich versuche Aufführungen zu machen und zu zeigen, worüber man in Polen nachdenken kann« (Derkaczew 2010).

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Zur Aufführung kommt es zu jener Zeit, zu der in Deutschland wieder ein gesteigertes Interesse an der Vertreibungsproblematik zu verzeichnen ist und erneut Debatten zu diesem Thema geführt werden. 2001 werden von der ARD die Dokumentarserie Vertriebene – Hitlers letzte Opfer und vom ZDF Die große Flucht ausgestrahlt. Mit der 2002 erfolgten Veröffentlichung des Romans Im Krebsgang beginnt Günter Grass ein neues Kapitel in der Auseinandersetzung mit der Geschichte der deutschen Kriegsopfer. Der deutschen Öffentlichkeit wird bewusst, dass es durchaus erlaubt sei, über eigenes Leid zu berichten (vgl. Echternkamp/Labentz/Traba 2015: 411). Der Spiegel veröffentlicht 2003 zwei umfangreiche Serien (»Die Deutschen als Opfer – der neue Blick auf die Vergangenheit« und »Der Bombenkrieg gegen die Deutschen«). Die Idee der Errichtung eines ›Zentrums gegen Vertreibungen‹, das in Berlin als ein deutsches Mahnmal der Vertreibung entstehen soll, stößt auf ein starkes Echo. Kurz darauf finden die Diskussionen zum Vertriebenen-Zentrum auch in der polnischen Presse große Resonanz (vgl. Wysocki 2010), wobei hier vor allem Kritik laut wird (vgl. Röger 2016: 234-236). Mit der (auf Anfrage von Krystyna Meissner) im Rahmen des deutsch-polnischen Jahres 2005/2006 erfolgten Vorbereitung einer Aufführung zu jenem noch immer heiklen Thema kann Klata auf das rege Interesse von Publikum und Kritik zählen. Auch wenn Klata beteuert, mit seiner Aufführung keine Politik betreiben zu wollen, nimmt er sich eines zu dieser Zeit derart brisanten Themas an, dass er damit rechnen muss, dass ihn die Politik einholt. Sei es, als die Vorsitzende der Polnischen Treuhandschaft und PiSAbgeordnete Dorota Arciszewska-Mielewczyk darauf besteht, noch vor der Premiere Einblick in den Aufführungstext zu bekommen, um zu prüfen, ob die Deutschen nicht ausschließlich als Opfer dargestellt würden – sei es, dass sich einer der deutschen Protagonisten, Günter Linke, der in Lodz geboren wurde, weigert, in seinen Textpassagen den Deutschen eindeutig die Schuld am Kriegsausbruch zuzuschreiben. Dies zeigt deutlich, dass es auch über 70 Jahre nach Kriegsende noch genügend Anlass für Diskussionen und Kontroversen bezüglich der Wahrnehmung und Deutung der Kriegsereignisse gibt. Genauso brisant und aktuell bleibt bis heute das Thema der Vertreibung selbst. Es ist ein wichtiger Teil der Erinnerungskultur6 beider Nationen, die jedoch in diesem Fall oft in einem konfliktreichen Gegeneinander stehen. Die Streitpunkte betreffen vor allem die Rekonstruktion des geschichtlichen Kontextes der Vertreibung sowie die Bestimmung der dafür Verantwortlichen. Damit hängt auch die Frage zusammen, was man auf beiden Seiten der Oder überhaupt unter dem Begriff ›Vertreibung‹ versteht. Nebenbei sei bemerkt, dass allein

6

Zum Begriff Erinnerungskultur vgl. Christoph Cornelißen, 2003: 548-563.

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schon der Terminus ›Vertreibung‹ in beiden Ländern unterschiedlich aufgefasst wird.7 Ich werde auf diesen Aspekt des Vertreibungsdiskurses allerdings nicht näher eingehen, da dies anderenorts ausgiebig getan wurde (vgl. dazu Röger 2015). Eva und Hans Henning Hahn machen in ihrem Vertreibungs-Oeuvre Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte aus dem Jahre 2010 darauf aufmerksam, dass die Unterschiede zwischen den heute als Flucht bezeichneten nationalsozialistischen Evakuierungen und den unter der Verantwortung der alliierten Großmächte durchgeführten Umsiedlungen der Jahre 1946/49 im Erinnern an die Vertreibung bisher kaum wahrgenommen worden sind (vgl. Hahn/Hahn 2010: 261). Deswegen scheint es besonders interessant zu erforschen, ob Klata in seiner Aufführung diese Unterscheidung vornimmt. Die in meinem Beitrag gestellten Fragen lauten dementsprechend: 1) Differenziert Klata zwischen unterschiedlichen Aspekten der ›erzwungenen Wanderschaft‹? Wie wird die Bedeutung des Begriffs ›Vertreibung‹ szenisch vermittelt? 2) Welchen geschichtlichen Rahmen schafft Klata in seiner Aufführung für die Darstellung der Vertreibung? Wie werden dabei die Deutschen und wie die Polen dargestellt? 3) Welche konkreten ›Bilder‹ der Vertreibung werden in Klatas Aufführung präsentiert und welche Bedeutung wird diesen zugeschrieben? Wer wird als der für die Vertreibung Verantwortliche gezeigt? Wie werden die TäterOpfer-Rollen verteilt? 4) Letztendlich wird auch immer Acht darauf gegeben, auf welche Aspekte des öffentlichen Diskurses Klata in seiner Aufführung eingeht und wie er das szenisch umsetzt. Die Premiere von Transfer! findet am 18. November 2006 im Wrocławski Teatr Współczesny (Breslauer Gegenwartstheater) statt. An der Vorbereitung arbeiten die deutsche Dramaturgin Dunja Funke und der polnische Dramaturg Sebastian

7

Ähnlich sieht es aus im Falle der deutschen und der tschechischen Auseinandersetzung mit der Problematik der Vertreibung. Über die Verwendung des tschechischen Wortes ›odsun‹, das Aussiedlung bedeutet, schreibt unter anderem Manfred Weinberg und verweist auf eine auch im polnischen und deutschen Gedächtnis bestehende Differenz: »Was die Deutschen also schon wörtlich als brutalen Übergriff erinnern, fassen die Tschechen [genauso die Polen; E.S.] als geordnete Verbringung der Deutschen hinter die Grenze« (Weinberg 2017: 47).

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Majewski mit. Ihnen zollt Klata den größten Tribut, denn gerade sie entscheiden letztendlich darüber, welche 10 von den insgesamt 17 Amateuren auf der Bühne erscheinen und welche der zahlreichen erzählten Geschichten in bearbeiteter Form Eingang in die Aufführung finden. Zum ersten Mal erteilt man somit im polnischen Theater den bisher von der historischen Narration Ausgeschlossenen das Wort – deutschen und polnischen Zeitzeugen, die ihre Mikrogeschichten rund um die Vertreibung erzählen können. Diese Erzählungen vermitteln ein heterogenes Bild des heute als ›Vertreibung‹ bezeichneten Phänomens. So erzählt eine der Teilnehmerinnen vom ›Glück der frühen Evakuierung‹, da ihre Mutter schwanger war. Ein gängiges Bild im deutschen Gedächtnis ist die Flucht als Versuch, sich vor der anrückenden ›barbarischen‹ Roten Armee (Stichwort Nemmersdorf) zu retten. Vergessen wird dabei allerdings, dass sich hinter dem Stichwort ›Flucht‹ auch das rassistisch motivierte Vorhaben, ›deutsches Blut zu retten‹ verbirgt, dass die vom NS-Regime angeordneten Räumungen und Evakuierungen Gewaltakte zur Folge hatten (vgl. Hahn/Hahn 2010: 296). Darauf macht Klata in seiner Aufführung aufmerksam. Eine andere Dame berichtet wiederum von der ›Flucht‹ kurz vor Kriegsende. Die Polen, die in Breslau und Umgebung eintreffen, begegnen noch den deutschen Einwohnern der nun von ihnen besetzten Häuser und Wohnungen, was darauf hindeutet, dass noch viele Deutsche in ihrer Heimat geblieben sind. Einer der Protagonisten (Jan Charewicz) spricht in diesem Zusammenhang von ›späteren Aussiedlungen‹ der deutschen Bevölkerung, um am Ende seiner Aussage den Terminus ›Vertreibung‹ doch noch zu benutzen. Dies zeigt deutlich, dass Klata sich der Nutzung unterschiedlicher Termini, die zum Komplexthema ›Flucht und Vertreibung‹ auf beiden Seiten der Oder gehören, durchaus bewusst ist. Man entscheidet sich in der Aufführung für die Strategie des storytelling und dafür, die gesammelten Geschichten chronologisch ab dem Beginn des Zweiten Weltkriegs (oder eigentlich auch schon davor) zu präsentieren, was einer allgemein in Polen geltenden Tendenz entspricht, bei der Darstellung der Vertreibung immer die an der polnischen Bevölkerung verübten Gräueltaten zu zeigen und damit auf den kausalen Zusammenhang zwischen dem Angriff der Deutschen und deren Vertreibung hinzudeuten. Dies steht wiederum im Widerspruch zu der in der deutschen Presse vorherrschenden Tendenz, erst den Einmarsch der Roten Armee im Winter 1944/45 als den dominierenden historischen Rahmen zu präsentieren (vgl. Röger 2016: 421). So beginnen in der Aufführung die Deutschen ihre Geschichten mit der Zeit, in der sie der Hitlerjugend beitraten, und die Polen erzählen von ihrem Beitritt zur Untergrundbewegung. In diesem Sinne sind die von mir im Titel meines Beitrags erwähnten Bilder keine visuellen (wie man es im Theater gewohnt ist), sondern erzählte, die nur ab und zu mit einer Geste

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(z.B. dem Hitlergruß, der Joga-Übung ›Den-Bogen-Spannen‹, dem Schießen mit einer Pistole, dem Zuhalten der Ohren oder mit erhobenen Händen, unkoordiniertem Tanz oder Marschieren) untermalt werden. Aus den Erzählungen der Zeitzeugen entsteht ein gewisses ›Bild der Vertreibung‹, worunter ich vorwiegend den Umgang mit der Vergangenheit im eigenen Erinnern verstehe. Was dem gewählten Konzept besonders wichtig erscheint, ist die Tatsache, dass Klata damit direkt auf den Konflikt des unterschiedlichen Erinnerns eingeht. Der polnische Historiker Edmund Dmitrów stellt in diesem Zusammenhang fest: Wir haben auf polnischer Seite immer noch stark mit der Tendenz zu tun, das Denken über die Deutschen in den Kategorien von Verantwortung und Schuld am letzten Tag der Nazibesatzung zu beenden. Noch immer beginnen viele Deutsche ihre Reflexion über die Polen erst ab dem Moment des Herannahens der Ostfront. Hier liegt die Quelle des Konflikts des unterschiedlichen Erinnerns. (Dmitrów, zitiert nach: Bachmann/Kranz 1997: 5)

Auf etwas vereinfachende Art und Weise formuliert auch Kazimierz Wóycicki den unterschiedlichen Kontext im deutschen und polnischen Erinnern an die Vertreibung: »[A]uf der deutschen Seite wird die Vertreibung aus dem Kontext des Krieges herausgerissen, auf der polnischen wird eben durch diesen Kontext alles entschuldigt« (Wóycicki 1997: 168). Indem Klata in seiner Aufführung über die beiden oben genannten Grenzpunkte hinausgeht und einen differenzierten geschichtlichen Rahmen vor Augen zu führen beabsichtigt, unternimmt er den Versuch, die Quellen des Konflikts zu diagnostizieren. Przemysław Czapliński sieht in dem beiden Seiten zustehenden, »symmetrischen, gleichzeitig jedoch konfliktreichen Recht auf Erinnerung an die Leiden und deren vollständige Expression« (Czapliński 2016: 210) einen der wichtigsten Punkte in den deutsch-polnischen Beziehungen. Der Posener Literaturwissenschaftler postuliert auch das Schaffen von Bedingungen für einen ungehinderten Erzählfluss über die Vertreibung und das Einschließen dieser Erzählungen in die gegenwärtige polnische Identität (vgl. ebd.: 216). Klata scheint mit seiner Aufführung genau um jenes oben genannte Recht zu kämpfen und ebenfalls beide Postulate realisieren zu wollen. Er zeigt die Parallelität der Schicksale von Polen und Deutschen, wie es zuvor in Polen wohl nur Stefan Chwin in seinem Roman Der Tod in Danzig (poln. Hanemann) zeigte, obwohl die polnische Literatur, die den Exodus der polnischen Bevölkerung beschreibt, sehr umfangreich ist.8 Er bricht

8

Zu den wichtigsten Büchern gehören die Geschichten von Aleksander Jurewicz, Adam Zagajewski, Olga Tokarczuk und Stefan Chwin (vgl. Czapliński 2016: 211).

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also – in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg – mit dem einfachen Täter-OpferSchema, das den Deutschen das Recht auf eigenes Leid abspricht, was, wenn man die um die Jahrtausendwende in den polnischen Medien geführte Debatte zur Vertreibung verfolgt, immer wieder ein Streitpunkt im deutsch-polnischen Gespräch war.9 Der Dramaturg der Aufführung Sebastian Majewski sagt in diesem Zusammenhang: Am Anfang haben wir das Theater einfach vergessen und wir konzentrierten uns auf das Kennenlernen der Geschichten unserer Helden. Da habe ich verstanden, wie trotzig ich war, die Kriegserinnerungen der Großeltern nicht hören zu wollen. Mir wurde klar, dass in der Geschichte ein enormes Potenzial der Erzählungen über unterschiedliche menschliche Schicksale steckt. Wir haben mit älteren Menschen gesprochen, für die die sechs Kriegsjahre für immer die wichtigsten, die entscheidenden, blieben. Sie konnten sich nicht von dieser Erfahrung distanzieren. Sie gründeten nach 1945 Familien, ihre Kinder wurden geboren, sie hatten Erfolge und Niederlagen, aber der Krieg blieb immer im Vordergrund der Erinnerung. Ich habe auch bemerkt, dass die Teilung in ausschließlich gute, vom Schicksal schwer getroffene Polen und die bösen Deutschen auch künstlich sein kann. Auch die Deutschen hatten ihre Traumata. (Cieślak 2010)

Klata ist stets bemüht, die Vielfalt der deutschen Haltungen während des Krieges zu zeigen. Einerseits erzählt einer der deutschen Teilnehmer von seinem Vater, der die Polen für ein unmündiges Volk hielt, was sich in dem verächtlichen Ausdruck ›Polacken‹ manifestierte und deutlich machte, dass er ein überzeugter Hitler-Anhänger war. Andererseits erzählt Hanne-Lore Pretzsch von ihrem Onkel, der sich weigerte, an der Ostfront Zivilisten zu erschießen, oder von der Mutter, die Juden half, frisches Gemüse zu kaufen. Die deutschen Teilnehmer erwecken aber durch ihre Erzählungen en gros den Eindruck, dass es fast keine HitlerAnhänger gegeben hätte, was wiederum der allgemeinen Tendenz bei der Darstellung der Vertreibung im deutschen Fernsehen entspricht (vgl. Röger 2016: 332). So gibt ein älterer Herr an, in der Schule den Hitlergruß zwar gelernt, ihn aber nie ausgeführt zu haben, und Hanne-Lore Pretzsch erzählt von ihrem Großvater, der stets über Hitler schimpfte, oder davon, dass sie zuhause kein Hitlerbild an der Wand hängen hatten. Überhaupt hätte in Deutschland zwar jeder das

Zur Darstellung des Identitätsdilemmas in der Region Niederschlesiens in der polnischen Literatur nach 1990 vgl. Ulrike Jekutsch 2015. 9

Es ging um drei Streitpunkte: den Bau des Vertriebenen-Zentrums, die JedwabneDebatte in Polen und die finanziellen Ansprüche seitens der Deutschen (zwrot mienia).

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Buch Mein Kampf besessen, aber niemand gelesen. An einer Stelle erzählt sie auch von den Judentransporten in die Konzentrationslager, die sie gesehen hat und fragt: »Wie konnten so viele Menschen verschwinden?« Das Wort »verschwinden« mutet sonderbar an, denn es dekontextualisiert die Judenermordung. Eine andere Teilnehmerin äußert, die ewigen Fragen nach der Schuld oder Unschuld ihrer Eltern satt zu haben und stellt entschieden fest, dass ihre Eltern keine Nazis waren10 und sich einfach an das herrschende System anpassen mussten. Das erinnert sehr stark an die von Hubert Orłowski bei den meisten Kriegserinnerungen diagnostizierte Teilung des kulturellen Gedächtnisses in ein ziviles und ein militärisches.11 Demnach wurde der Krieg durch ein ›System‹ hervorgerufen und geführt, während die Leiden bei Flucht und Vertreibung die Zivilbevölkerung betrafen. Dabei firmiert diese Zivilbevölkerung meistens unter der Formel ›Frauen, Kinder und Greise‹, was auf die Wehrlosigkeit der Opfer hindeutet, die dem (Un)Gnaden der männlichen Welt hilflos ausgeliefert waren (vgl. Orłowski 2015: 419f). Eva Hahn und Hans Henning Hahn schreiben dazu: Im Mittelpunkt des Erinnerns an die Vertreibung stehen Bilder unschuldiger Menschen als Opfer ihrer Kriegsgegner. Um die Unschuld der Vertriebenen hervorzuheben, wird oft an die Frauen, Kinder und alte Menschen und nicht an die Ehemänner, Väter und Söhne, die in den Uniformen der Wehrmacht, SS oder sonstiger NS-Formationen Krieg führten, erinnert, obwohl auch die letzten genauso ihre Heimat verloren. (Hahn/Hahn 2010: 78)

Klata ist darum bemüht, dass in seiner Aufführung auch die Männer nicht außer Acht gelassen werden. So erzählt einer der Teilnehmer von seinem Vater, der ein überzeugter Nazianhänger war (wir wissen aber nicht, ob er tatsächlich der SS angehörte); eine Frau erinnert sich an den Vater, der als Wehrmachtsoldat an der Ostfront (er schickt Briefe aus Vilna) war (ohne explizit dessen Tätigkeiten zu nennen), und eine andere Frau erzählt von ihrem Onkel, der sich als Wehrmachtsoldat geweigert hatte, Zivilisten zu erschießen. Dies belegt, dass Klata viel daran lag, den kausalen Zusammenhang zwischen dem Vorgehen der Deutschen im Krieg und der Vertreibung zu vergegenwärtigen, womit er sich an die

10 Vgl. Welzer u.a. 2002. 11 Klaus Bachmann unterscheidet in diesem Kontext zwischen den 1950er Jahren, in denen in Deutschland die Überzeugung dominierte, dass all die Verbrechen »allein auf das Konto einer kleinen Gruppe von Nazibonzen, der SS und der Gestapo gingen« und den 1990er Jahren, als man wiederum alle im Dritten Reich lebenden Deutschen der Schuld bezichtigte und stellt beide Diskurslinien als Konstrukte dar (Bachmann 2007: 59)

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Erinnerungskultur in Polen hielt.12 Anders als das deutsche Erinnern an die Vertreibung, in dem die apokalyptischen Bilder dominieren und jede Frage nach der Ursache der Vertreibung überschatten (vgl. Hahn/Hahn 2010: 81) wird der Zusammenhang von Ursache und Folge im polnischen Gedächtnis bewahrt. Wir begegnen im deutschen Erinnern an die Vertreibung oft den Begriffen ›Völkermord‹, ›Genozid‹, ›Holocaust‹, so dass Andreas F. Kelletat von einer Holocaustisierung des Flucht- und Vertreibungs-Diskurses spricht (vgl. ebd.: 24). Auch dies lehnt Klata entschieden ab. In den sowohl von Polen als auch von Deutschen erzählten Geschichten wird eindeutig auf die Juden als GenozidOpfer verwiesen. Was in der Aufführung sehr deutlich gezeigt wird, ist der ›Gedächtnisschwund‹ nach dem Krieg, der vor allem die Deutschen betrifft, worunter ich die Verdrängung von Kriegserinnerungen und die Tabuisierung der Vertreibung in der deutschen Öffentlichkeit verstehe. Hanne-Lore Pretzsch erzählt davon, dass bis in die 1960er Jahre in Deutschland keiner ihre Erlebnisse hören wollte. Als einer der Projektteilnehmer auf der Flucht KZ-Häftlingen begegnet, klärt ihn die Mutter nicht darüber auf, wer diese Männer in den »gestreiften Pyjamas« sind. Während sich diese Männer darüber freuen, dass die Amerikaner Deutschland befreit haben, kann er nur daran denken, dass sie doch sein Land nicht befreit, sondern besetzt haben, was davon zeugt, wie stark die Indoktrinierung auch unter den Kindern war. Die wohl deutlichste Szene für die Untermalung der Gedächtnisschwund-These ist die, in der ein älterer Herr von der »Sprachlosigkeit zu Hause« berichtet. Er setzt sich an den Tisch und schweigt fast eine Minute. Dieses Schweigen gehört zusammen mit dem Aufzählen alter Bewohner ihres Heimatdorfes durch eine ältere polnische Frau zu den theaterstärksten Momenten der Aufführung. Beide verbindet nämlich die Tatsache, dass sie eine Art Stundengebet für die Toten abhalten. Bei der Darstellung der Polen dagegen dominiert bei Klata eher das einheitliche Bild der großen Patrioten und Helden, die bereit waren, für ihre Heimat zu kämpfen13. Zwei der drei älteren Männer waren Soldaten der Polnischen Heimatarmee (AK) und kämpften in der Konspiration. Auf die Frage, ob er für Polen kämpfen möchte, antwortet Jan Charewicz mit der für seine Generation üblichen

12 Dieses verschweigt aber wiederum die Plünderungen der Wohnungen der Deutschen, die sogenannten ›wilden Vertreibungen‹, die Aneignung des jüdischen Guts und überhaupt das Verhältnis vieler Polen zur jüdischen Bevölkerung. 13 Mit großer Wertschätzung spricht Klata in einem Interview über einen der Teilnehmer des Projekts im Kontext des Heldenmythos in Bezug auf seine Haltung im Zweiten Weltkrieg (vgl. Kwaśniewska 2016: 327f.).

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Selbstverständlichkeit »Ja« und erzählt im Wechsel mit Andrzej Ursyn Szantyr vom Ableisten des Eids, bei dem die Worte Gott, Ehre und Vaterland im Vordergrund stehen. Szantyrs Erzählung können wir wiederum entnehmen, dass er, obwohl er im Krieg ein Bein verloren hat, den Deutschen gegenüber keinerlei Rachegefühle hegt. Die deutsche Historikerin Silke Satjukow schreibt, dass bis 1945 die Überzeugung vom »unverschuldeten Krieg«, der Hitler von den Bolschewisten aufgezwungen worden sei, die Propaganda des Dritten Reiches dominierte. Deswegen sei auch die Überzeugung von der Ungerechtigkeit der Vertreibung weit verbreitet gewesen und die Aussiedlung der Deutschen aus den Ostgebieten auf Rachsucht und Vergeltung zurückgeführt worden (vgl. ebd.: 391).14 Indem Klata die Polen nicht als rachsüchtige Menschen präsentiert, versucht er diesen Interpretationsstrang der Vertreibung zu entschärfen. Dass die Polen den Deutschen gegenüber eher positiv eingestellt waren, verdeutlichen die Worte einer alten Frau. Über die deutschen Einwohner des Hauses, das sie mit ihrer Familie bezogen hat (eine Erfahrung, die sie mit allen anderen Polen, die in der Aufführung auftreten, teilt) sagt sie entgegen dem gängigen Feindesbild des Deutschen, dass das historische Narrativ im kommunistischen Polen bis 1989 prägte und zurzeit von der jetzigen polnischen Regierung im Rahmen der Erinnerungspolitik aufgegriffen wird: »Wir haben die Deutschen gemocht«. Jan Charewicz bringt ganz gegen Ende der Aufführung den versöhnlichen Ton, um den Klata bemüht ist, auf den Punkt, indem er von den Deutschen als armen Menschen berichtet, denen genauso wie den Polen viel Leid zugefügt worden sei und die die gemeinsame Erfahrung der Vertreibung teilen würden. Darüber, dass es durchaus anders hätte sein können und die Polen die Vertreibung tatsächlich als einen Akt der Vergeltung und als eine für die Deutschen gerechte Strafe hätten wahrnehmen können, was zum Beispiel der Soziologe Andrzej Ziemilski als Beteiligter bezeugt (vgl. Krzemiński 1997), wird in der Aufführung kein Wort verloren. Genauso wenig erfahren wir über die ›Umsiedlungslager‹, in die die Deutschen nach Kriegsende deportiert wurden (Stichwort: Łambinowice). Die deutsch-polnische Versöhnung geht auch auf die Kosten von anderen, von Russen und Ukrainern, die in den Erinnerungen deutlich den ›schwarzen Peter‹ zugeschoben bekommen. Da sie zu dem deutsch-polnischen Zwiegespräch nicht zugelassen wurden, können sie sich auch nicht verteidigen (vgl. Kościelniak 2007). Im deutschen kollektiven Gedächtnis werden für die Vertreibung Bilder einer religiös anmutenden Leidensgeschichte (Ostdeutsche Passion), eines Naturer-

14 Mit diesem Thema setzt sich unter anderem Helga Hirsch in ihrem Buch Die Rache der Opfer auseinander.

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eignisses (Wer Sturm sät), einer Katastrophe (Der Weg in die Katastrophe) oder des Schicksals (Europas Weg nach Potsdam: Schuld und Schicksal im Donauraum) verwendet (vgl. Hahn/Hahn 2010: 78). Ohne verbal auf diese Bilder einzugehen, wird bei Klata tatsächlich auf manche von ihnen verwiesen. So presst zum Beispiel Hanne-Lore Pretzsch kurz nach der Erzählung von ihrem Schicksal ihre Hände an die Wand, was stark an die Kreuzigung von Jesus erinnert und wohl als Sinnbild des Leidens fungieren sollte. Diese Leiden werden in der Aufführung konkret genannt. So erfahren wir aus den Erzählungen der deutschen Teilnehmer vom Verlust des Vaters oder vom Verlust der Schwester, von einem dreimonatigen Aufenthalt in einem Bunker (unter dem Stichwort: Festung Breslau) und von den massenhaften Vergewaltigungen deutscher Frauen durch russische Soldaten. Im Zusammenhang mit der Flucht erfahren wir von den an den Straßenrändern liegenden Toten, den erstickten Babys und dem allgegenwärtigen Hunger. Dabei stehen Erlebnisse wie das Zuschauen bei der Vergewaltigung der eigenen Mutter oder Tante dem Verlust der Lieblingspuppe gegenüber. Die in Richard von Weizsäckers berühmter Rede konstatierte ›erzwungene Wanderschaft‹ trifft in Klatas Aufführung in gleichem Maße auf die aus ihrer Heimat im Osten vertriebenen Polen zu. Diesem Phänomen wird aber im vorliegenden Beitrag aus Platzgründen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Es sei nur generalisierend festgestellt, dass das von Mirosława Kozłowska diagnostizierte »Durchscheinen« der alten Heimat in der neuen auf die von Klata dargestellten Erinnerungen der Polen zutrifft. In Klatas Aufführung kommen die Sehnsucht der Polen nach der alten Heimat sowie der anfängliche Glauben an die Rückkehr in diese zum Tragen. Das wird besonders augenfällig, als sich einer der Teilnehmer an die 37 Generationen der eigenen Familie erinnert, die in Litauen gelebt haben, oder ein anderer behauptet, dass die Erde in der neuen Heimat nicht so gut wie die in der alten gewesen sei. Das ›Hiersein‹ und das ›Dasein‹ erzwungener Migranten bleiben bei Klata in ständiger Relation zueinander (vgl. Kozłowska 2015: 73). Klata teilt, wie ich oben zeigen konnte, die Deutschen in Evakuierte, Flüchtlinge, Vertriebene und Ausgewiesene (vgl. Hahn/Hahn 2010: 498) ein. Vereinfachend kann gesagt werden, dass die Vertriebenen zum Verlassen ihrer Heimat in Osteuropa teils noch vor Kriegsende durch die Nationalsozialisten, teils nach dem Krieg durch die Alliierten gezwungen wurden (vgl. ebd.: 521). Klata zeigt die Nationalsozialisten als die für die Vertreibungen Verantwortlichen. Jan Charewicz formuliert dies eindeutig gegen Ende der Aufführung: »Es sind die Deutschen, die die Deutschen vertrieben haben. Hitler«. Um diese Hauptaussage der Aufführung noch zu verstärken, wird sie in der letzten Sequenz von einem jungen Mann wiederholt. Als er von den Flucht-Erfahrungen seines Vaters berich-

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tet, deutet er explizit auf die deutsche Schuld am Geschehen hin. Die Deutschen, vor allem aber die aus dem Osten vertriebenen Polen, werden ihrerseits eindeutig als Opfer der Alliierten-Politik dargestellt. Im Mittelpunkt der Szene stehen auf einer Plattform über den Köpfen der Helden die großen Drei: Stalin, Churchill und Roosevelt (die einzigen professionellen Schauspieler). Diese Konstellation verweist auf die Tatsache, dass sie ›über die Köpfe‹ der Menschen hinweg ihre Entscheidungen treffen. Alle drei werden als große Zyniker präsentiert. Dabei kommen das polnische Ressentiment gegenüber Churchill und Roosevelt, die sich in ihrer zynischen Haltung kaum von Stalin unterscheiden, sowie die Überzeugung, dass sie die Polen ›verraten‹ haben, deutlich zum Ausdruck. Entgegen der These des Historikers Detlef Brandes’, der behauptete, dass es die polnischen Exilpolitiker waren, die die Alliierten stark beeinflusst und zur Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten animiert hätten (vgl. Brandes 2005), sind es einzig und allein die drei Staatsmänner, die »ohne die Beteiligung der polnischen Seite«, wie in der Aufführung zweifach unterstrichen wird (diesen von Stalin aufgesagten Satz wiederholt Churchill), über die Zukunft und Gestaltung von Mitteleuropa entscheiden. Es ist Churchill, der als erster klar formuliert, dass die drei Großmächte einzig und allein (zynisch wird dabei auf die Tatsache verwiesen, dass Polen keine Großmacht ist) die Grenzen bestimmen werden, was er dann auch mithilfe von den drei berühmten Streichhölzern tut. Die Geschichte mit den Streichhölzern ist eine Anekdote von der Teheraner Konferenz vom November 1943, bei der Premierminister Churchill die Streichhölzer nebeneinander auf den Tisch legte, um Stalin seine Idee von der geographischen Nachkriegsordnung im Osten darzulegen, was Stalin sehr gefallen sollte. In Wirklichkeit jedoch hatte die polnischrussische Grenze nichts mit einem Streichhölzer-Spiel, sondern mit den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg zu tun. Die Neuordnung 1945 entsprach in großem Maße der bereits 1918/19 vorgeschlagenen Curzon-Linie. Auch die deutsch-sowjetische Grenze war kein Resultat von Willkür, sondern hatte ihre Wurzeln in den politischen Verhandlungen der Zwischenkriegszeit. Was somit in der Aufführung präsentiert wird, ist ein Machtspiel der Siegermächte, bei dem in Klatas Aufführung (anders wie es in Deutschland der Fall ist, wo vor allem Churchill als der Verursacher allen Übels angesehen wird), deutlich Stalin die erste Geige spielt und somit als der Hauptverantwortliche präsentiert wird. Andererseits entspricht es auch dem im deutschen PotsdamDiskurs präsenten Gedanken, dass sich die Westmächte von Stalin über den Tisch ziehen lassen (vgl. Hahn 2011: 511). Visuell wird dieses Machtspiel als ein Instrumentenspiel festgehalten, bei dem Stalin die Leadgitarre, Churchill die Bassgitarre und Roosevelt Keyboard spielt. Potsdam hat im deutschen kol-

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lektiven Gedächtnis eine ähnliche Konnotation wie Versailles im Kontext des Ersten Weltkrieges. Die von den Siegermächten getroffenen Entscheidungen wurden zwar umgesetzt, von einem großen Teil der deutschen Bevölkerung allerdings nie verstanden und daher nicht als legitim akzeptiert (vgl. Hahn/Hahn 2010: 301). Es entstand in einem Teil der Bevölkerung ein Anti-PotsdamRevisionismus (vgl. ebd.: 302). Damit lässt sich erklären, warum Klatas Aufführung beim Publikum in Deutschland auf eine extrem positive Resonanz stieß (vgl. Wieliński 2007).15 Zum ersten Mal sprach jemand von der Siegerseite von dem an den Polen genauso wie von dem an den Deutschen verübten Unrecht, denn bisher waren die Deutschen mit ihrer Weigerung, die Potsdamer Beschlüsse als völkerrechtlich gültige Entscheidung anzuerkennen, im europäischen Kontext isoliert gewesen (vgl. Hahn/Hahn 2010: 591). Abschließend ist festzustellen, dass Klata in seiner Aufführung das Hauptaugenmerk darauf richtet, den geschichtlichen Rahmen der Vertreibung darzustellen und somit die Erinnerungsfigur zu differenzieren. Wir erfahren viel mehr über das Wann und Warum als über das Wie der Vertreibung. So steht die Kontextualisierung des Geschehens stärker als die Bebilderung der Vertreibung im Vordergrund (die ersten Erzählungen, die konkrete ›Bilder der Vertreibung‹ beinhalten, erfolgen nach über einer Stunde der insgesamt eine Stunde und 44 Minuten dauernden Aufführung), was daran liegen kann, dass diese sich in das Bewusstsein beider Nationen eingeprägt haben, während über deren Deutung noch kein Konsens vorliegt. Alle Aussagen der Zeitzeugen zur Vertreibung gehen auf deren Erinnerungen zurück, die wiederum als Spuren der Vergangenheit aufgefasst werden können. Eine Darstellung solcher Erinnerungen in der Aufführung erlaubte den Zugang zum polnischen und deutschen Erinnern an die Vertreibung. Man konnte dabei all die Umrisse und Inhalte der öffentlich vermittelten Erinnerungsbilder beobachten, die im deutschen und polnischen kollektiven Gedächtnis als Vertreibungsbilder fungieren: die große Kälte, die Todesopfer, die Zugtransporte, die Vergewaltigungen (vgl. ebd.: 9). Klata geht mit seiner Aufführung jedoch nicht über den Rahmen der in Deutschland und in Polen zum Thema Vertreibung geführten Diskurse hinaus. Die Deutschen weisen, auch wenn sie die eigene Schuld anerkennen, diese vor allem den Nazis und Hitler zu, die sie nachhaltig von der Bevölkerung absondern. Die Polen wiederum verweisen auf die Alliierten als die Verursacher der Vertreibung und hinterfragen dabei in keinem Punkt ihre eigene Rolle. Die von Klata gewählte Erinnerungsform ist subjektiv, gleichzeitig aber auch sachlich informativ. Es wird an konkrete Begeben-

15 Die Meinungen der deutschen Theaterkritiker waren geteilt (vgl. Wieliński 2007).

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heiten erinnert, ohne dass der Anspruch erhoben wird, das Erlebte auf eine pauschalisierende Art und Weise zu deuten. Eva und Hans Henning Hahn sprechen in dem weitgehend auf Augen- und Zeugenberichten beruhenden kollektiven Erinnern an die Vertreibung von zwei Erinnerungsformen. Es seien die ›authentischen‹ und die ›entindividualisierten‹ Erzählungen (vgl. ebd.: 564). In Klatas Aufführung haben wir zweifelsohne mit der ersten Form zu tun, die sich weniger zur politischen Instrumentalisierung des Erinnerns, dafür aber sehr wohl zum Kennenlernen der Vergangenheit eignet. Auch wenn Klata das von den Zeitzeugen Erlebte nicht pauschalisiert, so spürt man doch eine gewisse Tendenz zur Universalisierung des Erlebten. Zum einen spielt die Stadt Breslau keine besondere Rolle. Zu den anfangs nur aus Breslau Vertriebenen gesellen sich im Laufe der Projektentstehung die Vertriebenen aus Posen und Pommern, was auf die Parallelität der Schicksale hindeuten soll (vgl. Wysocki 2010a). Klata selbst begründet den Erfolg der Aufführung in Frankreich mit dem Verweis auf die gesamteuropäische Dimension der Darstellung des Vertriebenen-Schicksals und spannt einen direkten Bogen zu den Ereignissen in Bosnien (vgl. PAP), was wiederum im großen Maße dem deutschen medialen Diskurs entspricht (vgl. Röger 2016: 175). Was bei Klata komplett ausbleibt, ist die Ankunft der deutschen Vertriebenen in Deutschland,16 was die Augenzeugen im Allgemeinen selten erwähnten und worüber die Vertriebenenpolitiker zu schweigen pflegten (vgl. Hahn/Hahn: 563), was aber wiederum verstärkt Eingang in die literarischen Werke jener Schriftsteller fand, die selbst die Erfahrungen der Vertreibung mitmachten, wie etwa Horst Bienek, Siegfried Lenz oder Johannes Bobrowski.

16 Dies problematisiert und detabuisiert Andreas Kossert in seinem Buch Kalte Heimat (vgl. Kossert 2008).

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Europa in Bewegung Figuren des Übergangs in Catalin Dorian Florescus Jacob beschließt zu lieben Klaus Schenk (Dortmund)

Die kulturellen Perspektiven Europas sind in Bewegung geraten und lassen sich ohne die Dynamik der globalen Migration kaum noch fassen. Um globale Bewegungsformen der Migration zu umschreiben, taucht in der aktuellen Diskussion immer wieder die Figur des Nomaden auf. Der Nomade fungiert in dieser Hinsicht als Figuration von Übergängen und Wandlungen, die aus kulturellen, historischen und politischen Umbrüchen resultieren. Einen Schauplatz aber, an dem die grenzüberschreitende Mobilität narrativ gestaltet und verhandelt wird, bildet vor allem die transkulturelle Gegenwartsliteratur. Entworfen werden Figuren des Übergangs und der Bewegung, die an das Paradigma des pikaresken Erzählens erinnern. Aus dieser Perspektive lässt sich fragen, wie Konzepte des Nomadischen mit pikaresken Erzählweisen korrelieren. An einem Beispiel sollen diese Überlegungen im Hinblick auf die epochalen Umbrüche Europas diskutiert werden. So entwirft der in der Schweiz lebende Autor rumänischer Herkunft Catalin Dorian Florescu in seinem im Jahr 2011 erschienenen Roman Jacob beschließt zu lieben einen europäischen Katastrophenund Bewegungsraum vom 17. bis ins 20. Jahrhundert, indem er die historische Dimension der multiethnischen Kulturregion des Banats mit Verfahren eines pikaresken Erzählens inszeniert. Die dabei freigesetzten Ambivalenzen zwischen historischen Fakten und literarischer Fiktion eröffnen einen imaginären Raum als Intensität von Fluchtlinien. An diesem Beispiel soll ein Blick auf Figuren des

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Übergangs geworfen werden, die sich in Formen des pikaresken Erzählens in der transkulturellen Gegenwartsliteratur andeuten.1

1. BEWEGUNGSFORMEN DER MODERNEN NOMADEN In der Diskussion um die Prozesse der globalen Migration sind unterschiedliche Konzeptmetaphern ins Feld geführt worden, allen voran die Bewegungsform des Nomaden. Bereits Vilém Flusser (1994: 57) bemerkt in seinen Nomadischen Überlegungen: »[...] wir sind dabei, aus unserem Landwirt- und Viehzüchterstatus in eine neue, aber wiederum nomadisierende Lebensform zu wechseln.« Mit Flussers Überlegungen zur Nomadisierung verbinden sich kategoriale Konsequenzen für die Bestimmung unterschiedlicher Lebensformen, wenn er (1994: 59) weiter ausführt: »Seßhafte sitzen und Nomaden fahren. Das heißt zuerst einmal, daß man Seßhafte im Raum lokalisieren kann (sie haben Adressen), während Nomaden erst im Raum-Zeit-Kontinuum definiert werden können.« Flussers Plädoyer für eine moderne Nomadologie ist eng mit der Geschichte seines eigenen Exils in Brasilien verbunden und kann erfassen, was sich am Ende des 20. Jahrhunderts in einer globalen Dimension in Europa zeigt. Der Diskurs des Nomadischen, wie ihn Flusser entwirft, lässt eine Anbindung an die Raumtheorie erkennen. War in der raumsoziologischen Typologie der klassischen Moderne das individuelle Wandern noch von der kollektiven Bewegung der Nomaden unterschieden, setzt sich in der aktuellen Diskussion die Figur des Nomaden zunehmend in eine Metaphorik für die globale Migration um. Georg Simmel kannte für die Bewegungsform des Nomaden im Kapitel Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft aus seiner Soziologie (1908) noch eine Fixiertheit an bestimmte Orte, zu denen die Wandernden immer wieder zurückkehren, und fasste damit einen archaischen Typus, bei dem »das Wandern zur Substanz des Lebens gehört, was sich am besten an der Endlosigkeit, der Kreisförmigkeit der Rückkehr auf immer dieselben Stätten markiert [...]« (Simmel 1992: 748). In seiner Typologie des Wanderns erwähnt Simmel (1992: 760) aber auch Bewegungsformen, die den Raum der Sesshaften irritieren: »Der entschiedenste Typus ist hier der Vagabund und der Abenteurer, deren fortwährendes Umherschweifen die Unruhe, den Rubato-Charakter ihrer inneren Lebensrhythmik auf den Raum projiziert.« Erst aber der Fremde eröffnet eine Ambivalenz zwischen Fixiertheit und Wandern, wie Simmel (1992: 764) in

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Die Überlegungen und Formulierungen der folgenden Abschnitte lehnen sich zum Teil an meinen Beitrag an: Schenk (2014: 66-86).

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seinem Exkurs zum Fremden bemerkt: »Wenn das Wandern als die Gelöstheit von jedem gegebenen Raumpunkt der begriffliche Gegensatz zu der Fixiertheit an einem solchen ist, so stellt die soziologische Form des ›Fremden‹ doch gewissermaßen die Einheit beider Bestimmungen dar [...]«. Inzwischen ist die Konzeptmetapher des Nomaden längst in einer weiteren Bedeutung in Umlauf gekommen, die an die Klassifikationen Simmels nur noch von ferne erinnert, deren Verbindung von Raum, sozialer Gruppe und Bewegung er aber wesentlich vorbereitet hat. Simmel (1992: 748) hat erkannt, dass die Mobilität ein konstitutiver Faktor für die Bildung von Gesellschaften ist, wenn er bemerkt, dass »die Menschheit nur durch ihre Beweglichkeit die Existenz, die wir kennen, gewinnt«. Auch wenn es im Folgenden nicht darum gehen kann, soziologische Theorie auf Literatur zu übertragen, lassen sich so dennoch Perspektiven gewinnen, Figuren des Übergangs und ihre narrativ gestalteten Bewegungsformen näher zu bestimmen. Die Typologie Simmels bietet die Möglichkeit einer ersten Annäherung an die narrative Gestaltung einer globalen Mobilität. In seinem Essay Planet der Nomaden hat auch Karl Schlögel (2006: 25) den Typus des Nomaden zur Metapher für die globale Migration erhoben, wenn er in Anspielung an Das Kommunistische Manifest einen epochalen Perspektivenwandel konstatiert: Ein Gespenst geht um, nicht nur in Europa. Fast jeder hat schon einmal mit ihm zu tun gehabt. Es hat viele Namen: Wanderarbeiter, Fremder, Ausländer, Gastarbeiter, ausländischer Mitbürger, Flüchtling, Asylbewerber, Asylant, displaced person, Staatenloser, transnational, Apatride, undocumented oder non-documentado, Exilant, Migrant, Emigrant oder Immigrant – je nachdem. Aber letztlich sind das alles nur Namen für eine uralte, eine archaische Gestalt des Nomaden. Der Nomade steht für ein Phänomen, das uns allen wenigstens dem Hörensagen nach wohl vertraut ist, für Migration, also für freiwillige oder auch erzwungene Ortsveränderung.

Der ›Wandernde‹ in seinen unterschiedlichen Formen wird bei Schlögel als globaler Nomade bestimmt. Die Konzeptmetapher geht dabei einher mit subversiven und innovativen Kategorien des Übergangs und der Veränderung, wenn Schlögel (2006: 112) zur Charakteristik des globalen Nomaden weiter bemerkt: »Improvisationsfähigkeit, ethnisch und kulturell bedingte Kohäsion der jeweiligen Diaspora, Elastizität, Anpassungsfähigkeit und Durchsetzungskraft und nicht zuletzt Vielsprachigkeit – all das macht die Nomaden zu Agenten sozialer und kultureller Veränderung.« Wenn man mit Schlögel weiter davon ausgeht, dass Prozesse der Globalisierung nicht adäquat erfasst werden können, solange ihre Bewegungsformen nicht

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berücksichtigt werden, lässt sich festhalten, dass das Nomadentum nicht ihr Resultat, sondern vielmehr ihre Voraussetzung bildet. Unabhängig von einer globalen Migration scheint auch ein postmodernes Europa nicht mehr denkbar zu sein. »Europa kann sich«, wie Schlögel (1992: 101) betont, »aus der globalen Migration nicht heraushalten, selbst wenn es wollte.« Die europäische Geschichte entwickelt sich nach Schlögel vielmehr als eine permanente Perspektive des Nomadischen. Vor allem aber nach der historischen Wende von 1989 setzt in Europa eine Phase der Migration ein, die eine neue Dynamik entwickelt: Was immer die Forschung über die Gründe der gewaltigen Wanderungsbewegung zutage fördern wird, die euphorische Vorstellung von einem Ewigen Frieden oder von einer Neuen Weltordnung, wie sie in den Tagen der welthistorischen Wende von 1989 entworfen und geträumt wurden, hat realistischern Szenarien Platz gemacht. Europa war nach dem Zweiten Weltkrieg wenigstens befriedet, aber auch die Konflikte in Asien, Afrika und Lateinamerika waren im Rahmen der Teilung der Welt und der Abschreckung der beiden Supermächte fast überschaubar, übersichtlich, berechenbar geworden. Das Ende der Teilung der Welt hat diese Sicherheit mit sich genommen. Die grosse Barriere ist niedergerissen. Und es kann in Bewegung, was jahrzehntelang blockiert war. (Schlögel 2006: 35f.)

Solange der Eiserne Vorhang die Machtverteilung der Blöcke und ihrer Vasallenstaaten bestimmte, wurde auch die europäische Mobilität eingeschränkt (vgl. Schlögel 1992: 87). Erst mit dem Aufbruch der Blockbildung geriet Europa in eine Bewegung von Grenzüberschreitungen, die ein bisher unbekanntes Ausmaß erreichte. Die »Nord-Süd-Wanderung« wurde überlagert von einer »Ost-WestWanderung« (ebd.). Mit diesen historischen und territorialen Verschiebungen werden auch die zentralen Umbruchzeiten der europäischen Geschichte wieder wachgerufen, was als imaginäre Dimension dieser Entwicklung zu berücksichtigen ist. In der postsowjetischen Ära überlappen sich imaginäre Kulturlandschaften, die bis in die Vergangenheit der Donaumonarchie hineinreichen. Vor allem in der deutschsprachigen transkulturellen Gegenwartsliteratur finden sich Texte, die nach der Wende über Kulturräume erzählen, die von einer Überlagerung nomadischer Bewegungen geprägt sind. Gestaltet werden narrative Bewegungsräume, indem die europäische Geschichte und Gegenwart von ihren Grenzübertritten her erzählt wird. Dabei setzt das Erzählen über die europäischen Umbrüche und ihre nomadischen Bewegungen eine spezifische Intensität frei. Die Texte werden intensiv durch ihre grenzüberschreitenden Sujets, aber auch durch die Figuren des Übergangs, die sie entwerfen.

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2. DIE INTENSITÄT DES NOMADISCHEN Eine poststrukturalistische Perspektive auf die Intensität des Nomadischen kann ausgehend von Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Überlegungen in Mille Plateaux/Tausend Plateaus (1980) entwickelt werden. Zwar betonen Deleuze und Guattari, dass sie mit dem Nomaden nicht die Figur des Migranten angesprochen wissen wollen. Im strengen Sinn unterscheiden sie die zirkuläre Bewegungsform des Nomaden, wie es sich bereits bei Simmel findet, von der zielgerichteten Bewegung des Migranten: Der Nomade ist durchaus kein Migrant, denn ein Migrant geht prinzipiell von einem Punkt zum anderen, selbst wenn dieser andere Punkt ungewiß, unvorhersehbar oder nicht genau lokalisiert ist. Aber der Nomade geht nur durch den Zwang der Notwendigkeit, als Konsequenz, von einem Punkt zum anderen: im Prinzip sind die Punkte für ihn Relaisstationen auf einem Weg. (Deleuze/Guattari 1992: 523)

Dennoch können Nomaden und Migranten Gemeinsamkeiten aufweisen und setzen sich beide von Formen der Sesshaftigkeit ab: »Nomaden und Migranten können sich auf verschiedene Weise miteinander vermischen oder ein gemeinsames Ganzes bilden; sie haben dennoch ganz unterschiedliche Beweggründe und Bedingungen [...]« (Deleuze/Guattari 1992: 523). In der Tradition soziologischer und ethnographischer Typologien gehen Deleuze und Guattari von unterschiedlichen Bewegungsformen und -räumen aus, die Nomaden und Migranten voneinander trennen. Den Hintergrund dafür bildet die Theorie des zivilisatorisch gekerbten und des glatten Raumes. Nomaden durchziehen glatte Räume, die im Unterschied zu den geschlossenen Räumen der Sesshaften nicht gekerbt sind. Längst aber haben sich globale Bewegungsformen entwickelt, die nicht mehr als einmalige Grenzüberritte zu verstehen sind, sondern die Migrationen dem Nomadischen annähern. Anders als in den 1980er Jahren absehbar haben Migrantenströme die globale Mobilität nomadisiert. Migranten nutzen ebenso glatte Räume wie das Meer, die Wüste bzw. die Steppe (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 526) und sind »heute hier, morgen da«, wie Schlögel (2006: 26) bemerkt. Doch geht das Denken des Nomadischen weit über eine Theorie des Bewegungsraums hinaus und kann ebenso als kulturelles und literarisches Prinzip verstanden werden. Bevor Gilles Deleuze mit Félix Guattari in Tausend Plateaus das Prinzip des Nomadischen weiter entwickelte, entwarf er in seinem im Jahr 1972 gehaltenen Vortrag Pensée nomade Grundzüge eines Nomaden-Denkens, das von einer Fremdheit und Intensität literarischer Schreibweisen ausgeht. Am Beispiel von

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Nietzsches Aphorismen, aber auch am Beispiel von Kafkas Schreibweise hatte Deleuze (2003: 375) eine Denkfigur aufgezeigt, die sich der Festlegung durch bestehende Kodes entzieht und eine Gegenkultur des Schizo-Lachens formiert. Kafkas Schreiben z.B. bestimmt Deleuze (2003: 369) in der ihm eigenen Maschinen-Metaphorik wie folgt: »[...] er baut im Deutschen eine Kriegsmaschine gegen das Deutsche auf; mittels Unbestimmtheit und Nüchternheit läßt er unterhalb des Codes der deutschen Sprache etwas passieren, was vorher noch nie vernommen worden war«. Aber auch Nietzsche wird von einer Perspektive der Fremdheit aus beleuchtet (Deleuze 2003: 369): »Nietzsche dagegen sah oder gab sich polnisch gegenüber dem Deutschen. Er bemächtigte sich der deutschen Sprache, um eine Kriegsmaschine aufzubauen, die etwas im Deutschen Uncodierbares passieren lassen sollte.« Deleuze entwirft so nicht nur die ›Begriffsperson‹ des Nomaden (vgl. Ott 1998: 33-37), sondern kann damit auch Bewegungsfiguren gegen die herrschenden Kodierungen ausspielen. Einerseits formieren sich dabei Figuren sozialer und kultureller Bewegung, andererseits kann es sich auch um »Reisen an Ort und Stelle, Reisen in der Intensität« (Deleuze 2003: 377) handeln. Es wird deutlich, dass Deleuze mit der Gegenplatzierung des Nomaden vor allem eine Aussagefunktion umreißt, die sich von ihren Bewegungsmetaphern her speist. Besonders produktiv lässt sich das Denken des Nomadischen für das theoretische Potential der transkulturellen Literatur nutzen, wenn Deleuze (2003: 368) Bewegungen als Fluchtlinien beschreibt, die sich den »großen Instrumenten der Codierung« entziehen. In seinem Vortrag führt Deleuze (ebd.) gesellschaftliche Instrumente wie »Gesetz«, »Vertrag« und »Institution« an, die sich im literarischen Feld auch auf kulturelle Kodierungen beziehen lassen. In dieser Hinsicht können Überlegungen zum pikaresken Erzählen an die Figurationen des Nomaden-Denkens anknüpfen. Versteht man pikareskes Erzählen vor dem Hintergrund seiner Verfahren als Nomadisieren, so entzieht es sich im transkulturellen Kontext den Festlegungen auf Kodes, Wertmaßstäbe und sogar Genrezuordnungen. Pikareskes Erzählen als transkulturelles Erzählen wird dann unzuverlässig, wenn es seine monokulturellen Kodierungen verweigert. Nach Gilles Deleuze unterlaufen nomadische Fluchtlinien nicht nur die herrschenden Kodierungen, sondern entwickeln dabei auch Figurationen von Intensität. Was entsteht, ist ein neuer transkultureller Karnevalismus des Erzählens, der sich in der Dialogizität von Sprachen, Stimmen und Masken als Intensität des Nomadischen realisiert.

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3. PIKARESKE SYNKRETISMEN DES ERZÄHLENS Aus einer internationalen Perspektive hat sich vor allem das Paradigma des Pikaresken (vgl. Ehland/Fajen 2007) als besonders produktives Feld des Erzählens erwiesen, um Bewegungsformen der Migration zu inszenieren. Genauso wenig wie der Typus des Nomaden ist allerdings auch die literarische Figur des Pikaro mit den Grenzübertritten von Migranten gleichzusetzen. Vielmehr können in pikaresken Erzählweisen sehr unterschiedliche Bewegungsformen aufgegriffen und in einem rhizomatischen Netz von Wegen, Masken und Stimmen inszeniert werden. Sei es in Salman Rushdies indisch-britischem Roman Midnights Children (1981), sei es in der deutsch-syrischen Literatur von Rafik Schami oder in den Romanen der Istanbul-Berlin-Trilogie (2006) von Emine Sevgi Özdamar, immer wieder bietet das Paradigma des Pikaresken ein Bündel von Erzählmöglichkeiten an, die mit den Bewegungsnarrativen und der Hybridität von Migrationen konvergieren. Dabei kann die neu entstandene Weltliteratur zwischen den Kulturen an Traditionen anknüpfen, die als Formen des dialogischen Erzählens ihre kulturelle Vielfalt und Polyphonie mit sich führen. Wenn für den pikaresken Helden in den spanischen Anfängen eine Bewegung durch den Raum und durch verschiedene Gesellschaftsschichten charakteristisch war (Gullién 1969: 385), so treten in postkolonialen bzw. transkulturellen Erzählweisen Grenzübergänge zwischen den Kulturen und Sprachen hervor. Als Modell und Referenz für pikareskes Erzählen können spanische Romane wie der anonym verfasste Lazarillo de Tormes (1594), aber auch die deutsche Linie des pikaresken Erzählens in Grimmelshausens Simpliciaden und moderne Varianten gelten wie Jaroslav Hašeks Der brave Soldat Schwejk (1923), Thomas Manns Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954) und insbesondere der epochale Nachkriegsroman Die Blechtrommel (1959) von Günter Grass, der die Katastrophe des Nationalsozialismus aus der Perspektive des kleinwüchsigen Oskar Matzerath von der sozialen wie auch der territorialen Randlage der Danziger Minorität her beleuchtet. Günter Grass (1987, X: 181) weiß seine literaturgeschichtlichen Einflüsse zu benennen und kann auf die produktiven Synkretismen hinweisen, in denen sich das pikareske Paradigma fortschreibt: Also angefangen beim pikaresken Roman im Spanischen, der sehr spät in Deutschland mit den Rabelais-Übersetzungen von Fischart und dem Simplizissimus seine Anfänge nahm und der dann im 18. Jahrhundert die Einflüsse aufnahm, die von Sterne ausgingen: bei Jean Paul traten sie deutlich hervor. Das sind Traditionen, in denen ich mich bewege – unter anderem natürlich.

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Salman Rushdie wiederum hat sich ganz explizit an der Blechtrommel von Günter Grass orientiert: In seinem Essay Ein Reisender über Grenzen im Ich und in der Zeit (1985: 175) resümiert Rushdie zu seiner Lektüre der Blechtrommel im Sommer 1967: Das war es, was Grass’ großer Roman mir in seinem Trommelrhythmus sagte: Setz aufs Ganze! Nimm dir immer zuviel vor, tu zuviel! Weg mit dem Sicherheitsnetz! Hol tief Luft, bevor du zu sprechen anfängst! Greif nach den Sternen! Grinse dabei! Sei unnachgiebig! Streite dich mit der Welt! Und vergiß nie, daß es uns allein im Schreiben fast gelingt, die tausendundeins Dinge festzuhalten – Kindheit, Überzeugungen, Städte, Zweifel, Träume, Augenblicke, Sätze, Eltern, Lieben –, die uns ständig wie Sand durch die Hände gleiten. Ich habe versucht, von den Lektionen dieses trommelnden Gnoms zu lernen.

Rushdies Roman Midnight’s Children steht der abgründigen Hybridität der Blechtrommel jedenfalls in nichts nach, wenn er die Wechselfälle der britischindischen Kolonialgeschichte aufarbeitet. Offensichtlich sind pikareske Erzählweisen mit historischen Wechselfällen und Übergängen eng verbunden, so dass sie in sehr unterschiedlichen Umbruchsituationen produktiv werden können. In dieser Hinsicht lässt sich vermuten, dass sich hinter dem Pikaresken nicht nur die Problematik einer ›transzendentalen Obdachlosigkeit‹ in der zerrütteten Geschichte des 20. Jahrhunderts verbirgt, wie sie Lukács (1986: 32) in seiner Theorie des Romans diagnostizierte, sondern auch eine Form der Bewältigung von Krisen und Katastrophen. Wie kaum einem anderen eignet dem Paradigma des Pikaresken ein Überlebenswissen (vgl. Ette 2004), das sich in Umbruchsituationen aktualisiert, wenn von existenziellen Bedrohungen erzählt wird. Pikareske Erzählweisen können als Antwort auf historische Katastrophen karnevaleske Gegenkodierungen aufbauen, ohne sich völlig von ihren bedrohlichen Kontexten zu lösen oder die Gefährdung absolut zu setzen. Besonders Michail Bachtin konnte auf den Stellenwert des Pikaresken in der dialogischen Romantradition hinweisen, in der die Inszenierung von verkehrten Ordnungen als Welt des Karnevalesken die Möglichkeit zu Humor und Satire geben. Der deplazierte Held des Pikaroromans, seine Beobachtungen, seine Subjektproblematik und seine Randperspektive leisten eine fortwährende Auseinandersetzung mit den historischen Herausforderungen von der Frühen Neuzeit bis zur Post-Moderne. Auch in erzähltechnischer Hinsicht entspricht der pikareske Roman der Problemlage moderner Subjektivität, da die Position des Erzählers zumeist autodiegetisch in IchForm gestaltet ist. Allerdings lässt sich das Paradigma des Pikaresken kaum noch unter der Ordnungsgröße von Genrebegriffen fassen. Vielmehr hat sich

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seine Wandlungsfähigkeit selbst auf die Strukturen des Genres übertragen, wenn z.B. Claudia Erhart-Wandschneider (1995: 35) bemerkt: Schließlich muß man davon ausgehen, daß es nicht mehr darum gehen kann, Exemplare der Gattung »Schelmenroman« im 20. Jahrhundert einfach ausfindig zu machen. Vielmehr handelt es sich um einzelne Elemente einer Tradition, Strukturen und Merkmale, die frei verwendbar werden. Diese Merkmale gilt es zu ordnen, nicht um der Klassifikation willen, sondern um zu zeigen, wie literarische Strukturen transformiert werden und neue »literarische Bilder« und Aussagen entstehen.

Dass das pikareske Paradigma in der transkulturellen Weltliteratur wieder aufgegriffen wird, kann nicht verwundern, bietet es doch eine Kombination an Elementen von der quasi-autobiographischen Stilisierung bis hin zur Auseinandersetzung mit historischen und kulturellen Herausforderungen. Dabei lassen sich in der transkulturellen Gegenwartsliteratur ebenso neue Konzepte pikaresken Erzählens erkennen, die sich mit Aspekten eines Magischen Realismus bzw. einer Neophantastik verbinden. Das Paradigma des Pikaresken erweist sich daher als äußerst wandlungsfähig auf allen Ebenen des Erzählens von der Figurenebene bis hin zur hybriden Genrekonzeption. Dieser pikareske Synkretismus hat in seinen Anfängen selbst schon Teil an einer Gegenpoetik, die ein »Netzwerk von Schreibweisen und Lesarten« entfacht, »das an die Stelle der klassische Regelund Gattungspoetik tritt« (Bauer 2014: 69). Im Hinblick auf Hybrid-Narrationen der »modernen oder postmodernen Erzählliteratur, die an der Schnittstelle von Roman und menippeischer Satire operiert«, hat Matthias Bauer (2014: 74) weiter vorgeschlagen, »eine hybride Konfiguration pikaresker, karnevalesker und cervantesker Motive« zu berücksichtigen. Pikareskes Erzählen der Post-Moderne kann so verstanden werden als Konfiguration und Schauplatz von Synkretismen unterschiedlicher dialogischer Erzählweisen. Das karnevaleske Lachen bildet dabei den Umschlagspunkt einer kulturellen Gegenkodierung, die das Genremuster des Pikaresken nutzt, um dieses selbst weiter zu dialogisieren. Dialogisiert werden aber auch die Raumstrukturen des pikaresken Erzählens, wenn es eine Chronotopik der Begegnung entfaltet, in der sich die Wege und Geschichten der Figuren überschneiden und rhizomatisch vernetzen. Teilen die Bewegungsformen des Pikaros noch viel mit dem Umherziehen des Nomaden bzw. dem Umherschweifen des Vagabunden, wie Simmel sie beschrieb, so werden ebenso soziale bzw. kulturelle Grenzübertritte inszeniert, die das Erzählen sujethaft werden lassen. Pikareskes Erzählen kann hybride Konstellationen und Mehrfachkodierungen entfachen, die die ambivalente Situation des Fremden, »der heute kommt und morgen bleibt« (Simmel 1992: 764), nicht auflösen, sondern

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unterschiedliche Bewegungsformen mit den Grenzübertritten der Migration verbinden, um Intensitäten zu entwickeln, die mit den Gegenplatzierungen des Nomadischen korrelieren.

4. FIGUREN DES ÜBERGANGS IN JACOB BESCHLIESST ZU LIEBEN Der im Jahr 2011 erschienene Roman Jacob beschließt zu lieben2 von Catalin Dorian Florescu wurde von der Kritik zumeist positiv aufgenommen und avancierte in kurzer Zeit zum Bestseller. Erzählt wird die fingierte Geschichte der ins Banat ausgewanderten lothringischen Familie Obertin über mehrere Generationen und historische Phasen hinweg. Das dominante Motiv der Generationenfolge, das der Roman von der Frühen Neuzeit bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entwirft, wurde häufig zum Kriterium gewählt, um ihn als Familienroman (vgl. Fischer 2017: 30) zu bestimmen. Mit dem Familienkomplex im Roman wäre dann ebenso eine historische Dimension verbunden, die sich in den individuellen Schicksalen spiegelt (vgl. Guarda 2013: 186). Drei Zeitschichten lassen sich demzufolge im Text unterscheiden: Die Ebene der Gegenwart bildet die Geschichte von Jacob Obertin von der nationalsozialistischen und stalinistischen Zeit bis zur Bărăgan-Deportation der donauschwäbischen Minderheiten in den 1950er Jahren während des kommunistischen Regimes in Rumänien. In einem ersten Rückgriff wird in Kapitel 2 von der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges erzählt, als Caspar Obertin aus der schwedischen Armee 1635 desertiert, sich auf eigene Faust durchschlägt und in den zerstörten Gegenden marodiert. Ein zweiter Erzählstrang verfolgt in Kapitel 4 die Geschichte von Frédéric Obertin, der sich in den 1770er Jahren mit der elsässischen und lothringischen Landbevölkerung auf den Weg macht, um mit den versprochenen Privilegien der Kolonisation im Banat eine neue Existenz aufzubauen. Zweifellos umfasst der Text ein breites zeitliches Spektrum, das ihn auch in die Nähe zu einem Geschichtsoder Familienroman bringt. Allerdings werden die historischen Rückblicke nur in wenigen Passagen weiter entfaltet. Zudem scheint sich weder mit der Kategorie des Familienromans noch mit der des historischen Romans die Vielschichtigkeit des Texts erfassen zu lassen. Auffällig ist vielmehr, wie auch Filomena Viana Guarda (2013: 187) bemerkt, »dass in diesem Roman die Figuren immer von einem Ort zum anderen ziehen, in der Hoffnung, irgendwo eine richtige Heimat

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Zitiert wird der Roman im Folgenden nach der Ausgabe Florescu (32013) mit der Sigle J und den entsprechenden Seitenzahlen in Klammer.

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und ein gutes Leben zu finden.«3 Die fortgesetzte Bewegung der Figuren im Raum, die auch für andere Romane Florescus charakteristisch ist,4 verschiebt das Schema des Familienromans, da somit Veränderungen und kaum noch Traditionen in den Vordergrund gerückt werden. Der Text weist zudem über eine regionale Auswanderungsgeschichte hinaus, wenn »anhand der Geschichte einer Familie Stränge eines Europa überziehenden Netzes von Migrationsbewegungen« behandelt werden, wie Natalie Moser (2016: 185) feststellt. Erkennbar wird, dass Florescu in Jacob beginnt zu lieben ein Europa in Bewegung vorführt und die »Geschichte der Familie Obertin eigentlich die Geschichte Europas widerspiegelt« (Guarda 2013: 190). Allerdings sind es nicht vorwiegend Migrationen, die im Text vorgeführt werden. Vielmehr werden im Roman sehr unterschiedliche Bewegungsformen inszeniert, die sich im Handlungsgeschehen gegenseitig überlagern. Schon der Vater des Protagonisten macht sich von seinem Heimatdorf auf den Weg, um aufgrund einer Zeitungsnachricht die sogenannte »Amerikanerin« (J: 31) zu finden. Jacobs Mutter wiederum hat wegen ihres zweifelhaften Lebenswandels während eines Amerikaaufenthaltes kaum eine andere Wahl, als den Eindringling zu heiraten, um die Generationenfolge Obertin im Dorf Triebswetter (rum. Tomnatic) zu sichern. Mithilfe der unterschiedlichen Bewegungsformen werden im Roman ebenso Kontraste aufgebaut. An das Nomadisieren im Sinne Simmels erinnern z.B. die Wanderungen der im Text so genannten »Zigeuner«:5 »Außerhalb von Triebswetter, auf einem ausgedörrten, dornigen Hügel, von den Dorfbewohnern gemieden, lebten Zigeuner, manche seit Menschengedenken, andere wiederum kamen und gingen, wie die Wanderlust sie gerade packte.« (J: 44) Sie besitzen eigens für diese Mobilität in England angefertigte Planwagen (J: 44) und unterscheiden sich von den sesshaften Schwaben deutlich: »Einmal hatte ein Zigeuner, ein Laufbursche wie er, zu Jakob gesagt:

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Zu Recht betont Guarda (2013: 188) weiter: »Während der Lektüre dieses Familienromans wird der Leser immer wieder daran erinnert, dass die europäische Geschichte eigentlich eine Geschichte von Migrationen, Vermischung von Kulturen, Rassen und Religionen ist.«

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Wie Iulia Elena Zup (2012: 49) am Beispiel der Romane Wunderzeit (2001), Der kurze Weg nach Hause (2002), Der blinde Maseur (2006) und Zaira (2008) zeigt, läßt sich die »Konstitution der Figuren« bei Florescu erst durch ihre »Orientierung, Positionierung und Bewegung im Raum« erschließen.

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Zu den ›Zigeuner‹-Figuren‹ in früheren Romanen von Florescu bemerkt Fischer (2008: 468): »Die ›Zigeuner‹-Thematik wird so zum kryptischen Zentrum der Migrationsproblematik, die in Florescus gesamten Romanœuvre eine zentrale und beherrschende Rolle spielt.«

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›Die Schwaben wollen immer nur eines: so viel Land wie möglich besitzen. Wir wollen kein Land und sind schlechte Bauern, aber wir können Tausend andere Sachen.‹« (J: 44) Allerdings soll Sarelo, der mit der ›Zigeuner‹-Figur Ramina gezeugte Halbbruder Jacobs, als Erbe des Hofes vorgezogen werden, wodurch sich die Rollen vertauschen (J: 324). Auch auf der historischen Ebene wird das Wandern der ›Zigeuner‹ eingeblendet: »Zwar war die Zeit der großen Wanderungen vorbei, als die Zigeuner zu Hunderten vor den Toren der Städte aufgetaucht waren und man sie ehrfürchtig mit Geschenken empfangen hatte. Jetzt streiften sie in kleinen Gruppen umher, um nicht aufzufallen.« (J: 241) Der Vorfahre Frédéric Obertin lebte im 18. Jahrhundert vor seiner Auswanderung vom Kopfgeld der »Zigeunerjagd« (J: 240). Als Vagabundieren lässt sich hingegen die Bewegungsform des ehemaligen Söldners Caspar Obertin im 17. Jahrhundert bezeichnen. Bei dem Versuch, den Hof seiner Eltern wiederzufinden, verfehlt er das heimatliche Territorium um ein Weniges und löscht bis auf die überlebende Tochter, die er zur Frau nimmt, eine unschuldige Familie aus, was ihm nach zwanzig Jahren Ehe das Leben kosten wird (J: 239). Bei aller drastischen Grausamkeit ist in dieser Passage auch ein cervantesker Zug zu erkennen, wenn die Figur am Ende von ihrem Irrtum eingeholt wird. Mit der Geschichte der donauschwäbischen Kolonisation bildet eine der europäischen ›Wanderungen‹ das Rahmenthema des Romans. Im Zuge seiner Auswanderung verfolgt Frédéric Obertin den zielgerichteten Weg einer Migration, wobei er sich mit Beharrlichkeit, Betrügereien und Raub durchschlägt. Nach seiner Ankunft im Banat wird Frederick schließlich, dessen Name inzwischen von den Wiener Beamten eingedeutscht mit «c-k« und ohne Akzente geschrieben (J: 268) wurde, zum Richter des Dorfes Triebswetter ernannt (J: 275), wie es die »Dorfchronik« bezeugt (J: 167). Die Wege des Protagonisten und jüngsten Nachfahren Jacob Obertin, im Unterschied zum Namen des Vaters »wie im Französischen mit c« (J: 160) geschrieben,6 gleichen einer Fluchtlinie, mit der er sich dem Zugriff der Machthabenden zu entziehen weiß. Bei der ersten Deportation gelingt es ihm mit einem Taschenmesser, ein Loch in den Boden des Eisenbahnwagons zu sägen, das er zur Flucht nutzen kann (J: 285f.). Zur Deportation kommt es lediglich am Ende des Romans, zu einer Re-Migration ins Elsass nie, weil sein Vater ihn von der Liste der Auswanderer streichen lässt. Strukturell ist der Kontrast zwischen den Abenteuern seiner vagabundierenden Vorfahren und der zirkulären Bewegung des Protagonisten auch im Übergang zwischen einer

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Ein Shibboleth zwischen französischer bzw. rumänischer (J: 294) und deutscher Schreibung, das im Text mehrmals wieder aufgegriffen wird und das auch im Namen des Autors Florescu erscheint.

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heterodiegetischen und einer autodiegetischen Erzählposition angelegt. Während die Gegenwart in der quasi-autobiographischen Form des pikaresken IchErzählers gefasst ist, werden die Einschübe über die beiden Vorfahren in der dritten Person, wie sich andeutet, vom Großvater (J: 247) erzählt. Das Erzählen über Formen der Bewegung ist dabei derart dominant, dass fast von einem System von Bewegungen gesprochen werden kann. Florescus Roman scheint die Perspektive von Schlögel zu teilen, dass sich mit der Öffnung nach 1989 die europäische Geschichte als Geschichte von Wanderungen noch einmal thematisieren lässt. So umkreist der Roman den Kulturraum Europas, die Geschichte der donauschwäbischen Minderheit Rumäniens, aber auch die Mobilität in diesen Räumen und Topographien. Zu Recht betont daher Moser (2016: 187), dass sich so »das Migrations- und Migrantenbuch als Weltliteratur zu erkennen« gibt. In einem weiteren Sinn kann behauptet werden, dass es sich auch um einen nomadischen Roman handelt, der einerseits Figuren der Bewegungen inszeniert, andererseits aber auch eine hohe Intensität erreicht, indem er diese Bewegungen in sich zirkulieren lässt. Die Integration der verschiedenen Bewegungsformen leistet der Roman, indem er sich in der Konzeption seiner Figuren und ihrer Wege am pikaresken Paradigma orientiert und dessen Chronotopoi aktualisiert. Ähnlich wie sich der spanische Vorgänger in zweiten Kapitel des Lazarillo de Tormes7 bei einem Priester verdingt, landet auch Jacob auf seiner Flucht als Gehilfe bei einem Geistlichen, dem Popen Pamfilie, der die menschlichen Gebeine der Umgebung ausgräbt und auf einem Friedhof beerdigt (J: 293-326). Ebenso muss sich Jacob auf seiner Flucht mit Lügen durchschlagen, wenn sich z.B. der Pope über seine Aussprache wundert: »Bist du Rumäne?« Ich nickte. »Du hörst dich aber wie ein Schwabe an, der Rumänisch redet. Wie heißt du?« »Jacob, aber Jacob mit c.« (J: 284) Oder wenn ihn ein Gendarm nach seinem »Akzent« befragt: »Wir sind die einzige rumänische Familie in einem deutschen Dorf gewesen. Ich musste Deutsch sprechen, um die Schule zu besuchen. Dabei hasse ich die Deutschen, sie sind böse Menschen, sie haben Vater umgebracht.« (J: 313) Die pikarske Lüge eröffnet eine Ambivalenz des Erzählens, wenn der Protagonist betont, dass er von »Großvater und Ramina« gelernt habe, »wie man, ohne mit der Wimper zu zucken, eine noch so unwahrscheinliche Geschichte« erzählt (J: 313). Auf sehr unterschiedlichen Ebenen des Romans wird diese Ambivalenz als unzuverlässiges Erzählen ersichtlich. Bereits über die Geburt des Protagonisten liegen verschiedene Varianten vor, mit denen der Erzähler spielt. Nach der ersten Variante soll Jacob auf einem mit Mist beladenen Fuhrwerk geboren worden sein:

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Nach der Ausgabe: Anonym (1964: 24-36).

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Großvater bückte sich erneut, seine Tochter legte ihm die Arme um den Hals, dann hob er sie hoch und trug sie zum Karren. Er legte sie in den noch lauwarmen, stinkenden, mit Mücken übersäten Kot der Tiere. Ihr wurde übel, und sie erbrach sich über ihre Kleider, doch das war nicht wichtig. Die Hauptsache war, dass sie ihr Kind ungefährdet auf die Welt brachte und diese späte Chance nutzte, um zu beweisen, dass sie eine fruchtbare, normale Frau war. (J: 123)

Die fäkalische Semantik der Geburtsszene (J: 125)8 ruft die Konzeption des ›grotesken Körpers‹ (vgl. Bachtin 1995: 345f.) wach, wie sie sich in der karnevalistischen Tradition etwa bei François Rabelais in Gargantua und Pantagruel (15321564) findet.9 Ramina dagegen erzählt Jacob eine zweite Variante seiner Geburt als Szene eines karnevalesken Lachens: Was folgte, so Ramina, versetzte die Leute in solche Unruhe, dass sie es weitererzählten, die Temeswarer Zeitungen es in den nächsten Ausgaben und die Ärzte in ihren Fachzeitschriften druckten. Ich begann in einer solchen Lautstärke zu lachen, dass die Leute mehrere Schritte zurückwichen. Die Röcke der Frauen wurden durcheinander gewirbelt, die Schnapsgläser in der Stube zersprangen, und bis in die hinterste Ecke des Viertels blieben die Fußgänger stehen, während die Hunde alle auf einmal zu bellen begannen, als ob sie eine Katastrophe witterten. Ich lachte um mein Leben, würde Ramina später sagen. Der Pfarrer wurde bleich, als ob er einen Teufel gesehen hätte, machte das Kreuzzeichen und verabschiedete sich in aller Eile. (J: 151)

Die zweite Variante der Geburt wird als Übertreibung inszeniert, wobei auch der diabolische Zug des Pikaresken zum Tragen kommt. In deutlicher intertextueller Anspielung an die Blechtrommel von Günter Grass, dessen Protagonist Oskar Matzerath die phantastische Fähigkeit besitzt, Glas zu zersingen, wird eine Komponente des Magischen Realismus in die Erzählweise eingespielt (vgl. Fischer 2017: 39). Im Übergang von der phantastischen Szene zum karnevalesken Lachen triumphiert aber auch eine Praxis des Überlebens, die dem Spielfeld des pikaresken Erzählens zugehört. Zugleich erinnert der Protagonist Jacob auch an die Improvisationsfähigkeit eines modernen Nomaden, was allerdings noch nicht garantiert, dass er auch den letzten Schicksalsschlag meistern wird. Der Roman endet mit der Deportation der Banater Minderheiten in die Bărăgan-Steppe:

8

Vgl. auch Quenstedt/Tschachtli (2016), die die Szene im Anschluß an Kristeva als Abjektion verstehen.

9

Vgl. die Geburtsszene Gargantuas bei Rabelais (1968, I: 35-38) in Kapitel 6, nachdem die Mutter Gargamelle vor der Geburt ein Übermaß an Kutteln verzehrt hatte.

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»Nachts legen wir die Matratzen auf den Boden, tagsüber reichen die Stühle«, erklärte ich Vater. »Was sollen wir hier?« Es ist das Ende der Welt«, sagte er. Ich begann zu lachen, wie ich noch nie in meinem Leben gelacht hatte, höchstens bei meiner zweiten Geburt, als Ramina mich Vater gezeigt hatte. Ich lachte auch dann noch, als die Nacht sich über uns senkte und die Menschen sich zum Schlafen bereitmachten. Wir rollten die Matratze aus, zogen uns aus, und immer noch lachte ich. Ich hörte erst auf, als wir nebeneinander lagen in unserem – ja, das wenigstens war klar: unserem – Rechteck. »Ich baue uns ein Haus am Ende der Welt.« (J: 403)

Es bleibt offen, ob der Protagonist die Herausforderung der erneuten Deportation bewältigen wird und sich die Serie der pikaresken Improvisationen fortsetzt, wie es das karnevaleske Lachen ankündigt, oder ob Jacob gegen Widerstände ankämpft, die er letztlich nicht zu bezwingen vermag. Ein Rest an cervantesker Vergeblichkeit scheint am Ende des Romans als Ambivalenz auf, die nur noch wenig mit der historischen Situation zu tun hat, sondern vielmehr einer hybriden Erzählweise entspringt. Was Florescu erzählt, sind weniger historisch verbürgte Gehalte, als vielmehr Fluchtlinien und Ambivalenzen, die sich in den Figuren des Übergangs und ihrer Mobilität abzeichnen. Eingebettet in eine historische Szenerie eröffnen sich imaginäre und fantastische Varianten. Vertreter der donauschwäbischen Minderheit haben auf die Darstellung ihrer Geschichte und Tradition mit scharfer Kritik reagiert (vgl. Sălişte 2011). Ähnlich wie vormals Herta Müller mit ihrem Band Niederungen (1982/1984) wird Florescu eine Verunglimpfung der Donauschwaben vorgeworfen. Wurde Herta Müller aber noch eine Innenperspektive durch ihre Herkunft aus dem donauschwäbischen Milieu zugestanden, so erscheint Florescus Roman als rumänische Außensicht. Tatsächlich hat sich Florescu die Geschichte einer realen Familie Oberten zur Vorlage genommen und auch entsprechende Veröffentlichungen und Internetquellen über die Regionalgeschichte der Donauschwaben einbezogen.10 Allerdings ist Florescus Romankunst derart intertextuell und intermedial verdichtet und sogar von Filmszenen11 geprägt, dass kein Anspruch auf historische Authentizität mehr verfängt. Auch scheint es zum Schicksal karnevalesker Erzählweisen zu gehören, dass sie Gegenreaktionen auslösen können, wie es bereits Günter Grass in den

10 Die Gegendarstellungen in Balzer (2015) sind neben aller forcierten Polemik für die Entstehung des Romans auch informativ. 11 Fischer (2008: 449) betont, daß die »Film und Fernsehrealität [...] in allen Romanen Florescus eine große Rolle spielt.«

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Skandalen um seine Blechtrommel (vgl. Görtz 1984) erfahren musste. Dennoch gilt es zu fragen, ob der Roman die Lizenz der Postmoderne auf dem Spielfeld zwischen Faktum und Fiktion nicht allzu unbedenklich ausschöpft, wie etwa Jörg Magenau (2011: 16) in seiner Rezension in der Süddeutschen Zeitung kritisiert: In der Kritik wurde Florescu immer wieder ein Hang zur Folklore vorgehalten. Das trifft auch auf diesen Roman zu. Das Folkloristische besteht darin, Geschichte zu benutzten, um damit erzählerische Effekte zu erzielen. Geschichte löst sich dann in Geschichten auf. Die Vertriebenen und Fliehenden werden damit gleich noch einmal in Haft genommen: diesmal als Verschiebemasse eines Autors und seines Willens zum Roman.

Auch lässt sich einwenden, Florescus Roman leide »am Fehlen interkultureller Auseinandersetzung« (Fischer 2017: 40). Festzuhalten bleibt jedoch, dass im Roman Florescus nicht der Gestus der Verständigung im Vordergrund steht, sondern vielmehr eine karnevaleske Provokation, die kulturelle Kodes unterläuft und Genres synkretistisch vermischt. Vorgeführt wird eine erzählte Welt in Bewegung, die einerseits die Geschichte Europas als Geschichte von Wanderungen rekapituliert und die andererseits hintergründig mit der Lebens- und Migrationsgeschichte des Autors selbst verbunden ist. In seiner karnevalesken Ambivalenz trägt der Roman von Florescu nomadische Züge, die sich zwischen historischen Narrativen und imaginären Fluchtlinien bewegen.

5. SCHLUSSBEMERKUNG Ausgehend von unterschiedlichen Konzepten des Nomadischen konnte am Beispiel von Doran Catalin Florescus Roman Jacob beginnt zu lieben eine pikareske Erzählweise aufgezeigt werden, die ein Europa in Bewegung vorführt. Die Ambivalenzen des Textes sind charakteristisch für hybride Verfahren, die sich als karnevaleske Poetik des Pikaresken verstehen lassen. Pikareskes Erzählen entfacht Grenzgänge und Fluchtlinien zwischen den kulturellen Domänen und Systemen, die sich nicht mehr auf die herrschenden Kodierungen festschreiben lassen. Dadurch deuten sich Gegenplatzierungen des Nomadischen an, die sich in der aktuellen transkulturellen Gegenwartsliteratur umsetzen.

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Schenk, Klaus (2014): Pikareskes Erzählen als interkulturelles Erzählen. In: Gabriela Rácz / Ders. (Hg.): Erzählen und Erzähltheorie zwischen den Kulturen. Würzburg, S. 66-86. Schlögel, Karl (2006): Planet der Nomaden. Berlin, S. 25. Simmel, Georg (1992): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 11. Hg. v. Ottheim Rammstedt. Frankfurt a. M. Zup, Iulia Elena (2012): Der rumänische Raum im Werk von Cătălin Dorian Florescu. In: Germanistische Beiträge, Lucian-Blaga-Universität Sibiu / Hermannstadt. H. 31, S. 45-56; online unter: http://uniblaga.eu/wp-content/ uploads/2016/03/31.1.3.pdf [Stand 15.12.2018].

Autorinnen und Autoren

Abd El-Barr, Mumina Hafez, Ass. Prof. Dr., ist seit 1998 an der Abteilung für Germanistik, Philosophische Fakultät der Universität Kairo und auch als freie Übersetzerin tätig. Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind zeitgenössische Literatur, Vergleichende Literaturwissenschaft und Übersetzung. Zudem unterrichtete sie DaF an verschiedenen Universitäten und Instituten in Kairo und arbeitete auch als Chefredakteurin des ›National Center for Translation‹ in Kairo. Ausgewählte aktuelle Publikationen: Terrorismus ›trans‹ Kulturen, ›trans‹ Konfessionen, ›trans‹ Ideologien. Norbert Gstreins Eine Ahnung vom Anfang und Fawwāz Ḥaddāds Ǧunūdu'l-lāh (Gottes blutiger Himmel): Ein Vergleich. In: Dalia Aboul Fotouh Salama u.a. (Hg.): Kairoer Germanistische Studien. Band 22: Transkulturalität und Identität. Kairo 2015/2016, S. 13-58; Auf der Suche nach der verlorenen Heimat. Das Dilemma der Zugehörigkeit und Entfremdung im Heiligen Land. Vladimir Vertlibs Roman Schimons Schweigen (2012) und Saḥar Ḫalīfahs Roman Das Erbe (1997). In: Michael Fisch/Dalia Aboul Fotouh Salama (Hg.): Die Wissenschaft ist ein Meer ohne Ufer. Berlin 2017, S. 249-305; Wiedergeburt in der ›toten‹ Wüste. Zur Multifunktionalität des Wüstenmotivs in Erhart Kästners Zeltbuch von Tumilat (1949). In: Amani Badawy u.a. (Hg.): Hermes. Band 26. Kairo 2019 (in Druck). Aditi, Parkhe, hat ihr Bachelor-Studium absolviert und ist aktuell MasterStudentin im Fach Germanistik an der SPPU, Pune, Indien. Atre, Sonal, ist seit 13 Jahren als DaF-Lehrerin tätig. Nach ihrem Studium der Chemie hat sie Germanistik studiert. Aktuell arbeitet sie am Goethe-Institut Pune in Indien als Prüfungsbeauftragte. Battegay, Caspar, PD Dr., ist Privatdozent für Neuere Deutsche sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Basel und

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Dozent für Kultur und Kommunikation an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Wissenschaftliche Schwerpunkte: Deutsch-jüdische Literatur- und Geistesgeschichte, Literatur und Medien der Gegenwart sowie Literaturgeschichte der Utopie. Buchpublikationen: Das andere Blut. Sprache und Gemeinschaft in der deutsch-jüdischen Literatur. Köln u.a. 2011; Judentum und Popkultur. Ein Essay. Bielefeld 2012; Geschichte der Möglichkeit. Utopie, Diaspora und die ›jüdische Frage‹. Göttingen 2018. Bauer, Matthias, Prof. Dr., ist seit 2008 Professor für Neuere Literaturwissenschaft an der Europa-Universität Flensburg. Er studierte an der Johannes Gutenberg-Universität zu Mainz Germanistik, Publizistik und Geschichte und wurde dort 1992 mit einer rezeptionsästhetisch orientierten Dissertation zur Entwicklungsgeschichte des Schelmenromans, Im Fuchsbau der Geschichten (Stuttgart 1993) promoviert. Seine Habilitationsschrift Schwerkraft und Leichtsinn (Freiburg 2005) geht den kreativen Zeichenhandlungen im intermediären Feld von Literatur und Wissenschaft nach. Zusammen mit Christoph Ernst veröffentlichte er 2010 Diagrammatik; 2015 kam seine Monografie über Michelangelo Antonioni. Bild-Projektion – Wirklichkeit heraus. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind: Romantheorie und Geschichte der Erzählkunst, Filmästhetik und -geschichte, Kultursemiotik, Literatur und Stadt. Weitere Infos unter: http://www.litwiss-fl.de/ email: [email protected] Gauri, Dindore, studiert aktuell nach ihrem Studium der Handelswissenschaft und der Arbeit als Buchhalterin Germanistik an der SPPU, Pune/Indien, und ist als Übersetzerin bei einer deutschen Firma tätig. Künftig auch Tätigkeit als DaFLehrerin an der SPPU. Giovannini, Elena, Dr., hat zurzeit eine Lehr- und Forschungsstelle für deutsche Literatur an der Università del Piemonte Orientale (Vercelli, Italien). Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind Reiseliteratur, Exilliteratur, Faust- und Goethe-Rezeption, NS-Literatur und -Literaturwissenschaft, Raumanalysen und das Verhältnis von Literatur und Spiel. Ausgewählte aktuelle Publikationen: Eine Reise zu zweit: Gustav Nicolais und des Flohs Jeaaaoui Schnellfahrt durch Italien. In: Studi Germanici, 2018 (Heft 13), S. 275-288; LTI: Erinnerungen des Philologen Victor Klemperer. In: Manuel Maldonado-Aléman/Carsten Gansel (Hg.): Literarische Inszenierungen von Geschichte. Formen der Erinnerung in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 und 1989. Stuttgart/Weimar 2018, S. 169-176; Akustische und physische Bilder des Fremden in Elias Canettis Die

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Stimmen von Marrakesch. In: Revista Académica liLETRAd, 2017 (Heft 3:1), S. 313-322. Heinz, Friederike, M.A., ist DAAD-Lektorin am Département d'Etudes Germaniques der Université d'Abomey-Calavi (Benin). Schwerpunkte in der Lehre und Forschung sind DaF-Didaktik und (Gesprächs-)linguistik. Aktuelle Publikation: Wissenschaftliches Schreiben in der Fremdsprache Deutsch außerhalb des deutschen Kulturraumes: Überlegungen zur Förderung der Schreibkompetenz im Studium Etudes Germaniques an der Université d'Abomey-Calavi in Benin. In: Nsangou Njikam Maryse (Hg.): Mont Cameroun. Afrikanische Zeitschrift für interkulturelle Studien zum deutschsprachigen Raum. Nr. 13/14 (2018), S. 37-54. Hermes, Stefan, Dr., ist Studienrat im Hochschuldienst am Institut für Germanistik der Universität Duisburg-Essen. Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind die deutschsprachige Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Theorien der Interkulturalität und des Postkolonialismus sowie das Verhältnis von Literatur und Anthropologie bzw. Ethnologie. Ausgewählte aktuelle Publikationen: als Hg. (gemeinsam mit Michaela Holdenried und Alexander Honold): Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne. Berlin 2017; Grenzen der Repräsentation. Zur Inszenierung afrikanisch-europäischer Begegnungen in Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen. In: Acta Germanica. Jahrbuch des Germanistenverbandes im Südlichen Afrika 44 (2016), S. 179-191; Eine erschöpfend erforschte Epoche? Der Sturm und Drang in interkultureller Perspektive (am Beispiel von Lenz’ Die Soldaten). In: Eva Wiegmann (Hg.): Diachrone Interkulturalität. Heidelberg 2018, S. 71-96. Hilmes, Carola, Dr. phil. habil., arbeitet derzeit als außerplanmäßige Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und ist Visiting Professor am German Department der University of Malta. Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Gender Studies, Theorie und Geschichte der Autobiographie, Reiseliteratur und deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Ausgewählte aktuelle Publikationen: Christa Wolf-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, hg. mit Ilse Nagelschmidt. Stuttgart 2016; Schriftstellerinnen, KLG Extrakt, 3 Bde. (Hg.). München 2018 u. 2019 (im Erscheinen); Emma Kann: Autobiographisches Mosaik. Mit einem Nachwort. Zürich 2020 (in Vorbereitung). Mahajan, Sneha arbeitet als Deutschlehrerin und ist seit 2014 an einem College als Dozentin tätig. Sie leitet dort seit 2018 die deutsche Abteilung. Zu den Hauptschwerpunkten im Unterricht gehören Sprach- sowie Germanistikkurse des

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Bachelorstudiengangs. Zusätzlich unterrichtet sie auch Sprachkurse an der Universität Pune, Indien. Nies, Martin, Prof. Dr., lehrt seit 2017 am Institut für Sprache, Literatur und Medien der Europa-Universität Flensburg. 2004 Promotion im Graduiertenkolleg »Imaginatio borealis« an der Universität Kiel über Der Norden und das Fremde in den skandinavischen Literaturen, 2009 Habilitation an der Universität Passau über Venedig als Zeichen in deutschsprachiger Literatur und Medien, 2010 Universitätspreis. Seit 2014 Redaktion des Virtuellen Zentrums für kultursemiotische Forschung (www.kultursemiotik.com); Reihenherausgeber der »Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik« im Verlag Schüren. Publikationen als Hrsg. u.a.: Deutsche Selbstbilder in den Medien, 2 Bde. Marburg 2007 u. 2018; Short Cuts: Ein Verfahren zwischen Roman, Film und Serie (mit Moritz Baßler). Marburg 2018; Raumsemiotik: Räume – Grenzen – Identitäten (im Erscheinen). Lehr- und Forschungsgebiete: Kultursemiotik, Raumsemiotik, Narratologie, Intermedialität und Interkulturalität. Paranjape, Manjiri, Dr., ist seit März 2017 Honorary Director, Deodhar Institute of Languages, Pune. Bis 2017 Professorin an der Germanistischen Abteilung an der Savitribai Phule Pune University, Indien. Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind DaF- und Literaturdidaktik (insbesondere Theater als didaktisches Mittel, kreatives Schreiben), Literatur seit 1945, Literarische Übersetzungen. Ausgewählte aktuelle Publikationen: Übersetzungen von Bühnentexten aus didaktischer Perspektive im Rahmen des Germanistikstudiums in Indien. In: Akten des XII. Internationalen Germanistenkongresses 2013; Karikatur als Zugang zum Fremden. Zum Einsatz von Karikaturen im Germanistikstudium in Indien. In: Akten des XII. Internationalen Germanistenkongresses 2013; Wynfrid Kriegleder/Manjiri Paranjape u.a. (Hg.): Mehrsprachigkeit und multikulturelle Literatur. Wien 2014. Rădulescu, Raluca, Prof. Dr., ist Professorin am Institut für Germanische Sprachen und Literaturen, Universität Bukarest/Rumänien. Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind interkulturelle Literaturwissenschaft, Migrationsliteraturen, Intermedialität und rumäniendeutsche Literatur. Ausgewählte aktuelle Publikationen: Raluca Rădulescu/Christel Baltes-Löhr (Hg.): Pluralität als Existenzmuster. Interdisziplinäre Perspektiven auf die deutschsprachige Migrationsliteratur. Bielefeld 2016; Raluca Rădulescu/Lucia Perrone Capano u.a.: Interkulturelle Blicke auf Migrationsbewegungen in alten und neuen Texten. Berlin 2018; Zur Poetik des »Trans-« anhand von zwei klassischen Texten von Johann

Autorinnen und Autoren | 263

Wolfgang von Goethe und Else Lasker Schüler. In: Raluca Rădulescu/Lucia Perrone Capano u.a. (Hg.): Interkulturelle Blicke auf Migrationsbewegungen in alten und neuen Texten. Berlin 2018, S. 67-94; Der rumänische Nationaldichter Mihai Eminescu. Deutsche Dichtung auf Rumänisch? In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, Heft 1 (2018), S. 33-46. Schenk, Klaus, Prof. Dr., ist seit 2010 Professor an der Technischen Universität Dortmund. Studium der Germanistik in Tübingen und Konstanz, Promotion an der Universität Konstanz im Jahr 1998, Habilitation an der TU Dresden im Jahr 2008. Monographien: Medienpoesie. Moderne Lyrik zwischen Stimme und Schrift (2000); Erzählen – Schreiben – Inszenieren. Zum Imaginären des Schreibens von der Romantik zur Moderne (2012). Mitherausgeberschaften: Migrationsliteratur. Schreibweisen einer interkulturellen Moderne (2004); Erzählen und Erzähltheorie zwischen den Kulturen (2014); Experimentelle Poesie in Mitteleuropa. Texte – Kontexte – Material – Raum (2016); Fremde Räume. Zur Interkulturalität und Semiotik des Phantastischen (2017). Szymańska, Eliza, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Philologie (Lehrstuhl für Literatur und Kultur Deutschlands) an der Universität Danzig. Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind Gegenwartliteratur (insbesondere Literatur der polnischen MigrantenInnen in Deutschland), Rezeption der deutschsprachigen Dramatik in Polen, Bühnenadaptionen der deutschsprachigen Literatur in Polen, die deutsch-polnischen Beziehungen im Drama und Theater, interkulturelles Theater. Ausgewählte aktuelle Publikationen: Bild – Reflexion – Dialog. Interkulturelle Perspektiven in der Literatur und im Theater (in Zusammenarbeit mit Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk und Anastasia Telaak). Wydawnictwo Uniwersytetu Gdańskiego. Gdańsk 2014; Ort der Vermittlung, Ort der Zerstörung. Zur Bedeutung der Grenze in Andrzej Stasiuks Theatertexten Noc [Die Nacht] und Czekając na Turka [Warten auf den Türken]. In: Zeitschrift für Slawistik Jahrgang 63 (2018), Heft 3, S. 489-506; Gedächtnistopographien im Grenzraum. Pommern und Rheinland als trilaterale Kulturräume (in Zusammenarbeit mit Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk, Gertrude Cepl-Kaufmann und Jasmin Grande). Osnabrück 2019 (im Erscheinen). Tahoun, Riham, Ass. Prof. Dr., Assistenzprofessorin für Neuere Deutsche Literatur an der Germanistischen Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Helwan in Kairo, Ägypten; Aus- und Fortbilderin/Online-Tutorin im DaF-Bereich und Dolmetscherin. Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind: Gegenwartsliteratur unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten, Literatur

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und Emotionen, komparatistische Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik. Ausgewählte aktuelle Publikationen: Interdiskursive und intertextuelle Verflechtungen in Navid Kermanis Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundungen. (Beitrag auf der GIG Tagung, Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt: Interkulturalität(en) weltweit in Ústí nad Labem und Prag 2016, in Druck); Spracherinnerung und Sprachreflexion in der Migrationsliteratur. Ein literaturdidaktisches Modell. In: Deutsch als Fremdsprache. Zeitschrift zur Theorie und Praxis des Faches Deutsch als Fremdsprache, Heft 2 (2015), S.67-76; Begegnungen zwischen Orient und Okzident – Inaam Kachachis Die amerikanische Enkelin (2008) und Mariam Kühsel-Hussainis Gott im Reiskorn (2010). In: Ernest W. B. Hess-Lüttich/Yoshito Takahashi (Hg.): Orient im Okzident – Okzident im Orient. West-östliche Begegnungen in Sprache und Kultur, Literatur und Wissenschaft. Frankfurt am Main 2015, S. 317-337. Theele, Ivo, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sprache, Literatur und Medien an der Europa-Universität Flensburg. Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind Gegenwartsliteratur (insbesondere zu Flucht und Exil), Kinder- und Jugendliteratur und Literaturdidaktik. Ausgewählte aktuelle Publikationen: Unlösbare Verbindung. Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Flüchtling und Fluchthelfer in der Gegenwartsliteratur. In: Burcu Dogramaci/Elizabeth Otto (Hg.): Passagen des Exils. Jahrbuch für Exilforschung. Bd. 35, München 2017, S. 286-298; Das Unsagbare der Flucht zur Sprache bringen. Uticha Marmons Mein Freund Salim. In: Dieter Wrobel/Jana Mikota (Hg.): Flucht-Literatur. Texte für den Unterricht. Bd. 1. Hohengehren 2017, S. 93-100; ›Warteraum‹ Exil. Raum als Narrativ eines Krisenzustandes. In: Daniel Kazmaier/Julia Kerscher/ Xenia Wotschal (Hg.): Warten als Kulturmuster, Würzburg 2015, S. 113-129.

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart., Klebebindung 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

Michael Basseler

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Literaturwissenschaft Rebecca Haar

Simulation und virtuelle Welten Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne Februar 2019, 388 S., kart., Klebebindung 44,99 € (DE), 978-3-8376-4555-2 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4555-6

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Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9. Jahrgang, 2018, Heft 2: Interkulturelle Mediävistik Januar 2019, 240 S., kart., Klebebindung 12,80 € (DE), 978-3-8376-4458-6 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4458-0

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