Gesprächsspiele & Ideenmagazin: Heinrich von Kleist und die Briefkultur um 1800 9783412215446, 9783412209322

143 83 17MB

German Pages [400] Year 2013

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Gesprächsspiele & Ideenmagazin: Heinrich von Kleist und die Briefkultur um 1800
 9783412215446, 9783412209322

Citation preview

GesprächsSpiele & Ideenmagazine Heinrich von Kleist und die Briefkultur um 1800

herausgegeben von Ingo Breuer Katarzyna Jaśtal Paweł Zarychta

2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Die Veröffentlichung dieses Bandes wurde gefördert durch

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über   http://dnb.d-nb.de  abrufbar.

Umschlagabbildung: Brief Heinrich von Kleists an Ulrike von Kleist vom 27.7.1804 (Biblioteka Jagiellońska, Krakau, Slg. Autographa, Kleist; früher Preußische Staatsbibliothek), Kuvert seines Briefs an Wilhelmine von Zenge vom 29.11.1800 (s.o., Leihgabe Ernst von Schönfeldts), Hermann Sagerts Kleist-Porträt, gestochen nach einem Miniaturgemälde von Peter Friedel, 1848 (s.o., Slg. Varnhagen). Mit freundlicher Genehmigung der Biblioteka Jagiellońska in Krakau.

© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20932-2

INHALT Siglen .......................................................................................................................7 Danksagung ............................................................................................................8 Zdzisław Pietrzyk: Grusswort. zur Eröffnung der Ausstellung »Heinrich von Kleist und die Briefkultur seiner Zeit« in der Biblioteka Jagiellońska, Krakau 28.9.–28.10.2012 ...................................... 9 Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal, Paweł Zarychta: Einleitung. Heinrich von Kleist und die Briefkultur um 1800 ..................................11 Maria Kłańska: Kleist in Krakau. Rezeption in Wissenschaft, Literatur und auf dem Theater....................................................................27 Monika Jaglarz: Die Autographen Heinrich von Kleists in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau ................................................................49 Klaus Müller-Salget: Probleme der Edition und der Kommentierung von Kleists Briefen........................................................................................55 Caroline Socha: Kritische Briefausgaben als editorische Herausforderung............................................................................................69 Barbara Gribnitz: »Meine theuerste Ulrike«. Heinrich von Kleist an Ulrike von Kleist. Spuren ihrer Briefbeziehung .................................85 Anne Fleig: Vertrauensbildung? Heinrich von Kleists Briefe an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge .............................................. 105 Katarzyna Jaśtal: »Ich kenne die Masse, die ich vor mir habe …«. Zur Pädagogik in Kleists Brautbriefen.................................................... 117 Nadja Müller: Politik, Selbstsorge und Gender. Heinrich von Kleist in seinen Brautbriefen................................................................................ 131 Anna Busch: Verlegerbriefe. Heinrich von Kleist und die Bedingungen der Gattung.................................................................................................. 143 Ingo Breuer: Reisebriefe und Gartenkünste. Vorüberlegungen zu Heinrich von Kleists »Ideenmagazin« ..................................................... 157

6

Inka Kording: »Wie die Mäuse, die man aus Apfelkernen scheidet«. Kleists Rezeption von Christoph Martin Wielands Gandalin oder Liebe um Liebe........................................................................................ 183 Anna Castelli: Fiktive Briefe in den Berliner Abendblättern. Kleist, die »Zuschrift eines Predigers« und die Quinen-Lotterie ....... 197 Leonhard Herrmann: Sprechen von den Grenzen der Sprache. Zur Funktion von Briefen im Erzählwerk Heinrich von Kleists ...... 207 Marie Isabel Schlinzig: Heinrich von Kleists und Henriette Vogels Abschiedsbriefe im Spiegel der Konventionen letzten Schreibens um 1800........................................................................................................ 221 Martin Roussel: Kleists Briefe und Tod........................................................ 237 Ursula Kiermeier: Die dunkle Süße des Todes. Heinrich von Kleist und Henriette Vogel als romantische Freitod-Ikonen bei Stefan Chwin......................................................................................... 261 Jadwiga Kita-Huber: »Im ewigen Dakapo der Zeit«. Jean Pauls Briefwechsel mit Emilie von Berlepsch als Beitrag zur Liebesbriefkultur um 1800 ........................................................................ 273 Hans Esselborn: Jean Pauls frühe Briefe an Verleger. Eine Alternative zum empfindsamen Briefdiskurs .............................. 287 Antje Arnold: »Original-Geschichte« und »Buch des Andenkens«. Rahel Levin Varnhagens Briefe................................................................ 297 Paweł Zarychta: »Ich würde anwesend schweigen«. Zur Poetik des Trauerbriefs nach 1800 am Beispiel der Briefe Rahel und Karl August Varnhagens an Rosa Maria und David Assing................ 305 Yvonne Delhey: »Auch die wahrsten Briefe sind meiner Ansicht nach nur Leichen«. Die Briefe der Karoline von Günderrode ........... 323 Verzeichnis der Exponate / Abbildungsverzeichnis. »Heinrich von Kleist und die Briefkultur seiner Zeit«. Ausstellung in der Biblioteka Jagiellońska, Krakau 28.9.–28.10.2012 ...................... 333 Bildtafeln............................................................................................................ 337 Ingo Breuer: Bilder einer Ausstellung. Erläuterungen zu den Bildtafeln ...................................................................................................... 369 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter................................................................... 389

7

Siglen Ausgaben BKA DKV

ES H MA

MP

SW

St

Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. Brandenburger (1988-1991: Berliner) Ausgabe. Hg. von Roland Reuß u. Peter Staengle. Basel, Frankfurt a.M. 1988-2010 (Briefe: Band IV/1-3). – Zitiert mit Abteilung/Band, Seitenzahl, z.B. »BKA II/1, 120«. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in 4 Bänden. Hg. von Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1987-1997 (Briefe in Bd. 4). Band 3 (Erzählungen) auch als Taschenbuch ebd. 2005. – Zitiert mit Band- u. Seitenangabe, z.B. »DKV IV, 60«. H. von Kleists Werke. Im Verein mit Georg Minde-Pouet und Reinhold Steig hg. von Erich Schmidt. 5 Bände, Leipzig und Wien 1904−1905/6 (Briefe in Bd. 5). Zitiert mit Band- und Seitenangabe, z.B. »ES V, 478«. Heinrich von Kleist: Sämtliche Briefe. Hg. von Dieter Heimböckel, Stuttgart: Reclam, 1999, 2. Auflage 2011. Zitiert mit Seitenangabe, z.B. »H 123«. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Auf der Grundlage der Brandenburger Ausgabe hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. 3 Bände. München: Hanser 2010 (Briefe in Bd. 2). Taschenbuchausgabe: München: dtv, 2011. – Zitiert mit Band- und Seitenangabe, z.B. »MA II, 871«. Kleists Werke. Zweite Auflage. Nach der von Erich Schmidt, Reinhold Steig und Georg Minde-Pouet besorgten Ausgabe neu durchgesehen und erweitert von Georg Minde-Pouet. 7 Bände, Leipzig 1936−1938 (Briefe in den Bänden 1 und 2). Zitiert mit Band- und Seitenangabe, z.B. »MP I, 62«. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke in 2 Bänden. Hg. von Helmut Sembdner München: Hanser 1952 u.ö. (Briefe in Bd. 2). Letzte Ausgabe: 9., erweiterte und revidierte Auflage in 2 Bänden München: Hanser, 1993. Div. Taschenbuchausgaben bei DTV (z.T. in einem Band mit separater Paginierung der beiden enthaltenen Bände). – Zitiert mit Band- und Seitenzahl, z.B. »SW II, 123«. Heinrich von Kleist: Werke und Briefe in 4 Bänden. Hg. von Siegfried Streller in Zusammenarbeit mit Peter Goldammer und Wolfgang Barthel, Anita Golz, Rudolf Loch. Berlin, Weimar: Aufbau, 1978, 2. Auflage 1984 (Briefe in Bd. 4). Taschenbuchausgabe: Frankfurt a.M.: Insel, 1986. Zit. mit Band- u. Seitenangabe z.B. »St IV, 317«.

Dokumente Lebensspuren – Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Hg. von Helmut Sembdner. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M. 1977 u.ö. Taschenbuchausgabe München: DTV, 1996. – Zitiert mit Dokumentnummer; z.B. »Lebensspuren Nr. 462«. Nachruhm – Heinrich von Kleists Nachruhm. Hg. von Helmut Sembdner. Erweiterte Neuausgabe, München 1996 u.ö. Taschenbuchausgabe München: DTV, 1997. – Zitiert mit Dokumentnummer; z.B. »Nachruhm Nr. 49«.

Institutionen BJK PSB

Biblioteka Jagiellońska Kraków Preußische Staatsbibliothek Berlin

8

Danksagung Das Projekt ist aus der langjährigen und fruchtbaren Partnerschaft der Germanistischen Institute der Universitäten Köln und Krakau entstanden. Beiden Instituten danken wir daher für die Unterstützung des Projekts. Dem Institut für Germanische Philologie der Jagiellonen-Universität Krakau danken wir dabei zusätzlich für finanzielle Förderung des Vorhabens – in besonderer Weise dessen Direktorin Prof. Dr. Maria Kłańska für ihr solidarisches, persönliches Engagement. Prof. Dr. Zdzisław Pietrzyk, dem Leiter der Biblioteka Jagiellońska, danken wir für die enthusiastische Unterstützung des Projekts auf sachlicher, organisatorischer und materieller Ebene. Dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Frau Dr. Monika Jaglarz, Mag. Małgorzata Kusak und Mag. Mariusz Paluch gebührt ein herzlicher Dank für ihren unermüdlichen Einsatz bei den Vorbereitungen der Ausstellung. Last but not least danken wir Frau Stanisława Cieślawska-Wójcik für die verwaltungsmäßige Unterstützung des Projekts. Die redaktionelle Betreuung des vorliegenden Bands erfolgte in Köln; die Einrichtung des Textteils übernahm Ingo Breuer; seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Greta Gilles, Maximilian Mengeringhaus und Helene Wczesniak danken wir herzlich für ihre wertvolle Unterstützung. Für die Gewährung der Abdruckgenehmigung des Bildmaterials danken wir der Jagiellonen-Bibliothek und den übrigen am jeweiligen Ort genannten Rechte-Inhabern (Details sind im Erläuterungsteil bzw. im Verzeichnis der Ausstellungsexponate vermerkt). Einen besonderen Dank richten wir an unsere Förderer und Sponsoren, die neben der Jagiellonen-Universität Krakau, der Universität zu Köln und speziell dem Institut für Germanische Philologie der Jagiellonen-Universität dem Projekt der Ausstellung und Tagung, dem Katalogheft und dieser Publikation die finanziellen Grundlagen gewährten: der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung aus Frankfurt an der Oder, den KölnAlumni – Freunde und Förderer der Universität zu Köln e.V. sowie der Dorothee-Wilms-Stiftung in Köln.

Zdzisław Pietrzyk

Grusswort zur Eröffnung der Ausstellung »Heinrich von Kleist und die Briefkultur seiner Zeit« in der Biblioteka Jagiellońska, Krakau 28.9.–28.10.2012

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren, die Kunst, Briefe zu schreiben – diese Fähigkeit, die in den Zeiten der elektronischen Post in Vergessenheit gerät – erlebte ihre Blüte im 18. und 19. Jahrhundert. Von Rang und Stellung dieser Ausdrucksform zeugt auch die Popularität der Briefromane. Sorgfältig geschriebene, aufmerksam gelesene und vorsichtig aufbewahrte Briefe sind heute eine unerschöpfliche Quelle des Wissens für Historiker und Literaturwissenschaftler. BriefAutographen sind aber auch für nicht professionelle Leser, nicht nur aus ästhetischen Gründen, von großem Interesse. Die Ausstellung zum Thema »Heinrich von Kleist und die Briefkultur seiner Zeit« wird sicherlich die Aufmerksamkeit sowohl der einen als auch der anderen Gruppe auf sich ziehen. Zum Kleist-Jahr, aus dem Anlass des 200. Jahrestages des Freitodes des Autors, wird nämlich eine breite Auswahl der Briefmanuskripte Heinrich von Kleists präsentiert, die aus der Sammlung Autographen bzw. Varnhagen der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek Berlin stammen und gegenwärtig in der Biblioteka Jagiellońska aufbewahrt werden. Besonders interessant und bewegend ist der bei dieser Gelegenheit ausgestellte Abschiedsbrief Kleists an seine Schwester Ulrike, der am Morgen seines Freitodes geschrieben wurde. Neben der Möglichkeit, den Briefwechsel Kleists zu sehen, bekommen die Leserinnen und Leser auch eine seltene Gelegenheit, eine Auswahl von Handschriften wichtiger Vertreter der deutschsprachigen, französischen, englischen, russischen und selbstverständlich vor allem der polnischen Literatur und Kultur zu bewundern. Mit dieser Ausstellung kann die Biblioteka Jagiellońska, diesmal in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit dem Institut für Germanische Philologie der Jagiellonen-Universität Krakau und dem Institut für Deutsche

10

Zdzisław Pietrzyk

Sprache und Literatur I der Universität zu Köln, ein weiteres Mal Handschriften aus der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek Berlin sowie ihre eigenen Bestände als Beispiele für das Weltkulturerbe präsentieren. Mit dieser Darstellung von Briefhandschriften der bedeutendsten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts wird nicht nur eine Übersicht über die wertvollen in der Biblioteka Jagiellońska aufbewahrten Bestände geliefert, sondern es wird auch die gegenwärtige und die kommende Generation daran erinnern, wie wichtig die Aufgabe ist, diese Schätze der polnischen und internationalen Literatur zu pflegen.

Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal, Paweł Zarychta

Einleitung Heinrich von Kleist und die Briefkultur um 1800 1

Heinrich von Kleist (1777-1811) ist ein Autor zwischen den Epochen und jenseits der Kulturen. In ihm verbinden sich Elemente der Aufklärung, Klassik und Romantik, französischer und englischer Kulturtraditionen, Republikanismus und Patriotismus. Er ist Autor von Dramen und Erzählungen, Gedichten und Essays, Herausgeber eines Kunstjournals und einer Tageszeitung. Er ist Aristokrat und Bürgerlicher, Soldat und Schriftsteller, Projektemacher und Nomade. Und er gilt als einer der bedeutendsten Ahnherren der literarischen Moderne, weil er die literarischen Muster seiner Zeit gekonnt variiert und überbietet und weil er die Wahrnehmungsund Sprachkrise zum zentralen Moment seiner Werke werden lässt. Kleist ist ein Autor, der in geradezu idealtypischer Weise die Medienund Kommunikationsbedingungen seiner Zeit verarbeitet und reflektiert: Seine Briefe haben nicht nur Bedeutung als Lebenszeugnisse, sondern stellen auch eine überaus spannende Auseinandersetzung mit der Briefkultur um 1800, mit ihrer Vorgeschichte und ihren Kontexten dar. Hier finden sich konventionelle Geschäftsbriefe, Freundschaftskorrespondenz und Liebesbriefe. Sie sind Bestandteile eines rhetorischen und literarischen »Ideenmagazins«, einer mal adligen und mal bürgerlichen Konversationskultur, Zeugnisse von intimer Kommunikation und kalkulierter Selbst-Inszenierung, von Authentizität und Ästhetisierung. Kleists Briefe stehen damit im vielfältigen Zusammenhang mit der Briefkultur um 1800, an deren Veränderungen sich der »Strukturwandel der Öffentlichkeit« (Jürgen Habermas) ablesen lässt.

1

Bei diesem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Fassung unseres einführenden Essays mit Auswahlbibliographie, der in deutscher und polnischer Sprache im Katalog der Krakauer Ausstellung »Heinrich von Kleist und die Briefkultur um 1800« abgedruckt wurde (Hg. von Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal, Paweł Zarychta. Krakau 2011, S. 13-30).

12

Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal, Paweł Zarychta

Europäische Briefkultur bis zur Romantik Das 18. Jahrhundert, in das sich Kleists Korrespondenz einschreibt, bringt gravierende Wandlungen der bisherigen Briefkulturen in ganz Europa. Die nationalsprachigen Briefe, die sich zwischen Spätmittelalter und Renaissance gegenüber den lateinischen durchzusetzen beginnen, waren nicht Ausdruck subjektiven Empfindens, sondern folgten weitgehend höfischen und rhetorischen Konventionen. Eine wichtige Rolle als Regelwerke spielten hierbei nationalsprachige Sekretariatsbücher und »Briefsteller«, z.B. Georg Philipp Harsdörffers Teutscher Secretarius (1655), Caspar Stielers Secretarius (1679), Christian Weises Curiöse Gedanken von Deutschen Briefen (1691) und Benjamin Neukirchs Anweisung zu deutschen Briefen (1709). Selbst die ›privaten‹ Briefe bleiben noch lange strengen Konventionen, einer schematisch anmutenden Rhetorik und komplizierten Titulaturen verhaftet, was sich z.B. an den von Martin Opitz überlieferten Briefen ablesen lässt. Diese Regelhaftigkeit spiegelt nicht nur ein hierarchisches Denken im Rahmen festgefügter religiöser und politischer Ordnungssysteme wider, sondern auch eine Selbstbeherrschung und Selbstzivilisierung mittels Naturund Affektbeherrschung. In ganz Europa wurde der Brief zum Bestandteil einer verfeinerten höfischen Konversationskultur und damit auch beliebter Gegenstand der barocken und galanten Romane, die wiederum Modelle für höfisch-höfliches Verhalten und Konversationsideale vermittelten. Wesentliche Vorbilder kamen aus Spanien wie Antonio de Guevara und Frankreich wie Jean Puget de la Serre, der sowohl Briefsteller als auch Romane verfasste. Dies gilt dann auch für August Bohse, der unter dem Pseudonym Talander sowohl galante Romane als auch Briefsteller wie Teutsche Rede-Kunst und Briefverfassung und Gründliche Einleitung zu Teutschen Briefen (beide 1700) verfasste. Doch nicht nur, wo Autoren in beiden Genres produktiv sind, finden sich solche Interferenzen zwischen literarischen Werken und Briefpoetik: Die gesamte Romanliteratur der Frühen Neuzeit ist angefüllt mit positiven wie negativen Brief-Beispielen (so dass sie auch die Funktion von MusterSammlungen erhielten) und mit Reflexionen über Kommunikationsmedien und Konversationsideale. Literatur wird damit zu einem wesentlichen Medium für die Vermittlung von Verhaltens- und Konversationsidealen, was nicht zuletzt für die zahllosen galanten Romane um 1700 gilt, sondern auch bereits zuvor in Komödien und Satiren mit ihrem Lehrprogramm ex negativo (z.B. einer Erziehung durch Verlachen). Gelenkstelle dieser höchst unterschiedlichen Bereiche dieses Zivilisationsprozesses qua Kultur ist die Rhetorik als Bestandteil der artes liberales.

Einleitung

13

Mit dem Zerfall der alten Ordnungen – der höfischen Repräsentationskultur, der Rhetorizität der Wissens- und Verhaltenskultur usw. – änderten sich auch die Bedingungen für das Zusammenspiel der Künste und Wissenskulturen – und damit auch für die Rolle des Briefs. Die Briefe lösen sich zunehmend von den rhetorischen Regelwerken der Briefsteller: Vor allem im Frankreich des 17. Jahrhunderts werden Aufbau und Stil einfacher und natürlicher, die Briefe werden zunehmend Ausdruck subjektiven Empfindens, doch wird diese Entwicklung ab der galanten Epoche um 1700 auch in der deutschsprachigen Kultur nachweisbar. Im 18. Jahrhundert wenden sich die Aufklärer im Hinblick auf den Briefstil dezidiert gegen die frühere Orientierung an rhetorischen Modellen, die als Ausdruck einer höfischen Kultur der Verstellung angesehen wurde. Christian Fürchtegott Gellert hält sich in seinem bald in viele europäische Sprachen übersetzten Buch Briefe, nebst einer Praktischen Anleitung von dem guten Geschmacke in Briefen (1751) an Briefsammlungen von französischen Autorinnen wie Madame de Sévigné und Ninon de Lenclos. Er sieht den Brief als natürliche Fortsetzung des Gesprächs, und er fordert einen einfachen und individuellen Stil, der nicht einer höfischen Etikette unterliegt, sondern dem ›authentischen‹ Ich Ausdruck verleihen soll, das im 18. Jahrhundert Englands, Frankreichs und Deutschlands auch sozial gedacht ist: als das sich von adliger Herrschaft emanzipierende bürgerliche Subjekt. Entsprechend wird Karl Philipp Moritz in der Vorrede seiner Anleitung zum Briefschreiben (Berlin 1783, S. VX [!]) fordern, dass der Brief »ein getreues Gemählde der mündlichen Rede seyn« solle und jedes Regelwerk »höchst unnütz und thöricht« sei. Entsprechend plädiert er auch für die Abschaffung des v.a. in Deutschland pompösen Titelwesens, das nur die »kriechende Unterwürfigkeit« gegenüber den »Hochgebohrnen und Durchlauchtigten Tyrannen« dokumentierte. Allerdings muss der Rhetorik der Anti-Rhetorik, die im 18. Jahrhundert und vor allem im Sturm und Drang grassiert, und dem Klischee einer sich im Brief manifestierenden authentischen Subjektivität entgegen gehalten werden, dass noch Gellert betont, der Brief sei »kein ordentliches Gespräch«, sondern »vertritt […] die Stelle eines mündlichen Gesprächs«. Wenn sich der Brief einerseits »der Art zu denken und zu reden, die in Gesprächen herrscht, mehr nähern [muss], als einer sorgfältigen und geputzten Schreibart«, so dürfe man andererseits z.B. vor einem »großen Herren […] nicht ganz so reden, als wenn [man] vor ihm stünde« (C. F. Gellerts sämmtliche Schriften. Vierter Theil. Leipzig 1784, S. 4). Insgesamt ist die Gesprächskultur bereits in der Frühen Neuzeit Muster einer verfeinerten Kultur: Ebenso wie der Umschlag vom gesungenen Lied zur geschriebenen Lyrik und von der erzählten Geschichte zur Novellensammlung entscheidende Innovationen der Schriftkultur darstel-

14

Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal, Paweł Zarychta

len, die ganz wesentlich auf einer Inszenierung von Mündlichkeit basieren, so werden im 17. Jahrhundert Charles Sorels Maison de Ieux (1642) und Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspiele (1644-57) zu voluminösen Manifesten für eine Literarisierung der Gesprächskultur. Die empfindsame Idee des Briefs als virtuellem Gespräch hat hier vielleicht ihren Ursprung, doch findet erst im 18. Jahrhundert eine Lizensierung der Subjektivität statt, die in der Gesprächs- und Briefkultur ihren vielleicht deutlichsten Ausdruck finden. Gellert folgte nicht nur in seinem Briefsteller den neuesten Tendenzen, sondern auch literarisch, indem er mit Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1748) den ersten deutschsprachigen Briefroman verfasste, dem 1771 Sophie von La Roches Das Fräulein von Sternheim und 1774 Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers folgten. Diese Romane stehen im Kontext der deutschen Empfindsamkeit, welche den Brief als eine Form der Selbsterkundung pflegt, und machen für die deutschsprachige Literatur den Brief zum literarischen Genre. Die Gattung des Briefromans muss jedoch als englische Erfindung gelten: Am Anfang stehen Aphra Behns LoveLetters between a Noble-Man and his Sister (1684-87) und epochemachend Samuel Richardsons Pamela, or Virtue Rewarded (1740) und Clarissa (1748), die Henry Fielding sofort mit seinen Briefromanen Shamela (1741) und Joseph Andrews (1742) parodierte und der 1749 John Cleland mit Fanny Hill eine erotische Variante hinzufügte. Dennoch wirkte die Möglichkeit einer kunstvollen Darstellung psychologischer Vorgänge mittels Briefen ebenso auf Jean-Jacques Rousseaus Julie ou La nouvelle Heloise (1761) und Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses (1782). Um 1800 folgten in Deutschland zahlreiche weitere Briefromane, z.B. Ludwig Tiecks William Lovell (179396), Friedrich Hölderlins Hyperion (1797/99), Christoph Martin Wielands Menander und Glycerion (1803) und Krates und Hipparchia (1804) – und nicht zu vergessen der Bestseller Klara du Plessis und Klairant. Eine Familiengeschichte Französischer Emigrierter (1795); auch in Erzählungen der Zeit wie E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann wird diese Form aufgegriffen. Die Form des Briefes wird seit der Frühen Neuzeit nicht nur für die geschäftliche und private Kommunikation sowie für Literarisierungen der intimen Kommunikation verwendet, sondern auch für verschiedenartige religiöse und philosophische Diskussionen, was etwa die ausgedehnten Briefwechsel und »Sendbriefe« von Reformatoren wie Luther, aber auch die anonym veröffentlichten Dunkelmännerbriefe (1515/17) belegen, für die Schilderungen von natur- und kulturkundlichen Erkenntnissen, später auch für zum Teil massive Gesellschaftskritik. Sie findet sich z.B. in Montesquieus Lettres Persanes (1721), Béat Louis de Muralt Lettres sur les Anglais et les

15

Einleitung

Français (1725) und Lady Mary Wortley Mantagus Letters from the East (1763). Zu den weiteren zahllosen teils fiktiven, teils authentischen Reiseberichten in Briefform gehören u.a. Georg Christoph Lichtenbergs Briefe aus England (1776/78), Karl Philipp Moritz’ Reisen eines Deutschen in England bzw. Reisen eines Deutschen in Italien (1783 bzw. 1792/93), Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein (1791-94), Johann Wolfgang Goethes Briefe aus der Schweiz (1808) und Italienische Reise (v.a. 1. Teil, 1816/17). Die Aufklärung setzt auch die seit der Antike geläufige Tradition fort, philosophische, literarische und andere gelehrte Diskurse in Form von Briefen zu präsentieren, z.B. Gotthold Ephraim Lessings Briefwechsel über das Trauerspiel (mit Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn, 1756/57) und Briefe, die neueste Literatur betreffend (1759-65) sowie Johann Gottfried Herders Briefe zur Beförderung der Humanität (1793-97). Eine Hochkonjunktur erlebt der Brief im Zeitalter der Romantik: Er wird zum idealen Ort, ästhetische und philosophische Fragen zu diskutieren, Bekenntnisse zu formulieren und Kreativität zu erproben. Speziell der Liebesbrief wird nicht nur als Mittel zur Mitteilung von Gefühlen, sondern auch als poetisches Genre begriffen. Insbesondere wird er zu einem wesentlichen Ort weiblichen Schreibens. Zu denken ist an Bettine von Arnim, die ihre Korrespondenz mit Goethe ihrem Roman Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (1835) zu Grunde legte, Caroline Schelling (bzw. Schlegel, 17631809), Karoline von Günderrode (1780-1806) und besonders Rahel Varnhagen von Ense (1771-1833), die etwa 6000 Briefe hinterlassen hat.

Der Briefautor Heinrich von Kleist Geboren wurde der innerlich zerrissene und widersprüchliche Autor Kleist am 10. (oder 18.) Oktober 1777 in eine Offiziersfamilie von altem preußischem Adel, jedoch in einen wenig privilegierten Familienzweig. Vier Jahre nach dem frühen Tod des Vaters 1788 und ein Jahr vor dem Tod der Mutter 1793 wird er in das renommierte Regiment Garde in Potsdam aufgenommen, eine königsnahe Elitetruppe, mit der er auch an den Kriegen gegen das revolutionäre Frankreich teilnimmt. Statt jedoch seine Karriere beim Militär fortzusetzen, nimmt er 1799 Abschied, da der dort geforderte Untertanengeist seinem aufklärerischen Gedankengut widerspricht; zeitweise wird er sogar ›bürgerlich‹ mit Heinrich Kleist unterzeichnen, also auf das ›von‹ verzichten. Die Zahl der Optionen sind für einen jungen Mann seines Standes begrenzt: Ihm bleiben die Annahme eines öffentlichen Amtes, ein Dasein als Gelehrter oder Dichter. Tatsächlich wird er mehrfach, aber stets nur für kurze Zeit in der staatlichen Verwaltung arbeiten. 1800/01 studiert er in

16

Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal, Paweł Zarychta

Frankfurt an der Oder Physik, Mathematik, Naturrecht, Kulturgeschichte und Kameralwissenschaften und überlegt nun, ein Gelehrter zu werden. Zu dieser Zeit kommt er in Kontakt mit der Offiziersfamilie von Zenge und wird ein Hauslehrer der Töchter. Er verliebt sich in Wilhelmine und sie verloben sich heimlich, können jedoch nicht heiraten, da Kleist noch nicht in der Lage ist, als Ernährer einer Familie zu fungieren. Er bricht das Studium bereits nach etwa einem Jahr ab und wird ab jetzt fast sein restliches Leben auf Reisen sein. Am Anfang steht 1800 eine von Geheimnissen umrankte Reise nach Würzburg; 1801 begibt er sich auf eine Reise nach Paris und in die Schweiz, die zunächst den Charakter einer Bildungsreise trägt, da bedeutende Gelehrte und Dichter besucht werden. Ein Gelehrtendasein hatte er zu dieser Zeit jedoch bereits verworfen; eine Wahrnehmungs- und Erkenntniskrise, die so genannte ›Kant-Krise‹ bildete bereits den Anlass dieser Reise. Er beschließt, sich im schweizerischen Thun ein landwirtschaftliches Anwesen zu kaufen, wahrscheinlich um dort als Autor von (populär-)wissenschaftlichen oder literarischen Werken zu leben, was durch die instabile politische Lage verhindert wird. Trotzdem beginnt hier seine literarische Laufbahn; es entstehen erste Werke und Entwürfe, unter anderem für seine berühmte Komödie Der zerbrochne Krug. Er wird 1802/03 beim Weimarer Hofdichter Christoph Martin Wieland zu Gast sein, der ihn unterstützt, und von dort 1803 wieder in die Schweiz reisen, dann wieder über Paris, Mainz und Weimar zurück nach Preußen, wo er einen neuen Start in der Verwaltung versuchen wird. 1805/06 arbeitet er in Königsberg im Finanzdepartment; die preußische Neutralitätspolitik fordert hohen Tribut: Napoleons Truppen marschieren nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt in Berlin ein, der preußische Hof flieht nach Königsberg. Kleist wird auf einer Reise nach Berlin als Spion verhaftet und für fast ein halbes Jahr in Frankreich in der Festung Fort de Joux und in Châlons-sur-Marne inhaftiert. In den Jahren 1807/08 beginnen seine Zeitschriftenprojekte, zunächst in Dresden die opulent gemachte, aber aus finanziellen Gründen nur kurzlebige Kunst- und Kulturzeitschrift Phöbus, in der Kleist auch eigene Werke abdruckt. Darauf folgt das Projekt der patriotischen Zeitschrift Germania in Wien, das durch den Sieg der Napoleonischen Truppen über Österreich zunichte gemacht wird; ebenso können seine patriotischen Gedichte und Dramen nicht gedruckt werden. Allerdings werden seine literarischen Werke ab 1807 nun regelmäßiger publiziert (z.B. Amphitryon und Penthesilea) bzw. aufgeführt, so Der zerbrochne Krug (erfolglos) in Weimar und Das Käthchen von Heilbronn in Wien. 1810/11 bringt Kleist in Berlin nicht nur zwei Bände seiner Erzählungen heraus, sondern auch die Berliner Abendblätter, eine der ersten Tageszeitungen Deutschlands, die nach Konflikten mit der

Einleitung

17

Zensur bald eingestellt werden musste. Er bemüht sich nicht ganz erfolglos wieder um Posten in der preußischen Verwaltung und beim Militär. Aus bis heute nicht völlig geklärten Gründen begeht er am 21. November 1811 mit der krebskranken Freundin Henriette Vogel Selbstmord, indem Kleist zuerst sie und dann sich selbst erschießt. Sie hinterlassen die wahrscheinlich berühmtesten Abschiedsbriefe der deutschen Literatur. Zahlreiche Briefe von (und an) Heinrich von Kleist sind verschollen bzw. vernichtet, so dass viele Aspekte von Kleists Leben und Denken noch unbekannt sind. Dennoch findet sich aus fast allen Lebensstationen Korrespondenz, die wenigstens schemenhaft einen der bedeutendsten und rätselhaftesten deutschsprachigen Schriftsteller um 1800 erkennen lässt. Die wichtigsten Briefpartner waren Frauen: Besonders zahlreich erhalten sind die Briefe an die enge Freundin und Halbschwester Ulrike – und zwar von 1795 bis 1811, also aus fast allen Lebensphasen – und an seine zeitweilige Verlobte Wilhelmine von Zenge aus den Jahren 1800/1801. Diese Konvolute machen den Großteil der in Krakau erhaltenen Briefe aus. Wichtige Briefkontakte bestanden z.B. zu seiner Tante Auguste Helene von Massow, an die der früheste erhaltene Brief Kleists, an die beiden Bekannten aus seiner Potsdamer Militärzeit Adolfine von Werdeck und Marie von Kleist – die letzte unterstützte Kleist zeitweise finanziell. Aus dieser Zeit stammen auch noch Kontakte zu männlichen Briefpartnern wie den später hohen Offizieren August Rühle von Lilienstern und Ernst von Pfuel. Mit dem zweiten bestand eventuell eine kurze homoerotische Beziehung. So lassen sich an den Briefen viele wesentliche Lebensstationen des Autors nachverfolgen: Sie dokumentieren die Jugendjahre in der Armee und die folgenden Lebenspläne, die »Kant-Krise« und die Flucht nach Paris, die Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen, den Anfang als Dramenautor in der Schweiz und als Prosaautor in Königsberg, die Herausgabe eines Kunstjournals in Dresden und einer Tageszeitung in Berlin. Die Briefpartner dokumentieren nicht nur sich wandelnde persönliche Kontakte, sondern damit z.B. auch Stationen von Kleists literarischer Karriere: die dichterischen Anfänge in der Korrespondenz mit den Schriftstellern Ludwig von Brockes, Heinrich Zschokke und seinem Unterstützer Wieland, die Aufführung des Zerbrochnen Krugs, die zum Fiasko wurde, im Kontakt mit Goethe, der Regie geführt hatte – und ab der Dresdner Zeit die zunehmenden Kontakte zu romantischen Schriftstellern wie Friedrich Schlegel, Achim von Arnim, Friedrich de la Motte-Fouqué, Rahel Levin und ihrem Ehemann Karl August Varnhagen von Ense, außerdem zum Wiener Schriftsteller Heinrich Joseph Collin und zu bedeutenden Verlegern (Jo-

18

Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal, Paweł Zarychta

hann Friedrich Cotta, Georg Joachim Göschen, Georg Andreas Reimer und Julius Eduard Hitzig). Seine verschiedenen Versuche, beruflich z.B. in der staatlichen Verwaltung oder wieder beim Militär Fuß zu fassen, manifestieren sich ebenso in Briefen, etwa an die Finanzminister Karl August von Struensee und Karl August Freiherr von Hardenberg, an Wilhelm Prinz von Preußen und König Friedrich Wilhelm III. Kleist reiste viel und schrieb regelmäßig. Gerade in den Jahren 1800-1802 finden sich Städtebilder und Landschaftsbeschreibungen als Reisebilder in einem wörtlichen Sinne: Sie enthalten weniger neutrale Beschreibungen als literarische Reminiszenzen, Referenzen auf die aktuelle Gartenkunst und vor allem die Malerei, wenn er z.B. Landschaften im Stil von Gemälden Claude Lorrains beschreibt. Wie die Reisebriefe seit der Aufklärung zu einem wichtigen gelehrten und innovativen literarischen Genre geworden waren, macht Kleist seine Briefe nur zu Experimentierfeldern für eine mögliche Existenz zunächst als gelehrter Schriftsteller in populär-aufklärerischer Tradition, dann vielleicht auch als poetischer Dichter. Der Breite dieses hier nur unvollständig skizzierten Briefwechsels und der Unterschiedlichkeit von Adressaten und Schreibanlässen entspricht ein weites Spektrum von Briefsorten und -stilen: Neben Familienkorrespondenz, Freundschafts- und Liebesbriefen (bei denen, so Kleist an seine Verlobte am 19.9.1800, der »Postknecht des Kaisers« zum »Boten der Liebe« werde) stehen dienstliche Schreiben unterschiedlicher Art, Bitt- und Drohbriefe eines Autors in ständigen Finanznöten. Neben Briefen, für bei denen traditionelle Briefsteller noch ihre Gültigkeit als Regelwerk behalten, stehen Briefe im neueren Stil, die Kleist in Anlehnung an Gellert gegenüber der Verlobten als ›Plauderei‹ und »ununterbrochene Unterhaltung« bezeichnet (30.8./1.9. und 3./4.9.1800). Darin pflegt er einen mündlichen Stil (unvollständige Sätze, viele Gedankenstriche und fehlende Anrede, die u.a. ein ununterbrochenes Brief-Gespräch suggeriert) und eine Rhetorik der Aufrichtigkeit: »Ich wollte, ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen, und dir zuschicken«, schreibt er am 13./14. März 1803 an seine Halbschwester. Diesem Stilspektrum entspricht ein Materialspektrum: Es finden sich kleine Billets, kurze Briefe (die durch geschickte Faltung auch als Umschlag dienen) und ausufernde Briefe (z.T. mit Beilagen, in eigens gebastelten Umschlägen), zudem Papiersorten, Schreibfedern und Siegel unterschiedlicher Qualität, die Aufschlüsse über die Beziehung zu den Briefpartnern erlauben. Dies belegt, dass der neue Brief nach Gellert’schem Vorbild nicht die alten Formen einfach abgelöst hat, sondern zu einer Diversifizierung der epistolaren Kommunikation geführt hat – einem Neben- und zum Teil auch Durcheinander verschiedener

Einleitung

19

Brieftraditionen. Ebenso manifestiert sich der Brief dadurch als hybrides Genre, als potentielle Mischform zwischen fact und fiction, Imitation und Experiment, Rollenprosa und Ausdruck von Individualität, Rhetorik und Ästhetik – oder, wie Kleist selbst es am Schluss seines ersten uns überlieferten Briefs formulierte, ein »Mischmasch«. Damit bewegt sich der Brief zwischen den Extremen einer Monstrosität und einer Enzyklopädie. Ebenso wie Harsdörffer in seinen Frauenzimmer Gesprächspielen die Gesprächskultur zum Medium von Literatur- und umfassender Wissensvermittlung gemacht hatte, werden bei Kleist die Briefe als inszeniertes Gespräch (v.a. mit Wilhelmine von Zenge) zum Ideenmagazin und Experimentierfeld. Die Briefe Kleists informieren aber auch über Details aus dem Postwesen seiner Zeit. Kleist beschreibt in einem Brief vom 5. Januar 1808 an Ulrike, dass er einen Boten anmieten musste, um sich von ihr Geld zu leihen, da ihr Aufenthaltsort abseits der Poststrecken lag. Und er thematisiert Störungen und Zusammenbrüche des Postsystems durch den Krieg; die Unsicherheiten im Postverkehr veranlassen ihn im Briefwechsel mit seiner Verlobten zu tabellarischen Aufstellungen versandter und empfangener Briefe. Dabei haben v.a. die Reisebriefe an die Verlobte eine Doppelstruktur: Einerseits sind sie oft wie ein Tagebuch strukturiert (und dienen wohl auch als solches), andererseits bilden die Posttage und -zeiten entscheidende Zäsuren, an denen Briefe nicht immer nur freiwillig beendet, sondern oft auch abgebrochen werden – wenn nicht ungünstige Posttermine oder (angebliche) Störungen der Kommunikationswege sogar als Entschuldigung für ausgebliebene Briefe dienen. Die Nutzung der Postwege nimmt stetig zu, bleibt aber trotz recht stabiler Preise nach wie vor weitgehend den wohlhabenderen Kreisen vorbehalten. Dies gilt insbesondere für die ›Extra-Post‹ und andere Sonderdienste, die stets nicht nur luxuriöser Service für Besserverdienende darstellten, sondern auch und vor allem einen ökonomischen und politischen Bedarf nach schneller und zuverlässiger Kommunikation bedienten. Die Postkutschen dienen nicht nur der Beförderung von Briefen, sondern auch von Geld und Paketen. Zum Beispiel schickte Kleist einen Koffer von Frankfurt am Main nach Bern (Brief an Wilhelmine von Zenge vom 2.12.1801) und erhielt ein Paket mit Wäsche von der Familie (Brief an Ulrike von Kleist, 25.2.1795). Die großen Postwege sind stets auch Reisewege. Die weit verbreiteten »Post=Charten« und Reisebücher als Wegweiser und notwendiges Reiseutensil kannte auch Kleist (Brief an Wilhelmine von Zenge, 1.9.1800), der nicht nur offene und geschlossene Postkutschen, Mietpferde und die Extra-Post benutzte, sondern z.B. für seine Reise von Mainz nach Bonn

20

Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal, Paweł Zarychta

auch ein Postschiff (Brief an Wilhelmine von Zenge, 21.7.1801). Bereits Kleists Briefe dokumentieren ein zunehmend engmaschiges und effizientes Transportsystem für Briefe und Menschen, was nicht zuletzt durch die gesamteuropäischen Revolutions- und anti-napoleonischen Befreiungskriege gefördert wurde, während der die Geschwindigkeit der Kommunikation zu einer maßgeblichen Waffe wurde. Eine wesentliche Beschleunigung brachte der zu Beginn des 19. Jahrhunderts vielfach eingesetzte Semaphor, ein optisch-mechanischer Telegraph mit beweglichen Signalarmen zur Übertragung von – meist verschlüsselten – Botschaften, der zunächst in Frankreich v.a. für militärische Zwecke eingesetzt wurde: Bereits um 1800 verband das System Paris z.B. mit Brest und Dunkerque, Lille und Brüssel, Landau und Strasburg; bis 1810 wurde sie zu einer durchgängigen 1200 Kilometer langen Kommunikationslinie von Amsterdam über Paris bis Venedig ausgebaut, während z.B. Preußen erst ab 1832 über eine SemaphorLinie verfügte, die von Berlin bis Koblenz reichte. Es wurden bereits erstaunliche Übertragungsgeschwindigkeiten erreicht, doch war das System extrem tageszeit- und wetterabhängig, denn abhängig vom Sichtkontakt zwischen des Stationen – einen deutlichen Fortschritt markiert erst die Morsetelegraphie und der elektrische Telegraph, der zwar bereits Kleist bekannt war (wie sein Text über die ›Bombenpost‹ nahe legt), doch erst viel später flächendeckend zum Einsatz kam. Eine Revolution des Postverkehrs stellte aber erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Eisenbahn mit ihren erhöhten Transportkapazitäten und mit ihrer höheren Geschwindigkeit dar. Kleist und seine Zeitgenossen stehen damit am Anfang einer kommunikationstechnischen Umbruchsituation. Als sich allerdings Kleist Gedanken über die Verbesserung des Postsystems machte, geschah dies lediglich in Form einer Satire in seinen Berliner Abendblättern vom 10. Oktober 1810, wo er für eine »Wurf- und Bombenpost« mit »hohle[n], statt des Pulvers, mit Briefen und Paketen angefüllte[n] Kugeln« plädierte, wie sie bereits 1474/75 die Kölner Truppen bei der Belagerung von Neuss durch das Heer Karls des Kühnen benutzt hatten und die in der weiteren Mediengeschichte unter Namen wie Geschoss-, Kanonen- oder Kugelpost bekannt ist. Die seit dem 18. Jahrhundert zunehmende Konjunktur des privaten Briefes und der Briefliteratur steht – wie u.a. Bernhard Siegert gezegt hat – in einem Zusammenhang mit der rasanten Entwicklung des Postwesens, bei dem getrennte Botensysteme z.B. für Verwaltung und Handel durch stärker zentralisierte und staatlich kontrollierte Postsysteme abgelöst werden. Die Wege werden speziell auf den Hauptstrecken verbessert und das Netz immer engmaschiger, die Postsysteme häufig verstaatlicht und professionalisiert. Korrespondenz- und Reisewege sind damit auch Institutionen

Einleitung

21

ökonomischer und staatlicher Kontrolle. Die Demokratisierung von Kommunikation durch die massenhafte (Be)Förderung von Privatbriefen dient sowohl der Sanierung öffentlicher Finanzen als auch der staatlichen Ordnungspolitik, der ›Polizey‹. Sie produziert ein commercium im doppelten Sinne: dem der älteren Wortbedeutung von wechselseitigem Austausch und der neueren von Konsumption gegen Geld. So führten die ›sozialen Netzwerke‹ der Zeit um 1800 zu einem sicher nicht zufälligen Nebeneinander von quantitativ explodierenden privaten Bekenntnissen und ihren literarischen Doubles, von einer ökonomischen Förderung wie Ausbeutung der neuen Kommunikationssysteme und von der als Serviceleistung getarnten staatlichen Überwachungs- und Kontrollversuche – und Zensurrealitäten, mit denen ja auch Kleist nicht erst bei seinen Berliner Abendblättern konfrontiert wurde: Die Angst vor Zensur oder anderen Eingriffen in das Postsystems lässt sich insbesondere an seinem Briefwechsel mit Wilhelmine von Zenge erkennen: an seinen akribisch geführten Listen abgesandter und empfangener Briefe oder auch an seiner Tarnung des Absenders durch anonymisierende Umschläge und fremde Siegel. Der vorliegende Band dokumentiert die Krakauer Ausstellung und Tagung über Heinrich von Kleist und die Briefkultur seiner Zeit, so dass viele der oben angesprochenen Aspekte in den folgenden Beiträgen weiter ausgeführt und in den zahlreichen Abbildungen evident gemacht werden sollen, auch wenn damit nur ein kleiner Anstoß zur weiteren Forschung gegeben werden kann. Während die Krakauer Ausstellung einen zusätzlichen Fokus auf die europäische Dimension der Briefkultur legte und als Exponate neben Briefen von Goethe, Novalis, E.T.A. Hoffmann und natürlich v.a. Kleist auch Originalbriefe von Rousseau, Balzac, De Staël und Hugo, Byron, Shelley, Dickens und Thackeray, Andersen und Puschkin, Chopin, Liszt und Meyerbeer, Niemcewicz, Mickiewicz und anderen zeigte (vgl. das Verzeichnis der Exponate am Schluss des Bands). In den Beiträgen werden die Überlieferungsgeschichte der Krakauer Bestände (Jaglarz) und die Kleist-Traditionen Krakaus (Kłańska) präsentiert, die Editions- und Kommentierungsprobleme der Kleist-Briefe diskutiert (Müller-Salget, Socha), die Materialität und die Formkonventionen v.a. anhand der Briefe an Ulrike von Kleist beleuchtet (Gribnitz) sowie zentrale Themen und wichtige Traditionen aufgezeigt. Im Zentrum stehen dabei Kleists Briefe an Wilhelmine von Zenge mit Beiträgen zum Vertrauensdiskurs (Fleig), pädagogischen Konzept (Jastal) und Gender-Aspekt (Müller), zu Hintergründen wie der Wieland-Rezeption (Kording) und der Landschaftskunst (Breuer) sowie die Todesbriefe (Schlinzig, Roussel) und deren Rezeption (Kiermeier). Zudem werden genauere Blicke auf die Funktion

22

Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal, Paweł Zarychta

des Mediums Brief in den literarischen Werken (Herrmann) und in den Berliner Abendblättern (Castelli) geworfen. Die zeitgenössische Kontextualisierung erfolgt durch Blicke auf die Briefe von Rahel Levin, die wie Kleists ›Ideenmagazin‹ durch die spätere Rezeption zur Vorstufe eines literarischen Werks erklärt wurden (Arnold), und von Karoline von Günderrode, die in Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends zum alter ego Kleists stilisiert wurde (Delhey). Deutliche Querverweise zeigen sich auch beim Briefwechsel von Jean Paul, bei dem sich die für Kleist skizzierten unterschiedlichen Charakteristika von Liebesbriefen (Kita-Huber) und Verlegerbriefen (Esselborn) ähnlich wieder finden, während der Beitrag über die Trauerbriefe Rahel und Karl August Varnhagens die Reflexionen über Kleists Todesbriefe ergänzt (Zarychta). Insbesondere die Verleger- und die Kondolenzbriefe machen zudem deutlich, dass die im 18. Jahrhundert propagierte Entrhetorisierung des Briefs sich nur sehr langsam und keineswegs in allen Genres durchsetzte. Der Band wird abgeschlossen durch Bildtafeln mit Erläuterungen sowie einem Verzeichnis der Exponate der Krakauer Ausstellung, in der erstmalig in der Ausstellungsgeschichte dieses Autors eine solch große Zahl von Kleist-Briefen im Original gezeigt werden konnte.

Auswahlbibliographie Werkausgaben mit Briefen Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke. Brandenburger [1988-91: Berliner] Ausgabe. Hg. von Roland Reuß, Peter Staengle. Basel, Frankfurt a.M. 1988-2010. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe [3 Bände]. Hg. von Roland Reuß, Peter Staengle. München 2010. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Briefe. Hg. von Dieter Heimböckel. Stuttgart 1999, 22011. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ohrmanns, Hinrich C. Seeba. 4 Bände. Frankfurt a.M. 1987-1997. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. 2 Bände. 9. Auflage. München 1993. Kleist, Heinrich von: Werke und Briefe in 4 Bänden. Hg. von Siegfried Streller u.a. Berlin, Weimar 1978 [u.ö.].

Briefeditionen Kleist, Heinrich von: Geschichte meiner Seele. Das Lebenszeugnis in Briefen. Hg. von Helmut Sembdner. Frankfurt a.M. 1977. Kleist, Heinrich von: Liebesbriefe an seine Braut. Wien 1906. Kleist, Heinrich von: Briefe an seine Braut. Zum ersten Male vollständig nach den Originalhandschriften hg. von Karl Biedermann. Breslau, Leipzig 1884. Kleist, Heinrich von: Briefe an seine Schwester Ulrike. Hg. von August Koberstein. Berlin 1860. Kleist, Heinrich von: Leben und Briefe. Mit einem Anhange hg. von Eduard von Bülow. Berlin 1848.

Werk- und Briefeditionen (Polen) Kleist, Heinrich von: Dramaty wybrane. Übersetzung: Jacek St. Buras. Kraków 2000. Kleist, Heinrich von: Listy. Übs. und eingel. von Wanda Markowska. Warszawa 1983. Kleist, Heinrich: Dramaty i nowele. Übersetzung: Witold Hulewicz, Jan Sztaudynger, Edyta Sicińska. Wrocław 1969.

24

Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal, Paweł Zarychta

Kleist, Henryk: Dzieła wybrane. Einleitung von Zdzisław Żygulski, Warszawa 1960. Kleist, Henryk: Rozbity dzban. Übersetzung: Józef Mirski. Wrocław, Kraków 1957.

Neuere Biographien und Nachschlagewerke zu Kleist (mit breiterer Berücksichtigung der Briefe) Bisky, Jens: Kleist. Eine Biographie. Berlin 2007. Blamberger, Günter: Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt a.M. 2011. Blamberger, Günter; Iglhaut, Stefan (Hg.): Kleist: Krise und Experiment. Die Doppelausstellung im Kleist-Jahr 2011, Berlin, Frankfurt a.d. Oder, Bielefeld 2011. Breuer, Ingo (Hg.): Kleist-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart, Weimar 2009. Michalzik, Peter: Kleist: Dichter, Krieger, Seelensucher – Biographie. Berlin 2011. Schulz, Gerhard: Kleist. Eine Biographie. München 2007.

Beiträge zu Kleist als Briefautor Barthel, Wolfgang: Zu Briefen Kleists 1793–1803. Erster Teil. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 1978, S. 21–36. Beiträge zur Kleist-Forschung 20 (2006): Kleists Briefwechsel / Kleist und Königsberg 1806 (mit Beiträgen zum Thema Briefwechsel von Christoph Perels, Alexander Weigel, Rolf-Peter Janz, Inka Kording, Natalie Lorenz, Gudrun Debriacher, Silke Weineck u. Justus Fetscher). Blamberger, Günter: Ökonomie des Opfers. Kleists Todes-Briefe. In: Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. Hg. von Detlev Schöttker. München 2008, S. 145-160. Breuer, Ingo: Kleists Topographien. In: Der Deutschunterricht 2011, Heft 1: Heinrich von Kleist, S. 2-15. Clot, Cécile-Eugénie: Kleist épistolier. Le geste, l’objet, l’écriture. Bern 2008. Herrmann, Britta: Auf der Suche nach dem sicheren Geschlecht: Die Briefe Heinrich von Kleists und Männlichkeit um 1800. In: Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit. Hg. von Walter Erhart. Stuttgart, Weimar 1997, S. 212-234. Herrmann, Britta: Erotische (T)Räume in den Briefen Heinrich von Kleists. In: Erotik und Sexualität im Werk Heinrich von Kleists. Hg. von Günter Emig. Heilbronn 2000, S. 9-23.

Einleitung

25

Kanzog, Klaus; Kanzog, Eva: Die Kleist-Aufzeichnungen von Wilhelm von Schütz. Mit zwei bisher nicht entzifferten Briefstellen. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 13 (1969), S. 33–46. Knape, Joachim: Zur Struktur des Jugendbriefs an die Schwester im 18. Jahrhundert: Goethe, Mozart, Brentano, Kleist. In: Kleist-Jahrbuch 1996, S. 91–105. Krajewski, Markus: Aufsässigkeiten. Kleists Fürstendiener. In: Kleist-Jahrbuch 2012, S. 100-110. Müller-Salget, Klaus: Briefe. In: Kleist-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung. Hg. von Ingo Breuer. Stuttgart, Weimar 2009, 180-183. Müller-Salget, Klaus: Heinrich, Marie und Ulrike von Kleist. Zur Datierung und Deutung der Briefe vom Herbst 1811. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), S. 543–553. Müller-Salget, Klaus: Heinrich von Kleists Briefwerk. Probleme der Edition eines mehrfach fragmentierten Torsos. In: Werner M. Bauer, Johannes John und Wolfgang Wiesmüller (Hg.): »Ich an Dich.« Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen. Innsbruck 2001, S. 115–131. Newman, Gail: »Du bist nicht anders als ich«: Kleist’s Correspondence with Wilhelmine von Zenge. In: German Life and Letters 42 (1989), S. 101–112. Oesterle, Ingrid: Werther in Paris? Heinrich von Kleists Briefe über Paris. In: Dirk Grathoff (Hg.): Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung. Opladen 1988, S. 97–116. Pickerodt, Gerhart: Zwischen Erfahrung und Konstruktion: Kleists Bildentwürfe in den Pariser Briefen des Jahres 1801. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 38 (1994), S. 89-115. Die Post geht ab. Kleists Briefwechsel. Katalog Kleist-Festtage Frankfurt/ Oder, 18.-23. Oktober 2005, Kleist-Museum. Frankfurt/Oder 2005. Schrader, Hans-Jürgen: Unsägliche Liebesbriefe. Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge. In: Kleist-Jahrbuch 1981/82, S. 86–96. Schrader, Hans-Jürgen: »Denke Du wärest in das Schiff meines Glückes gestiegen«. Widerrufene Rollenentwurfe in Kleists Briefen an die Braut. In: Kleist-Jahrbuch 1983, S. 122–179. Staengle, Peter: »noch ein Blättchen Papier für Dich«: zu Heinrich v. Kleists Brief an Wilhelmine v. Zenge vom 20./21. August 1800. In: Modern Language Notes 117 (2002), N. 3, S. 576-583. Staengle, Peter: Zu Heinrich von Kleists Briefen. In: Heinrich von Kleist – ein radikaler Klassiker? Hg. vom Ortsverein Hamburg der Goethe-Gessellschaft. Dößel 2004, S. 41-60.

26

Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal, Paweł Zarychta

Briefkultur im 18. Jahrhundert (Deutschland) Behringer, Wolfgang: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2002. Beyrer, Klaus; Täubrich, Hans-Christian (Hg.): Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. O.O. 1996. Bohnenkamp, Anne; Wiethölter, Waltraud (Hg.): Der Brief – Ereignis und Objekt. Frankfurt a.M., Basel 2008. Bohrer, Karl-Heinz: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München, Wien 1987. Clauss, Elke: Liebeskunst. Untersuchungen zum Liebesbrief im 18. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1993. Dutu, Alexander; Hösch, Edgar; Oellers, Norbert (Hg.): Briefe und Briefwechsel in Mittel- und Osteuropa im 18. und 19. Jahrhundert. Essen 1989. Fertig, Ludwig (Hg.): Bildungsgang und Lebensplan. Briefe über Erziehung von 1750 bis 1900. Darmstadt 1991. Furger, Carmen: Briefsteller. Das Medium »Brief« im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2010. Ebrecht, Angelika; Nörtemann, Regina; Schwarz, Herta (Hg.): Brieftheorie des 18. Jahrhunderts: Texte, Kommentare, Essays. Stuttgart 1990. Hämmerle, Christa; Saurer, Edith (Hg.): Briefkulturen und ihr Geschlecht. Zur Geschichte der privaten Korrespondenz vom 16. Jahrhundert bis heute. Wien 2004. Institut für Textkritik: Bibliographie zur Briefforschung (2005). URL: http://www.textkritik.de/briefkasten/forschungsbibl_a_f.htm (25.8.2012). Mattenklott, Gert; Schlaffer, Hannelore; Schlaffer, Heinz (Hg.): Deutsche Briefe 1750-1950. Frankfurt a.M. 1988. Nickisch, Reinhard M. G.: Brief. Stuttgart 1991. North, Gottfried: Die Post. Ihre Geschichte in Wort und Bild. Heidelberg 1988. Schlinzig, Marie Isabel: Abschiedsbriefe in Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts. Berlin 2012. Schröter, Juliane: Offenheit: Die Geschichte eines Kommunikationsideals seit dem 18. Jahrhundert. Berlin 2011. Siegert, Bernhard: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751-1913. Berlin 1993. Stauf, Renate; Simonis, Annette; Paulus, Jörg (Hg.): Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin, New York 2008. Vellusig, Robert: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2000.

Maria Kłańska

Kleist in Krakau Rezeption in Wissenschaft, Literatur und auf dem Theater

Die Problematik der Kleist-Rezeption in Krakau kann unter zwei Aspekten betrachtet werden: einerseits dem der wissenschaftlichen Forschung zu seinem Schaffen, andererseits dem der Bühnenaufführungen seiner Werke. Kleist-Übersetzungen sind meines Wissens in Krakau keine entstanden, und nur eine Kleist-Ausgabe ist in Krakau erschienen, daher eignen sich diese Bereiche nicht für eine gesonderte Betrachtung. Eigentlich gibt es noch eine dritte Möglichkeit das Syntagma »Kleist in Krakau« zu interpretieren. Die Grundlage dafür bilden die umfangreichen aus dem Preußischen Kulturbesitz herkommenden in der Biblioteka Jagiellońska befindlichen Kleistiana, die den Anlass und Hauptgegenstand unserer Kleist-Ausstellung und -Tagung bilden. Über diese Sammlung hat u.a. Peter Staengle in seinem Aufsatz »Kleist bei Varnhagen in Krakau« aufmerksam gemacht1 und darüber informiert auch der Beitrag von Monika Jaglarz in diesem Band. Die Geschichte der Kleist-Forschung in Krakau ist merkwürdigerweise viel älter als die seiner Inszenierungen, die erst nach 1945 einsetzt. Sie fängt eigentlich außerhalb Krakaus mit der Person des österreichischen Germanisten Spiridion Wukadinovič an, der 1914 den Ruf an den Lehrstuhl für die deutsche Sprache und Literatur der Jagiellonen-Universität erhalten hat. Wukadinovič war der Autor eines 1904 im Verlag J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger erschienenen Bandes von Kleist-Studien sowie der Herausgeber dreier Werke Kleists in der Reihe »Neuere Dichter für studierende Jugend« der Manzschen k. und k. Hof-Verlags- und UniversitätsBuchhandlung, und zwar der Novelle Michael Kohlhaas (1911) sowie der Dramen Die Hermannsschlacht (1911) und Der zerbrochne Krug (1913) mit seinen eigenen Einführungen und einigen Aufgaben für die Leser, die den didaktischen Charakter der Veröffentlichungen verraten. Die Studien des 1

Peter Staengle: Kleist bei Varnhagen in Krakau; eine Bestandsaufnahme mit Anhang. In: Brandenburger Kleist-Blätter 7, 53–103.

28

Maria Kłańska

Buches von 1904 haben dagegen einen wissenschaftlichen Charakter; in der ersten desavouiert er mit philologischen Mitteln die ›Entdeckung‹ Eugen Wolffs, dass zwei anonyme Lustspiele aus dem Jahre 1802 angeblich von Kleist stammten; in denen, die Robert Guiskard betreffen, rekonstruiert er die Genese des Dramas und stellt, wie er selbst zugibt, Hypothesen darüber auf, wie das Drama hätte schließen können. Die zwei übrigen Studien sind den bekannten Dramen Das Käthchen von Heilbronn und Prinz Friedrich von Homburg gewidmet, wobei der Verfasser u.a. auf die zu Kleists Zeit beliebten wissenschaftlichen und quasi-wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Somnambulismus, tierischen Magnetismus, Hypnose und Okkultismus rekurriert. Wukadinovič vergleicht Kleist sogar mit Goethe und bedauert, dass der frühe Tod ihm die entsprechende Entwicklung seines Talents nicht ermöglicht habe. Der Forscher versucht immer wieder, Kleist der akademischen Jugend näher zu bringen, indem er auf die Entstehungsgeschichte, intertextuelle Bezüge, die Konstruktion, Sprache und Wirkung der jeweiligen Werke eingeht. Da Wukadinovič 1917–1932 als Ordinarius in Krakau wirkte und dort gern u.a. über Kleist las, ist es kein Wunder, dass sich zahlreiche seiner Germanistikschüler mit dem märkischen Dichter befassten. Unter den ca. 50 in der Datensammlung der Dissertationen der Jagiellonen-Universität 1917–1928 sowie der Universitätschronik für die Jahre 1923–1934 verzeichneten germanistischen Doktorarbeiten sind vier Kleists Novellen und Dramen sowie Inszenierungen seiner Werke gewidmet. Die begabtesten Schülerinnen des Wukadinovič wandten sich ebenfalls Kleist zu: Zofia Ciechanowska, die sich später habilitiere und an der Jagiellonischen Bibliothek wirkte, verfasste 1936 für die Festschrift zu Ehren des berühmten Polonisten Ignacy Chrzanowski einen kleinen Beitrag, in dem sie sich mit der Rezeption der deutschen Literatur in Polen im Zeitalter der Frühromantik am Beispiel Grillparzers und Kleists befasste. Dabei geht sie auf zwei unbekannte Übersetzungen der Werke Kleists ins Polnische ein, der Novelle Die Verlobung auf St. Domingo, unter dem abgewandelten Titel Miłość i nieufność. Rys do historji wybicia się na wolność wyspy St. Domingo (Liebe und Misstrauen. Ein Beitrag zum Unabhängigkeitskampf auf der Insel St. Domingo, 1819) und des Dramas Das Käthchen von Heilbronn als Jasnowidząca (Die Hellseherin, 1826), angepasst an das polnische mittelalterliche Lokalkolorit. Die Autorin sieht mit Recht die Problematik der Beeinflussung der chronologisch späteren polnischen Romantik durch die deutsche als ein zu erkundendes Forschungsfeld an, wobei sie in Kleist »einen der romantischsten Dichter Europas« sieht.2 2

Vgl. Zofia Ciechanowska: Dwa nieznane przekłady Kleista (Zwei unbekannte Kleist-

Kleist in Krakau

29

Eine der größten Hoffnungen der Krakauer Germanistik war vor dem Zweiten Weltkrieg die promovierte Assistentin Bronisława Rosenthal (geb. Blattberg), die als Jüdin von den Nazis ermordet werden sollte. Schon ihr kleines Buch aus dem Jahre 1935 Bemerkungen zur Kleist-Forschung weist auf ihr überdurchschnittliches Talent hin, auf ihre logische Gedankenführung, ihr maßvolles, präzises Urteil sowie auf ihre große Belesenheit in der Kleist-Literatur. Rosenthal stellt fest, dass die letzten Jahrzehnte eine verwirrende Fülle an unterschiedlichsten Kleist-Deutungen hervorgebracht haben, die zum Teil widersprüchlich sind. Sie erwähnt und systematisiert Dutzende von Namen, allerdings kommen keine polnischen dabei vor. Sie stellt fest, dass ein ganzes Spektrum von Methoden vorhanden sei, von metaphysisch-religiösen über die soziologischen und psychologischen bis zu den psychoanalytischen. Die Forscherin versucht zwischen ihnen zu vermitteln, beweist, dass sie einander ergänzen, und auch wenn sie konträr seien, komplementär wirken könnten. Von unserem heutigen Standpunkt aus lässt sich bemerken, dass die meisten dieser Methoden werktranszendent sind und sich mehr auf den Autor als auf sein Schaffen beziehen. Nur solche Methoden lässt die Krakauer Germanistin nicht zu, die weder um wissenschaftlichen ›Ernst‹ noch Objektivität bemüht sind, sondern in Kleist nur einen pathologischen Fall und in seinen Werken Auswüchse einer kranken Natur sehen. Alles andere lässt sie als ehrliche wissenschaftliche Bemühung gelten. Besonderes Interesse scheint sie an der psychoanalytischen Methode zu haben, wobei sie betont, dass diese nicht alles erklären kann. Als Beispiel für die gegenseitige Ergänzung verschiedener Methoden stellt sie die Möglichkeiten der Deutung Penthesileas dar, dann zieht sie auch Amphytrion heran, wobei sie gegen Gundolf, den sie sonst hoch einschätzt, wegen seiner Bevorzugung der Molière’schen Fassung polemisiert. Überhaupt erlaubt sie sich dezente und treffsichere Polemiken gegen anerkannte Kleist-Forscher. Zum Schluss stellt sie fest, dass es ebenfalls unzulässig sei, wenn ein Forscher die anderen desavouiert, als hätte er selbst die einzige Wahrheit entdeckt: »Es ist unwissenschaftlich, durch eine unsachliche und am Wesenskern vorbeiirrende Kritik Missverständnisse zu verursachen und die andersgeartete Arbeit des Nachbarn ungerecht herabzusetzen.«3 Diese kritische Darstellung des Forschungsstandes diente der noch jungen Autorin offensichtlich als Vorstudie zur Arbeit Heinrich von Kleist und Stanisław Wyspiański. Ein Vergleich der Tragik in ihren Dramen (1938), die viel-

3

Übersetzungen). In: Literatura niemiecka w Polsce w pierwszych latach romantyzmu. In: Prace historyczno-literackie ku czci Ignacego Chrzanowskiego. Kraków 1936, S. 324–346, zu Kleist S. 343–346, hier S. 346. Bronisława Rosenthal: Bemerkungen zur Kleist-Forschung. Kraków 1935, S. 45.

30

Maria Kłańska

leicht als ihre Habilitation geplant war. Durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die Ermordung der Autorin als Jüdin sind ihre KleistArbeiten kaum rezipiert worden. Ryszard Ergetowski, der Autor der wertvollen polnischen Monographie zur Kleist-Rezeption in Polen, bezeichnet ihre Monographie einerseits als »hervorragend und umfassend«, bezeugt der Autorin große »Belesenheit« und »literarischen Schwung«, andererseits nennt er sie ein »akademisches und abstraktes Gebilde«.4 Er hat insofern Recht, als Rosenthal zwei Dichter vergleicht, deren Leben ein Jahrhundert trennt und die neben manchen typologischen Ähnlichkeiten vieles trennt; er erinnert aber zu Recht daran, dass solche Vergleiche in den 1930er Jahren gang und gäbe waren. Heute würden sie angesichts der postmodernen Freiheiten und des entwickelten Intertextualitätsgedankens wahrscheinlich weniger befremdlich wirken als vor 20 Jahren, als er seine Arbeit veröffentlichte. Ergetowski schreibt allerdings zum Schluss, dass Rosenthals Werk einen beträchtlichen Fortschritt in der Kleist-Forschung in Polen und einen Beweis für das gestiegene Interesse an diesem Dichter darstellt: Jeder, der sich mit Kleist ernstlich beschäftigen wolle, müsse nach diesem lange verschwiegenen Buch greifen, postuliert der Krakauer Gelehrte.5 Für den deutschsprachigen Leser ist kurz zu erklären, wer Wyspiański war: Der Krakauer Stanisław Wyspiański (1869-1907) war ein meines Erachtens genialer, äußerst vielseitiger Dichter und bildender Künstler der polnischen Moderne. Er war Dramatiker, und dieses ist das Gebiet seines Schaffens, das Rosenthal mit Kleist vergleicht, aber auch ein lyrischer Dichter, Maler, Graphiker, Innenarchitekt und Möbeldesigner. Bronisława Rosenthal geht von dem tragischen Weltgefühl der beiden Dichter aus. Sie seien beide bis zu einem gewissen Grade Fatalisten gewesen, hätten an die Tragik des menschlichen Schicksals geglaubt und sie in ihren Dramen zu gestalten versucht. Sie geht vom antiken Schicksals- und Tragikbegriff aus und stellt fest, dass sich die tragische Bestimmung des Menschen bei Wyspiański in seinem Ringen mit Gott äußere, während sie bei Kleist lediglich zwischenmenschliche Beziehungen betreffe und in der irdischen Realität begründet bleibe, was sie mit dem Katholizismus des polnischen Autors begründet. Die vier Stadien des zum Scheitern verurteilten menschlichen Strebens bilden gleichzeitig die Gegenstände der vier ersten analytischen Kapitel der Arbeit, und zwar sind es ihrer Meinung nach das Irren, das Ringen, die Verneinung des Schicksals und schließlich dessen Bejahung, das Einverstandensein damit. Die Themen der Kapitel fünf und sechs bil4 5

Vgl. Ryszard Ergetowski: Recepcja twórczości Heinricha von Kleista w Polsce (Rezeption des Schaffens von Heinrich von Kleist in Polen). Kraków 1989, S. 23f. Vgl. ebd, S. 24.

Kleist in Krakau

31

den die Todesproblematik, die bei beiden Dichtern, vor allem aber bei dem polnischen zentral sei, sowie das Nationalgefühl, das tatsächlich eine sehr wichtige, obwohl sehr unterschiedlich aufgefasste Komponente des Schaffens der beiden Dichter bildet, des in der Zeit der Napoleonischen Wirren wirkenden Kleist und des von der Wiedergeburt des seit 1795 von der Landkarte Europas ausgemerzten Polen träumenden Wyspiański. Das siebte Kapitel ist der Form der Werke der beiden Dramatiker gewidmet, deren dramaturgische Konstruktion und Sprache sie sorgfältig untersucht. Interessant ist auch ihre Feststellung, dass Kleist die Welt außer durch das Wort durch die Musik wahrnimmt, während Wyspiański ein Augenmensch ist und die Sprache durch optische, mit den bildenden Künsten verwandte Mittel gestaltet. Ihr kurzes Schlusskapitel ist wieder eher biographisch bestimmt. Sie behauptet, dass die Tragik Kleists eine »Tragik des Suchens und Irrens, des Scheiterns an der empirischen Natur, der gebrechlichen Welt sei«.6 Es sei die Tragik der Unsicherheit und des ethischen Relativismus, und die Erlösung, die seelische Gewissheit könne ihm nur aus den Tiefen des eigenen Ichs im lutherischen Ich-Gefühl beschieden werden. Dagegen glaube der polnische Dichter als Katholik, dass die Wahrheit erkennbar sei, aber selbst der Wille und das Streben danach führe als Hybris zum tragischen Untergang. Sie erinnert an den vorzeitigen absurden Tod der beiden, den Kleist’schen Freitod und bei Wyspiański den Tod durch eine Geschlechtskrankheit, die er sich in jungen Jahren zugezogen hatte; schließlich meint sie, dass die beiden mit dem Tod einverstanden gewesen seien und in ihm die einzige Überwindung ihres Lebensdilemmas, ihrer Lebenstragik gesehen hätten. Dieser ganzheitliche Zugang weicht von den heute angewendeten wissenschaftlichen Methoden ab, aber die Einzelerkenntnisse der Forscherin sind ganz plausibel, und ihr Werk sollte doch als ein wichtiger Beitrag zur Kleist-Forschung nicht nur in Polen zur Kenntnis genommen werden. Die deutsche Okkupation 1939–1945 hat in Polen und somit auch in Krakau die Sicht nicht nur auf Deutschland und die Deutschen, sondern auch auf die deutsche Sprache und Literatur für lange Zeit beeinflusst. Nach 1945 gab es in Krakau nur noch vereinzelte Germanistikstudenten, während es vor 1939 hunderte waren, bis die Germanistik schließlich 1953 bis 1966 geschlossen war.7 Nichtsdestoweniger unterscheidet sich die spärliche 6 7

Bronisława Rosenthal: Heinrich von Kleist und Stanisław Wyspiański. Ein Vergleich der Tragik in ihren Dramen. Kraków 1938, S. 233. Vgl. Olga Dobijanka-Witczakowa: Die Geschichte des Lehrstuhls für Germanistik an der Jagiellonen-Universität (Krakau 1964). In: Dies., Adam Kleczkowski: Zur Ge-

32

Maria Kłańska

Kleist-Rezeption im damaligen Krakau positiv von der vehementen Kritik an Kleist im Aufsatz des Posener Germanisten Jan Berger unter dem Titel »Zwiastun grozy hitlerowskiej. Henryk Kleist« (Ein Verkünder des HitlerGrauens – Heinrich Kleist) in der ernstzunehmenden Zeitschrift des Instytut Zachodni (West-Institut).8 Wenn man die Bulletins der von der realsozialistischen Regierung dann 1952 geschlossenen (heute seit über 20 Jahren wieder wirkenden) Polnischen Akademie für Wissenschaften und Künste (PAU – Polska Akademia Umiejętności) betrachtet, findet man in den frühen Nachkriegsjahren zwei Beiträge zu Kleist. Der eine war der am 10.12.1947 in der Akademie gehaltene Vortrag von Józef Figna, der über das Dramenfragment Kleists Robert Guiskard bei Wukadinovič lange vor dem Kriege promoviert hatte und nun seine Arbeit zusammenfassend vorstellte, wobei er auf die hohen ästhetischen und ethischen Werte des vom Autor vernichteten Dramas hinwies. Auch der Vortrag eines Nichtkrakauers, des aus Lemberg stammenden Germanistikprofessors Zdzisław Żygulski »Henryk Kleist w stosunku do swojej epoki« (Heinrich Kleist angesichts seiner Epoche) in der Sitzung vom 26.04.1950, war zwar dem neuen, materialistischen Zugang zum Werk des Autors verpflichtet, doch bemühte er sich, Kleist Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und die KleistForschung mit Hilfe der marxistischen Methode weiter zu treiben. Dann wurde allerdings auch die PAU geschlossen, und mit den nächsten Krakauer wissenschaftlichen Beiträgen zu Kleist haben wir es erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu tun. Nach einer langen Pause begann man sich erst in den 1980er Jahren in Krakau wieder mit Kleist auseinanderzusetzen; diesmal waren die Forschungen auf die Kleist-Rezeption gerichtet. Die Professorin für die deutsche Literaturgeschichte am Institut für die germanische Philologie Olga Dobijanka-Witczakowa veröffentlichte im Jahre 1982, offensichtlich als Ertrag einer Kleist-Tagung, im »Kleist-Jahrbuch« den Aufsatz »Kleist aus polnischer Sicht«, in dem sie spärliche Rezeption des Dichters in Polen darstellt, von den ersten Aufführungen des Käthchens von Heilbronn mit polnischem Lokalkolorit in Lemberg 1826 bis zur Fernsehsendung mit der berühmten Inszenierung des Prinzen Friedrich von Homburg von Peter Stein im polnischen Fernsehen. Es ist eine gründliche, obwohl nicht lückenlose Zusammenstellung von Tatsachen.9 Interessant sind Hinweise auf Konvergenzen mit der (späteren) polnischen Romantik. Dobijanka erklärt, warum

8 9

schichte der Germanistik, Anglistik und Skandinavistik in Polen. Aus dem Poln. von Krzysztof Lipiński. St. Ingbert 1995, S. 75–98, hier S. 96f. In: Przegląd Zachodni 1948, S. 385–421. Es fehlt bezeichnenderweise der wertvolle Beitrag von Elida Maria Szarota: Antikes und Modernes in Kleists Amphitryon. In: Kwartalnik Neofilologiczny 8 (1961), H. 4, S. 389–410.

Kleist in Krakau

33

weder im geteilten Polen, das des Trostes und der moralischen Erbauung bedürftig war, noch nach der deutschen Okkupation im realen Sozialismus nach 1945 Bedingungen zur Entfaltung der Kleist-Rezeption vorhanden waren. Sie schließt ihren Beitrag allerdings mit der Feststellung, dass die zeitgenössische Kultur, also Kino, Bühnen und Literatur, bestrebt seien, auf die Anomalien des Lebens (zu ergänzen wäre: unter dem Realsozialismus) hinzuweisen und Menschen zu zeigen, »die von der Schablone des ›Normalen‹ abweichen, die, innerlich zerrissen, an den Gebrechen der Zeit scheitern, die, ungeachtet der Kosten, nach Gerechtigkeit streben.«10 Die Krakauer Germanistin schließt ihren Beitrag mit einer Reihe von rhetorischen Fragen, ob es nicht gerade an der Zeit wäre, Kleist in Polen unbefangen und vorurteilslos aufzunehmen. Die Erwägungen Dobijankas wurden in der gleichen Zeitschrift im Jahre 1992 von Krzysztof Lipiński in dessen Aufsatz »Heinrich von Kleist in Polen«11 weitergeführt. Nach dem Einzelbetrag Dobijankas hat sich mit einer Reihe von Aufsätzen in deutscher und polnischer Sprache und mit einer Monographie auf Polnisch zur Kleist-Rezeption in Polen ein habilitierter Wissenschaftshistoriker, Ryszard Ergetowski, zu Wort gemeldet. Da mir als Germanistin diese Persönlichkeit unbekannt war, habe ich im Internet nachgeschaut und herausgefunden, dass Ryszard Ergetowski, Jg. 1925, sich nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund des Verlusts seiner engeren Heimat Wolhynien wie viele aus den Ostgebieten verbannte Polen mit den neuen Westgebieten verband, und zwar vornehmlich mit Breslau, wo er bis 1986 im Institut für die Geschichte der Wissenschaft und Technik der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN) tätig war und 1985/86 zum Lehrstuhl für Bibliothekswesen und Information der Krakauer Pädagogischen Hochschule (heute Pädagogische Universität) wechselte, wo er 1991 Professor wurde.12 Ergetowski beschäftigte sich jahrelang minutiös mit der Kleist-Rezeption in Polen und veröffentlichte zuerst eine Reihe von Aufsätzen in polnischer Sprache, z.B. »Bibliografia utworów Heinricha von Kleista przełożonych na język polski« (Bibliographie der ins Poln. übersetzten Werke von H.v.K.),13 »Nieudane życie poety« (Misslungenes Leben des Dichters),14 »O przekładach utworów Kleista na język polski« (Über die Übersetzungen

10 Olga Dobijanka-Witczakowa: Kleist aus polnischer Sicht. In: Kleist-Jahrbuch 1982, S. 171–182, hier S. 182. 11 Krzysztof Lipiński: Heinrich von Kleist in Polen. In: Kleist-Jahrbuch 1992, S. 172–178. 12 Vgl. Stichwort »Ryszard Ergetowski«. In: Konspekt Nr. 19/2004 (Online-Ausgabe), http://www.up.krakow.pl/konspekt/19/slownik.html#02 (12.7.2011). 13 In: Rocznik Naukowo-Dydaktyczny WSP Kraków 1987, H. 110, S. 265–273. 14 In: Życie Literackie 1988, Nr. 21, S. 6.

34

Maria Kłańska

Kleist’scher Werke ins Polnische).15 1989 erschien endlich das unansehnliche, in der damaligen rohen graphischen Gestaltung aufgemachte Buch Recepcja twórczości Heinricha von Kleista w Polsce (Rezeption des Schaffens von Heinrich von Kleist in Polen),16 das grundlegende Kompendium zur Kleist-Rezeption in unserem Land, von den Anfängen im 19. Jh. bis ins Jahr 1985. Obwohl immer wieder geklagt wird, wie wenig Aufmerksamkeit dem unglücklichen Autor des Kohlhaas und des Prinzen Friedrich von Homburg in Polen gewidmet wurde, war Ergetowski imstande, in seiner Bibliographie immerhin über 30 Werkausgaben und 212 Positionen der Sekundärliteratur zu Kleist zu erfassen.17 Seine Arbeit wurde in drei Hauptkapitel eingeteilt: 1. »Piśmiennictwo polskie o Kleiście i jego twórczości« (Polnisches Schrifttum über Kleist und sein Schaffen), 2. »Polskie przekłady utworów Kleista« (Polnische Übersetzungen der Werke Kleists), 3. »Sztuki Kleista na polskich scenach« (Stücke Kleists auf den polnischen Bühnen). In der knappen Einleitung lässt Ergetowski seinen Vorgängern Gerechtigkeit widerfahren. Als ein berührendes Motto fügt er dann das Gedicht des Krakauer Dichters und polonistischen Literaturwissenschaftlers der heute mittleren Generation ein, das Gedicht »Kleist« von Stanisław Stabro18, in dem dieser eine Art Requiem für den Dichter und Selbstmörder Kleist, von einem sensiblen Dichterbruder verfasst, vorstellt. In der letzten, dreizeiligen Strophe des unregelmäßig aufgebauten Gedichts lässt der polnische Dichter Kleist selbst als das lyrische Ich zu Wort kommen, das seine Schicksalsgenossin Henriette Vogel darauf hinweist, dass der Tod ihm die letzten Buchstaben aus den Händen reißt. Es gibt übrigens mehrere Gedichte, in denen polnische, darunter Krakauer lyrische Dichter, Kleist und vor allem seinen Tod thematisieren. Die Teilnehmerin der Krakauer Tagung Ursula Kiermeier hat mich in der Diskussion darauf hingewiesen, dass auch bei dem postmodernen Dichter Marcin Świetlicki das Motiv vorkommt. Damit wird sich aber mit Sicherheit ihr Beitrag näher befassen. Meinerseits ist wohl allgemein darauf hinzuweisen, dass die tragische Gestalt des deutschen Dichters mehrere polnische schöngeistige Autoren zur Gestaltung seines Schicksals inspirierte. Das knappe Schlusskapitel ist bei Ergetowski optimistischer als der Beitrag von Dobijanka, der Autor behauptet schlussfolgernd:

15 16 17 18

In: Ruch Literacki 1988, H. 4–5, S. 301–315. Kraków 1989, Wydawnictwo Naukowe WSP. Vgl. Ergetowski, ebd, S. 132–144. Eingesehen bei Ergetowski, ebd, S. 7; Erstdruck: Stanisław Stabro: Kleist. In: Ders.: Zbiór twojego narodzenia. Wiersze, Warszawa 1974, S. 108.

35

Kleist in Krakau

Die bisherigen Erwägungen zusammenfassend, muss man feststellen, dass die Kenntnis der Werke Kleists in Polen nicht so umfassend ist wie die Kenntnis Goethes, Schillers und Heines […], aber systematisch anwächst, mit besonderer Eile – was paradox klingt – nach dem Zweiten Weltkrieg. […] Wie die bisherige Erfahrung zeigt, haben die bisherigen nationalen und politischen Widerstände dem Druck der großen Kunst Kleists nicht standhalten können, die sich spontan den Weg zur vollständigen Übertragung ins Polnische und einer breiten literarhistorischen Kenntnisnahme bahnt.19

Die analytischen Kapitel Ergetowskis sind behutsam und logisch aufgebaut, aber der besondere Wert dieser Arbeit ist das minutiöse Erfassen von Hunderten manchmal randständiger Artikel. Die Arbeit wurde auf Polnisch verfasst, daher ist sehr begrüßenswert, dass Ergetowski wenigstens eine Reihe von Aufsätzen aus diesem Forschungsbereich in den »Beiträgen zur Kleist-Forschung« zwischen 1986 und 1994 veröffentlichte. Diese beziehen sich auf: die ins Polnische übersetzten Werke Kleists (Jg. 1986), die polnischen Übersetzungen und Inszenierungen des Prinzen Friedrich von Homburg (1988), des Käthchens von Heilbronn (1990) sowie Des zerbrochnen Kruges (1992), Untersuchungen zum Schaffen Kleists in Polen (1993), sowie das Thema Kleist in der polnischen Literatur (1994).20 Freilich ist es zu bedauern, dass die Sicht Ergetowskis nur in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts reicht; wir haben zwar in den letzten Jahren den sehr guten Aufsatz des Warschauers Karol Sauerland »Zur Kleistrezeption in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg« (2005),21 aber seine kritische Sicht kann eine akribische Zusammenstellung von Veröffentlichungen und Inszenierungen nicht ersetzen.

*** Damit möchte ich den Überblick zur polnischen, insbesondere Krakauer Kleist-Forschung beenden, um einige Aufmerksamkeit dem für das breitere Publikum wohl interessanteren Thema seiner Bühneninszenierungen in Krakau zu widmen, die allerdings erst nach 1945 einsetzen. Dabei muss 19 Ebd., S. 116 (meine Übersetzung). 20 Vgl. Ryszard Ergetowski in: Beiträge zur Kleist-Forschung 1988: Die polnischen Inszenierungen des Prinzen von Homburg (S. 62–69); ebd. 1990: Polnische Übersetzungen und Inszenierungen des Dramas Das Käthchen von Heilbronn (S. 57–61); ebd. 1992: Die polnischen Übersetzungen und Inszenierungen des »Zerbrochnen Kruges« von Heinrich von Kleist (S. 71–78); ebd. 1993: Untersuchungen zum Schaffen Kleists in Polen (S. 123–130); ebd. 1994; Kleist in der polnischen Literatur (S. 158–162). 21 Vgl. Karol Sauerland: Zur Kleistrezeption in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Kleist – ein moderner Aufklärer. Hg. von Marie Haller-Nevermann und Dieter Rehwinkel, Göttingen 2005, S. 147–159.

36

Maria Kłańska

man sich die Lage in Polen nach der deutschen Okkupation vorstellen. Einerseits herrscht der nach den bitteren Erfahrungen der qualvollen Jahre verständliche Hass gegen alles Deutsche oder wenigstens tiefes Misstrauen dagegen, andererseits verbietet der reale Sozialismus anfangs (d.h. bis zum Polnischen Oktober, dem Tauwetter im Jahre 1956) alles, was nicht den Regeln des sozialistischen Realismus entspricht. Dasjenige Werk Kleists, das sich unter jenen Umständen auf der Bühne am ehesten durchsetzen konnte, war verständlicherweise Der zerbrochne Krug aufgrund seiner realistischen Anlage. Im Nachkriegspolen gab es eine erste Uraufführung des Dramas in Lodz im Jahre 1949,22 die sehr umstritten war, aber fast gleichzeitig konnten die der deutschen Sprachen kundigen Zuschauer im Herbst 1952 Gastauftritte des Brecht’schen Berliner Ensembles in Lodz, Warschau und Krakau erleben, bei denen eines der drei aufgeführten Stücke Kleists Zerbrochner Krug war.23 Manche arrivierten Theaterkritiker wie Konstanty Puzyna in der führenden literarischen Wochenschrift Krakaus Życie Literackie oder Henryk Vogler in der Zeitung Gazeta Krakowska widmeten dieser Inszenierung besondere Rezensionen, andere, wie Tadeusz Kwiatkowski oder Zygmunt Greń kamen darauf anlässlich der Krakauer Inszenierung im Teatr Stary (Altes Theater) im Jahre 1953 vergleichend zu sprechen.24 In der deutschen Aufführung wurde die Regie von Therese Giehse geführt, die Hauptrolle des Richters Adam wurde von Ernst Geschonnek gespielt. Manche Krakauer Kritiker lobten diese Inszenierung, andere fanden sie schlechter als die des Krakauer Theaterensembles, alle waren einverstanden, dass die Regisseurin die Konvention des Fastnachtspiels, einer Jahrmarktproduktion, wählte und das Groteske sowohl in der Hauptfigur als auch in der ganzen Aufführung hervorhob, manche benennen auch expressionistische Züge der Aufführung. Die einen fanden es gut (z.B. Vogler), die anderen minder gut (z.B. Kwiatkowski), doch war der sozialrealistische Ton der Kritiken unverkennbar, so z.B. Vogler: Beim insgesamt hoch lobenden Ton bedauert er den Mangel am gesellschaftlich Typischen.

22 Vgl. Rafał Węgrzyniak: Kleist: pokusa snu i ekstaza śmierci. In: Dialog 2000, H. 3, S. 119–127, hier S. 123. 23 Vgl. Karol Sauerland: Es ging um den Raum. Der erste Besuch des Berliner Ensembles in Polen und seine Folgen. In: Ein schwieriger Dialog. Polnisch-deutsch-österreichische Theaterkontakte nach 1945. Hg. von Małgorzata Sugiera. Kraków 2000, S. 277–287. 24 Vgl. Konstanty Puzyna: Teatr Brechta czyli o prostocie. In: Życie Literackie 26 (1952), S. 3; Henryk Vogler: Rozbity dzban Kleista. In: Gazeta Krakowska 296 (1952), S. 4; Tadeusz Kwiatkowski: Rozbity dzban w krakowskim Starym Teatrze. In: Dziennik Polski od A do Z 31 (1953), S. 4; Zygmunt Greń: Rozbity dzban. In: Gazeta Krakowska 176 (1953), S. 4.

Kleist in Krakau

37

Noch interessanter sind die Kritiken der Krakauer Rezensenten zu der ersten polnischen Uraufführung eines Kleist’schen Dramas im Krakauer Theater schlechthin, und zwar zur Uraufführung des Zerbrochnen Krugs, die am 4.7.1953 in der Regie von Irena Babel stattfand. Die Hauptrolle des Richters Adam wurde von dem hervorragenden komischen Charakterdarsteller Eugeniusz Fulde gespielt, auch die übrigen Rollen wurden mit den wichtigsten Krakauer Theaterstars besetzt. Wichtig war, was alle betonen, dass das Bühnenbild von dem später berühmten Regisseur des Theaters »Cricot II« und bildenden Künstler, Tadeusz Kantor, entworfen wurde. Es war offensichtlich realistischer als jenes des Berliner Ensembles: Es wurde das Innere einer typischen niederländischen Hütte dargestellt, wobei eine Art Zirkuszelt über dem Ganzen doch die Fiktion andeutete, und die dramatis personae trugen Trachten der niederländischen Bauern, wie sie auf den Bildern Brueghels vorkommen. Man bediente sich unter den beiden damals existierenden polnischen Übersetzungen des Lustspiels der neueren von Zbigniew Krawczykowski. Die Texte im Programmheft wurden von Marceli Ranicki, d.h. dem späteren Marcel Reich-Ranicki, und dem Übersetzer des Dramas verfasst. Das Drama wurde, so wie es von Kleist geplant war, nicht in Akte sondern lediglich in Szenen geteilt, bei minimalen Kürzungen des Textes. Die Inszenierung wurde in allen Krakauer Zeitungen und Wochenschriften von so wichtigen Kritikern wie Zygmunt Greń, Tadeusz Kwiatkowski, Lucjan Kydryński, Henryk Vogler und Witold Zechenter sowie von dem Mitarbeiter der katholischen Wochenschrift Dziś i Jutro Antoni Łubkowski rezensiert.25 Das Spiel der Schauspieler, insbesondere Fuldes, wird von den meisten gelobt, das Gleiche gilt für das Bühnenbild Kantors. Die Autoren nennen Kleist einstimmig einen romantischen Dichter, wobei die meisten den Widerspruch nicht sehen, dass wir es mit einem realistischen Schauspiel zu tun haben. Ideologisch sind sie fast alle von dem herrschenden obligatorischen Marxismus geprägt und suchen nach dem Klassenkonflikt, positiver Darstellung der Bauern und dem Typischen im Allgemeinen, was manche von ihnen zur Ablehnung des Stücks führt. So kritisiert z.B. Vogler, dass die Grenze zwischen dem Individuellen und Außergewöhnlichen verwischt werde. Sogar an Fuldes Spiel, das er durchaus würdigt, hat er auszusetzen, dass es nicht die ganze Zeit gemäßigt realis-

25 Vgl. Greń: Rozbity dzban (wie Anm. 24); Kwiatkowski: Rozbity dzban w krakowskim Starym Teatrze (wie Anm. 24); Lucjan Kydryński, Teatr. In: Przekrój 26.7.1953, Henryk Vogler: Realizm i patologia w Rozbitym dzbanie. In: Życie Literackie 1953, Nr. 31, S. 5; Witold Zechenter, Rozbity dzban. Komedia Henryka Kleista. In: Echo Krakowa 19.9.1953; Antoni Łubkowski, Rozbity dzban. In: Dziś i Jutro 1953, Nr. 43, S. 10.

38

Maria Kłańska

tisch sei, sondern stellenweise ins Pathologisch-Groteske übergehe. Da sei Therese Giehse viel konsequenter gewesen.26 Überhaupt sieht man, dass es in der ersten Nachkriegszeit im Grunde zu früh war, ein deutsches Drama aufzuführen, das sieht man an den Bedenken von Greń, Vogler oder Zechenter. Dabei überspielen sie ihre zeitweise Deutschfeindlichkeit mit der Empfehlung, man hätte besser ein modernes deutsches Stück wählen sollen, das ebenfalls Klassenkonflikte thematisiere.27 Man sieht überhaupt, dass das Kriterium der (gesellschaftlichen) Fortschrittlichkeit versus Rückschrittlichkeit die Kritiker in seinem Banne hält und sie das Kleist’sche Stück danach zu beurteilen suchen. Greń, Vogler und Zechenter polemisieren gegen Reich-Ranicki, der in seinem Programmtext »Henryk Kleist« die Volte versucht, zu behaupten, dass Kleist zwar dem preußischen Junkertum entstammte und objektiv fortschrittliche Werte der Französischen Revolution und Napoleons verkannte und bekämpfte, aber durch sein Talent und seine Unbestechlichkeit doch dem gesellschaftlichen Fortschritt diente. Dagegen protestieren die Kritiker heftig, die dergleichen für Sophistereien halten und Kleist als reaktionär sehen. Lediglich Tadeusz Kwiatkowski, der auf eine feinsinnige Weise die Schönheit des Kleist’schen Wortes, die er mit jener Shakespeares vergleicht, und seiner gedanklichen Kühnheit hervorhebt, drückt die Meinung aus, dass Kleist unbewusst fortschrittliche Tendenzen fördere, die wir dann mit unserem heutigen Bewusstsein ans Tageslicht zu bringen vermögen. Erhaben über die damals leider fast obligaten marxistischen Floskeln sind Łubkowski in Dziś i Jutro und Kydryński in Przekrój, die sich auf das ausgezeichnete Spiel der Darsteller konzentrieren und den Humor des Lustspiels loben. Zwischen 1954 und 1984, also dreißig Jahre lang, gibt es in Krakau keine Kleist-Prämieren, lediglich berichtet Kydryński in der populären Wochenschrift Przekrój 1976 von den Gastauftritten des Berliner Deutschen Theaters während der Tage der Theaterkunst mit einer Doppelaufführung des Zerbrochnen Kruges und des Prinzen von Homburg, zu dem jedoch der Kritiker nach Warschau reiste28, und Zygmunt Greń, der 1953 dem Zerbrochnen Krug ziemlich feindlich gegenüberstand, schreibt 1977 aufgeschlossen in seinen »Aufzeichnungen über Konrad Swinarski« und »Der Teufelsvertrag oder Der Prinz von Homburg« von der Sympathie des großen polnischen Regisseurs Swinarski für den deutschen Regisseur Peter Stein, die Affinität Kleists zu Thomas Mann und über die hervorragende Gastaufführung des 26 Vgl. Vogler: Realizm i patologia w Rozbitym dzbanie (wie Anm. 25), S. 5. 27 Vgl. Greń: Rozbity dzban (wie Anm. 24); Kwiatkowski: Rozbity dzban w krakowskim Starym Teatrze (wie Anm. 24). 28 Rubrik: Kurier warszawski. In: Przekrój 5.12.1976, S. 8f.

Kleist in Krakau

39

Prinzen Friedrich von Homburg durch das Westberliner Theater am Halleschen Ufer 1975 in Polen.29 Einen Durchbruch in der Aufnahme des in Polen ebenfalls mit gemischten Gefühlen rezipierten Prinzen Friedrich von Homburg hätte die Uraufführung des Stückes im Teatr Narodowy (Nationaltheater) in Warschau (1958) in der Regie des berühmten polnischen Regisseurs Wilam Horzyca bewirken sollen, der in den 1930er Jahren eine während des Krieges verschollene Dissertation über Kleist und Shakespeare geschrieben hatte und noch in den 1930er Jahren den Prinzen Friedrich von Homburg und Penthesilea aufführen wollte, wozu es wegen des Kriegsausbruchs nicht mehr kommen konnte.30 Horzyca hat in der Zeitschrift »Nowa Kultura« einen Aufsatz gedruckt, in dem er die Gestalt des Prinzen mit dem Kordian des polnischen Romantikers Słowacki zusammenführte,31 was der Rezeption des deutschen Dramas in Polen zuträglich sein sollte. In Krakau sehen wir den Prinzen Friedrich von Homburg in der klassischen Übersetzung des Dichters Jan Sztaudynger erst 1985 im Słowacki-Theater in der Regie des noch jungen, aber erfahrenen Regisseurs Wojciech Szulczyński, mit dem Bühnenbild von Andrzej Witkowski. Diesmal wurde es kein Theaterereignis. Ich habe lediglich vier Rezensionen gefunden, die im Ton recht gemäßigt sind: von Jacek Sieradzki in der Fachzeitschrift Teatr, von Bronisław Mamoń in der katholischen Wochenschrift Tygodnik Powszechny, dem Journalisten Olgierd Jędrzejczyk in der Zeitung Gazeta Krakowska und von Dorota Krzywicka in der Abendzeitung Echo Krakowa.32 Einstimmig loben alle nur die Musik des berühmten Krakauer Komponisten Jan Kanty Pawluśkiewicz zur Aufführung, den z.B. Krzywicka als Theatermusiker folgendermaßen charakterisiert: Sie nennt ihn »einen fürs Theater hervorragenden Komponisten, denn er reagiert feinfühlig auf die Stimmung der jeweiligen Bühnensituation, ist sehr musikalisch und verfügt über eine originelle melodische Erfindungsgabe«.33 Die meisten Kritiker widmen dem Bühnenbild Witkowskis wohlwollende Aufmerksamkeit, das z.B. Mamoń als »feine Töne evozierend« bezeichnet, bei »gedämpften und ruhigen Farben, welche die Bilder halb in der Dämmerung, halb im Licht 29 Vgl. Zygmunt Greń: Notatki o Konradzie Swinarskim. In: Ders.: Taki nam się snuje dramat, Kraków 1978, S. 255–266, hier S. 265; Ders.: Pakt z diabłem, czyli Książę Homburgu. In: Ebd., S. 288–293. 30 Vgl. z.B. Węgrzyniak: Kleist (wie Anm. 22), S. 123f. 31 Vgl. Wilam Horzyca: Pruski Kordian. In: Nowa Kultura 1958, Nr. 44, S. 1, S. 7. 32 Jacek Sieradzki: Jaki ja dziwny dzisiaj śniłem sen. In: Teatr 1986, Nr. 1, S. 26; Bronisław Mamoń: Przy Placu św. Ducha. In: Tygodnik Powszechny 1985, Nr. 15, S. 6; Olgierd Jędrzejczyk: Zemsta księcia Homburgu. In: Gazeta Krakowska 1985, Nr. 76, S. 4; Dorota Krzywicka, Książę Homburgu. In: Echo Krakowa 29.5.1985, Nr. 51, S. 3. 33 Krzywicka: Książę Homburgu (wie Anm. 32), meine Übersetzung.

40

Maria Kłańska

zeigen«. Die Erörterungen zum Spiel der Darsteller gehen weit auseinander, Mamoń bezeichnet es einfach als »kümmerlich« und verwendet diese Feststellung zur generellen Kritik am Theater, das seinen hohen Rang verloren habe, die übrigen Kritiker loben meistens die Rolle der Studentin Katarzyna Gniewkowska als Natalie und des Aleksander Bednarz als Kurfürst. Offensichtliche Zweifel erregte das Spiel von Andrzej Wichrowski in der Rolle des Prinzen, das selbst Krzywicka in ihrer freundlichen, verständnisvollen Kritik als das Spiel eines Komödianten bezeichnet, der die Sympathien des Publikums stellenweise verwirken muss. Man sieht, dass die Ansprüche der Kritiker das Niveau des Theaterspiels betreffend seit den 1950er Jahren gewachsen waren, aber vielleicht wurde in Krakau nach der Zeit des Kriegsrechts (1981–83) tatsächlich schlechteres Theater gespielt. Die Einsicht in das Theaterexemplar der Übersetzung Sztaudyngers lässt einige Kürzungen erkennen. Wohl aus Zeit- und bühnentechnischen Gründen werden einige Stellen im großen Monolog des Prinzen im 4. Akt sowie die ganze Intrige mit Natalie gestrichen, die das Regiment des Obristen Kottwitz als Reserve zur eventuellen Rettung des Prinzen in die Stadt kommen lässt. Dagegen werden die deutlichen Zeitbezüge des Lobes Preußens und der Endaufruf »In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!« sicher aus politisch-nationalen Gründen entfernt. Es fehlt die Stelle im 5. Akt, wo Homburg den Kurfürsten bittet, Natalie nicht mit dem Feinde zu verheiraten, und die Aufführung endet mit der Aussage des Obersten Kottwitz »Ein Traum, was sonst?«34 Verändert hat sich allerdings auch die Einstellung der Theaterkritiker Kleist gegenüber. Die meisten würdigen die Werte seines Werkes, oft auf Kosten des Regisseurs. Aus den Rezensionen ergibt sich, dass Szulczyński, wohl in Anlehnung an das große Vorbild Horzycas, das Traumhafte des Stückes, die Verwischung der Grenze zwischen den Tagträumen des Prinzen und der Realität, hervorgehoben hat. Lediglich Sieradzki bezweifelt offensichtlich auch den Aussagegehalt des Werkes. Nach Sieradzki wollte Szulczyński »den der grausamen und demütigenden Veränderlichkeit des Zufalls ausgesetzten Menschen zeigen, der einmal auf die Höhen des Glücks gebracht wird, ein andermal in der Tiefe der Erniedrigung versinkt, verurteilt und begnadigt wird in den unvorhersehbaren Urteilen des Schicksals«.35 Der Kritiker polemisiert gegen die Legitimität dieser Auslegung, da sie sich auf Randerscheinungen des Dramas beziehe und seine politische und psychologische Intrige sowie die eigentliche These, die er allerdings als Lob des preußischen Militarismus auffasst, außer Acht lasse. 34 Vgl. DKV II, 644 (Vs. 1856). 35 Sieradzki: Jaki ja dziwny dzisiaj śniłem sen (wie Anm. 32), meine Übersetzung.

Kleist in Krakau

41

Mamoń sieht die Aktualität des Kleist’schen Textes gerade in der Zeit der »Solidarność« und sieht den Sinn des Dramas auf der anthropologischethischen Ebene, denn es handle von der menschlichen Würde, was ja ein höchst akutes Problem sei. Er betrachtet weiterhin als die in der Aufführung verlorenen Wert des Textes einen poetischen Symbolismus, ethische Energie, subtile Ironie und einen zarten, feinsinnigen Humor. Das Scheitern der Inszenierung sieht er allerdings nicht im Versagen des Regisseurs, sondern dem der Schauspieler. Krzywicka reflektiert die Frage des militärischen Ungehorsams, der zunächst verwerflich erscheine – welche Einschätzung aber nicht restlos überzeugen könne. Sie bezeichnet den Zwiespalt zwischen der Dienstpflicht und solcher Pflicht, »die aus dem Herzen und Gewissen erfolgt«, als das, was den Dramatiker Kleist interessierte. Sie räsoniert, dass der begnadigte Prinz sicher in Zukunft ein idealer Soldat, aber ein innerlich ärmerer, weniger herzlicher Mensch werden würde. Sie meint, dass jeder von uns sich mit dem Helden identifiziere, der in ständigem Konflikt mit der Umgebung lebe und Normen missachte. Sie sieht also im Prinzen einen Nonkonformisten, welche Haltung angesichts der Wirklichkeit des späten realen Sozialismus in Polen sehr positiv konnotiert wird. Schließlich charakterisiert Jędrzejczyk, der die Inszenierung eigentlich uneingeschränkt lobt, das reifste Werk Kleists auf folgende Weise: »Das hervorragende Drama Kleists Prinz Friedrich von Homburg ist ein sonderbares Vorgefühl der Literatur des Existentialismus und führt uns in die Welt der Liebe, des Traums sowie der brutalen ›Grundsätze‹ des politischen und militärischen Wettbewerbs ein.«36 Die Rezensenten sind sich einig, dass die Dramatik Kleists eine sehr große Herausforderung für die Regisseure, die Schauspieler und den Bühnenbildner sei, nur unterscheiden sie sich in der Einschätzung der Krakauer Inszenierung. Nach dieser Aufführung hatten wir wieder eine lange Pause auf professionellen Krakauer Bühnen, was Kleists Dramatik anbelangt. Diese Pause wurde allerdings von einigen Inszenierungen Kleist’scher Novellen und einer Schulaufführung der Krakauer Theaterhochschule unterbrochen. Im Jahre 1988 gab das hervorragende israelische Theater Cameri aus Tel Aviv in Warschau und in Krakau Gastauftritte mit einer Inszenierung der Novelle Kleists Michael Kohlhaas. Wie wir dank der Besprechung von Lucjan Kydryński erfahren können, wurde auf Neuhebräisch, aber mit polnischen Kommentaren gespielt. Der Kritiker nennt diese Aufführung »hervorragend, schön, bewegend, entschieden ausgezeichnet«, mit einem leichten Anflug von Expressionismus versehen. Die Regie von Ilan Ronen und das auf ein Schattentheater hin stilisierte Bühnenbild Ruth Dars bezeichnet 36 Jędrzejczyk: Zemsta księcia Homburgu (wie Anm. 32), meine Übersetzung.

42

Maria Kłańska

Kydryński als »eine Aufsehen erregende Erscheinung«. Er charakterisiert sehr kurz Kohlhaas als einen Anführer der Bauernkriege im 16. Jh. und weist auf die gesellschaftliche und politische Aktualität des Werkes hin.37 Im Jahre 1993 gab der heute bedeutende, damals erst die Theaterhochschule absolvierende Regisseur Krzysztof Warlikowski38 auf der Bühne des Teatr Stary eine (eigene) Bearbeitung der Kleist’schen Erzählung Die Marquise von O… Allerdings habe ich keine Besprechungen des Stückes gefunden, nur eine Erwähnung davon im Aufsatz von Rafał Węgrzyniak »Kleist: pokusa snu i ekstaza śmierci« (Kleist – die Versuchung des Traums und Todesekstase) in der Theaterzeitschrift Dialog, der verzeichnet, dass die Adaptierung der Novelle unter dem Einfluss des gleichnamigen Films von Eric Rohmer aus dem Jahre 1975 steht.39 Wie derselbe Węgrzyniak im oben genannten Aufsatz behauptet, gibt es in Polen seit den 1990er Jahren ausgezeichnete Voraussetzungen, Kleist zu spielen,40 zu denen er neue Übersetzungen von Jacek Buras zählt, die im Jahre 2000 im Krakauer Wydawnictwo Literackie veröffentlicht wurden (allerdings sind es nur drei Dramen: Der zerbrochne Krug, Das Käthchen von Heilbronn und Prinz Friedrich von Homburg).41 Zu Kleists Übersetzungen ins Polnische ist generell hinzuzufügen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg vor der Übersetzung der drei Dramen von Buras zwei Übersetzungen des Zerbrochnen Kruges erschienen, eine noch vor 1939 geleistete von Józef Mirski (1957) sowie eine von Zbigniew Krawczykowski (veröffentlicht 1953), 1960 wurden Dzieła wybrane (Ausgewählte Werke) mit der Einleitung des Breslauer Germanisten Zdzisław Żygulski im Warschauer Verlag PIW veröffentlicht. 1969 gab in der Reihe »Biblioteka Narodowa« (Nationalbibliothek) des verdienten Breslauer Verlags Ossolineum, wo schon die Übersetzung des Zerbrochnen Kruges von Mirski erschienen war, der Germanist Mieczysław Urbanowicz, ebenfalls in Wroclaw tätig, die Auswahl Dramaty i nowele (Dramen und Novellen) heraus, die u.a. die klassischen Vorkriegsübersetzungen der Dramen Prinz Friedrich von Homburg von Jan Izydor Sztaudynger und Penthesilea von Witold Hulewicz sowie Novellen in der sehr guten Übersetzung von Edyta Sicińska enthielt. 37 Vgl. Lucjan Kydryński: Teatr Cameri i piąte MST. In: Dziennik Polski 289 (1988), S. 4. 38 Vgl. http://pl.wikipedia.org/wiki/Krzysztof_Warlikowski (13.7.2011). Die Uraufführung von Markiza O. fand am 20.02.1993 statt. Die Übersetzung und Bearbeitung sollen vom Regisseur stammen; vgl. http://www.stary.pl/pl/spektakl/id/442 (23.5.2012). 39 Vgl. Węgrzyniak: Kleist (wie Anm. 22), S. 127. 40 Vgl. ebd., S. 119f. 41 Heinrich von Kleist: Dramaty wybrane. Przełożył Jacek St. Buras, posłowiem opatrzyła Maria Janion, Kraków 2000, enthält die Dramen Rozbity dzban. Komedia w jednym akcie, Kasia z Heilbronnu czyli próba ognia, Książę Homburg. Dramat sowie die Abhandlung O teatrze marionetek.

Kleist in Krakau

43

Eine sehr gute Übersetzung ausgewählter Briefe von Kleist erschien 1983 aus der Feder von Wanda Markowska.42 Bis in die 90er Jahr wurde immer wieder eine neue Übersetzung der Dramen postuliert, da die alten nicht mehr bühnenfähig wären. Dem entgegenkommend übersetzte Buras Den zerbrochnen Krug als das in Polen am meisten gespielte Drama, Das Käthchen von Heilbronn, von dem es überhaupt eher ganz alte Nachdichtungen als Übersetzungen gegeben hatte,43 und Den Prinzen Friedrich von Homburg in dem oben erwähnten Band des Krakauer Wydawnictwo Literackie. Inzwischen hat er für die Bedürfnisse der Bühne ebenfalls den zum ersten Mal auf Polnisch gespielten Amphitryon übersetzt, aber diese Übersetzung ist meines Wissens (noch) nicht veröffentlicht worden. Tatsächlich erschien in den 1990er Jahren eine Reihe von Uraufführungen in polnischen Theatern und im polnischen Fernsehtheater. Krakau sieht dabei eher bescheiden aus. Im Jahre 1996 debütierte der inzwischen berühmt gewordene Regisseur Grzegorz Jarzyna-Horst44 auf den Brettern der Schulbühne der Krakauer Theaterhochschule mit der polnischen Uraufführung der Penthesilea.45 Die einzige vorhandene Übersetzung war die des polnischen, von den Nazis ermordeten Expressionisten Witold Hulewicz, die, wie sich Krystian Lupa in einem Interview erinnert, Studenten der Theaterhochschule ob ihres Pathos und der im Polnischen schlecht klingenden männlichen Reime eher zum Gelächter anregte.46 So passte der Polonist und Theaterwissenschaftler Włodzimierz Szturc das Drama den Bedürfnissen der heutigen Bühne soweit an, dass er als Autor der Übersetzung auf dem Theaterzettel fungiert.47 Leider gibt es keine Rezensionen

42 Ein Verzeichnis der Übersetzungen Kleists ins Polnische, insbesondere nach 1945 finden wir u.a. in der dreibändigen Reihe von Edyta Połczyńska, Cecylia Załubska: Bibliografia przekładów z literatury niemieckiej na język polski (Bibliographie von Übersetzungen deutscher Literatur ins Polnische), Bd. I: 1800–1918, Bd. II: 1919–1939, Bd. III: 1945–1990, Poznań 1994–1999 sowie nur für die Nachkriegszeit bis 1980, in: Bibliografia literatury tłumaczonej na język polski (Bibliographie der ins Poln. übersetzten Literatur ), Bd. I: 1945–1976, Warszawa 1977, schließlich in dem Nachwort von Maria Janion (wie Anm. 41), S. 359 (unvollständig). 43 Vgl. Ciechanowska: Dwa nieznane przekłady Kleista (wie Anm. 2). 44 Stichwort Grzegorz Jarzyna in http://pl.wikipedia.org/wiki/Grzegorz_Jarzyna (6.9.2011). 45 Nach http://www.e-teatr.pl/pl/realizacje/9811,sztuka.html (23.5.2012), fand am 14.03. 1995 die polnische Uraufführung und am 5.03.1996 die Aufführung der Krakauer Theaterhochschule (PWST) statt. 46 Vgl. Kleist z powodu Burasa i Buras z powodu Kleista (Interview mit Krystian Lupa). In: Didaskalia. Gazeta teatralna 1994, Nr. 4, S. 4–6, hierzu S. 6. 47 Vgl. Theaterzettel: »Teatr PWST, ul. Straszewskiego 22; Heinrich von Kleist; Penthesilea (przekład Włodzimierz Szturc). Adaptacja, reżyseria i scenografia Grzegorz

44

Maria Kłańska

zu dieser Studenteninszenierung, nur aus dem Aufsatz von Węgrzyniak kann man einiges über Jarzynas Konzeption erfahren. Er habe sich von anthropologischen Inspirationen leiten lassen und sich vor allem auf die Begegnung zweier unterschiedlicher Kulturen konzentriert: der männlich und rational bestimmten griechischen und der matriarchalischen der Amazonen, für die Emotionen, Intuition und Magie maßgeblich gewesen seien. Jarzyna habe die antikisierende Stilisierung noch verstärkt, indem er in die Inszenierung Elemente archaischer Rituale eingeführt habe. Sicher hat den jungen Regisseur, mutmaßt Węgrzyniak, auch das Motiv der erotischen Leidenschaft angeregt, die sich zur Grausamkeit steigert und entweder zur Selbstdestruktion oder zum Verbrechen führt, da man an seinen späteren Inszenierungen sieht, wie sehr ihn diese Fragen bewegen.48 Die letzten zwanzig Jahre sind im Polen der Zeit nach der Wende meiner Meinung nach keine gute Zeit fürs Theater. Allerdings wird Kleist eben im Fernsehtheater (z.B. Michał Kwieciński 1993 – die polnische Uraufführung des Amphitryon, Krzysztof Lang, Der Prinz von Homburg) und an einigen bekannten Theatern Polens (Maciej Englert Der zerbrochne Krug 1992 in Warschau, Jerzy Jarocki Das Käthchen von Heilbronn 1994 in Breslau, 1995 Henryk Baranowski Penthesilea im Rahmen eines deutsch-polnischen Projekts in Berlin) gespielt. In Krakau haben wir es erst 2009 bzw. 2010 mit zwei Amphitryon-Inszenierungen zu tun. Am 19.11.2009 fand im Krakauer Teatr Stary im Rahmen des deutsch-polnischen Projekts »Wanderlust« eine Aufführung des Berliner Maxim Gorki Theaters mit dem Kleist’schen Amphitryon in der Regie von Jan Bosse statt. Das silberne spiegelartige Bühnenbild wurde von Stéphane Laimé entworfen. Die Doppelrolle Amphitryon/Jupiter wurde von Hans Loew gespielt, die Alkmene spielte Anja Schneider.49 Kurz darauf, am 27.02.2010, fand die polnische Krakauer Uraufführung des Amphitryon in der Regie des jungen Regisseurs Wojtek Klemm statt, die Dramaturgie wurde von Igor Stokfiszewski geleistet. Das Bühnenbild, das von Mascha Mazur entworfen wurde, stellt einen Kegel dar, dessen eine Seite aus Brettern, die ein unfertiges Gerüst signalisieren, dessen Rückseite aus Spiegeln besteht. Der Zuschauer sieht einmal die Vorder-, dann wiederum die Rückseite des Kegels. Das Transparent über der Bühne, ein Jarzyna-Horst […]«. Heutzutage gibt es auch eine noch nicht veröffentlichte neue Übersetzung von Jacek St. Buras. 48 Vgl. Węgrzyniak: Kleist (wie Anm. 22), S. 126–127. 49 Vgl. Dziś w Krakowie. Wydarzenie stałe. In: Kraków Zaprasza (Online-Portal), http://www.krakow.zaprasza.eu/wydarzenia/Wydarzenie_st.php?event_id=236 (23.05.2012) sowie: Berlin-Kraków. Projekt »Wanderlust – Pragnienie świata« w Starym. In: http://www.e-teatr.pl/pl/artykuly/82567.html (23.5.2012).

Kleist in Krakau

45

Zitat von der britischen Sängerin Lilly Allen »It’s not you, it’s me«50 weist auf die Problematik des Identitätstausches und Identitätsverlustes hin. Von den Schauspielern wird meistens Małgorzata Hajewska-Krzysztofiak als Alkmene in den Rezensionen wegen ihres Spiels lobend hervorgehoben. Es sind im Internet und darüber hinaus zahlreiche Rezensionen zu dieser Inszenierung zu lesen, die jedoch meistens nicht viel über die Aufführung sagen. Kleist wird eher peripher besprochen, sodass die gründlichste Rezension, die von Grzegorz Jankowicz in der Zeitschrift »Teatr«51 im Titel stärker das Kleist’sche »nach Molière« als den Autor des Stückes hervorhebt. Nur Jankowicz erwähnt, dass der Autor der neuen Übersetzung Jacek Buras ist. Agnieszka Jakimiak schreibt wenigstens bei ihrer Auslegung der Deutung Klemms, dass er »Kleist folgend« die Frau und ihre Situation in den Mittelpunkt stellt.52 Die Rezensionen weisen offensichtlich auf die Probleme des postmodernen Zeitalters hin. Zum Teil betonen sie – besonders diejenigen, die anonym in Internetblättern erscheinen – den Komödiencharakter der Aufführung, loben die ausgezeichnete Unterhaltung und das Spiel der Darsteller, laden ins Theater ein, sodass sie mehr der Werbung als ernstzunehmender Theaterkritik gleichen.53 Die anderen versuchen einen Hauptgedanken herauszuschälen, also entweder die immer noch aktuelle untergeordnete Stellung der Frau in der Gesellschaft und die Anwendung von Gewalt, in diesem Falle wohl eher List, der Frau gegenüber oder den Identitäts- und Intimitätsverlust des postmodernen, elektronischen Zeitalters – z.B. Agnieszka Jakimiak oder Joanna Derkaczew.54 Teilweise sprechen sie wie Elżbieta Konieczna der Inszenierung jeden Hauptgedanken ab. Konieczna schreibt eben: »Ich spreche dieser Aufführung nicht die konsequente [Bühnen-]Leistung ab, ich spreche ihr die Idee ab.«55 Diejenigen, die hier doch einen sinnstiftenden Gedanken sehen, geben zu, dass das Stück über bloße Komik hinaus etwas zu vermitteln sucht, sie 50 Vgl. Joanna Derkaczew: Kod dostępu do sypialni. In: Gazeta Wyborcza 17.3.2010, http://wyborcza.pl/1,75475,7669066,Kod_dostepu_do_sypialni.html (30.8.2011). 51 Grzegorz Jankowicz: Amfitrion czyli składnia przemocy. Amfitrion. Komedia wg Moliére’a Heinricha von Kleista In: Teatr 2010, Nr. 6, S. 14–16. 52 Vgl. Agnieszka Jakimiak: Amfitrion Kleista w reż. Klemma. In: Teatr. Dwutygodnik, http://www.dwutygodnik.com/artykul/1000-amfitrion-kleista-w-rez-klemma.html (23.5.2012). 53 Zum Beispiel: http://podtytulem.wordpress.com/2010/03/31/amfitrion-wg-vonkleista-rez-wojtek-klemm-teatr-stary-w-krakowie/ (23.5.2012). 54 Jakimiak: Amfitrion Kleista w reż. Klemma (wie Anm. 52), Derkaczew: Kod dostępu do sypialni (wie Anm. 50). 55 Elżbieta Konieczna: Recenzja Amfitrion, Stary Teatr. In: http://miesiacwkrakowie.pl/teatrt/228-amfitrion.html (30.8.2011), meine Übersetzung.

46

Maria Kłańska

sehen aber dieses Kommunikat als eine Leistung des Regisseurs oder des Stoffes, viel weniger kommen sie dabei auf Kleist zu sprechen. Agnieszka Jakimiak schreibt, dass die Vorstellung selbst die Geschlechtsdeterminierung bestätigt, indem man z.B. Alkmene in 12 verschiedenen Morgenmänteln nacheinander erscheinen lässt, was ein »Playboy«-Stereotyp sei.56 Sie schreibt von der Fernsehillusion, von einer Welt, die nur aus Spiegeln besteht, nur aus einem Außen ohne Innen, nur aus Schein. Derkaczew betont vor allem den leichten, kabarettistischen Ton der Inszenierung, sieht aber, dass sie viele Fragen aufwirft, ohne sie zu beantworten: Verlust der Identität im Zeitalter der elektronischen Medien, die Unmöglichkeit, die Kopie vom Original zu unterscheiden, Copyright und Hackertum, schließlich der Verlust des Originals, der Identität.57 Auch Grzegorz Jankowicz, der im Titel seines Artikels der Aufführung die Visitenkarte »Die Syntax der Gewalt« verleiht, geht in diese beiden Richtungen, schreibt, dass es sich um einen Gattungssynkretismus handelt, den er allerdings nicht Kleist, sondern lediglich Klemm zuschreibt, dass das Stück die »Farce der realen Welt vervielfältigt und verstärkt« und den Zuschauer mit den »Mechanismen der Vergegenständlichung konfrontiert, denen die Frau zu Opfer fällt«. Loyal stellt er in diesem Zusammenhang fest, dass diese Benachteiligung der Frau schon von Kleist hinterfragt wurde, der Alkmene zur Protagonistin seines Stückes erhob. In der weiteren Auslegung schreibt er vom fließenden Wesen der (Post-)Moderne, die man üblicherweise als Ausweitung von Freiheit sieht, die aber auch Spannung und Aggression hervorruft, da die »lokalen Identitäten« unaufhörlich mutieren. Der Kritiker resümiert, dass »Klemm stets auf der Spiegeloberfläche bleibt, auf der sich die Relationen zwischen den Gestalten widerspiegeln und ins Unendliche vervielfältigen.« Ihn interessieren die Mechanismen, Instrumente und Apparate der Gewalt, deren Präsentation sowohl im Theater als auch in der Realität Gelächter hervorrufe.58 Freilich werden die meisten Zuschauer nur dieses Unterhaltende, das modernisierte Komische wahrnehmen. Es ist aber gut, dass die Inszenierung auch solche Reflexionen hervorruft. Kommen wir zusammenfassend auf Kleist zurück. Wie wir sehen, haben wir es in Krakau mit relativ vielen Forschungsbeiträgen zu Kleist und seiner Rezeption zu tun, viel weniger aber mit dem, was ihn einem breiteren Publikum zugänglich machen würde, also mit Inszenierungen. Vier bzw. fünf eigene Uraufführungen sind sowohl in der Skala der über 65 seit 56 Vgl. Jakimiak: Amfitrion Kleista w reż. Klemma (wie Anm. 52). 57 Vgl. Derkaczew: Kod dostępu do sypialni (wie Anm. 50). 58 Vgl. Jankowicz: Amfitrion czyli składnia przemocy (wie Anm. 51), meine Übersetzung.

Kleist in Krakau

47

Kriegsende vergangenen Jahre als auch besonders der 200 Jahre seit Kleists Tod ein geringer Beitrag. Allerdings ist auf die Nachfrage aus dem Kreis der deutschen Kollegen während der Krakauer Kleist-Tagung der Kontext zu ergänzen, dass es überhaupt nicht viele deutschsprachige Dramatiker gab/gibt, die nach 1945 in Krakau gespielt worden sind. In den Jahren bis ca. 1957 waren es sowieso seltene Ausnahmen, zu denen immerhin Kleist mit seinem Zerbrochnen Krug gehört, wegen des allein geltenden sozialistischen Realismus im Kulturleben, sowie wegen des Ressentiments gegen alles Deutsche nach der Okkupation. Nach dieser Zeit waren vor allem Brecht, die Schweizer Dürrenmatt und Frisch, Bearbeitungen von Franz Kafka und Thomas Bernhard besonders beliebt. Auch Arthur Schnitzler, Ödön von Horváth, Fritz Hochwälder, also österreichische Autoren, waren gerne gespielt. Immer wieder wurde Goethes Faust als wohl einzige Position aus dem Bereich der Klassik gespielt. Manche Stücke wurden im Polen des ›realen Sozialismus‹ aus politischen Gründen inszeniert, so erinnere ich mich an eine Aufführung von Hochhuths Stellvertreter in Krakau. Auch nach der Wende wurden nicht sonderlich viele ursprünglich deutschsprachige Dramen gespielt. Um eine Probe aufs Exempel zu machen, habe ich das Repertoire des besten und größten, einige Bühnen umfassenden Krakauer Teatr Stary (Altes Theater) im Internetarchiv für den Zeitraum 1991-2011 studiert. Ich habe dort immerhin 23 Uraufführungen von deutschsprachigen Autoren gefunden. Mein Eindruck, dass dabei Bernhard absolut vorne ist, hat sich somit bestätigt: Ich habe da 5 Uraufführungen von seinen Dramen oder Prosabearbeitungen für die Bühne gefunden. Das ist außer mit seiner Qualität sicherlich mit der Vorliebe unseres hervorragendsten Theaterregisseurs Krystian Lupa für den österreichischen ›Nestbeschmutzer‹ verbunden. Mehrmals kommen Dürrenmatt (3 Mal), Brecht (2 Mal), zu meiner Überraschung auch Frank Wedekind (2 Mal) vor. Sonst fallen Bearbeitungen von Prosa hervorragender deutschsprachiger Autoren auf, so Rilkes Malte, Nietzsches Zarathustra, Brochs Schlafwandler, Canettis Blendung (polnisch Auto da fé), Hesses Steppenwolf usw. Immerhin ist Kleist neben Goethes Faust I und Nietzsche der einzige Autor der Zeit vor dem 20. Jahrhundert, der vorkommt, und zwar sogar zweimal, mit der Bearbeitung der Marquise von O... und 2011 mit Amphitryon.59 Das Ergebnis ist also nicht so ungünstig für Kleist, und die Relationen für das andere wichtige Theater Krakaus, das Juliusz Słowacki-Theater würden nicht sehr viel anders aussehen, obwohl ich dort im Internetarchiv nur zwei Uraufführungen 59 Vgl. http://www.stary.pl/pl/wyszukaj/t/archive (16.11.2011).

48

Maria Kłańska

deutsch schreibender Autoren aufgefunden habe, Dürrenmatts Frank V. und Tankred Dorsts Ich, Feuerbach, was aber sicher nur als Stichprobe des Repertoires der letzten Jahre gelten kann.60 Vielleicht haben wir zur Zeit nicht so viele hervorragende Theaterregisseure in Krakau, obwohl ein Krystian Lupa bestimmt fähig wäre, Kleist aufzuführen. Der jung gestorbene Dichter gab in Krakau meistens jungen Regisseuren Anlass, sich mit seinem Werk auseinanderzusetzen, zweimal waren es sozusagen Lehrjahre, die dann zum Ruhm führten. Momentan sind geeignete moderne Übersetzungen von Buras vorhanden. Das dargestellte Panorama zeigt aber wohl, dass das Syntagma »Kleist in Krakau« bei Spezialisten immer noch vor allem die Assoziation mit seinen Handschriften in der Berliner Sammlung der Jagiellonen-Bibliothek erweckt. Allerdings wären selbst die Spezialisten auf die Leistungen von Wukadinovič, Rosentalowa und Ergetowski aufmerksam zu machen.

60 Vgl. http://www.slowacki.krakow.pl/pl/spektakle/archiwum_spektakli/ (23.5.2012).

Monika Jaglarz

Die Autographen Heinrich von Kleists in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau*

In den Handschriftensammlungen, die heute in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau aufbewahrt werden, befinden sich knapp 90 Originalbriefe von der Hand Heinrich von Kleists.1 Sie stammen aus den Beständen der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin, die auf Polnisch meist kurz »Berlinka« genannt wird. Die Berliner Bestände kamen in Folge der Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs nach Krakau. Wegen der Gefährdung Berlins durch den Krieg begann man ab 1941 nach und nach die wertvollsten Bestände der Berliner Staatsbibliothek auszulagern. Sie wurden an verschiedenen sicheren Standorten, u.a. in Fürstenstein (poln. Książ) in Niederschlesien, aufbewahrt. Ein Teil der Bestände kam im Jahre 1944 nach Grüssau (Krzeszów bei Kamienna Góra), wo im Zisterzienserkloster ca. 500 Kisten deponiert wurden. Für die Berliner und weitere Buchbestände verantwortlich zeichnete nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Dr. Stanisław Sierotwiński (19091975), ein Literaturhistoriker und Mitarbeiter der Jagiellonen-Bibliothek und seit dem 1. Dezember 1945 der Delegierte des Polnischen Bildungsministers für die Sicherung zurückgelassener Bücherbestände. Auf sein Bemühen hin kamen die Bestände der Preußischen Staatsbibliothek in den Jahren 1946-1947 in die Jagiellonen-Bibliothek; dort hatte die von Sierotwiński geleitete Delegatur ihren Sitz. Hier werden sie – unter partieller Veränderung ihres rechtlichen Status, nämlich als Leihgabe der polnischen Regierung – bis heute aufbewahrt. Auf behördliche Weisung hin wurden die Bestände den Lesern nicht zur Verfügung gestellt, ihre Präsenz in Krakau wurde sogar verschwiegen. Dieser Sachverhalt änderte sich 1981 dank einer politischen Entscheidung,

* 1

Übersetzung: Katarzyna Jastał. Genaue Angaben zu den Aufbewahrungsorten der einzelnen Briefe enthalten die jeweiligen Kommentare der Ausgabe BKA IV/1-3.

50

Monika Jaglarz

in deren Folge Wissenschaftler freien Zugang zu den wertvollen Sammlungen erhielten.2 Einen wichtigen Teil der aus Berlin stammenden Bestände machen zwei große Handschriftensammlungen aus: die Autographensammlung und die Sammlung Varnhagen. Die Briefe Heinrich von Kleists werden in beiden Sammlungen aufbewahrt. Die Autographensammlung der Preußischen Staatsbibliothek entstand aus angekauften Privatsammlungen und handschriftlichen Nachlässen bedeutender Persönlichkeiten. Am Anfang der Sammlung stand 1804 die Übernahme eines Teils der Sammlung des Bischofs von Ermland Ignacy Krasicki (1735-1801). In den 1840er Jahren kamen die Nachlässe von Friedrich August Wolf (1759-1824) und Johann H.S. Formey (1711-1797), später die Sammlungen von Karl H.G. von Meusebach (1781-1847), General Joseph M. Radowitz3 (1797-1853) und Rudolf Köpke (1813-1871) hinzu. In der Folgezeit wurden in die Autographensammlung zahlreiche weitere Sammlungen, Nachlässe und einzelne Handschriften integriert. Die Sammlung umfasste Handschriften vom 15. bis zum 20. Jahrhundert und wurde laufend um neu erworbene Stücke ergänzt.4 Lose Handschriften und andere Materialien aus handschriftlichen Nachlässen und anderen Sammlungen wurden nach den jeweiligen Familiennamen oder (im Falle von Herrschern) nach Ländern sortiert und in gesonderten, alphabetisch geordneten Konvoluten aufbewahrt. Da dieses Aufbewahrungssystem zur Auflösung der ursprünglichen Nachlässe führte, wurde jeder Brief bzw. jedes Dokument nicht nur mit dem Besitzvermerk der Bibliothek, sondern 2

3

4

Weiterführende Informationen über die Berliner Bestände bietet der Artikel von Jan Pirożyński, Berlinka. In: Dziennik Polski, 21.05.1993, S. 8, dem ich die Angaben zur Geschichte der Berliner Bestände entnommen habe. Die Geschehnisse, als deren Folge der Bestand zur Zeit in Krakau aufbewahrt wird, beschreibt ausführlich Zdzisław Pietrzyk: Zbiory z byłej Pruskiej Biblioteki Państwowej w Bibliotece Jagiellońskiej. In: Alma Mater 2008, Nr. 100, S. 15-19. Vgl. auch die deutschsprachige Publikation von Ralf Breslau (Hg.): Verlagert, verschollen, vernichtet … Das Schicksal der im 2. Weltkrieg ausgelagerten Bestände der Preussischen Staatsbibliothek. Berlin 1995. Eine unersetzliche Orientierungshilfe in der Sammlung bietet: Catalogue de la collection précieuse de Lettres Autographes laissé par feu Mr. J. de Radowitz … Berlin 1864. Die Autographen der Sammlung wurden sowohl mit den Namen der ursprünglichen Besitzer als auch mit den Nummern aus diesem Katalog beschriftet. In die Autographensammlung wurden ca. 50 Nachlässe und Sammlungen aufgenommen, neben den bereits genannten auch die von Karl vom Stein zu Altenstein, Heinrich Christian Boie, Woldemar von Ditmar, Jacob und Wilhelm Grimm, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Johann Gottfried Herder, Karl Ludwig von Knebel, Gustav Parthey, Friedrich von Raumer, Jean Paul von Richter, Adolf Heinrich Friedrich Schlichtegroll und Ludwig Tieck.

Die Autographen Heinrich von Kleists

51

auch mit einer sog. Akzessionssignatur oder dem Namen des Besitzers der ursprünglichen Sammlung bzw. Nachlasses gekennzeichnet.5 Die in Krakau aufbewahrte Autographensammlung zählt ca. 200 Kästen, die die alphabetisch sortierten Konvolute von A bis »Hirzel« und von »Kromayer« bis Z enthalten.6 Hier befindet sich ein bedeutender Teil der Originalbriefe Heinrich von Kleists: Es sind knapp 90 der 235 bekannten Briefe des Autors, zu denen auch diejenigen gezählt werden, deren Originale heute nicht mehr erhalten sind.7 Unter ihnen befinden sich über 50 Briefe des Dichters an seine Schwester Ulrike von Kleist aus den Jahren 1795-1811 (darunter das Original des Briefs, den Kleist am Tag seines Selbstmords an seine Schwester schrieb), ca. 30 Briefe an die Verlobte Wilhelmine von Zenge aus den Jahren 1800-1801 und der erste erhaltene Brief des Dichters an seine Tante Auguste Helene von Massow aus dem Jahre 1793. Diese Handschriften kamen im Jahre 1923 als Leihgabe der Familie von Schönfeld8 in die Berliner Sammlung und wurden zusammen mit anderen Handschriften Kleists in der Autographensammlung aufbewahrt.9 Bis auf die Leihgabe der Familie von Schönfeld sind alle anderen Handschriften Kleists aus der Autogra-

5

6

7 8

9

Das Grundlagenwerk, das Recherchen in der Sammlung ermöglicht, ist der Katalog von Helga Döhn: Die Sammlung Autographa der ehemaligen Preussischen Staatsbibliothek zu Berlin: Autographenkatalog. Wiesbaden 2005. Auf S. 9-15 findet der Leser Informationen über die Geschichte der Sammlung. Die Kästen mit den Konvoluten mit den Namen zwischen »Hirzel« und »Kromayer« wurden während Verlagerung der Bestände während des Zweiten Weltkrieges verstreut. Aus dem zerschlagenen Bestand sind Handschriften (unkomplett) der Brüder Humboldt, Paul Heyses, Heinrich von Kleists und Konvolute mit den Namen: Haupt, Jhering, Job, Juncher, Jung, Junge, Junius, Jussieu, Kobell, Kopisch, Kopp, Kornmann, Kosmali, Kopitar erhalten und werden heute in der Jagiellonen-Bibliothek aufbewahrt. Siehe hierzu Anm. 1. Im handschriftlich erstellten Katalog der Autographensammlung, dessen Kopie sich in der Handschriftenabteilung der Jagiellonen-Bibliothek befindet, lesen wir den Vermerk: »Am 25. IV. 1923 v. H. Rittersgutbesitzer Major v. Schönfeldt Werben d. Preuss. Staatsbibliothek als Leihgabe überreicht«. Im oben zitierten alten Katalog, der von Helga Döhn als Grundlage ihrer Publikation herangezogen wurde, werden darüber hinaus Briefe Heinrich von Kleists an Friedrich von Raumer, Karl von Stein zum Altenstein, August Oskar von Rühle von Lilienstern sowie Teile von Handschriften und Briefe, die sich auf Kleist beziehen, genannt. In der Autographensammlung befand sich zudem auch das Original des Abschiedsbriefs Heinrich von Kleists und Adolphine Henriette Vogels vom 21.11.1811 an den Kriegsrath Christoph Ernst Friedrich Peguilhen. Diese Handschrift war eine Schenkung Prof. Ludwig Darmstätters aus dem Jahre 1906. Leider sind die Handschriften im Zweiten Weltkrieg verlorengegangen.

52

Monika Jaglarz

phensammlung im Zuge des Zweiten Weltkriegs verlorengegangen und heute verschollen.10 Entsprechend dem charakteristischen Ordnungssystem, das sowohl in der Autographensammlung als auch in der Sammlung Varnhagen Anwendung fand, liegen unter dem Namen »Kleist« nur die Briefe des Dichters selbst, während die Briefe, die an ihn gerichtet waren, unter dem Namen des jeweiligen Absenders abgelegt waren. So befindet sich der Brief Johann Wolfgang von Goethes an Heinrich von Kleist im Konvolut »Goethe«. Die Sammlung Varnhagen umfasst die Handschriften-Nachlässe von Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858), seiner Frau Rahel geb. Levin (1771–1833) und vieler prominenter Persönlichkeiten ihrer Epoche, die mit dem Ehepaar Varnhagen verwandt oder befreundet waren: Bettina und Clemens Brentano, Achim von Arnim, Helmine von Chézy, Sophie Mereau, die Familien Assing und Levin-Robert; in die Sammlung wurden auch die umfangreichen Nachlässe von Hermann von Pückler-Muskau (1785–1871) und Apollonius von Maltitz (1795–1870) und ein Teil der äußerst umfangreichen Korrespondenz Johann H.S. Formeys (1711–1797)11 aufgenommen. Manche Originale erwarb der Sammler Varnhagen durch die Vermittlung von Freunden und Bekannten, einen wichtigen Teil dieser Sammlung stellen Abschriften und Notizen von der Hand Varnhagens dar. Hinzu kamen auch die von Varnhagens Nichte Ludmilla Assing angefertigten Abschriften.12 Im Unterschied zur Autographensammlung, die um Neuerwerbungen aus unterschiedlichen historischen Phasen ergänzt wurde, war die Sammlung Varnhagen ein geschlossener Bestand zeitgenössischer Handschriften, d.h. von Autographen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Sammlung kam durch eine Nachlassverfügung der Nichte und Erbin Varnhagens, Ludmilla Assing-Grimelli (1821–1880), direkt nach ihrem Tod in die Preußische Staatsbibliothek. Korrespondenzen, Fragmente literarischer Werke, Stiche und Ähnliches wurden in gesonderten Konvoluten 10 Helga Döhn: Die Sammlung Autographa der ehemaligen Preussischen Staatsbibliothek zu Berlin (wie Anm. 5). Zu Kleists in Berlin verbliebenen Handschriften vgl. ebd., S. 977. 11 Grundlegend für die Korrespondenz Formeys ist der Katalog von Jens Häseler: La correspondance de Jean Henri Samuel Formey (1711-1797): inventaire alphabétique. Paris 2003. Der Katalog erfasst sowohl die Bestände der Sammlung Varnhagen als auch der Autographensammlung. 12 In fast jedem Konvolut der Sammlung befinden sich auf die jeweiligen Persönlichkeiten und Ereignisse bezogenen Notizen Varnhagens. Die Notizen wurden in Perlschrift auf verschiedenfarbigen kleinen Zetteln gemacht. Zahlreiche Handschriften wurden mit Zetteln versehen, die Varnhagens Kommentare und Beschreibungen enthalten.

Die Autographen Heinrich von Kleists

53

abgelegt und nach Namen (ca. 9000) sortiert, die alphabetisch geordnet in nummerierten Kästen untergebracht wurden. Die über 300 Kästen zählende Sammlung wurde von Ludwig Stern13 bearbeitet, sein 1911 veröffentlichter Katalog ist bis heute das Grundlagenwerk für alle, die sich über die Sammlung informieren möchten. Die Materialien, die unter dem Namen Kleist im Kasten Nummer 100 der Sammlung Varnhagen aufbewahrt werden, sind sehr vielfältig. Es sind Autographen: Notizen mit Bemerkungen zu Gedichten, ein Blatt aus dem Stammbuch Karl August Varnhagens mit einem Eintrag Kleists aus dem Jahre 1804, Briefe: an Otto August Rühle von Lilienstern aus dem Jahre 1807, an Karl August Varnhagen aus dem Jahre 1808, an Ludwig Achim von Arnim (1810), an Rahel Varnhagen (1811) und zahlreiche von Karl August Varnhagen und Ludmilla Assing angefertigte Notizen und Abschriften, die sich auf Kleist beziehen, u.a. die Abschrift des Abschiedsbriefs Heinrich von Kleists und Adolphine Henriette Vogels an Peguilhen14 sowie des Briefs von Kleist an Rahel Varnhagen aus dem Jahre 1810. Zu diesen Materialien kamen Zeitungsausschnitte aus den Berliner Abendblättern aus der Zeit vom 10.10. bis 21.12.1810, ein Kleist-Porträt, Materialien zur Rezeption von Kleists Werken und der Brief der Tochter von Adolphine Henriette Vogel, Pauline Eck, an Karl Varnhagen aus dem Jahre 1833.15 Die Handschriften Heinrich von Kleists in der Jagiellonen-Bibliothek sind (auch in digitalisierter Form) für Wissenschaftler zugänglich. In der im Rahmen der von Roland Reuß und Peter Staengle herausgegebenen Brandenburger Ausgabe (BKA) erfolgten neuesten Edition der Briefe Kleists befinden sich neben Brieftranskriptionen auch Abbildungen der Originalbriefe.

13 Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin 1911. 14 Das Original, das sich in der Autographensammlung befand, ist im Zweiten Weltkrieg verlorengegangen (vgl. Anm. 8). 15 Eine detaillierte Liste findet sich bei Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung (wie Anm. 13), S. 408.

54

Monika Jaglarz

Ausstellung »Heinrich von Kleist und die Briefkultur seiner Zeit« in der Biblioteka Jagiellońska, Krakau 28.9.–28.10.2012 (Fotos: Ingo Breuer)

Klaus Müller-Salget

Probleme der Edition und der Kommentierung von Kleists Briefen

Kleists Briefe bilden bekanntlich, trotz der sehr lückenhaften Überlieferung, die wesentlichste Quelle für jede Kleist-Biographie, bedürfen aber einer abwägenden Interpretation. Dass man briefliche Äußerungen nicht schlicht für bare Münze nehmen darf, sondern die jeweilige Situation und die Erwartungen des Schreibenden ebenso wie den Stellenwert des jeweiligen Adressaten/der Adressatin in Betracht ziehen muss, ist ja eine Binsenweisheit. Im Falle Kleists kommt hinzu, dass seine Briefe gerade in Bezug auf diejenigen Abschnitte, über die wir nur durch sie informiert sind, zusätzliche Rätsel aufgeben; das gilt insbesondere für die sogenannte Würzburger Reise und die sogenannte Kant-Krise. Die Notwendigkeit einlässlicher Kommentierung liegt auf der Hand. Leider ist ja ein allerwichtigster Teil dieser Korrespondenz, die Briefe an Marie von Kleist, fast gänzlich der Vernichtung anheimgefallen. Auszüge aus diesen Briefen durfte Ludwig Tieck in der Einleitung zu seiner Ausgabe Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften von 1821 abdrucken. Die Identität der Adressatin enthüllte sich aber erst im Jahre 1914, als ein vollständiger Brief an Marie aufgefunden und publiziert wurde, von dem ein Ausschnitt schon in Tiecks Ausgabe gestanden hatte. Auf Tieck folgte 1846 und 1848 Eduard von Bülow mit weiteren BriefAbdrucken. Die Briefe an Ulrike von Kleist edierte 1860 Karl August Koberstein, diejenigen an Wilhelmine von Zenge Karl Biedermann 1884. Die erste Gesamtausgabe von Kleists Werken und Briefen veranstaltete in den Jahren 1904 bis 1906 Erich Schmidt. Den Brief-Band hat schon damals Georg Minde-Pouet bearbeitet. Kleists Orthographie und Interpunktion wurden weitgehend gewahrt. Die nur in Abschriften, z.B. von Marie von Kleist oder von Wilhelm von Schütz, überlieferten Briefe und BriefFragmente hat Minde-Pouet allerdings der »Kleistschen Schreibung« anzupassen versucht (vgl. ES V, 478 und 490f.). Ebenso ist er bei der von ihm besorgten zweiten Auflage dieser Ausgabe verfahren, die im Jahre 1936 mit zwei Brief-Bänden eröffnet wurde.

56

Klaus Müller-Salget

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sehr viele Briefe für immer oder aber doch für geraume Zeit verschwunden. Man war, abgesehen von einigen neuen Funden, auf die Edition von Minde-Pouet angewiesen. Helmut Sembdner, dessen Kleist-Ausgabe seit der zweiten Auflage von 1961 über mehr als drei Jahrzehnte maßgebend bleiben sollte, hat zwar die Beibehaltung von Kleists Interpunktion durchgesetzt, die Orthographie aber dem damals geltenden Standard angepasst. Die von Siegfried Streller und anderen seit 1978 mehrfach im Berliner Aufbau-Verlag edierte vierbändige Kleist-Ausgabe hat Sembdners Verfahren übernommen, allerdings einen entschieden umfangreicheren Kommentar geliefert. Auch nach der Wiederauffindung der Briefe an Wilhelmine von Zenge und an Ulrike von Kleist sowie der Varnhagenschen Sammlung in der Krakauer Jagiellonen-Bibliothek sind die Ausgaben von Sembdner und Streller bei den normalisierten Schreibungen geblieben. Als im Jahre 1990 Stefan Ormanns und ich uns daran machten, den Brief-Band für die Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag zu erarbeiten, haben wir gegen die dort vorgeschriebene Praxis zwei Dinge durchgesetzt: 1. eine strikt originalgetreue Wiedergabe der Textzeugen, auch der Handschriften aus zweiter und dritter Hand, 2. die Verzeichnung sämtlicher Lesarten, also nicht nur solcher Korrekturen und Streichungen, die MindePouet 1905 für ›wesentlich‹ erachtet hatte, sondern sämtlicher Verschreibungen, Verbesserungen, Streichungen. 1996 erschien dann der erste von insgesamt drei Brief-Bänden innerhalb der Brandenburger Kleist-Ausgabe.1 Dort findet man alle Handschriften als Faksimilia, und auf der jeweils gegenüberliegenden Seite steht ein strikt diplomatischer Abdruck. Die im Jahre 2010 auf der Grundlage der Brandenburger Ausgabe ebenfalls von Roland Reuß und Peter Staengle publizierte sogenannte Münchner Ausgabe bringt natürlich nicht diplomatische Abdrucke, sondern Fließtexte. 1999 ist bei Reclam die von Dieter Heimböckel besorgte und 2011 nochmals aufgelegte Ausgäbe sämtlicher Briefe Kleists erschienen, die, ebenso wie die Klassiker- und die Münchner Ausgabe, die Texte originalgetreu wiedergibt. Was aber heißt ›originalgetreue Wiedergabe‹? Schon die Übertragung der Schreibschrift in den Druck stellt ja eine Veränderung dar, vor allem die Übertragung in die jetzt gebräuchliche Antiqua. Hinzu kommt ein unterschiedlicher Umgang mit Hervorhebungen und Abkürzungen. Abgesehen 1

Die Bände IV/2 und IV/3 sind in den Jahren 1999 bzw. 2010 herausgekommen.

Probleme der Edition und der Kommentierung von Kleists Briefen

57

vom diplomatischen Abdruck in der Brandenburger Ausgabe werden Verdopplungsstriche lungsstriche über m und n in mm bzw. nn aufgelöst. Unterstreichungen werden als Hervorhebungen je anders gekennzeichnet: in älteren ä lteren Ausgaben und bei Heimböckel als Sperrung, in der Klassiker Klassiker- und in der Münchner Ausgabe gabe als Kursivierung; ZweiZwei und Mehrfachunterstreichungen werden dort durch zusätzliche Sperrung, bei Heimböckel durch Halbfettdruck her hervorgehoben gehoben (vgl. Abb. 1a 1a−d).

Abb 1a: Kleist an Wilhelmine von Zenge, Zenge, 15. Aug. 1801, S. (Ausschnitte) (Aus

Abb. 1b H 271

Abb. 1c DKV IV, 261f.

Abb. 1d MA II, 764

58

Klaus Müller-Salget Salget

Den Wechsel von Kurrent Kurrent- zu lateinischer Schrift konnten Schmidt und Minde-Pouet Pouet noch durch den Wechsel von Fraktur zu Antiqua nachbilden; die Münchner Ausgabe wechselt von Antiqua zu Grotesk. Die Klassiker Klassikerund die Reclam Reclam-Ausgabe Ausgabe verzichten auf eine solche Unterscheidung. Different ist auch der Umgang mit zwei von Kleist häufig gebrauchten Abkürzungen kürzungen.. Die eine, ein u mit nach rechts oben ausholendem Schlenker, steht für »und« (vgl. Abb. 2 und 3a). 3a). In fast allen Ausgaben, auch bei Rec Reclam, wird das zu »und« aufgelöst.

Abb. 22: Kleist an Wilhelmine von Zenge, 30. Mai 1800, S. 2 v (Ausschnitt) schnitt)

Abb. 3a: Kleist an Ulrike von Kleist, 17. Dez. 1807, S. 1 r (Ausschnitte) schnitte)

Probleme der Edition und der Kommentierung von Kleists Briefen

59

Abb. 3b: BKA IV/3, 84 (vgl. Zeile 7 der Faksimileseite)

Die Klassiker Klassiker-Ausgabe Ausgabe schreibt »u«, was etwas selt seltsam, sam, die Brandenburger und die Münchner Ausgabe »u.«, was leicht büro bürokratisch tisch wirkt. Wohl deshalb hat Peter Staengle im dritten Brief Brief-Band Band einen eigenen eigenen Graph eingesetzt (vgl. Abb. 3b), b), den ich freilich als wenig ge gelungen lungen betrachte, da ihm gerade der Schwung von Kleists Schlenker fehlt. Ein andere anderess Problem gibt Kleists Zeichen für »usw.« oder »etc.« auf (vgl. Abb. 4).

[…]

Abb. 4:: Kleist an Wilhelmine von Zenge, Frühjahr oder Sommer 1800, Denkübungen (Ausschnitte)

60

Klaus Müller-Salget Salget

In der Schmidtschen Ausgabe hat Minde-Pouet Minde Pouet hier die Tironische sche Note eingesetzt, in der zweiten Auflage aber ein α (vgl. Abb. 5a und b). Das »kommt indes nur dem optischen Befund nahe, ist semantisch aber irre irreführend, rend, denn natürlich handelt es sich nicht um ein kleines Alpha, son sondern um ein verschliffen verschliffenes es ›&‹«.2 In den Ausgaben von Sembdner und Streller steht statt des Kürzels »etc.«, während die Brandenburger, die Klas Klassiker- und die Reclam Reclam-Ausgabe Ausgabe »&« bieten.

Abb. 5a: ES V, 65 (1906)

Abb. 5b: MP I, 61 (1936)

So viel zur ›originalgetreuen Wiedergabe‹, die also auch schon Umformun Um mungen vornehmen muss, über die der Kommentar Auskunft zu geben hat. Und damit komme ich zum Kommentar. Hier sind zwei Unglücke zu be beklagen: Der Kommentarband zur Ausgabe von Minde-Pouet Minde Pouet ist nach Beginn des Zweite Zweiten n Weltkriegs nicht mehr zustande gekommen, und die drei vorgesehenen Kommentarbände zur Brandenburger Ausgabe werden ebenfalls nicht erscheinen. Das heißt nicht, dass es da gar keinen Kom Kommentar tar gäbe. Über die Art der Textkonstitution gibt Peter Staengle Staengl e im je je2

So Stefan Ormanns in DKV IV, 568f.

Probleme der Edition und der Kommentierung von Kleists Briefen

61

weiligen Nachwort Auskunft, und in den Brandenburger Kleist-Blättern 9, 12 und 20 finden sich ausführliche Chroniken zur jeweiligen Zeitspanne und weitere Materialien, die zunächst noch »Vorgaben zur Kommentierung von BKA IV/1« bzw. »von BKA IV/2« genannt wurden, worauf Staengle dann im letzten der Brandenburger Kleist-Blätter notgedrungen verzichtet hat. Hervorzuheben sind auch die jeder Wiedergabe und Umschrift der Texte vorangestellten Angaben zur jeweiligen Handschrift, die ausführlicher sind als diejenigen in der Klassiker-Ausgabe, weil Staengle auch über die Materialität der Handschriften Auskunft geben konnte (Qualität und Farbe des Papiers, Farbe der Tinte, Wasserzeichen usw.), während Stefan Ormanns mit Fotokopien gearbeitet hat. Auch über die Provenienz der jeweiligen Handschrift gibt die Brandenburger Ausgabe ausführlicher Auskunft. Ormanns hingegen war genauer in der Kennzeichnung unvollständiger Erstdrucke (welche Übung Staengle dann für die Bände 2 und 3 übernommen hat). Nur in der Klassiker-Ausgabe findet sich eine Konkordanz der Brief-Nummern in früheren Ausgaben (Vgl. Abb. 6a, 6b).

Abb. 6a: DKV IV, 705

62

Klaus Müller-Salget Salget

Solche Angaben zur Handschrift finden sich in Erich Schmidts Ausgabe nur sehr abgekürzt, bei Sembdner hie und da, bei Heimböckel gar nicht und in der Münchner Ausgabe wieder nur sehr abgekürzt. Lesarten wer werden dort und bei Heimböckel nicht verzeichnet.

Abb. 6b: BKA IV/1 /1, 451.. Mit freundlicher Genehmigung Genehmigung des Stroemfeld Verlags

Probleme der Edition und der Kommentierung von Kleists Briefen

Abb. 77a: Kleist an Ulrike von Kleist, 26. Okt. 1803, S. 1 r

Abb. 7b 7b: Kleist an Ulrike von Kleist, 26. Okt. 1803, S. 1 r, Zeile 1

63

64

Klaus Müller-Salget

Was die Lesarten betrifft, so möchte ich mich auf ein ziemlich bekanntes Beispiel beziehen, auf Kleists Brief an die Halbschwester Ulrike aus St. Omer am 26. Oktober 1803 (Abb. 7a, 7b). Die gestrichene Aufforderung »sei mein starkes Mädchen« hat Minde-Pouet im Kommentar der Schmidtschen Ausgabe lediglich als »gestrichen« vermerkt (ES V, 471); im Text tauchte sie nicht auf; auch in der zweiten Auflage von 1936 blieb sie weg. Sembdner schrieb in den Text in eckigen Klammern: »[gestrichen: Sei mein starkes Mädchen.]« (SW II, 737), die Aufbau-Ausgabe vermerkte in einer Fußnote: »[›Ulrike!‹ korrigiert aus] Ulrike, sei mein starkes Mädchen!« (St IV, 317). Stefan Ormanns aber teilte mit: »Diese Tilgung sieht ganz anders aus als alle Streichungen etc., die Kleist selbst in seinen Briefen vorgenommen hat. Eine starke Ähnlichkeit mit den späteren Eingriffen Friederike v. Schönfeldts in Nr. 121 [Brief an Ulrike von Kleist vom 25.10. 1807] ist unverkennbar, und wir vermuten auch hier ihre Hand am Werk.« (DKV IV, 825). Folglich wurde der Satz wieder in den Text aufgenommen. Die Herausgeber der Brandenburger Kleist-Ausgabe schlossen sich dem an und teilten mit: »Streichung von fremder Hand (mglw. Ulrike v. Kleist oder Friederike v. Schönfeldt)« (BKA IV/2, 281). Auch Heimböckel hat den Satz wieder in den Text aufgenommen und im Kommentar zwar (wohl versehentlich) nicht vermerkt, dass da eine Streichung vorliegt, wohl aber, dass Minde-Pouet die Aufforderung als Lesart ausgewiesen und die Klassiker-Ausgabe sie wieder in den Text integriert hat (H, 613). In der Münchner Ausgabe ist der Satz ebenfalls im Text vorhanden (MA II, 818), im Kommentar aber findet sich kein Wort zu dieser Streichung, und das ist denn doch allzu wenig. Der Satz: »Sei mein starkes Mädchen!« stammt aus Schillers Drama Wallensteins Tod (Vs. 2927). Wallenstein spricht ihn zu Thekla, die als Reaktion auf die Nachricht vom Tod Max Piccolominis in Ohnmacht gefallen war. Kleist hatte diese Wendung schon einmal benutzt, und zwar im Brief an Wilhelmine von Zenge vom 14. April 1801, mit dem er sich zu seiner Paris-Reise verabschiedete. Warum sollte er den Satz im Abschiedsbrief an Ulrike gestrichen haben? Und was sollte Ulrikes Erbin Friederike von Schönfeldt daran gestört haben?3 Ich halte eher für wahrscheinlich (und das hält ja auch Peter Staengle für möglich), dass Ulrike selbst diese Auf-

3

Die anderen von Ormanns erwähnten Streichungen hatten ja politische Gründe: Dass Kleist und Müller in der geplanten »Phönix«-Buchhandlung unter Umständen den Code Napoléon und andere französische Verlautbarungen publizieren wollten, sollte der Nachwelt verschwiegen werden.

Probleme der Edition und der Kommentierung von Kleists Briefen

65

forderung als Zumutung empfunden und getilgt hat.4 – Wie dem auch sei: Das Faktum der Streichung schlicht zu verschweigen geht denn doch nicht an. Um es gleich zu sagen: Der Kommentar der Münchner Ausgabe – und das betrifft nicht nur die Briefe – muss als sehr defizitär bezeichnet werden. Einerseits finden sich hier zwar Dokumente abgedruckt, die man bislang entweder in Sembdners Lebensspuren oder in den entsprechenden Brandenburger Kleist-Blättern nachlesen musste, aber der eigentliche Kommentar umfasst für sämtliche Werke und Briefe Kleists gerade einmal 250 Seiten; für die Briefe sind es deren 103. Zum Vergleich: In der Reclam-Ausgabe von Heimböckel sind es 157 Seiten. Dass die Münchner Ausgabe für die Briefe keinen Einzelkommentar im Umfang von 530 Seiten vorlegen konnte (wie die Klassiker-Ausgabe), ist angesichts des Umstandes, dass sie die zweibändige Ausgabe von Sembdner ersetzen soll, verständlich. Aber sogar Sembdner bringt auf seinen viel enger gedruckten 55 Seiten des Öfteren mehr an Information als die Münchner Ausgabe. Ich gebe einige Beispiele: Am 14. August 1800 bittet Kleist Ulrike um Übersendung seiner »Schrift, über die Kantische Philosophie« und einer »Kulturgeschichte« (DKV IV, 67). Sembdner sagt wenigstens etwas zur »Kulturgeschichte« (SW II, 967); Wolfgang Barthel (in der Aufbau-Ausgabe), die Klassiker-Ausgabe (DKV) und Heimböckel bringen Erläuterndes zu beidem; die Münchner Ausgabe schweigt (MA III, 605). Ebenso schweigt sie – als einzige der genannten Ausgaben – zu dem berühmten Gewölbe-Gleichnis im Brief vom 16. November 1800, zur Erwähnung eines »Ideenmagazins« am 18. November 1800, zur »Geschichte meiner Seele« und zur »neueren sogenannten Kantischen Philosophie« im Krisen-Brief vom 22. März 1801, und Maximilian Klingers Roman »Der Kettenträger« wird lediglich bibliographisch verortet (MA III, 616), während Sembdner immerhin auf den einschlägigen Aufsatz von Hanna Hellmann hinweist (SW II, 972). – Die Bezugnahme auf Tankred im Brief vom 21. Mai 1801 (DKV IV, 224) erklären alle anderen Kommentatoren mit der unglücklichen Beziehung zwischen Tankred und Chlorinde in Tassos Epos (und mit der wahrscheinlichen Vermittlung von Kleists Kenntnis durch Goethes Wilhelm Meister); die Münchner Ausgabe teilt unterm Lemma »Tankred« mit: »Gestalt aus Torquato Tassos Epos La Gerusalemme Liberata (1580).« (MA III, 618). Aha! Ähnlich geht man dort mit Orten um. Am 2. Dezember 1801 erklärt Kleist seiner Braut, dass er angesichts der Erwartungen, die er erweckt und 4

Dafür sprechen könnte der Umstand, dass die Streichungen in diesem Brief mehr nach links, diejenigen in dem späteren Brief mehr nach rechts geneigt sind.

66

Klaus Müller-Salget

nicht erfüllt habe, nicht nach Frankfurt zurückkehren könne, und fährt fort: »Ja, [we]nn Frft. nicht größer wäre, als der Nonnenwinkel« (DKV IV, 286). Alle anderen Kommentatoren, auch Minde-Pouet im Jahre 1905, erklären, dass dort die Häuser der Familien von Kleist und von Zenge standen. Die Münchner Ausgabe teilt mit: »Häusereck, bei der Marienkirche« (MA III, 623). Ähnlich verfährt man mit dem Ort Wormlage, an dem Ulrike von Kleist sich im Herbst 1807 aufhielt. Hierzu schweigt zwar auch Sembdner, aber die anderen Kommentatoren teilen mit, dass es da ein Gut der mit den Kleists verwandten Familie von Schönfeldt gab − was Ulrikes Aufenthalt dort erklärt. Die Münchner Ausgabe begnügt sich mit Geographie: »Wormlage] nordöstlich von Gulben im Spreewald.« (MA III, 646) Zum Überfluss ist diese Angabe auch noch falsch. Sie stammt aus der Aufbau-Ausgabe (St IV, 601) und ist offenbar unbesehen in die Münchner wie auch in die Reclam-Ausgabe übernommen worden. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Verwechslung mit dem ebenfalls den Schönfeldts gehörenden Gut Werben, das in der Tat im Spreewald liegt, wenn auch nicht nordöstlich, sondern nordwestlich von Gulben.5 Ich verzichte auf die Vorführung weiterer Beispiele und möchte meinen Eindruck dahingehend zusammenfassen, dass die Münchner Ausgabe offenbar mit großer Unlust und unter ebensolchem Zeitdruck erstellt worden ist. Auf letzteres deuten etliche seltsame Fehler, z.B. die Angabe, Kleist habe seine im Phöbus gedruckten Gedichte (außer dem Schrecken im Bade) mit »H. von K.« unterzeichnet (korrekt: »H. v. K.«). Das ist eine Kleinigkeit, wäre Peter Staengle aber mit Sicherheit aufgefallen, wenn er genügend Zeit für eine gründliche Endredaktion gehabt hätte. Dass die Defizienz dieses Kommentars nicht etwa auf Platzmangel zurückzuführen ist, hat auch Jens Bisky in seiner ansonsten rühmenden Rezension angemerkt.6 Es gibt Dubletten, und es ist ja auch gar nicht einzusehen, warum jeder im Phöbus erschienene Text (also die Erzählungen, die Dramen-Fragmente und alle Gedichte) jeweils mit der gesamten Titelei bis hin zu »gedruckt bei Carl Gottlob Gärtner« nachgewiesen wird (vgl. z.B. MA III, 581–587). Peter Michalzik hat in seiner Rezension der Brandenburger und der Münchner Ausgabe7 die trotz solcher Überflüssigkeiten minimalistische 5 6 7

Wormlage liegt westsüdwestlich von Altdöbern und nicht im Spreewald. Jens Bisky: Der Klassiker der Regelverletzung. Endlich gibt es eine neue Kleist-Ausgabe, die den Dichter auf unserem Kenntnisstand präsentiert. In: Süddeutsche Zeitung, 23.8.2010, S. 9. Peter Michalzik: Es geht darum, alles offenzulegen. Rechtzeitig zum 200. Todestag kann man den gesamten Kleist in zwei neuen Ausgaben nachlesen. In: Frankfurter Rundschau, 12.1.2011, S. 30f.

Probleme der Edition und der Kommentierung von Kleists Briefen

67

Gestalt des Kommentars in der letzteren ins Positive umzudeuten versucht. Dass der Kommentar so »äußerst knapp« gehalten ist, sei »ein durch und durch demokratisches Verfahren«; »es birgt sogar letztendlich das Verschwinden des Editors [!].« Das Ziel sei die »Selbständigkeit des Lesers«. – Es mag ja sein, dass manche Erläuterung in anderen Kommentaren den Leser zu sehr in eine bestimmte Interpretationsrichtung drängt; die Verweigerung aber von sachlich notwendigen Erläuterungen zu 200 Jahre alten Texten bewirkt nicht Selbständigkeit des Lesers, sondern Hilflosigkeit. Woher soll der Leser denn wissen, ob es Kleists »Schrift, über die Kantische Philosophie« gegeben hat und was man sich darunter wohl vorstellen kann? Wo Wormlage liegt, kann der selbständige Leser in seinem Atlas ermitteln; bei wem aber Ulrike sich dort aufhielt, muss man ihm sagen. Auch mit der Mitteilung, dass Klingers Kettenträger 1796 anonym und in zwei Bänden erschienen ist (MA III, 616), wird der Leser wenig anfangen können, zumal der Roman nur noch in den wenigsten Bibliotheken vorhanden ist. Und soll er Tassos La Gerusalemme Liberata – am besten im Original – durchforsten, um herauszufinden, auf was Kleist sich da bezogen hat? – Nein, derjenige Leser, der hier selbständig zu Werke gehen soll, müsste sich in der Goethezeit bestens und in Kleists Leben und Werk wenigstens ziemlich gut auskennen; will sagen: Das hier eingeschlagene Verfahren ist nicht demokratisch, sondern elitär. Die von jedem Editor zu verlangenden Informationen und Erläuterungen muss der düpierte Leser anderen Kleist-Ausgaben entnehmen. Wir haben zur Zeit also vier Ausgaben der Briefe Heinrich von Kleists, die sich um eine originalgetreue Schreibung bemühen, von denen aber keine allen Ansprüchen genügen kann. Wie könnte eine solche (›ideale‹) Ausgabe aussehen? Ich stelle mir vor: eine Ausgabe in zwei Bänden (1 Band Text, 1 Band Kommentar). Für den Textband wären die Fließtexte der Klassiker-, der Reclam- und der Münchner Ausgabe miteinander abzugleichen, was per Computer nicht allzu schwer fallen dürfte. Etwaige Varianten wären zu diskutieren und zu bereinigen oder als kontrovers zu kennzeichnen. Der Kommentarband sollte mit einem Essay über Briefe von und an Kleist eröffnet werden; hier wäre Kleists Wesen als Briefschreiber und Briefpartner darzustellen, und es müsste auf ungeklärte Abschnitte seiner Vita eingegangen werden. Dem hätte, nach dem Muster der Klassiker-Ausgabe, ein Kapitel »Zu Textgestalt und Kommentaranlage« (mit Ergänzungen aus den Nachworten Peter Staengles) zu folgen. In den jeweiligen Einzelkommentar wären die genaueren Angaben zum jeweiligen Textzeugen aus der Brandenburger Ausgabe zu integrieren; die Lesarten von Stefan Ormanns wä-

68

Klaus Müller-Salget

ren zu kontrollieren, unter Umständen zu korrigieren. Die Stellenkommentare der Klassiker-Ausgabe müssten mit denjenigen von Wolfgang Barthel und Rudolf Loch (in der Aufbau-Ausgabe) sowie von Dieter Heimböckel abgeglichen werden, unter Berücksichtigung etwaiger Abweichungen in der Münchner Ausgabe. Die von mir erstellten Stammtafeln der Familien von Kleist, von Pannwitz und von Schönfeldt sollten übernommen werden (da die Verwandtschaftsverhältnisse so am ehesten überschaubar sind). Die chronologischen Übersichten aus der Klassiker- und der Münchner Ausgabe müssten zusammengeführt werden, ebenso die kommentierten Personen-Register (auch der Reclam-Ausgabe), und auf mein kommentiertes Register der Örtlichkeiten in der Klassiker-Ausgabe würde ich auch nicht gerne verzichten. Werkregister und Literaturverzeichnis (auch das letztere fehlt in der Münchner Ausgabe) gehören selbstverständlich dazu. – Und wenn schon eine ›ideale‹ Ausgabe: Beizufügen wäre eine CD-Rom mit den farbgetreuen Wiedergaben möglichst aller Handschriften. Das Zustandekommen einer solchen Ausgabe werden wir alle wohl kaum erleben. − Ein Traum, was sonst?

Caroline Socha

Kritische Briefausgaben als editorische Herausforderung »Mit welchen Vorgefühlen werde ich das Couvert betrachten, das kleine Gefäß das so vieles in sich schließt!« (H. v. Kleist an Wilhelmine von Zenge, 15. September 1800; BKA IV/1, 297)

Als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Reflexion wird Briefen und Briefkorpora in jüngerer Zeit zunehmend Beachtung geschenkt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem 18. Jahrhundert, der Zeit, in der sich der Privatbrief aus dem Regulativ briefstellerischer Konventionen befreite und zu individuellen Ausdrucksformen gelangte. Während die klassische Briefforschung vornehmlich auf biographische oder literarisch-ästhetische Fragestellungen konzentriert war – also auf den Textgehalt –, stehen heute immer mehr die ›materiellen Dispositive‹ im Vordergrund: Die gegenwärtige Diskussion ist gekennzeichnet durch ein zunehmendes Bewusstsein von der Bedeutung außersprachlicher Aspekte brieflicher Überlieferungsträger. Man erkennt, dass das äußere Erscheinungsbild des Briefautographs einen wesentlichen zusätzlichen Informationswert hat, den es zum Verständnis des Briefs zu berücksichtigen gilt. Diesem gewandelten Forschungsinteresse entsprechen die editorisch geschaffenen Forschungsvoraussetzungen bislang jedoch immer noch in nur sehr geringem Maße.1 Der Philologe ist bei seiner Beschäftigung mit dem brieflichen Nachlass von Autoren nach wie vor größtenteils auf Editionen angewiesen, die sich in ihrer Darbietungsweise von Werkausgaben nicht unterscheiden: Ein typographisch vereinheitlichender Druck ebenso wie ein – der sog. Lesbarkeit geschuldet – normalisierter Text und eine dichte Aufeinanderfolge ursprünglich isolierter Brieftexte. Hinzu kommt, dass die dem Brief wesentlichen Merkmale der Adressierung, Siegelung oder Kuvertierung allenfalls im Kommentarteil verzeichnet werden. Folge ist eine »mittelbare Literarisierung« der Briefe: Die typographische Übertragung 1

Vgl. Peter Staengle: »noch ein Blättchen Papier für Dich«. Zu Heinrich v. Kleists Brief an Wilhelmine von Zenge vom 20./21. August 1800. In: Modern Language Notes 117 (2002), S. 576–583, hier S. 576.

70

Caroline Socha

von Brieftexten bedeutet »nicht nur die Herauslösung aus ihrer jeweiligen ursprünglichen dokumentarischen Gestalt; es bedeutet auch ihre Transformation.«2 Was durch eine solche editorische Vorgehensweise verlorengeht, ist die dem Privatbrief eigentümliche Ambivalenz, als kommunikative Gebrauchsform zugleich ästhetischen, mithin literarischen Wert besitzen zu können.3 Dieses Spannungsverhältnis, dem eine Edition Rechnung zu tragen hat, wird durch herkömmliche Textwiedergaben aufgelöst – das Briefkorpus wird durch die Art der Präsentation zu etwas Werkähnlichem. Wenngleich das Nachdenken über die Probleme von Briefausgaben für die Editionsphilologie eher von zweitrangigem Interesse zu sein scheint, setzt sich jedoch auch hier zunehmend die Einsicht durch, dass historische Dokumente wie Briefautographen eine von Werkhandschriften differierende Behandlung erfordern. Neben der umfassenden Rekonstruktion biographischer und korrespondenzrelevanter Kontexte, die für das Verständnis der Textzeugen und deren Einordnung in das Briefkorpus unerlässlich ist, verlangt der editorische Umgang mit brieflichen Handschriften in hohem Maße die Berücksichtigung der Materialität der Textträger. Begründen lässt sich dies vor allem durch die Eigentümlichkeit von Briefen, insofern sie vom Empfänger in derselben äußeren Gestalt rezipiert werden, in der sie vom Schreiber verfasst wurden:4 »Briefliche Kommunikation besteht nicht nur im Austausch von sprachlichen Zeichen, sondern auch im Austausch des Briefs als dingliches Objekt selbst.«5 Materiale Eigenschaften wie der Schriftduktus oder die Anordnung der Schriftzeichen auf dem Papier beeinflussen daher unmittelbar die Textwahrnehmung des Lesers. »Ich schweige, u. überlasse es Dir, diesen Gedanken auszubilden. – « (BKA 2 3

4

5

Klaus Hurlebusch: Divergenzen des Schreibens vom Lesen. Besonderheiten der Tagebuch- und Briefedition. In: editio 9 (1995), S. 18–36, hier S. 27f. Zum Doppelcharakter des Briefs: Barbara Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik: Epoche – Werke – Wirkung. München 2000, hier S. 151: »Eine klare Abgrenzung zwischen Authentizität (Dokumentcharakter) und Fiktion (Literatur) im Brief gibt es nicht, wohl aber sind damit zwei wichtige Pole benannt.« Vgl. dazu auch Reinhard M.G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991, hier S. 98; Staengle: »noch ein Blättchen Papier für Dich« (wie Anm. 1), S. 576f. Siehe hierzu die Äußerung Heinrich von Kleists in einem Brief an Wilhelmine von Zenge vom 20. September 1800: »Aber wenn ich denke, daß dieses Papier, auf das ich jetzt schreibe, das unter meinen Händen, vor meinen Augen liegt, einst in Deinen Händen, vor Deinen Augen sein wird, dann – küsse ich es […] – und küsse es wieder das liebe Papier, das Du vielleicht auch an Deine Lippen drücken wirst – und bilde mir ein, es wären wirklich schon Deine Lippen […]« (BKA IV/1, 323). Jochen Strobel: Zur Ökonomie des Briefs – und ihre materialen Spuren. In: Martin Schubert (Hg.): Materialität in der Editionswissenschaft. Tübingen 2010 (Beihefte zu editio 32), S. 63–77, hier S. 65.

Kritische Briefausgaben als editorische Herausforderung

71

IV/1, 70), beendet Heinrich von Kleist sein Schreiben an die Halbschwester Ulrike im Mai 1799, und konfrontiert die Leserin mit der anschließenden Leere des Papiers6 – und die Herausgeber von Briefausgaben mit einer besonderen editorischen Aufgabe (s. Abb. 1).

Abb. 1: Heinrich von Kleist an Ulrike von Kleist, Mai 1799, S. 5r

6

»Im nichtamtlichen Brief hat sich schon zu Lichtenbergs Zeit […] ein Bedürfnis gehalten, die Briefseite unten nicht mehr als zu einem Drittel leer zu lassen«, das Nichtbeschreiben einer Briefseite galt als unhöflich; Ulrich Joost: Lichtenberg – der Briefschreiber. Göttingen 1990, hier S. 73.

72

Caroline Socha

Am Beispiel des epistolaren Nachlasses Heinrich von Kleists, besonders seinen Schreiben um 1800, soll im Folgenden auf zentrale Probleme der Briefedition aufmerksam gemacht werden. Exkursorisch soll darüber hinaus aufgezeigt werden, in welcher Weise Reflexionen über den Privatbrief als (Un-)Möglichkeit der Kommunikation in Kleists poetologische Überlegungen Eingang gefunden haben.

»mit der herzlichsten u. vollkommensten Hochachtung« Topographie der Briefhandschrift »Eine Ausgabe privater Briefe bzw. Briefwechsel ist eine Übersetzung in die Systematik eines eigenen editorischen Systems. Systematik wiederum […] ist genau das Gegenteil dessen, was Briefe sind.«7 – Über dieses Grundproblem muss sich jeder Herausgeber von Briefen im Klaren sein: Da (Brief-)Editionen auch immer die Verwaltung eines Nachlasses bedeuten, ordnen und interpretieren sie ihn. Dies beginnt mit der Entscheidung für einen Editionstyp und reicht über die Auswahl des Materials und die Textwiedergabe bis hin zur Kommentierung. Es hat sich in der neugermanistischen Editionsphilologie daher weitgehend die Einsicht durchgesetzt, dass alle Herausgeberentscheidungen möglichst transparent darzulegen sind. Dies gilt vor allem für die wohl komplexeste Aufgabe, die Textdarbietung.8 Dass diese am ehesten Einfallstor für subjektive Entscheidungen ist, zeigt Helmut Sembdners Rede vom »Fingerspitzengefühl« bei der textkritischen Aufgabe des Editors: Ein diplomatisch getreuer Abdruck der Briefe, wie er von Minde-Pouet angestrebt wurde, ist für unsere Ausgabe [i.e. die Sämtlichen Werke und Briefe Heinrich von Kleists] natürlich unsinnig, zumal ja auch die Orthographie usw. modernisiert wird. Andererseits darf man vielleicht auch nicht zu sehr in das Gefüge der Briefe normierend eingreifen. Man wird wohl mit einem gewissen Fingerspitzengefühl

7 8

René Stockmar, Private Briefe – Freie Wissenschaft. Briefe edieren am Beispiel von Friedrich Nietzsches Briefwechsel 1872–1874. Basel, Frankfurt a.M. 2005, S. 46. Auch der lange Zeit vernachlässigten Frage der Textkritik wird zunehmend Beachtung geschenkt. Vgl. für diesen Zusammenhang insbesondere Elke Richter: »schreibe nur wie du reden würdest …«. Probleme der Textkonstitution und Textdarbietung bei Briefausgaben, erläutert an Beispielen aus der historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Briefen. In: Gertraud Mitterauer u.a. (Hg.): Was ist Textkritik? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswissenschaft. Tübingen 2009 (Beihefte zu editio 28), S. 49–67.

Kritische Briefausgaben als editorische Herausforderung

73

einen Kompromiß zwischen grundsätzlicher Normierung und Beibehaltung auch äußerer Kleistscher Eigentümlichkeiten schließen müssen.9

Zwar konnte Sembdner bei der Entstehung der Sämtlichen Werke und Briefe seine Ansicht von Kleists originaler Schreibung gegen extremen Widerstand vonseiten des Verlags weitgehend durchsetzen, die Topographie der Handschrift, also die räumliche Verteilung des Geschriebenen, wurde bei der Wiedergabe im typographischen Druck jedoch kaum berücksichtigt. Briefe bestehen aber nicht nur aus einem Text, der losgelöst vom Medium betrachtet werden kann. Vielmehr tragen sie immer auch die außersprachlichen Spuren ihrer Schreibsituation in sich, die durch die Übertragung der Handschrift in den Druck verlorengehen.10 In diesem Zusammenhang machte Winfried Woesler bereits 1988 bei seinen »Vorschläge[n] für eine Normierung von Briefeditionen« darauf aufmerksam, dass »[d]ie räumliche Grobstruktur eines Briefes […] schematisiert wiedergegeben« werden soll; »Das betrifft: Briefkopf, Datumszeile, Binnenanschrift, Anrede, Absätze, eingezogene Zitate, Grußformel, Unterschrift. Eine weitere Nachbildung bedarf eines besonderen Grundes.«11 – Ein bedenkenswerter Nachsatz, denn gerade hierbei besteht die Gefahr, durch die Edition mehr zu verschleiern, als mitzuteilen. Die für die Briefkultur des 18. Jahrhunderts immer wieder betonte Befreiung des Briefs von äußeren Regulierungen geht keineswegs einher mit einem Bedeutungsverlust der brieflichen Topographie.12 Und so kann auch ein scheinbar nur nebensächlicher Befund wie der Abstand zwischen Anrede und Textbeginn 9

Helmut Sembdner in einem Brief an Herbert G. Göpfert, den Lektor des Hanser Verlags, vom 9.1.1951, veröffentlicht in: Moritz Ahrens: »Über unserer Kleist-Ausgabe steht schon ein rechter Unstern.« Der Briefwechsel zu Helmut Sembdners Edition der ›Sämtlichen Werke und Briefe‹ Heinrich von Kleists von 1952. Heilbronn 2011, hier S. 42. 10 Zum Informationsverlust im Druck vgl. Stockmar: Private Briefe – Freie Wissenschaft (wie Anm. 7), S. 21f.: »Die Ordnung des Drucks produziert über den einzelnen Brief hinweg, indem sie dessen Materialität beseitigt. […] Es ist nicht zuletzt das Äußerliche als ein Innerliches, das, was der Druck eben nicht ausdrücken kann, was einen Brief zum Brief, zu einem eigenen Medium macht. Der Brief hat einen eigenen Überschuß an Information, solange er nicht zum bloßen Text gemacht wird. Und prinzipiell stellt jeder einzelne Brief ein eigenes System dar.« 11 Winfried Woesler: Vorschläge für eine Normierung von Briefeditionen. In: editio 2 (1988), S. 8–18, hier S. 14. Weiter heißt es dort: »Der eigentliche Brieftext wird in der Regel nicht zeilengetreu nachgedruckt.« Auch in der Textdarbietung neuerer Editionen ist die Nivellierung des Zeilenfalls zum Blocksatz immer noch geläufig – was meist wohl ökonomischen bzw. pragmatischen Gründen geschuldet ist. 12 Vgl. Heinz Drügh, Topologie. In: Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift Frankfurter Goethe-Museum vom 11. September bis 16. November 2008. Basel, Frankfurt a.M. 2008, S. 99–116, hier S. 99.

74

Caroline Socha

mit einer bestimmten Aussage verbunden sein: Gemäß briefstellerischer Vorgaben wird durch diesen sog. Devotionalraum das soziale Verhältnis zum Briefempfänger angezeigt.13 Diese konventionalisierte Form der Briefgestaltung findet sich auch in den Briefen Kleists, beispielsweise in seinem Schreiben an Kunth, den Direktor der Technischen Deputation (s. Abb. 2), und besonders augenfällig in den Briefen an Hardenberg.

Abb. 2: Heinrich von Kleist an Gottlob Christian Kunth, 12. April 1801 (Quelle: BKA IV/1, 545) – Der Devotionalraum demonstriert die Bedeutung brieflicher Topographie. 13 Siehe dazu Joost: Lichtenberg – der Briefschreiber (wie Anm. 6), S. 73. Zu den großteils auch noch um 1800 geltenden Vorgaben der Briefsteller vgl. Carmen Furger: Briefsteller. Das Medium »Brief« im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2010, darin bes. S. 116–134 (Kap. »Die formalen Eigenschaften des Briefs«).

Kritische Briefausgaben als editorische Herausforderung

75

Für das Verständnis eines Briefs ist die Erforschung und Kenntnis solcher pragmatischen Verhältnisse unabdingbar – kritische Editionen müssen hierfür die Grundlage bereitstellen. Neben einer diplomatischen Umschrift der Handschrift gilt die Darbietung von Faksimiles in diesem Zusammenhang als unverzichtbares Hilfsmittel.14

»eine fast ununterbrochene Unterhaltung« Kleists Briefe als Korrespondenz Als Kommunikationsmedium ist der Brief immer an einen bestimmten Adressaten bzw. Adressatenkreis gerichtet. Häufig besteht zwischen Brief und Antwortbrief ein enges inhaltliches Bezugsgeflecht, so dass einzelne Schreiben erst aus der Korrespondenz heraus verstanden werden können. Mit der Aufwertung des Briefs als Kommunikationsform gegenüber einem bloßen Schriftstück bzw. einer Urkunde in der Briefkultur des 18. Jahrhunderts geht eine Betonung des Dialogischen einher. Angelehnt an den antiken Topos vom Brief als Gespräch unter Abwesenden wird der Brief betrachtet als »eine kurtze, wohlgesetzte und von allerhand Sachen handelnde Rede, so einander unter einem Siegel schrifftlich zuschickt; wenn man nicht mündlich miteinander sprechen kan.«15 Für eine kritische Edition ergibt sich daraus das Problem, wie mit den Gegenbriefen eines Autors zu verfahren ist. Sind diese in die Briefausgabe eines Autors einzubeziehen, genügt der Verweis auf eine Regestausgabe oder ist eine Beschreibung der An-Briefe im Kommentarteil ausreichend? Das Kleist’sche Briefkorpus zeichnet sich durch ein extremes Ungleichgewicht der überlieferten Briefe von und an Kleist aus: Den 235 Briefen Kleists stehen nur 22 an ihn gerichtete Schreiben gegenüber. Vom umfangreichen Briefwechsel mit Wilhelmine von Zenge ist beispielsweise nur ein Brief von ihr erhalten geblieben. Einzelkorrespondenzen lassen sich daher kaum abbilden – und das obwohl Kleist den Adressatenbezug vermeintlich in seinen Briefen (eine »fast ununterbrochene Unterhaltung«; BKA IV/1, 232) überschwänglich betont.16 Um dem Schein eines brieflichen Dialogs 14 Vgl. Stockmar: Private Briefe – Freie Wissenschaft (wie Anm. 7), S. 24. 15 Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, 64 Bde., 4 Suppl.-Bde. Halle, Leipzig 1732–1754, s.v. Brief, IV Sp. 1359. 16 Zur herrschenden Vorstellung des Briefs als ›schriftliches Gespräch‹ bei Kleist vgl. Sandro Zanetti: Doppelter Adressenwechsel. Heinrich von Kleists Schreiben in den Jahren 1800 bis 1803. In: Martin Stingelin mit Davide Giuriato und Sandro Zanetti (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München 2004, 205–226, hier S. 213f.: »Die privaten Briefe, die sich von der regen Korrespondenz Kleists erhalten haben, folgen einer erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts geläufigen Praxis der freien Nachahmung einer Gesprächssituation.«

76

Caroline Socha

entgegenzuwirken, hat man sich beispielsweise in der BKA gegen eine Eingliederung dieser Briefe in die Chronologie der Kleistbriefe entschieden und präsentieren sie im Anhang. Durch eine solche Vorgehensweise wird neben den Besonderheiten der Überlieferung, durch die jeder briefliche Nachlass geprägt ist, auch der Dokumentcharakter der einzelnen Briefautographen betont. Diesem Spannungsverhältnis – einerseits die Eigenständigkeit des Einzelbriefs, andererseits seine Eingebundenheit in einen Briefwechsel – ist in einer Briefausgabe Rechnung zu tragen.

»Wenn nur die Briefe nicht gehindert werden!« Die materialen Spuren des Transports Die wohl deutlichste Manifestation des Adressatenbezugs bildet das Kuvert mit der Anschrift des Empfängers. Das Einfalten, Umschlagen oder Verpacken der Briefseiten gehört essentiell zur brieflichen Kommunikation dazu. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem angemessenen Umgang mit materialen Befunden wie der Adressierung, der Siegelung, den postalischen Vermerken oder der Kuvertierung von Briefen – allesamt Befunde, die sich auch in Kleists brieflichem Nachlass feststellen lassen. Diese Zeichen, insbesondere für die Kontextualisierung der Briefe und Rekonstruktion der Briefwechsel von Interesse, besitzen darüber hinaus eine weitreichende Dimension. Scheinbar sekundär, bilden sie neben dem Brieftext und dessen Rezeption einen wesentlichen Bestandteil brieflicher Kommunikation ab: den Postweg. Zwischen Schreiber und Empfänger vermittelnd, ist der Transport von Briefen das wohl heikelste Moment – geht es hier doch um die Frage, ob der geschriebene Brief auch denjenigen erreicht, für den er bestimmt ist.17 »Daß eine Letter immer auch nicht ankommen kann – abgefangen, entwendet werden kann – ist geradezu Bedingung dafür, daß sie immer ihren Bestimmungsort erreicht«.18 Spuren dieser Unsicherheit im Prozess brieflicher Zustellung finden sich auch bei Kleist, besonders in den Schreiben während seiner ›Würzburger Reise‹: von fremder Hand beschriftete Kuverts, mit fremdem Siegel verschlossen, zweifach kuvertiert, mehrfache Änderungen des Postwegs (vgl. Abb. 3, 4 und 5 sowie Tafeln 4 und 5). 17 Aus den Risiken der postalischen Übermittlung schließt Zanetti: » […] [I]st der Brief einmal geschrieben, verschlossen, eingeworfen, abgeschickt, entzieht er sich der Verfügungsgewalt des Absenders«. Sandro Zanetti: Spielräume der Adressierung. Kleist, Goethe, Mallarmé, Celan. In: Waltraut Wiethölter u. Anne Bohnenkamp [Hg.]: Der Brief – Ereignis & Objekt. Frankfurter Tagung. Basel, Frankfurt a.M. 2010, S. 42–57, hier S. 42. 18 Bernhard Siegert: Relais: Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751-1913. Berlin 1993, S. 17.

Kritische Briefausgaben als editorische Herausforderung

77

Zum Verschließen seiner Briefe während seiner ›Würzburger Reise‹ verwendete Kleist neben dem eigenen Siegel auch diejenigen seiner Reisegefährten Ludwig von Brockes und Carl von Zenges. Er wollte durch diese ›Mogelpackung‹ vermutlich verhindern, dass seine Briefe von neugierigen Dritten gelesen werden.

Abb. 3: Kuvert eines Briefs Heinrich von Kleists an Wilhelmine von Zenge, 13./18. September 1800: »Adresse von fremder Hand (vmtl. Ludwig Brockes); schwarze Tinte; Postpapier, hellblau; rotes Siegel Ludwig v. Brockes’ […]« (BKA IV/1, Zitat S. 282, Faksimile S. 285)

78

Caroline Socha

Abb. 4: Kuvert eines Briefs Heinrich von Kleists Kleis ts an Wilhelmine von Zenge, 19.–23. 19. September tember 1800: »Die Die Adressierung deutet darauf hin, daß der Brief von einem weiteren Kuvert umschlossen war; auch weist das überlieferte Kuvert keine postalischen Vermerke auf.« ((BKA IV/1, Zitat S. 313, Faksimile S. 315) 315

Kritische Briefausga Briefausgaben ben als editorische Herausforderung

79

Abb. 5: Kuvert eines Briefs H Heinrich einrich von Kleists an Wilhelmine von Zenge, 11. und 12. Januar 1801: »Adresse Adresse von fremder Hand; schwarze Tinte; Postpapier, chamois; rotes Siegel der Familie v. Zenge, kopfstehend […]« […] (BKA BKA IV/1, Zitat S. 435, Faksimile S. 437))

80

Caroline Socha

Daneben thematisieren zahlreiche Äußerungen in den Briefen die (problematischen) Bedingungen schriftlicher Kommunikation. »Wenn ich nur wüßte«, schreibt Kleist an Wilhelmine von Zenge am 20. September 1800, ob alle meine Briefe pünctlich in Deine u. keines andern Menschen Hände gekommen sind, u. ob auch dieser in die Deinigen kommen wird, ohne vorher von irgend einem Neugierigen erbrochen worden zu sein, so könnte ich Dir schon Manches [über die Reise nach Würzburg] mitteilen, was Dir zwar eben noch keinen Aufschluß, aber doch Stof zu richtigen Vermuthungen geben würde. Immer bei jedem Briefe ist es mir, als ob ich ein Vorgefühl hätte, er werde umsonst geschrieben, er gehe verloren, ein Andrer erbreche ihn, u. dergleichen. (BKA IV/1, 323)

Zwar nahm die Verlässlichkeit des Postwesens im Laufe des 18. Jahrhundert immer weiter zu, jedoch kam es auch immer wieder zur Verspätung oder gar zum Nichteintreffen der Briefe durch unpassierbare Wege, Unoder Überfälle oder Unterschlagung von Briefen. Um das Unkontrollierbare und Ungewisse der postalischen Zustellung möglichst gering zu halten, entwickelt Kleist ein Briefschreibeprogramm der »Risikominimierung«:19 Besonders seine ›Brief-Liste‹ und das »Ideenmagazin« verweisen auf eine Archivfunktion, die das Briefsystem erfüllen soll, um das Geschriebene – selbst über die Risiken des Postwegs hinweg – zu sichern. Wie leicht können Briefe auf der Post liegen bleiben, oder sonst verloren gehen; Wer wollte da gleich sich ängstigen? Geschrieben habe ich gewiß, wenn Du auch durch Zufall nicht eben sogleich den Brief erhalten solltest. Damit wir aber immer beurtheilen können, ob unsere Briefe ihr Ziel erreicht haben, so wollen wir beide uns in jedem Schreiben wechselseitig wiederholen, wie viele Briefe wir schon selbst geschrieben u. empfangen haben. (An Wilhelmine von Zenge, 21. August 1800; BKA IV/1, 188)

Aufgrund der materialen Befunde zeigt sich, dass neben dem Bedürfnis nach Risikominimierung jedoch auch das bewusste Spiel mit den Risikofaktoren brieflicher Zustellung konstitutiver Bestandteil von Kleists Briefwechsel ist. Die ›Geheimniskrämerei‹ in den Briefen vom Herbst 1800 über den Grund seiner Reise20 wird durch die Materialität der Briefe reflektiert 19 Vgl. Zanetti: Spielräume der Adressierung (wie Anm. 17), S. 46. 20 Neben diesen Eigentümlichkeiten lassen auch die Besonderheiten der Überlieferung des Briefkorpus – die Lückenhaftigkeit des Tradierten sowie die geringe Zahl erhaltener sog. Gegenbriefe – auf eine gewisse ›Geheimniskrämerei‹ Kleists im Zusammenhang mit seiner brieflichen Korrespondenz schließen (vgl. BKA IV/1, 558). Vgl. dazu auch Peter Staengle: Zu Heinrich von Kleists Briefen. In: Ortsvereinigung Hamburg der Goethe-Gesellschaft in Weimar e.V. (Hg.): Heinrich von Kleist. Ein radikaler Klassiker? Dößel 2004, S. 41–60, hier S. 56f.

Kritische Briefausgaben als editorische Herausforderung

81

und reicht bis hin zur Frage der ›Zustellung‹ des Briefeschreibers selbst – Kleist reist mit der Postkutsche.21 Und auch nach seiner Rückkehr manifestiert sich im Unausgesprochenen das Spannungsverhältnis von Sicherheit und Unsicherheit: »Ich werde Dir oft schreiben. Aber es mögen Briefe ausbleiben« – und hier wendet sich im doppelten Sinn das Blatt – »so lange sie wollen, Du wirst immer überzeugt sein, daß ich alle Abend u. alle Morgen, wenn nicht öfter, an Dich denke« (BKA IV/1, 539f.; s. Abb. 6a/b).

Abb. 6a/b: H. v. Kleist an Wilhelmine von Zenge, 9. April 1801, S. 2r und 2v (Ausschnitte). Am Seitenende manifestiert sich das Spannungsverhältnis von Sicherheit und Unsicherheit postalischen Transports.

Wenn das Siegel neben seinem Sicherheitszweck dem Empfänger bereits vor dem Öffnen des Briefs den Absender anzeigt, der seinen Namen nicht wie heutzutage außen auf dem Brief nannte,22 so hält sich Kleist in seinen 21 Siehe hierzu besonders Kleists Brief aus Würzburg an Wilhelmine von Zenge vom 10. Oktober 1800: »Ich versprach Dir in jenem Briefe, entweder in 8 Tagen von hier abzureisen, oder Dir zu schreiben. Diese Zeit ist verstrichen, und das erste war noch nicht möglich. Beunruhige Dich nicht – meine Abreise kann morgen oder übermorgen und an jedem Tage erfolgen, der mir etwas Nochzuerwartendes überbringt. […] Jetzt will ich mein Versprechen erfüllen u. Dir, statt meiner, wenigstens einen Brief schicken. Sei für jetzt zufrieden mit diesem Stellvertreter, bald wird die Post mich selbst zu Dir tragen.« (BKA IV/1, 339) Zur Thematik der Stellvertreterfunktion des Briefs vgl. Justus Fetscher: Schrift verkehrt. Über Kleists Briefwerk. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 20 (2006), S. 105–128, hier S. 115. 22 Vgl. Joost: Lichtenberg – der Briefschreiber (wie Anm. 6), S. 76. Vgl. hierzu auch Jan Bürger: Versendetechniken. In: Bohnenkamp/Wiethölter (Hg.): Der Brief (wie Anm.

82

Caroline Socha

Briefen im Wortsinn bedeckt:23 Adressierungen von falscher Hand, mit falschem Siegel. Die Rede vom »Couvert« als das »kleine Gefäß das so vieles in sich schließt« (BKA IV/1, 297) in einem Brief an seine Verlobte vom 15. September 1800 reflektiert schließlich die briefliche Kommunikation in ihrer gesamten Dimension: Niederschrift – Transport – Empfänger.24 Anhand der brieflichen Hinterlassenschaft Heinrich von Kleists lässt sich die Bedeutung von scheinbaren Nebensächlichkeiten wie die Kuvertierung, Siegelung und Adressierung für das Verständnis der Briefe erkennen. Eine Edition von Briefen, die nicht auch die Beförderung als wesentliches Moment schriftlicher Korrespondenz begreift, kann ihren Gegenstand nur verfehlen.

»so glückte es ihr, dies Schreiben aufzufangen« Abgefangene Briefe in Kleists Werk In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einen Blick auf Kleists poetisches Werk zu werfen und danach zu fragen, in welcher Weise Reflexionen über den Privatbrief als Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Kommunikation in seine poetologische Überlegungen Eingang gefunden haben. Es gibt kaum einen poetischen Text Kleists, der den Brief nicht als zentrales Motiv aufnimmt. Zerrissen, beantwortet, zurückgegeben – fast immer führt der Empfang von Briefen zur Wendung des Geschehens, meist mit verheerenden Folgen.25 Wie bereits in seinen Briefen, zeigt sich auch in Kleists literarischem Werk ein Bewusstsein von den problematischen Bedingungen schriftlicher Kommunikation. Das ›negative Potential‹ von Briefen äußert sich dabei in seiner ganzen Vielfalt: gefälscht, unterschlagen, gestohlen, verloren, missverstanden, zu spät eingetroffen. Eine bedeutende Rolle spielt auch die Thematik des abgefangenen Briefs und also die Gefährdung von Kommunikation durch die Risiken des Postwegs: Informationen, die unkontrolliert in falsche Hände gelangt sind und zur Täuschung missbraucht werden – der Verrat »briefliche[r] Intimität«.26

23 24 25

26

12), S. 215–236, hier S. 215: »Siegel dienen der Wahrung des Postgeheimnisses und informieren durch Wappen und Initialen zugleich über den Absender.« Zedler: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste (wie Anm. 15), s.v. Couvert, VI Sp. 1507: »Couvert, heißt sonst bedeckt […]«. Zur epistolaren Trias vgl. BKA IV/1, 560. Fetscher bezeichnet Kleists Dramaturgie daher als »Dramaturgie des Briefs«; Fetscher: Schrift verkehrt (wie Anm. 25), S. 120. Zur Verbindung von Brief und Drama vgl. auch Johannes Anderegg: Schreibe mir oft! Das Medium Brief von 1750 bis 1830. Göttingen 2001, hier S. 26. Fetscher: Schrift verkehrt (wie Anm. 25), S. 114 und besonders S. 124. Auf die dem Brief immanente Widersprüchlichkeit, dass die schriftliche Form dem Akt der Geheim-

Kritische Briefausgaben als editorische Herausforderung

83

Eine der bekanntesten brieflichen Manipulationen findet sich in Kleists Der Zweikampf, erschienen 1811 im zweiten Band der Erzählungen. Eifersucht bewegt Littegardens Kammerzofe dazu, Briefe des Grafen Jacob der Rothbart abzufangen – »so glückte es ihr, dies Schreiben aufzufangen« – und ihm im Namen Littegardens »falsche[ ] Antwort[en]« (BKA II/6, 72) zu schreiben. Der Graf ahnt »nichts von dem ihm gespielten Betrug« (ebd.), und so führt der abgefangene Brief und die damit verbundene Täuschung zum tödlichen Zweikampf zwischen Jacob dem Rothbart und Herrn Friedrich. Ein fremden Blicken ausgesetzter Brief bringt auch im Michael Kohlhaas27 schließlich die Wendung ins Unglück. Im Kohlhaas-Text von 1810 wird zusammen mit der brieflichen Botschaft zugleich der Überbringer selbst abgefangen und zum Betrug missbraucht: »gleichsam als ob derselbe nach wie vor frei sey« (BKA II/1, 223), soll der Bote helfen, Kohlhaas auf eine Probe zu stellen. Der von seinem Gerechtigkeitsgefühl in Rachsucht und Verzweiflung getriebene Kohlhaas beantwortet den Brief, nicht ahnend, dass dieser der Fremdlektüre ausgesetzt ist – woraufhin ihm der Prozess gemacht wird. Auch in Kleists Erzählung Der Findling von 1811 wird der Briefwechsel mit dem ›falschen‹ Adressaten als Motiv aufgenommen. »[M]it verstellter Schrift, im Namen Xavieras« (BKA II/5, 34) schreibt Piachi seinem Adoptivsohn Nicolo den Ort des vermeintlichen Treffens mit der Zofe. »[M]it einem fremden Wappen« zugesiegelt lässt er ihn »gleich als ob er von der Dame käme, in Nicolos Zimmer abgeben.« – »Die List glückte vollkommen,« Nicolo tappt in die ihm von Piachi gestellte Falle. Und schließlich thematisiert auch Kleists kleiner Prosatext Entwurf einer Bombenpost, erschienen am 12. Oktober 1810 in den Berliner Abendblättern, neben den immer kürzer werdenden Kommunikationswegen auch die Unkontrollierbarkeit des Postwegs.28 Der Autor beschreibt dort unter der Rubrik ›Nützliche Erfindungen‹ die »Wurf- oder Bombenpost«, eine »Übermachung von Briefen, Berichten, Beilagen und Packeten« mit Bomben und Granaten (BKA II/7, 58): »[B]innen Zeit eines halben Tages, gehaltung prinzipiell entgegengesetzt ist, weist Georg Simmel hin: »So besitzt das Geschriebene eine objektive Existenz, die auf jede Garantie des Geheimbleibens verzichtet.« Das geschriebene Wort zielt potentiell auf eine »unbegrenzte ›Öffentlichkeit‹«; Georg Simmel: Der Brief. Aus einer Soziologie des Geheimnisses. In: Georg Simmel in Wien: Texte und Kontexte aus dem Wien der Jahrhundertwende. Hg. von David Frisby. Wien 2000, 175–177, hier S. 175. 27 Das Motiv des Briefs im Michael Kohlhaas verhandelt zentral: Fetscher: Schrift verkehrt (wie Anm. 25), S. 120–126. 28 Vgl. zum »Ideal der Effizienz« im Postwesen: Jeffrey Champlin: Bombenpost 2011. Zur Rezeption von Kleists Briefen. In: Kleist-Jahrbuch 2010, S. 170–177, hier S. 170.

84

Caroline Socha

gen geringe Kosten von Berlin nach Stettin oder Breslau« würde man »schreiben oder respondiren können« – »falls es kein Morastgrund ist« (ebd.) auf den sie fallen.

*** Schriftliche Botschaften, die, unwissentlich in falsche Hände geraten, zur Manipulation verwendet werden – Kleists Erzählwerk stellt die briefliche Kommunikation zuallererst als problematisch aus. Neben die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Schrift29 tritt zugleich die nach der Vertrauenswürdigkeit des postalischen Transportsystems. Die Verfügungsgewalt über die Sprache – eine zentrale Thematik bei Kleist – wird im Zusammenhang mit dem Medium Brief noch weiter infrage gestellt: Das Gelingen der brieflichen Kommunikation entscheidet sich auch im Moment des Transports. Die Betonung des Pragmatisch-Kommunikativen als epistolaren Charakteristikums im Kleist’schen Œuvre korrespondiert in auffälliger Weise mit der Materialität seiner überlieferten Briefe samt Kuverts. In einer Briefausgabe sind daher alle materiellen Befunde umfassend zu dokumentieren. Denn: Präsentiert man Briefe in derselben Form wie literarische Texte, wird die Besonderheit von Briefen nivelliert, dass die unmittelbare Gebrauchsfunktion ihre Textualität überschreitet. Es liegt an der Editionswissenschaft und -praxis, durch die Präsentation der Briefe einer Literarisierung dieses Genres entgegenzuwirken – und mit der Frage der Darbietung des überlieferten Materials zugleich die nach dem Verhältnis von poetischem Text und Brief neu aufzuwerfen.

29 Zur Überzeugungskraft von Rede bzw. Schrift: Roland Reuß: »Im Freien«? Kleist-Versuche. Heidelberg 2010, besonders S. 133–142.

Barbara Gribnitz

»Meine theuerste Ulrike« Heinrich von Kleist an Ulrike von Kleist. Spuren ihrer Briefbeziehung

I. Unserem heutigen Blick bietet sich im präzisen Wortsinn eigentlich keine Briefbeziehung zwischen Heinrich von Kleist und Ulrike von Kleist dar, denn ihre Briefe an ihn haben sich nicht erhalten. Ein Mangel, der im Fluchtpunkt jeder Überlegung steht. Im Zentrum der bisherigen Beschäftigung mit Kleists Briefen an Ulrike von Kleist stand vornehmlich das Bemühen, aus den Inhalten auf seine Lebensumstände, sein Frauenbild etc. zu schließen.1 Dabei kam ein wesensmäßiger, zweiteiliger Aspekt der Textsorte Brief nicht zum Tragen: Ein Brief ist Ereignis und Objekt2 einer Relation zwischen Schreiber und Empfängerin.3 Der Schreiber entwirft die Wirklichkeit und sich selbst in Abhängigkeit seiner Intention bezüglich der Empfängerin, er wählt adres-

1

2

3

Eine Ausnahme bildet Sigrid Weigels verdienstvoller Aufsatz über Ulrike von Kleist, der den Versuch unternimmt, hinter den Worten Heinrich von Kleists die Person Ulrike von Kleist zu finden. Doch auch Weigel löst sich nicht immer von Kleists Bild der männlichen Schwester, die sich für ihn opfert und doch nicht genug, und deutet es in frauengeschichtlicher Richtung aus, vgl. Sigrid Weigel: Lebens-Spuren hinter dem Bild der Dichter-Schwester. In: Luise F. Pusch: Schwestern berühmter Männer. Zwölf biographische Portraits. Frankfurt a.M. 1994, S. 235–289. Ich greife hier den Titel »Der Brief – Ereignis & Objekt« einer Ausstellung und Tagung auf, die vom 11. September bis zum 16. November 2008 bzw. vom 6. bis 8. November 2008 im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum stattfanden. Doch während Ausstellung und Tagung den Brief als »postalische[m]s Ereignis und singulärphänomenale[m]s Objekt« kennzeichnen, möchte ich die Aufmerksamkeit auf den Brief als sprachliches Ereignis und außersprachliches Objekt legen. Vgl. Waltraut Wiethölter: Rolle rückwärts? Von der brieflichen Typographie zum Brief. In: Dies.; Anne Bohnenkamp (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Frankfurter Tagung. Frankfurt a.M. 2008, S. 7–26, hier S. 7. Um Wendungen wie der/die Schreibende zu vermeiden, benutze ich die konkreten geschlechtlichen Bezeichnungen meines Beispiels.

86

Barbara Gribnitz

satinbezogen den Inhalt des Briefes, der als Selbsterzählung figuriert.4 Ein Brief ist somit ein sprachliches zwischenmenschliches Ereignis, die Begegnung zweier Selbsterzählungen sozusagen. Gleichzeitig – und darauf liegt mein Fokus – ist ein Brief ein außersprachliches Objekt, ein materieller, für eine spezifische Person bearbeiteter Textträger. Die Entscheidungen über Papiergröße und -format, Tinte, Faltung, Schriftverteilung, Korrekturarten oder andere Formalia spiegeln wie der Inhalt des Briefes die Beziehung zwischen Schreiber und Empfängerin. Dieser Frage, welche Aussagen die materiellen und formalen Spuren in den Briefen Heinrich von Kleists an Ulrike von Kleist über das Verhältnis beider zu treffen vermögen, möchte ich nachgehen.

II. Das Korpus umfasst 58 Briefe; das entspricht ca. einem Viertel der gesamten überkommenen Briefe Kleists. Ein Manuskript ist verschollen und nur als Photographie und Abschrift Ulrike von Kleists erhalten (Brief vom 8. Juni 1807), beim zweiten Blatt des Briefes vom 13./14. März 1803 wurde der untere Teil (ungefähr die Hälfte des Blattes) abgeschnitten, der ebenfalls verschollen und nur in der Abschrift Ulrike von Kleists bekannt ist.5 Die 58 Briefe schrieb Kleist innerhalb einer Zeitspanne von 16 Jahren (1795–1811), sie verteilen sich folgendermaßen:

4

5

Albrecht Schöne vergleicht das Verhältnis zwischen Briefschreiber und Person des Schreibenden mit demjenigen zwischen Erzähler und Autor, vgl. Albrecht Schöne: Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767. In: Herbert Singer; Benno von Wiese (Hg.): Festschrift für Richard Alewyn. Köln 1967, S. 193–229, hier S. 214. Rainer Baasner verweist ebenfalls auf die Unzulässigkeit eines Rückschlusses vom Brieftext auf den Autor, vgl. Rainer Baasner: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis. In: Ders. (Hg.): Briefkultur im 19. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 1–37, hier S. 36. Und Bettina Brockmeyer sieht im Briefwechsel überhaupt erst die Konstitution des Selbst gewährleistet: »Die Korrespondenzstruktur zeugt von einem Selbst, das im Austausch mit dem anderen überhaupt erst entsteht bzw. sich entwickelt. Das Gleiche gilt für den Adressaten, gilt für das Du«, Bettina Brockmeyer: Selbstverständnisse. Dialoge über Körper und Gemüt im frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 2009, S. 102. Ich rekurriere auf die faksimilebestückte Briefedition der Berlin-Brandenburger KleistAusgabe, hier BKA IV/2, 243 und 489.

87

»Meine theuerste Ulrike«

Jan

1795 1796 1797 1798 1799 1800 1801 1802 1803 1804 1805 1806 1807 1808 1809 1810 1811

Feb

Mrz

Apr

Mai

Jun

Juli

Aug

Sep

Okt

Nov

Dez

1

1

1 3

1

1

1

1

1

2

1

1

1 1

1 2

1

2

2

1

1

2 1

1

2 2

1

1 1

1

1 1

1

1

1

1

1

1

2

2

1 1 1

1 1

1

1

Jahr

1 0 0 0 2 6 4 6 7 7 0 3 8 6 4 1 3

Den kontinuierlichsten schriftlichen Kontakt – allein unterbrochen durch gemeinsame Aufenthalte – hielt Kleist von Oktober 1800 bis März 1803. Manche Lücken lassen sich motivlich erahnen (Abgesehen vom rhetorisch geschliffenen Dankesbrief6 gingen Kleists Briefe aus der Militärzeit vermutlich an die Tante und wurden im Familienkreis vorgelesen.), andere bleiben unauffüllbar wie die längste zwischen März 1810 und August 1811; auffällig auch die fehlenden Briefe aus Dresden zwischen November 1808 und April 1809. In einer Epoche, in der die Post ein- bis zweimal wöchentlich abging und ankam,7 war eine Frequenz von jeweils zwei geschriebenen und erhaltenen Briefen pro Monat der Normalfall, diese schöne Regelmäßigkeit taucht in Kleists Briefwechsel mit Ulrike von Kleist jedoch auch unabhängig der markierten Unvollständigkeit nicht auf; zwar schrieb Kleist manchmal zweimal, einmal auch dreimal im Monat, doch teils so kurz hin6 7

Vgl. die Analyse des Briefes bei Joachim Knape: Zur Struktur des Jugendbriefs an die Schwester im 18. Jahrhundert: Goethe, Mozart, Brentano, Kleist. In: Kleist-Jahrbuch 1996, S. 91–109. Vgl. Klaus Beyrer: Der alte Weg eines Briefes. Von der Botenpost zum Postboten. In: Ders.; Hans-Christian Täubrich (Hg.): Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. Eine Publikation der Museumsstiftung Post und Telekommunikation. Heidelberg 1996, S. 11–27, hier S. 24. Der Postweg konnte in Krisenzeiten aber auch schon mal einen Monat dauern, wie Kleist am 6. Dezember 1806 feststellte: »dein Brief vom 9t Novbr. den ich erst, Gott weiß, wie es zugeht, heute erhalten habe«; BKA IV/2, 440.

88

Barbara Gribnitz

tereinander, dass keine Antwort möglich war (Juni 1804, Febr. 1808), teils antwortete Ulrike von Kleist nicht (Juli 1804, Okt. 1807), teils lässt sich aus Kleists Briefen auf keinen Gegenbrief schließen (Aug. 1804, Dez. 1806). Nur in 14 von 58 Schreiben erwähnt Kleist einen erhaltenen Brief, nur in 3 von 14 bedankt er sich nicht für ein Geschenk, Geld, Einlagen oder den »Beweis deiner Sorgfalt für mich« (BKA IV/2, 324), und nur in einem Schreiben von 3 geht er im ersten Absatz auf den Brief Ulrike von Kleists ein – wie die (nicht nur) zeitgenössische Definition eines Briefes als Gespräch mit einem Abwesenden es eigentlich nahelegte.8

III. Im Folgenden sollen materielle und formale Aspekte der Briefe Heinrich von Kleists an Ulrike von Kleist vorgestellt werden. Das Beschreibungsinstrumentarium habe ich der Textgenetik (la critique génétique) entliehen. Die vor allem in Frankreich etablierte Textgenetik definiert Literatur als Prozess und zielt auf die Rekonstitution der Werkgenese vom Manuskript zum gedruckten Text;9 in diesem Zusammenhang betrachtet sie die Handschrift als substantiellen Zeugen einer Schaffensdynamik, der sich sowohl durch materielle Eigenschaften als auch durch Chronologien formende Schreiboperationen kennzeichnet. Le manuscrit moderne se caractérise par certains paramètres matériels, qui tiennent autant aux propriétés du support et de l’instrument qu’à l’écriture elle-même et à sa disposition dans l’espace graphique. A ces quatre paramètres il convient d’ajouter les types et rituels de réécriture, car ils codéterminent de manière essentielle l’aspect physico-sémiotique d’une page manuscrite.10

Briefe, obwohl keine Etappen zum literarischen Werk, sind ebenfalls Handschriften, deren materielle Größen und Umarbeitungstechniken Aussagen treffen.11 Die Entscheidung, einen Brief in einer bestimmten Form, 8

Vgl. das wirkmächtigste Beispiel Christian Fürchtegott Gellert: Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig 1751, S. 1; vgl. auch Friedrich Schlegels Athenäums-Fragment Nr. 77: »Ein Dialog ist eine Kette, oder ein Kranz von Fragmenten. Ein Briefwechsel ist ein Dialog in vergrößertem Maßstabe«. In: Friedrich Schlegel: Fragmente. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe. Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Hg. und eingeleitet von Hans Eichner. München 1967, S. 176. 9 Vgl. grundlegend Almuth Grésillon: Éléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes. Paris 1994; Dies.: La mise en œuvre. Itinéraires génétiques. Paris 2008. 10 Grésillon: Éléments (wie Anm. 9), S. 37. 11 Erstmalig und fruchtbringend übertrug Cécile-Eugénie Clot Grundüberlegungen der Textgenetik auf handschriftliche Briefe, vgl. Cécile-Eugénie Clot: Kleist épistolier. Le

89

»Meine theuerste Ulrike«

auf bestimmtem Papier, mit bestimmten Redaktionsspuren zu verschicken, fällt der Schreiber im Wissen, dass die Empfängerin diese Zeichen entsprechend der herrschenden Konvention zu dechiffrieren vermag, und wendet sich auf diese Weise, »à la frontière entre la sémantique et la sémiotique«,12 an das Gegenüber. Aus Zeit- bzw. Platzgründen beschränke ich mich auf die Beschreibung ausgesuchter materieller Parameter und Umarbeitungen; erstere betrachte ich vor dem Hintergrund der in den Briefstellern festgeschriebenen Regeln, letztere hinsichtlich ihrer Funktion in der in den Briefen gestalteten Selbsterzählung Kleists.

IV. Die zuerst ins Auge fallende und haptisch erfahrbare Gegebenheit betrifft den Schriftträger, das Papier und Papierformat. Mehrheitlich benutzte Kleist das empfohlene helle (aus gebleichtem Leinen hergestellte) Postpapier aus holländischen oder inländischen Papiermühlen, wie die Wasserzeichen bezeugen. Zwei Briefe weisen allerdings dem Inhalt unangemessen dünnes Papier auf: der Brief vom 1. Februar 1808, ein fast offizielles Begleitschreiben zur Übersendung des ersten Phöbusheftes, und der Brief vom 21. November 1811. Ähnliche Proportionen lassen sich bezüglich der Papiergröße erkennen, der überwiegende Teil der Briefe (42 von 58) misst das übliche Kanzlei- bzw. Folioformat (21x16,5 cm bzw. 27x19 cm gefaltet), das höflicherweise noch beschnitten wurde, ein weiterer Teil die Hälfte des Folioformates. Die übrigen Briefe haben unregelmäßige Maße, die wohl auf Beschneidungen zurückgehen; besonders auffällig der Brief vom 30. September 1808 mit einer fast quadratischen Abmessung (20x22,5 cm), der ansonsten normgerecht in flüssiger, höflich-fröhlicher Sprache und ohne jegliche Überarbeitungsspuren das Erscheinen Ulrike von Kleists in Dresden wünscht. Zwei Schreiben geraten ungewöhnlich schmal: der Kostenvoranschlag für die Parisreise (1. April 1801, 18,6x11,5 cm) und die Bitte Kleists an Ulrike von Kleist, nach Berlin zu ziehen, um ihm dort im geselligen Umgang behilflich zu sein (19. März 1810, 18,3x10,5 cm). Es ist fraglich, ob die Formlosigkeit des zweiten Beispiels – Kleist drängte zudem, um nicht die vierte, für Adresse und Siegel vorgesehene Seite anfangeste, l’objet, l’écriture. Bern 2008. Ohne die theoretische Folie der Textgenetik schloß schon Ulrich Joost neben einer Reflexion über die historische Brieflehre außersprachliche Voraussetzungen der Briefkommunikation in seine Untersuchung des Briefwerkes Ludwig Christian Lichtenbergs ein, vgl. Ulrich Joost: Lichtenberg – der Briefschreiber. Göttingen 1993, insbesondere S. 42–56, S. 63–88. 12 Clot: Kleist épistolier (wie Anm. 11), S. 25.

90

Barbara Gribnitz

gen zu müssen, die letzten Zeilen bis zur Unlesbarkeit zusammen – auf eine besondere Vertrautheit, die nach den Briefstellern allein solche Verstöße verzeihen könnte, zurückzuführen ist; im Gegensatz dazu stehen die standardisierte Anrede und Schlussformel, das reflektierte Schönreden seiner Lage (»Doch ich verlange gar nicht, daß du auf diese Hoffnungen etwas giebst«, BKA IV/3, 370) und die einzige, für Ulrike von Kleist durchaus lesbare und zu interpretierende Veränderung: Aus »was macht Ihre Schwester? Und kömmt sie nicht bald wieder zu ihnen?« machte Kleist »was macht Ihre Schwester? Und warum kömmt sie nicht her?« (BKA IV/3, 369). Übrigens weist auch der Abschiedsbrief, eventuell aus Papiermangel, ein relativ kleines Format (19,3x12,1 cm) auf. Ein weiterer Parameter13 bezeichnet die Verteilung der graphischen Zeichen im Schriftraum. Wenn man nun einen solchen Bogen gehörig zubereitet, eine gute Schreibfeder und gute Tinte herbei geschafft hat; so schreibt man oben auf die erste Seite, etwa einen Zoll, oder Daumen breit unter dem Rande, die A n r e d e – nehmlich: lieber Freund! Wohlgebohrner Herr! oder dergl. Nach diesem muß man abermals einen leeren Raum lassen, ehe man den Context des Briefes selbst anfängt und zwar ist es Sitte, diesen Raum desto größer zu lassen, je vornehmer die Person ist, an die man schreibt. […] Auch muß man n i e z u n a h e a n d e n R a n d schreiben. Besonders muß man linker Hand, wenigstens einen guten Zoll breit, frei lassen, wie auch unten einen Raum von gleicher Breite. – Unschicklich ist es, den Briefbogen von oben bis unten und von einem Rande bis zum andern zu beschreiben. Dieses erschwert auch in der That das Lesen. Man muß einen Brief halten können, ohne mit den Fingern die Schrift zu bedecken.14

Ulrike von Kleist musste die Briefe ihres Bruders zur Lektüre wohl auf den Tisch legen: Seitliche Ränder finden sich überhaupt nicht, die oberen und unteren Randgrößen schwanken. Den ersten, äußerst formvollendeten Brief vom 25. Februar 1795 ausgenommen, beschrieb Kleist bis Anfang 1802 die Blätter tatsächlich von oben bis unten und von einem Rand zum anderen; danach lässt sich jeweils oben und unten ein Rand von ca. 1 cm 13 Die Untersuchung weiterer Aspekte des Schriftträgers wie Faltung, Siegel, Adressierung und Versandvermerke sowie der beiden anderen materiellen Parameter, Schreibwerkzeuge (Feder, Tinte) und Schrift, stelle ich noch zurück, zum Teil aus den genannten Platzgründen, zum größeren Teil jedoch, weil dazu eine intensive Beschäftigung mit den Originalhandschriften notwendige Voraussetzung ist. Ich hoffe sehr, dass ich bald Gelegenheit haben werde, dies im Rahmen eines größeren Projektes zu Ulrike von Kleist in Angriff zu nehmen. 14 Hannoverischer Briefsteller, zugleich Handbuch der nothwendigsten Kenntnisse für junge Leute und Ungelehrte, enthaltend: […] von August Raabe. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage. Hannover 1808, S. 103f.

»Meine theuerste Ulrike«

91

ausmachen. machen. Ab Juli 1803 pendelt sich – im Zusammenhang mit der neuen Setzung von Anrede und Unterschrift – der obere Rand bei ca. 2–3 2 3 cm und der untere Rand bei ca. 11– –22 cm ein, Ausnahmen bilden gedrängte Schluss Schlusszeilen zeilen (24. Okt. 1806, 6. Dez. 1806, 31. Dez. 1806, 17. Sept. 1807, 19. März 1810) oder das Überkopfschreiben, das aus Unlust, für eine Ergänzung zung oder eine letzte Information eine neue Seite zu beginnen, den oberen Ab Abstand stand umgekehrt füllt (31. Dez. 1806, 17. Febr. 1807, 17. Sept. 1807). Der Zei Zeilenabstand abstand variiert geringfügig um 0,4 cm, nur die kriegs kriegserschütterten Briefe zwischen dem 24. Oktober 1806 und dem 17. Februar 1807 zeigen einen Abstand von ca. 1 cm.

Kleist an Ulrike von Kleist, 27. Oktober ber 1800, S. 1r

92

Barbara Gribnitz

Kleist an Ulrike von Kleist, 24. Okt. 1806, S. 1r

Das Datum, zumeist mit Ortsangabe, später auch mit Adresse, platzierte Kleist an allen vier Ecken des Blattes. Laut Briefsteller galt die untere, linke Ecke der letzten Seite als Norm, allein: »In freundschaftlichen oder Kauf Kaufmanns-- und andern Geschäftsbriefen, wo besonders viel daran liegt den Tag des Abgangs eines Briefes nicht zu vergessen, pflegt man auch a uch wohl den Ort, Datum und Jahrzahl in einer Zeile ganz oben an den Rand des Bogens auf der ersten Seite, rechter Hand, über die Anrede zu setzen.« 15 In 15 Allgemeiner Leipziger Briefsteller für das bürgerliche Leben, oder Anleitung in ei einem

»Meine theuerste Ulrike«

93

diesem sem Sinne freundschaftlich (oder kaufmännisch), allerdings zumeist lin linker Hand, waren die Briefe bbis is Ende 1802. Im Januar 1803 datiert Kleist aus Oßmannstedt zum ersten Mal unten links neben seiner Unterschrift. Danach nach wechselte er aber noch gelegentlich in die untere rechte Ecke, teils unterhalb halb der Unterschrift, und auch fünfmal wieder in die oberen ober en Ecken (13./14. März 1803, 5. Jan. 1808 oben links; 6. Dez. 1806, 23. April 1809, 19. März 1810 oben rechts).

Kleist an Ulrike von Kleist, 25. Februar 1795 S. 1r und 2r

In einem korrekten Brief bilden Anrede und Unterschrift auf stilistischer scher und platztechnischer Ebene eine Einheit. Dies gilt nicht nur für die an angemessenen Titulaturen in Briefen an Höhergestellte oder Geschäftspart partner (ein Thema, zu dem die Briefsteller dutzende Seiten füllen), sondern auch für freundschaftliche und Familienkorrespondenz. Kleists erster Brief an Ulrike von Kleist vom 25. Februar 1795 macht es vor: »Liebe Ullrique« links oben mit Abstand zum Rand und zum Textbeginn und »Heinrich« unten rechts ebenfalls mit Abstand zum Textende und zum Rand (BKA IV/1, 26 u. 30).16

guten schriftlichen Vortrage in Briefen und andern dergleichen Aufsätzen. Von H.A. Kern Kerndörffer. dörffer. Zweite durchaus verbesserte Auflage. Leipzig 1801, S. 96. 16 Die französische Form benutzte Kleist hier erst- und letztmalig. Ebenso erst- und letzt letztmalig setzte Kleist seinen Namen in lateinischen Buchstaben – der Frage, wann deutsch und wann lateinisch unterschrieben wurde, ist noch nachzugehen. Eine Frage, auf die ich schon beim Sichten des Dienstprotokolls der Kriegs- und Domainenkammer Königsberg vom 18. Sept Sept. 1805 stieß: Kleist unterschrieb das Protokoll in lateinischen Buchstaben, andere

94

Barbara Gribnitz

Anrede und Unterschrift rahmen den Text und liegen im gleichen Sprach Sprachregister; das Zusammenspiel zwischen Anrede/Unterschrift und ihrer Posi Positionierung nierung im Schriftraum fungiert damit als gutes Beispiel für die obener obenerwähnte, für die Empfängerin lesbare Aussage an der Grenze zwischen Se Semantik tik und Semiotik. Ein weiteres Beispiel der passenden Norm bietet der Brief vom 3. Juli 1803: »Meine theuerste Freundinn« und »Heinrich v. Kleist«, beides abgesetzt, wenn auch ohne Abstand zum Text (BKA IV/2, 264 und 267) – diese Bitte um Geld ist Kleists formvollendste und förm förmlichste. Doch nicht immer harmonisieren die Namensgebung des Ich/Du und der codierte Platz der graphischen Zeichen. Am 24. Juni 1804 – der Brief nach dem ›ersten‹ Abschiedsbrief Abschiedsbr – begann Kleist zwar mit »Mein liebstes tes Rickchen«, doch steht diese familiäre Anrede abgesetzt im freien Raum, und der Textbeginn wurde zusätzlich noch eingerückt, ebenso die Unterschrift schrift »Dein Heinrich«, die abgesetzt und korrekt neben OrtsOrts - und Datums umsangabe angabe erscheint (BKA IV/2, 287 und 291).

Kleist an Ulrike von Kleist, 24. Juni 1804, S. 1r und 2r

Im Ablauf der 16 Korrespondenzjahre lassen sich Tendenzen beobachten. Die zunächst in den Fluss des Brieftextes gesetzte Anrede »Mein liebes Ulrikchen« chen« ändert sich ab Januar 1803 zumeist in die mehrheitlich ab abge-

Referendare und Sekretäre jedoch in deutschen, vgl. Barbara Gribnitz: Ein unbekann kanntes Kleist Kleist-Autograph. In: Gedankenstriche. Ein Journal des Kleist-Museums Museums 2011, S. 39––45.

»Meine theuerste Ulrike«

95

setzte Anrede »Meine theuerste Ulrike«,17 die Koseform Ulrikchen schwindet nach Juli 1804 gänzlich, während Kleist seine anderen Schwestern weiterhin Minette, Gustel, Fritzchen oder Julchen nannte (2. Nov. 1808, 3. Mai 1809, 19. März 1810, 5. Jan. 1808). Im Fall der Unterschrift dominiert von Anfang an die vom Text gelöste und rechtsseitige Variante, schon der Brief vom November 1799 endet mit der schulmäßigen Formel: »Adieu. [Abstand, Einrückung nach rechts] Dein treuer Bruder Heinrich« (BKA IV/1, 96). Unterschriften im Textfluss der letzten Zeile sind selten (10 von 58), teils dem Platzmangel geschuldet und konzentrieren sich auf die Zeit vor Juli 1803. Verteilt über den gesamten Zeitraum und jeweils ungefähr zur Hälfte unterschrieb Kleist seine Briefe mit seinem Vornamen (24, zwei sind ohne Unterschrift: Mai 1799, Dez. 1800) und mit Vor- und Zunamen, letzteres auch in Abkürzungen. Obwohl die mit »Heinrich« gezeichneten Briefe wie gesehen nicht zwangsläufig zwanglos im Textfluss stehen und/ oder einen großen Grad an Innigkeit ausdrücken müssen, können die mit vollem Namen unterzeichneten doch noch distanzierter wirken, beispielsweise »Adieu. [neue Zeile, Einrückung] Heinrich v. Kleist.« (8. Juni 1807, BKA IV/2, 495) oder »Bald ein Mehres [neue Zeile, Einrückung nach rechts] Hv Kleist.« (8. Februar 1808, BKA IV/3, 159). Die formelhafteste und unter den Geschwistern kälteste Art der Unterschrift findet sich – durchaus im Gegensatz zur bekundeten Freude über einen eventuellen gemeinsamen Aufenthalt in Berlin – im Brief vom 11. August 1811. [Demnach bitte ich dich um die Freundschafft, mir hierüber einige Worte zu schreiben;] und mit der Versicherung, daß mich, falls es nur in deine Zwecke paßt, nichts glücklicher machen würde, als Alles, was in meinen Kräften steht, an die Ausführung dieser Sache zu setzen, unterschreibe ich mich Berlin, d. 11t Aug. 11........................................................................ Dein treuer Bruder Mauerstraße N. 53 ....................................................... Hv Kleist. (BKA IV/3, 686f.)

17 Das Wort teuer bedeutet nach Adelung »In hohem Grad werth und lieb […] Das theure Wort Gottes. Ein theurer Mann. Mein theuerster Freund!«, in einer veralteten Bedeutung auch groß und stark; Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, von Johann Christoph Adelung, Churfürst. Sächs. Hofrathe und Ober-Bibliothekar. Vierter Theil, von Seb – Z. Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig 1801, Sp. 578. Die Anrede taucht erstmalig im Brief vom 5. Februar 1801 auf, den Kleist nur mit seinen Initialen H.K. unterschrieb – vielleicht kein zufälliges Signal, in einem Brief, der gern als Herzenserguß gelesen wird.

96

Barbara Gribnitz

Kleist an Ulrike von Kleist, 11. August 1811, S. 2r

Auf ein weiteres Beispiel einer unangemessener Verbindung inhaltlicher und formaler Konventionen möchte ich hinweisen: das Schreiben vom September 1811. Der Gegenstand, die Erklärung über sein Erscheinen in Frankfurt und die Ankündigung, zum Mittagessen zu erscheinen, entspricht ebenso wie der gleiche Aufenthaltsort beider Briefpartner der Form eines Billets. Billets sind eine kleinere Art Briefe, welche nur zu kleinen und geringfügigen Bestellungen gebraucht werden; wodurch man einer Person, einem Bekannten oder

»Meine theuerste Ulrike«

97

Freunde in wenig Worte irgend etwas zu wissen thut oder ihn von etwas benach benachrichtigt, oder ihn um etwas befragt. Diese Art Briefe brauchen die Umstände Um stände nicht wie die gewöhnlichen Briefe, da man sie nur in dem gesell gesellschaft schaftlichen lichen Leben ge gegen Personen gebrauchen kann, mit denen man in genauer Bekanntschaft Be schaft steht und die entweder mit uns an einem und demselben Orte oder doch nicht weit da davon entfernt wohnen, so, daß sie von Boten Bote n können über überschickt schickt werden. Man läßt gewöhnlich in Billets den Titel und die Anrede weg […].18

Kleist dagegen verwandte statt des in diesem Fall erlaubten Zettels ein gan ganzes Doppelblatt in Kanzleigröße, positionierte Anrede und Unterschrift formgerecht, gerecht, adressierte korrekt an Fräulein Ulrike von Kleist, HW (Hoch (Hochwohlgeboren) geboren) und siegelte den Brief, der eigentlich ein formloses, kleines, offenes nes Billet hätte sein können/müssen.

Kleist an Ulrike von Kleist, 18. September 1811, S. 1r und 2v (Vorderseite des Doppelblatts)

Auffallend ist auch die Benutzung des sogenannten Ehrfurchtszeichen in einer den Konventionen nichtkonformen Weise, denn das Ehrfurchts Ehr furchtszeichen diente eigentlich als Ersatz für Anrede und Unterschrift und der zu zuvor üblic üblichen hen (und am Ende des Zeitalters der Gelehrsamkeit unverstande unverstandenen) lateinischen Abkürzungen p.p. (praemissis praemittendis) oder s.t. (salvo titulo).

18 Allgemeiner Leipziger Briefsteller (wie Anm. 15), 1 S. 141.

98

Barbara Gribnitz

In Billets – […] – ist es gebräuchlich, statt der Titulatur sich des Ehrfurchtszeichens chens zu bedienen, welches man länger oder kürzer macht, nachdem es mehr oder weniger Ergebenheit oder Unterthänigkeit gegen die Person, an die man schreibt, bezeichnen soll. Man setzt nämlich dieß Zeichen gleich oben zur linken Seite, so daß es sich auf den Anfang des Schreibens heruntersenkt, als: ∫ Ew. Hochwohlgeb., gnädigem Befehl gemäß, u.s.w. Hernach setzt man es wieder unten zur rechten Seite, so daß es sich von dem letzten Worte des Schreibens auf die Namensunterschrift heruntersenkt, als: – – Dero Befehl zu voll vollziehen. ∫ N.19

In der genannten Ersatzfunktion setzte Kleist das Ehrfurchtszeichen in Billets (beispielsweise an Reimer, Hitzig, Arnim) durchaus ein, aber auch in normalen Briefen zumeist an beworbene oder höhergestellte Personen (aber auch an Rühle von Lil Lilienstern), ienstern), dort fungierte das Zeichen dann als Ausdruck druck der Ergebenheit (Briefe an Goethe, Collin, Hardenberg, Goltz; aber nicht an Wilhelm von Preußen und Friedrich Wilhelm III.). Und er benutzte es in den Briefen an Ulrike von Kleist: zweimal nach der Anrede A nrede (6. Dez. 1806, 1. Febr. 1808) und sechsmal vor der Unterschrift (30. Sept. 1808, 2. Nov. 1808, 8. April 1809, 23. Nov. 1809, 11. Aug. 1811, Ende Sept. 1811). Welche Titulaturen wollte Kleist durch dieses graphische Zei Zeichen ersetzen? Inwiefern distanzierte distan zierte Ergebenheit darstellen? Was ver versteckte es zwischen Zeilen wie: Adieu, vor 14 Tagen bin ich nicht hier zurück ∫ Dein Heinrich (BKA IV/3, 240f.)

Kleist an Ulrike von Kleist, 2. November 1808, Detail von S. 1r

Irritation bleibt, vielleicht bl blieb ieb sie auch bei der Empfängerin. 19 Allgemeiner deutscher Briefsteller […].. Von Karl Philipp Moritz, Königlich preußi preußischem Hofrath und Professor, etc. Sechste Auflage. Von neuen durchgesehen und mit vielen Zusätzen vermehrt von Dr. Theodor Heinsius. Be Berlin 1811, S. 130f.

99

»Meine theuerste Ulrike«

Irritation löste vermutlich auch ein anderes Zeichen aus; ein Zeichen, das Kleist ausschließlich in drei Briefen an Ulrike von Kleist benutzte – die Kustode. Eine Kustode kennzeichnete ursprünglich in Handschriften mittels Zahlen oder Buchstaben das Ende einer Lage und den Anfang einer neuen Lage; im Buchdruck des 17. und 18. Jahrhunderts platzierte man zur Orientierung das erste Wort der folgenden Seite rechts unter die letzte Zeile; um mehrere Einzel- oder Doppelblätter in die richtige Reihenfolge zu bringen, setzte man auch in Briefen Kustoden, zumeist ebenfalls das erste Wort der folgenden Seite. Kleists Kustoden sind jedoch in keinem der drei Fälle zwingend notwendig. Mag das erste Beispiel (12. Nov. 1799), das ein Einzelblatt mit einem einzigen Doppelblatt verbindet, noch der Lust an der Gelehrsamkeit geschuldet sein, hinterlassen die Kustoden aus den Schreiben vom 3. Juli 1803 (ein Einzelblatt) und 24. Juni 1804 (auf der ersten Seite eines Doppelblattes) nur Fragezeichen und verstärken im ersteren den Eindruck distanzierter Förmlichkeit und im letzteren die Geformtheit der Brieferzählung.

V. Da sich Kleist nicht an die einhellige Vorgabe der Briefsteller, den Brief bei aufgetretenen Fehlern lieber noch einmal zu schreiben als zu verbessern, hielt, möchte ich noch einige seiner Umarbeitungstechniken vorstellen. 1. Tilgung: Ein Wort/eine Passage wird ersatzlos gestrichen. In seinem Abschiedsbrief formulierte Kleist: »ich sage nicht, was [neue Zeile] was in Kräften einer Schwester« (BKA IV/3, 733); gerade an dieser Stelle, die auch als Vorwurf gelesen werden kann, stockte der Schreibfluss, und die Konzentration ließ nach. 2. Unterstreichung: Ein Wort/eine Passage wird durch eine zusätzliche Linie hervorgehoben. In den Briefen bis 1803 finden sich verschiedentlich Unterstreichungen, danach tauchen sie nur noch sporadisch auf. Sie dienen zumeist der Akzentuierung einer unbedingten Forderung (»Sei ruhig«, 26. Aug. 1800, BKA IV/1, 211), einer unerschütterlichen Wahrheit (»Wenn auch die Hülle des Menschen mit jedem Monde wechselt, so bleibt doch Eines in ihm unwandelbar u. ewig: das Gefühl seiner Pflicht«, 14. Aug. 1800, BKA IV/1, 154) oder der bloßen, sichtbaren Betonung (»Leset doch einmal im 34 oder 36t Blatt des Freimüthigen den Aufsatz: Erscheinung eines neuen Dichters«, 13./14. März 1803, BKA IV/2, 249).20 Einen kurio20 Clot klassifiziert, vor allem anhand der Briefe an Wilhelmine von Zenge, folgende Ziele einer Unterstreichung: Herausbildung einer Terminologie, Orientierung, dramatische Effekte und Rhythmusmarkierungen, vgl. Clot: Kleist épistolier (wie Anm. 11), S. 117-126.

100

Barbara rbara Gribnitz

sen, den Inhalt unterlaufenden Effekt ergibt die Zusammenführung der drei Worte, die Kleist in seinem ›ersten‹ Abschiedsbrief vom 26. Oktober 1803 unt unterstrich: »muß muß«, »kann«, »leben« (BKA IV/2, 283). 3. Ergänzung Ergänzung: Ein in Wort/eine Passage wird nachträglich in den schon bestehenden stehenden Textzusammenhang gebracht, im Raum zwischen den Zeilen, an den Rändern, am Ende. Dieser Praxis bedient sich Kleist – erneut m mit im Verlauf der Jahre abnehmender Tendenz – in allen Varianten, als Nach Nachschrift, Rand Rand- oder Zwischenergänzung, als mit Sonderzeichen markierten Absätzen. 4. Substitution Substitution: E Ein in Wort/eine Passage wird durch ein anderes/eine an andere ersetzt. Paradoxalement, la rature est à la fois perte et gain. Elle annule ce qui a été écrit, en même temps qu qu’elle elle augmente le nombre de traces écites. C’est C est dans ce para paradoxe même que repose ll’intérêt intérêt génétique de la rature: son geste négatif se trans transforme pour le généticien en trésor de possibles, sa fonction d’effacement d ment donne accès à ce qui aurait pu devenir texte. 21

Substitutionen können unterschiedlich gekennzeichnet werden. Entspre Entsprechend der Schreibchronologie als SchreibSchreib oder Lesevariante: Bei ersterer erfolgt die Korrektur im Schreibfluss, das gestrichene Wort steht unmittel unmittelbar neben seinem Ersatz (»Ich werde auch G etwas Geld«, 27. Okt. 1800, BKA IV/1, 354); bei der Lesevariante – nach Fertigstellung der Passage, während rend einer Relektüre – erscheint das Ersatzwor Ersatzwortt in der Nähe des gestri gestrichenen Wortes oder überschreibt direkt das zu tilgende Wort: Wort »Denke über Alles dies nach, meine [Schw]theuerste Ulrike« Ulrike«:

Kleist an Ulrike von Kleist, 14./15. Juli 1807, Detail von S. 2v

Substitutionen lassen sich also auch nach nac h ihrer Positionierung im Schrift Schriftraum einteilen: neben oder über dem gestrichenen Wort, im Zeilenzwi Zeilenzwischenraum raum oder am Rand. Und sie unterscheiden sich je nach Lesbarkeit oder Unlesbarkeit des Gestrichenen: Kann die Empfängerin auch die ver verworfene fene Vari Variante ante lesen und mit der verbesserten in Beziehung setzen? Im Brief vom Mai 1799 änderte Kleist seinen Argumentationsgang, strich an anderthalb halb Sätze eines neuen Absatzes, begann in der zuvor durch den Ab Ab21 Grésillon: Éléments (wie Anm. 9), S. 67.

»Meine theuerste Ulrike«

101

satz entstandenen Lücke einen neuen Satz, den er dan dann n direkt nach der ge gestrichenen chenen Passage fortführte. Diese blieb lesbar, da die Streichung nur durch eine gerade Linie geschah. 22 Die beiden für Ulrike von Kleist er erkennbaren baren Varianten lauten: Ist | es dort [d.h. auf Reisen] wo man die Pflichten der Gattinn u. der Mutter am zweck zweckmäßigsten erfüllt? Willst d Oder willst du endlich | Vielleicht willst Du mir eine ähnliche Frage thun. Aber täusche | Dich nicht wenn Dir auch das Reisen über überdrüßig ist. (BKA BKA IV/1, 66 66f.)

Kleist an Ulrike von Kleist, Mai 1799, Detail von S. 4r

Kleist strich selbst die Imagination eines Gesprächs mit Ulrike von Kleist.

Kleist an Ulrike von Kleist, 2. Aug. 1804, 1804 Detail von S. 1r (Einzelblatt)

Eine ähnliche Ambivalenz der Beziehung zwischen Schreiber und Emp Empfängerin gerin bezeugen und erzeugten wohl die Änderungen der Schlussfor Schluss formel in den Briefen vom 2. August 1804 (»Für jetzt wenigstens […],, geht es mit 25 Rth. monatlich noch nicht, u. ihr müßt daher ein Einsehen haben. haben. A Adieu. [Abstand, Einrückung nach rechts] Heinrich He inrich von Kleist« sichtbar sichtbar ein eingelenkt lenkt zu »Einsehen haben. Schickt [Überschreibung Adieu und Füllen der Absatzlücke] mir nur vor der Hand meine Betten […] Adieu. Adieu. Bald ein Mehreres u., ich hoffe, ganz Besti Bestimmtes.. [Absatz, Einrückung Einrückung 22 Wie Clot gehe ich davon aus, dass die heutige Lesbarkeit auch die damalige Lesbarkeit impliziert, vgl. Clot: Kleist épistolier (wie Anm. 11), S. 118.

102

Barbara Gribnitz

nach rechts] Dein Heinrich«, BKA IV/2, 320) und vom August Au gust 1809 (»zweifle nie an der unauslöschlichen Liebe deines F[unlesbar überschrie über schrieben zu B] Bruders [Absatz, Einrückung nach rechts] HvK« geändert zu »Liebe be deines Bruders [Absatz, Einrückung nach rechts] HvK«, BKA IV/3, 221). Im ersten Fall grundiert die recht harsche, distanzierende distan rende Re Reaktion tion die darauffolgende pragmatische Einlenkung; im zweiten zwei verschwin schwindet zwar die Wandlung des Freundes in den Bruder, doch die Streichung Strei chung des Bruders zum bloßen Namen bleibt b leibt lesbar.

Kleist an Ulrike von Kleist, August 1809, Detail von S. 2v

In Kleists Briefen überwiegen eindeutig die Lesevarianten. Der Nieder Niederschrift des Briefes oder einzelner Briefteile folgt eine Lektüre, die Umarbei Um arbeitungen gen zumeist stilistischer Art nach sich zieht. Kleist scheint seine Briefe 23 Hier zu formen, an ihnen zu feilen, um das passende Wort zu ringen. rin einige Beispiele: • Suche nach der Angemessenheit des Wortes – im Sinne der Ad Adressa satin tin oder des auszudrückenden Gedankens: Im Brief vom Mai 1799 änder änderte te Kleist »Und wenn Mädchen wie Du sich der erhabnen Pflicht Müt Mütter ter u. Erzieherinnen des Menschengeschlechts zu wer werden, entzie entziehen« hen« zu »[…] der heiligen Pflicht [… […]« (BKA IV/1, 70).24 23 Vgl. den Brief vom 5. Okt. 1803: »Die Hölle gab mir meine halben Talente, der Him Himmel giebt [darüber] schenkt [daneben] schenkt dem Menschen ein ganzes, oder gar keins« (BKA IV/2, 279). 24 Erinnerte sich Kleist wohl an die Festschreibung der Eigenschaft ›erhaben‹ als ›männli ›männliche‹? he‹? Vgl. Immanuel Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Er Erhabe-

103

»Meine theuerste Ulrike«

• Verbesserung des Leseflusses: »Das kann aber doch nicht eher sein, als in Bern. Dahin adressire dein Brief« wird »[…] als in Bern, und dahin adressire dein Brief« (20. Juli 1803, BKA IV/2, 270). • Ausmerzen stilistischer Fehler: »Ich bin erstaunlich traurig. Du hast zwar nicht mehr viel Mitleiden mit mir, ich leide aber doch wirklich erstaunlich.« (Dez. 1804, BKA IV/2, 328). Kleist strich das erste ›erstaunlich‹ und ersetzte es durch ›sehr‹; dieses Bemühen, eine stilistisch verpönte Wiederholung zu vermeiden, untergräbt den Glauben an die Wiedergabe eines unmittelbar erlebten Gefühls. • Inszenierung des Selbst: Ein etwas erpresserischer Gestus wird zu einem würdevollen, zunächst heißt es: »Was jenen Grundsatz des Königs beträfe, fuhr ich fort, so könne er des Königs Grundsatz nicht immer gewesen sein. Denn Sr. Majestät hätten die Gnade gehabt, mich mit dem Versprechen einer Wiederanstellung zu entlassen; ein Versprechen, das ich Sorge getragen hätte, bis auf den heutigen Tag unter meinen Papieren aufzubewahren«, und in der geänderten Fassung: »ein Versprechen an dessen Nichterfüllung ich nicht glauben könne, so lange ich mich seiner noch nicht völlig unwürdig gemacht hätte« (24. Juni 1804, BKA IV/2, 289). Und ein passives Resignieren wird zum aktiven Entscheiden, die erste Variante lautet: »Inzwischen bleibt mir immer nichts übrig, als zurückzukehren«, die zweite: »Inzwischen bleibt es immer das Vorteilhafteste für mich zurückzukehren« (8. Juni 1807, BKA IV/2, 494). Kleists Arbeit am Brieftext präsentiert sich vor allem als Arbeit am Selbstbild bzw. am Bild seines Selbst für die Andere, die Schwester.

VI. Die Briefbeziehung zwischen Heinrich von Kleist und Ulrike von Kleist tritt uns als einseitig erschriebene Beziehung entgegen. Zu ihrer Beschreibung können formale und materielle Aspekte beitragen; sie ergänzen, unterstützen, hinterfragen Analysen der sprachlichen Inhalte. Führt man die an Kleists Briefen getroffenen Aussagen zusammen, so lassen sich drei Zeiträume erkennen, in denen sich die Beziehung ändert. Der erste liegt in den Jahren zwischen 1795 und 1799, in der Wandlung eines formvollendeten, pflichtgemäßen Dankschreibens in einen neunseitigen, randvoll geschriebenen und vielfach verbesserten Brief. Die zweite Zäsur zeichnet sich im Frühjahr 1803 ab und festigt sich im Sommer nen [1764]. In: Werke in zehn Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 2: Vorkritische Schriften bis 1768. Darmstadt 1981, S. 825–887, hier S. 850.

104

Barbara Gribnitz

1804:25 Obere und untere Seitenränder treten auf, die Datierung wandert regelgerecht nach unten, die Unterschrift im Textfluss verschwindet, die Anrede setzt sich ab und wird zu »Meine theuerste Ulrike« standardisiert, zwei irritierende Kustoden tauchen auf, der kontinuierliche Kontakt endet beiderseits. Die letzte Phase kündigt sich durch die beiden einzigen Briefe ohne Umarbeitungsspuren an (1. Febr. 1808, 30. Sept. 1808): Generell zeigen Redaktionsspuren, Unterstreichungen, Nachschriften eine deutlich abnehmende Tendenz, dafür erscheinen Ehrfurchtszeichen, das Schweigen (unter Vorbehalt) kann sich über 15 Monate hinziehen, und eine übertriebene Formkorrektheit widerspricht den Briefinhalten. Am Ende meiner Überlegungen steht erneut die Feststellung des Mangels. Welches Bild der Beziehung zwischen Heinrich und Ulrike von Kleist ergäbe sich wohl nach einer Betrachtung des vollständigen Briefwechsels?

25 Nicht zufällig fällt Kleists einzige Reflektion über Briefformalia (Über Postbelange spricht er dagegen recht häufig.) in diese Zeit: »Verzeih diesen liederlichen Brief, er ist in Eile geschrieben, um mit Fritzen zu reden«, 27. Juni 1804; BKA IV/2, 297. Der Berlinische Briefsteller äußert sich zu einer solchen Entschuldigung folgendermaßen: »Diese Unterschrift [in Eile] ist gar zu oft zum erlogenen Deckmantel der Nachlässigkeit und Ungeschicktheit gemißbrauchet worden, als daß sie noch als eine gegründete Entschuldigung gelten könnte. Gar oft ist es ein unverschämtes Bekenntniß, daß man die Unanständigkeit, welche man durch die schlechte Einrichtung des Briefes begangen hat, fühle, aber nicht Lust gehabt habe, sie zu vermeiden«; Berlinischer Briefsteller für das gemeine Leben. Zum Gebrauch für deutsche Schulen und für jeden, der in der Briefstellerei Unterricht verlangt und bedarf. Sechste, beträchtlich neu vermehrte u. verbesserte Auflage. Berlin 1795, S. 118.

Anne Fleig

Vertrauensbildung? Heinrich von Kleists Briefe an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge

Kleists Briefe an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge haben schon auf vielfache Weise das Interesse der Forschung gefunden. Es bestehen allerdings sehr unterschiedliche Einschätzungen dieser Liebe und der sie begleitenden Briefe. Dies betrifft sowohl das Verhältnis der Verlobten als auch die Form und die Funktion der Briefe, und zwar in ihrem Status als Liebesbriefe und mit Blick auf Kleists Autorschaft. In diesem Zusammenhang sind insbesondere Kleists Anspruch, die Verlobte zu bilden und sie dadurch erst zu einer geliebten Frau zu machen, sowie die verschiedenen Denkübungen und Instruktionen, deren strikte Befolgung er erwartet und immer wieder abgefragt hat, ins Kreuzfeuer der literaturwissenschaftlichen Kritik geraten. So ist Kleists Briefen an die Verlobte vielfach der Vorwurf der »Schulmeisterei«1 gemacht worden, KarlHeinz Bohrer bezweifelt, dass es sich überhaupt um Liebesbriefe handelt.2 Dagegen hat sich Günter Blamberger in seiner Kleist-Biographie gegen manches allzu harsche Urteil über die Verlobungsbriefe verwahrt und Kleist als Briefschreiber energisch verteidigt.3 Doch bleibt vor allem die Form der Briefe irritierend, die zwischen der empfindsamen Vorstellung eines Gesprächs in Briefen und älteren Briefmustern changiert.4 Inzwischen ist in der Forschung deutlich geworden, dass für Kleists gesamtes Werk eine Mischung und Wiederholung verschie1

2 3 4

Hans-Jürgen Schrader: »Denke Du wärest in das Schiff meines Glückes gestiegen«. Widerrufene Rollenentwürfe in Kleists Briefen an die Braut. In: Kleist-Jahrbuch 1983, S. 122–179, hier S. 133; vgl. auch Klaus Müller-Salget: Art. Briefe. In: Ingo Breuer (Hg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2009, S. 180–183. Vgl. Karl-Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. Frankfurt a.M. 1989, S. 46. Allerdings gilt seine Verteidigung mehr dem Schreiber als den Briefen selbst. Vgl. Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt a.M. 2011, S. 85–116. Vgl. Elke Clauss: Liebeskunst. Untersuchungen zum Liebesbrief im 18. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1993, S. 202.

106

Anne Fleig

dener Formen und Traditionsmuster kennzeichnend ist, die die Überschreitung bestehender Gattungskonventionen einschließt. Dies gilt auch für Kleists Briefe, die dem literarischen Werk im engeren Sinne vorausgehen und seine Autorschaft begründen.5 Kleists Briefe sind durch formale Vielfalt charakterisiert, wie sich schon an dem ersten von ihm überlieferten Brief – einem Brief an seine Tante Auguste Helene von Massow – zeigt: Er ist Reisebericht, Kriegsberichterstattung sowie Abenteuer- und Räubergeschichte; zugleich enthält er Reflexionen auf das Briefschreiben selbst. Von Beginn an sind Kleists Briefe als literarische Übungen und »Ideenmagazin«6 zu verstehen. Und so bittet schon der Fünfzehnjährige die Tante am Ende: »meinen Mischmasch von Brief nicht zu kritisiren u genau zu betrachten«.7 Der Ausdruck »Mischmasch« bringt die Hybridität des Briefes als Vermischung von Schreiben und Erzählen, von Nähe und Distanz bereits deutlich zum Ausdruck. Dies betrifft auch und in besonderer Weise die Briefe an von Zenge, und zwar gerade in ihrer Eigenschaft als Liebesbriefe.8 Wenig Aufmerksamkeit hat in diesem Zusammenhang bisher das Thema des Vertrauens gefunden, das die Briefe grundiert und eng mit der paradoxen Struktur des Briefwechsels verknüpft ist. Denn die Frage, wie Verstehen über weite zeitliche und räumliche Distanzen möglich ist, bestimmt nicht nur die Korrespondenz der Liebenden. Die Frage von An- und Abwesenheit, von Rede und Schweigen eines Gesprächs in Briefen betrifft auch die Bedingungen und die Möglichkeit von Vertrauen. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass der Wandel innerhalb der Briefkultur des 18. Jahrhunderts, der zur Entwicklung des empfindsamen Liebesbriefs führt, einem Wandel im Verständnis von Vertrauen korrespondiert. Beide sind an die Herausbildung der bürgerlichen Gefühlskultur gebunden, die gegenüber der Sprache der Verstellung die Sprache des Herzens stark zu machen versucht. Wenn Elke Clauss in ihrer grundlegenden Untersuchung zum Liebesbrief festhält, dass im 18. Jahrhundert gleich zwei Prozesse zu beobachten sind, nämlich der »Wandel der Liebesauffassung und die Genese des Liebesbriefes«,9 dann ist neben diesen Prozessen auch der Wandel des Vertrauens zu nennen. Ihr Zusammen5

6 7 8 9

Gleichzeitig schreibt Kleist seine Briefe (auch die Briefe an die Verlobte) fort, indem er einzelne Passagen variiert, die sich dergestalt auch in anderen Briefen des sich bereits selbst reproduzierenden Autors finden. Vgl. Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751–1913. Berlin 1993, S. 95–99. Kleist an Wilhelmine von Zenge, 18. Nov. 1800; DKV IV, 164. Kleist an Auguste Helene von Massow, 13. (und 18.) März 1793; DKV IV, 16. Vgl. Clauss: Liebeskunst (wie Anm. 4), S. 203. Ebd., S. 11.

107

Vertrauensbildung?

spiel tritt in den Briefen Kleists an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge in besonders signifikanter Weise hervor. Meine These lautet, dass die Verlobungsbriefe die Liebe zwischen Heinrich von Kleist und Wilhelmine von Zenge nicht nur bilden und konstituieren, sondern auch durchkreuzen und letztlich verhindern. Diese paradoxe Struktur ist unmittelbar mit Kleists Forderung nach Vertrauen verbunden. Der folgende Beitrag geht diesem Zusammenspiel in drei Schritten nach: Zunächst werde ich Kleists Verständnis von Vertrauen zu umreißen versuchen, dann werde ich Kleists Briefe an von Zenge – von ihr selbst ist bekanntlich nur ein Brief an Kleist erhalten – in den Kontext der Briefkultur um 1800 einordnen, und schließlich werde ich auf die spezifische Verbindung von Liebe und Vertrauen in der Korrespondenz der beiden eingehen.

1. Individualisierung des Vertrauens Im Zuge der Aufklärung begann sich ein neues Verständnis von Vertrauen herauszubilden, das bis heute maßgeblich für die Konzeption von Vertrauen ist. Gegenüber Gott und dem durch Glauben gegebenen Gottvertrauen rückte der vernunftbegabte Mensch ins Zentrum des Vertrauensdiskurses. Die Aufwertung des Vertrauens – in Form des personalen und des sozialen Vertrauens – begleitete die Auflösung der als gottgewollt imaginierten ständischen Gesellschaftsordnung. Wie Ute Frevert herausgearbeitet hat, reagierte die entstehende bürgerliche Gesellschaft auf diesen Umbruch mit der Herausbildung einer spezifischen Gefühlskultur, die auch das Vertrauen einschließt.10 Während ständische Zugehörigkeiten an Bedeutung verloren, gewannen selbst gewählte Beziehungen und Freundschaften an Bedeutung hinzu. Diese Entwicklung ist an eine spezifische kommunikative Praxis gebunden und kann als Individualisierung des Vertrauens beschrieben werden. Die Aufwertung des Vertrauens seit der Aufklärung hat sich in Kleists Werk vielfach niedergeschlagen.11 Allerdings kann hier kaum von einer Kultur des Vertrauens die Rede sein. Vielmehr zeigen die Briefe an die Verlobte, dass die Individualisierung des Vertrauens im Rahmen der aufklärerisch geprägten Kultur eine Infragestellung des Schreibers hervortreten lässt, der immer wieder der Versicherung bedarf. Diese Versicherung 10 Vgl. Ute Frevert: Vertrauen. Historische Annäherungen an eine Gefühlshaltung. In: Claudia Benthien, Anne Fleig, Ingrid Kasten (Hg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Köln, Weimar, Wien 2000, S. 178–197. 11 Vgl. Anne Fleig: Das Gefühl des Vertrauens in Kleists Dramen Die Familie Schroffenstein, Der zerbrochne Krug und Amphitryon. In: Kleist-Jahrbuch 2008/09, S. 138–150.

108

Anne Fleig

lässt sich als »Beglaubigung des Ich«12 durch ein Gegenüber verstehen, wie sie später auch die Figurenkonstellationen in Kleists Dramen kennzeichnen wird.

Kleist an Wilhelmine von Zenge, April/Mai 1800, S. 1v

12 Clauss: Liebeskunst (wie Anm. 4), S. 202.

Vertrauensbildung?

109

Schon in den ersten Briefen an die frisch Verlobte macht Kleist gegenseitiges Vertrauen zu einer geradezu obsessiven Forderung, die die Korrespondenz antreibt. Um seine Forderung zu begründen, verbindet Kleist in den Verlobungsbriefen Vertrauen und Liebe auf charakteristische Weise. Im zweiten Brief an von Zenge – der erste enthält die Ankündigung und Begründung des Verlobungswunsches –, erklärt Kleist Vertrauen zur ersten »Bedingung der Liebe«.13 Damit verwickelt er sich allerdings in einen Selbstwiderspruch, der die paradoxe Grundstruktur ihrer Korrespondenz bildet und letztlich seine Forderungen aufhebt. Darüber hinaus wird in den Briefen von Anfang an deutlich, dass der Forderung nach Vertrauen ein sprachlich-kommunikatives Problem eingeschrieben ist: Die Versicherung des Vertrauens führt die eigene Verunsicherung und das Misstrauen immer schon mit sich. So markiert Kleist bereits in diesem zweiten Brief explizit die für das Vertrauen zentrale Grenze zwischen Glauben und Wissen, wenn er sich (und damit sie) fragt, ob er ihr »glauben«14 kann und nachdrücklich davon spricht, wissen zu wollen: Und doch wünsche ich mehr, und doch mögte ich nun gern wissen, was Ihr Herz für mich fühlt. Wilhelmine! Lassen sie mich einen Blick in Ihr Herz thun. Öffnen Sie mir es einmal mit Vertrauen u Offenherzigkeit. So viel Vertrauen, so viel unbegränztes Vertrauen von meiner Seite verdient doch wohl einige Erwiederung von der Ihrigen! Ich will nicht sagen, daß Sie mich lieben müßten, weil ich Sie liebe; aber vertrauen müssen Sie sich mir, weil ich mich Ihnen unbegränzt vertraut habe.15

Kleist stellt sich einen Prozess der Vertrauensbildung vor, dem Vertrauen immer schon vorausgeht. Diese Setzung des Vertrauens schließt Besitzansprüche ein, wenn er fordert, dass »sie sich« ihm »vertrauen« muss.16 Gleichzeitig versucht Kleist, die Differenz zwischen den Verlobten aufzuheben. Denn das geforderte Vertrauen gründet auf einer gemeinsamen Weltdeutung, die Kleist der Liebe zuschreibt und die er gegenüber von Zenge beschwört, wenn er auf ihre »Geschichte« zu sprechen kommt, die das geforderte Vertrauen gleichsam beglaubigen soll: »Wir lieben uns, hoffe ich, herzlich und innig genug, um es uns nicht mehr sagen zu dürfen, 13 14 15 16

Kleist an Wilhelmine von Zenge, April/Mai 1800; DKV IV, 54. Ebd., S. 53. Ebd. Vgl. Gail Newman: ›Du bist nicht anders als ich‹: Kleist’s Correspondence with Wilhelmine von Zenge. In: German Life and Letters 42 (1989), S. 101–112, hier S. 101; zum Besitzanspruch Kleists vgl. auch Ulrich Fülleborn: Die Geburt der Tragödie aus dem Scheitern aller Berechnungen. Die frühen Briefe Heinrichs von Kleist und Die Familie Schroffenstein. In: Kleist-Jahrbuch 1999, S. 225–247.

110

Anne Fleig

und die Geschichte unsrer Liebe macht alle Versicherungen durch Worte unnöthig.«17 Doch bleibt die »Geschichte« dieser Liebe an Sprache gebunden, die nur am Anfang – im Sommer 1800 – Gespräch und Schreiben abwechselt und danach ausschließlich aus Briefen besteht. Diese Briefe müssen nicht nur die Anwesenheit des Gegenübers ersetzen, sie müssen auch Kleists ständige Abwesenheit kaschieren. Gleichzeitig unterlaufen seine Forderungen den proklamierten Vertrauensvorschuss. Vertrauensbildend wirkt die Korrespondenz nur mit Blick auf das Bildungsprojekt, dem sich die Verlobten verpflichten und das buchstäblich auf die Herausbildung der Liebe – und mit ihr der idealen Geliebten – durch Bildung zielt.

2. Briefkultur und Liebesbrief Liebesbriefe legen nicht nur Zeugnis ab von den Freuden, Nöten oder Wünschen Liebender, sie sind selbst Teil des Liebesdiskurses, den sie hervorbringen. Insofern haben sie Teil an der Herausbildung jener Gefühlskultur, der die aufklärerische Suche nach Wahrheit und Natürlichkeit der Empfindungen begleitet. Als Ideal des Liebesbriefs galt seit Christian Fürchtegott Gellerts Briefreform Mitte des 18. Jahrhunderts der sogenannte natürliche Brief, der sich als Fortsetzung eines vertrauten Gesprächs verstand.18 Er zielte auf den freien, unverstellten Austausch von Gefühlen und Gedanken. Auch Kleist folgt diesem Ideal, wenn er beispielsweise an von Zenge schreibt, er sei dem »lauten Gewühl« einer Gesellschaft entflohen, »um ein Stündchen mit Dir zu plaudern«.19 Die Nähe des intimen Gesprächs mit der Geliebten wird hier gegen die beliebige Geselligkeit von Menschen abgegrenzt, »die man sieht u wieder vergißt, sobald man die Thüre hinter sich zu gemacht hat«.20 Dieser Austausch von Empfindungen gewann durch die Veränderungen in der Auffassung von Ehe und Liebe an Bedeutung. Lange als voneinander geschieden gedacht, verbanden sich Ehe und Liebe im Laufe des 18.

17 Kleist an Wilhelmine von Zenge, 31. Januar 1801; DKV IV, 187. 18 Vgl. ausführlicher Annette C. Anton: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1995, S. 16–24. 19 Kleist an Wilhelmine von Zenge, 21. (und 22.) Januar 1801; DKV IV, 182. Im selben Brief ist auch vom Schreiben als ›Unterhaltung‹ die Rede, vgl. ebd. S. 184. 20 Ebd., S. 182f.

Vertrauensbildung?

111

Jahrhunderts zur Liebesehe.21 Für Angehörige adliger Familien bedeutete dieser Übergang besonders weitreichende Veränderungen. Dies gilt in herausragender Weise für Kleist und von Zenge, denn als der 22-Jährige die Generalstochter kennenlernt, hat er gerade den standesgemäßen, militärischen Dienst quittiert, um eine bürgerliche Laufbahn einzuschlagen. Dieser Übergang kennzeichnet offensichtlich auch Kleists Briefe, mit denen er die Nachbarin für die kommunikative Gefühlskultur einer Liebesehe gewinnen will, die gleichzeitig durch die Korrespondenz erst eingeübt werden muss.22 Mit Recht hebt Blamberger hervor, dass dem »Mischmasch« der Briefe ein Mischmasch der zeitgenössischen Rollenentwürfe für Liebende entspricht.23 Schon der erste erhaltene Brief an von Zenge, mit dem er ihr die Verlobung anträgt, ist jener empfindsamen Sprache der Liebe verpflichtet, die den Liebenden vorbehalten ist und sie verbindet: Vor Ihnen zu stehen, u nicht sprechen zu dürfen, weil Andere diese Sprache nicht hören sollen, Ihre Hand in der meinigen zu halten u nicht sprechen zu dürfen, weil ich mich diese Sprache gegen Sie nicht erlauben will, ist eine Qual, die ich aufheben will u muß.24

Damit trägt der Briefwechsel einerseits zu ›Privatheit‹ im engeren Sinne bei, die konstitutiver Bestandteil der ausdifferenzierten bürgerlichen Gesellschaft wird. Andererseits bemüht sich Kleist sehr rasch darum, ihr Verhältnis zu legitimieren (und das heißt so viel wie: zu veröffentlichen), indem er den Vater der zukünftigen Braut um sein Einverständnis zur Verlobung bittet, was die Erlaubnis zum Briefwechsel eingeschlossen haben dürfte. Darüber hinaus deutet Kleist hier mit der Hand der Verlobten eine Sprache der Körper an, die auf die Differenz von Sprach- und Körperzeichen verweist.25 Die neue Sphäre der Privatheit war auf die Selbstthematisierung und die Entäußerung des Inneren angewiesen, die durch Zeichenproduktion und -lektüre des Gegenübers hervorgebracht wird. Diese Entäußerung rekurriert auf das Herz als Kernstück des Inneren, das zum einen Ausdruck von Natürlichkeit, zum anderen Ausdruck der eigenen Individualität ist.26

21 Vgl. Ulrike Vedder: Geschickte Liebe. Zur Mediengeschichte des Liebesdiskurses im Briefroman Les Liaisons dangereuses und in der Gegenwartsliteratur. Köln, Weimar, Wien 2002, S. 7. 22 Vgl. Blamberger: Kleist (wie Anm. 3), S. 90f. 23 Vgl. ebd., S. 78. 24 Kleist an Wilhelmine von Zenge, April/Mai 1800; DKV IV, 51f. 25 Vgl. Clauss: Liebeskunst (wie Anm. 4), S. 205. 26 Vgl. Vedder: Geschickte Liebe (wie Anm. 21), S. 12.

112

Anne Fleig

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt sich der private Brief zum Medium der Selbstentäußerung, aber auch der Selbstvergewisserung. Der Briefverkehr wurde als Kommunikation von Herz zu Herz begriffen.27 Auch Kleist betrachtet von Zenges Briefe als Schreiben »aus Deinem Herzen zu meinem Herzen«.28 In Abgrenzung von der Rhetorik des galanten Briefs antwortet er ihr, dass ihm ihr letzter Brief »herzliche Freude« gemacht habe: »nicht etwa, weil er schön oder künstlich geschrieben ist – denn das achte ich wenig, u darum brauchst Du Dir wenig Mühe zu geben – sondern weil er Züge enthält, die mir Dein Herz liebenswürdiger u Deine Seele ehrwürdiger machen.«29 Eine wichtige Rolle für die Liebesauffassung und die Briefgestaltung spielt in diesem Zusammenhang die Romanliteratur, die sich zur »schriftlichen Wiederholung«30 im Rahmen der entstehenden Briefkultur anbietet. Im Anschluss an Rousseau erscheint das Herz als zentrale Metapher; die Lektüre von Rousseaus Romanen ist zudem Gegenstand der Briefe an die Verlobte.31 Auch in dieser Hinsicht wird die Liebesbeziehung zu einem Bildungsprojekt32: »Liebe u Bildung, das ist alles, was ich begehre, und wie froh bin ich, daß die Erfüllung dieser beiden unerlaßlichen Bedürfnisse, ohne die ich jetzt nicht mehr glücklich sein könnte, nicht von dem Himmel abhangt […], sondern einzig und allein von Dir«.33 Gleichzeitig haben die Verlobten dadurch das Problem, auf konventionelle Sprachmuster zurückgreifen zu müssen, die die proklamierte Einzigartigkeit der Liebe immer schon in Frage stellen. Zudem lässt sich im Schreiben der Liebe, wie sie für die Beziehung von Kleist und von Zenge kennzeichnend ist, die Differenz zwischen Sprach- und Körperzeichen nicht aufheben. Kleist versucht zwar, künstliche und natürliche Zeichen zu verschmelzen,34 indem er »Brief« und »Herz« in eins setzt: »schwarz auf weiß« für die Verlobte auf Papier gemalt (nicht geschrieben!).35 Gleichzei27 28 29 30 31

32 33 34 35

Vgl. ebd. Kleist an Wilhelmine von Zenge, 11. (und 12.) Januar 1801; DKV IV, 177. Vgl. ebd., S. 177f. Clauss: Liebeskunst (wie Anm. 4), S. 13. Zu Rousseaus Romanen als literarische Vorlage und Lehrplan vgl. Clauss: Liebeskunst (wie Anm. 4), S. 217–219; zum Anschluss an Rousseau in Kleists Briefen aus Paris vgl. Ingrid Oesterle: Werther in Paris? Heinrich von Kleists Briefe über Paris. In: Dirk Grathoff (Hg): Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung. Opladen 1988, S. 97– 116. Immer noch grundlegend zum geschlechtlich codierten Verhältnis von Bildung, Literatur und Lektüre: Helga Meise: Die Unschuld und die Schrift. Deutsche Frauenromane im 18. Jahrhundert [1983]. Frankfurt a.M. 1992. Kleist an Wilhelmine von Zenge, 10. (und 11.) Oktober 1800; DKV IV, 138. Vgl. Clauss: Liebeskunst (wie Anm. 4), S. 205. Kleist an Wilhelmine von Zenge, 20. August 1800; DKV IV, 76.

113

Vertrauensbildung?

tig reflektiert er die Unzulänglichkeit der Mitteilung, wenn er hinzufügt, dass der Brief immer nur die »Copie« seines Herzens ist, »welche das Original nie erreicht«.36 Doch ist das eigentliche Problem ihrer Korrespondenz, dass er von Zenge das Original entzieht, um es durch Briefe zu ersetzen. Auch von hier aus wird noch einmal deutlich, warum gerade die Verlobungsbriefe Kleists Autorschaft begründen, die von Zenge als Adressatin und Leserin beglaubigen soll. In diesem Zusammenhang kommt wieder das Vertrauen ins Spiel, welches der Liebe – so Kleist – vorausgeht.

3. Vertrauen und Liebe Kleist bindet gegenüber von Zenge Vertrauen und Liebe von Anfang an eng einander und macht Vertrauen zur Grundlage ihrer Korrespondenz, die insgesamt vor allem durch seine Abwesenheit geprägt ist. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass schon der erste erhaltene Brief an von Zenge, der seinen Verlobungswunsch ankündigt, mit der Aussicht auf eine Reise endet, von der ihre Eltern vorerst nichts wissen sollen. Er schließt mit der Formel: »Wir verstehn uns ja«.37 Vermutlich handelt es sich hier um die Würzburger Reise, und so sind Verlobung und bevorstehende Abwesenheit von Anfang an unmittelbar aufeinander bezogen. Darüber hinaus weist dieser erste Brief weitere Merkmale auf, die in der Folge ihre Korrespondenz kennzeichnen: zum einen eine Absprache, die zur Legitimierung dient, und doch sofort ein Geheimnis einschließt, zum anderen die Versicherung des Einvernehmens, des Verstehens und Vertrauens als Setzung: ›Wir verstehn uns ja.‹ Ist dieses Vertrauen einerseits die Voraussetzung der Liebe, die im Folgenden mit dem Ziel der Eheschließung ausgebildet werden soll, so zeichnet sich hier andererseits schon am Nullpunkt ihrer Beziehung ab, dass die sich anbahnende Korrespondenz zur Probe des so gesetzten Vertrauens wird. Die für Kleist charakteristische Verbindung von Vertrauen und Liebe, die eine persönliche, aber auch eine gesellschaftliche Dimension hat, zeigt sich anschaulich in dem vermutlich einzigen Geschenk, das er von Zenge macht: Vor Aufbruch zu seiner Würzburger Reise schenkt er ihr eine Tasse samt Untertasse aus Porzellan, auf deren Unterseiten einmal »Vertrauen« und einmal »Einigkeit« geschrieben stehen. In der Mitte der Untertasse, d.h. dort, wo die Tasse auf den Unterteller trifft, steht »uns«. Es handelt sich also um ein Wortspiel, das Sprachzeichen und Dinge durch ihre spezifische Anordnung zum Sinnspruch ›Vertrauen auf uns, Einigkeit unter uns‹ verbindet. Mit diesem Geschenk ist Kleist auf der Höhe der Zeit, 36 Ebd. 37 Kleist an Wilhelmine von Zenge, April/Mai 1800; DKV IV, 52.

114

Anne Fleig

denn die Tasse stammt aus der noch jungen Königlichen Porzellanmanufaktur in Berlin und dokumentiert in ihrer praktischen Schlichtheit zugleich den Wandel der Lebensweise im Übergang von der adligen zur bürgerlichen Kultur.38 Darüber hinaus kann diese Tasse noch in weiterer Hinsicht als Symbol der Beziehung gelten: Sie ist nicht nur Gebrauchsgegenstand einer gehobenen, bürgerlichen Haushaltung, sondern auch ein Weiblichkeitssymbol par excellence, das an den Krug im Zerbrochnen Krug erinnert. Das Verlobungsprojekt als Bildungsprojekt macht die zukünftige Ehefrau zum Gefäß, das der Bräutigam bilden und füllen will. Gleichzeitig ist die Tasse – als Platzhalter der Liebe – Vertreterin des Abwesenden, die von Zenge sogar in die Hand nehmen kann. Die Tasse ist mithin Zeichen für die Verlobte und den Verlobten zugleich, sie verweist auf die Verbindung zweier Teile zu einer Einheit. Und doch – oder gerade deshalb – bleibt dieses Gefäß Symbol der Differenz und der Teilung: Sprach- und Körperzeichen lassen sich nicht zur ersehnten Einheit verbinden. Zudem symbolisiert die Tasse den Vertrag, den Kleist mit der Verlobung schließt (auch dies übrigens eine Verbindung zum Zerbrochnen Krug) und dem buchstäblich Vertrauen zugrunde liegt. Doch wird das Vertrauen genau genommen durch die Tasse selbst unsichtbar gemacht, denn das Wort ›Vertrauen‹ kann nur gelesen werden, wenn die Tasse angehoben wird. Auch hier tritt die Unzulänglichkeit der sprachlichen Mitteilung letztlich deutlich hervor: obwohl die Schrift auf der Tasse die Verbindung der Liebenden stiftet, trennt spätestens die Lektüre die beschworene Einigkeit wieder auf. Allerdings ist diese Unsichtbarkeit des Vertrauens selbst doppelsinnig: denn nicht nur scheitert die Lektüre, eine Zweckentfremdung der Tasse, die – zumindest gefüllt – ja nur mit äußerster Vorsicht hochgehoben werden kann. Umgekehrt könnte sich in der Nutzung der Tasse etwa durch re38 Vgl. Günter Schade: Berliner Porzellan. Zur Kunst- und Kulturgeschichte der Berliner Porzellanmanufakturen im 18. und 19. Jahrhundert. München 1987, S. 167. Im Unterschied zu den großen, auf Schmuck und Repräsentation ausgerichteten Tafelservicen war der bürgerliche Geschmack stärker an der praktischen Verwendbarkeit des Porzellans orientiert. Gerade die Tassen mit ihrer Formen- und Motivvielfalt und ihren bürgerlichen Wertvorstellungen entsprechenden Sinnsprüchen gehörten Ende des 18. Jahrhunderts zu »den beliebtesten Gegenständen aus Porzellan« (ebd.). – Mit der Vielfalt der Porzellantassen gingen bestimmte Formen des Kaffeetrinkens einher. Generell verbreitete sich der Konsum von Tee oder Kaffee im deutschsprachigen Raum erst im Laufe des 18. Jahrhunderts. Vgl. Annerose Menninger: Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.–19. Jahrhundert). Stuttgart 2004.

Vertrauensbildung? ertrauensbildung?

115

gelmäßiges mäßiges Beisammensein beim nachmittäglichen Kaffeetrinken eine Pra Praxis des Vertrauens einstellen, die die immer schon problematische sprach sprachliche Fixierung des Vertrauens überflüssig erscheinen lässt.

Heinrich von Kleists Verlobungstasse für Wilhelmine von Zenge. Klassizistisch, mit Gräser Gräserdekor. KPM, um 1800. Nachbildung der Originaltasse; Kleist Kleist-Museum, Museum, Frankfurt (Oder); Foto: Iglhaut+vonGrote

Doch vertraut Kleist eben nicht, sondern will festlegen, was erst wach wachsen muss. Nach dem Brief, der die Verlobung ankündigt, fragt schon der nächste ste Brief die Liebe der Braut sehr genau ab. Kleist versucht Sicherheit

116

Anne Fleig

zu erlangen, und zwar in einer Art Selbstverhör, das auf die Sicherheit des Geschriebenen zielt: »[…] – wer hat es mir gesagt? Und wo steht es geschrieben?«39 Die Sicherheit, die seiner Selbstversicherung dient, soll ihm von Zenge schriftlich geben: Ich glaube, daß ich entzückt sein werde, und daß Sie mir einen Augenblick, voll der üppigsten und innigsten Freude bereiten werden, wenn Ihre Hand sich entschließen könnte, diese drei Worte niederzuschreiben: ich liebe Dich. Ja, Wilhelmine, sagen Sie mir diese drei herrlichen Worte; sie sollen für die ganze Dauer meines künftigen Lebens gelten.40

In diesem Wunsch drückt sich nicht nur eine Wertschätzung der Schrift aus. Es entsteht darüber hinaus der Eindruck, dass die Liebesformel hier zu einer Form wird, die Dauer garantiert, ein Pakt, der jene Sicherheit bieten soll, die Kleist selbst immer wieder in Frage stellt. Denn der Pakt der Verlobung schließt – wie schon der erste Brief zeigt – das Geheimnis ein, das die Korrespondenz zu einer auf Dauer gestellten Vertrauensprobe machen wird. Sie entspricht der leeren Tasse und einer Beschwörung des Vertrauens, die als Setzung erscheint, aber Infragestellung bedeutet. Darüber hinaus bildet das Geheimnis die Leerstelle ihrer Beziehung; es impliziert von Anfang das ›Original‹, das sich entzieht. Hieraus erklärt sich die paradoxe Struktur der Verlobungsbriefe, die ihre Liebe einerseits konstituieren und sie andererseits verhindern.

39 Kleist an Wilhelmine von Zenge, April/Mai 1800; DKV IV, 52. 40 Ebd., S. 54.

Katarzyna Jaśtal

»Ich kenne die Masse, die ich vor mir habe …« Zur Pädagogik in Kleists Brautbriefen

Nicht zuletzt wegen des in ihnen hartnäckig vorgetragenen pädagogischen Anspruchs gelten die zwischen 1800–1802 entstandenen Briefe Heinrich von Kleists an seine Braut Wilhelmine von Zenge als besonders irritierendes Dokument der deutschen Briefkultur: Die von Anfang an geäußerte Aburteilung von Kleists brieflich artikulierten erzieherischen Bemühungen nimmt das gesamte 19. Jahrhundert1 hindurch an Vehemenz zu. Sah die ältere Forschung in der Brautkorrespondenz Dokumente der in genialischen Kämpfen des Ichs erfolgenden dichterischen Selbstfindung, so warf sie dem Schriftsteller spätestens seit Adolf Wilbrandt oder Friedrich Gundolf vor, dass er die Verlobte »unerträglich schulmeisterte«.2 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten die Brautbriefe bereits als von »Ahnungslosigkeit und Blindheit«3 gegenüber dem Du geschlagene, monologisierende »Zeugnisse penetranter Schulmeisterei und psychischer Marter«4 oder als »lederne Bildungsliteratur«,5 welche bei aller formalen Heterogenität hinter dem um 1800 gängigen, den Brief als Pendant eines ungezwungenen Gesprächs verstehenden, epistolaren Standard vorwiegend zurückbleibe.6 Vor Paradigmen der Liebeskorrespondenz betrachtet, erscheinen die inkriminierten Korrespondenzen als »weitgehend solipsistische, ja mo1 2 3 4 5 6

1863 wirft Wilbrandt Kleist vor, dieser trete gegenüber der Braut als »trockener«, bzw. »stirnrunzelnde[r]« Pädagoge auf. Vgl. Adolf Wilbrandt: Heinrich von Kleist. München 1983, S. 70. Friedrich Gundolf: Heinrich von Kleist. Berlin 1922, S. 169. Friedrich Koch: Heinrich von Kleist. Bewusstsein und Wirklichkeit. Stuttgart 1958, S. 5. Hans-Jürgen Schrader: »Denke Du wärest in das Schiff meines Glückes gestiegen«. Widerrufene Rollenentwürfe in Kleists Briefen an die Braut. In: Kleist-Jahrbuch 1983, S. 122–179, hier S. 133. Dieses Merkmal unterscheide die Verlobtenbriefe von denen, die Kleist an seine Schwester Ulrike geschrieben hat. Vgl. Günter Blöcker: Heinrich von Kleist. Das absolute Ich. Berlin 1960, S. 47. Vgl. hierzu den Beitrag von Anne Fleig im vorliegenden Band.

118

Katarzyna Jaśtal

nomanische Selbstmanifestationen«,7 denen – so die radikale Auffassung Karl Heinz Bohrers – der Status von Liebesbriefen schlichtweg abzusprechen sei.8 Derartige (hier aus Platzgründen lediglich in einer knappen Auswahl angeführte) harsche Urteile, in denen die Grenzen zwischen objektivem Befund und subjektiver Meinung gelegentlich verschwimmen, werden in den neuesten Publikationen im Hinblick auf die sich um 1800 etablierenden Geschlechterkonzepte und die Medialität der Briefkommunikation relativiert.9 Die neueren Arbeiten, denen meine Annäherung an die Brautkorrespondenz verpflichtet ist, situieren Kleists briefliche Versuche, seine Braut zur gehorsamen Gattin heranzubilden, im ideologischen Horizont der um 1800 militant geführten Geschlechterdebatte, in deren Rahmen die im Gefolge von Descartes formulierten frühaufklärerischen Konzepte der intellektuellen Gleichheit von Mann und Frau zugunsten eines in der »Ordnung der Natur« verankerten und damit ontologisierten Geschlechtermodells fallen gelassen wurden.10 Sie kontextualisieren die von Kleist an die Verlobte gestellten Ansprüche durch die Herausarbeitung ihrer Affinität zum zentralen Referenztext der genannten Debatte, der ›narrativen Utopie‹ Emile oder die Erziehung (1762) Jean Jacques Rousseaus, der zufolge der Fortbestand des Menschengeschlechts und das Funktionieren der Gesellschaft nur dann gewährleistet seien, wenn beide Geschlechter ihren naturgegebenen Aufgaben nachgingen, wozu sie jeweils durch spezifische Verhaltensformen beitragen. Der von Kleist seiner Braut zur Lektüre anempfohlene Rousseau11 übertrug dem Mann die Verantwortung für die Erhaltung der natürlichen Ord7

Hans-Jürgen Schrader: Unsägliche Liebesbriefe. Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge. In: Kleist-Jahrbuch 1981/82, S. 86-96, hier S. 90. 8 Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Frankfurt a.M. 1987, S. 46. 9 Vgl. Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biografie. Frankfurt a.M. 2011, insbesondere das Kapitel: Die missbrauchten Liebesbriefe, S. 85-116, bes. S. 86; Britta Herrmann: Auf der Suche nach dem sicheren Geschlecht. Männlichkeit um 1800 und die Briefe Heinrich von Kleists. In: Walter Erhart, Britta Herrmann (Hg.): Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit, Stuttgart 1997, S. 212-232; Peter Ensberg: Ethos und Pathos. Zur Frage der Selbstdarstellung in den Briefen Heinrich von Kleists an Wilhelmine von Zenge. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 1998, S. 2258; Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post (1751-1913). Berlin 1993. 10 Vgl. Wolfram Malte Fues: Das Geschlecht der Vernunft. »Raison« und »Esprit« im Denken der Aufklärung. In: Claudia Opitz, Ulrike Weckel, Elke Kleinau (Hg.): Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten. Münster, New York, München. 2000, S. 173-193. 11 Im Brief vom 14.4.1801 empfiehlt der Verlobte: »Gewinne Deinen Rousseau so lieb wie es Dir immer möglich ist, auf diesen Nebenbuhler werde ich nie zürnen.« (BKA IV/1, 551)

»Ich kenne die Masse, die ich vor mir habe …«

119

nung der Welt nicht nur als Ernährer und Beschützer, sondern auch – hier wird auf ein in der Frühaufklärung eingeführtes Novum rekurriert – als Lehrmeister der Frau. Dieser teilte er die Obliegenheiten einer gehorsamen Gattin und emotionalen Stütze des Mannes und darüber hinaus der guten Mutter zu, deren Intellekt und Bildung gleichsam von Natur aus zwar denen des Mannes unterlegen seien, aber dennoch so weit ausreichten, dass sie die Alphabetisierung der gemeinsamen Kinder übernehmen könne. Im Rahmen des im biologischen Determinismus gründenden Rousseauschen Modells wird die Möglichkeit, die ihnen in der Ordnung von Natur und Gesellschaft jeweils »angewiesene Stellung«12 zu erfüllen, auf die spezifischen Dispositionen der Geschlechter zurückgeführt, d.h. auf die als maskuline Eigenschaften definierte Autonomie, Stärke, Leistungsorientierung, Furchtlosigkeit und Gewaltbereitschaft und die zu komplementären femininen Qualitäten erklärten Charakterzüge Unselbständigkeit, Schwäche, Geduld, Sanftmut, Nachgiebigkeit und Selbstverleugnung.13 Das von Rousseau vorgetragene, in Deutschland breit rezipierte Geschlechterkonzept scheint auf mindestens zweifache Weise die deutsche Briefkultur um 1800 beeinflusst zu haben. Es wird erstens zum Gegenstand von Fachpublikationen der von Kleist in dem Aufsatz Allerneuerster Erziehungsplan als »Virtuosen der neuesten Erziehungskunst«14 bezeichneten zeitgenössischen Pädagogen und populären Ratgeber. Es ist kein Zufall, dass letztere um 1800 wiederholt die Form des offenen Briefes wählen, denn dank der epistolaren Freiheiten lässt sich in diesen Ratgebern eine persönliche Ebene etablieren, auf der sich für die damalige Zeit heikle Themen ansprechen lassen.15 Die zweite Einflusssphäre Rousseauschen Gedankenguts ist die private Ebene: Als »Vorbereitungstext für Ehe- und

12 13

14 15

Im Brief vom 3.6.1801 heißt es: »Rousseau ist mir der liebste durch den ich Dich bilden lassen mag, da ich es selbst nicht mehr unmittelbar, wie sonst, kann« (BKA IV/2, 31). Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Frei aus dem Französischen übersetzt von Hermann Denhardt. Neue Ausgabe. Leipzig o. J, Bd. 2, S. 324. Vgl. ebd., S. 326. Der Rousseau-Rezeption in der deutschen Geschlechterdebatte begegnet die Forschung in den letzten Jahren mit besonderem Interesse und mit einer langen Reihe von Publikationen. Meine Ausführungen zu diesem Problem sind insbesondere zwei Arbeiten verpflichtet: Verena Ehrich-Haefeli: Rousseaus Sophie und ihre deutschen Schwestern. Zur Entstehung der bürgerlichen Geschlechterideologie. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland: neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin 1995, S. 115-162; Barbara Rentdorf: Erziehung und Geschlecht. Stuttgart 2006, S. 59-70. Heinrich von Kleist: Allerneuester Erziehungsplan (BKA II, 184). Vgl. Nicole Keller: Pädagogische Ratgeber in Buchform – Leserschaft eines Erziehungsmediums. Berlin, New York u.a. 2008, S. 34.

120

Katarzyna Jaśtal

Familiengründung«16 spielt Rousseaus Emile um 1800 eine tragende Rolle in der vorehelichen Privatkorrespondenz. Zu ihren wichtigsten Kennzeichen gehört die individuelle Adressierung des geschlechter- und ehepädagogischen Diskurses, mit der eine sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts etablierende Konvention fortgesetzt wird, in deren Rahmen die Männer als Lehrer, die Frauen als Schülerinnen auftreten.17 Die epistolaren Gepflogenheiten um 1800 unterscheiden sich allerdings von denen um 1750: Während es um 1750 um die literarische Bildung und das Lektüreverhalten der Briefempfängerinnen geht, handelt es sich laut Bernd Siegert fünfzig Jahre später vor allem um die Verteilung der Geschlechterpositionen, die als Positionen innerhalb einer Organisation des Wissens zu definieren sind.18 Nach Siegerts Befund lässt sich um 1800 geradezu von postalischem »womanengineering«19 sprechen, in dessen Zuge zahlreiche Briefwechsel zu regelrechten Frauenfernlehrgängen expandierten:20 Im Rahmen dieser Fernkurse wird über die räumliche Distanz zwischen Lehrer und Schülerin hinweg durch Lektüreempfehlungen und Anweisungen zur konzeptuellen und sprachlichen Gestaltung ihrer eigenen Briefe zwar immer noch – wie schon um 1750 – Wissen vermittelt, in erster Linie wird die Schülerin jedoch auf ihre soziale Bestimmung hin geformt, während sich der Mann im Gestus pädagogischer Selbstbehauptung die Identität des überlegenen, starken Mentors erschreibt. Die Erkenntnisse der angeführten Arbeiten, welche die diskursive Einbettung Kleists epistolarer Erziehungsbemühungen um seine Braut nachvollziehen lassen, bleiben jedoch vornehmlich auf zwei Momente konzentriert: den medialen Kontext und den zeitgenössischen Geschlechterdiskurs um 1800. Die Frage nach dem dritten wichtigen Moment, nämlich nach der Kleist’schen ars docendi (und die weiterführende Frage nach deren Verhältnis zur zeitgenössischen Pädagogik) ist bisher weitgehend offen geblieben. Im Folgenden möchte ich versuchen, die bisherigen Erkenntnisse in dieser Hinsicht zu ergänzen, wobei die im knappen Rahmen dieses Beitrags entfalteten Ausführungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Systematik erheben dürfen. 16 Birgit Althans: Der Klatsch, die Frauen und das Sprechen bei der Arbeit, Frankfurt a.M. 2000, S. 323. 17 Zum Fortleben der geschlechterspezifisch definierten ›Briefdidaktik‹ im 19. Jahrhundert vgl. Christa Hämmerle, Edith Saurer: Frauenbriefe – Männerbriefe? Überlegungen zu einer Briefgeschichte jenseits von Geschlechterdichotomien. In: Christa Hämmerle, Edith Saurer (Hg.): Briefkulturen und ihr Geschlecht. Zur Geschichte der privaten Korrespondenz vom 16. Jahrhundert bis heute. Wien, Köln, Weimar 2003, S. 7-32, hier S. 12. 18 Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post (wie Anm. 9), S. 84. 19 Ebd., S. 94. 20 Vgl. ebd., S. 52.

»Ich kenne die Masse, die ich vor mir habe …«

121

Vorab sei zu bemerken, dass Kleists Verlobung und der Briefwechsel mit seiner Braut in einer real gegebenen pädagogischen Beziehung ihren Anfang nehmen, dem im Frühjahr 1799 Wilhelmine und ihren Schwestern erteilten Privatunterricht in deutscher Sprache, in dessen Verlauf – in einem der nicht erhaltenen Schreiben Kleists – für Wilhelmine unerwartet eine Liebeserklärung und der Heiratsantrag erfolgen. Die darauf folgenden Briefe an die Braut erscheinen in vielerlei Hinsicht als Fortsetzung der Lehrer-Schülerin-Beziehung, wobei Kleist die Idee der Entwicklung der Ausdruckskompetenz der Verlobten im pädagogischen Konzept ihrer ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung aufgehen lässt. Der Verlobte bleibt ein treuer Schüler der Aufklärung als »Zeitalter der Pädagogik«, das die pädagogische Tätigkeit aufgewertet und als sinnstiftende Lebensaufgabe interpretiert hatte, indem er sich begeistert zum pädagogischen Eros21 als der ihn treibenden Kraft bekennt. Er verspricht Wilhelmine: »du willst nichts, als Liebe und Bildung – o beides sollst Du von mir erhalten, von dem ersten mehr selbst als Du fordern wirst, von dem andern so viel ich geben kann, aber beides mit Freuden«.22 In diesem Zusammenhang äußert Kleist auch leidenschaftliches körperliches Verlangen, das allerdings nicht mit der Präsenz der Verlobten, sondern mit dem in ihrer Absenz entfalteten Gedanken an die Formung ihres Charakters verbunden wird: »Wenn Du es ahnden könntest, wie der Gedanke, aus Dir einst ein vollkommnes Wesen zu bilden, jede Lebenskraft in mir erwärmt, jede Fähigkeit in mir bewegt, jede Kraft in mir in Leben u. Tätigkeit setzt! – «.23 Das so definierte pädagogische Anliegen aktualisiert das im Zuge der Rousseau-Rezeption in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts leidenschaftlich diskutierte Perfektibilitätskonzept.24 Kleists Pädagogik entspricht den Vorgaben des Schweizer Philosophen auch darin, dass er den einzigen Weg für Wilhelmines Vervollkommnung in ihrer Anpassung an das Rousseausche

21 Vgl. Blamberger: Heinrich von Kleist (wie Anm. 9), S. 88. Der (heute im Zusammenhang mit Missbrauchskandalen an den Schulen in Misskredit geratene) Begriff des »pädagogischen Eros« spielt, inbesondere dank Pestalozzi, eine wichtige Rolle im pädagogischen Denken des 18. Jahrhunderts, das ein geradezu leidenschaftliches Engagement des Lehrers in der Erziehung verlangt. Vgl. Magdalena Klinger: Pädagogischer Eros. Erotik in Lehr-/Lernbeziehungen aus kontextanalytischer und ideengeschichtlicher Perspektive. Berlin 2011. 22 Kleist an Wilhelmine von Zenge, 13.11.1800; BKA IV/I, 372. 23 Kleist an Wilhelmine von Zenge, 10.10.1800; BKA IV/I, 340. 24 Wilhelm Voßkamp: Perfectibilité und Bildung. Zu den Besonderheiten des deutschen Bildungskonzepts im Kontext der europäischen Utopie- und Fortschrittsdiskussion. In: Siegfried Jüttner, Jochen Schlobach (Hg.): Europäische Aufklärung(en). Einheit und Vielfalt. Hamburg 1992, S. 117-126, hier S. 120.

122

Katarzyna Jaśtal

Frauenmodell sieht,25 wodurch seine eigene Aufgabe mit der Vermittlung der entsprechenden Normen in eins fällt. Das Vorgehen des Verlobten kann u.a. auch deshalb Interesse beanspruchen, weil es geradezu modellhaft den von Judith Butler beschriebenen Prozess der performativen Einschreibung der soziokulturell definierten Geschlechtsidentität (Gender) exemplifiziert. Laut Butler, die das Konzept des biologischen Geschlechts hinterfragt, werden die Menschen auf ihre jeweilige Geschlechterrolle dadurch geeicht, dass sie ständigem Zitieren und Wiederholen von Diskursen, insbesondere dem Wiederholen von sozial sanktionierten, historisch variablen Zuschreibungen und Normen ausgesetzt werden. Dieses Wiederholen vollzieht sich in scheinbar konstativen Formeln, die de facto performativen Charakter haben: Die Merkmale, die sie angeblich zum Ausdruck bringen, werden durch diskursive Mittel hergestellt und den Individuen auf den Leib geschrieben.26 Letzteres demonstriert Kleist, z.B. indem er »Schwäche« und zarte Konstitution mit »Weiblichkeit« in Verbindung bringt: »Du bist doch nur ein schwaches Mädchen […]«,27 schreibt er an Wilhelmine – oder, prägnanter: »Du bist schwach, mit Stürmen und Wellen kannst Du nicht kämpfen, darum vertraue Dich mir an, der mit Weisheit die Bahn der Farth entworfen hat, der […] das Steuer des Schiffes mit starkem Arm […] zu lenken weiß«.28 Die Diskrepanz zwischen der realiter gegebenen unsicheren finanziellen, beruflichen und seelischen Lage des Verlobten und seiner brieflichen Selbstinszenierung als mächtiger Mentor wird hier wie wohl an keiner anderen Stelle im ganzen Briefwerk deutlich.29 Die Vorgaben Rousseaus in Bezug auf das Verhalten des Mannes lauten jedoch unmissverständlich: »[S]ein Vorzug besteht in seiner Kraft, er gefällt einzig darum, weil er stark ist«.30 25 Die gesamte Existenz der Frau bindet Rousseau an die Erfüllung ihrer Geschlechterrolle: »Der Mann ist nur in gewissen Augenblicken Mann. Die Frau ist aber ihr ganzes Leben Frau.« Rousseau: Emile (wie Anm. 12), S. 425. 26 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1998, S. 200. 27 Kleist an Wilhelmine von Zenge, 20.8 1800; BKA IV/I, 184. 28 Ebd. 29 Zur Selbstinszenierung in Kleists Brautbriefen vgl. Schrader: »Denke Du wärest in das Schiff meines Glückes gestiegen« (wie Anm. 4), S. 128, 130, 132. 30 Die zitierte Äußerung entstammt einer der zentralen Stellen des Emile, an der Rousseau sein dichotimisches Geschlechterkonzept aus der primären Aufgabe der Geschlechter, dem Erhalten des Menschengeschlecht folgendermaßen ableitet: »In der Vereinigung der Geschlechter trägt jedes zum gemeinsamen Ziel bei, aber nicht auf die gleiche Weise. Aus dieser Verschiedenheit entsteht der erste benennbare Unterschied in ihren gegenseitigen geistigen Beziehungen. Das eine muß aktiv und stark, das andere passiv und schwach sein – notwendigerweise muß das eine wollen und können, und es genügt, wenn das andere nur schwachen Widerstand zeigt. Aus dem festgesetzten Prinzip folgt, daß die Frau eigens dazu geschaffen ist, dem Mann zu

»Ich kenne die Masse, die ich vor mir habe …«

123

Kleist wiederholt Rousseausche Normen auch, wenn er schreibt, »die Frau […] hat keine andern Verpflichtungen, als Verpflichtungen gegen ihren Mann«.31 Diese und weitere Vorgaben des Schweizer Philosophen soll sich die Verlobte durch eigene Lektüre des Emile einprägen, sie werden darüber hinaus von Kleist nachgeschrieben und zuweilen radikalisiert, wenn etwa Wilhelmine in dem Brief des Verlobten lesen muss: »[D]ie Frau […] ist nichts, als die Frau ihres Mannes«.32 Kleist, der im Mai 1799 seine Schwester Ulrike im Sinne Rousseaus ermutigte, sich mit dem »allgemeinem Schicksal« ihres Geschlechts abzufinden, das »nun einmal seiner Natur nach die zweite Stelle in der Reihe der Wesen bekleidet«,33 findet in dem für seine Verlobte bestimmten »Fernlehrgang« Ausdrücke, mit denen er den Eigenwert der Frau deutlich herabsetzt und sogar auf auf Null sinken lässt. Der Gedanke der ausschließlichen Ausrichtung der Frau auf den Ehemann wird während der Würzburger Reise mit Hinweisen auf ihre Bestimmung zur Mutter erweitert. Kleist greift zum Stilmittel von hoher persuasiver Kraft, wenn er anlässlich der Reflexion über die Teleologie der weiblichen Existenz rhetorisch fragt: »[D]ie Bestimmung des Weibes ist wohl unzweifelhaft u. unverkennbar; denn welche andere kann es sein, als diese, Mutter zu werden, u. der Erde tugendhafte Menschen zu erziehen?«34 An diese Erwartungen knüpft er unter Zugriff auf alltagsnahe Bildlichkeit weitere Normen, wenn er die für die Mutterrolle zentrale Fürsorglichkeit zur weiblichsten aller Tugenden erklärt: »Keine Tugend ist doch weiblicher, als Sorge für das Wohl Anderer, und nichts dagegen macht das Weib häßlicher und gleichsam einer Katze ähnlicher als der schmutzige Eigennutz, das gierige Einhaschen für den eignen Genuß«.35 So wird an die direkt ausgesprochene Norm indirekt eine Sanktion gekoppelt, wird doch der Eigennutz der Frau mit Schmutz und Hässlichkeit, also mit Qualitäten des Ekelhaften

31 32 33 34

35

gefallen. Soll der Mann ihr seinerseits gefallen, so aus einem weniger unmittelbaren Bedürfnis – sein Vorzug besteht in seiner Kraft, er gefällt einzig darum, weil er stark ist. Ich gebe zu, daß das nicht das Gesetz der Liebe ist, aber es ist das Gesetz der Natur, das vor ihr bestand.«30 Rousseau: Emile (wie Anm. 12), S. 326 (meine Hervorhebungen). Kleist an Wilhelmine von Zenge, 30.5.1800; BKA IV/I, 127. Ebd. (meine Hervorhebung). Kleist an Ulrike von Kleist, Mai 1799; BKA IV/1, 69. Kleist an Wilhelmine von Zenge, 16.9.1800; BKA IV/I, 389. Seine Schwester Ulrike unterrichtete Kleist (vergeblich) bereits im Mai 1799 »von der […] höchsten Bestimmung, […] heiligsten Pflicht, der erhabensten Würde, zu welcher ein Weib emporsteigen kann, dem einzigen Glücke, das Deiner wartet«. Kleist an Ulrike von Kleist (BVA IV/1, 70). Kleist an Wilhelmine von Zenge, 19.–23.9.1800; BKA IV/1, 328.

124

Katarzyna Jaśtal

in Verbindung gebracht, die zur Abwehrhaltung der Umgebung und sozialen Isolierung des Individuums führen.36 Die Verlobtenbriefe begnügen sich nicht mit eindringlichen, Rousseaus Gedanken zitierenden und radikalisierenden Formeln, mit denen Wilhelmine den vermeintlich ontologisch determinierten Mangel an Eigenwert und Autonomie sowie Verpflichtung zur Selbstaufgabe bezeugt werden. Die weitere Heranführung der Adressatin an die Normen des zeitgenössischen Geschlechterdiskurses erfolgt im Zusammenhang der ihr aufgegebenen »Denkübungen«, deren Lösung Aufsätze u.a. zu folgenden Fragen bringen sollen: »Wodurch erwirbt und erhält sich nun wohl eine Frau das Interesse ihres Mannes?«37, »Wenn beide, Mann u. Frau, für einander thun, was sie ihrer Natur nach vermögen, wer verliert von beiden am meisten, wenn Einer zuerst stirbt?«38 Eine besondere Beachtung verdient m.E. die Frage nach den Rechten von Mann und Frau, die die brieflich anvisierte familiäre Idylle bildlich zu einem Geschlechterkampf stilisiert und damit in ein besonders düsteres Licht zu rücken scheint: »Wenn der Mann sein brutales Recht des Stärkeren mit den Waffen der Gewalt gegen die Frau ausübt, hat nicht auch die Frau ein Recht gegen den Mann, das man das Recht des Schwächern nennen könnte, u. das sie mit den Waffen der Sanftmuth geltend machen kann?«39 Um den Lehrer zufriedenzustellen, soll sich die Braut bei der Auseinandersetzung mit den vorgegebenen Themen die entsprechenden Normen erschreiben, sie wiederholen und internalisieren. Bei ihren Entscheidungen bleibt sie allerdings nicht allein: Der Bräutigam schreibt ihr die Argumentationslinie und die als paraphrasierte Rousseausche Direktiven identifizierbaren Einzelargumente vor, wodurch laut Peter Staengle der »sublime Sadismus« der Brautbriefe besonders zu Tage trete.40 Befragen wir Kleists didaktisches Vorgehen nicht, wie das in der Forschung bisher geschah, im Zusammenhang der (zeitgenössischen) Geschlechterdiskussion, sondern vor dem Hintergrund des pädagogischen Denkens der 36 »Das elementare Muster des Ekels ist die Erfahrung einer Nähe, die nicht gewollt wird.« Winfried Mennighaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a.M. 1999, S. 7. Nicht zufällig stellt Kleist den weiblichen Eigennutz seiner Braut als »schmutzig« dar. Angesichts des sich um 1800 beschleunigenden Wandel der Reinlichkeitsnormen wird der Schmutz als zunehmend abstoßend wahrgenommen. Vgl. Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914. Frankfurt a.M. 2001, S. 268. 37 Kleist an Wilhelmine von Zenge, 30. Mai 1800; BKA IV/1, 136. 38 Ebd.; BKA IV/1, 134. 39 Ebd.; BKA IV/1, 134. 40 Peter Staengle: Heinrich von Kleist. München 1998, S. 34.

»Ich kenne die Masse, die ich vor mir habe …«

125

Aufklärung, so kann die Unterweisung im Schreiben von Aufsätzen als eine im damaligen Horizont besonders hochgeschätzte Unterrichtsmethode erfasst werden: Mitte des 18. Jahrhunderts etablieren sich an den deutschen Schulen innovative Aufsatzstandards. Bei den neu bestimmten Schreibunterrichtsformen geht es nicht, wie bei den Aufsätzen des 17. Jahrhunderts, die auf das öffentliche Reden vorbereiten sollten, um rhetorische Kunstfertigkeit, gewitztes Auffinden der Topoi und deren Wirkung auf das Publikum. Der Aufsatz der Aufklärung, der die Abwendung von der Kultur der oratio hin zur Verschriftlichung einleitet,41 dient kognitiven Zwecken. Sein Ziel ist die Übung der Verstandeskräfte, Einübung in das Formulieren eigener Gedanken und die Ausbildung eines »guten Stils«, d.h. einer der persönlichen Eigenart angemessenen Ausdrucksform. Als Fach, das die Verstandeskräfte steigert, bekommt der Schreibunterricht folglich eine bedeutende Position in den Lehrplänen.42 Die für die spätaufklärerische Pädagogik repräsentative Behauptung Johann Gottfried Herders: »Der Griffel, d.h. bei uns die Schreibfeder schärft den Verstand, sie berichtigt die Sprache, entwickelt Ideen und macht die Seele auf eine wunderbare angenehme Weise tätig«,43 findet seine Entsprechung beim Briefschreiber Kleist, der Wilhelmine erklärt: durch solche schriftlichen Auflösungen interessanter Aufgaben, üben wir uns nicht nur in der Anwendung der Grammatik u. im Stile, sondern auch in dem Gebrauch unsrer höheren Seelenkräfte; und endlich wird dadurch unser Urtheil über zweifelhafte Gegenstände festgestellt u. wir selbst auf diese Art nach u. nach immer um eine und wieder um eine interessante Wahrheit reicher.44

Mit dem von der Forschung beanstandeten Aufsatzunterricht führt Kleist seine Braut an eine in den damaligen Lernprogrammen hochgeschätzte Unterrichtsform heran, mit der die Aufklärungspädagogik auf die Entfaltung des Denkvermögens abzielt. Kleist bringt zwei Aufsatzmodelle zur Anwendung. Im Zentrum des ersten, das in der Spätaufklärung wegen seiner Abstraktheit gelegentlich auf Kritik stieß und dennoch an den Schulen verbreitet war,45 stand die Klärung von Begriffen und Urteilen nach logi41 Otto Ludwig: Der Schulaufsatz. Seine Geschichte in Deutschland. Berlin, New York 1988, S. 84. 42 Ebd., S. 107. 43 Johann Gottfried Herder: (Examen 1796) Von der Ausbildung der Rede bei Kindern und Jünglingen. Schulrede im Juli. In: Johann Gottfried Herder: Werke Bd. 9/2: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Pädagogische Schriften. Hg. von Rainer Wisbert u.a. Frankfurt a.M. 1997, S. 723-732, hier S. 728. 44 Kleist an Wilhelmine von Zenge, 30. Mai 1800; Bd. IV/1, 124. 45 Ludwig: Der Schulaufsatz (wie Anm. 41), S. 153.

126

Katarzyna Jaśtal

schen Prinzipien (vgl. den oben zitierten Brief vom 30. Mai 1800). Die von der Forschung beanstandete Tatsache, dass der Bräutigam Wilhelmine im Zusammenhang mit dem Aufsatztypus fertige Modellantworten vorgab, entsprach dem Usus älterer Schulbücher, die auf Aufsatzthemen Beispielaufsätze folgen ließen. Die Brautbriefe belassen es nicht bei der ersten Aufsatzform, sondern beziehen von Anfang an auch das von der spätaufklärerischen Pädagogik zusätzlich empfohlene, didaktische Genre des »freien Aufsatzes«46 ein, der zur Förderung des Einbildungsvermögens beitragen sollte. Kleist schreibt: Damit indessen nicht immer bloß Dein Verstand geübt wird, liebe Wilhelmine, sondern auch andere Seelenkräfte, so will [sic!] auch Deiner Einbildungskraft eine kleine Aufgabe geben. […] Du kannst dabei Deiner Einbildungskraft freien Lauf lassen, den Schauplatz des ehelichen Glückes ganz nach Deinen Begriffen vom Schönen bilden, das Haus ganz nach Deiner Willkühr ordnen […].47

Wie bei der Vergabe der Themen für den ersten Aufsatztypus beachtet Kleist auch hier das Prinzip, dass die Themen der Aufsätze das Interesse der Schüler wecken bzw. ihnen emotionalen Halt geben sollen.48 Durch die Einführung des Moments der Imagination wird der Verlobte dem pädagogischen Konsens der Spätaufklärung gerecht, der – erkenntnistheoretisch im Denken des Sensualismus fundiert – die Notwendigkeit der anschauenden Erkenntnis im Sozialisationsprozess etwa folgendermaßen betont: »Die schöne Gestalt lockt den Verstand an und fesselt das Herz, nur ein kleiner Teil der Menschen liebt, sucht und nutzet die Wahrheit in trockener Form.«49 In Bezug auf den Unterricht sprechen die damaligen Pädagogen der anschauenden Erkenntnis sogar den Vorrang vor der begrifflichen zu und empfehlen, abstrakte Sachverhalte durch uneigentliches Sprechen, Analogien und Bilder zu veranschaulichen. Im Zusammenhang mit dem Erlebnis der Würzburger Reise gewinnt das didaktisch anerkannte Moment der Anschaulichkeit in den Brautbriefen immer größere Bedeutung. Ließ Kleist zuerst Bücher (Schillers Wallenstein, Rousseaus Emile) in seinem Namen sprechen, so bekundet er gegenüber Wilhelmine im November 1800: 46 Vgl. Otto Ludwig: Entwicklungen schulischer Schreibdidaktik in Deutschland und ihr Bezug zum akademischen Schreiben, in: Wissenschaftlich schreiben – lehren und lernen. Hg. von Konrad Ehlich, Angelika Steets. Berlin, New York 2003, S. 235-250, hier S. 241. 47 Kleist an Wilhelmine von Zenge, Frühjahr/Sommer 1800; BKA IV/1, 144. 48 Ludwig: Der Schulaufsatz (wie Anm. 41), S. 113. 49 Philipp Julius Liebkühn: Versuch über die anschauende Erkenntnis als ein Beitrag zur Theorie des Unterrichts. Züllichau 1782, S. 137.

»Ich kenne die Masse, die ich vor mir habe …«

127

»Mir leuchtet es immer mehr u. mehr ein, daß die Bücher schlechte Sittenlehrer sind. […] Einen Lehrer gibt es, der ist vortrefflich, wenn wir ihn verstehen; es ist die Natur«.50 Er empfiehlt der Verlobten, wohl im Zusammenhang mit der ihr zugedachten Rolle der Mutter und Erzieherin ihrer Kinder zu tugendhaften Menschen, die Erscheinungen der Natur genauer zu betrachten und bei jeder zu fragen »wohin deutet das, wenn man es auf den Menschen bezieht?«,51 und »was hat das für eine Ähnlichkeit, wenn man es mit dem Menschen vergleicht?«52 Unter Berufung auf den Erkenntniswert des Analogiedenkens liefert Kleist auch prägnante Metaphern seines Bildungskonzeptes, denen im Rahmen dieses Beitrags besondere Aufmerksamkeit gebührt: Denn – wie in neueren Publikationen zur Geschichte der Pädagogik nachgewiesen – metaphorische Veranschaulichungen komplexer Erziehungs-, Lern- und Lehrprozesse erfüllen sowohl eine kommunikative als auch hermeneutische bzw. heuristische Funktion; sie spielen sowohl eine deskriptive als auch eine präskriptive Rolle. Die Analyse der jeweils verwendeten Erziehungsmetaphern erlaubt Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden kognitiven Konzepte, pädagogischen Erwartungen, Lehrziele und die implizierten Verhaltensweisen von Lehrern und Schülern.53 Die Formung ihres Charakters wird Wilhelmine folgendermaßen geschildert: Ich kenne die Masse, die ich vor mir habe, u. weiß, wozu sie taugt. Es ist ein Erz mit gediegenem Golde u. mir bleibt nichts übrig, als das Metall von dem Gestein zu scheiden […] und ich habe nach der metallurgischen Scheidung nichts weiter zu tun, als mich zu wärmen u. zu sonnen in den Strahlen, die seine Spiegelfläche auf mich zurückwirft.54

Mit dieser Formulierung tritt Kleist seiner Verlobten in der brieflichen Rolle des Lehrmeisters als neuer Pygmalion und Narziss in Einem entgegen. Das Phantasma der beliebig formbaren Masse, die durch entsprechende Bearbeitung die ihr vom Lehrer zugedachte Gestalt erhält, ist im Umkreis der Abhandlung John Lockes Some Thoughts Concerning Education (1693) anzusiedeln. In dieser für die Pädagogik der deutschen Aufklärung bedeutenden pädagogischen Schrift gab Locke dem aus der Antike überlieferten Bild der tabula rasa ein eigenes Gepräge, indem er seinen Zögling 50 51 52 53

Kleist an Wilhelmine von Zenge, 16./18.11., Zusatz 30.12.1800; BKA IV/I, 385. Kleist an Wilhelmine von Zenge, November 1800; BKA IV/I, 393. Ebd., S. 394. Alexandra Guski: Metaphern der Pädagogik: Metaphorische Konzepte von Schule, schulischem Lernen und Lehren in pädagogischen Texten von Comenius bis zur Gegenwart. Bern u.a. 2007, S. 21, 23, 24. 54 Kleist an Wilhelmine von Zenge, 10.10.1800; BKA IV/I, 340.

128

Katarzyna Jaśtal

»as a white paper, or wax, to be moulded and fashioned as one pleases«55 bezeichnete. Unter den in der deutschen Spätaufklärung geläufigen Metaphorisierungen der pädagogischen Arbeit (u.a. als Führung, Bildung, Beeinflussung, Steuerung, Reifung bzw. Entwicklung) entscheidet sich Kleist für eine, welcher der »höchste Grad der Objektivierung«56 zukommt. Während sie die Elevinnenpersönlichkeit zur leblosen, passiven Materie degradiert, die erst durch das Einwirken des Lehrers Form und Funktion gewinnt, wertet sie den Lehrer auf, indem sie ihm neben der Vertrautheit mit dem Material und der Bearbeitungstechniken ein gehöriges Maß an Kreativität zugesteht, dank der er sich nach der Vollendung der Arbeit in seinem Werk widerspiegeln kann. Kleist geht noch weiter, als er seiner Verlobten gesteht, dass für ihn die Anziehungskraft einer Frau nicht in ihrer Einzigartigkeit, sondern in ihrer Formbarkeit begründet liege: Denn das ist nun einmal mein Bedürfniß; u. wäre ein Mädchen auch noch so vollkommen, ist sie fertig, so ist es nichts für mich. Ich selbst muß es mir formen u. ausbilden, sonst fürchte ich, geht es mir, wie mit dem Mundstück an meiner Clarinette. […] Da gab mir einst der Musikus Baer in Potsdam ein Stück, mit der Versicherung, das sei gut, er könne gut darauf spielen. Ja, er, das glaub’ ich. Aber mir gab es lauter falsche quiekende Töne an. Da schnitt ich mir von einem gesunden Rohre ein Stück ab, formte es nach meinen Lippen, schabte u. kratzte mit dem Messer bis es in jeden Einschnitt meines Mundes paßte – – u. das ging herrlich. Ich spielte nach Herzenslust. –57

Unter Reminiszenzen an seine musikalischen Erfahrungen (der Dichter soll recht gut Klarinette gespielt haben) verhandelt Kleist zum wiederholten Male den männlichen Schöpfungstraum von der Erschaffung der Geliebten aus leblosem Stoff, indem er das pädagogische Moment der Formung als unabdingbaren Aspekt seines Begehrens reflektiert. In der verwendeten Metaphorik wird das pädagogische Verhältnis zwischen den Geschlechtern zu einer von latenter Gewalt besetzten und zugleich (wie es die Körperbildlichkeit der Passage andeutet) erotischen Beziehung zwischen dem Künstler und dem selbstgeschaffenen Instrument stilisiert. Mit dieser wie auch der zuvor angeführten Metapher wird ein Projekt veranschaulicht, das die Entfaltung der Persönlichkeit der jungen Frau nicht zu fördern, sondern dieser im Wege zu stehen scheint. Die von Kleist verwen-

55 John Locke: Some Thoughts Concerning Education and, Of The Conduct of the Understanding. Indianapolis 1996, S. 161. 56 Guski: Metaphern der Pädagogik (wie Anm. 53), S. 171. 57 Kleist an Wilhelmine von Zenge, 4./5.9.1800 (BKA IV/1, 358f.).

»Ich kenne die Masse, die ich vor mir habe …«

129

dete Bildlichkeit erweist sich allerdings als (eigenwillige) Fortschreibung der von den zeitgenössischen Pädagogen verwendeten Bildlichkeit.58 Kleists Verlobung und der dazugehörige Briefwechsel mit Wilhelmine von Zenge brechen aufgrund deren Weigerung, »nach Herzenslust« des Verlobten zu spielen und mit ihm auf einen Bauernhof in der Schweiz zu ziehen, ab. In einem Brief an ihren zweiten Verlobten und späteren Gatten Wilhelm Traugott Krug wird sie ein Fazit ihrer ersten Brautzeit ziehen, wobei sie sich nicht enttäuscht, sondern überaus dankbar zeigt: Meine Ausbildung und Veredlung lag ihm sehr am Herzen […] Er gab mir interessante Fragen auf, welche ich schriftlich beantworten mußte, und er korrigierte sie. […] Auch schärfte er meinen Witz und Scharfsinn durch Vergleiche, welche ich ihm schriftlich bringen mußte. So lebte er ganz für mich.59

Mit dieser insbesondere das leidenschaftliche pädagogische Engagement und den Aufsatzunterricht akzentuierenden Auskunft schreibt die Verfasserin des Briefs eine Reihe zeitgenössischer Selbstzeugnisse fort, in denen sich Frauen, welchen sonst begrenzte Möglichkeiten systematischer Bildung zur Verfügung standen, zur Dankbarkeit gegenüber den Männern bekannten, die sich entsprechend den Wissensstandards der Epoche um ihre intellektuelle und moralische Erziehung bemühten. In ihrer Studie zur Rezeption Rousseaus in Deutschland gibt Heide von Felden zu bedenken, dass die nach Rousseaus Maßstäben konzipierte Erziehung den Frauen erstrebenswert erschien, um ein Mehr an Kultivierung und gesellschaftlicher Mitwirkungsmöglichkeit von Frauen zu erreichen.60 Im Jahre 1809 publizierte Heinrich von Kleist in den Berliner Abendblättern einen Aufsatz (als Leserbrief) mit dem Titel Allerneuester Erziehungsplan. Das darin im ironischen Modus entfaltete pädagogische Konzept wurde in der älteren Forschung als Satire auf die zeitgenössischen Erziehungslehren aufgefasst, die neueren Arbeiten neigen dazu, in diesem Text indem eine Absage an Aufklärung am Beispiel der Pädagogik erteilt wird, einen Schlüsseltext für das Gesamtwerk des Autors zu sehen.61 Im besagten Text lesen wir: Aber das Kind ist kein Wachs, das sich, in eines Menschen Händen, zu einer beliebigen Gestalt kneten läßt: es lebt, es ist frei; es trägt ein unabhängiges und ein

58 Vgl. Guski: Metaphern der Pädagogik (wie Anm. 53), S. 169–173. 59 Wilhelmine von Zenge an Wilhelm Traugott Krug, 16.06.1803 (DKV IV, 531). 60 Heide von Felden: Die Frauen und Rousseau: Die Rousseau-Rezeption zeitgenössischer Schriftstellerinnen in Deutschland. Frankfurt a.M 1997, S. 249. 61 Vgl. Ortrud Gutjahr: Heinrich von Kleist. Würzburg 2008, S. 23.

130

Katarzyna Jaśtal

eigenthümliches Vermögen der Entwickelung und das Muster aller innerlichen Gestaltung in sich.62

Mit diesen Worten scheint Kleist das aufklärerische Konzept der unendlichen Formbarkeit des Menschen zugunsten der in der Romantik verbreiteten Vorstellung vom Individuum als einer organischen Einheit, dessen Entwicklung nur als freie Entfaltung vorhandener Anlagen möglich ist, zu verabschieden. Die Textbewegung des Allerneuesten Erziehungsplans, in dem der zitierten Stelle mit provozierenden Vorschlägen zu Erziehungspraxis widersprochen wird, deren Wert wiederum ironische Kommentare relativieren, macht solch feste Bedeutungszuschreibungen unmöglich. Das, was für Kleist 1809 doch festzustehen scheint, ist sowohl der KonstruktCharakter von pädagogischen Modellen als auch das unsichere Ergebnis aller erzieherischen Bemühungen.

62 Heinrich von Kleist: Allerneuester Erziehungsplan (BKA II, 184).

Nadja Müller

Politik, Selbstsorge und Gender Heinrich von Kleist in seinen Brautbriefen

I. Einleitung Sogar gegenüber der vertrauten Schwester Ulrike ist es Kleist ein »dummer Gedanke«, wenn er ihr im März 1803 schreibt: »Ich wollte, ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen und Dir zuschicken!« (DKV IV, 313) In den Brautbriefen Kleists an Wilhelmine von Zenge begegnet man noch häufiger statt einer offenen Preisgabe eigenen Denkens und Fühlens einer Selbstinszenierung im Dienst der Sorge um das eigene Selbst.1 In diesen Briefen zeigen sich pädagogischer Gestus und Machtausübung als Politik des Privaten gegenüber der Braut. Peter Michalzik fasst die überwiegend negative Reaktion der Leser zusammen, wenn er diese Briefe als »etwas Skandalöses« und als »Gehirnwäsche« apostrophiert. »Seelische Grausamkeit« attestiert er Kleist und meint, »er verlangte Selbstverleugnung und Erniedrigung von ihr«.2 Günter Blamberger3 hat demgegenüber Kleist in Schutz genommen und verteidigt; er spricht nicht von einem Missbrauch Kleists an seiner Braut, sondern von einem Missbrauch der Forschung an den Brautbriefen. Das Bemühen um Gestaltung des Partners sei wechselseitig gewesen, und Wilhelmine habe Erziehung und Bildung durch Kleist ausdrücklich gewünscht. Seine immer dringlicher werdenden Forderungen, Wilhelmine solle ihm ihre Liebe gestehen, seien Ausdruck seiner zunehmenden Unsicherheit, die ihre Zurückhaltung ausgelöst habe. 1

2 3

»Man hat sein Leben so zu leben, daß man sich in jedem Augenblick um sich selbst sorgt, damit das, was einem, rätselhaft genug, am Ende des Lebens begegnet – Alter, der Augenblick des Todes, Unsterblichkeit […] – damit das, was man mittels dieser ganzen techne, die man in sein Leben tut, erreicht, tatsächlich eine bestimmte Beziehung zu einem selbst ist, ein Selbstverhältnis, welches die Krönung, die Vollendung und die Belohnung für ein als Prüfung geführtes Leben darstellt.« Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/82). Frankfurt a.M. 2004, S. 545f. Peter Michalzik: Kleist. Dichter, Krieger, Seelensucher. Berlin 2011, S. 109. Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt a.M. 2011, S. 85–116.

132

Nadja Müller

Da nicht nur der gesamte von Kleist überlieferte Briefwechsel einen lückenhaften Torso darstellt, sondern auch die Brautbriefe Kleists nicht vollständig überliefert wurden – von den Gegenbriefen ganz zu schweigen –, lassen sich sichere Schlüsse aus den Briefen nicht gewinnen. Kleist hat nach dem Verlassen des Militärdienstes und der an die Bedingung eines künftigen Amtes geknüpften Verlobung mit Wilhelmine von Zenge lange Reisen unternommen, in der er von ihr getrennt war und zahlreiche Briefe mit ihr wechselte. Ihre Antwortbriefe fehlen, und auch aus dem Bericht über die Beziehung zu Kleist, den sie später ihrem künftigen Ehemann Krug gegeben hat, lassen sich nur unsichere Schlüsse ziehen.4 Dass, wie im Titel meines Aufsatzes angekündigt, Politik, Selbstsorge und Gender in einem erhellenden Zusammenhang mit Kleists Brautbriefen stehen sollen, erscheint jedoch keineswegs selbstverständlich. Die These wird aber durchsichtiger, wenn man sie auf die dem Gender-Ansatz zugrundeliegende Theorie Judith Butlers bezieht, die ihre kulturphilosophische Sichtweise vor allem auf die Diskurstheorie Michel Foucaults bezogen hat. Damit werden auch Spuren der Macht nachgezeichnet, wie sie sich in sozialen Praktiken von Selbstsorge und Politik des Privaten aufzeigen lassen, die auf eine wechselseitige Anerkennung der Geschlechter in ihren jeweiligen Rollen zielen.5 Kleist will in seiner Rolle als künftiger Ehemann anerkannt werden, und zwar nicht nur als Lehrer des Verstandes der Braut, sondern auch als derjenige, dem ihr Herz gehört. Eine Anerkennung durch Kopf und Herz ist das Ziel der Brautbriefe, das er offenbar nicht erreicht; die Verlobung wurde am Ende gelöst. Umso schmerzlicher für Kleist, der auch schon im beruflichen Leben als Soldat keine Befriedigung fand: auch hier begegnete er allein einer an den Verstand gerichteten Disziplinordnung, die er verabscheut, während ein Appell an das Herz des jungen Soldaten nicht gelingt.6 In Folgenden soll in einem ersten Teil dem Briefwechsel Kleists mit seiner Braut Wilhelmine von Zenge unter den Aspekten der Politik des Privaten im Sinne eines Macht-Diskurses nachgegangen werden, danach wird in einem zweiten Teil der Briefwechsel als Ausdruck der Selbstsorge interpretiert. In einem dritten Teil werde ich kurz auf die Kleist unterstellte oder tatsächlich vorhandene Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Ge-

4 5 6

Lebensspuren Nr. 38. Vgl. Judith Butler: Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt a.M. 2011, darin S. 215–246 zur »Sehnsucht nach Anerkennung«. Vgl. Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege. Freiburg 1995.

Politik, Selbstsorge und Gender

133

schlechtsrolle (Gender-trouble7) rekurrieren, bevor ein knappes resümierendes Fazit folgt.

II. Politik des Privaten Judith Butler hat ihre Analyse der »Subjektivation«, die zugleich »den Prozeß des Unterworfenwerdens durch Macht und […] den Prozeß der Subjektwerdung«8 beinhalte, nicht mit Werken Freuds oder Foucaults, sondern mit dem berühmten, der Analyse der Anerkennung gewidmeten Kapitel Herrschaft und Knechtschaft aus Hegels Phänomenologie des Geistes eröffnet. Die Anerkennung des Herrn durch den Knecht sichert ebenso wie die Anerkennung des Mannes durch die Frau, des Bräutigams durch die Braut, die divergierenden Machtverhältnisse; der dem Knecht zunächst nur »außen« begegnende Herr wird dem Knecht als sein eigenes Gewissen wieder begegnen. Der Prozess der Unterordnung kann durch eine »autoritative Stimme«9 erfolgen, die ihn initiiert und aufrechterhält. Um eine solche überlegene Position des »Herrn«, des Bräutigams, scheint es auch Kleist in seinen Brautbriefen zu gehen. Erst wenn diese Position anerkannt ist, kann von Vertrauen in seine Fähigkeiten und seine Männlichkeit gesprochen werden, erst dann scheint sie ausreichend gefestigt zu sein. Machtunterschiede spielen somit auch im privaten Bereich eine wichtige Rolle, die Anerkennung unterschiedlicher Machtpositionen festigt das Vertrauen bzw. ermöglicht es erst. Wie in seinen späteren Werken spielt auch im Briefwechsel mit Wilhelmine von Zenge die Forderung nach unbedingtem Vertrauen eine erstrangige Rolle. Im April/Mai 1800 schreibt er ihr: »Vertrauen u Achtung, das sind die beiden unzertrennlichen Grundpfeiler der Liebe, ohne welche sie nicht bestehen kann; denn ohne Achtung hat die Liebe keinen Werth u ohne Vertrauen keine Freude« (DKV IV, 54). Im Frühjahr war die Verlobung vereinbart worden, die nach dem Erhalt eines Amtes offiziell vollzogen werden sollte; im Herbst 1800 reiste er nach Würzburg, wo er (unbekannte) Probleme bereinigen wollte. Lediglich im November 1800 und zu Weihnachten 1800 finden Besuche Kleists bei Wilhelmine statt. Als Zeichen der bleibenden Anwesenheit des Abwesenden lässt er Wilhelmine nicht nur eine Tasse zurück, auf der ›Vertrauen‹, ›uns‹ und ›Einigkeit‹ eingraviert sind, sondern auch Schillers Wallenstein mit der Aufforderung, wie Thekla und Max eher das Leben als 7 8 9

Judith Butler: Gender trouble. London 2006. Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt a.M. 2001, S. 8. Ebd., S. 10.

134

Nadja Müller

die Liebe aufzugeben.10 So fordert er Wilhelmine explizit und eindringlich zum Geständnis ihrer Liebe auf, also »diese drei Worte niederzuschreiben: ich liebe Dich«.11 Mit diesem rigoros eingeforderten Vertrauen macht Kleist jedoch das zur Voraussetzung ihrer Beziehung, was erst als Resultat von Liebe erreicht werden kann. In den Briefen wiederholt sich dann gebetsmühlenhaft (bei gleichzeitiger, im Sich-selbst-Infragestellen wahrnehmbarer Verunsicherung) die Forderung nach rückhaltlosem Vertrauen gegenüber dem abwesenden Reisenden, der Nähewünsche äußert, während er sich immer weiter von Wilhelmine entfernt; sie auch dann nicht besucht, wenn er sich in ihrer Nähe befindet und einen Besuch durchaus realisieren könnte. Kleist Kommunikation und sein Verhalten lässt sich ›modern‹ gesprochen als in der anthropologischen Konstanz metahistorisch zu verstehendes Modell einer doublebind-Struktur12 beschreiben: Verbal geäußerte Nähewünsche und gelebte Fluchttendenzen bewirken keineswegs ein Wachsen des Vertrauens, sondern lassen im Gegenteil eine Zunahme der Verwirrung und Unsicherheit auf Seiten der Braut vermuten. Man kann diese Reaktion der Braut, deren Briefe bis auf einen nicht erhalten sind, nur aus den Briefen Kleists erschließen, der auf ihren zunehmenden Rückzug (zumindest in der Wahrnehmung Kleists scheint er stattzufinden) immer drängender mit der Einforderung einer Liebeserklärung von ihrer Seite reagiert.13 Kontrolle und 10 Vgl. Blamberger: Heinrich von Kleist (wie Anm. 3), S. 99–101. 11 Daran anschließend: »Ja, Wilhelmine, sagen Sie mir diese drei herrliche Worte; sie sollen für die ganze Dauer meines künftigen Lebens gelten. […] Lassen Sie uns bald recht innig vertraut werden« (DKV IV, 54). 12 Vgl. Gregory Bateson, Don D. Jackson, J. Haley (Hg.): Schizophrenie und Familie. Frankfurt a.M. 1987; Harald Scheurer: Kognitive Dissonanz und Schizophrenie. »Double bind« als Spezialfall der Verarbeitung kognitiver Dissonanzen. Weinheim 1981. 13 Hinweise für eine möglicherweise von Anfang an bestehende Unsicherheit ergeben sich auch aus dem Brief, den Wilhelmine Zenge an ihren späteren Ehemann Traugott Krug geschrieben hat. Sie berichtete über die Hilfen, die Kleist ihr gab, nachdem er sich »die Erlaubnis aus[bat], mir die Hauptregeln der deutschen Sprache nachgerade in kurzen Aufsätzen mitteilen zu dürfen, welches ich recht gern annahm, und recht fleißig studierte, um seine Mühe zu belohnen. | Einen Abend, als ich bei Kleists war, gab er mir einen ähnlichen Aufsatz, wie gewöhnlich in ein weiß Papier geschlagen, doch wie erstaunte ich, als ich es zu Hause öffnete und darin von ihm einen Brief fand, worin er mir sagte, daß er mich schon lange herzlich liebe, und ich ihn durch meine Hand sehr beglücken könne. Mir war es bis jetzt noch gar nicht eingefallen, daß ein Mann mich jemals lieben könne, denn ich fand mich immer sehr hässlich und unleidlich, und war nie mit mir zufrieden. Ich hatte ihn immer sehr unbefangen behandelt, und war ihm gut wie einem Bruder, doch liebte ich ihn nicht, und erstaunte über seine Erklärung, da ich vorher auch nicht das Geringste davon geahnt hatte, sondern immer glaubte, er zöge meine Schwester Lotte mir sehr vor.« (Wilhelmine von Zenge an Traugott Wilhelm Krug; Lebensspuren Nr. 38). Nach weiteren Briefen erlaubte ihm Wilhelmine von

Politik, Selbstsorge und Gender

135

Machtausübung über die Braut werden bei Kleist durch ein genau inszeniertes Spiel von Verwirrung und Täuschung ausgeübt, besonders deutlich bei seiner Reise nach Würzburg im Herbst 1800, bei der weniger die unklare Intention der Reise von Interesse ist – gemutmaßt und angegeben werden u.a. Industriespionage, Impotenzbehandlung oder Fimosenoperation sowie das Vorantreiben der wissenschaftlichen Karriere –, sondern vielmehr die in den Brautbriefen »so erfolgreich geübte Kunst des Verrätselns, Verwischens, Verschweigens«, die »eine erzähltechnische Herausforderung […] bzw. die Camouflage des Verheimlichten«, die »zum Katalysator des Schreibens wird«.14 Tatsächlich scheint es Kleist im Laufe des Briefwechsels weder, oder zumindest immer weniger, um eine Herzensschrift, noch (mangels wirklichen Austauschs der Briefeschreiber, im Sinne einer tatsächlichen gegenseitigen Bezugnahme; zumindest ist eine solche aus den erhaltenen Briefen des Bräutigams nicht erkennbar) um einen unmittelbaren Austausch von Gedanken zu gehen, sondern um Briefe, die er als »Medien für eine Politik des Privaten«15 nutzt und die durch den zeitlichen Zwischenraum zwischen Sendung und Empfang Spielräume der Manipulation eröffnen; dazu ein kleines Beispiel: »Werde ich nicht bald einen Brief von Dir erhalten? Meine liebe, theure, einzige Freundin! – Wenn Du in so langer Zeit krank geworden sein sollest – wenn Du vielleicht gar nicht mehr wärst – o Gott! dann wären alle Opfer, alle Bemühungen dieser Reise umsonst!« (DKV IV, 111) Als dann die länger ausbleibende Antwort eintrifft und sich herausstellt, dass Wilhelmine tatsächlich krank war und sie nach dem Tod ihres Bruders schmerzlich gelitten hat, bleibt sein Mitleid aus. Auf ihre sehr gefühlvolle Schilderung geht Kleist, trotz zuvor suggerierter Befürchtung, zunächst überhaupt nicht ein und lässt ihren Brief längere Zeit unbeantwortet. Als Wilhelmine von Zenge Kleists Ansinnen, sie solle mit ihm gemeinsam in der Schweiz einen Gutshof erwerben und bewirtschaften, an Weihnachten 1801 ablehnt, schlägt Kleist einen harschen Ton an, redet sie mit »Ihr Weiber« an, die kein Verständnis für den männlichen Ehrgeiz nach Ruhm hätten, spricht ihr eine hinsichtlich seiner momentanen Problemlage nachrangige Stellung zu, um dann ausdrücklich zu bedauern, dass sie »die Zenge, an die Eltern zu schreiben, und versprach »ihm meine Hand […], sobald sie einwilligten« (ebd.). Blamberger merkt dazu an: »Von Anfang an ist das Verhältnis der Brautleute also eines wechselseitiger Gestaltung. Weil wir nur die Lehrbriefe des Bräutigams haben, wird das oft übersehen«; Blamberger: Heinrich von Kleist (wie Anm. 3), S. 91. 14 Günter Blamberger: Ökonomie des Opfers. Kleists Todesbriefe. In: Detlev Schöttker (Hg.): Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. München 2008, S. 145–160, hier S. 148. 15 Ebd.

136

Nadja Müller

glücklicher, glücklicherweise ein wenig ins Dunkle abgetreten[e]« Erinnerung an sie wecke, und den Briefwechsel schließlich rüde und pathetisch abzubrechen: »Liebes Mädchen, schreibe mir nicht mehr. Ich habe keinen anderen Wunsch als bald zu sterben« (DKV IV, 308f.). Földényi sieht in diesem Wunsch, ihm nicht mehr zu schreiben, den »ehrlichste[n] Satz, den er an Wilhelmine, seine Liebe, schreibt«.16 Dieser These Földényis entgegenzusetzen wäre die im gesamten Briefwechsel deutlich erkennbare theatrale Inszenierung des Selbst gegenüber der Braut, die jedoch Züge einer authentischen Selbstdarstellung aufnimmt und zugleich die ebenfalls wohl authentische Rollenübernahme des Erziehers der Braut widerspiegelt. Die Familie Ghonorez und Robert Guiskard sind auch wohl kaum als Ausdruck von Kleists eigener Todessehnsucht lesbar, sondern als eine Inszenierung von Tod, die sich schwerlich eins zu eins auf die Person Kleists übertragen lässt. Gerade der explizit geäußerte Todeswunsch im letzten Brief an Wilhelmine zielt in ähnlicher Weise auf eine performative Selbstdarstellung oder besser auf eine Ablenkung vom authentischen Selbst. Trotz seiner privat-politischen Absichten ist es Kleist in den Briefen jedoch nicht oder zumindest nicht ausreichend gelungen, Macht über seine Verlobte zu gewinnen, die Kommunikation in seinem Sinne zu kontrollieren und ihre Entschlüsse zu steuern. So weigert sich Wilhelmine schon zu Beginn der Verlobung, diese wie Kleist es wünscht geheim zu halten, sondern teilt den Eltern die Verlobungsabsicht mit, die die Tochter darin unterstützen, von Kleist ein ›Amt‹ zu fordern, das die künftige Familie ernähren kann, bevor die Verlobung öffentlich gemacht wird. Kleist reagiert darauf mit vermehrten Anstrengungen, seine Verlobte nach seinem Sinn zu formen und zu gestalten. Dabei bleiben auch aggressive Interventionen nicht aus, wenn Kleist z.B. im Brief vom 5. September 1800 an seine Braut von seiner Lust spricht, »von Haus zu Haus« zu ziehen, und da und dort »ein Weilchen« zu wohnen, um zuzusehen, […] ob das Mädchen auch im Innern so schön sei, wie von außen. Wäre das, u wäre auch nur ein Fünkchen von Seele in ihr, ich nähme sie mit mir, sie auszubilden nach meinem Sinn. Denn das ist nun einmal mein Bedürfniß; u wäre ein Mädchen auch noch so vollkommen, ist sie fertig, so ist es nichts für mich. Ich selbst muß es mir formen u ausbilden, sonst fürchte ich, geht es mir, wie mit dem Mundstück an meiner Clarinette. Die kann man zu Dutzenden auf der Messe kaufen, aber wenn man sie braucht, so ist kein Ton rein. (DKV IV, 106)

Diese Rechnung geht für Wilhelmine nicht auf, ihre Befürchtungen vor einer unsicheren Zukunft mit einem unzuverlässigen Ehemann, der keines16 László F. Földényi: Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter. München 1999, S. 45.

137

Politik, Selbstsorge und Gender

wegs nach einem Amt strebt, sondern ganz im Sinne von Rousseaus Emile (den er ihr angelegentlich zum Lesen ans Herz legt) Ämter ablehnt und die Freiheit vorzieht, sind offenbar zu groß, als dass sie sich durch Kleist hätte vollkommen formen lassen, um ihn auf ihr als »Instrument« nach seinem Sinn spielen zu lassen. Im Sinne einer als Zukunftssicherung verstandenen Politik des Privaten von Seiten der Braut gedacht kann man fragen, was es ihr geholfen hätte, im Sinne der von Kleist ebenfalls empfohlenen Vorbilder von Max Piccolomini und Thekla in Schillers Wallenstein eher das Leben als die Liebe zu opfern und nach seinem Wunsch in das »Schiff [s]eines Glücks« – also nicht das Schiff ihrer beiden Glücks – einzusteigen, auch wenn Kleist es im Sinne eines moralischen Handelns von Heldengestalten als ihrer beider Schicksal stilisiert: »Beide gehen unter in den Wellen, oder beide laufen glücklich in den Hafen.«17

III. Selbstsorge Michel Foucault hat den Begriff der »Selbstsorge« in seiner Vorlesung Hermeneutik des Subjekts18 als »das Sich-um-sich-Kümmern, das Sich-um-sichSorgen, das Sich-selbst-Aufmerksamkeit-Zuwenden«19 eingeführt und sie als eine Haltung und eine Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das eigene Selbst bestimmt: »Die Sorge für sich selbst beinhaltet eine gewisse Art, darauf zu achten, was man denkt und was sich im Denken abspielt«.20 Erreicht wird dieses Ziel vor allem durch bestimmte Praktiken, z.B. das Schreiben von Tagebüchern oder Briefen. Am Beispiel von Sokrates zeigt Foucault dabei, dass eine solche Selbstsorge auch die Sorge um das Selbst der Mitmenschen einbezieht, die zu selbstbezogenen Reflexionen aktiviert werden sollen.21 Für Kleist würde das bedeuten, dass Selbstsorge nicht nur impliziert, die Aufmerksamkeit auf das eigene Ich zu lenken, sondern sich vor allem dadurch zu bestätigen und für sich zu sorgen, dass man sich als erfolgreicher Lehrer der Braut bewährt. Das erfolgreiche Lösen von Denkaufgaben wird dazu nicht genügen, denn es kommt auch auf das Gewinnen des Herzens an, d.h. das erfolgreiche Einfordern einer expliziten Liebeszusicherung. 17 Kleist an Wilhelmine von Zenge, 20. August 1800 (DKV IV, 524). 18 Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981– 1982). Frankfurt a.M. 2004. 19 Ebd., 16. 20 Ebd., 27. 21 »Die Sorge um sich selbst als Sporn, der ins Fleisch der Menschen eindringen muß, der in ihr Dasein eingelassen und das ganze Leben hindurch Grund für Bewegung und Bewegtheit ist« (Ebd., 23).

138

Nadja Müller

Der junge Kleist gibt vor, die Suche nach dem Sinn des eigenen Selbst im Sinne einer ›Kontingenztilgung‹22 am Leitfaden eines erstrebten ›Lebensplans‹ zu beginnen. Doch dieser erscheint von Anfang an wenig inhaltlich ausgefüllt und noch weniger ihm selbst entwachsen, als vielmehr den äußeren Umständen und den daran geknüpften Erwartungen geschuldet zu sein, die Kleist als immer größer werdenden Druck wahrnimmt. Kleists Argumentation folgt dabei einem seit der Antike bekannten Muster, das die individuelle Suche nach einer Ethik der eigenen Existenz als »Anstrengung, seine Freiheit zu bejahen und dem eigenen Leben eine gewisse Form zu geben«,23 versteht. Die Angst des Ausgeliefert-Seins gilt aber offenbar mehr den Forderungen seiner Umgebung als dem von Kleist genannten Schicksal, als einem »Spiel des Zufalls« (DKV IV, 40), das Kleist als ›unwürdigen‹, ›verächtlichen‹ und ›unglücklichen‹ Zustand ausmalt, dem er den Tod vorziehe. Seine ergänzende Äußerung, dass der vermeintliche Lebensplan ihn vor dem Schwanken »zwischen unsichern Wünschen, immer im Widerspruch mit [s]einen Pflichten« (ebd.) bewahren solle, macht deutlich, dass es die ihm auferlegten Pflichten, nicht zuletzt die Suche nach einem Amt sind, die seinem Freiheitsdrang und seinen Wünschen entgegenstehen und die zu seiner frei bestimmten Lebensführung unter dem Deckmantel eines inszenierten Spiels führen, welches seinerseits durch die Flucht vor der Begrenzung seiner Freiheiten, sei es durch Amt oder Ehe, motiviert scheint. Földényi sieht in den Brautbriefen schließlich die »Projektion der Ängste eines sich vor sich selbst fürchtenden jungen Mannes auf das erstbeste, sich bietende ›Objekt‹« und versteht so die Briefe an Wilhelmine als einen »Roman der Selbsttherapie«, bei der zwar die Ängste immer mehr überhand nehmen, aber Kleist es immer besser »lernt, mit Hilfe des Schreibens (angefangen mit dem Schreiben von Briefen) seine Ängste in Schranken zu halten.«24

IV. Gender Sowohl biologisches Geschlecht (sex) wie auch soziokulturell geformte Geschlechterrolle (gender) sind diskursiv geprägt und werden durch soziale Praktiken performativ erzeugt. Mit dieser Erkenntnis hat die Gender-Forschung in der Nachfolge Judith Butlers unter Hinzuziehung der Diskurs22 Günter Blamberger: Antiparastatische Genies. Politiken des Privaten in Kleists Essays. In: Rüdiger Görner (Hg.): Politics in Literature. Studies on a Germanic Preoccupation from Kleist to Améry. München 2004, S. 25–39, hier S. 25. 23 Michel Foucault: Von der Freundschaft als Lebensweise. Berlin 1984, S. 137f. Vgl. Wilhelm Schmid: Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault. Frankfurt a.M. 1991. 24 Földényi: Heinrich von Kleist (wie Anm. 16), S. 317.

Politik, Selbstsorge und Gender

139

analyse Foucaults die frühe feministische Forschung abgelöst, die sich für die Kleist-Forschung nur wenig offen zeigte. Einer einfachen Dichotomisierung von Frauenbildern durch die feministische Literaturwissenschaft »hatten sich die Kleist’schen Erzählungen und Dramen verweigert«.25 Untersucht man unter dem Gesichtspunkt der Gender-Forschung die Äußerungen Kleists, so zeigen sich in seinen Brautbriefen lediglich traditionell orientierte Rollenentwürfe, die dem Bild einer ›weiblichen Natur‹ folgen und auf eine an der Aufgabe der Mutterschaft orientierte Identitätsentwicklung der Frau ausgerichtet sind. Das entsprechende männliche Leitbild ist das des die künftige Ehefrau führenden, leitenden und bildenden Mannes, der ihr Halt und Orientierung zu geben hat. Die »zumindest heutzutage befremdlich wirkende Festlegung der Braut auf die tradierte Rolle als Frau und Mutter, die teilweise anmaßend wirkenden Schulmeistereien und Denkübungen«26 wurden von Wilhelmine von Zenge jedoch keineswegs abgelehnt. »Die Adressatin selbst freilich hat noch 1803, in einem Rechenschaftsbericht für ihren späteren Gatten, den Philosophieprofessor Traugott Krug, Kleists Bemühungen durchaus positiv beurteilt«.27 Erst nach der ›vorpoetischen‹ Periode der Brautbriefe werden in Erzählungen und Dramen Kleists Protagonistinnen als eher »›androgyn‹ oder zumindest untypisch angelegt [geschildert, die] mit ihren Verhaltensmustern gegen Weiblichkeitspräskriptionen«28 verstoßen. Die Freundschaftsbriefe, die Kleist an Pfuel richtet, vor allem der bekannte Brief vom 7. Januar 1805, überschreiten dann ebenfalls das in den Brautbriefen vorherrschende traditionelle Männerbild, das Kleist von sich entwirft. Die enge Freundschaft, die Kleist mit seinem neun Jahre älteren Freund Ludwig von Brockes verbindet, dem Reisebegleiter auf seiner langen und geheimnisvollen Reise nach Würzburg, beginnt bereits, bevor Kleist seine ersten Schriften verfasst, und endet im Januar 1801 mit seiner Abreise aus Berlin, die Kleist als Bruch der Beziehung verstanden hat. Diese Freundschaft scheint auch dazu beizutragen, dass sich die Beziehung zur zurückgelassenen Braut lockert und schließlich von Kleist gelöst wird. Dass homophile Tendenzen die Beziehung zu Brockes prägen, nehmen Földényi und Detering an, die sich u.a. auf die Äußerungen gegenüber seiner Schwester Ulrike im Brief vom 14. August 1800 berufen: »Wärst Du ein Mann gewesen – o Gott, wie innig habe ich dies gewünscht! – Wärst Du ein Mann gewesen – denn eine Frau konnte meine Vertraute nicht wer25 Claudia Liebrand: Gender-Forschung. In: Ingo Breuer (Hg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2009, S. 397–400, hier S. 398. 26 Klaus Müller-Salget: Briefe. In: ebd., S. 180–183, hier S. 181. 27 Ebd. 28 Claudia Liebrand: Gender-Forschung (wie Anm. 25), S. 398.

140

Nadja Müller

den, – so hätte ich diesen Freund nicht so weit zu suchen gebraucht, als jetzt« (DKV IV, 67). Földényi deutet diese Passage als Sehnsucht Kleists nach einem Mann, von dem er sich wünscht, »daß dieser seine Schwester sei. Das Inzesttabu soll ihn vor der Verletzung eines noch größeren Tabus bewahren – der Entfaltung der Homosexualität.«29 Kleist spricht hier aber lediglich den Wunsch nach einem Vertrauten aus und betont dafür die Notwendigkeit des männlichen Geschlechts durch den expliziten Ausschluss der Frau als ›weiblicher Vertrauter‹. Naheliegender und offensichtlicher, als Kleist den Wunsch nach oder die Angst vor männlicher Liebe in den Mund zu legen, erscheint der geschlechtsspezifische Ausschluss der Frau aufgrund ihrer mangelnden Vollwertigkeit; schließlich ist sie nur als Ehefrau im Dienst des männlichen Glücks vollwertig und so für eine wahre Freundschaft, eine als Brüderlichkeit gelebte Männer-Freundschaft, ungeeignet. Das gilt bedauerlicherweise auch für Kleists Schwester Ulrike, die als ›halber Kerl‹ zumindest auch halb ›sein Vertrauter‹ sein darf und von der er sich wünscht, sie wäre ein ganzer Mann, sprich ein vollwertiger Mensch. Ein Gender trouble, den Kleist dennoch empfinden mag, kann natürlich auch durch Wilhelmine und die Verunsicherung durch ihre zu uneindeutige Bestätigung ausgelöst und/oder verstärkt worden sein. Als Kleist von Ludwig Brockes spricht, dem er offenbar tiefere Gefühle entgegenbringt als seiner Braut, schildert er Wilhelmine am 20. August 1800 voller Begeisterung, er habe endlich einen »ältern, weisern Freund gefunden, gerade den, den ich am innigsten wünsche« (DKV IV, 79). In einem Brief an Ulrike spricht er einen Tag später von einem »treffliche[n], junge[n] Mann, wie ich wenige in meinem Leben gefunden habe« (ebd., 80, meine Hervorhebung). Dann, am selben Tag wieder gegenüber Wilhelmine: »Bei meinem Freunde Brokes habe ich Alles gefunden, was ich bedurfte« (ebd., 82). Nach Brockes’ Abreise aus Berlin im Januar 1801 schreibt er Wilhelmine: »Ja wenn Du unter den Mädchen wärest, was dieser unter den Männern« (ebd., 188), und fährt dann nach zwei Gedankenstrichen (einem kurzen und einem langen) fort: »zwar dann müßte ich freilich auch erschrecken. Denn müßte ich dann nicht auch sein, wie er, um von Dir geliebt zu werden?« (ebd., 188) Hier schlägt Kleist schon durch den Aufbau eines konkurrierenden Vergleichs mit der eigenen Verlobten Töne an, die eine homophile Neigung nahelegen und die er durch den Selbstvergleich mit Brockes, offenbar diese Grenzüberschreitung wahrnehmend, wieder teilweise zurücknimmt. Pointiert kann man dann auch mit Günter Blamberger mutmaßen, dass »der persönliche Verkehr mit der Braut von Kleist wohl mit guten Gründen 29 László F. Földényi: Heinrich von Kleist (wie Anm. 16), S. 264.

Politik, Selbstsorge und Gender

141

eher gefürchtet wurde«, und unterstreichen, dass, strategisch betrachtet, »die räumliche und zeitliche Distanz […] durch die Briefe nicht abgebaut, sondern eigentlich verstärkt werden« soll.30

Kleist an Wilhelmine von Zenge, 31. Jan. 1801, S. 1v: »Ja wenn Du unter den Mädchen wärest, was dieser unter den Männern – – Zwar dann müßte ich freilich auch erschrecken. Denn müßte ich dann nicht auch sein, wie er, um von Dir geliebt zu werden?«

30 Günter Blamberger: Ökonomie des Opfers (wie Anm. 14), S. 148f.

142

Nadja Müller

V. Schluss Alexander Kluge hat es in seiner Rede zur Verleihung des Kleist-Preises als »Dauerthema« und »ungelöstes Problem« Kleists bezeichnet, »weder auf den Krieg noch auf die Liebesfähigkeiten Selbstbewußtsein […] gründen«31 zu können. Das Scheitern Kleists ist dabei sowohl im Bereich des Politisch-Militärischen wie auch in seinen Brautbriefen wohl auch seinem Anspruch geschuldet, den »ganzen Menschen« zu erreichen und zu gewinnen, sowohl Kopf wie auch Herz zu erringen. Dem Militärdienst mit seinem alleinigen Appell an Disziplin und Verstand ist es nicht gelungen, auch sein Herz zu gewinnen; eine Militärreform, die auch das Herz berücksichtigt, hat Kleist dann später durch seine Poesie zu befördern gesucht.32 In den Brautbriefen hat Kleist versucht, erzieherisch auf seine Braut einzuwirken, um sie, konform mit einer traditionellen Geschlechterauffassung, zu beeinflussen und sich damit als erfolgreicher Lehrer zu erweisen. Nicht gelungen ist es ihm, von ihr ein eindeutiges Liebesgeständnis zu erhalten, das sein Vertrauen, als Zugeständnis an die eigene Fähigkeit, erfolgreich zu lieben und zu erziehen, hinreichend gestärkt hätte. Kleists faszinierende, aber auch irritierende Brautbriefe lassen, auch ohne die Antwortbriefe Wilhelmine von Zenges zu kennen, erkennen, dass er ihr gegenüber »eine Sicherheit in der Sache und eine Gewissheit seiner selbst meinte vortäuschen zu sollen, die ihm in Wahrheit schmerzlich fehlte«.33

31 Alexander Kluge: Wächter der Differenz. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises. In: Kleist-Jahrbuch 1986, S. 27–35, hier S. 32. 32 Vgl. Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie (wie Anm. 6). 33 Müller-Salget: Briefe (wie Anm. 26), 181.

Anna Busch

Verlegerbriefe Heinrich von Kleist und die Bedingungen der Gattung

Es gibt unzählige Studien zum Verhältnis von Schriftstellern, Publikum und literarischem Markt um 1800. Gerade im Zuge der großen literatursoziologischen Untersuchungen wurde der Funktion des herstellenden Buchhandels im Prozess der literarischen Kommunikation eine neue Bedeutung zugesprochen.1 Gesehen wurde, dass die Emanzipation des freien Schriftstellers und das Entstehen eines anonymen bürgerlichen Lesepublikums in enger Verbindung mit der Entwicklung des Buchmarktes zu einer modernen Handelsform standen und dass – als Folge dessen – sich die Beziehungen zwischen Autor und Verlegern, das Selbstverständnis beider Seiten und die Struktur des literarischen Lebens insgesamt veränderten.2 Zur Untersuchung wurden vielfach Sammlungen von Korrespondenzen bedeutender Autoren (Goethe, Schiller, Herder, Lessing, Klopstock) herangezogen, in denen auch zahlreiche Briefe, die sie mit ihren Verlegern (Cotta, Göschen, Nicolai, Reich) getauscht hatten, aufgenommen worden sind. Dennoch sind auch heute noch viele Verlegerbriefwechsel – insbesondere dann, wenn einer der beiden Briefpartner nicht als erstrangig eingestuft wird – unerschlossen. Das gilt besonders für die kleineren Berliner Verlagshäuser,3 wie zum Beispiel für die Korrespondenz des Verlegers der Kleist’schen Berliner Abendblätter Julius Eduard Hitzig. Dabei lassen sich gerade hier die Entwicklung des Buchmarktes, die Geschichte der literarischen Produk1 2 3

Vgl. z.B. die Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, 1977ff. Vgl. Reinhard Wittmann: Zur Verlegertypologie der Goethezeit. Unveröffentlichte Verlegerbriefe an Heinrich Wilhelm Gerstenberg. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 8 (1976), H. 1, S. 99–130, hier S. 99. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die von Sebastian Panwitz im Rahmen des Berlin-Brandenburgischen Akademieprojekts »Berliner Klassik« zusammengestellte »Bibliographie zu Berliner Verlegern und Verlagshäusern«, die online verfügbar ist unter: http://www.berliner-klassik.de/forschung/publizistik-und-verlagswesen-um-1800/bibliographieverleger (5.2.2012). Pionierarbeit hat hier auch Doris Reimer mit ihrer Studie »Passion & Kalkül. Der Verleger Georg Andreas Reimer (1776–1842)«, Berlin 1999, durch die Auswertung unzähliger Korrespondenzbeispiele aus dem Reimer Verlag geleistet.

144

Anna Busch

tion, das verlegerische Selbstverständnis und das Verhältnis von Produzent und Rezipient in dem territorial abgrenzbaren Kommunikationsraum Berlins auf erstaunlich erhellende Weise zeigen. Die sehr lückenhaft erhaltene Verlagskorrespondenz des lediglich sechs Jahre – von 1808 bis 1814 – bestehenden Verlags von Julius Eduard Hitzigs beinhaltet solch klangvolle Namen wie August und Wilhelm Schlegel, Jean Paul, Friedrich de la MotteFouqué, Adelbert von Chamisso, Karl August Varnhagen von Ense, August von Kotzebue und Heinrich von Kleist, um nur einige zu nennen. Sie gibt Auskunft über entscheidende Entwicklungen des literarischen Lebens in Berlin, aber auch über die Rolle des Briefs im Rahmen einer typischen Geschäftskorrespondenz sowie die medialen und materialen Bedingungen der zeitgenössischen Kommunikationspraxis. An dieser Stelle kann keine umfassende Analyse des überlieferten Korrespondenzmaterials erfolgen, stattdessen sollen das Augenmerk auf die Rolle des Verlegers im Briefverkehr gelegt und einzelne grundsätzliche Überlegungen zur Typologie des Verlagsbriefs um 1800 angestellt werden. Verlegerische Kommunikationsstrategien in den Briefen Hitzigs und seiner Autoren werden untersucht, darüber hinaus wird der einzige noch auffindbare Brief zwischen Heinrich von Kleist und dem Verleger seiner Berliner Abendblätter genauer betrachtet.

I. Die Rolle des Verlegers im Briefverkehr Das postalische System hatte entscheidenden Einfluss auf die literarische Kommunikation um 1800. Briefwechsel spielten die zentrale Rolle im Ideen- und Wissensaustausch und bildeten damit einen bedeutenden Bestandteil des zeitgenössischen Literaturbetriebs. Dem Verleger kam die durchaus geschätzte Rolle des ›Briefzentrums‹ und Multiplikators von Nachrichten zu. »Deiner Erlaubniß zufolge«, schrieb Friedrich de la MotteFouqué am 20. Mai 1811 an seinen Verleger Julius Eduard Hitzig, »lege ich meinen Brief an Heinrich Kleist ein. Mit dem Exemplar der Vaterl. Schauspiele wünscht Serena, daß er auch eines ihrer Erzählungen erhalte […]«.4 Man schrieb dem Verleger, weil man wusste, dass er auch mit unzähligen anderen Autoren, Verlegern und Buchhändlern in Briefkontakt stand und neben dem postalischen über ein privates Beförderungssystem an Freunden, Kollegen und Mittelsmännern verfügte, das die zügige und verlässliche Übermittlung von Nachrichten zu gewährleisten versprach. So erhoffte man sich einerseits die Weiterbeförderung der eigenen, eingeschlossenen Briefe an die betreffenden Personen, aber auch Informationen über Zu4

Friedrich de la Motte-Fouqué an Julius Eduard Hitzig, 20.5.1811, Stiftung Stadtmuseum Berlin, XV 578.

Verlegerbriefe

145

sammenhänge aus anderen Briefwechseln zu erhalten.5 Bezahlt wurde für diesen ›Freundschaftsdienst‹ mitunter wiederum mit Informationen, wie sich aus einem Brief Fouqués an Hitzig vom 27. Juni 1811 ablesen lässt: Ich komme schon wieder mit einer Bitte, mein theurer Freund; habe doch die Güte, inliegendes Paket, etwa durch Schimmelpfennig, recht sicher an die Behörde gelangen zu lassen. Du wirst über mich lachen, aber ich bilde mir schon wieder ein, mein früherer Brief an Eberhard mit den Balladen könne doch wohl verloren gegangen sein. Möchtest du einigen Ersatz für die Reise, welche ich dir veranlasse, in der Lesung der beifolgenden Erzählung finden! Ich lasse deshalb den Brief offen; du sigelst ihn wohl mit irgend einem anonymen Petschaft zu.6

Der Verleger war als das Bindeglied zwischen unterschiedlichen literarisch aktiven Kreisen für diese Rolle prädestiniert und hatte den Auftrag, das Gespräch mit Dritten geradezu zu moderieren.7 Dabei war er nicht nur Vermittler von Kontakten, sondern auch intellektueller Gesprächspartner, Fürsprecher und Berater in den unterschiedlichsten Lebensbereichen.8 Finanzielle und geschäftliche Transaktionen, Informations- und Buchtransfers, Übersendungen von Manuskripten, Druckfahnen und Rezensionsexemplaren boten dem Verleger die Möglichkeit, am literarischen und kulturellen Austausch teilzunehmen. Es wurde erwartet, dass er auf sämtliche Briefe, die er von seinen Autoren erhielt, innerhalb kürzester Zeit antwortete und die Briefe aufbewahrte. Regelmäßig führte der Verleger ein Korrespondenzregister mit genauer Verzeichnung des Eingangs- und Absendedatums der Briefe und, um alle getroffenen geschäftlichen Vereinbarungen nachvollziehen zu können, ein Konzeptbuch, in dem er zumindest in Stichpunkten den Inhalt der von ihm verfassten Briefe zusammenfasste. Chronologisch angelegte Briefko5

6 7

8

Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang auf den Brief Friedrich de la Motte-Fouqués an seinen Verleger Julius Eduard Hitzig vom 12.12.1811 verwiesen: »Für Wagner erhältst du künftigen Posttag einen Brief; inliegend ein Paar [!] Zeilen für den trefflichen Pequilhen, die ich dich zu lesen bitte. Fast hätte ich an seinem mich so ehrenden Billet einen Raub begangen, nur daß Notizen für dich mit darauf standen. Du erhältst es also mit Dank zurück.« Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 6527, Nr. 25. Friedrich de la Motte-Fouqué an Julius Eduard Hitzig, 27.6.1811, Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 6527, Nr. 21. Vgl. den Brief Friedrich de la Motte-Fouqués an Julius Eduard Hitzig, 12.12.1811: »Ich komme heute und wohl auch das nächste mal [!] nicht dazu, dir einige Zeilen für Pirch zu senden. Habe die Güte, ihm mit einigen Worten mitzutheilen, was ihn aus meinem vorigen Briefe betrifft.« Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 6527, Nr. 25. Regelmäßig besorgte der Verleger neben Büchern, Papier, Tinte und Schreibfedern, Artikel des täglichen Lebens, Kleidung und Lebensmittel. Vgl. Doris Reimer: Passion & Kalkül (wie Anm. 3), S. 13.

146

Anna Busch

pierbücher samt vor- oder nachgeschaltetem alphabetischen Index erschlossen den Inhalt der Briefe zudem nach Briefpartnern.

II. Zum Typus des Verlagsbriefs um 1800 Wenn der Verleger oder sein Bevollmächtigter nicht selbst den Weg zu einem entfernten Autoren oder Kollegen auf sich nahm oder ihn auf einer der Messen traf, musste er ihm zur Geschäftsanbahnung und -abwicklung, zur Präsentation des eigenen Programms, zum Einkauf und zur Kontaktpflege schreiben. Das geschah in Form von Geschäftsbriefen, die festen Regeln unterlagen. Seit dem 17. Jahrhundert waren Empfehlungen für die innere und äußere Gestaltung von Handelskorrespondenz in den einschlägigen Briefstellern nachzulesen, in denen der Wandel von der barocken Formelhaftigkeit zu einem nüchternen Briefstil um 1800 augenfällig wird.9 Grundsätzlich unterlagen Geschäftsbriefe um 1800 – und zu solchen muss auch die Korrespondenz zwischen Autor und Verleger zählen – anderen kommunikativen Mustern als zum Beispiel Freundes- oder Familienbriefe. Die von Karl Heinz Bohrer für die Kleist’schen Privatbriefe veranschlagten poetischen bzw. ästhetischen Subjektivierungstendenzen sind in der Korrespondenz mit dem Verleger nur unter bestimmten Voraussetzungen zu erkennen.10 De facto richteten sich die Briefe in einer Geschäftssituation an ein spezielles Gegenüber und gaben damit weniger über poetologische Ästhetisierungstendenzen als über die Funktion des Briefs als tatsächliches Kommunikationsmedium Auskunft. Der Schriftwechsel mit Verlegern fand im Gegensatz zu manch anderer Korrespondenz nicht im Blick auf eine mögliche spätere Publikation statt. Die Briefe von oder an Verleger zeichneten sich daher generell durch klare Aussagen, Absichten, einen Wunsch oder eine Bitte, eine Aufforderung oder eine Anzeige aus und spiegelten damit die lebenspraktische personale Identität des jeweiligen Verfassers. Die Briefe hatten in erster Linie deutlich und gründlich zu sein. Natürlichkeit und Kürze, eine sinnvolle Reihenfolge und Sprachrichtigkeit waren Grundvoraussetzungen. Im typischen Geschäftsbrief waren das gewöhnliche Einleitungszeremoniell und vor allem sämtliche umständlichen Höflichkeitsformeln, die in anderen Briefformen erforderlich waren, zu vernachlässigen. Nach einer kurzen Anrede begann man solch einen Brief mit der Ausführung seines Anliegens und schloss, nachdem man dieses kurz 9

So auch Evelyn Kroker u.a. (Hg.): Handbuch für Wirtschaftsarchive. Theorie und Praxis. München 2005, S. 72. 10 Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München, Wien 1987, S. 13.

Verlegerbriefe

147

und deutlich vorgetragen hatte, mit einer Erklärung, dass man zu Gegendiensten bereit sei oder vollkommen jedem Wunsche des Empfängers genügen werde. Auch wenn sich um 1800 der Beginn einer Entwicklung zum teilweise oder gänzlich gedruckten Briefvordruck oder -formular bereits erkennen lässt, zeichnete sich die typische Verlagskorrespondenz durch den handgeschriebenen Geschäftsbrief aus. Mitunter fanden sich auf dem Briefpapier einzelne gedruckte Elemente, kleinformatige Abbildungen, Handelssymbole oder Gewerbezeichen und ab 1830 in Einzelfällen Abbildungen des Verlagshauses selbst.11 Allein Rundschreiben und Zirkulare, die sich an einen großen Adressatenkreis richteten und über Eröffnung, Vergrößerung, Übergabe, Übernahme oder Verlegung des Geschäfts unterrichteten, waren regelmäßig gedruckt.12 Das Porto eines Geschäftsbriefs hatte grundsätzlich derjenige zu tragen, dessen Angelegenheit in dem Brief verhandelt wurde, auch wenn ein Verleger, der seinem Autor Manuskripte, Korrekturbögen, Belegexemplare und anderes zukommen ließ, diese Regelung mitunter außer Kraft setzte. Da der Verleger zumeist einen größeren finanziellen Gewinn aus der Publikation eines Werkes zog als der Autor, erwartete man von ihm auch die Übernahme der Portokosten.

III. Der Verlag und die Buchhandlung Julius Eduard Hitzig Dem Verleger Julius Eduard Hitzig, der mit einer Fülle von Literaten intensiven Briefkontakt pflegte,13 kam als Knotenpunkt verschiedenster Netzwerke eine zentrale Mittlerrolle in Berlin zu Anfang des 19. Jahrhunderts zu. Gerade in seiner Funktion als Buchhändler und Verleger war er Schaltstelle umfangreichsten Briefverkehrs. Seine Korrespondenz legt Zeugnis ab von der Vernetzung der romantischen Kultur und kann zugleich als Seismograph der zeitgeschichtlichen Tendenzen zwischen Romantik und Ende der Goethezeit gesehen werden. Bei der Sichtung der unterschiedlichen Nachlassteile Julius Eduard Hitzigs wird augenfällig, dass sich nur einzelne Korrespondenzen mit Autoren des von Hitzig im Jahr 1808 gegründeten Verlags erhalten haben. Brief11 Seit den 1830er Jahren verwendete Julius Eduard Hitzig für seine Korrespondenz Briefpapier, das eine kolorierte Lithographie seines Wohnhauses in der Friedrichstraße 242 zeigte. 12 Vgl. Evelyn Kroker u.a. (Hg.): Handbuch für Wirtschaftsarchive (wie Anm. 9), S. 73. 13 Tatsächlich sind heute noch über 2000 Briefe von und an Julius Eduard Hitzig nachweisbar.

148

Anna Busch

kopierbücher, Verlagsverzeichnisse, Kataloge, Prospekte oder Kassenbücher finden sich nicht. Auch im umfangreichen Verlagsarchiv des Nachfolgers Ferdinand Dümmler, der den Verlag Hitzigs 1814 übernahm, finden sich keine Zeugnisse aus der Anfangszeit des Verlags unter Hitzigs Ägide. Tatsächlich sind die zum überwiegenden Teil lückenhaft erhaltenen Briefwechsel zwischen Hitzig als Verleger und seinen potentiellen oder bereits verpflichteten Autoren gekennzeichnet durch eine Mischung von rein geschäftlichen und persönlichen Mitteilungen. Von und an August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, die beide im Verlag Hitzigs veröffentlichten,14 finden sich insgesamt 16 Briefe (acht Briefe von und an A.W. Schlegel und acht Briefe von und an Friedrich Schlegel). Diese Briefe sind grundsätzlich von geschäftsmäßigem Ton geprägt und behandeln die Publikationsorganisation, Buchbestellungen und Vertragsdetails. Es handelt sich um sachliche, interessen- und informationsorientierte Geschäftsbriefe, die auf die notwendige Mitteilung reduziert sind. Die Korrespondenz erfüllte eine rein ökonomische Funktion und enthielt ritualisierte Wendungen, die unmittelbar den Briefstellern der Zeit zu entstammen scheinen. Bewusste Stilisierung bzw. effiziente Selbstdarstellung fand sich vor allem in der Ausnahmesituation Hitzigs, die bekannten Autoren anzuwerben. Im Dezember 1808 versuchte er mit ausgeklügelter Werbestrategie August Wilhelm Schlegel gegenüber, den Umstand seiner Unerfahrenheit in Verlagsangelegenheiten ins Positive zu wenden: Eine nicht ungünstige Vermögens-Lage und der Umstand, daß ich als ein Anfänger meine Capitalien noch fast ganz zusammen und leicht disponibel habe, setzen mich in den Stand, wenn nicht glänzende Bedingungen zu machen, doch die übernommenen mit aller Genauigkeit erfüllen zu können. Zur näheren Nachfrage über meine Verhältnisse nenne ich Ihnen das Haus meiner Tante der Baronesse Arnstein in Wien und Ihrer Tochter Pereira, für welche wie ich weiß, Frau von Stael viele Güte gezeigt hat, und werde mich gewiß bemühen, mich der Empfehlungen, die mir von dorther entstehen dürften, nicht unwürdig zu zeigen.15

Der Verweis auf gemeinsame Bekannte war gleichermaßen erkennbare argumentativ-rhetorische Strategie wie gängige, von zeitgenössischen Briefstellern für die Aufnahme einer Geschäftsbeziehung empfohlene Praxis. 14 Neben dem zweiten Band des Spanischen Theater von August Wilhelm Schlegel, veröffentlichte Friedrich Schlegel seine Gedichte bei Hitzig und verständigte sich mit diesem auf eine Herausgabe der Briefe über die Kunst und der Studien des Alterthums, zu der es allerdings nicht kommen sollte. 15 Julius Eduard Hitzig an August Wilhelm Schlegel, 27.12.1808, zitiert nach: Josef Körner: Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis. Bd. 1. Brünn, Wien, Leipzig 1936, Nr. 320, S. 665–667.

Verlegerbriefe

149

Solcherart Überzeugungsarbeit bedurfte es bei der ersten Kontaktaufnahme Hitzigs als Verleger mit Friedrich de la Motte-Fouqué nicht. Innerhalb kürzester Zeit nahm der als Geschäftsanbahnung begonnene Briefwechsel einen freundschaftlichen Ton an. Bereits in seinem zweiten Brief, den Fouqué am 30. September 1809 an Hitzig, den Verleger seines Sigurds richtete, schrieb er überschwänglich: »[…] mein sehr geschätzter Freund,| Sie erlauben dem Freunde Ihrer Freunde wohl diese vertraulichere Benennung|«.16 Damit hatte Fouqué den Grundstein für eine jahrzehntelang andauernde Freundschaft gelegt, die ihren Ursprung in einer geschäftlichen Beziehung hatte. In den folgenden zwischen Hitzig und Fouqué getauschten Briefen nahm der Anteil des Nicht-Geschäftlichen stetig zu und ging bereits zwei Monate nach Aufnahme der Beziehungen über das Maß höflichkeitshalber hinzugefügter Anmerkungen zu Wetter, Familie und Alltag hinaus. Über die Schwierigkeiten mit August Wilhelm Schlegel sprach sich Fouqué seinem Verleger gegenüber ohne Zurückhaltung aus: Ich nehme keinen Anstand, Ihnen zu sagen, daß meine früheren Verhältnisse zu ihm durch fremde Schuld, nicht verstört, aber doch verwirrt sind, und eine so herzliche Liebe und Achtung ich auch immer für diesen meinen theuren Meister bewahren werde, stehn wir doch so, daß ich wohl ohne Unbilligkeit die erste Wieder-Annäherung von seiner Seite erwarten kann.17

Dies Vertrauen schufen gemeinsame Freunde, deren Belange regelmäßig einigen Raum in den Briefen einnahmen und die die eigentlich beruflichen Beziehungen in den Hintergrund treten ließen. Dennoch meinte Fouqué, eine Bitte um Verschwiegenheit anschließen zu müssen: Sie fühlen, das diese Aeusserung nur Ihnen mitgetheilt ist, und auf Ihre Verschwiegenheit Anspruch macht. Nur Bernhardi, Chamisso und Varnhagen dürfen darum wissen; nicht als sei die Sache an und für sich ein Geheimniß, aber der möglichen Misverständnisse und Misdeutungen giebt es allzuviele.18

Die mit Fouqué getauschten Briefe sind, aufgrund des großen Anteils persönlicher, nicht geschäftlicher Inhalte, nicht eindeutig der Verlagskorrespondenz zurechenbar und gehen weit über die üblichen Verhandlungen von Bogenhonoraren und Vorschüssen, die Qualität der Buchausstattung oder die Anzahl der Autorenfreiexemplare hinaus. Tatsächlich nähern sie sich vielfach dem überschwänglich gefühlsbetonten Privatbrief an, der die 16 Friedrich de la Motte-Fouqué an Julius Eduard Hitzig, 30.9.1809, Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 6527, Nr. 2. 17 Ebd. 18 Ebd.

150

Anna Busch

Individualität von Schreiber und Adressat in den Mittelpunkt stellt. Entsprechend finden sich in dieser Korrespondenz auch die meisten Hinweise auf Heinrich von Kleists Berliner Verhältnisse. Der Briefaustausch zwischen Fouqué und Hitzig ist es, der Einblicke in die Gefühlswelt der beiden Korrespondenzpartner nach dem Tod Heinrich von Kleists gibt. So schreibt Fouqué am 28. November 1811: Der edle Geist, welcher unsre Erde auf eine so furchtbare Weise verlassen hat, regt mein ganzes Innerstes auf. Ich sehne mich mehr, als je, von dir zu hören; der gestrige Posttag, die durch Gerüchte schon früher aufgeregte Ahnung von Heinrich Kleists Tode – mir bebt das Herz, wie das Wort so hingeschrieben vor mir steht – bestätigend, brachte mir nichts von Dir. Um so zuversichtlicher sehe ich nun nach der heutigen Gelegenheit aus, und lasse meinen Brief bis zum Abend offen. Oder kämest Du gar selbst? Oder irgendeiner der Freunde? – Es wäre jetzt zwiefache Wohltat für mich. – Die beiliegenden Zeilen entströmten mir Gestern [!] unter heißen Thränen. Lasse sie in einer Zeitung – wenn es angeht, in beiden Berlinern – abdrucken, und hebe mir ein Exemplar auf. Man kann ja wohl nachher das Gedicht noch, damit eine Erinnerung an den edlen Todten weiter durch Deutschland gehe, an die Erholungen oder in Eberhards Salina geben, allenfalls mit der Bemerkung, daß es schon in der Berliner Zeitung abgedruckt gewesen sei. Vergiß nicht, mir darüber Bescheid zu sagen. – Mein Roman nähert sich seinem Ziel. Er wäre beinahe mit Kleists Leben zugleich zu Ende gegangen. Nun brauche ich zwei Exemplare weniger davon: für Kleist und Dippold! – Damit das Trio der für uns Verlornen voll werde, tritt auch noch Wilhelm Schneider hinzu. – Weißt Du nichts über Kleists Nachlaß? Ich meine natürlich den dichterischen. – Vielleicht heute Abend noch einige Worte. Meine ganze Seele ist betrübt. Empfiehl mich deiner lieben Frau. Serena grüßt. Auch sie ist unbeschreiblich ergriffen von Heinrichs Geschick. Seltsam ist es doch mit den drei Dichtern aus dem Kleist’schen Hause. Alle so früh im Grabe, und Jeder gewissermaaßen durch die Todesart sein Zeitalter ausdrückend. Der erste gefallen im glorreichsten Preußischen Kriege, fromm und pflichgetreu bis auf das Letzte, der Zweite in wüster Ausschweifung untergegangen noch vor dem Sterben, der dritte in philosophischer Kraft, mit edler Besonnenheit, verirrt hinabgestiegen, einer der herrlichsten Selbstmörder, die es je gegeben hat, nicht ohne Ahnung von Religion.19

Im Anschluss an diese offenen Worte Fouqués nimmt es nicht wunder, dass auch Hitzig, ganz die verlegerische Zurückhaltung aufgebend, sich über geschäftspolitische Überlegungen im Zusammenhang mit Kleists Nachlass offen ausspricht. Der Brief Hitzigs an Fouqué vom 18.6.1812,20 in welchem er Fouqué schildert, wie das Kleist’sche Manuskript des Prinzen 19 Friedrich de la Motte-Fouqué an Julius Eduard Hitzig, 28.11.1811, Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 6527, Nr. 24. 20 Abgedruckt bei Helmuth Rogge: Heinrich von Kleists letzte Leiden, nach unveröffentlichten Zeugnissen aus dem Nachlaß Julius Eduard Hitzigs. In: Jahrbuch der KleistGesellschaft 1922, S. 31-74, hier S. 59-61.

Verlegerbriefe

151

von Homburg in seine Hände gelangt sei, wie er es gelesen habe, aber aus finanziellen und Absatzgründen habe entscheiden müssen, den Druck zu dem hohen geforderten Preis abzulehnen, ist uns heute Zeugnis einer Druck- und beginnenden Rezeptionsgeschichte des Werkes Heinrich von Kleists.21

IV. Heinrich von Kleist und der Verleger Julius Eduard Hitzig Von dem Austausch zwischen Heinrich von Kleist und dem Verleger seiner Berliner Abendblätter Julius Eduard Hitzig hat sich eine einzige schriftliche Nachricht erhalten: eine Mitteilung, die einen Satz umfasst. Kleist schrieb einen Tag nach dem ersten Erscheinen der Berliner Abendblätter, am 2. Oktober 1810, ohne jede Anrede, ohne abschließende Grußformel und ohne ein verbindliches Wort: »Ich habe schon längst gebeten, dem Kriegsrat Peguilhen ein Exemplar des Abendblatts zu besorgen; sein Sie doch so gefällig, und richten diese Sache ein. H. v. Kleist.« (SW II, 839) Er siegelte und adressierte den Bogen und ließ ihn Hitzig wohl per Boten zugehen. Dank des von Helmut Sembdner verfassten Aufsatzes »Assessor Hitzig, Kriegsrat Peguilhen und Heinrich von Kleist« sind die Entstehungsbedingungen des kurzen Schreibens bekannt, ebenso ist die äußere Gestalt durch Faksimileabdruck wiedergegeben.22 Berührungspunkte zwischen Hitzig und Kleist hatte es zweifelsohne durch gemeinsame Bekannte gegeben. Beide korrespondierten mit Cotta, Reimer, Böttiger, Fouqué und Schütz. Und sie bewegten sich in Berlin in sich überschneidenden gesellschaftlichen Kreisen. Hitzig hatte sich bereits 1808 finanziell an Erscheinungen des Reimer’schen Verlags beteiligt und bei Reimer eine kurze Einführung in das Verlags- und Buchhandelsgeschäft erhalten.23 Als er schließlich im Oktober 1808 seine eigene Verlagsund Sortimentsbuchhandlung gründete, profitierte er von den Verlagskontakten Reimers, mit dem er auch weiterhin in enger geschäftlicher Bezie21 Sämtliche Briefe Hitzigs an Fouqué, die Heinrich von Kleist zum Thema haben und die noch 1923 von Helmuth Rogge im Märkischen Museum (heute Stiftung Stadtmuseum Berlin) eingesehen und exzerpiert werden konnten, sind dort heute nicht mehr nachweisbar. Im Detail handelt es sich dabei um elf Briefe folgender Datierung: 16.5., 27.7., 29.7., 25.11., 3.12. und 8.12.1811 sowie 7. oder 9.2., 23.3., 18.6., 7.7. und 13.7.1812. Vgl. Rogge: Heinrich von Kleists letzte Leiden (wie Anm. 20), S. 31–74. 22 Helmut Sembdner: Assessor Hitzig, Kriegsrat Peguilhen und Heinrich von Kleist. Eine Berliner Episode. Mit dem Faksimile des Briefes von Kleist an Hitzig vom 2.10.1810. Heilbronn 1994. 23 Vgl. Anna Busch: Julius Eduard Hitzig und Berlin. Kulturelle Organisation und künstlerische Gestaltung von Literatur- und Wissenschaftsnetzwerken [erscheint voraussichtlich Anfang 2013].

152

Anna Busch

hung stehen sollte. Die Herausgabe der Berliner Abendblätter wird wohl der Hauptverleger von Kleists Werken, Reimer, an Hitzig abgegeben haben. Es verwundert sehr, dass sich gerade dieses eine Schriftstück aus der gesamten Verlagskorrespondenz der Hitzig’schen Buchhandlung mit Heinrich von Kleist erhalten hat: Ist doch während der dreimonatigen Herausgabe der Berliner Abendblätter im Verlag Hitzigs mit Sicherheit eine regelmäßige Korrespondenz zu vermuten. Die genannte Nachricht Kleists muss als Kuriosum oder Sammlerstück aus den Verlagsunterlagen herausgelöst worden sein. Generell lässt sich festhalten: Die Gepflogenheiten der bildungsbürgerlichen Gesprächskultur – »wohlwollende Grundhaltung gegenüber dem Gesprächspartner, abgewogene Urteile, die niemanden verletzten, Rücksichten auf die gemeinsamen Bildungsvoraussetzungen, thematische Einschränkungen auf das auch öffentlich Sagbare, Mäßigung bei der Selbstdarstellung«24 – galten auch für den Privatbrief der Zeit. Für die geschäftliche Korrespondenz galt eine noch sehr viel stärkere Regelhaftigkeit, wie sie sich in der Fülle der Briefsteller der Zeit ablesen lässt.25 Kleists erhaltener Brief an seinen Verleger Hitzig spricht eine andere Sprache. Kleist grenzte sich mit seinem schroffen Ton aus der eine Gemeinsamkeit bildenden Etikette und den entsprechenden Umgangsnormen, ja aus der einheitsstiftenden Konvention der angemessenen Briefform aus, mochte er durch die Begleitumstände seiner verärgerten Notiz auch noch so gerechtfertigt sein. Die von Karl Heinz Bohrer für die Privatbriefe Kleists herausgestellte »ästhetische Subjektivierung«, die ihre »hochgradig ästhetisch konstruierten« Briefe zu autonomen Texten, »in denen sich das Ich sich gewissermaßen erst semantisch findet, erfindet« werden lässt,26 greift in diesem Fall nicht. Vielmehr wird sie kontrastiert. Die Frage nach der »Fiktionalisierung«27 und »literarischer Selbsterhaltung«28 stellt sich angesichts der strategisch-rationalen Briefform hier nicht. Der Brief entstand aus einer pragmatischen Notwendigkeit heraus, die nichts mit ästhetischem Genuss zu tun hat. Der Inhalt beschränkte sich eben nicht bloß wie für Geschäftsbriefe typisch auf die Mitteilung sachlicher Informationen, sondern brachte durch die Formulierung »schon längst gebeten« und »seien Sie doch so gefällig« die Verstimmtheit Kleists zum Ausdruck. Die den Briefstellern der 24 Rainer Baasner: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis. In: Ders. (Hg.): Briefkultur im 19. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 14. 25 Vgl. z.B. Karl Philipp Moritz: Allgemeiner deutscher Briefsteller. Berlin 1793; Georg Carl Claudius: Allgemeiner Briefsteller. Leipzig 1804. 26 Bohrer: Der romantische Brief (wie Anm. 10), S. 13. 27 Ebd., S. 47 28 Ebd.

Verlegerbriefe

153

Zeit entnommene Bestimmung, einen Brief nicht mit einem »Ich« zu beginnen und das »Ich« als Bescheidenheitsgeste notfalls auch am Satzanfang kleinzuschreiben, überging Kleist. Dies der Schreibsituation anzulasten – die Mitteilung war wahrscheinlich eine von vielen, die den Tag über gerade bei Erscheinungsbeginn der Abendblätter zwischen dem Hitzig’schen Verlag und der Kleist’schen Wohnung hin- und hergingen – hieße, Strategie und Briefzweck aus den Augen zu verlieren. Das »Ich« forderte, sollte das Gegenüber unter Druck setzen und zum Handeln zwingen. Die vormals geäußerte Bitte war der Dringlichkeit der Aufforderung gewichen. Das Fehlen der rituellen Anfangs- und Schlusssequenz – lapidar unterschrieb Kleist allein mit seinem Namen – und der nur einen Satz umfassende Brieftext unterstreichen, dass es sich hier um ein Billet, die kleine Briefform zwischen Personen am gleichen Ort, handelt. In einem Billet war die Auslassung der Anrede gestattet, wenn an deren Stelle das sogenannte Ehrfurchtszeichen trat.29 Dabei handelte es sich um eine Art Schleife, die sich auf der linken oberen Seite des Papiers bis zum Anfang des Schreibens herunterzog. Ein eben solches Zeichen nach dem eigentlichen Brieftext auf der rechten Seite ersetzte eine Schlussformel. Es folgte dann direkt die Namensunterschrift. Beide Ehrfurchtszeichen finden sich in dem Billet Kleists. Die Länge bzw. die Kürze der jeweiligen Schleife gab über das Verhältnis zwischen dem Verfasser und dem Adressaten Auskunft. Billets an Personen, denen man besondere Achtung schuldig war, erforderten sowohl ein ausgesprochen langes Ehrfurchtszeichen als auch einen ganzen Quartbogen als Umschlag. Tatsächlich verwendete Kleist das noch größere Folioblatt,30 das wiederum, gefaltet, als sein eigener Briefumschlag fungierte, und entsprach damit hinsichtlich Papiergröße und -qualität den durchaus gängigen Gepflogenheiten der Geschäftskorrespondenz. Er bewahrte durch die Verwendung des schmucklosen Papiers ein neutrales Gesicht. Die rote Siegelung über die umgeknickte untere linke Ecke des gefalteten Papiers, die das Briefgeheimnis zu hüten hatte, galt für Briefe als gängig. Zum Verschließen des Billets hätte auch einfacher Mundlack, eine Oblate, ausgereicht.31 Auch die Adressierung »H. Assessor Hitzig Wohlgeb. Kath.N.3.«32 war eine geläufige, wenn auch verkürzte Versandform. Für 29 Theodor Heinsius: Kleine theoretisch-praktische Deutsche Sprachlehre für Schulen und Gymnasien. 9. Aufl. Berlin 1822, S. 299. 30 Sembdner: Assessor Hitzig, Kriegsrat Peguilhen und Heinrich von Kleist (wie Anm. 22), [unpaginiert]. 31 Briefsteller zunächst für studierende Jünglinge. Zum Privat- und Studiengebrauche. München 1810, S. XXV. 32 Sembdner: Assessor Hitzig, Kriegsrat Peguilhen und Heinrich von Kleist (wie Anm. 22), [unpaginiert].

154

Anna Busch

Billets, die durch Boten von Haus zu Haus gebracht wurden, wäre allerdings beides – die Siegelung und die Adressaufschrift – auch gar nicht nötig gewesen. Die Titulatur als »Assessor« und »Wohlgeboren« war dem Rang des Adressaten angemessen: Hitzig führte auch in Berlin, nachdem er aus dem Justizdienst hatte scheiden müssen, den Titel des »Assessors«. Es finden sich keine Streichungen, stattdessen zeichnet sich die Nachricht Kleists durch einen gleichmäßigen Schreibfluss aus. Der Umschlag, das Papier, die Adressierung, das Siegel – all das, was nach außen hin sichtbar war – war mithin regelkonform, wenn nicht sogar überkorrekt. Die Nachstellung des Datums kennzeichnete das Billet zusätzlich als ein geschäftliches Schreiben. Der Inhalt und die Formulierung waren dagegen schlicht unverschämt. »Die Schreibart […] muß nicht zu pöbelhaft seyn; sie erweckt Widerwillen«.33 Der vom Briefsteller geforderten Angemessenheit des Tons hinsichtlich Adressat und Thema des Briefs kam Kleist nicht nach: Die Missstimmung, die drei Monate später zur Aufgabe der Berliner Abendblätter durch Hitzig führte, war bereits in diesem Billet spürbar und nahm das Scheitern der Beziehung zwischen Autor und Verleger geradezu vorweg. So wird der briefliche Dialog zum Ort, an dem sich der Konflikt beständig erneuern kann. Durch die Verschriftlichung seines Unmuts entzieht Kleist die Auseinandersetzung dem Augenblick und schreibt sie auf Dauer fest. Dieser eine, einzige erhaltene Brief zwischen Kleist und Hitzig wird symbolisch für die konfliktgeladene Beziehung der beiden. Zugespitzt lässt sich die Auseinandersetzung um die Berliner Abendblätter auch auf die unterschiedlichen Kommunikationsmöglichkeiten der Briefpartner beziehen: der Verleger Hitzig als lebenspraktische personale Identität, als Vernunftsubjekt im Umgang mit dem ästhetischen Bewusstsein eines Heinrich von Kleist. Der äußerst knappe und frostige Brief diente Kleist geradezu als Mittel der Distanzierung. Eine direkte Auseinandersetzung – man befand sich ja, wie Helmut Sembdner aufzeigt nur wenige Straßen voneinander entfernt34 – wurde von Kleist bewusst vermieden.35 33 Neuster Briefsteller, enthaltend eine Anleitung zum Brief-, Schön- und Rechtschreiben. 4. Aufl. München 1836, S. 4. 34 Sembdner: Assessor Hitzig, Kriegsrat Peguilhen und Heinrich von Kleist (wie Anm. 22), [unpaginiert]. 35 Um die Schwierigkeiten zwischen Kleist und Hitzig wissend und die Beziehung zu Kleist ebenfalls als störungsanfällig empfindend, hatte Fouqué bei der Beitragseinwerbung für die von ihm und Hitzig gemeinschaftlich zwischen 1811 und 1814 herausgegebene Zeitschrift Die Jahreszeiten. Eine Vierteljahresschrift für romantische Dichtungen entsprechend zaghaft Kleist als Beiträger ins Spiel gebracht: »Noch eine Frage: Heinrich von Kleist kommt vermutlich in diesen Tagen her. Soll ich den um Beiträge angehn? Freilich ist das Verhältniß mit ihm immer ein leicht störbares. Entscheide Du, ob es gewagt

155

Verlegerbriefe

Ob Hitzig auf die Mitteilung Kleists geantwortet hat, ist unbekannt. Seine eigenhändige Notiz »zu verabfolgen. Hitzig« auf dem Briefbogen selber lässt aber darauf schließen, dass er der Aufforderung Kleists, dem Kriegsrat Peguilhen ein Exemplar der Abendblätter zukommen zu lassen, entsprochen hat. Dass Kleist sich all jener angemessenen Formen des Brief- und Billetabfassens leichtfüßig zu bedienen wusste, beweisen seine formvollendeten Briefe und Nachrichten an seine anderen Verleger. Vergleicht man das Billet an Hitzig mit den ebenso kurzen Mitteilungen Kleists an den Verleger eines Großteils seiner Werke, Georg Andreas Reimer36 – hier haben sich 19 Billets und Briefe erhalten –, dann wird deutlich, dass die Unhöflichkeit nicht in der Kürze der Nachricht zu suchen ist. Vielmehr liegt die Brüskierung in der fehlenden Anrede und im Tonfall. In den Billets an Reimer flicht Kleist regelmäßig die Formulierungen »mein lieber Freund« (13.8. 1810), »liebster Reimer« (16.8.1810) oder »mein lieber Freund Reimer« (4.9. 1810) in den Satzfluss ein.37 Die Briefetikette durchbrach Kleist Hitzig gegenüber bewusst. Diese Durchbrechung kann als Teil sozialer Identitätsbildung gelesen werden. Der Wechsel, der sich im 18. Jahrhundert von bis ins Detail reglementierten rhetorischen Brieffiguren hin zu einer freien, unbändigen Subjektivität vollzog, war Ausdruck von bürgerlichen Individualitätsansprüchen,38 die sich eben auch in diesem kleinen Schreiben Kleists in der rückhaltlosen lapidaren Nachrichten- und Meinungsübermittlung erkennen lassen.

V. Schlussbemerkung Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die »persönliche Selbstdarstellung und Kommunikation wie sie Freundschafts- und Liebesbriefe« romantischer Zusammenhänge kennzeichnete, in den Passagen der Briefe, die die sein soll.« Friedrich de la Motte-Fouqué an Julius Eduard Hitzig, 25.4.1811, Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 6527, Nr. 19. 36 Zum Verhältnis Heinrich von Kleist und Georg Andreas Reimer vgl. Doris Reimer: Georg Andreas Reimer als Verleger von Kleists Werken. In: Brandenburger Kleist-Blätter 8 (1995), S. 51–85. Zum Verhältnis zum Verleger Johann Daniel Sander vgl. Dirk Sangmeister: Heinrich von Kleists verhinderter Verleger. Der angeblich verrückte Johann Daniel Sander und der Salon seiner schönen Frau Sophie. In: Monika Estermann, Ernst Fischer, Ute Schneider (Hg.): Buch-Kulturen. Festschrift für Reinhard Wittmann. Wiesbaden 2005, S. 321–354. 37 Die Anreden in den Briefen Kleists an seine Verleger Johann Friedrich Cotta und Georg Moritz sind hingegen alle förmlich. Vgl. Sangmeister: Heinrich von Kleists verhinderter Verleger (wie Anm. 36), S. 321–354, hier S. 351. 38 Vgl. Olaf Briese: Auf Leben und Tod. Brief als Gegenwelt. In: Briefkultur im Vormärz. Hg. von Bernd Füllner. Bielefeld 2001, S. 19–39, hier S. 26.

156

Anna Busch

geschäftlichen Zusammenhänge betrafen, hinter den alltäglichen praktischen Informationsaustausch zurücktraten. Der Brief als Instrument der Arbeits- und Geschäftswelt beförderte das Anschwellen der pragmatischen Briefkommunikation. Durch die Bindung an alltägliche Kommunikationszusammenhänge war allerdings die für die Zeit um 1800 typische Individualisierung nicht grundsätzlich aufgehoben. Die Verlagsbriefe Hitzigs, die sich erhalten haben und die sich am ehesten als Geschäftskorrespondenz identifizieren lassen, sowie das missgestimmte Billet Kleists machen dies deutlich. Als Autor individualisiert Kleist die deutsche Sprache in erster Linie in der Wortwahl und den Formulierungen. Das Schriftbild, die Gestaltung von Lücken und orthographischen Zeichen, die Entscheidungen über Papiersorte und -format, Tintenfarbe, Faltung oder Schriftverteilung spiegeln zudem das Selbstverständnis des Verfassers und seine Beziehung zum jeweiligen Empfänger wider. Der Brief wird zum individuellen, einem spezifischen Empfänger zugedachten Objekt – ein Faktum, das auch für Geschäftsbriefe gilt. Das Detail, und dabei auch die Materialität der Mitteilung, werden zum Inhaltsträger. Tatsächlich verbindet sich die Materialität mit dem Briefinhalt, sie bedingen oder unterstützen sich gegenseitig und bestimmen dabei die Mitteilung entscheidend mit.

Ingo Breuer

Reisebriefe und Gartenkünste Vorüberlegungen zu Heinrich von Kleists »Ideenmagazin«

Am 18. November 1800 schließt Heinrich von Kleist seinen Brief an Wilhelmine von Zenge mit den folgenden Zeilen: Und nun lebe wohl. – Doch ich wollte Dir ja noch einen andern Grund sagen, warum es gut wäre, Deine eigenen Gedanken aufzuschreiben. Er ist dieser. Du weißt daß ich mich jetzt für das schriftstellerische Fach bilde. Ich selbst habe mir schon ein kleines Ideenmagazin angelegt, das ich Dir wohl einmal mittheilen u Deiner Beurtheilung unterwerfen mögte. Ich vergrößere es täglich. Wenn Du auch einen kleinen Beitrag dazu liefertest, so könntest Du den Stolz haben, zu einem künftigen Erwerb auch etwas beizutragen. – Verstehst Du mich? – – (DKV IV, 164)

Der eine Gedankenstrich vor der Frage »Verstehst Du mich?« und die beiden danach können geradezu als Prophezeiung gelten, denn die Frage nach der Bedeutung des Begriffs »Ideenmagazin« und der Möglichkeit eines daraus resultierenden ›Erwerbs‹ sind bis heute nicht ganz geklärt – anders als dies damals bei der Adressatin der Fall gewesen sein dürfte. Eine Erläuterung findet sich an einer früheren Stelle desselben Briefs: Der Sturm reißt den Baum um, aber nicht das Veilchen, der leiseste Abendwind bewegt das Veilchen, aber nicht den Baum. – Womit hat das eine vortreffliche Ähnlichkeit? Solche u ähnliche Fragen wirf Dir, mein liebes Minchen, selbst recht oft auf u suche sie dann zu beantworten. An Stoff zu solchen Fragen kann es Dir niemals fehlen, wenn Du nur recht aufmerksam bist auf Alles, was Dich umgiebt. [...] Kannst Du die Frage nicht gleich beantworten, so glaube nicht, daß die Antwort unmöglich sei [...] Wenn Dir aber die Antwort gelingt, so zeichne den ganzen Gedanken gleich auf, in einem dazu bestimmten Hefte. (DKV IV, 161)

Mit diesem Versuch, zu Phänomenen der physischen Welt Analogien in der moralischen Welt zu finden, befindet sich Kleist u.a. in einer Tradition

158

Ingo Breuer

mit seinem Lehrer Christian Ernst Wünsch und seinen Kosmologischen Unterhaltungen für junge Freunde der Naturerkenntniß, die auch eine wichtige Basis für seine Unterhaltungen mit Wilhelmine von Zenge darstellten. Doch mit diesem Bezug auf die (spät-)aufkläerische Popularphilosophie bleiben die Herkunft und ursprünglichen Kontexte des Begriffs »Ideenmagazin« letztlich im Dunkeln – und damit auch mögliche weitere Implikationen. Die Münchener Ausgabe von 2011 kommentiert den Begriff »Ideenmagazin« überhaupt nicht; in der Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlags heißt es knapp: »Der Begriff war um 1800 nicht ungewöhnlich. – Die Existenz des (verlorengegangenen) ›Ideenmagazins‹ mag die auffälligen Wiederaufnahmen von Bildern und Redewendungen in Kleists Briefen erklären« (DKV IV, 695). Hiermit ist eine der unbestrittenen Gewissheiten der Kleist-Forschung auf den Punkt gebracht: die rhetorische Basis dieses Begriffs – als Synonym für eine Sammlung von Topoi, die dem angehenden Schriftsteller Kleist die inventio erleichtern sollte.1 Eine schöne Evidenz erhält dies durch eine Internetseite des Kunst-Projekts »epram« mit dem Titel »Ideenmagazin«, in dem Parallelstellen übersichtlich aufgelistet und zitiert werden.2 Allerdings beweist die dortige (im übrigen überaus hilfreiche) Übersicht eher das Gegenteil dessen, was intendiert gewesen zu sein scheint: Eine Übertragung dessen, was als vermeintliches »Ideenmagazin« in den Briefen fassbar ist, in literarische Werke findet nur in einem vernachlässigbaren Umfang statt3 – bei den Beispielen handelt es sich großteils um Mehrfachverwertungen von bestimmten Formulierungen

1

2 3

Vgl. die einschlägigen größeren Kleist-Biographien, die sich grundsätzlich bisher am breitesten dem Briefwerk gewidmet haben. Zum Ideenmagazin vgl. Jens Bisky; Kleist. Eine Biographie. Berlin 2007, S. 98–105; Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt a.M. 2011, S. 132; Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie. München 2007, S. 220–223. Ebenso Ingo Breuer: Bildlichkeit und Metaphorik. In: Ders. (Hg.): Kleist-Handbuch: Epoche, Werk, Wirkung. Stuttgart, Weimar 2009, S. 291–295, hier S. 291. URL: http://epram.org/ideengaenge/ideenmagazin.htm (2.6.2012). Bei diesem Kunstprojekt geht es allerdings stärker um die Variationen und Innovationen, die sich um die sich wiederholenden ›Textbausteine‹ herum anlagern. Zum Beispiel findet sich das berühmte Beispiel des Würzburger Torbogens aus dem Brief an Wilhelmine von Zenge später in Penthesilea wieder, in der Prothoe zur Protagonistin spricht: »Erhebe dich! | Du wirst in diesem Augenblick nicht sinken. | Oft, wenn im Menschen Alles untergeht, | So hält ihn dies: wie das Gewölbe steht, | Weil seiner Blöcke jeder stürzen will.« (DKV II, 50, Vs. 1146–1150) und »Und wenn der ganze Orkus auf dich drückte! | Steh, stehe fest, wie das Gewölbe steht, | Weil seiner Blöcke jeder stürzen will!« (DKV II, 191, Vs. 1347). Die genannte Webseite von »epram« listet zudem einige Parallelen von Briefstellen vor allem zur Familie Schroffenstein und zum Käthchen von Heilbronn auf.

Reisebriefe und Gartenkünste

159

oder Gedankenfiguren (von nicht in allen Fällen großer Originalität) in Briefen an unterschiedliche Adressaten. Dass der Begriff nicht ungewöhnlich sei, hatte bereits 1934 Paul Hoffmann in einer kleinen wortgeschichtlichen Studie darlegen wollen, aber zugleich beiläufig festgestellt, dass man »Ideenmagazin« leider »in den Wörterbüchern von Adelung, Grimm, Weigand, Sanders, Heyne, Kluge, Heyse, Kehrein u.a. vergeblich sucht«.4 Man kann ergänzen: Er findet sich ebenso wenig in Zedlers Universallexikon wie in Krünitz’ Ökonomischer Enzyklopädie, also den beiden großen Enzyklopädien aus der Mitte bzw. vom Ende des 18. Jahrhunderts. Die meisten Beispiele, die Hoffmann anführt, stammen aus den Jahren 1804, 1806, 1809, 1843 und 1859, sind also nach Kleists erster Erwähnung dieses Begriffs datiert. Die Beispiele aus früheren Zeiten, bei denen Hoffmann Synonyme vermutet, also Jean Pauls ›Zettelkasten‹ und Herders Vorstellung der Schöpfung als ›Vorrathshaus von Gottes Gedanken‹,5 entfernen sich allzu sehr von Kleists Begriff. Dabei finden sich durchaus Verwendungen des Begriffs »Ideenmagazin« vor Kleists erster Erwähnung, wenn auch fast nie im selben Wortsinn. Interessant könnte ein (mir bisher nicht einsehbares) 1799 oder 1800 anonym erschienenes Ideenmagazin für Maler, Zeichner, Bildhauer, und Kupferstecher, besonders für Zeichner-Dilettanten sein.6 In einem anderen Wortsinn als bei Kleist findet sich der Begriff zumindest zwei Mal, so in einer Bemerkung Friedrich Schleiermachers in seinem Traktat über die Religion, und zwar in einer Passage, in der es u.a. um die Vermittlung religiöser Vorstellungen geht: Was durch Kunst und fremde Tätigkeit in einem Menschen gewirkt werden kann, ist nur dieses, daß Ihr ihm Eure Vorstellungen mitteilt, und ihn zu einem Magazin Eurer Ideen macht, daß Ihr sie so weit an die seinigen verflechtet bis er sich ihrer erinnert zu gelegener Zeit: aber nie könnt Ihr bewirken, daß er die welche Ihr wollt, aus sich hervorbringe. […] Aus dem Innersten seiner Organisation aber muß alles hervorgehen was zum wahren Leben des Menschen gehören und ein immer reger und wirksamer Trieb in ihm sein soll. Und von dieser Art ist die Religion […].7

4 5 6

7

Paul Hoffmann: Ideenmagazin. Eine wortgeschichtliche Studie. In: Ders.: Kleist-Arbeiten 1899–1943. 2. durchges. Auflage. Heilbronn 2010, S. 713–716, hier S. 715. Ebd., 714f. Vgl. ebd., S. 715, dort mit dem Erscheinungsjahr 1799, das sich auch in weiteren Quellen findet. Nach den Angaben im Intelligenzblatt der Zeitung für die Jugend vom 28.2.1807 ist der Band 1800 erschienen [S. 4]. Dieser Band, der leider nicht eingesehen werden konnte, enthält laut Untertitel »32 verschiedene, theils schwarz abgedruckte, theils kolorierte, Gegenstände, nach Oeser, Reinhard, und Anderen«. Friedrich Schleiermacher: Über Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [1799]. Hamburg 1958. S. 77 (meine Hervorhebung). An einer späteren Stelle spricht er vom »Magazin der Geschichte« (ebd., S. 171).

160

Ingo Breuer

Wilhelmine von Zenge spielt nicht so sehr eine Rolle als ›Lagerstätte‹ von Kleists Ideen, sondern ist selbst Co-Produzentin von Ideen; zudem dient dieses Beispiel bei Schleiermacher nur beiläufig dazu, die Glaubensfrage umso deutlicher mit der reinen Wissensvermittlung zu kontrastieren. Während sich Schleiermacher offenbar eine unscharfe Formulierung bei dem auch als Zeitschriftentitel um 1800 sehr geläufigen Magazin-Begriff leisten kann, weckt Kleists Begriffsverwendung den starken Eindruck, als ob er ohne jeden Zweifel voraussetzen könne, dass die Empfängerin des Briefs ihn problemlos verstehe, da er beiden vertraut zu sein scheint. Das zweite Beispiel findet sich bereits 1797 in Christian August Struves Miscellaneen für Freunde der Heilkunde: Das Gedächtnis muß nothwendig von der ersten Erziehung an geübt werden. Ohne gesammelte und aufbewahrte Begriffe lässt sich kein Fortgang der Bildung denken. – Die Seele muß ein Ideenmagazin haben; und wohl dem, der ein recht angefülltes Vorrathshaus hat.8

Struve verwendet den Begriff also beinahe als Synonym für das menschliche Gedächtnis, speziell für »Begriffe«, d.h. verstandesmäßig erfasste Vorstellungen (im Gegensatz z.B. zu dunklen Vorstellungen und bloßen Gedächtnisbildern). Es handelt sich somit – anders als bei Kleist – nicht um ein materielles Produkt. Diese Spuren führen nicht weiter, außer was die Datierung betrifft, denn all diese Funde stammen aus der Zeit nach 1796.

*** Paul Hoffmann hatte bereits zehn Jahre vor dem Erscheinen seines Artikels zum »Ideenmagazin« in seiner Studie zu Kleist in Paris vermutet, dass die Anregung zu diesem Begriff von Wieland stamme, der 1800 in seiner Zeitschrift Merkur das Ideen=Magazin für Liebhaber von Gärten des außerordentlichen Leipziger Professors für Ästhetik, Kunstgeschichte und antike Literatur Johann Gottfried Grohmann angekündigt habe.9 Wie nahe 8

9

Christian August Struve: Miscellaneen für Freunde der Heilkunde. Zweiter Band. Breslau u.a. 1797, S. 76 (meine Hervorhebung). Eine Ausweitung dieses mnemotechnischen Gedächtnisbegriffs findet sich bei Karl Julius Weber: Demokritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen. 9. Band. Stuttgart 1839, S. 323: »An Sammelgeist übertrifft uns gewiß keine Nation, und wir sind das Gedächtniß von Europa, das weite Ideenmagazin, das andere Nationen benützen; England ist der Verstand und der Mittelpunkt des Lichts, Frankreich der Witz.« Paul Hoffmann: Kleist in Paris. Berlin 1924. S. 82. Dessen Erkenntnisse sind für die Kleist-Forschung offenbar bisher nur bruchstückhaft fruchtbar gemacht worden; vgl. dazu auch Klaus Müller-Salget: Kleine Funde im Nachlass Paul Hoffmanns. In: KleistJahrbuch 2003, S. 307–314. Entsprechend verdienstvoll ist die von Günter Emig u.a. her-

Reisebriefe und Gartenkünste

161

er damit der Wahrheit gewesen ist und welche Bedeutung dieses Faktum hatte, blieb ihm durch die Fokussierung auf Wieland unklar. Denn der entscheidende Hinweis ist der auf Grohmann. Dessen Ideenmagazin war um 1800 überaus bekannt.10 Es finden sich bis zu Kleists erster Erwähnung diverse Rezensionen von Grohmanns Buch, z.B. 1796 von Johann Wilhelm von Archenholtz in seiner weithin rezipierten Zeitschrift Minerva11 und allein acht zwischen 1797 und 1800 in der berühmten Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek12 – und auch die oben genannten Beispiele für die Verwendung dieses Begriffes bei Schleiermacher, Struve usw. stammen ausnahmslos aus der Zeit nach Grohmanns Erstveröffentlichung. Tatsächlich erlebte dieses Periodicum, das von 1796 bis 1806 erschien,13 ungezählte Auflagen. Außerdem wurde aufgrund des immensen Erfolgs ab 1799 parallel ein Kleines Ideen-Magazin für Gartenliebhaber zu einem deutlich geringeren Preis publiziert, das laut Untitel vor allem gedacht ist »für solche Liebhaber […], die ohne großen Kostenaufwand etwas Geschmackvolles und Neues in ihren Gärten zu besitzen wünschen« (wobei zu erinnern ist, dass Kleist auch stets von seinem ›kleinen Ideenmagazin‹ spricht. Es handelt sich um periodisch erscheinende Hefte mit Abbildungen zur Gestaltung von Gartenanlagen, die in deutscher und französischer Sprache kurz beschrieben und kommentiert werden. Bei den Abbildungen handelt es sich um das gesamte Spektrum von Elementen zur Ausstattung von

10

11 12

13

ausgegebene Sammlung seiner »Kleist-Arbeiten« (wie Anm. 1). An diesen Fund Hoffmanns erinnerte recht beiläufig Hans-Dieter Fronz: Verfehlte und erfüllte Natur. Variationen über ein Thema im Werk Heinrich von Kleist. Würzburg 2000, S. 35, Anm. 16. Vollständiger Titel der jeweils zweisprachigen Publikation mit doppeltem Titelblatt und nicht ganz identischen Titeln, darum hier zweisprachig aufgeführt: Ideenmagazin für Liebhaber von Gärten, Englischen Anlagen und für Besitzer von Landgütern um Gärten und ländliche Gegenden, sowohl mit geringem als auch großem Geldaufwand nach den originellen Englischen, Gothischen, Sinesischen Geschmacksmanieren zu verschönern und zu veredeln. Hg. unter der Aufsicht von Johann Gottfried Grohmann, Professor der Philosophie in Leipzig[,] und Dr. Friedrich Gotthelf Baumgärtner. Erster Band, dritte Auflage. Leipzig [o.J.]. Das zweite Titelblatt lautet: »Recueil D’Idéees Nouvelles pour la Decoration des Jardins et des Parcs dans le gout Anglois, Goethique, Chinois etc. Offertes aux Amateurs des Jardins Anglois et aux Proprietaires jaloux d’orner leurs possessions […].« Johann Wilhelm von Archenholz: Rez. J. G. Grohmann: Ideenmagazin für Liebhaber von Gärten. Bd. 1. Leipzig: Baumgärtner 1796. In: Minerva 1796, 2. Bd., S. 375f. Unterschiedliche Auflagen werden besprochen in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek: zwei Rezensionen erscheinen 1797 (29. Bd., 1.St., S. 238–240 und 31. Bd., 2.St., S. 439–441), zwei 1798 (35. Bd., 1. St., S. 30f. und 39. Bd., 2. St., S. 326–328), drei 1799 (43. Bd., 1. St., S. 81–83; 46. Bd., 2. St., S. 327–329 und 48. Bd., 1. St., S. 57f.) und eine 1800 (55. Bd., 2. St., S. 300–302). Hoffmann schreibt »seit 1779«, was nicht stimmen kann, da Grohmann zu dieser Zeit erst 15 Jahre alt war. Es handelt sich wohl um einen ›Zahlendreher‹.

162

Ingo Breuer

Gartenanlagen – der Untertitel des Kleinen Ideen-Magazins nennt allein in seiner »Sammlung von Ideen, die mit wenig Kosten auszuführen sind« folgende Beispiele: »Kleine Lust- und Gartenhäuser, Tempel, Einsiedeleyen, Hütten, Brücken, Gartensitze, Ruinen, Portale, Monumente, Prachtkegel, Winzerwohnungen, Weinberghäuschen, Vermachungen, Ha Ha’s, Volieren, Thüren, Stühle, Gondeln, Bänke, Pavillon, Brunnen, Verzierungen u.s.w.«. Im ›großen‹ Ideenmagazin finden sich zudem u.a. noch Pagoden, Teehäuser, Mühlen, Villen, Grotten und Wasserfälle. Häufig haben die Abbildungen konkrete Vorbilder in der Gartenarchitektur in England, manchmal stammen sie aus anderen Quellen, so dass hier eine Art von (wenn auch unsystematischer) Enzyklopädie der Garten- und Landschaftsarchitektur vorliegt. Vor dem 18. November 1800, als Kleist den Begriff »Ideenmagazin« nachweislich zum ersten Mal benutzte, ist dieser Komposit-Begriff – aufgrund des durchschlagenden Erfolgs von Grohmanns Publikationsprojekt – zunächst im Bereich der Gartenkunst geläufig und wird in anderen Bereichen erst nach der Erstveröffentlichung des Ideenmagazins für Liebhaber der Gärten nachweisbar – dann finden sich aber zahlreiche Belege. Auch Jean Paul benutzt den Begriff »Ideenmagazin« in direkter Verbindung mit der Gartenkunst: in Katzenbergers Badereise von 1809 (womit dieses Werk als Quelle Kleists entfällt) und in Hesperus oder 45 Hundsposttage – noch nicht in der ersten Auflage von 1795 (also zwei Jahre vor Grohmanns Buch), wohl aber in der dritten von 1819, in der es heißt: »Als der Pfarrer unsern Viktor im Garten herumzerrete, hätte der Gast beinahe vergessen, das Ideenmagazin im Garten zu loben […]«.14 Hier ist offenbar bereits der Punkt erreicht, dass die sicher nicht selten unqualifizierte bzw. geschmacklose oder nur protzige Umsetzung von Grohmanns Ideen bereits lächerliche Züge annehmen konnte – jedenfalls findet sich hier eine ironische Begriffsverwendung mit deutlicher Anspielung auf die berühmten Gartenbücher. Im vorliegenden Zusammenhang kann nicht geklärt werden, inwieweit Grohmanns Begriff wiederum von Johann Georg Sulzer inspiriert ist,15 der in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste den Begriff »Magazin« drei Male benutzte, davon einmal im ursprünglichen Sinn von Lagerhaus und zwei Mal unter dem Lemma »Natur. (Schöne Künste)«: »Als würkende Ur14 Jean Paul: Hesperus oder 45 Hundsposttage. In: Ders.: Werke. Hg. von Norbert Miller u. Gustav Lohmann. 6 Bände. München 1959–1963, Bd. 1, S. 568. Die zweite, verbesserte und vermehrte Auflage Berlin 1798 war nicht greifbar; es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Begriff dort bereits fällt. 15 Ebenso wenig lässt sich hier klären, inwieweit andere Verwendungen des Magazin-Begriffs für den vorliegenden Zusammenhang relevant sein könnten, z.B. Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Seelenerfahrungskunde oder die vielen Zeitungen mit dem Wortbestandteil »Magazin«.

Reisebriefe und Gartenkünste

163

sache betrachtet, ist die Natur die Führerin und Lehrerin des Künstlers; als Würkung ist sie das allgemeine Magazin, woraus er die Gegenstände hernimmt, die er zu seinen Absichten braucht.«16 Da – wie Jutta Heinz feststellte – »dieses Magazin jedoch offensichtlich ein ziemlicher Gemischtwarenladen ist, läßt Sulzer dem Künstler noch ein Hintertürchen offen«: die Möglichkeit einer Idealisierung der Natur oder einer naturgemäßen Erfindung im Rahmen einer anthropologischen Ästhetik.17 Grohmanns Ideenmagazin dürfte hingegen nicht nur, wie intendiert, den bewussteren Umgang mit gartenkünstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten gefördert haben, sondern nicht selten auch die Bizzarerien mancher Landschaftsgärtner und Parkbesitzer. So ist ein darin abgebildeter Stich mit dem Titel »Die verschönerte Natur« (siehe Abbildung S. 164) folgendermaßen erläutert: Wir liefern hier eine Landschaft, nicht bloß um eine Landschaft zu liefern […], sondern vorzüglich in der Absicht, verschiedene zur Verschönerung von Gartenpartien anwendbare Gegenstände in einem angenehmen Ganzen nebeneinander zu stellen. Diese Landschaft stellt ein Landgebäude im Gothischen Stil, ein heroisches Grabmahl, und einen Gartenpavillon nebst einer Brücke in Sinesischer Manier dar, die einzeln leicht anzuwenden sind.18

Eine solche explizite Anwendung des Begriffs »Ideenmagazin« auf den Gartenbau wie z.B. bei Jean Paul, die eine direkte Verbindung zu Grohmanns Werk nahelegt, findet sich bei Kleist zwar nicht, doch benutzt er den Begriff »Ideenmagazin« zu einem außerordentlich frühen Zeitpunkt der Begriffsgeschichte, als er gerade durch Grohmanns Buchreihe zur Gartenkultur populär geworden war und dann zunehmend auch auf andere Bereiche – so auch den rhetorischen – übertragen wurde. Dies lässt eine gewisse Vertrautheit mit Grohmanns Buch wahrscheinlich erscheinen, auch wenn sie bisher nicht philologisch nachweisbar ist. Nachweisbar ist jedoch eine breite Rezeption des Buchs und des Begriffs bei den von Kleist stark rezipierten Autoren Wieland und Jean Paul. Und nachweisbar ist vor allem eine große Vertrautheit Kleists mit gartenkulturellen Fragen 16 Johann George Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. 2 Bände. Leipzig 1771–74, Bd. II, S. 809. Kurz darauf heißt es ähnlich: » Wir müssen nun auch die Natur als das allgemeine Magazin betrachten, in welchem der Künstler den Stoff zu seinem Werk, oder doch etwas findet, nach dessen Aehnlichkeit er sich selbst seine Materie bildet« (S. 811). 17 Jutta Heinz: »Ein Park, der blosse einfache Natur ist« Zu einigen Parallelen von Gartenkunst und Romantheorie im 18. Jahrhundert. In: Günter Oesterle u. Harald Tausch (Hg.): Der imaginierte Garten. Göttingen 2001. S. 253–270, hier S. 256f. 18 »Die verschönerte Natur« aus Johann Gottfried Grohmann: Ideenmagazin für Liebhaber von Gärten. Bd. 1, Dritte Auflage, Leipzig [o.J.], Heft 4, Bildtafel I [unpag., Abbildung S. 3r, Bilderläuterung S. 1r].

164

Ingo Breuer

und in den Briefen eine z.T. klischeehafte Idealisierung der Natur nach dem Muster der gerade populären Landschaftsmalerei.

Bereits in seinem ersten überlieferten Brief, den an seine Tante von Massow, nehmen Landschaftsdarstellungen einen breiten Raum ein; besonders in seinen vergleichsweise zahlreich erhaltenen Reisebriefen aus den Jahren 1801 bis 1803 werden landschaftliche Phänomene sehr ausführlich thematisiert – und dies gilt ebenso für die von ihm besuchten Gärten, bei denen er durchaus gartentheoretische Kenntnisse zeigt. Dies beginnt bei der zeittypischen Bevorzugung des englischen Landschaftsparks gegenüber den geometrisch angelegten französischen Gärten, die er in seinen Reisebriefen entweder nicht beschreibt oder recht kurz abfertigt: In seinem Würzburger Brief vom 14. September 1800 an Wilhelmine von Zenge schreibt er beispielsweise: »Ein elender französischer Garten, der Huttensche, heißt hier ein Recreationsort. Man ist aber hier so still und fromm, wie auf einem Kirchhofe« (DKV IV, 121), worauf eine Polemik gegen den Katholizismus folgt, aber keine weitere Erörterung zu diesem Garten. Über einen seiner zahlreichen Besuche in Dresden, das über eine weitläufige Gartenanlage im französischen Stil verfügte, schreibt er lediglich: »Auf dem Zwinger (dem kurfürstl. Garten) findet man Pracht, aber ohne Geschmack« (DKV IV, 99). Auch noch im Michael Kohlhaas gilt seine Gartenbeschreibung im Dresden-Kapitel einer anderen Parkanlage:

Reisebriefe und Gartenkünste

165

Die Frau, indem sie uns flüchtig von Kopf zu Fuß maß, sagte: das Zeichen würde sein, daß uns der große, gehörnte Rehbock, den der Sohn des Gärtners im Park erzog, auf dem Markt, worauf wir uns befanden, bevor wir ihn noch verlassen, entgegenkommen würde. Nun mußt du wissen, daß dieser, für die Dresdner Küche bestimmte Rehbock, in einem mit Latten hoch verzäunten Verschlage, den die Eichen des Parks beschatteten, hinter Schloß und Riegel aufbewahrt ward, dergestalt, daß, da überdies anderen kleineren Wildes und Geflügels wegen, der Park überhaupt und obenein der Garten, der zu ihm führte, in sorgfältigem Beschluß gehalten ward […]. (DKV III, 128)

Beschrieben wird ein solcher Park – allerdings in Desden und nicht in Jüterbog, wo die Szene spielt – in den berühmten Wanderungen und Kreuzzügen durch einen Theil Deutschlands von Andreas Georg Friedrich Rebmann: Von den öffentlichen […] Promenaden, berühre ich nur noch den großen Garten, wo sich wöchentlich einmal ein Theil der schönen Welt Dresdens versammelt. Dieser grosse Garten könnte leicht für diese Residenz das werden, was der Thiergarten für Berlin ist […]. Die schönen Parthien sind verschlossen, und zum Aufenthalt der Fasanen bestimmt. Diese, nebst den vielen Rehen und Haasen, machen den Park noch lebendig […].19

Eine Reflexion über die Parkanlage findet sich also weder in den Briefen noch im Kohlhaas, im letzten eine analoge Beschreibung, und diese »Promenade« war Kleist sicher vertraut; denn auch wenn offenbar fast alle Dresdner Gartenanlagen im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stark an Popularität verloren hatten, verfügte dieser Park noch über eine gewisse Anziehungskraft.20 Überhaupt zeigt Kleist immerhin so viel Interesse am Tierpark (sicherlich hat er schon früher den Berliner Tiergarten besucht, von dem Rebmann berichtete), dass sich Erwähnungen sowohl in der Penthesilea, wo die Protagonistin einen »Hirsch […] mit Pfeilen in den Park« lockt (DKV II, 251), als auch in der Herrmannsschlacht finden – dort lässt Childerich »die Bärin in den Park und schließt ab« (DKV II, 541). Es handelt sich also entweder um einen Tierpark zur Befriedigung pittoresker Bedürfnisse (bzw. zur ›Belebung‹ der inszenierten Wildnis) oder um eine abgezäunte Parkanlage, wie sie von hohen Adligen gern zur Jagd benutzt wurde (und für die Jagenden die Bequemlichkeit hatte, dass das dort eingesperrte Wild nicht flüchten konnte). 19 Andreas Georg Friedrich Rebmann: Wanderungen und Kreuzzüge durch einen Theil Deutschlands. Altona 1795, S. 156f. 20 Vgl. Dresden im Profil. Ein Buch zur Ansicht für Jedermann. O.O. (»Cairo bei Philipp Bonaparte«) 1803, S. 28: »Unsere Gärten sind in einer Periode des Verfalls«; und letztlich bleibe dem Dresdner »nichts übrig, als der ehemalige Reisewitzsche und der große Garten, welcher letztere auch nicht mehr so häufig besucht wird«.

166

Ingo Breuer

Die zu Kleists Zeit noch weit verbreiteten Gärten im französischen Stil fanden – wie gesagt – nicht sein Interesse. Kleist besuchte Paris mit dem nahen Versailles, ohne dass wir über entsprechende Beschreibungen des königlichen Palasts und deren Gärten verfügen – nicht einmal von den königlichen Gärten im heimatlichen Potsdam. »Ein Garten im alt-französischen Styl« findet sich später lediglich – als historisch korrekt dargestellter Bestandteil der Schloss-Topographie des 17. Jahrhunderts – in der Szenenanweisung zum ersten Akt von Prinz Friedrich von Homburg: »Szene: Fehrbellin. Ein Garten im alt-französischen Styl. Im Hintergrunde ein Schloß, von welchem eine Rampe herabführt. – Es ist Nacht.« (DKV II, 557).21 Nur angemerkt sei, dass – anders als im Käthchen von Heilbronn – selbst die Rampe in Prinz Friedrich von Homburg, die vom Schloss in den jenen Garten »im alt-französischen Styl« führt, ein gartenkünstlerisches Element darstellt, auch wenn z.B. Zedlers Universallexikon (und später Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart) den Begriff ›Rampe‹ (unter dem Lemma ›Appareille, chemin talusse, Rampe‹) noch allein in seiner militärischen Funktion als »Wall=Lauff« kennt, also als »ein schräger Weg, oder Gang, welcher zur Aufführung des groben Geschützes, und bey dem Allarm zum Aufflauffen derer Soldaten« diene.22 In der Neubearbeitung von Pierre Richelets Dictionnaire de la Langue Françoise von 1759 werden zumindest für das Französische zwei Bedeutungen gegeben: erstens die Balustrade oder das Geländer an einer Treppe, zweitens: »Il se dit aussi d’un plan incliné qui tient lieu d’escalier dans les jardin, & par lequel on monte & on décend sans dégres. [ ] On décend dans ce jardin par une rampe donce, la pente de cette rampe est douce & insensible«.23 Interessanterweise findet sich dort zudem als dritte Bedeutung für das Lemma »Sphinx« ein Spezialbegriff von Bildhauern: »un ouvrage de sculpture pour orner des rampes de terrasse dans des jardin«,24 so dass Kleist hier die gar21 Im Zerbrochnen Krug wird ein Garten zwar häufig angesprochen, aber nicht genau beschrieben; im Käthchen von Heilbronn findet sich dagegen ein Garten mit einer mehrfach erwähnten »Grotte, im gotischen Styl« (DKV II, 412), die keineswegs der dargestellten historischen Epoche entspricht, sondern erst später – in den italienischen Renaissancegärten und dann besonders in den Landschaftsgärten des späten 18. Jahrhunderts – beliebt wurde. Möglicherweise handelt es sich hier um eine Art von hortikulturellem ›Mittelalterphantasma‹ (Jan-Dirk Müller). Auch in der Penthesilea ist, wenn auch nur beiläufig, von einer »krystallne[n] Grotte« die Rede (DKV II, 101 bzw. 249), ebenso findet sich eine Grotte in der Familie Schroffenstein (DKV I, 102 bzw. 213). 22 Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon Aller Wissenschaften und Künste. Bd. 2: An–Az. Halle u. Leizzig 1732, Sp. 941. 23 Pierre Richelet: Dictionnaire de la Langue Françoise, Ancienne et Moderne. Nouvelle Edition. Bd. 3: P–Z. Lyon 1759, S. 349. 24 Ebd., S. 636.

Reisebriefe und Gartenkünste

167

tentechnische Wortbedeutung des Französischen aufgreift, die wohl erst kurz zuvor in die deutsche Sprache übernommen worden ist. Die Sache selbst dürfte v.a. dem Garten im französischen Geschmack zuzurechnen sein, wobei Kleist für seine Stücke weitestgehend frühneuzeitliche mit französischen Gärten identifiziert und diese als historische Szenerie benutzt, aber auf seinen Reisen als kaum beschreibungswürdig erachtet. Völlig anders stellt sich die Lage bei englischen Gärten dar. Am 16. August 1800 beschreibt er seiner Verlobten »das wirklich romantische Steinhöffel«, den »erste[n] preußische[n] Park im englischen Stil«, der zum Muster englischen Landschafts- und Gartenbaus in Preußen wurde.25 Hier scheine »gleichsam jeder Baum, jeder Zweig, ja selbst jedes Blatt nach einer entworfenen Idee der Schönheit gepflanzt, gebogen und geordnet« (DKV IV, 69). Die englische Parkanlage als Simulation ›wilder‹ Natur steht allerdings um 1800 schon nicht mehr in radikaler Opposition zum Französischen Garten, was sich in Kleists Brief an Wilhelmine von Zenge vom 21. August 1800 ablesen lässt: Wir giengen, Brokes u ich, nach Augustenhain. Ein ordentlicher Garten, halb französisch, halb englisch, schöne Lusthäuser, Orangerien, Altäre, Grabmäler von Freunden, die vornehme Herren waren, einen Tempel dem großen Friedrich gewidmet; große angelegte Waldungen, weite uhrbargemachte, ehemals wüste, jetzt fruchtbare Felder, viele Meiereien, Pferde, Menschen, Kühe, schöne nützliche Ställe auf welchen aber das Johanniterkreuz nie fehlte – – – – (DKV IV, 85)

Dieser Besuch beim Grafen von Eickstedt, bei dem Brockes damals wohnte, offenbart einerseits die zunehmende Vermischung der Gartentypen in dieser Zeit, andererseits setzt sich die Opposition der Gartentypen in einer ganzen Kette von Gegenüberstellungen fort: »Ich fand Ökonomie u Liberalität, Ehrgeiz u Bedürfniß, Weisheit u Thorheit in einem Menschen vereinigt« (DKV IV, 85) – der Garten wird zum Spiegel- und Charakterbild seines Besitzers, und der französische Stil dürfte für Kleist eher der »Thorheit« zuzurechnen sein. Wenn Kleist über Garten- und Landschaftsideale spricht, benutzt er als Synonym zu »englisch« auch »romantisch«. In einem Brief an Wilhelmine von Zenge vom 4./5. September 1800 berichtet er über seine Reise von Dresden durch das Erzgebirge:

25 Dies vermerkt allein der ansonsten oft eher unbefriedigende Kommentar der Münchener Ausgabe (MA III, 605, zu S. 587, Z. 18–19). Vgl. auch Christiane Salge: »... so verbitte ich mir den Ausdruck Schloss«. Das Adelige »Land-Gut« in Brandenburg um 1800. In: Markus Jager (Hg.): Schlösser und Gärten der Mark. Berlin 2006, S. 65–80.

168

Ingo Breuer

O welch’ ein herrliches Geschenk des Himmels ist ein schönes Vaterland! Wir sind durch ein einziges Thal gefahren, romantisch schön. Da ist Dorf an Dorf, Garten an Garten, herrlich bewässert, schöne Gruppen von Bäumen an den Ufern, Alles wie eine englische Anlage. Jeder Bauerhof ist eine Landschaft. Reinlichkeit u Wohlstand blickt aus Allem hervor. Man sieht aus dem Ganzen, daß auch der Knecht u die Magd hier das Leben genießen. Frohsinn u Wohlwollen spricht uns aus jedem Auge an. (DKV IV, 105)

Kleist verwendet traditionelle aufklärerische Momente, v.a. das Lob der nutzbar gemachten (gegenüber der ›wilden‹) Natur, mit empfindsamen und romantischen Ansichten und verstrickt sich dadurch in einen partiellen Widerspruch, da sich beide Konzepte theoretisch gegenseitig ausschließen.26 Dies deckt sich zumindest partiell mit der neueren Gartentheorie, denn Christian Cay Lorenz Hirschfeld, der wohl bedeutendste Gartentheoretiker des späten 18. Jahrhunderts in Deutschland, sieht die verschiedenen Gartentypen in keinem unversöhnlichen Verhältnis zueinander. Auch der romantische Garten, den er im vierten Band seiner Theorie der Gartenkunst beschreibt, ist nicht ›wild‹. Er ist zwar »fast ganz ein Werk der Natur« und zeichnet sich »durch gebirgigte Lagen, Felsen, Höhlen, Grotten, Wasserfälle, Katarakte« aus, die sich jedoch als Produkte menschlicher Gestaltung erweisen: Es gehe nicht so sehr um das Vorhandensein solcher Details, sondern mehr noch um »ungewöhnliche Verbindungen und Gegenstellungen, durch ausschweifende Regellosigkeit der Anordnung und durch überraschende Kühnheit der Kontraste«, wofür »so viele Gegenden der Schweitz« eine ideale Anschauung bieten würden.27 Wenn nun aber die verschiedenen Gartentypen einander nicht mehr völlig ausschließen müssen, sondern im überraschenden Zusammenspiel den Reiz der Anlage zu vermehren imstande ist,28 dann darf auch Spannung zwischen ›Wildheit der Natur‹ und dem im fünften Band seiner Theorie der Gartenkunst beschriebenen Idyll nicht wundern: Kein Anblick ist erfreuender, als ein Dorf, worin Reinlichkeit, Anmuth und Wohlstand herrschen. Es ist so sehr dem natürlichen Gefühl der Gerechtigkeit gemäß, 26 Kleists Vorliebe für geometrische Grundrisse nach dem Muster des absolutistischen Städtebaus passt ebenso wenig zu seiner Vorliebe für englische Gärten; vgl. Ingo Breuer: Kleists Topographien. In: Der Deutschunterricht 2011, Heft 1: Heinrich von Kleist (hg. von Joachim Pfeiffer), S. 2–15, hier S. 5f. 27 Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. Vierter Band. Leipzig 1782, S. 90f. 28 Vgl. ebd. die Ausführungen im V. Kapitel über »Gärten, die aus einer Zusammensetzung dieser Charaktere bestehen«, die er zuvor charakterisiert hatte: »den angenehmen, muntern und heitern, den sanftmelancholischen, den romantischen, den feyerlichen« (S. 127).

Reisebriefe und Gartenkünste

169

daß die Klasse unserer Nebenmenschen, welche die schwerste Arbeit für die Unterhaltung der Gesellschaft trägt, auch wieder, so viel es seyn kann, ihren Antheil an dem Glück und an den Annehmlichkeiten des Lebens nehme. […] Wir ergötzen uns bey der Vorstellung von Seelen, die sich über die Mühseligkeit und über die gewöhnlichen Schranken ihres Standes zu erheben wissen […].29

Hirschfeld lobt gegenüber den »elenden Menschenställe[n] in den Dörfern von Bayern, Westphalen und verschiedenen Gegenden von Niedersachsen« vor allem »die Lage und Schönheit der Dörfer am Rhein, indem man von Maynz nach Coblenz auf dem Strom hinunterfährt«30 – ein Tipp, den Kleist (allerdings bei Unwetter) im Juli 1801 befolgt hat (vgl. DKV IV, 239f.). Und die »meisten Dörfer in Schwaben« seien »gegen die sächsischen und brandenburgischen […] Städte«, und überhaupt werde an »der südlichen Grenze Deutschlands« die Lage zusehens besser.31 Sein besonderes Lob allerdings gilt der Lage der Dörfer in der Schweiz: Und zu diesen so erhebenden, so überraschenden und belebenden Wirkungen der Lagen, gesellen sich noch die heitern Vorstellungen von der Glückseligkeit dieses Landvolks durch Freyheit und Eigenthum und fast arcadische Hirtensitten […]. Kein Reisender ging aus der Schweiz, ohne den lebhaftesten Eindruck von diesem seltenen Reiz ihrer Landwohnungen. Man sehe einige Gemälde davon. Hier zuvörderst eins von den Ufern am Thunersee. An dem einen Ufer […] erheben sich große Felsen, die den Grund zum schönsten Amphitheater ausmachen.32

Zwei Kleist’sche Stichworte sind hier gefallen: das »Amphitheater«, auf das noch zurückzukommen sein wird, und Thun, wo sich Kleist als ›Bauer‹ niederlassen wollte. Tatsächlich stellte gerade die Schweiz in der damaligen Zeit eine Ideal-Landschaft sowohl der Literatur und Bildenden Kunst als auch der Garten- und Landschaftstheorie dar. Wie schon vielfach genannt, waren Albrecht von Haller (mit seinem Gedicht Die Alpen) sowie der Genfer Jean Jacques Rousseau mit seiner Zivilisationskritik die maßgeblichen Bezugspunkte für die Schweizverehrung auch Kleists, doch hier findet sich ein zusätzliches Moment in der Gartentheorie zu Kleists Zeit.

29 Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. Fünfter Band. Leipzig 1785, S. 159. 30 Ebd., S. 159 u. S. 161. 31 Ebd., S. 161. 32 Ebd., S. 162.

170

Ingo Breuer

Zeitgenössischer Stich des Schlosses und der Stadt Thun, im Hintergrund die Berge Eiger, Mönch und Jungfrau (Details siehe Ausstellungsverzeichnis)

Entscheidendes Merkmal der Garten- und Landschaftsarchitektur im englischen Stil ist das Verwischen der Grenze zwischen Kultur (Garten, Park) und Natur (Wildnis), Simulation und Realität. Kleist hatte bereits früh einen ausgeprägten, wenn auch nicht durchgängig verlässlichen Blick für verfehlte Täuschungen, wie seine Bemerkungen im Brief vom 16. August 1800 an Wilhelmine von Zenge über die Besichtung eines Panoramas besonders deutlich macht (vgl. DVK IV, 71–73). Eine markante Mischung aus Scharfsicht und Selbstbetrug findet sich bei seinem Besuch von Tharandt: Wir hatten den Nachmittag frei, u die Wahl, das grüne Gewölbe, Pilnitz, oder Tharandt zu sehen. In der Wahl zwischen Antiquität, Kunst u Natur wählten wir das Letztere u sind nicht unzufrieden mit unsrer Wahl. Der Weg nach Tharandt geht durch den schönen plauenschen Grund. Man fährt an der Weißritz entlang, die dem Reisenden entgegen rauscht. Mehr Abwechselung wird man selten in einem Thale finden. Die Schlucht ist bald eng, bald breit, bald steil, bald flach, bald felsig, bald grün, bald ganz roh, bald auf das Fruchtbarste bebaut. So hat man das Ende der Fahrt erreicht, ehe man es wünscht. Aber man findet doch hier noch etwas Schöneres, als man es auf diesem ganzen Wege sah.

Reisebriefe und Gartenkünste

171

Man steigt auf einem Felsen nach der Ruine einer alten Ritterburg. Es war ein unglückseeliger Einfall, die herabgefallnen Steine weg zu schaffen u den Pfad dahin zu bahnen. Dadurch hat das Ganze aufgehört eine Antiquität zu sein. […] Aber die Natur hat zuviel gethan, um mißvergnügt diesen Platz zu verlassen. Welch’ eine Fülle von Schönheit! Wahrlich, es war ein natürlicher Einfall, sich hier ein Haus zu bauen, denn ein schönerer Platz läßt sich schwerlich denken. Mitten im engen Gebirge hat man drei Aussichten in drei reizende Thäler. Wo sie sich kreuzen, steht ein Fels, auf ihm die alte Ruine. Von hier aus übersieht man das Ganze. An seinem Fuße, wie an den Felsen geklebt, hangen zerstreut die Häuser von Tharandt. Wasser sieht man in jedem Thale, grüne Ufer, waldige Hügel. Aber das schönste Thal ist das südwestliche. Da schäumt die Weißritz heran, durch schroffe Felsen, die Tannen u Birken tragen, schön gruppirt wie Federn auf den Köpfen der Mädchen. Dicht unter der Ruine bildet sie selbst ein natürliches Bassin, u wirft das verkehrte Bild der Gegend malerisch schön zurück. (DKV IV, 100)

Johann Carl August Richter: Tarant im Plauenschen Grunde (Aquarell mit Radierung 1840)

Wenn Kleist mit seiner Fahrt durch das Plauen’sche Tal und mit dem Besuch der Burgruine Tharant die »Natur« gewählt zu haben glaubt, unterliegt er einer Illusion, die er einerseits selbst erkennt, andererseits aber auch nährt: Wie ein zeitgenössischer Stich zeigt (siehe Abbildung), führt ein breiter, von Gestrüpp und Geröll befreiter Weg zu einer Ruine mit Geländern an Besichtigungsplattformen (und offenbar also auch funktionstüchtigen Trep-

172

Ingo Breuer

pen). Nicht nur ein paar Steine hat man weggeräumt, sondern diese Burgruine ist bereits touristisch vollständig erschlossen. Dennoch manifestiert Kleists Kritik v.a. am Schluss gartentheoretische Kenntnisse, da im englischen Garten gerade vollständige Überblicke vermieden werden sollten, um größere Abwechslung und damit eine Dramaturgie von Aufmerksamkeiten zu erzielen. Der Kavaliers- oder Offiziersblick ›von oben‹ tendiert u.a. dazu, die Sinne zu überreizen: So »übersieht man das Ganze« einer überbordenden Schönheit, womit »die Natur […] zuviel gethan« habe. Wilhelm Gottlieb Becker, einer der wichtigsten Programmatiker des neuen englischen Landschaftsgartens hatte 1795 aber im Kapitel »Empfindungen über Landschaftsmalerei und Gartenkunst« seines Taschenbuchs für Garten-Freunde dem Reisenden diese Besichtigungstour dringend empfohlen: Der ganze Grund vom Dörfchen Plauen bis Tarant, wo wieder andere Thäler beginnen, eine reizende Strecke von zwei Stunden in der Länge, übertrifft alles, was irgend von englischen Gärten, wenn man ihre Denkmäler der Kunst ausnimmt, der Berühmtheit werth ist. Welch einer zauberischen Behandlung wär’ er nicht fähig, wenn er einem einzigen geschmackvollen Besitzer gehörte, der nach einem seiner schönen Natur entsprechenden Plane die vortrefflichen Naturgemälde, die er darbeut, hie und da mit einigen interessanten Gebäuden und Anlagen verschönerte! Und was könnten nicht schon die einzelnen Güterbesitzer in ihren Bezirken zu dieser Verschönerung beitragen, wenn sie nur selten, aber geschmackvoll, hier und da eine romantische Parthie mit der bildenden Kunst verschwisterten!33

Fünf Jahre vor Kleist liest man also das völlige Gegenteil, was die Natürlichkeit betrifft – Kleist findet angeblich schon zuviel Zivilisation, während Becker sich offenbar einen Besitzer wünscht, der sich ausgiebig von Grohmanns Ideenmagazin zur weiteren geschmackvollen Ausstattung des Geländes inspirieren ließe. Auch Kleists engster Freund Rühle berichtet in seiner in Briefform geschriebenen Reise mit der Armee im Jahre 1809, das auch eine Abhandlung über die Landschaftsmalerei enthält, über Tharandt – und zwar in Form einer Sammlung von Briefen an seine Schwester, also im Sinne einer brieflichen (Ko-)Edukation, wie Kleists Briefwechsel mit Wilhelmine von Zenge intendiert war: »Die Gegenden […] vor allem von Tharandt sind Dir längst dem Namen nach und aus Kupferstichen bekannt. Welche Aussicht, welche Ausbeute für einen angehenden Landschaftsmaler, wie mich! –«34 33 Wilhelm Gottlieb Becker: Taschenbuch für Garten-Freunde. Leipzig 1795, S. 33f. 34 [Anonym, d.i. Otto August Rühle von Lilienstern:] Reise mit der Armee im Jahre 1809. Rudolstadt 1810, S. 17. Vgl. zum Verhältnis von Kleist und Rühle den detailreichen, aber interpretativ problematischen Beitrag von Günther Rühle: Otto August Rühle von Lilienstern. Ein Freund Heinrichs von Kleist. In: Kleist-Jahrbuch 1987, S. 76–97.

Reisebriefe und Gartenkünste

173

Und dennoch berichtet Rühle – anders als Kleist – nicht von einer Turmbesteigung, die grundsätzlich »in den Reisebeschreibungen um 1800 […] zum Standardrepertoire [gehörte]«35 und speziell für Tharant obligatorisch war, und er begründet dies gleich zu Anfang: »Der größte Reiz der Landschaft geht verloren, wenn durch den zu erhöhten Standpunkt alles flach und landchartenähnlich wird«; und er ergänzt: »Es ist mir bei solcher Gelegenheit immer, als sollte ich wieder auf den Brocken steigen«, was er 1799 gemeinsam mit Kleist und Brockes getan hatte – »ich will lieber zu ihm hinauf sehen, als von ihm hinunter«.36 Kleist scheint dies in der Schweiz beherzigt zu haben, indem er dort – entgegen einer anders lautenden Behauptung über die Besteigung des Schreckhorn in seinem Brief vom 1. Mai 1802 an Ulrike von Kleist (DKV IV, 306) – auf Bergbesteigungen wahrscheinlich verzichtet hat. Bereits unmittelbar nach der Harzreise fällt er in seinem an Rühle gerichteten Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den grössten Drangsalen des Lebens, ihn zu geniessen! das gleiche Urteil: »Wie wenig beglückend der Standpunkt auf großen außerordentlichen Höhen ist, habe ich recht innig auf dem Brocken empfunden.« (DKV III, 523)37 Beim Blick von oben handelt es sich um den Blick des Kartographen, wie Rühle schreibt,38 bzw. um den geographischen (versus chorographischen) Blick.39 Diese ›Vogelschau‹ wurde häufig zur Darstellung französischer Gärten bzw. absolutistischer geometrischer Stadtmuster benutzt.40 Sie versinnbildlicht den göttlichen bzw. Herrschafts-Blick (und so demonstriert die Vogelschau auf die absolutistische Stadt- und Landschaftsplanung, dass der normale Mensch die Struktur nur kartographisch vermittelt bekommen kann, aber nie real wird erfassen können), oder manifestiert sich ganz pragmatisch auch als Kavaliers- oder Offiziersblick, als Blick vom ›Feldherrenhügel‹, wie Kleist ihn besonders in der Schlacht-

35 Vgl. Michael Gamper: »Die Natur ist republikanisch«. Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert. Würzburg 1998, S. 131. 36 Rühle von Lilienstern: Reise mit der Armee im Jahre 1809 (wie Anm. 34), S. 8f. 37 Vgl. auch Rühle: Otto August Rühle von Lilienstern (wie Anm. 34), S. 79f. 38 Rühle hatte angeblich selbst großes Talent als Kartograph. Interessant ist, dass das Phöbus-Projekt, das durch Rühle finanziell unterstützt wurde, als Zentrum eine Verlagsbuchhandlung haben sollte, die laut Kleists Brief an Ulrike von Kleist vom 17. September 1807 als »Buch- Karten- und Kunst-Handlung« geplant war (DKV IV, 387). Noch in seiner Reise mit der Armee im Jahre 1809 zitiert er ausführlich aus dem Phöbus. 39 Zu literarischen Anverwandlungen diese unterschiedlichen Blickarten in der Frühen Neuzeit vgl. Ansgar M. Cordie: Raum und Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts. Berlin, New York 2011. 40 Vgl. Gamper: »Die Natur ist republikanisch« (wie Anm. 35), S. 122–124.

174

Ingo Breuer

szene des Prinz Friedrich von Homburg, aber wohl auch in manchen Teichoskopien und Mauernschauen anderer Stücke präsentiert. Der englische Garten dagegen ist auf Polyperspektive angelegt und verkörpert damit zum einen die Demokratisierung des Blicks, zum anderen produziert er Abwechslung, so dass die Landschaftsbeobachtung Unterhaltungsfunktion erhält.41 Kleists Kritik am Blick von der Ruine entspricht diesem ›neuen Blick‹, der gerade keine Übersicht, sondern Abwechslung erwartet; sein Problem ist letztlich nicht eine Überforderung vor dem Erhabenen, sondern Langeweile vor der Möglichkeit eines schnellen Überblicks über das Ganze. Seine Kritik hingegen an der zerstörten Illusion von Wildnis durch weggeräumte Steine auf dem Weg entspricht dem Wunsch eines intelligenten Betrugs, bei dem Natur und Kunst eine untrennbare Einheit eingehen – jedoch so, dass die Kunst bzw. die Kunst-Natur-Grenze unsichtbar werden soll. Kleist folgt einer später auch von vielen Weiteren (darunter Goethe, A.W. Schlegel, Tieck) geteilten Wendung Friedrich Heinrich Jacobis gegen Rousseau, indem auch er spätestens in seinen Briefen aus Paris, besonders im Bericht über den Vergnügungspark von Chantilly, eine Naturanschauung in einem künstlichen Garten nicht mehr für möglich hält, deswegen aber die Gartenkunst – als Kunst, die sich als solche zu erkennen gibt – keineswegs ablehnt.42 Überdrüßig aller dieser Feuerwerke u Illumination u Schauspiele u Possenreißereien hat ein Franzose den Einfall gehabt, den Einwohnern von Paris ein Vergnügen von einer ganzen neuen Art zu bereiten, nämlich das Vergnügen an der Natur. Der Landgraf von HessenKassel hat sich auf der Wilhelmshöhe eine gothische Ritterburg, und der Kurfürst von der Pfalz in Schwetzingen eine türkische Moschee erbaut. Sie besuchen zuweilen diese Orte, beobachten die fremden Gebräuche u versetzen sich so in Verhältnisse, von welchen sie durch Zeit u Raum getrennt sind. Auf eine ähnliche Art hat man hier in Paris die Natur nachgeahmt, von welcher die Franzosen weiter, als der Landgraf von der Ritterzeit u der Kurfürst von der Türkei, entfernt sind. Von Zeit zu Zeit verläßt man die matte, fade, stinkende Stadt, und geht in die – Vorstadt, die große, einfältige, rührende Natur zu genießen. Man bezahlt (im hameau de Chantilly) am Eingange 20 sols für die Erlaubniß, einen Tag in patriarchalischer Simplicität zu durchleben. Arm in Arm wandert man, so natürlich wie möglich, über Wiesen, an dem Ufer der Seen, unter dem Schatten der Erlen, hundert Schritte lang, bis an die Mauer, wo die Unnatur anfängt – dann kehrt man wieder um. Gegen die Mittagszeit (das heißt um 5 Uhr) sucht jeder sich eine Hütte, der Eine die Hütte eines Fischers, der Andere die 41 Vgl. ebd. S. 126f. u. 172. 42 Zu Jacobi vgl. Clemens Alexander Wimmer: Geschichte der Gartentheorie. Darmstadt 1989, S. 204–209.

Reisebriefe und Gartenkünste

175

eines Jägers, Schiffers, Schäfers & & jede mit den Insignien der Arbeit und einem Namen men bezeichnet, welchen der Bewohner führt, so lange er sich darin aufhält. Funf nfzig zig Laquaien, aber ganz natürlich gekleidet, springen umher, die Schäfer – oder die Fischer Fischer-Familie Familie zu bedienen. Die raffinirtesten Speisen u die feinsten Weine werden aufgetragen, aber in hölzernen Näpfen u in irdenen Gefäßen; und damit mit nichts der Täu Täuschung schung fehle, so ißt man mit Löffeln von Zinn. […] Große, stille, feierliche Natur, Du, die Cathedrale der Gottheit, deren Gewölbe Ge wölbe der Himmel, deren Säulen die Alpen, deren Kronleuchter die Sterne, deren Chor Chorknaben die Jahrszeiten sind, welche Düfte schwingen sc hwingen in den Rauchfässern der Blumen, gegen die Altäre der Felder, an welchen Gott Messe lieset u Freuden aus austheilt zum Abendmahl unter der Kirchenmusik, welche die Ströme u die Gewit Ge witter rauschen, indessen die Seelen entzückt ihre Genüsse an dem Rosenkranze Rosen kranze der Erinnerung zählen – so spielt man mit Dir – ? (DKV IV, 268f.)

An dieser hier ausführlich zitierten Passage fällt der eklatante Gegen Gegensatz zwischen schen kritischem Blick auf klischeebehaftete Naturvorstellungen im ersten ten Teil und seiner eigenen völlig vö überstei steigerten quasi--religiösen religiösen Na Naturbegeisterung geisterung im zweiten Teil auf. Das pantheistische Gebet ist selbst Kitsch, vor allem ist es höchstwahrscheinlich ein Konglomerat von angele angelesenen Pathosformeln. Doch auch schon der erste Teil greift geläufige Pa Parisbilder bilder auf, wie sie v.a. aus den Reiseberichten zur Zeit der Fanzösischen Fanzösi schen Revolution bekannt sind, aber auch schon vorher im Rahmen einer zivi zivilisationskritischen kritischen Großstadtimagologie vorhanden waren. Interessant daran ist nicht zuletz zuletztt der Gestus, den Selbstbetrug der Chantilly-Besucher Chantilly Besucher ent entlarvt zu haben haben. Da Kleist auf die Großstadtkritik fokussiert ist, ist verschweigt er den gartentheoretisch interessanten Aspekt Aspekt, dass die ›natürlichen‹ chen‹ Arreale Bestandteile einer Schlossanlage mit wei weiten ten Flächen im franzö französischen Stil sind (vgl. Abbildung Abbildungen en unten). unten

[Anonym:] Promenades ou Itinéraire des Jardins de Chan Chantilly. Orné d’un un Plan et de vingt EstamEstam pes […] des dessinées sinées et gravées par MÉRIGOT. MÉRI Paris 1791; oben: Le Chateau et une partie de L’Orange ’Orangerie [Abb. nach S. 4], rechts oben: Vue général du hameau [Abb. 2 nach S. 42], unten: Le Moulin [Abb. 2 nach S. 34]

176

Ingo Breuer

Das »Ideenmagazin« war ja grundsätzlich intertextuell intendiert, doch anhand der bisherigen Beispiele zeichnet sich ab, dass die Intertextualität in Kleists Briefen an Wilhelmine von Zenge nicht zuletzt aus Übernahmen von kulturellen Versatzstücken seiner Zeit besteht. Dies bestätigt sich auch in weiteren Aspekten seiner Landschaftsbeschreibungen, die von der Forschung im Kontext des »Ideenmagazins« immer wieder angeführt worden sind und von denen zwei Beispiele genannt seien. Dies betrifft zunächst das Bild, das er in seinem Brief an Wilhelmine von Zenge vom 18. November 1800 benutzt: »Der Sturm reißt den Baum um, aber nicht das Veilchen, der leiseste Abendwind bewegt das Veilchen, aber nicht den Baum. – Womit hat das eine vortreffliche Ähnlichkeit?« (DKV IV, 161) und ein Jahr später im Brief vom 29. Juli 1801 an Adolphine von Werdeck wieder aufgreift: » Die abgestorbene Eiche, sie steht unerschüttert im Sturm, aber die blühende stürzt er, weil er in ihre Krone greifen kann –« (DKV IV, 256). Dieses Bild findet sich bereits in der Familie Thierrez (und dann ähnlich in der Familie Schroffenstein) ebenso wieder wie in der Penthesilea: ALONZO:

[…] Freilich mag Wohl mancher sinken, weil er stark ist. Denn Die kranke abgestorb’ne Eiche ruhig Steht sie im Sturm, doch die gesunde stürzt er, Weil er in ihre Krone greifen kann.« (Familie Thierrez, DKV I, 50) PROTHOE:

Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte! Die abgestorbne Eiche steht im Sturm, Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder, Weil er in ihre Krone greifen kann. (Penthesilea, DKV II, 256)

Spätestens seit Albrecht Schönes kleiner Studie Vom Biegen und Brechen ist bekannt, dass die Geschichte von der stürzenden Eiche im Gegensatz zu kleineren und v.a. biegsameren Gewächsen zu den großen transkulturellen Reçits zählt.43 Ein ebenfalls wenig origineller Einfall Kleists ist das »Amphitheater«. Der Gartentheoretiker Hirschfeld hatte, wie oben zitiert, Thun als geradezu ideales Beispiel für den »seltenen Reiz« von »Landwohnungen« angeführt – die Gegend werde zudem bei einer richtigen Beobachterposition »zum schönsten Amphitheater«. Der Begriff »Amphitheater« wurde in der Forschung häufig als besonders prägnantes Beispiels für das Kleist’sche ›Ideenmagazins‹ angeführt.44 Drei verschiedene Städte hatte er entspre43 Albrecht Schöne: Vom Biegen und Brechen. Göttingen 1991. 44 Genannt sei der auch grundsätzlich für den vorliegenden Zusammenhang wichtige Aufsatz von Rolf-Peter Janz: Der gerahmte Blick. Landschaftsbilder bei Heinrich von Kleist.

Reisebriefe und Gartenkünste

177

chend geschildert: Würzburg liege »[i]n der Tiefe […] wie in der Mitte eines Amphitheater«, schreibt er am 11. Oktober 1800 an Wilhelmine von Zenge (DKV IV, 144); Dresden liege, so schreibt er am 18. Juli 1801 an Caroline von Schlieben, »in der Tiefe der Berge, wie der Schauplatz in der Mitte eines Amphitheaters« (DKV IV, 238); und an Adolphine von Werdeck berichtet er am 28. Juli 1801: »Durch ihre Mitte fließt der Rhein, zwei Paradiese aus einem zu machen. In der Tiefe liegt Mainz, wie der Schauplatz in der Mitte eines Amphitheaters« (DKV IV, 251). Als Variation dieses Bildes findet sich zudem für Dresden zwei Mal die gleiche Beschreibung: im Brief vom 21. Mai 1801 an Wilhelmine von Zenge der Hinweis, Dresden habe »eine große, feierliche Lage, in der Mitte der umkränzenden Elbhöhen, die in einiger Entfernung, als ob sie aus Ehrfurcht nicht näher zu treten wagten, es umlagern« (DKV IV, 225), und im Brief vom 18. Juli 1801 an Caroline von Schlieben direkt als Beschreibung des »Amphitheaters«: »ich sehe die Elbhöhen, die in einiger Entfernung, als ob sie aus Ehrfurcht nicht näher zu rücken wagten, gelagert sind, und gleichsam von Bewunderung angewurzelt scheinen« (DKV IV, 238). Allerdings wird bereits durch die Tatsache, dass sich im Standardwerk der damaligen Gartentheorie dieser Begriff finden lässt, deutlich, dass nicht von einer ›Idee‹ Kleists gesprochen werden kann. Bei Hirschfeld findet sich ein landschaftliches Amphitheater am »Schweitzersee«, den Gärten des »Generalif« im spanischen Grenada, im englischen Cocken Wood zwischen Durham und Newcastle-upon-Tyne und beim Blick vom »Carlsberg bei Cassel«.45 Zudem findet sich dieser Begriff dutzendfach in zeitgenössischen Reisebeschreibungen. Der berühmte Johann Jakob Volkmann benutzt ihn häufiger – so in seinen Neuesten Reisen durch Spanien (Malaga sei »rings umher mit Bergen umgeben« und von Berg Gibralpharo »übersieht man das ganze Amphitheater«; und das Gebirge um die Orte Lanjaron, Durcal und Lecrin »stellt ein herrliches Amphitheater mit Terrassen von Weinstöcken, Zitronen, Granaten, Oel und Maulbeerbäumen dar«)46 und in seinen Neuesten Reisen durch England (vom Cockshoot-Hill bei Reswick heißt es, sei ein »kleine[r] Hügel« in einem »Amphitheater von Bergen«),47 ebenso wie auch Johann Friedrich Reichardt 1792 in seinen Vertrauten Briefen über In: Beiträge zur Kleist-Forschung 20 (2006), S. 35–44, hier S. 41 sowie Gernot Müller: »Man müßte auf dem Gemälde selbst stehen«. Kleist und die bildende Kunst. Tübingen, Basel 1995, S. 99–102. 45 Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. Vierter Bd. (wie Anm. 27), S. 91f., 104, 109, 125. 46 Johann Jakob Volkmann: Neueste Reisen durch Spanien. 2. Abtheilung (Sammlung der besten Reisebeschribungen, Bd. 31). Brünn 1789, S. 212f. u. 330f. 47 Johann Jakob Volkmann: Neueste Reisen durch England. Vierter und letzter Theil. Leipzig 1782, S. 358.

178

Ingo Breuer

Frankreich plötzlich »ganz Lyon mit seinen schönen Quays wie ein Amphitheater längs dem Flusse vor sich« hat.48 Und nicht nur Heilbronn ist, wie es um 1800 in einem Lexicon von Schwaben heißt, »auf der einen Seite von einem schönen Amphitheater von Weinbergen umgeben«,49 sondern schließlich – ganz im Sinne Kleists – auch Würzburg: »eine große, aber geräuschlose, und nach Verhältnis, schlecht bevölkerte Stadt«, die »in einem Amphitheater von Weinbergen fast ganz eingeschlossen« ist, »die eine ergiebige Quelle des Wohlstands ausmachen«, wie es es in einem 1800 in Berlin gedruckten Reisebuch – wieder in Briefform – heisst.50 Kleists Landschaftsbeschreibungen befinden sich auf den ersten Blick in der Nähe zu Kitsch oder Plagiat, doch darf nicht übersehen werden, dass die Landschaftsbilder der damaligen Zeit im hohen Grade intertextuell und intermedial geprägt waren. Die Formulierung »Jeder Bauerhof ist eine Landschaft« aus dem Brief vom 4./5. September 1800 verweist auf die Genese des Landschaftsbegriffs aus der Malerei51 – und tatsächlich ist der englische Landschaftsgarten nicht zuletzt geprägt durch Vorbilder aus der Malerei, von Nicolas Poussin, Salvatore Rosa, vor allem aber von Claude Lorrain. Norbert Schneider fasste zusammen: Claude Lorrain hat mit Landschaften wie dieser [Landschaft mit Hochzeit von Isaak und Rebekka] ein idealtypisches Modell für die Ästhetik des englischen Landschaftsgartens geliefert. […] Das ästhetische Prinzip, das damit zur Realisierung kam, war das des »Picturesque«, des »Malerischen«, bei dem Unregelmäßigkeit, Unbegrenztheit (»non finito«) und scheinbare natürliche Spontaneität Hauptmerkmale waren, die die Einbildungskraft anregen sollten […].52

Entsprechend wird Kleist nicht müde, die von ihm besuchten Landschaften eben als romantische und malerische Landschaften zu beschreiben, z.B. am 4. Mai 1801 im Brief an Wilhelmine von Zenge: »das herrliche Elbthal, es lag wie ein Gemälde von Claude Lorrain unter meinen Füßen« (DKV IV, 221). Dabei findet er ›Bekräftigung‹ von berufener Seite, denn im Verlag Heinrich Geßners erscheint 1801, also gerade als Kleist selbst in der Schweiz lebt und mit dem Verleger im engen Kontakt steht, das Buch 48 Johann Friedrich Reichardt: Vertraute Briefe über Frankreich, auf einer Reise 1792. Erster Theil. Leipzig 1792, S. 259f. 49 [Anonym:] Geographisches statistisch-topographisches Lexicon von Schwaber. B. 1, 2. verm. u. verb. Auflage. Ulm [um 1800], Sp. 831. 50 Jakob Friedrich Ludwig Lentin: Medizinische Bemerkungen auf einer Literärischen Reise durch Deutschland. In Briefen. Berlin 1800, S. 29f. 51 Vgl. Hilmar Frank u. Eckhard Lobsien: Landschaft. In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Band 3. Stuttgart, Weimar 2001, S. 617–665. 52 Vgl. Norbert Schneider: Geschichte der Landschaftsmalerei. Vom Spätmittelalter bis zur Romantik. 3. Auflage 2011, S. 135.

Reisebriefe und Gartenkünste

179

Briefwechsel mit seinem Sohne von dessen Vater Salomon Gessner über den Dresden- und Romaufenthalt des Sohns Heinrich 1784f. und 1787f., wo dieser Dresden als »Paradies für den Landschaftsmahler«, als »romantisch« und »pittoresk« bezeichnet und in Beziehung mit der (von ihm bevorzugten) Landschaftsmalerei Claude Lorrains setzt.53 Darüber hinaus werden gerade bei Hirschfeld zudem die ästhetische Theorie und vor allem die Literatur zu wesentlichen Bezugspunkten seiner Gartentheorie. Dieser zitiert Petrarca, John Milton und Jean Jacques Rousseau, Friedrich von Hagedorn, Ewald von Kleist, Salomon Geßner und viele andere, vor allem aber den Schweizer Dichter Albrecht von Haller, dessen Gedicht Die Alpen »zum Modellfall für die Betrachtung des Schauspiels der schönen und erhabenen Natur wurde«, wie Ernst Rohmer schrieb.54 Dieser zeigte auch, dass speziell die Naturbeschreibungen aus der Umgebung von Bern und Thun – genannt wird u.a. das Wetterhorn und das Schreckhorn – zum Idealbild einer überwältigenden Natur werden, die nicht mehr zu Erkenntniszwecken betrachtet wird, sondern zum Musterbeispiel für eine »einfühlende Wahrnehmung und wahrnehmende Empfindung mit der Natur« wird,55 was denn auch impliziert, dass »der Zuflucht suchende Bürger selbst mit Hand an die Verrichtung des Landmanns legt«,56 wie Kleist dies ja selbst in der nicht nur von Haller, sondern auch von Hirschfeld besonders hervorgehobenen Region plante. Wenn schon der Gang durch den englischen Garten eine intermediale Auseinandersetzung mit der Landschaftsmalerei ist, deren Theorie (zumindest in Deutschland) wiederum hochgradig intertextuell ist, also Landschaftsgedichte (Idyllen, Bukolik, Georgik usw.) aufruft, und die neuere Garten- und Landschaftstheorie grundsätzlich in einer direkten Wechselwirkung mit bildender Kunst, Literatur und ästhetischer Theorie entsteht,57 wird die so geplante Landschaft zu einer Gedächtnis- und Imaginationslandschaft. Die bildkünstlerischen und literarischen Zitate, also z.B. die Umsetzung von Landschaftsbilden Lorrains oder von Vergils Beschreibungen des locus amoenus in reale Landschaften, setzen umfassende kulturelle Kenntnisse voraus – und zugleich Phantasie, um die kulturelle Memoria zusammen mit dem Wahrgenommenen zu einem Gesamtbild zu verschmelzen. Ein Ungebil53 Salomons Geßners Briefwechel mit seinem Sohne. Bern, Zürich 1801, S. 40, vgl. S. 43– 47 zu Lorrain: »seine Gemälde sind ganz dichterisch« (S. 45). 54 Ernst Rohmer: Literatur und Landschaft. Zur Rolle der Literatur in C. C. L. Hirschfelds Theorie der Gartenkunst (1779–1785). In: Euphorion 91 (1997), S. 1–21, hier S. 9. 55 Vgl. ebd., S. 9–12, Zitat S. 12. 56 Ebd., S. 14. 57 Vgl. Heinz: »Ein Park, der blosse einfache Natur ist« (wie Anm. 17), S. 264–268.

180

Ingo Breuer

deter würde in einer solchen Landschaft nur denken: »there is nothing but grass and trees that bear no fruit« – so angeblich eine Reaktion auf den 1797 eröffneten englischen Garten in Caserta, den sein Gestalter Sir William Hamilton zu einem »Ort europäischer Erziehung für den neapolitanischen Prinzen und dessen Schwester« machten wollte und darum »Antikereminiszenzen unterschiedlichster Art aus den berühmten englischen Gärten nach Italien« transferierte.58 Grundsätzlich lässt sich mit Harald Tausch festhalten, dass selbst bei den Verzicht auf eine klare Wegführung das »Wegekonzept des Landschaftsgartens« nichts weniger als »einen pädagogischen Parcours« darstellt, der zur »Internalisierung von Wahrnehmungsmustern« führt und zur »Einübung in die Mechanismen der Assoziation« führt.59 Der Garten war in allen Epochen Ausdruck der Wissenssysteme der Zeit und darum auch – in höheren Schichten – zentrales Element der Erziehung. Dies gilt auch für Kleist, auch wenn über dessen Schulzeit wenig überliefert ist. Bekannt ist allerdings die Tatsache, dass Frédérik Guillaume Hauchecorne, in dessen Schule er ein halbes Jahr unterrichtet wurde, 1792 eine Description du Parc de Berlin veröffentlicht hatte, die nicht nur eine gartenbautechnische Perspektive aufwies, sondern auch eine didaktische – selbst noch in der retrospektiven Leküre: So sollen u.a. die ehemaligen Schüler Hauchecornes sich bei der Lektüre dieses Buchs daran erinnern, wie sie mit ihrem Lehrer immer wieder durch den Park promeniert sind und welche Erklärungen und Reflexionen er bei diesem pädagogisch-didaktischen Spaziergang geäußert hatte. Als besonders hilfreich für die Vermittlung von Historie bei einer solchen Promenade sind Denkmäler und Gedenkplaketten wie die »planche noir placée à un grand arbre«, die an einen Besuch des polnischen Königs August in Berlin erinnern sollte, bei dem dieser genau an jener Stelle am 29. Mai 1728 dem preußischen König zugesagt habe, dass »er mit Preussen stets in Freundschaft leben« wolle.60 Hauchecorne bedauert nun allerdings, dass diese Gedenktafel nicht mehr existiert: J’ai regretté dans les courses que j’ai faites cette année à la forêt de ne plus trouver det écriteau dont le dernier morceau est tombé il n’y a pas longtemps. Il seroit peut être à souhaiter que les grandes routes fûssent remplies de ces monuments simples qui serviroient à faire connoître au peuple les événements intéressans du pays & offriroirent une source d’amusement aux voyageurs […].61

58 Günter Oesterle u. Harald Tausch: Einleitung. In: Diess. (Hg.): Der imaginierte Garten (wie Anm. 17), S. 9–20, alle Zitate S. 12. 59 Harald Tausch: Locke, Addison, Hume und die Imagination des Gartens. In:Oesterle u. Tausch (Hg.): Der imaginierte Garten (wie Anm. 17), S. 23–43, Zitate S. 36. 60 Frédérik Guillaume Hauchecorne: Description du Parc de Berlin. Berlin 1792, S. 54f. 61 Ebd., S. 55.

Reisebriefe und Gartenkünste

181

Kleist dürfte, auch wenn er evtl. mehr von Samuel Henri Catel unterrichtet worden ist, an diesen Spaziergängen durch die hier vor allem mnemotechnisch genutzten Berliner Parks teilgenommen haben – und wird ja ebenfalls, wie hier Hauchecorne, einmal ein (fast) unauffindbares Denkmal schildern: »noch im Jahr 1807 war unter den Büschen seines Gartens das Denkmal zu sehen, das er Gustav, seinem Vetter, und der Verlobten desselben, der treuen Toni, hatte setzen lassen«, heisst es am Schluss der Verlobung in St. Domingo (DKV III, 260). Bernhard Siegert hat mit einer besonderen Deutlichkeit auf die Relevanz des »Ideenmagazins« für die Formung des Konzept »Mutter« aufmerksam gemacht, was auch bedeutet, dass Kleists Briefe an die Verlobte als Erziehungsprojekt zu sehen sind.62 Nimmt man die Tatsache ernst, dass Wilhelmine von Zenge zu einer Mutter, also auch Kinder-Erzieherin, erzogen werden soll, und Kleist als hoffnungsvoller pater familias diese Ausbildung der Ausbilderin qua Brief übernommen hat, dann wären die Briefinhalte nur im privaten Rahmen relevant. Wenn die Verlobte jedoch die Briefe nummerieren und aufheben soll und sie – wie der Brief über den Würzburger Torbogen aufgrund der wohl nachträglich angefertigten Bleistiftzeichnung nahelegt – Gegenstand einer Nachbesprechung werden sollen, und wenn darüber hinaus von der Verlobten die Mitwirkung an einem »Ideenmagazin« gefordert wird, die das Auskommen der Familie sichern helfen soll, dann ist hier vielleicht nicht so sehr als Trainingsfeld einer eigenen geplanten Literaturproduktion gedacht, als – was schon häufiger vermutet wurde – um populärphilosophische Ambitionen Kleists. Die Anwendung von physikalischen Phänomenen auf die moralische Welt wird Kleist, so im Fall des im Allerneuesten Erziehungplan skizzierten ›gegensäzischen‹ Prinzips (vgl. DKV 545–552) sein Leben lang interessieren, und diese werden auch Einzug in das literarische Werk finden, wenn auch von den uns überlieferten Beispielen aus den Briefen an Wilhelmine von Zenge keine nennenswerte Zahl von Übernahmen zu finden ist. Kreativitätsfördernd waren diese Briefe durchaus, was das Einüben literarischen Beschreibens betrifft. Aber es wäre durchaus möglich, dass ein nicht realisiertes Projekt im direkten Zusammenhang mit den Reisebriefen stand, das jedoch konzeptionell nicht mehr unbedingt etwas mit dem zu tun haben muss, was er seiner Verlobten schilderte. Zu denken wäre möglicherweise an die oben en passant, aber häufig zitierten Reisebücher in Briefform von Autoren wie Geßner, Reichardt, Lentin und nicht zuletzt Rühle von Lilien62 Vgl. Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751–1913. Berlin 1993, S. 80–101, zum Ideenmagazin v.a. S. 95–99.

182

Ingo Breuer

stern.63 Private Reisebriefe als Vorstufe zu publizierten Reisebriefen sind um 1800 mehr al alss häufig zu finden; dass Kleists Briefe an seine Verlobte dazu zählen (könnten), erhält eine gewisse Plausiblität durch die Tatsache, dass Kleist gerade nicht mehr oder weniger spontan seine Beobachtungen auf der Reise niederschreibt, sondern bereits eine Konzeption im Kopf zu haben scheint, die nicht zuletzt dazu führt, dass er am neuen Aufenthalts Aufenthaltsort immer noch – zum Leidwesen des Empfängers – mit Beschreibungen Be bungen früherer Stationen beschäftigt ist. Das eklatanteste Bei Beispiel spiel stellen wohl seine ersten dr drei ei Briefe aus Paris – an Karoline von Schlieben, Adolphine von Werdeck und v.a. derjenige an Wilhelmine von Zenge – dar, in dem er eine Paris Parisbeschreibung bung geradezu verweigert und stattdessen Reflexionen über Natur, Geschlechterrollen, Reflexionen über die vorangegangenen Reisestationen stationen in Deutsch Deutschland land usw. liefert. Möglicherweise handelt es sich um Spuren davon, dass hier wie in einer Art von Bildungsroman ein ›Rei ›Reiseplan‹ plan‹ zu einem ›Lebensplan‹ entwickelt und als ›Ge ›Geschichte schichte seiner Seele‹ ausgegeben gegeben w werden erden soll. Möglicherweise geschieht dies gerade in der Kon Konfrontation tation mit ›Landschaft‹, die zum Spiegel seiner Entwicklung werden soll – und dies in der Form des damals überaus populären Reiseberichts Reise berichts in Briefen. fen. Dafür spricht vielleicht auch, dass Kl Kleist eist bei seinen Wanderungen Wanderungen durch die Land Landschaften schaften weder Bäume noch Wald sieht, sondern son dern immer wieder der nur Zitate aus Literaturklassikern, Reisebe Reisebeschreibun bungen, gen, Bildender Kunst und Garten Gartentheorie. theorie.

Aus Grohmanns Ideen Ideenmagazin: »Ein Ein Französisches Sei Seitenstück stück zu dem im vorliegenden vor genden Hef Hefte Tab. I ge gelieferten ten Eng Englischen ländlichen chen Telegraphen, Telegraphen, um einem be benach nachbarten ten Freunde kurze 64 Nach Nachrichten richten in der Ge Geschwindigkeit keit mitzutheilen.« mitzu 63 Da in diesem Zusammenhang immer wieder auf Goethes Italienissche Reise hingewiesen wird, sei daran erinnert, dass dieses Werk erst nach Kleists Tod erschienen ist. 64 Johann Gottfried Grohmann: Ideenmagazin. Bd. 4, 2. Auf. Leipzig [o.J.], H. 37, 37 , Abb. 1 [unpag.], Bildlegende. Zum optischen Telegraphen vgl. die Einleitung dieses Bands.

Inka Kording

»Wie die Mäuse, die man aus Apfelkernen scheidet« Kleists Rezeption von Christoph Martin Wielands Gandalin oder Liebe um Liebe 1

Das Verhältnis zwischen Heinrich von Kleist und Christoph Marin Wieland ist ein äußerst zwiespältiges: Zum einen hat der alternde Wieland für den jungen Kleist »zweifellos eine überragende Bedeutung besessen«2, lässt doch Wieland den suchenden und tastenden Dichter seine Bewunderung deutlich spüren. Deutlichstes Beispiel ist die hymnische Prophetie nach einer Rezitation aus dem Guiskard: »Wenn die Geister des Aeschylus, Sophokles und Shakespear sich vereinigten eine Tragödie zu schaffen, sie würde das seyn was Kleists Tod Guiscards des Normanns« (DKV IV, 807) und er traut ihm zu, »die große Lücke in unserer dermaligen Literatur auszufüllen, die (nach meiner Meinung wenigstens) selbst von Göthe und Schiller noch nicht ausgefüllt worden ist«.3 Auch hat wohl Kleist eine große Neigung zu Wieland gefasst, wie Wieland am 10. April 1804 dem Mainzer Arzt und Politiker Georg Christian Gottlob Wedekind berichtet, der Kleist zwei Jahre später selbst behandeln wird, denn der 25-jährige Dichter scheint Wieland »wie ein Sohn zu lieben und zu ehren« (ebd., S. 807f.). Trotzdem ist Kleist sehr nachdrücklich auf Distanz bedacht, und auch Wieland relativiert sein großes Lob für den Guiscard, indem er es in den Potentialis stellt: Guiscard würde der virtuellen Tragödie der griechischen und britischen Geister dann entsprechen, »sofern das Ganze demjenigen entspräche, was er mich damals hören ließ« (ebd., S. 807). Auch psychologisch war der große Zuspruch, den Wieland seinem jungen Haus1 2 3

Der folgende Text ist in Teilen meiner im Herbst 2012 erscheinenden Dissertation »(V)Erschriebenes Ich. Individualität in der Briefliteratur des 18. Jahrhunderts – Louise Gottsched, Anna Luisa Karsch und Heinrich von Kleist« entnommen. Hans-Jürgen Schrader: Ermutigung und Reflexe. Über Kleists Verhältnis zu Wieland und einige Motivanregungen, namentlich aus dem Hexameron von Rosenhain. In: KleistJahrbuch 1988/89, S. 160-194, hier S. 187. Ebd., 807f.

184

Inka Kording

gast angedeihen lässt, nicht unproblematisch, wie Wieland selbstkritisch bemerkt: Er bezweifelt in dem schon zitierten Brief an Wedekind den Nutzen seines überschwänglichen Lobes. »Ich glaubte ihm durch diesen Eifer, womit ich ihn zur Vollendung seines Werks bestürmte, den größten Dienst zu tun: wie traurig wäre es für mich, wenn es nur dazu gedient hätte, ihn in das Schicksal, das ihn zu verschlingen droht, vollends hineinzustoßen!«4 Inwiefern weitere, sozusagen ›literaturpolitische Gründe‹ eine Rolle spielen – Wieland hatte den Zenit seines Ruhmes überschritten und benötigte »Bündnispartner«5 – hat erst jüngst Günter Blamberger in seiner Biographie zu bedenken gegeben. Allerdings soll es in der folgenden ›Mikroanalyse‹ von Kleists Brief an seine Schwester Ulrike vom 13./14. März 1803, also kurz nach seiner Abreise aus Oßmannstedt, weder um eine biographische Spurensuche gehen, noch wird das Wielandsche Werk wie ein Steinbruch behandelt, in dem sich für jedes Kleist’sche Motiv ein Felsbröckchen finden lässt, wie schon Schrader vor 25 Jahren das Suchen nach ›Einflusssphären‹ kritisiert hat.6 Vielmehr soll gezeigt werden, wie das Epyllion7 Wielands – Gandalin oder Liebe um Liebe. Ein Gedicht in acht Büchern8 – für Heinrich von Kleist zum Ausdrucksmedium seiner Befindlichkeit wird. Wieland hatte dieses Gedicht zwar bereits 1776 geschrieben und es wurde auch im gleichen Jahr in der Zeitschrift Der Teutsche Merkur gedruckt. Allerdings hat er das Werk mehrfach überarbeitet bis zur endgültigen Fassung, die 1796 in der Ausgabe letzter Hand erschien.9 Kleist nutzt Wielands kleines Epos nicht nur als Motivlieferant, um ein Bonmot zu platzieren. Vielmehr nimmt er die Doppelbödigkeit dieses in vielen Passagen witzigen, Gattungstopoi des mittelalterlichen Heldenepos und literarische Klischees der Minnedichtung ironisierenden Versepos‹ auf, das immer wieder changiert zwischen identifikatorischem epischen Erzählen und distanzierender ironischer Brechung. Diese Bewegung spiegelt Heinrich von Kleist in seinem Schreiben und bricht den emotionalen Überschwang seiner momentanen realen Lebenssituation mehrfach mit einem intertextuellen, ironisch-witzigen und gleichzeitig tragischen Unterton.

4 5 6 7 8 9

Lebensspuren Nr. 89. Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt a.M. 2011, S. 207. Schrader: Ermutigungen und Reflexe (wie Anm. 2), S. 187f. Vgl. zu Gandalin auch Karl-Heinz Kausch: Das Kulturproblem bei Wieland. Würzburg 2001, v.a. S. 292–331. Christoph Martin Wieland. Werke. Hg. von Fritz Martini und Hans Werner Seiffert, Bd. 4, bearbeitet von Hans Werner Seiffert, München 1965, S. 66–755. Vgl. ebd., S. 903f.

»Wie die Mäuse, die man aus Apfelkernen scheidet«

185

In dem Brief, den Heinrich von Kleist am 13. und 14. März 1803 aus Leipzig an seine Schwester Ulrike schreibt, beschäftigt er sich inhaltlich über weite Strecken mit dem just beendeten Aufenthalt Kleists in Oßmannstedt bei Wieland. Neben Kleists Bericht über sein Eingeständnis dem Leipziger Professor für Mathematik Karl Friedrich Hindenburg gegenüber, seine wissenschaftlichen Studien aufgegeben zu haben, und den Anspielungen auf seine Erstpublikation Die Familie Schroffenstein handelt mittelbar oder direkt jeder Abschnitt dieses Briefes von Wieland und/oder Kleists Aufenthalt in Oßmannstedt. Auch seine Schwester Ulrike, die Adressatin seines Briefes, hat Wieland kennen gelernt, hatte sie ihn doch selbst wohl inkognito »in ihrer üblichen ›männlichen‹ Reisekleidung einen Besuch abgestattet«, was der Bruder in einem undatierten Brief nüchtern kommentiert: »Er [C.M. Wieland] läßt dich grüßen. Er hat nicht gewußt, daß du es bist, der ihn besucht hat. Jetzt weiß er es.«10 Während des ca. zweimonatigen Aufenthalts bei Wieland in Oßmannstedt erfährt Kleist, dessen Selbstverständnis als Dichter langsam wächst,11 vielfältigen Zuspruch und positive Bestärkung im Hinblick auf seine dichterische Laufbahn. Seine erste Veröffentlichung Die Familie Schroffenstein wurde im November 1802 in Heinrich Geßners Verlag in der Schweiz angekündigt und Anfang 1803, allerdings anonym, veröffentlicht.12 Für dieses Werk hatte er auch bereits einen Vorschuss erhalten, obwohl er diesen aufgrund einer Krankheit sogleich wieder ausgeben musste, wie er Wilhelm von Pannwitz berichtet: »Mein lieber Pannwitz, ich liege seit zwei Monaten krank in Bern, und bin um 70 französische Louisd’ors gekommen, worunter 30, die ich mir durch eigne Arbeit verdient hatte.«13 Außerdem kündigt er seiner Schwester im Januar an: »In Kurzem werde ich dir viel Frohes zu schreiben haben; denn ich nähere mich allem Erdenglück«,14 wobei er hier wohl auf die Vollendung seiner Tragödie Robert Guiskard anspielt. Dieses Werk ist es auch, das zumindest temporär die Kleist’sche Distanz zu Wieland aufhebt. So berichtet er in fast empfindsamer Manier seiner Schwester, wie er mit einer Rezitation aus seiner gerade im Entstehen begriffenen Tragödie Robert Guiskard Wieland rührt und selbst von begeisterter Rührung ergriffen wird.

10 Ebd., S. 810, Hervorhebung im Original. 11 Vgl. Julia Guttermann, Ingo Breuer: Zeittafel. In: Ingo Breuer (Hg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2009, S. 5–10, hier S. 7. 12 Vgl. Louis Gerrekens: Die Familie Schroffenstein. In: Breuer (Hg.): Kleist-Handbuch (wie Anm. 11), S. 27–33, hier S. 27. 13 Kleist an Wilhelm von Pannwitz, August 1802; DKV IV, 309. 14 Kleist an Ulrike von Kleist, Januar 1803; DKV IV, 312.

186

Inka Kording

Als ich sie [die Tragödie Robert Guiskard] dem alten Wieland mit großem Feuer vorlas, war es mir gelungen, ihn so zu entflammen, daß mir, über seine innerlichen Bewegungen, vor Freude die Sprache vergieng, und ich zu seinen Füßen niederstürzte, seine Hände mit heißen Küssen überströmend.15

Neben dem richtigen Befund, dass mit diesem Prinzip der »affektiven Wechselübertragung« ein »Fundament der Wirkungsästhetik Kleists«16 deutlich wird, sei hier angemerkt, dass dieses Zitat nicht nur rezeptionstheoretisch interessant ist. Für die Analyse von Individualitätsstrukturen entscheidend ist, dass erstens die affektive Bewegung des Du vom ICH ausgelöst wird. Zweitens ersetzt die Rückübertragung der Rührung des Du auf das ICH – den Normen empfindsamen Handelns entsprechend – die gesprochene Sprache durch nonverbale Kommunikation. Damit werden zunächst sowohl die lingua linguae, die gesprochene Deklamation, als auch die lingua litterae, der Vortrag der Tragödie Robert Guiskard, so übersteigert, dass sie in die Sprachlosigkeit münden. Ausdrucksfähig bleibt diese Emphase allerdings, indem sie in eine – nonverbale – lingua cordis überführt wird: Die ›inneren‹ Bewegungen Wielands als eben gerade nicht kognitive, sondern emotive sind dem Bereich der ›Herzenssprache‹ zugeordnet. Und schließlich wird die lingua cordis durch eine lingua corporis substituiert, indem »heiße Küsse« die (Schreib-)Hand Wielands überströmen.17 Und drittens ist dieser Substitutionsprozess ausgesprochen positiv besetzt, weil er einmal mehr das intrapersonale Verständnis des ICH als dichterisches bestätigt. Aber zurück zum Brief vom 13./14. März 1803. Dieser steht nicht nur inhaltlich, sondern auch formal und intertextuell ganz im Zeichen Wielands. So spielt Kleist zu Beginn seines Schreibens mit der Antwort auf die Frage, wie wohl seine wenige Wochen alte Nichte Ottilie von Pannwitz aussehen möge (Abb. 1),18 auf Wielands 1776 entstandenes Epos Gandalin oder Liebe um Liebe an, in dessen erstem Buch die Erbin des Grafen von Brabant, Fräulein Sonnemon, diverse Verehrer um sich versammelt, die unter anderem mit Miniaturschnitzereien um ihre Aufmerksamkeit buhlen: Der sang ihr was – um einen Mund Voll breiter Schaufelzähne zu weisen; 15 Kleist an Ulrike von Kleist, 13./14. März 1803; DKV IV, 313. 16 Gabriele Kapp: »Des Gedankens Senkblei«. Studien zur Sprachauffassung Heinrich von Kleists 1799-1806. Stuttgart, Weimar 2000, S. 179. 17 Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, der allerdings diese Substitutionsprozesse von Schrift und Körperflüssigkeiten hauptsächlich auf tatsächliche Tränen-, Samen- und Blutflüsse bezieht und weniger das Strömen von Abstrakta wie Küssen oder Blicken berücksichtigt. 18 Kleist an Ulrike von Kleist, 13./14. März 1803; DKV IV, 312.

»Wie die Mäuse, die man aus Apfelkernen scheidet«

187

Ein andrer fütterte ihren Hund; Ein dritter log von seinen Reisen; Ein vierter schnittelt’ eine Maus Aus einem Apfelkern ihr aus; Ein fünfter, an der Trommel, stickte Ein Blümchen in ihre Stickerey. So schlenderte dann der Tag vorbei.19

Diesen Intertext greift Kleist im letzten Abschnitt seines Briefes gleichsam als Rahmung auch wieder auf: »Und nun küsse in meinem Namen jeden Finger meiner ewig verehrungswürdigen Tante! Und, wie sie, den Orgelpfeifen gleich, stehen, küsse sie Alle von der Obersten bis zur Letzten, der kleinen Maus aus dem Apfelkern geschnitzt!« (Abb. 2)20

Abb. 1: Kleist an Ulrike von Kleist, 13./14. März 1803; DKV IV, 312, S. 1r: Wie mag doch das kleine Ding aussehen, das Gustel gebohren hat? Ich denke, wie die Mäuse, die man aus Apfelkernen schneidet.« (DKV IV, 312)

Abb. 2: Kleist an Ulrike von Kleist, 13./14. März 1803; beigefügtes Blatt (Abschrift Ulrike von Kleists von der abgeschnittenden und wahrcheinlich an die Familie weiterverschenkten unteren Hälfte von S. 2r).

19 Wieland: Werke (wie Anm. 8), S. 671. 20 Kleist an Ulrike von Kleist, 13./14. März 1803; DKV IV, 315.

188

Inka Kording

Mehrfach spielt Kleist im weiteren Verlauf des Briefes auf Wielands Werk an, in dem der Titelheld Gandalin von Sonnemon als Minneritter ausgewählt wird und, um seine Liebe zu beweisen, drei Jahre auf Reisen gehen muss. Er besteht tapfer, tugendhaft und zuweilen etwas »albern«, wie im vierten Buch berichtet wird, diverse Abenteuer, bis eine geheimnisvolle Jungfrau sein Herz erobert. Eines der Treffen mit seiner ›neuen‹ Angebeteten (die sich am Ende als Sonnemon höchstselbst herausstellen wird), leitet Wieland mit der Ironisierung gattungstypischer Topoi ein: O Reim! den werd’ ich nimmer loben, Der dich erfand! Zum Henker auch! Da muß nun hinter einem Strauch, Bloß, dir zu gefallen, mein Träumer stehen, Um seine Prinzessin kommen zu sehen! Und stand er (wie’s doch möglich war). Auch wirklich hinter einer Laube, Wie kann ich hoffen daß man’s glaube? »Der Reim«, spricht jeder, »hat offenbar Die Laube gepflanzt; und wenn es Ranken Von Reben oder Geißblatt sind, So haben wir’s wieder dem Reim zu danken.« Sei’s! wollen uns nicht darüber zanken! Genug, wie oft der Zufall, so blind Er sein soll, die beste Auster findt, So hat auch diesmal, wider Hoffen, Der Reim sich mit der Wahrheit getroffen. Herr Gandalin, in seinem Traum, Stand wirklich hinter wilden Ranken, Als über den ebnen grünen Raum In stillen jungfräulichen Gedanken Sein holdes Mädchen vorüber ging.21

Dieses Werk Wielands changiert also, wie dieser kleine Ausschnitt illustrieren sollte, immer wieder zwischen dem Identifikationspotential epischer Narration und distanzierender ironischer Reflexion, und Kleist nimmt nicht nur motivisch auf diesen Intertext Bezug. Vielmehr grundiert das briefliche Ich sein Schreiben ebenfalls mit einem den emotionalen Überschwang seiner momentanen realen Lebenssituation immer wieder brechenden ironisch-witzigen und gleichzeitig tragischen Unterton und parallelisiert das eigene handelnde Ich mit den beiden Protagonisten des Wielandschen Epos.

21 Wieland: Werke (wie Anm. 8), S. 700f.

»Wie die Mäuse, die man aus Apfelkernen scheidet«

189

Zur Erläuterung sei hier kurz auf den biografischen Hintergrund zu Beginn des Jahres 1803 verwiesen: Nach der so genannten ›Kant-Krise‹22 im März 1801, der Lösung seines Verlöbnisses mit Wilhelmine von Zenge im Mai 1802 und der Abreise aus der Schweiz wenige Monate später beginnt Kleist wieder, »Antheil an die Welt zu nehmen«,23 er hat mit Auszügen aus seiner Tragödie Robert Guiskard »die Bewunderung aller Menschen, denen ich es mittheile«,24 erregt, fühlt sich »ungewöhnlich hoffnungsreich«25 und nähert sich »allem Erdenglück«.26 Er bringt in einer ebenfalls reziproken Übertragung euphorischer Affektionen seinen wissenschaftlichen Lehrer, den Leipziger Professor für Philosophie, Physik und Mathematik Karl Friedrich Hindenburg, dazu, seine Wendung zur Dichtung zu bestätigen27 − »Und nun fiel ich ihm um den Hals, und herzte und küsste ihn so lange, bis er lachend mit mir überein kam: der Mensch müsse das Talent anbauen, das er in sich vorherrschend fühle.« Er inszeniert sich selbst als der literarischen Welt zugehörig bis in die Abschluss- und Grußformeln seiner Briefe und bekommt intensiven Zuspruch für seine Werke von Wieland. Außerdem ›weiß‹ er sich selbst als Dichter mehr als es die überschwänglichen Rezensenten könnten28 und vertraut seiner Schaffenskraft: »Wenn ihr mich in Ruhe ein Paar Monate bei euch arbeiten lassen wolltet, ohne mich mit Angst, was aus mir werden werde, rasend zu machen, so würde ich – ja ich würde!«29 Dem selbstgewissen Imperativ des erstmals Erfolg ahnenden ICHs stehen aber hier im Kontext mehrere Widerstände entgegen. Einmal kann er in seiner eigenen Verwandtschaft mit dem Erstling Die Familie Schroffenstein, der die Familie als Stabilisator sozialer Ordnungen und Bewahrer sittlicher Werte demontiert, nicht reüssieren und fleht daher

22 Hans-Jochen Marquardt: Heinrich von Kleist – die Geburt der Moderne aus dem Geiste »neuer Aufklärung«. In: Tim Mehigan (Hg.): Heinrich von Kleist und die Aufklärung. Rochester 2000, S. 22–45. Marquardt schlägt zu Recht vor, diese Erschütterung eher als Kleist-Krise zu bezeichnen, ebd., S. 23. 23 Kleist an Ulrike von Kleist, Anfang Januar 1803; DKV IV, 311. 24 Kleist an Ulrike von Kleist, 9. Dezember 1802; DKV IV, 319. 25 Kleist an Ulrike von Kleist, Anfang Januar 1803; DKV IV, 311. 26 Kleist an Ulrike von Kleist, Januar 1803; DKV IV, 312, wobei sich das ›Glück‹ auf die anvisierte Vollendung seines Robert Guiskard bezieht. 27 Kleist an Ulrike von Kleist, 13./14. März 1803; DKV IV, 314. 28 »Leset doch einmal im 34 oder 36t Blat des Freimüthigen den Aufsatz: Erscheinung eines neuen Dichters. Und ich schwöre euch, daß ich noch viel mehr von mir weiß, als der alberne Kauz, der Kotzebue.« Kleist anUlrike von Kleist, 13./14. März 1803; DKV IV, 314, Hervorhebung im Original, auch wenn die Rezension nicht von Kotzebue, sondern von Ludwig Ferdinand Huber stammte (DKV IV, 814). 29 Kleist an Ulrike von Kleist, 13./14. März 1803; DKV IV, 314.

190

Inka Kording

seine Schwester an: »Auch thut mir den Gefallen, und leset das Buch nicht. Ich bitte euch darum. Kurz, thut es nicht. Hört ihr?«30 Möglich ist, dass Kleist in den Elementen aus der Schauerromantik, wie z.B. dem abgeschnittenen Zeigefinger, Gründe des Anstoßes in seiner Familie sieht, obwohl diese von seinen Zeitgenossen »bereits ironisch unterlaufen oder regelrecht parodiert« werden, wie Gerhard Schulz in seiner Kleist-Biographie bemerkt.31 Aber auch gattungstheoretisch steht Die Familie Schroffenstein auf interessante Weise quer zum bürgerlich-familiäre Konflikte abhandelnden bürgerlichen Trauerspiel. Während die Kinder – Sara Sampson, Emilia Galotti oder Schillers Ferdinand und Louise aus Kabale und Liebe, um nur die »Bekanntesten auf einem unübersehbaren Leichenfeld« zu nennen – »den Heldentod [sterben] für Intimität und Tugend, damit die Idee der Familie leben kann«,32 weist der ins Groteske gewendete Schluss der Tragödie Die Familie Schroffenstein bereits auf die Brüchigkeit dieser Idee.33 So changiert denn auch das ›Schlusswort‹ des geistesverwirrten Johann, »Bringt Wein her! Lustig! Wein! Das ist ein Spaß zum | Totlachen!« (DKV I, 232), zwischen Komik und Tragik. Angesichts der beiden von ihren Vätern ermordeten Liebenden bemerkt Schulz im Hinblick auf diese groteske Szene: »Nur was ins Alberne zu gleiten scheint, wendet sich mit dem wörtlich genommenen ›Totlachen‹ doch wieder in den Ernst des Schauderns«.34 Weiter merkt er an, dass sich Die Familie Schroffenstein »unübersehbar seinen eigenen Lebensumständen [nähert]: es war ein Familiendrama, aber nicht eines, das die bürgerliche Familie verklärte […], sondern eines über die Selbstzerstörung eines Rittergeschlechts durch einen ›Erbvertrag‹: Adel im Untergang«.35 Allerdings lässt sich über eine plane autobiographische Lesart der Kleist’schen Werke hinaus angesichts der fast dekonstruktiven Struktur der Kleist’schen Texte gerade am Beispiel der Familie Schroffenstein nachweisen, wie sehr konträre familiale Wahngebilde in die paradoxe Situation führen, dass sie sich nur um den Preis neuer Wahnvorstellungen ›auflösen‹ lassen, wie Bernhard Greiner bemerkt hat.36 30 31 32 33

Ebd. Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie. München 2007, S. 239. Jens Bisky: Kleist. Eine Biographie. Berlin 2007, S. 177. Ein close reading der Kleistschen Werke auf der Folie biographischer Daten bietet auch Albrecht Weber: Kleist. Brennlinien und Brennpunkte. Würzburg 2008. 34 Schulz: Kleist (wie Anm. 31), S. 239. 35 Zur »Familienproblematik« (DKV IV, 532) vgl. auch DKV IV, 532–535. 36 Bernhard Greiner: »Die Möglichkeit einer dramatischen Motivirung denken können«. Kleists Paradoxe und Versuche ihrer Motivierung, mit einem Exkurs zur Familie Schrof-

»Wie die Mäuse, die man aus Apfelkernen scheidet«

191

Aber zurück zum biographischen Kontext. Auch der emotionale und psychische Druck seiner Familie, seine Zukunft zu gestalten (»Angst, was aus mir werden werde«) lastet so schwer auf Kleist, dass er fürchtet, »rasend«37 zu werden. Zudem muss er Oßmannstedt, den Ort, an dem das Kleist’sche Ich als dichterisches Bestätigung gefunden hat, wieder verlassen, wie er wohl schon bei seinem Einzug gemutmaßt haben dürfte: Denn Kleist berichtet bereits Anfang Januar 1803 seiner Schwester, dass er »trotz einer sehr hübschen Tochter Wielands«38 zu Wieland ziehen werde, und antizipiert im gleichen Monat seine erneute Unbehaustheit: »Ich habe aber [in Oßmannstedt] mehr Liebe gefunden, als recht ist, und muß über kurz oder lang wieder fort; mein seltsames Schicksal!«39 Wie die ihres Status’ als Erbtochter gewisse und emotional unabhängige Sonnemon ihrem Minneritter Gandalin gegenüber, hat wohl auch der sich als Dichter gestärkt fühlende Kleist Wielands Tochter Louise gegenüber, die sich in den Dichter verliebt hatte, eine superiore Position inne, ohne jedoch in den Genuss der komödiantischen Lösung in Wielands Epos zu gelangen. Neben dem bevorstehenden Umzug der Familie Wieland nach Weimar und möglicherweise der Erwartung Wielands, den Robert Guiskard abgeschlossen zu sehen, hat auch die Bitte der Wieland-Töchter, Kleist möge abreisen (vgl. DKV IV, 812), dazu geführt, dass Kleist von Oßmannstedt nach Leipzig reiste.40 Damit ist er jedoch um die conditio sine qua non seines Schreibens gekommen: Akzeptanz, Ruhe und Zeit: »Aber ich muß Zeit haben, Zeit muß ich haben – O ihr Erynnien mit eurer Liebe!«41 So wie Gandalin ortlos und unbehaust drei Jahre lächerlich und tragisch zugleich von seiner Liebe zum Reisen gezwungen wird, sieht sich auch Kleist genötigt, aufgrund einer Liebe wieder aufzubrechen, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Kehrt Gandalin letztlich heim zu seiner Geliebten, so kehrt Kleist einer ihm entgegengebrachten Liebe, deren Entwicklung er, selbst wenn er sie nicht aktiv gefördert hat, auch nicht entgegengetreten ist,42 den Rücken. Da er sich so auch selbst um die Zeit bringt, die

37 38 39 40 41 42

fenstein. In: Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 27 (2008): Themenheft Heinrich von Kleist, hg. von Ortrud Gutjahr, S. 39–66, hier S. 50. Schulz: Kleist (wie Anm. 31), S. 239. Kleist an Ulrike von Kleist, Anfang Januar 1803; DKV IV, 311. Kleist an Ulrike von Kleist, Januar 1803; DKV IV, 312. »Aber ich mußte fort! O Himmel, was ist das für eine Welt!« Kleist an Ulrike von Kleist, 13./14. März 1803; DKV IV, 312. Kleist an Ulrike von Kleist, 13./14. März 1803; DKV IV, 314. Luise Wieland schreibt am 19. April 1811 an ihre Schwester Charlotte Geßner, dass Kleist »durch die Umstände begünstiget mir glauben machte, ich sei wiedergeliebt« (Lebensspuren Nr. 94a). Dass Kleist Luise verführt habe, wie Rudolf Loch in seiner Bio-

192

Inka Kording

er für eine schriftstellerische Tätigkeit benötigt, sind mit den Erynnien nicht nur »ungeduldig drängende, allzu erwartungsvolle Freunde und Verwandte« (DKV IV, 814) gemeint, sondern auch eben jene Rachegöttinnen, die »für die Rechtmäßigkeit der Dinge innerhalb der eingerichteten Ordnung« sorgen und vor allem solche Menschen verfolgen und mit Wahnsinn belegen, »die gegen naturgegebene Gesetze verstießen, besonders gegen jene, die Familienbande zerstört hatten, etwa durch Vatermord, Brudermord oder Verwandtenmord«.43 Auch wenn Kleist in Oßmannstedt nicht dezidiert »Familienbande« zerstört, geschweige denn einen Mord begangen hatte,44 so wird doch aus seinen brieflichen Bemerkungen deutlich, dass er sich der tiefen Neigung Louises zu ihm und dem daraus resultierenden Leid für die einseitig Liebende bewusst war. Insofern ist die komisch-ironische, mit einem verzweifelten Unterton versehene Evokation der Erynnien nicht nur prospektiv auf sein zu verwirklichendes Dichtertum und die eigenen Zweifel oder die Widerstände seiner Angehörigen bezogen, sondern verweist auf der Folie des Wieland-Gedichtes auch auf die ebenfalls tragisch-komischen Verwicklungen in lebenspraktischen Liebesangelegenheiten. Darüber hinaus erhält die Engführung privativ generierter emotionaler Obliegenheiten mit den Themenbereichen Rache, Mord, Tod und Wahnsinn durch den Hinweis auf die Erynnien über den lebensgeschichtlichen Tagesbereich hinaus auch noch Relevanz für die Struktur individualer Äußerungen des ICH. Ähnlich hintergründig ist auch der in der Negation, der Beteuerung des Nicht-Spotten-Wollens wiederum enthaltene Spott angesichts der geografischen Mobilität seiner Schwester zu lesen: »Aber der Himmel behüte mich, dir diese Reiselustigkeit zu bespötteln. Denn das wäre, als ob Einer, der mit sinkenden Kräften gegen einen Fluß kämpfte, die Leute, die auf sein Schreien ans Ufer stürzten, der Neugierde zeihen wollte.«45 Kleist verangraphie behauptet (Rudolf Loch: Kleist. Eine Biographie. Göttingen 2003, S. 168) bleibt unbewiesene Spekulation, zumal Jens Bisky zu Recht anmerkt, dass Christoph Martin Wieland seinem jungen Dichterfreund wohl kaum ein Empfehlungsschreiben an den Leipziger Verleger Göschen mitgegeben haben dürfte, wenn dieser seine Tochter defloriert hätte; Bisky: Kleist (wie Anm. 32), S. 185. 43 Michael Grant und John Hazel: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. München. 1985, S. 154f. 44 Für Verwerfungen hat Kleist allerdings wohl durchaus gesorgt, da es, wie Luise ihrer Schwester in dem bereits zitierten Brief berichtet, »manchen unangenehmen Wortwechsel« (Lebensspuren Nr. 94a) zwischen ihrem Bruder Ludwig und seinem Freund Kleist gegeben hat. Außerdem hasste Luises Schwester Amalie Kleist »von ganzer Seele« (ebd.), während die andere Schwester Caroline von seinem Charme wohl ebenfalls fasziniert war. 45 Kleist an Ulrike von Kleist, 13./14. März 1803; DKV IV, 312.

»Wie die Mäuse, die man aus Apfelkernen scheidet«

193

schaulicht hier nicht nur die spöttische Anerkennung von Ulrikes Verhalten, er parallelisiert auch ihre Reiselust und seine Reisenot im Bild des Ertrinkenden, das durchaus auf den Autor des Briefes zu beziehen ist, da der Spötter, also Kleist, in direkte Relation zu dem Schwimmer gesetzt wird. Insofern wird auch der ebenso berechtigte wie – von Seiten des lebenslang unbehausten Kleist – ungehörige Spott im Hinblick auf die Reisefreudigkeit seiner Schwester mit dem Vorwurf der Neugierde gleichgesetzt, die angesichts der Schreie des Schwimmers natürlich, angesichts der existenziellen Not des möglicherweise Ertrinkenden aber unangebracht ist. Auch hier wird also das witzig-vergleichende Bonmot in einen tragischen, da lebensbedrohenden Kontext gesetzt. Dieser wird gerahmt von der Erwähnung Oßmannstedts, also einem Hinweis auf Wieland und Kleists eigene dichterische Existenz, einer pragmatisch-organisatorischen Anmerkung und dem Eingeständnis, dass die vermeintlich gesicherten und angenehmen Lebensumstände wieder unruhig geworden sind: »Und dich begleitet auf allen Schritten Freude auf meinen nächsten Brief ? O du Vortreffliche! Und o du Unglückliche! Wann werde ich den Brief schreiben, der dir so viele Freude macht, als ich dir schuldig bin?«46 Die Verflechtung zwischen der schriftlichen Kommunikation mit seiner Schwester und seinem Dichtertum gehen jedoch noch weiter. Denn nicht nur Kleists Aufenthalt in Oßmannstedt, sein Bedauern über die Abreise und Wielands Zuspruch der Kleist’schen Dichtung gegenüber, nicht nur die aus Apfelkernen geschnitzte Maus und damit Wielands Epos Gandalin rahmen Kleists Brief an seine Schwester. Auch eine der zentralen Aussagen des Briefes, der Topos des ›ausgerissenen Herzens‹, der direkt auf Kleists rhetorische Frage nach dem nächsten Ulrike erfreuenden Brief folgt, ist einem zentralen Passus der ironisierten Minnedichtung Gandalin von Christoph Martin Wieland entnommen. Während es bei Kleist heißt: »Ich weiß nicht, was ich dir über mich unaussprechlichen Menschen sagen soll. – Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen, und dir zuschicken. – Dummer Gedanke!«47 formuliert Wieland in einer Leseransprache: Gewiß, ihr könntet euch kaum erwehren, Sein Leiden – wiewohl die bittre Frucht Der Sünde – mit einem Tränchen zu ehren; Denn, ach! wer wurde nie versucht? Oft wenn das brennende Gewissen, Die Qual sich selbst verachten zu müssen, 46 Ebd. 47 Kleist an Ulrike von Kleist, 13./14. März 1803; DKV IV, 313.

194

Inka Kording

Er länger nicht ertragen kann, Fällt wütend der Gedank ihn an, Sein treulos Herz sich aus dem Leibe Zu reißen, und dem geliebten Weibe, Dem’s angehört, an seiner Statt Es zuzuschicken – um ihr zu zeigen Wie sie die Liebe gerochen hat. ›O Sonnemon, dir nichts zu schweigen Gelobt’ ich – Sieh, dies Herz, das Dich Nur lieben sollte! – In wenig Wochen Warst du gewonnen! – O Götter! und ich, Ich Schwacher – hatte zu viel versprochen! Dies Herz verriet, verführte mich; Allein, so hab’ ich dich gerochen!‹ Sein weiser Dämon, zu gutem Glück Wachsam, hielt ihm, die Hand zurück. ›Wozu dich selbst so quälen!‹ flüstert Der Engel ihm zu: ›du bist aus Thon Gebildet wie jeder Erdensohn, Bist mit den Tieren des Felds verschwistert, Und unterworfen dem Getäusch Der Leidenschaften, wie alles Fleisch. Nur laß den Kampf dich nicht ermüden! Der Sieg ist zwar noch unentschieden; Doch, wolle nur, so ist er dein!‹ Kurz, (denn euch kann nichts fremdes sein Wie Engel in solchen Fällen sprechen) So wie der Ritter sein Verbrechen In einem mildern Lichte sieht, Legt sich der Sturm in seinem Geblüt. Er fühlt sich noch nicht ganz verlassen, Beginnet wieder Mut zu fassen; Dem Mute folgt Entschlossenheit, Und nun wird’s auch im Vorhaupt heller.48

So wird »durch die Einbettung in den Kontext biographischer Daten und den Textzusammenhang insgesamt« in der Tat deutlich, dass dieser Brief »das selbstbewußte Spielen Kleists mit literarischen Konventionen und Zeitthemen unter Beweis stellt«.49 Allerdings scheint es angesichts des Wielandschen Epos als Intertext für die literale Sendung des metaphorischen Myocards weniger um rezeptions-

48 Wieland: Werke (wie Anm. 8), S. 718f. 49 Kapp: Des Gedankens Senkblei (wie Anm. 16), S. 178f.

»Wie die Mäuse, die man aus Apfelkernen scheidet«

195

theoretische Überlegungen zu gehen, wie etwa Gabriele Kapp meint,50 sondern um die Verortung des eigenen Selbst in einem ironisch-tragischen Vexierspiel von Dichtertum und – nicht nur topographischer – Unbehaustheit. In dem Changieren von Bedeutungsübernahmen aus dem Intertext, Ironisierung und/oder Umkehrung dieser Bedeutungen ins Gegenteil, in der Rückübertragung der neu geschaffenen Textur auf den primären Kontext lässt sich die Kleist’sche Schreibweise mit Bianca Theisen nicht nur als »Bogenschluss« charakterisieren, indem der berühmte Schlussstein im Würzburger Stadttor zum ›Kipppunkt‹ wird, an dem nicht nur das Lesen, sondern auch das Schreiben »zwischen Fremdreferenz und Selbstreferenz unterscheiden müßte und doch nicht unterscheiden kann, weil es von den Texten auf die Paradoxie der Einheit dieser Unterscheidung festgelegt wird«.51 Kleist befindet sich in einer psychosozial und emotional sehr angespannten Situation: seine emotionale Verfasstheit changiert zwischen Euphorie angesichts seiner ersten dichterischen Erfolge und Unsicherheit auf Grund der pragmatischen äußeren, konzentriertem Schreiben nicht zuträglichen Lebensumstände. Seine Emotionen pendeln zwischen dem wohltuenden Zuspruch Wielands und den für seine Familie problematischen Sujets seiner Dichtung. Er schwankt zwischen der Stärkung seiner Person durch Louises Liebe und der Notwendigkeit, genau dadurch der Zeit und Ruhe zum Schreiben enthoben zu werden. In dieser Konstellation rekurriert Kleist nun auf einen Intertext, der die existenzielle Notsituation des Protagonisten Gandalin sowohl ernst nimmt als auch ironisiert. Außerdem kann Kleist rezeptionstheoretisch davon ausgehen, dass seine Briefpartnerin den Subtext dieses Briefes ebenfalls dechiffrieren wird. Damit lassen sich einmal mehr – allerdings reziproke – Parallelen ziehen zwischen dem verzweifelten Gandalin und dem euphorisierten Kleist. Gandalins weiser ›Dämon‹, ein den Menschen zugetaner, vernunftbegabter Geist oder auch 50 Vgl. ebd., S. 179: Kapp bemerkt, dass es sich hier um das Problem handele, »auf welche Weise es der Dichter anstellen soll, daß jene den dynamischen Aufriß der Seele ausmessenden Worte ihr Ziel, das heißt also ihr Lese-Publikum auch erreichen«. Auch hält sie die sprachkritische Relevanz dieses Zitats für überbewertet, da »Tenor und Generallinie des Briefes offensichtlich den Zweck haben, das neugewonnene Selbstverständnis Kleists als Schriftsteller zu dokumentieren«, woraus folge, »daß die Einschätzung des ersten oft als Ausweis einer ›Sprachskepsis‹ angeführten Zitats in seiner Geltung revidiert werden muß« (ebd., S. 178). Dass für die Frage der Individualitätskonstruktion, ihrer Fundierung und Entwicklung, ihres Kerns und ihrer ›Exzentrizität‹ Kleists Sprachskepsis und damit dieses Zitat grundlegende Bedeutung haben, zeige ich in meiner Dissertation. 51 Bianca Theisen: Bogenschluß. Kleists Formalisierung des Lesens. Freiburg 1996, S. 11. Siehe auch Bianca Theisen: Kleists Paradoxien des Lesens. In: Inka Kording, Anton Philipp Knittel (Hg.): Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2003, 22009, S. 111-130, hier S. 111.

196

Inka Kording

die eigene Seele,52 kann Gandalins Selbsttötung als Vergeltung für die – vermeintliche – Untreue gerade noch verhindern. Demgegenüber unterlegt Kleist als angehender Dichter seinem Brief ein Werk seines väterlichen Mentors und Förderers – und Vaters der in Liebe zu ihm entbrannten Luise – womit er sich im Spiel mit literarischen Versatzstücken seinem Gönner als ebenbürtig erweisen will. Allerdings sind auch hier die Brechungen konträr. Denn Kleist versieht, wie gezeigt, witzige Bonmots implizit (Erynnien) oder ironisch (der Schwimmer im Fluss) mit potentiell pathologischen (Wahnsinn) oder gar letalen (Tod durch Ertrinken) Konnotationen. Damit ›fließt‹ nicht nur der Sinn ununterbrochen zwischen Text und Intertext, zwischen fiktionaler Figur und der Ich-Konstruktion des Sprach-Spielers, sondern der ›Sinn‹ selbst als hermeneutische Kategorie verweist in der Gleichzeitigkeit der Widersprüche zum einen auf die Konstruktionalität des artifiziellen Sprachgestus als gleitendem Paradox, wie es Gerhard Neumann für Kafkas Texte konstatiert hat.53 Mit dem und in dem ›Spiel‹ mit literarischen Versatzstücken kreuzt der Briefautor die Oberflächenstruktur seiner Episteln mit dem intertextuellen Subtext und parodiert sowohl diesen als auch seine eigene Lebenssituation, sodass das Ich als Zentrum, als Mittelpunkt dieser kommunikativen Bewegungen fungiert. Zum anderen verweist die paradoxale Bedeutungsstruktur der Kleist’schen Briefe (aber nicht nur dieser) in der Überdeterminiertheit der ›Sinn-Angebote‹ auch auf das »Zerfällen der Zeichenordnungen und Diskursformationen«,54 die durch das Briefe schreibende Ich immer wieder neu und mühsam zusammengestückt werden. Und schließlich zeichnet sich in der mehrfachen parodistischen Bedeutungsübertragung, die bis zur paradoxalen Ununterscheidbarkeit von ›Wahrheit‹ und Parodie führt, auch die Brüchigkeit und Tragik dieser Ichfokussierten Struktur ab. Im Gegensatz zu Kleist allerdings erdet Wieland die tiefe Verzweiflung des Helden durch den Hinweis auf die anthropologische Grundkonstante der Triebhaftigkeit menschlicher Existenz, wodurch der Held getröstet wieder Mut fasst und aufgeklärte Vernunft – zumindest partiell – das weitere Geschehen bestimmt: »Und nun wird’s auch im Vorhaupt heller.«55

52 Lemma ›Dämon‹. In: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste. Halle, Leipzig 1741, Bd. VII, S. 37f. 53 Gerhard Neumann: Umkehrung und Ablenkung. Franz Kafkas ›Gleitendes Paradox‹. In: Heinz Politzer (Hg.): Franz Kafka. Darmstadt 1991, S. 459–511. 54 Greiner: »Die Möglichkeit einer dramatischen Motivirung denken können« (wie Anm. 36), S. 44. 55 Wieland: Werke (wie Anm. 8), S. 719.

Anna Castelli

Fiktive Briefe in den Berliner Abendblättern Kleist, die »Zuschrift eines Predigers« und die Quinen-Lotterie

»Also edle Beispiele; Künste; Theater; Kenntnisse, die zum Umlauf reif sind; Erziehung; Predigtwesen; nützliche Erfindungen; Handhabung der Gerechtigkeit; Geschichte von Verbrechern; menschliches Elend im Verborgnen; – welche wichtige Artikel zu einer Zeitung für das Volk!«,1 so schreibt 1784 Karl Philipp Moritz, der einige Monate lang für die Vossische Zeitung gearbeitet hatte, in seinem Aufsatz Ideal einer vollkommenen Zeitung. Sollte Kleist ein Programm für die Redaktion seiner Berliner Abendblätter gehabt haben, könnte es mit diesem Manifest des Journalismus übereinstimmen. In den Berliner Abendblättern treten in variierter Form alle von Moritz angesprochenen Inhalte auf. Das Theater und die bildende Kunst kommen in Essays und Besprechungen von Kleist oder anderen Beiträgern vor. Laut Moritz sollte auch ein Blick auf die »öffentliche« und die »Privaterziehung«2 geworfen werden, und genau das leistet der Artikel Allerneuerster Erziehungsplan, der in mehreren Folgen in den Berliner Abendblättern erscheint. Moritz’ Forderung »Jede nützliche Erfindung, sie sei so klein sie wolle, müßte ein Hauptgegenstand der Aufmerksamkeit werden«3 wird im Aufsatz Nützliche Erfindungen über die Bombenpost entsprochen. Moritz’ »Kenntnisse, die zum Umlauf reif sind« spiegeln sich in dem Artikel Das Waschen durch Dämpfe wider, und schließlich finden auch die öffentliche »Handhabung der Gerechtigkeit«, die »Geschichte[n] von Verbrechern«, und das »menschliche Elend im Verborgnen« ihren Platz, und zwar in den »Polizeilichen Mitteilungen«. Im Vergleich zu den schon in anderen Blättern veröffentlichten Steckbriefen können sie sich als Novum in der deutschen Zeitungsgeschichte durchsetzen und wesentlich zum anfänglichen Erfolg der Berliner Abendblätter beitra1 2 3

Karl Philipp Moritz: Ideal einer vollkommenen Zeitung. In: ders.: Werke, Bd. III: Erfahrung, Sprache, Denken. Hg. von Horst Günther. Frankfurt a.M. 1981, S. 173. Ebd., S. 172. Ebd.

198

Anna Castelli

gen. Moritz’ Aufsatz wurde im Zusammenhang mit Kleists Zeitungskonzept schon angesprochen,4 aber wenn man die Gestaltung der Berliner Abendblätter betrachtet, zeigt sich eine noch deutlichere Parallele. Besondere Beachtung verdient in diesem Kontext außerdem Moritz’ Aufforderung an den Schreiber der vollkommenen Zeitung, »sich aber auch selber unter das Volk mischen, um seine Urteile, seine Gesinnungen zu hören, und seine Sprache zu lernen«.5 Die Frage nach einem möglichen Kontakt zwischen Zeitungsmacher und Leserschaft ist kompliziert. Die Vielfalt von Fachzeitschriften (pädagogische, theologische, literaturkritische und Musikzeitschriften sowie Moralische Wochenschriften) zeigt, dass der potenzielle Leser innerhalb bestimmter Kreise zu suchen war. Aber eine Zeitung, die sich an eine breitere Gruppe – wenn auch nicht an das ›Volk‹ – wenden wollte, sollte weniger themenspezifische Inhalte haben, als nach einem Stoff suchen, der die verschiedensten Leser zur aktiven Teilnahme auffordern könnte. Das Wort Publikum, das ab dem 17. Jahrhundert aus dem französischen public (»öffentlich, allgemein bekannt«) entliehen und ab dem 18. Jahrhundert gebräuchlich wurde, umfasst in der Zeit um 1800 auch Zeitungsleser: »früher sagte man ›die deutsche Welt‹ oder ›leserwelt‹ statt ›das deutsche publicum«.6 Eher selten sind aber in den Blättern dieser Zeit, wie der Haude- und Spenerschen Zeitung oder der Vossischen Zeitung, öffentliche Anreden an die Leser. Diese beschränken sich entweder auf Informationen über Zahlung oder Lieferung der Zeitung oder bringen redaktionsexterne Inhalte ins Spiel. Die Anrede »An das Publikum!« findet man zum Beispiel in seitengroßen Werbungen ohne Bezug zum Zeitungsinhalt.7 In dem in Frankfurt an der Oder herausgegebenen Patriotischen Wochenblatt leiten die Anreden »An das Publikum!« Aufrufe zur Wohltätigkeit oder öffentliche Mitteilungen von Behörden ein.8 Eine ähnliche Herangehensweise ist bei Kleists Mitteilung »An das Publicum« zu beobachten. Hier werden den Lesern 4

5 6 7 8

Sibylle Peters: Berliner Abendblätter. In: Ingo Breuer (Hg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2009, S. 166–172. Siehe auch Sibylle Peters: Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit. Von der MachArt der Berliner Abendblätter. Würzburg 2003, S. 59; Bodo Rollka: Die Belletristik in der Berliner Presse des 19. Jahrhunderts. Untersuchungen zur Sozialisationsfunktion unterhaltender Beiträge in der Nachrichtenpresse. Berlin 1985, S. 73. Moritz: Ideal einer vollkommenen Zeitung (wie Anm. 1), S. 176. Stichwort »Publicum, Publikum«. In: Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. VII: N. O. P. Q. Leipzig 1889, S. 2201. Siehe z.B. Haude- und Spenerschen Zeitung (Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen), 6. Oktober 1810; Vossische Zeitung (Königlich Privilegirte Zeitung), 29. Dezember 1810, siehe auch 6. Oktober 1810. Frankfurter Patriotisches Wochenblatt, 26. Januar 1811, 9. Februar 1811.

Fiktive Briefe in den Berliner Abendblättern

199

Informationen jedoch nicht knapp bekannt gegeben, sondern sie werden ausführlich auf zwei Seiten der Berliner Abendblätter abgehandelt (vgl. BKA II/7, 31f.). Durch zusätzliche Veröffentlichung bei anderen Zeitungen soll ihre Reichweite außerdem noch erhöht werden.9 Neben nüchternen Informationen zur Lieferung der Zeitung gibt Kleist in dieser Form auch die erste, resolute Erklärung der Redaktion ab: »Übrigens wird nur auf den Schluß des vierten Blattes […] verwiesen, um das Publikum zu überzeugen, daß bloß das, was dieses Blatt aus Berlin meldet, das Neueste und das Wahrhafteste sei« (BKA II/7, 32). Der Aufbau der Vossischen Zeitung und der Haude- und Spenerscher Zeitung ist ähnlich: Anzeigen, die viel Platz einnehmen und unter den Titeln Bekanntmachungen, Aufrufe, Bitte, Aufforderung den Lesern ein breites Spektrum von Themen anbieten. Alles dreht sich um Entbindungen, Verlobungen und Todesfälle, Vermietungen, Verpachtungen und Verkäufe, außerdem finden sich hier Konzert- und literarische Anzeigen, Informationen über Ausstellungen und Aufrufe – wie im Patriotischen Wochenblatt – zur Wohltätigkeit. Aber dieser Masse von Anzeigen, die täglich zusammengestellt werden, entspricht keine durchdachte Kommunikationsstrategie. Eine direktere Anrede an die Leserschaft erfolgt mit den öffentlichen Briefen, die gelegentlich von Gesellschaften und Vereinen geschickt werden, im Wesentlichen aber offizielle Mitteilungen von Behörden darstellen, so etwa das »An unsere Mitbürger« im Patriotischen Wochenblatt und im Moniteur Universel (der französischen Gazette Nationale), die Kleist später verwerten wird. Dieser zögerliche, noch seinen Platz suchende Briefverkehr funktioniert allerdings nur in eine Richtung: Die Leser sind in dieser Zeit lediglich sporadisch ein aktiver Teil des Zeitungswesens. Im Moniteur erscheinen zwar Ende 1810 zwei Briefe »Au redacteur«, aber sie haben eher die Form einer knappen Berichtigung und stellen kein für das mitlesende ›Publikum‹ relevantes Thema zur Debatte.10 Die Zeitungen, die von den Zensurbehörden zu einer sensiblen, gefilterten, stets störanfälligen Kommunikation gezwungen sind, haben den Weg von der Nachrichten- zur Meinungszeitung noch nicht eingeschlagen, und die Leser selbst nehmen sich noch nicht als mögliche Akteure in der Öffentlichkeit wahr. Leserbriefe sind schon in den Moralischen Zeitschriften zu finden. Es geht oft um fiktive Briefe, die inhaltlich mit den behandelten Themen der Zeitschriften übereinstimmen und nicht selten ein belehrendes Ziel ha9

Berliner Intelligenzblatt zum Nutzen und Besten des Publici, 8. Oktober 1810, Nr. 241; Vossische Zeitung, 9. Oktober 1810, Nr. 121, Beilage S. 1; Haude- und Spenersche Zeitung, 9. Oktober 1810, Nr. 121 (BKA II 7/8, CD-Rom). 10 Le Moniteur 21. November 1810 und 10. Dezember 1810.

200

Anna Castelli

ben.11 Auch der Pfarrer Hermann Bräß, der nach der wohlwollenden Lockerung der Zensur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Rothe Zeitung herausgibt, verfolgt eine solche Absicht und versucht, in seinem von aufklärerischen Prinzipien geprägten Blatt durch die Veröffentlichung von Briefen einen engeren Kontakt zu seinen Lesern herzustellen. Mit dem Brief von einer Gevatterin an eine andere in der ersten Nummer seines Blatts im Jahr 1786 bahnt er dem Leserbrief den Weg ins Zeitungswesen.12 Dieser ersten Zuschrift, bei der es sich wahrscheinlich um einen fiktiven Brief handelt, folgen weitere Einsendungen, die als authentisch gelten. Unabhängig davon aber, ob diese Briefe original sind oder nicht, erweisen sie sich als fruchtbares Gespräch des Herausgebers mit dem Leser (oder eher: Richtung Leser). Dieses Gespräch diente der Wissensvermittlung (um Sachkenntnisse der Leserschaft in bestimmten Bereichen zu verbessern und zu vertiefen), der Unterhaltung (beispielsweise durch literarische Rezensionen) und indirekt auch der Werbung, da die Zuschriften vom Erfolg der Zeitung zeugten. Auch wenn der Leserbrief sich erst mit der zunehmenden Alphabetisierung der Bevölkerung und vor allem mit dem Übergang zur Meinungspresse etablieren wird, erfolgt seine Erscheinung schon zu Zeiten der Entstehung der Lokalberichterstattung. Die Lokalchronik und vor allem die Lokalzeitung bilden Anlass zu einem regen Austausch mit dem Leser, der in die geschilderten Vorfälle persönlich involviert ist und sich zur Beteiligung aufgerufen fühlt.13 Die »Polizeilichen Mitteilungen« in den Berliner Abendblättern erweitern den Spielraum der Informationsvermittlung. Anders als die üblichen Steckbriefe, die sich auf gefilterte Informationen der Behörden stützen, decken sie trotz ihrer Knappheit ein breiteres und vom Herausgeber ausgewähltes Spektrum von Vorfällen ab und bilden die ersten Schritte zur Etablierung der Lokalberichterstattung. Dementsprechend machen die Berliner Abend11 Helga Brandes: Moralische Wochenschriften. In: Ernst Fischer, Wilhelm Haefs, YorkGothart Mix (Hg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800. München 1999, S. 225–232; Werner Faulstich: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830). Göttingen 2002, S. 236–242. 12 Andrea Mlitz: Dialogorientierter Journalismus. Leserbriefe in der deutschen Tagespresse. Konstanz 2008, S. 169. Laut Ulrich Püschel erfolgt die Entstehung der Leserbriefe erst 1842 in der Trier’schen Zeitung: Ulrich Püschel: Zwischen Modernität und Tradition. Die Anfänge der Leserbriefkommunikation in der Zeitung. In: Hans Jürgen Heringer und Georg Stötzel (Hg.): Sprachgeschichte und Sprachkritik. Festschrift für Peter von Polenz zum 65. Geburtstag. Berlin, New York 1993, S. 69–88. Siehe dazu auch Julia Heupel: Der Leserbrief in der deutschen Presse. München 2007, S. 29–34. 13 Die Verkaufszahlen zeigen, dass die Leser eher milder reagierten, wenn der Inhalt der Rothen Zeitung sich auf politische Themen begrenzte. Die Mehrheit der Beiträge kam bei lesernahen Themen. Mlitz: Dialogorientierter Journalismus (wie Anm. 12), S. 179.

Fiktive Briefe in den Berliner Abendblättern

201

blätter den Weg zu einer journalistischen Form frei, die als Zeitung (und nicht als Organ für andere, Behörden und Verkäufer etwa) intensiver mit dem lesenden Publikum kommuniziert. Im Vergleich zu anderen Blättern zeigen die Berliner Abendblätter eine stärkere Neigung zur Debatte und beinhalten eine direktere Aufforderung an das Publikum, auf Ideen, Stellungnahmen, Meinungen und Ansichten zu reagieren. Der intensive Austausch, den Kleist mit seinen Briefpartnern in den Jahren bis 1810 pflegte, scheint in den Monaten zwischen Oktober 1810 und März 1811 zum Erliegen zu kommen, und zwar zugunsten der schriftlichen Kommunikation mit Buchhändlern, Mitarbeitern und staatlichen Behörden. Immer ging es um die Berliner Abendblätter, ihre finanzielle Lage, ihren Umgang mit Zensurbehörden, die Identität der Beitragenden. Mit der Äußerung, dass die Berliner Abendblätter »ein Blatt für alle Stände des Volks sein soll«,14 weist Kleist implizit einen Journalismus zurück, dessen Kunst, wie er im Lehrbuch der französischen Journalistick 1809 schreibt, darin besteht, »das Volk glauben zu machen, was die Regierung für gut findet« (BKA II/9, 81). In diesem unveröffentlichten Schreiben, das in knappe Lehrsätze, Beweise und Korollarien gegliedert ist, greift Kleist die Methoden der französischen Presse an. Gegenstand seiner scharfen Kritik, die eine Vielfalt von Argumenten und Beispielen vorbringt, ist unter anderem die Tendenz zur Verfälschung von Zahlen und Fakten, die selbst prominente Zeitungen wie den Moniteur kennzeichnet. Auch das Thema Leserbrief wird im Lehrbuch angesprochen: »Sie [die französischen Journalistik] ist bloß=Sache der Regierung, und alle Einmischung der Privatleute, bis selbst auf die Stellung vertraulicher Briefe die die Tages=Geschichte betreffen, verboten« (BKA II/9, 81f.). Die Briefe, von denen in diesem Satz die Rede ist, scheinen von der Bereitschaft der Leserschaft zu zeugen, ihre Meinung kundzutun, in bestimmten Angelegenheiten auch persönlich zu intervenieren und ausführlich Auskunft über alltägliche Ereignisse (»Tagesgeschichte«15) zu erteilen. Die Zensur der Presse beschränkt sich jedoch nicht darauf, dem Standpunkt des Lesepublikums nur wenig Beachtung zu schenken. Auch ihre Neigung, der Öffentlichkeit schlechte Nachrichten vorzuenthalten, ist laut Kleist offenkundig: »Es gilt für das Innere des Landes, in allen Journalen Stillschweigen, einem Fisch gleich. Unterschlagung der Briefe, die davon handeln« (BKA II/9, 87). Regierungsorgane manipulieren somit gemein-

14 Kleist an Prinz Eduard von Lichnowsky; BKA IV/3, 460–461. 15 Vgl. Stichwort »Tagesgeschichte«. In: Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. XI, 1. Abt., 1. Teil: T-Treftig. Leipzig 1935, S. 67: »geschichte des tages, der tagesereignisse: fremder, der nicht über die tagesgeschichte der stadt mit ihr schwatzen konnte […] (1802)«.

202

Anna Castelli

sam mit der Presse die Zirkulation des Wissens, die durch den Briefverkehr mit den Bürgern andernfalls ermöglicht würde. Ebenfalls im Jahr 1809 schreibt Kleist den Brief eines politischen Pescherä über einen Nürnberger Zeitungsartickel. In diesem fiktiven Brief, den ein Südamerikaner (ein »Pescherä«) seinem Vetter schreibt, wird ein Artikel des Nürnberger Korrespondenten zusammengefasst und Berichtigung und Klärung der Fakten gefordert. Gegenstand des Artikels ist ein Kampf zwischen französischen und deutschen Truppen, dessen Verlauf freilich nicht wahrheitsgemäß wiedergegeben wird. Kleist kritisiert insbesondere die Zweideutigkeit des Berichterstatters, dessen Ausdrucksweise er ironisch mit der Sprache der »Pescherä« vergleicht: Bekanntlich drücken wir mit dem Wort: Pescherä, Alles aus, was wir empfinden oder denken; drücken es mit einer Deutlichkeit aus, die den andern Sprachen der Welt fremd ist […]. Hätte doch der Nürnberger Zeitungsschreiber in der Sprache der Pescherä’s geschrieben! (BKA II/9, 79f.)

Obwohl das politische Thema in diesen Zeilen eine eminent wichtige Rolle spielt, wird es in Form einer Kritik am Zeitungswesen thematisiert. Der Text zeigt, dass das dialogisierende Verfahren im Schreiben Kleists immer mehr an Platz gewinnt. Der Brief eines politischen Pescherä und das Lehrbuch der französischen Journalistick sind ein klares Anzeichen für Kleists Absicht, Stellung in der Pressedebatte zu nehmen und eine eigene Zeitung herauszugeben. In den folgenden Monaten werden der Absicht Taten folgen. Kleists Kommunikationsdrang spiegelt sich in den Berliner Abendblättern in den Fragmenten eines Briefwechsels wider, der zwischen den Formen des Privatbriefs und des öffentlichen Schreibens (Berichtigungen, Anfragen) schwankt. Einige Texte nennen sich Schreiben, Aufforderung, Nachricht sowie Antwort, Replik und Duplik. Sie werden mit »An die Verfasser« adressiert und mit »geliebter«, »hochwohlgeborener«, »hochzuehrender«, »hochgebietender«, »hochgeehrtes«, »hochverehrtes« eröffnet. Weitere, noch offensichtlichere Spuren der Briefform finden sich in den ›ästhetischen‹ Briefen (Brief eines Mahlers an seinen Sohn; Brief eines jungen Dichters an einen jungen Mahler; Brief eines Dichters an einen anderen), die an sich schon eine themenspezifische Konstellation bilden. Das Verhältnis zwischen privater und öffentlicher Kommunikation wird im Brief der Gräfinn Piper, an eine Freundinn in Deutschland noch einmal besonders deutlich. Kleist entnimmt ihn der Zeitschrift Die Zeiten oder Archiv für die neueste Staatengeschichte und Politik, übersetzt und veröffentlicht ihn. In diesem Brief schildert die Verfasserin die Verdächtigungen, die (unter anderem wegen einer massiven Verleumdungskampagne der Presse) infolge des Tods des Kronprinzen von Schweden gegen ihre Familie verbreitet wurden. Aus diesem Grund wurde sie

Fiktive Briefe in den Berliner Abendblättern

203

einem Verhör unterzogen, dessen Bericht Kleist »[z]ur Wissenschaft des Publikums« abdruckt (BKA II/7, 220). Mit diesem Vermerk, in dem er indirekt seine Zielgruppe anspricht, setzt sich Kleist für eine korrekte Darlegung der Fakten ein und positioniert damit seine Berliner Abendblätter innerhalb einer Presselandschaft, die später der Kontrolle der Zensur intensiver unterzogen werden wird. Schon in diesen Kunstgriffen – Ablenkungsmanövern einer immer noch problematischen und nicht immer praktikablen Anrede des Lesers – manifestiert sich das strategische Interesse Kleists, durch die Briefform eine Kommunikation zwischen Leser und Redaktion zu ermöglichen – ein strategisches Verfahren, das in den Berliner Abendblättern durch den Leserbrief verwirklicht wird.16 Diese Leserbriefe in den Berliner Abendblättern stellen Reaktionen auf Artikel dar. Die Verfasser dieser Schreiben sind jedoch oft gebildete Leute, Hofbeamte, Bürger, die sich ohnehin schon aktiv am intellektuellen Leben beteiligen. Für eine Zeitung, die sich laut Kleist an »alle Stände des Volks« wenden sollte, fehlt daher der gewöhnliche Leser, der sich zu Themen von allgemeinerem Interesse äußert. Bleibt dieser Leser trotz des Verkaufserfolgs der ersten Monate stumm, verfehlt der Leserbrief seine Funktion. Kleist selbst gibt sich daher irgendwann als »Berliner Einwohner« aus, der auf die Erfindung einer gewissen Bombenpost reagiert, um dann wiederum als Herausgeber die Ansicht der Redaktion zu äußern. In den Berliner Abendblättern findet man noch einen fingierten Brief, der ebenfalls auf eine gesellschaftliche Novität eingeht. In der Zuschrift eines Predigers – und damit würde auch Moritz’ Forderung nach Einbezug des »Predigtwesens« in einer gelungenen Zeitung erfüllt – wird über die Auswüchse der Quinen-Lotterie in einer Pfarrgemeinde berichtet. Die Oeconomische Encyclopädie von Johann Georg Krünitz beschreibt im Jahr 1812 die Quinen-Lotterie als »eine neue Art der Zahlenlotterie, aber nur mit 30 Nummern, die vor ein paar Jahren hier im Lande statt der sonst gewöhnlichen, für die untere Volksklasse so verderblichen Zahlenlotterie eingeführt wurde«.17 In der Bekanntmachung ihrer Einrichtung am 28. Mai 1810 durch die preußische Behörde stellt man fest, dass »ein vorzuglicher Reiz des Spiels [der Zahlenlotterie] in dem Errathen einer Verbindung von 16 Sibylle Peters spricht zu Recht von einer Strategizität der Berliner Abendblätter: »Statt der konkreten Strategie findet sich eine allgemein auf das Strategische abzielende Kunstfertigkeit im Umgang mit kontingenten Datenmengen«; Peters: Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit (wie Anm. 4), S. 128. Siehe auch Jochen Marquardt: Der mündige Zeitungsleser. Anmerkungen zur Kommunikationsstrategie der Berliner Abendblätter. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 1986, S. 7–36. 17 Stichwort: »Quinenlotterie«. In: Johann Georg Krünitz: Ökonomisch-Technologische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft und der Kunstgeschichte. Bd. CXX. Berlin 1812, S. 34.

204

Anna Castelli

mehreren Zahlen«18 bestand. Da die Trefferquote hier höchst gering war, wurde die Quinen-Lotterie lanciert, die sich allerdings als komplizierter erwies und bald eingestellt werden musste. Am Anfang wurde sie aber breit beworben, und wie bei anderen Glücksspielen sollten die Lotteriegewinne öffentlich verkündet werden. Die Bekanntmachung legt fest: Sofort nach geschehener Ziehung werden gedruckte Anzeigen der gezogenen Quinen, mit Beyfügung des Nahmens und Wohnorts des Einnehmers, wo solche gewonnen worden, ausgegeben. Gleiche Bekanntmachung soll auch durch die öffentlichen Blätter geschehen.19

Die Ankündigungen der Ziehungen der Quinen-Lotterie, die Kleist während der Verfassung der Zuschrift eines Predigers möglicherweise wahrgenommen hat, findet man tatsächlich nicht nur an bestimmten Tagen in einzelnen Zeitschriften und Zeitungen wie den Miszellen für die Neueste Weltkunde20 oder der Allgemeinen Zeitung.21 Dass etliche Meldungen über die neue Lotterie auch in der Vossischen und der Haude- und Spenerschen Zeitung erschienen,22 beweist, dass die Quinen-Lotterie von den Behörden massiv beim Volk propagiert wurde. Die Entscheidung Kleists, sich mit seinen Berliner Abendblättern von den preußischen Zeitungen abzuheben, zeigt sich ausdrücklich auch in der Entscheidung, nicht über Glücksspiele zu berichten. Darüber hinaus sollte seine Zeitung dem Publikum auch noch die Wirkungen des Aberglaubens, der mit solchen Verlosungen verbunden ist, vor Augen führen. Die Zuschrift eines Predigers, die das Datum vom 15. Oktober trägt, wird in den Berliner Abendblättern vom 23. Oktober veröffentlicht, demselben Tag, an dem Kleist dem Prinzen von Lichnowsky sein Konzept eines Volksblatts schildert. Im fiktiven Brief spricht sich ein verzweifelter Pfarrer gegen die neu eingeführte Quinen-Lotterie aus. Sie habe »die aufgeklärte Absicht gehabt, die aberwitzige Traumdeuterei, zu welcher, in der Zahlen-Lotterie, die Freiheit, die Nummern nach eigener Willkühr zu wählen« einzustellen (BKA II/7, 105). Jetzt hätten seine abergläubischen Gläubigen aber eine andere fixe Idee. Er erzählt, dass er während einer Predigt den Psalmendichter David erwähnt habe, den die Gläubigen prompt mit dem hiesigen Lotterieeinnehmer der Quinen-Lotterie verwechselt hätten. Aus diesen Gründen plädiere er für eine neue Lotterie, die diesem Irrglauben an über18 19 20 21 22

Ebd. S. 35. Ebd. S. 38. Miszellen für die Neueste Weltkunde, 29. September 1810 (BKA II 7/8, CD-Rom). Allgemeine Zeitung, 3. September 1810. Siehe dazu: SW II, 943. Siehe u.a. Vossische Zeitung, 18. und 20. Oktober 1810; Haude- und Spenersche Zeitung, 2., 4., 13., 16. und 20. Oktober 1810.

Fiktive Briefe in den Berliner Abendblättern

205

natürliche Kräfte ein Ende bereite. Am Schluss des Briefs fordert der Prediger den Herausgeber auf, »diesen Vorfall zur Kenntniß des Publicums zu bringen« (ebd.). Der Herausgeber beantwortet die Zuschrift und informiert das Publikum gleich in derselben Ausgabe der Berliner Abendblätter mit einem eigenen Schreiben. Diese Abfolge von Brief und Antwort ist untypisch für die Berliner Abendblätter, in denen die Artikel sonst immer wieder durch ein »Fortsetzung folgt« unterbrochen werden. Das zeigt möglicherweise Kleists Absicht, eine rasche, effiziente Kommunikation mit seiner Leserschaft zu etablieren, um bestimmte Inhalte kurz und bündig abzuhandeln.

Berliner Abendblätter 20tes Blatt, 23. Oktober 1810, S. 1v und 2r

In der Replik ruft der Redakteur die Leser dazu auf, ein Glücksspiel solcher Art zu erfinden, und verspricht dafür eine Belohnung. Es ist jedoch fraglich, ob Kleist mit seinem Kunstgriff eine aufklärerische Intention hatte, da er sich in seiner Antwort über das Thema Lotterie zu belustigen scheint: Der Brief kann eher als Beispiel für die »lächerlichen Briefe« gel-

206

Anna Castelli

ten, die Kleist laut Achim von Arnim für seine Zeitung im Sinn hatte.23 Wie Helmut Sembdner hervorgehoben hat,24 kann man die Zuschrift eines Predigers im Kontext von Kleists Epigramm Der Bauer, als er aus der Kirche kam verstehen: Ach, wie erwähltet Ihr heut, Herr Pfarr, so erbauliche Lieder! Grade die Nummern, seht her, die ich ins Lotto gesetzt. (BKA III, 51)

Kleist bringt Glaube und Aufklärung in einen Zusammenhang, um ihn in der Antwort öffentlich in Frage zu stellen. Die Aufforderung, eine solche Lotterie zu erfinden, ist an die Mathematiker gerichtet – denn wie Kleist in der Antwort schreibt: »Geschäfte von bedeutender Wichtigkeit halten uns ab, selbst an den Entwurf einer solchen Lotterie zu denken« (BKA II/7, 105) – und bringt die Hoffnung zum Ausdruck, dass sie die Regeln des Zufalls etablieren mögen. Laut der Oeconomischen Encyclopädie werden die Zahlen der Quinen-Lotterie nämlich in einem ähnlichen Verfahren wie bei den anderen Lotterien der Zeit »dem versammelten Publico einzeln vorgezeigt, Angesichts desselben in Kapseln verschlossen, und durch einen Waisenknaben in das zur Hand stehende Glücksrad gelegt«.25 Selbst wenn man nicht unbedingt an Michael Kohlhaas denkt, der vor dem Publikum die Kapsel öffnet und den Zettel seines Schicksals ›verschlingt‹, ist hier nicht zu übersehen, dass Kleist das Zufallsprinzip bevorzugen würde. Mit der Anspielung auf diesen für Kleist so bedeutsamen Themenkomplex kann die Zuschrift eines Predigers daher in einem Zusammenhang mit seinem erzählerischen und dramatischen Werk gestellt und zusammen mit dem vielgestaltigen Briefverkehr in den Berliner Abendblättern als Paradebeispiel für Kleists Suche nach seinem Lesepublikum und einer vollkommenen Zeitung angesehen werden.

23 Brief an die Brüder Grimm, 3. September 1810 (Lebensspuren Nr. 396a). 24 SW II, 943. Siehe auch Reinhold Steig: Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe. Berlin, Stuttgart 1901, S. 65–68. 25 Krünitz: Ökonomisch-Technologische Encyklopädie (wie Anm. 17), S. 35.

Leonhard Herrmann

Sprechen von den Grenzen der Sprache Zur Funktion von Briefen im Erzählwerk Heinrich von Kleists

Es gehört zu einem der etabliertesten Argumente in der Erforschung des Kleist’schen Werkes: Kleists Texte behandeln die Unzulänglichkeit der eigenen Medialität, sie sind kommunizierte Nicht-Kommunikation1 und zweifeln »an der Möglichkeit der Kommunikation überhaupt«.2 Damit sei Kleist nicht nur Teil der »Vorgeschichte«,3 sondern gar ein »primus inter pares«4 der modernen Sprachskeptiker wie Nietzsche oder Hofmannsthal, deren zentrale Konzepte er bereits vorwegnehme und ihnen an Radikalität kaum nachstehe. Im dramatischen und erzählerischen Werk Kleists gelten Gesten des Schweigens, nonverbale Kommunikation und Gewalteskalationen5 als »Resultat eines grundsätzlichen Mißtrauens gegenüber der adäqua1

2 3 4 5

Vgl. z.B. Thomas Groß: »… grade wie im Gespräch …«. Die Selbstreferentialität der Texte Heinrich von Kleists. Würzburg 1995, S. 25; Anthony Stephens: »Eine Träne auf den Brief«. Zum Status der Ausdrucksformen in Kleists Erzählungen. In: Ders. (Hg): Kleist – Sprache und Gewalt. Freiburg i.Br. 1999, S. 157–193, hier S. 157; Ralf Konersmann: Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts. Überarb. und stark erw. Neuausgabe, Frankfurt a.M. 1991, S. 70; der Annahme einer Sprachkritik wird nur selten widersprochen, etwa bei Martin Stern: Die Eiche als Sinnbild bei Heinrich von Kleist. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 8 (1964), S. 199–225 oder Helmut Arntzen: Zur Sprache kommen. Münster 1983, S. 88. Meike Bohn: Kommunikationsproblematik in Heinrich von Kleists Die Verlobung in St. Domingo. Zur Vielfalt der Kommunikationsstörungen. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 2000, S. 155–195, hier S. 155. Dieter Heimböckel: Emphatische Unaussprechlichkeit. Sprachkritik im Werk Heinrich von Kleists. Ein Beitrag zur literarischen Sprachskepsistradition der Moderne. Göttingen 2003, S. 15. Ebd., S. 10 sowie S. 340. Heimböckel führt die Tradition einer sprachkritischen KleistDeutung bis auf Max Kommerell zurück; zu den Unterschieden zwischen Kleist und Nietzsche vgl. ebd., S. 327. Vgl. Günter Blamberger: Agonalität und Theatralität. Kleists Gedankenfigur des Duells im Kontext der europäischen Moralistik, in: Kleist-Jahrbuch 1999, S. 25–40, hier S. 25, der betont, dass Kleist nach der Kant-Krise zu einem »skeptische[n] Moralist[en] werde,

208

Leonhard Herrmann

ten Mitteilung durch Sprache«,6 das Briefwerk Kleists jedoch als »recht eigentlich das sprachreflexive und -kritische Fundament seiner Dichtung«,7 in denen sich ein »Paradigma mißlingenden Sprechens« abzeichne.8 »– Ach Du weißt nicht, Ulrike, wie mein Innerstes oft erschüttert ist – – Du versteht dies doch nicht falsch? Ach, es giebt kein Mittel, sich Andern ganz verständlich zu machen u der Mensch hat von Natur keinen andern Vertrauten, als sich selbst« (DKV IV, 197), heißt es in diesem Sinne in einem vielzitierten Brief an Ulrike von Kleist vom 5. Februar 1801, jedoch auch ganz ähnlich an weiteren Stellen im Briefwerk.9 Kleist beklagt eine »unerklärliche Verlegenheit« bei sich selbst, eine äußere Stärke und innere Schwäche, er werde »nie frei handeln« und »das Große versäumen […] weil man vorausempfindet, daß man nicht Stand halten wird« (DKV IV, 199). »Selbst das einzige, was wir besitzen, die Sprache« tauge nicht zur Mitteilung innerer Vorgänge, »sie kann die Seele nicht mahlen und was sie uns giebt sind nur zerrissene Bruchstücke« (DKV IV, 196), klagt Kleist, um schließlich zu enden: »Das Alles verstehst Du vielleicht nicht, liebe Ulrike, es ist wieder kein Gegenstand für die Mittheilung […] Aber wie werde ich mich hier wieder verständlich machen?« (DKV IV, 199) Kleist, der sich im Brief vom 13./14. März 1803 als »unaussprechlichen Menschen« bezeichnet (DKV IV, 313), möchte sich am liebsten »das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen« und seiner Schwester Ulrike »zuschicken« und damit also statt der Ambiguität sprachlicher Zeichen die Authentizität der konkreten Physis als Kommunikationsmittel nutzen – ein »dummer Gedanke«, wie er gleich darauf eingesteht, denn das physische Herz und die psychische Verfassung sind für Kleists dualistische Anthropologie wiederum strikt voneinander zu unterscheiden, das Äußere des Herzens und das Innere seines Besitzers mithin wiederum getrennte, unvermittelte Welten, die auch das Cor in seiner rein physischen Präsenz nicht

6 7 8 9

er sich nicht mehr dafür interessiert, wie unter Menschen gehandelt werden soll, sondern wie unter Menschen gehandelt wird. […] Eine solche Gedankenfigur ist die des Duells«. Heimböckel: Emphatische Unaussprechlichkeit (wie Anm. 3), S. 22f. Ebd., S. 47. Bernhard Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen. Tübingen, Basel 2000, S. 38. So betont Kleist gegenüber Wilhelmine von Zenge bereits am 16. August 1800, er könne ihr »nicht beschreiben«, mit welchen »Empfindungen« er »Frankfurt verlassen habe«, da sie ihn »doch nicht ganz verstehen« (DKV IV, 68) würde. Formeln wie »Oh ich kann Dir nicht beschreiben« (an Wilhelmine von Zenge am 15. August 1801; DKV IV, 259), »Ach, ich kann Dir das Alles gar nicht aufschreiben« (an Wilhelmine von Zenge 10. Oktober 1801; DKV IV, 272) oder »Ich bin so gerührt […], daß ich es nicht beschrieben kann« (an Marie von Kleist 24. November 1806; DKV IV, 365) weisen Kleists Briefe an vielen Stellen auf.

Sprechen von den Grenzen der Sprache

209

überbrücken kann.10 Ob mit oder ohne ›Herzensbeigabe‹ – der Brief bleibt als Ausdruck der eigenen Verfassung unvollkommen. Trotz der Zweifel an der Sprache bleiben Kleists Versuche, innere Welten zu vermitteln,11 also auf die Sprache zurückgeworfen – ein Umstand, der in den Briefen wiederum sprachliche Formen findet. In diesem Sinne gehört es zu den Paradoxien literarischer Sprachskepsis – auch jener der Klassischen Moderne12 –, auf jenes Medium angewiesen zu sein, dessen Unzuverlässigkeit so bitter beklagt wird; Hofmannsthals fiktiver ChandosBrief ist dafür das klassische Beispiel.13 Und so sind auch Kleists reale Briefe voller literarischer Techniken zur Darstellung eben jenes Zustandes, der sich der sprachlichen Vermittlung vermeintlich entzieht. In einem Dresdner Brief vom 4. Mai 1801 an Wilhelmine von Zenge beklagt der Briefautor bitterlich, er könne ihr »nichts Frohes schreiben«, er habe seit seiner »Abreise von Berlin keine wahrhaft vergnügte Stunde genossen« (DKV IV, 222) – nicht ohne wenige Zeilen zuvor die herrliche Landschaft des Elbtals zu preisen, das »wie ein Gemälde von Claude Lorrain« unter seinen »Füßen lag« und ihm – »wie eine Landschaft auf den Teppich gestickt« – »Dreßden zu küssen« schien, dahinter »der prächtige Kranz von Bergen, der den Teppich wie eine Arabeskenborde umschließt« (DKV IV, 221).14 Vergleiche, Metaphern, vielleicht gar eine Allegorie auf die Situation der Liebenden: Kleists Briefe verfügen hier über poetische Ausdrucksmittel, die weder die Abwesenheit glücklicher Momente noch eine generelle Sprachkrise bezeugen. Vielmehr dient beides – die Evokation von Glück und eine breite Palette sprachlich-dichterischer Mittel – einer poetischen Strategie, wie sie die Romantik kennt: Die Schilderung einer glücklichen Natur wird mit einem unglücklichen Inneren kontrastiert, um letzteres umso plastischer hervortreten zu lassen, wie dies etwa auch in Heinrich Heines »Mein Herz, mein Herz ist traurig« geschieht, ein Text, der starke 10 Vgl. dazu auch Inka Kording: Mediologische Individualität in den Briefen Heinrich von Kleists. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 2004, S. 45–63, die betont, die »einzig möglichen Schickungen« seien »physiologische Substrate wie der Herzmuskel oder die Tränenschrift« (S. 45). 11 Die Rede von der Unmöglichkeit, über innere Vorgänge zu sprechen, folgt dem zeittypischen »Unaussprechlichkeitstopos«, wie er sich auch bei Schiller sowie Tieck und Wackenroder zeigt, vgl. dazu Gabriele Kapp: Des Gedankens Senkblei. Studien zur Sprachauffassung Heinrich von Kleists 1799–1806. Stuttgart, Weimar 2000, S. 176–178. 12 Vgl. dazu Heimböckel: Emphatische Unaussprechlichkeit (wie Anm. 3), S. 61. 13 Ebd., S. 340. Heimböckel betont, dass Kleists Sprachskepsis jener Hofmannsthals in ihrer Radikalität nicht nachgestanden habe. 14 Zur Musterhaftigkeit der zitierten Landschaftsbeschreibung Kleists vgl. Rolf-Peter Janz: Der gerahmte Blick. Landschaftsbilder bei Kleist. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 2004, S. 35–44, hier S. 38.

210

Leonhard Herrmann

Parallelen zu Kleists Brief aufweist: Auch hier ist es Mai, der »lustig leuchtet«, der Sprecher steht erhöht »hoch auf der alten Bastei«, unten fließt zwar nicht die prächtige Elbe, aber immerhin der »blaue / Stadtgraben in stiller Ruh«.15 Kleists Briefe zeugen somit nicht nur von einer Skepsis gegenüber der Sprache, sondern sind zugleich geprägt von der Erprobung neuer, spezifisch poetischer Ausdrucksmittel. Sie sind ein »Ergebnis von jener selbstauferlegten Wahrnehmungs-Schulung« und machen deutlich, dass »Kleist nicht nur die Wahrnehmung selbst auf den Prüfstand stellt, sondern auch die Transformation dieser Apperzeptionsleistung in eine sprachliche Form«16 – jedoch nicht mit ausschließlich negativem Ergebnis. Insbesondere die Landschaftsbeschreibungen machen deutlich, dass Kleists Briefe bereits früh zu einem Ort poetischer Selbstreflexion werden, die die Sprache nicht nur in ihren Grenzen, sondern auch in ihren Möglichkeiten bestimmt.17 Gleiches gilt letztlich auch für die direkte Vermittlung innerer Zustände und Vorgänge, die – bei aller Skepsis gegenüber dem Medium Sprache – immer wieder zum Gegenstand von Mitteilung werden: Jener Brief an Wilhelmine vom 22. März 1801, der die sogenannte ›Kant-Krise‹ zum Gegenstand hat, leitet die entscheidenden Passagen mit den Worten ein: »Ach, ich kann Dir nicht beschreiben, wie wohl es mir thut, einmal jemandem, der mich versteht, mein Innerstes zu öffnen« (DKV IV, 204). Zwar wird der Sprachgestus des sich Öffnens begleitet durch den Zweifel daran, »wie ich das, was seit 3 Wochen durch meine Seele flog, auf diesem Blatte zusammenpressen soll«, doch im Folgenden obsiegt der Optimismus, dem Gegenüber die Innenwelt authentisch darstellen zu können. Er wolle »so deutlich sprechen, als möglich«, um davon zu berichten, wie die »Überzeugung […], daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist«, vor seine »Seele trat« und fortan »ein einziger Gedanke« diese in »mit glühender Angst bearbeitete […]: dein einziges, dein höchstes Ziel ist gesunken« (DKV IV, 205f.). Gegen Ende des Briefes zeigt sich der Schreiber sicher, seine Botschaft erfolgreich übermittelt zu haben: »Du wirst mich doch nicht falsch verstehen, Wilhelmine? – Ich fürchte es nicht.« (ebd.) Im selben Gestus schreibt Kleist am 15. August 1801 an seine Verlobte: »Du willst, ich soll Dir etwas von meiner Seele mittheilen? Mein liebes Mädchen, wie gern thue ich das, wenn ich hoffen kann, daß es Dich erfreuen wird« (DKV IV, 259). Deutlich wird an Stellen wie diesen: Zumindest an der Fähigkeit des Briefs, von seiner eigenen Unfähigkeit zu künden, bestehen keinerlei Zwei15 Heinrich Heine: Die Heimkehr, 3. [Mein Herz, mein Herz ist traurig]. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. München 1968, Band 1, S. 104. 16 Kapp: Des Gedankens Senkblei (wie Anm. 11), S. 195. 17 Vgl. ebd.

Sprechen von den Grenzen der Sprache

211

fel – im Gegenteil: Um diese auszudrücken, wird ganz gezielt eine poetische Rhetorik entfaltet, die in der – selbstredend sprachlichen – Behauptung einer Sprachkrise mündet: Diese Sprachkrise steht – es wurde vielfach darauf hingewiesen18 – Ergebnis einer tief greifenden Erkenntniskrise des Jahres 1801. Die Einsicht in die Methodenabhängigkeit von Wissen, in die Unverfügbarkeit von Wahrheit, führt zum Abschied von der Wissenschaft und zum Einstieg in die Kunst,19 deren Mittel hier bereits intensiv genutzt werden, um der Krise ihrerseits Ausdruck zu verleihen. Die Rede vom Nicht-Gelingen von Rede ist auf das Gelingen ihrer selbst angewiesen. Sie kennt poetische und ästhetische Strategien, um die Krise zum Gegenstand von Sprache zu machen, und entwickelt neue Formen von Sprache, die deren bisherige Grenzen erweitern. In diesem Sinne ist Kleists literarisches Schreiben, das sich auf diese Weise als im Kern selbstreflexiv ausweist,20 das Ergebnis einer – mutmaßlich auf eine wie auch immer vermittelte Kant-Lektüre zurückzuführenden21 – Erkenntniskrise, die die bisher zentralen epistemischen Parameter »Wahrheit« und »Bildung«22 als relativ aufweist. Bei Kleist erfolge die »Geburt der Dichtung aus dem Geiste einer Wissenschaftsskepsis«,23 die »Genesis des Schriftstellers Kleist« durch den »endgültigen Verlust der bis dahin vorherrschenden Teleologiekonzepte«.24 Das Ergebnis ist eine »poietische Sprachauffassung«, im Rahmen derer »die eigene epistolarische Rede zum Gegenstand des Schreibens« wird.25 Sprache ist damit nicht nur und nicht primär Gegenstand der Krise, als vielmehr die Bedingung der Möglichkeit zu deren Überwindung.26

18 Heimböckel: Emphatische Unaussprechlichkeit (wie Anm. 3), S. 64; Peter Ensberg: Das Gefäss des Inhalts. Zum Verhältnis von Philosophie und Literatur am Beispiel der »Kantkrise« Heinrich von Kleists. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 2004, S. 61–123, insbes. S. 60-62 sowie S. 90-91, der insbesondere Spezifik der Kantischen Philosophie bei der Herausbildung der Kleist’schen Poetik betont. 19 Ab April 1801 betont Kleist in verschiedenen Briefe immer wieder die Abkehr von der Wissenschaft, vgl. Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen (wie Anm. 8), S. 8–11. 20 Vgl. Groß: »…grade wie im Gespräch…« (wie Anm. 1), S. 6. 21 Zu den möglichen Quellen vgl. Eberhard Siebert: Grüne Gläser und Gelbsucht. Eine neue Hypothese zu Kleists »Kantkrise«. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 2004, S. 213– 224. 22 Ebenfalls im Brief an Wilhelmine vom 22. März 1801; DKV IV, 204. 23 Werner Frick: Kleists ›Wissenschaft‹. Kleiner Versuch über die Gedankenakrobatik eines Un-Disziplinierten, in: Kleist-Jahrbuch 1997, S. 207–240, hier S. 217. 24 Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. Frankfurt a.M. 1989, S. 96. 25 Kapp: Des Gedankens Senkblei (wie Anm. 11), S. 395. 26 Ebd., S. 153.

212

Leonhard Herrmann

Anhand der Rolle, die Briefe innerhalb der Erzählungen Kleists spielen, kann im Folgenden aufgezeigt werden, welche erzähltechnischen Ausdrucksformen diese Dichotomie von Sprachkritik und Poetik findet. Gegen die These einer vermeintlichen Funktionslosigkeit stehen hier zahllose Briefe, die Kleists Figuren einander schreiben. Auf der Handlungsebene selbst sind diese Briefe – und das entspricht der These von der Unzuverlässigkeit epistolarer Kommunikation – in der Regel nicht zielführend; sie gehen ins Leere, führen nicht zum Ausgleich von Interessen oder zum Beenden von Konflikten, sondern im Gegenteil: zu deren Eskalation. Doch in Bezug auf die – in der Regel dramatisch gestaltete – erzählerische Struktur in Kleists Texten sind Briefe hochgradig relevant: Sie strukturieren das Personentableau, erzeugen erzählerische Dramatik und dynamisieren Handlung. Sie sind auf diese Weise zentraler Bestandteil der Erzähltechnik Kleists und Teil der Ermöglichungsbedingungen literarischer Kommunikation, im Rahmen derer dann wiederum die Unmöglichkeit gelingenden Briefschreibens und -verstehens vorgeführt wird, um sprachlich auf die Grenzen der Sprache zu verweisen. Einerseits unterläuft Kleist damit die herkömmliche, auf Dialogizität angelegte Narratologie des Briefes um 1800,27 die in der Tradition der Empfindsamkeit den Brief als erzählerische Legitimation von Innerlichkeit in das eigene Schreiben integrierte; nur hier, im fiktiven Brief, wie sie die Briefromane des 18. Jahrhunderts mono- oder polyperspektivisch aneinanderreihen, war es vor der Etablierung des personalen Erzählers, der erlebten Rede und des Bewusstseinsstroms möglich, innere Empfindungen einer Romanfigur zum zentralen Gegenstand von Lektüreerfahrung zu machen.28 Kleist negiert diese Möglichkeit von Innerlichkeit, und entsprechend bleibt uns das Innere seiner eigenen Protagonisten, insbesondere auch in deren Briefen, weitestgehend verborgen.29 Andererseits ist auch Kleists Erzähltechnik auf den Brief angewiesen; als Medium der Eskalation dient er der Erzeugung einer spezifischen erzählerischen Dramatik.30 Dabei werden – und hierfür ist das Nicht-Gelin27 Statt Verbindung, Versöhnung und Kommunikation zu stiften, zeigen Kleists Briefe »überhaupt keine Brücke mehr zur Sozietät und keinen Willen, von ihr akzeptiert zu werden«; Bohrer: Der romantische Brief (wie Anm. 24), S. 55. 28 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 45 (1971), H. 1, S. 80–116; zum Verhältnis Kleists zu den Briefromanen seiner Zeit vgl. auch Justus Fetscher: Schrift verkehrt. Über Kleists Briefwerk. In: Beiträge zur KleistForschung 2004, S. 105–128. 29 Vgl. dazu auch Dirk Oschmann: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist. Paderborn 2004, S. 217. 30 Vgl. Fetscher: Schrift verkehrt (wie Anm. 28), S. 120.

Sprechen von den Grenzen der Sprache

213

gen von Briefkommunikation geradezu erforderlich – jeweils zwei unterschiedliche Positionen, zwischen denen ein Konflikt schließlich eskaliert, durch Briefe erzählerisch konturiert. Zwei feindliche Lager müssen sich Briefe schreiben, um als solche überhaupt erzählerisch in Erscheinung zu treten, aber sie dürfen sich dabei nicht verstehen, um die Polarität der beiden Lager aufrechterhalten zu können. Hintergrund für diese agonale Struktur in Kleists Erzählungen ist ein »unversöhnlicher Dualismus«31 zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Geist und Welt, zwischen Leib und Seele, wie ihn der skeptizistische Kleist im Zuge seiner Erkenntniskrise ausprägt: Analog zu der Einsicht, dass »hienieden keine Wahrheit zu finden ist«, mithin sein »einziges, […] höchstes Ziel« gesunken sei,32 ist für Kleists Protagonisten die ›Wahrheit‹ ihrer Standpunkte in der erzählten Welt nicht mehr zu objektivieren, wenngleich sie selbst, und gemeinsam mit ihnen oft auch der Erzähler, davon überzeugt sind. Mit »der Erfahrung zerbrechender Sinn- und Ordnungsstrukturen« verweisen Kleists Texte auf die »Aporien einer widersprüchlich und undurchschaubar gewordenen Welt«.33 Benjamin Specht hat unlängst gezeigt, dass Kleist, um jene »Spannung und Unaufhebbarkeit der Brüche zwischen Ideellem und Reellem, physischer und moralischer Welt«, die sich in seinen »Figurenentwürfen und Handlungsmodellen finde[n]«,34 essayistisch darzustellen, die Metapher der Elektrizität als ein »dezidiert bipolares, rein duales Phänomen« benutze.35 Im erzählerischen Werk gilt gleiches für den Brief, der zwischen zwei unversöhnlich gegenüberstehenden Lagern ausgetauscht wird, dabei jedoch nicht zum Überbrücken der Gegensätze beiträgt, sondern diese weiter vertieft oder eskalieren lässt. Dabei ist das »Organisationsprinzip der […] serielle[n] Opposition«36 ein zentrales gattungsgeschichtliches Motiv der Novelle, das Kleist aktiviert, um sich im Kontext der idealistischen Poetologien seiner Zeit auf eine spezifisch skeptizistische Weise zu positionieren, ohne dabei jedoch von der Grundthese eines großen erkenntnistheoretischen Wertes literarischen Schreibens zu verabschieden: Anders als für seine Zeitgenossen kann für Kleist auch Poesie nicht zu einem utopischen Überbrücken des fundamentalen Gegensatzes zwischen geistiger und moralischer Welt bei31 Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen (wie Anm. 8), S. 281. 32 Brief an Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801; DKV IV, 205. 33 Joachim Pfeiffer: Die zerbrochenen Bilder. Gestörte Ordnungen im Werk Heinrich von Kleists. Würzburg 1988, S. 27. 34 Benjamin Specht: Physik als Kunst. Die Poetisierung der Elektrizität um 1800. Berlin 2010, S. 345. 35 Ebd., S. 310. 36 Hannelore Schlaffer: Poetik der Novelle. Stuttgart 1993, S. 38.

214

Leonhard Herrmann

tragen – weder unmittelbar noch auf transzendentalem Wege; in dieser Hinsicht ist Kleist wesentlich pessimistischer als die Frühromantiker. Doch die Möglichkeiten von Literatur – und das wäre der selbstreflexive Bestandteil des literarischen Programms, das Kleist vorlegt – bestehen darin, die Folgen des Fortbestehens dieser Opposition aufzuzeigen. Wie im Folgenden deutlich werden soll, kommt dem fiktiven Brief dabei eine zentrale erzähltechnische Funktion zu. Ein zentrales Beispiel für die erzähltechnische Funktion fiktiver Briefe ist Michael Kohlhaas, eine Erzählung, die zum Großteil aus der indirekten Wiedergabe von Briefen durch den Erzähler besteht, wobei etwa 90 verschiedene Dokumente erwähnt werden.37 Nachdem der brandenburgische Rosshändler auf sächsischem Boden Unrecht erlitten hat, ist er »entschlossen […], die öffentliche Gerechtigkeit für sich aufzufordern« (DKV III, 37) und verfasst eine »Beschwerde« (DKV III, 39) ob des erlittenen Unrechts, bei einer, so der Erzähler, vollkommen eindeutigen Rechtslage. Der Beschwerde folgt ein »vertrauter Brief« an seinen Rechtsgelehrten, der ihm in einem Antwortschreiben die Zurückweisung seiner Klage mitteilt, ihn bittet, ihn »mit ferneren Aufträgen in dieser Sache zu verschonen« (DKV III, 41) und empfiehlt, die Sache auf sich beruhen zu lassen – ein Rat, den Kohlhaas, auf diese Weise zum Selbsthelfer geworden, nicht befolgt, jedoch zunächst weiterhin auf rein epistolare Lösungswege vertraut: Der Stadthauptmann von Brandenburg, der beobachtet, wie Kohlhaas eine Träne – die hier nicht mehr empfindsame Rührung, sondern einen unentrinnbaren Prozess unkontrollierbarer physischer Gewalt andeutet38 – auf den ablehnenden Brief seines Anwalts fallen lässt, empfiehlt einen Weg außerhalb des institutionalisierten Rechtssystems: Eine »Supplik«, eine »Bittschrift« (DKV III, 43) an den Kurfürsten von Brandenburg soll helfen. Doch kann das Schreiben seine erhoffte Wirkung nicht entfalten, da der Kurfürst es zunächst seinem Kanzler übergibt, der jedoch »nicht unmittelbar, wie es zweckmäßig schien, bei dem Hofe zu Dresden, um Untersuchung und Bestrafung der Gewalttat« ersucht, »sondern um vorläufige, nähere Information bei dem Junker von Tronka« bittet (DKV III, 45). Das Ergebnis ist eine ablehnende »Resolution der Staatskanzlei«, aufgrund derer Kohlhaas – dem es »nicht um die Pferde zu tun war« – »schäumte vor Wut« (DKV III, 47). Er selbst verlangt nun die »Freiheit, die mir nötig ist« (DKV III, 55), um weiter sein Gewerbe zu betreiben, beginnt mit der Bewaffnung und will nur noch ein letztes Mal dem Landesherren persön37 Stephens: »Eine Träne auf den Brief« (wie Anm. 1), S. 179. 38 Vgl. ebd., S. 161.

Sprechen von den Grenzen der Sprache

215

lich seine Klage einreichen. In weiser Voraussicht übernimmt dies seine Frau Lisbeth, die dabei jedoch zu Tode kommt. An der Bahre seiner Frau erreicht Kohlhaas eine weitere Resolution, »er solle die Pferde von der Tronkenburg abholen und bei Strafe, in das Gefängnis geworfen zu werden, nicht wieder in dieser Sache einkommen« (DKV III, 61), was Kohlhaas jedoch wiederum nicht befriedigt; in einem weiteren Schreiben verlangt er die Dickfütterung und Überstellung der Pferde, und als dies ausbleibt, eskaliert die Gewalt: Bewaffnet reitet er aus, um seinen Gegner festzusetzen. Das Scheitern der Briefoption führt auf diese Weise in eine Logik der Gewalt, die ihrerseits nunmehr von schriftlicher Kommunikation unterstützt wird: Dem »Kohlhaasschen Mandat« (DKV III, 65) folgen schnell ein »zweites Mandat« (DKV III, 67), ein »anderes Mandat« (DKV III, 68) und »ein Blatt«, geklebt »an den Türpfeiler einer Kirche« (ebd.) – sie alle dienen der Androhung rohester Gewalt. Ein öffentliches »Plakat« Martin Luthers, dem Kohlhaas hier offenbar als Vorbild dient, soll beschwichtigen, was jedoch nicht gelingt. Kohlhaas selbst erklärt die Eskalation der Gewalt mit fehlgeleiteter Briefkommunikation: »Eine Nachricht, die ich aus Dresden erhielt, hat mich verführt« (DKV III, 78), begründet er Luther gegenüber sein Handeln. Ein »Sendschreiben« Luthers schließlich soll Kohlhaas freies Geleit nach Dresden zusichern, damit er dort seine Klage erneut vorbringen kann, was zunächst auch Erfolg hat. Doch Briefkommunikation zwischen Kohlhaas und den von ihm rekrutierten Kämpfern führen zur Festsetzung Kohlhaas’ in Dresden, die dieser wiederum für rechtswidrig hält. Ein rätselhaftes Schreiben im Inneren eines Amulettes, das Kohlhaas von einer Zigeunerin namens Elisabeth erhält und dessen Auftauchen kaum handlungsintern motiviert ist,39 kann die Spirale der Gewalt jedoch beenden, indem es Kohlhaas’ Position gegenüber dem Sächsichen Kurfürsten stärkt und letztlich zur Bestrafung des Junkers führt. Ein Kaiserliches Gericht verurteilt Kohlhaas zum Tode, der jedoch zufrieden sterben kann, weil sein Recht wiederhergestellt ist und er sich im Moment seines Todes durch das Verschlucken des Zettels am Kurfürsten von Sachsen auch persönlich rächen kann, der fortan »zerrissen an Leib und Seele« (DKV III, 142) sein Dasein fristet. Trotz der Unmöglichkeit erfolgreicher Kommunikation ist das Recht wieder hergestellt – jedoch ohne willentliches Handeln 39 Stephens betont in diesem Zusammenhang, die Schrift im Inneren des Amulettes sei nicht etwa ein Beispiel erfolgreicher Kommunikation – vielmehr untermale sie die »arbiträre Natur des Textes« und bringe »keine Beweise gegen die Unentrinnbarkeit des Prozesses« (ebd., S. 181).

216

Leonhard Herrmann

der Beteiligten und allein durch eine rätselhafte Zigeunerin als Agentin des Zufalls. In der Marquise von O… steht explizit die Unmöglichkeit des Briefeschreibens am Beginn einer dramatischen Ereigniskette: Nach einer ersten Begegnung zwischen der Marquise und dem Grafen F… will dieser »mehrere Male die Feder ergriffen« haben, um »in einem Briefe […] seinem Herzen Luft zu machen« (DKV III, 150) und erscheint nun unvermittelt bei der Familie, um persönlich einen Heiratsantrag zu machen – seinerseits besser um die Umstände der Marquise wissend als diese selbst. Doch nicht nur das Briefeschreiben selbst, auch die direkte Kommunikation, wird ein Misserfolg. Die Familie erbittet sich Bedenkzeit, und der Graf muss schließlich unverrichteter Dinge weiterziehen. Als sich die Schwangerschaft der Marquise immer deutlicher abzeichnet, teilt die Mutter ihr in einem Schreiben den Wunsch ihres Vaters mit, dass sie »unter den obwaltenden Umständen […] sein Haus verlasse« (DKV III, 166). Der Erzähler deutet – trotz zunächst gelingender Kommunikation – das Unvermögen von Schriftlichkeit an: »Der Brief war inzwischen von Tränen benetzt; und in einem Winkel stand ein verwischtes Wort: diktiert« (ebd.). Unkontrollierte physische Reaktionen drohen das Schreiben wie Lesen der dramatischen Post zu verhindern, und nur eine fremde Hand mag die dramatische Kommunikation herzustellen, die das Exil der Marquise einleitet und das Geschehen dramatisch zuspitzt.40 Die direkte Kommunikation zwischen Vater und Tochter führt beinahe zur Eskalation: Der Vater greift zur Pistole, als sich seine Tochter nähert, um ihn von ihrer Unschuld zu überzeugen; sie kann ihre Kinder – wie überall in Kleists Erzählungen ein Ausweis moralischer Integrität – an sich nehmen und verlässt das Haus des »unmenschlichen Vater[s]« (DKV III, 167). Graf F…, der sie vergeblich in ihrem Exil besucht, um sie erneut von einem baldigen Eheschluss zu überzeugen, beschließt, »sich schriftlich an sie zu wenden« (DKV III, 171); doch jene Zeitungsanzeige, mit der die Marquise die Suche nach dem Kindsvater öffentlich macht, verhindert diese private Kommunikation und ersetzt sie durch eine öffentliche: Er schaltet eine Gegenanzeige mit der Mitteilung, sich der Marquise zu Füßen zu werfen, wenn sich diese im Haus ihres Vaters einstelle. Doch gescheiterte private Kommunikation zwischen Vater und Tochter verhindert dies zunächst: Der Vater zerreißt den Brief seiner Tochter, in dem diese ihn bittet, den (für sie unbekannten) Kindsvater in ihr Exil zu schicken. Erst eine persönliche Intervention der Mutter macht es möglich, dass die Marquise den vereinbarten Treffpunkt aufsuchen kann. Durch 40 Vgl. ebd., S. 162.

Sprechen von den Grenzen der Sprache

217

einen Trick beweist die Mutter die Unschuld ihrer Tochter und kann auch den Vater davon überzeugen. Als Graf F… sich als Kindsvater zu erkennen gibt, lehnt die Tochter eine Vermählung mit einem »Teufel« ab (DKV III, 186), die Mutter hingegen interveniert zugunsten des Grafen bei ihrer Tochter. Erst ein schriftlicher, wiederum tränendurchfeuchteter Ehevertrag, mit dem der Graf auf alle Rechte verzichtet, kann sie beruhigen. Abermals schriftlich erklärt sie, sich »um 11 Uhr in der Augustinerkirche« (DKV III, 185) einzufinden. Die Ehe wird zwar geschlossen, doch ein gemeinsames Leben will sich nicht einstellen. Erst eine großzügige Schenkung anlässlich der Taufe des Kindes führt dazu, dass eine »zweite Hochzeit gefeiert« und dem Grafen »von allen Seiten, um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen« verziehen wird (DKV III, 186), was schriftliche Kommunikation bis dahin nicht vermocht hat. In der Verlobung von Santo Domingo ist es der ehrbare Schweizer Gustav von der Ried, der durch einen Brief an seine bedrängten Landsleute diese unwissentlich in eine Falle locken soll: Babekan und ihre Tochter Toni hatten diese aufgestellt, um die Weißen in ihr Haus zu locken und dort hinterhältig zu ermorden. Zentrales Lockmittel sind die erotischen Reize Tonis, die jedoch ihrerseits Gustav verfällt. Doch statt zu einer glücklichen Ehe führt die gegenseitige Zuneigung in die Katastrophe. Mutter Babekan entdeckt die Leidenschaft der Tochter für den Schweizer und zieht den Plan, auch dessen Familie in das Haus herzulocken, zurück. Doch die Tochter eilt dem Boten nach, um ihm in letzter Minute doch den vorherigen Brief zu geben, damit er die Familie des Schweizers in das Haus hole. Als die Familie dort eintrifft, befindet sich bereits die Meute des Hoango in dem Hause, bereit, den Schweizer und Toni zu töten. Zum Schein fesselt Toni den Schweizer an sein Bett – dieser missversteht die Geste als Gefangennahme durch seine Geliebte und tötet Toni, als er von seinen Verwandten befreit wird. Sterbend kann sie sich ihm noch erklären, worauf Gustav sich selbst richtet. Nicht nur die verbale, sondern auch die nonverbale Kommunikation scheitert.41 Der Wille, Gutes zu tun, und dazu das Medium des Briefs zu nutzen, führt – wiederum deshalb, weil die Welt so ist wie sie ist – in die Katastrophe. Auch im Zweikampf steht falsche Briefkommunikation am Anfang eines Konflikts. Das Ende der Erzählung offenbart den Streit um den vermeintlichen Ehrverlust der Frau Littegarde als Ergebnis gefälschter Briefe. Mit diesen hatte die Zofe Rosalie Graf Jakob den Rotbart auf das Schloss der Littegarde gelockt und verführt, ihn in dem Glauben lassend, sie sei Littegarde selbst. Littegarde gilt damit zu Unrecht als unehrenhaft – zwar hatte 41 Bohn: Kommunikationsproblematik (wie Anm. 2), S. 165.

218

Leonhard Herrmann

sich Jakob der Rotbart in der Todesnacht seines Bruders auf dem Schloss der Littegarde aufgehalten, jedoch in den Armen einer anderen. Doch Rotbart nutzt die überraschend auftretende Entlastungszeugin nicht und gesteht – von einem rätselhaften Seelenleiden gequält – die Ermordung seines Bruders in Auftrag gegeben zu haben. In Kleists Erzählungen stiften Briefe keine Verbindungen zwischen zwei divergenten Lagern, sondern schüren deren Konflikte; dennoch stiften sie Kommunikation in jenem Maße, wie es erzähltechnisch nötig ist, um Konsequenzen fehlender Interaktion deutlich zu machen. Das Nicht-Vorhandensein von Kommunikation führt jedoch nicht zwangsläufig in die Katastrophe – es liegt lediglich nicht in den Händen der Figuren, sie zu verhindern. Geschieht ein Ausgleich zwischen beiden Lagern, dann ist es das Schicksal, das im Sinne einer ›unwahrscheinlichen Wahrheit‹ agiert; misslingt ein solcher Ausgleich, dann konterkariert diese ›höhere Macht‹ die Pläne und Strategien der beteiligten Figuren. Grundlage für diese Handlungsschemata innerhalb der Erzähltexte ist ein unvermittelter Dualismus, wie er sich im ›poetologischen‹ Werk artikuliert und bereits dort auf experimentellem Wege in fiktionales Erzählen überführt wird. In Über das Marionettentheater betont der fiktive Gesprächspartner gegenüber dem Ich-Erzähler, es sei die reine Physis einer Puppe, die auf dem Wege der Mechanik – durch die Veränderung ihres Schwerpunkts42 – Schönheit und Anmut erzeugt: Die einzelnen Glieder folgen einer Schwerpunktverlagerung im Inneren der Puppe »ohne irgend ein Zutun, auf eine mechanische Weise von selbst« (DKV III, 556). Zwar ist der Tanz der Marionette generell nicht ohne den Puppenspieler denkbar, die Bewegungslinie ihrer Glieder sei der »Weg der Seele des Tänzers« (DKV III, 557). Doch könne inzwischen auch dieser »letzte Bruch von Geist […] aus den Puppen entfernt« und »ihr Tanz gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte« (ebd.) verlagert werden. Jede »Ziererei«, die auftritt, wenn sich »die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkte befindet, als dem Schwerpunkt der Bewegung« (DKV III, 559), sei so ausgeschlossen. In diesem Sinne ist die physische Bewegung erst dann vollkommen, wenn sie sich der Kontrolle durch Bewusstsein, Willen oder Reflexivität43 entzieht: Das »Bewußtsein« richtet »Unordnungen [,] in der natürlichen Grazie des Menschen« an; seit die Menschheit vom »Baum der Erkenntnis gegessen« habe, seien »Mißgriffe« unvermeidlich (ebd.). Auch anhand der Erzählung 42 Klaus Kanzog: Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater – wirklich eine Poetik? In: Dieter Borchmeyer (Hg): Poetik und Geschichte. Viktor Zmegac zum 60. Geburtstag. Tübingen 1989, S. 349–362, hier S. 356. 43 Vgl. Oschmann: Bewegliche Dichtung (wie Anm. 29), S. 210.

Sprechen von den Grenzen der Sprache

219

des Bären, der beim Fechten jeden Stoß des gegenüber parieren kann, verdeutlicht der Gesprächspartner, dass »in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt« (DKV III, 563). Der IchErzähler folgert, in diesem Sinne müsse die Menschheit erneut »vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen«: das »letzte Kapitel von der Geschichte der Menschheit« (ebd.), wie der Gesprächspartner apokalyptisch folgert. Die These von der Überlegenheit der Sphäre unvermittelter Physis gegenüber reflexiven Anschauungsverfahren, die keinesfalls als normative oder gar ›idealistische‹ Überzeugung, sondern als pessimistisch-deskriptive Analyse der Daseinsbedingungen des geschichtlichen Menschen zu begreifen ist, zeigt sich auch in Kleists Erzähltexten; sie kann hier die kontinuierliche Unterlegenheit dialogisch-epistolarer Lösungswege unter die physische Gewalt erklärbar machen. Auf dem Gipfel der Nicht-Kommunikation zwischen zwei Lagern erfolgt die Vernichtung der Schrift durch den unkontrollierten Automatismus des Körpers. Der auf Vermittlung und Kommunikation ausgelegte Brief unterliegt diesem Automatismus in gleicher Weise wie der bewusstseinsgeleitete Fechter des Marionettentheaters dem instinktiv reagierenden Bären – ein Umstand, der etwa jene »plötzlich heftige[ ] Bewegung« (DKV III, 175) erklärt, mit der der Vater der Marquise den Bittbrief der Marquise zerreißt. Auch im Zweikampf geschieht Vergleichbares: Mit dem Ziel, die Ehre der Littegarde zu verteidigen, zerreißt Friedrich von Trota während einer Gerichtsverhandlung einen Brief, der seinem Gegner als wichtiges Beweisstück dient, und fordert diesen zum Duell heraus. Kohlhaas verschluckt den rätselhaften Zettel der Zigeunerin – den »mächtigste[n]«44 Brief in Kleists Werk – und stützt sein Kontrahenten ins Elend. Im Findling stopft Piachi, nachdem er seinem Ziehsohn Nicolo aus Rache »das Gehirn an der Wand« (DKV III, 281) eindrückte, dem Toten das anwaltliche Dekret in den Mund, mit dem er seine Güter an Nicolo verloren hatte. Vor seiner Hinrichtung lehnt der gutmütige Piachi die Beichte ab, um jede Aussicht auf Versöhnung zunichte zu machen. Die Lösung der entsprechenden Konflikte erfolgt nicht durch dialogische Verständigung zwischen den Figuren, sondern durch ein unerbittliches Schicksal, das – abermals als Konsequenz des Kleistsschen Dualismus – seinerseits unvermittelt gegenüber der Sphäre der Physis agiert. Im Zweikampf gelingt es Rotbart zunächst, seinen Gegner schwer zu verwunden, doch gesundet dieser »durch eine besondere Fügung des Himmels« (DKV III, 334). Rotbart dagegen erleidet den Tod, den er »verdient«, nicht »durch 44 Fetscher: Schrift verkehrt (wie Anm. 28), S. 125.

220

Leonhard Herrmann

den Arm der weltlichen Gerechtigkeit« (DKV III, 348), sondern durch eine plötzlich und unvermittelt einsetzende Krankheit, die ihn zu einem Geständnis nötigt, das zu diesem Zeitpunkt der Handlung kaum nötig ist. Gelingt Kommunikation, ist dies in der Regel nicht auf sprachliche, sondern auf nonverbale Ausdrucksformen zurückzuführen45 – eine Ausnahme dazu stellt wohl die gelungene, wenngleich auf einen Zufall zurückzuführende Brieflektüre der Mutter der vier entrückten Jünglinge in der Heiligen Cäcilie dar. Die Aussichtslosigkeit, Lösungen auf dialogischem Wege herbeizuführen, findet sich in Kleists Essay Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden angelegt, die dem Dialog jeden erkenntnistheoretischen Wert abspricht: Nicht im gegenseitigen Austausch zweier gleichberechtigter Dialogpartner, sondern in der stummen Anwesenheit eines kaum aktiv beteiligten Gegenübers kann das erkennende Subjekt valide Aussagen treffen, das nur »dreist damit den Anfang« (DKV III, 535) machen müsse.46 Das Beispiel Mirabeaus, der in Kleists Text durch eine eruptive Bemerkung die Französische Revolution auslöst, zeugt davon, dass auch innerhalb der Sprache die erfolgreichsten Erscheinungen aus der Abwesenheit von Reflexion resultieren. Eine Erkenntnistheorie deutet sich hier an, für die »das gelingende Sprechen als produktives Sprechen geniales Schöpfertum«47 darstellt. Doch bieten sich als dialogisches Korrektiv einer solchen ›Genieästhetik‹ zahllose Briefe der Privatperson Kleist an, die (erfolgreich) davon künden, dass Erkenntnis alles andere als ein Selbstläufer war.

45 Bohn: Kommunikationsproblematik (Anm. 2), S. 169. 46 Vgl. dazu auch den vielfach betonten Umstand, Kleists Briefen ginge es nicht um »adressierte Kommunikation, sondern um Selbstaussage«, um »solipsistische Kommunikation« Kording: Mediologische Individualität (wie Anm. 10), S. 46, 55–57. 47 Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen (wie Anm. 8), S. 43.

Marie Isabel Schlinzig

Heinrich von Kleists und Henriette Vogels Abschiedsbriefe im Spiegel der Konventionen letzten Schreibens um 1800*

1. Zwei Briefschreiber Recht viel möchte ich dir schreiben, wenn dadurch dein Schmerz über meinen Verlust, den ich so stolz und betrübt bin, voraus zusehen, gehoben werden könnte. Da dies aber nicht der Fall sein würde, so viel ich dir auch schreiben mögte und die Zeit mich drängt, so sage ich dir nur so viel, daß mein Tod m i r g a n z a l l e i n zuzuschreiben ist.1

Mit diesen eröffnenden und den beschließenden Worten – »an meinem Sterbetage« (ebd.) – markiert Henriette Vogel in ihrem Abschiedsbrief an Amöne Schultze den Tod als Ziel. Sie artikuliert den Wert ihres Selbst, des Gegenübers, ihrer beider Beziehung, kommuniziert Verantwortungsgefühl, Autonomie. Heinrich von Kleist, im selben Schreiben später so schlicht wie höflich anwesend als einer, der sich Amönes »mit vieler Theilnahme [erinnert]« (ebd.), treffe keine Schuld. Er formuliert derweil an Ulrike den berühmt gewordenen Satz: »[D]ie Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war« (BKA IV/3, 732). Darin klingt Distanz an zu allem Irdischen und ein tröstender Freispruch des Gegenübers.2 Kleist zielt auf Versöhnung, Ulrikes Bereitwilligkeit dazu muss er voraussetzen. Mit dem Briefbedingt das Lebensende auch hier eine eigene Zeitrechnung: »d. – am Morgen meines Todes« (ebd.).3 * 1 2

3

Dieser Aufsatz entstand im Rahmen meiner Forschungstätigkeit als Leverhulme Early Career Fellow an der Universität Oxford. Georg Minde-Pouet: Kleists letzte Stunden. Teil I. Das Akten-Material. Berlin 1925, S. 62. Ähnliches bemerkte auch Harald Neumeyer bei der Diskussion seines Vortrags: »Wohl dann, ich opfre mich!« (Achim von Arnim: ›Hollin’s Liebeleben‹). Letzte Worte in Wissenschaft und Literatur um 1800, gehalten am 17.11.2011 auf der Internationalen Tagung der Heinrichvon-Kleist-Gesellschaft Ökonomie des Opfers: Literatur im Zeichen des Selbstmords, Berlin. Vgl. Hans Joachim Kreutzer: Heinrich von Kleist. München 2011, S. 118. Die Datierung mehrerer Abschiedsschreiben wurde verschiedentlich diskutiert. Einen kurzen

222

Marie Isabel Schlinzig

Fluchtpunkt beider Botschaften ist die letztmalige Gestaltung einer intimen Beziehung. Dabei sind Selbstdarstellung und Konstruktion einer spezifischen Rolle für das Gegenüber jeweils ähnlich wichtig. Der Prozess des Schreibens ist notwendige Bedingung des Sterbens: Nicht die tatsächlich wahrgenommene Selbstbestimmtheit oder die stattgefundene Versöhnung, sondern deren erfolgversprechende Formulierung im Brief stellen Todesbereitschaft her. Das Lebensende wird zum Zentrum der Botschaft wie ihrer späteren Lektüre, doch während sich der Schreibende bewusst darauf hinbewegt, muss der Leser betroffen davon ausgehen.

2. Eine Briefsorte Die im Vorfeld ihres Doppelselbstmords4 verfassten Abschiedsbriefe Kleists und Henriette Vogels sind mehrfach mit Bezug auf biographische Details, zeitgenössische Einstellungen zum Tod, sowie das Gesamtwerk des Dichters gedeutet worden.5 Zuletzt hat man die »Todes-Briefe« Kleists als Teil von dessen ›letzter Inszenierung‹ begriffen.6 Während ihnen die Forschung eine Schlüsselposition zusprach, galt den teils parallel entstandenen Briefen Henriette Vogels wenig Aufmerksamkeit.7 Mehr oder min-

4

5

6

7

Überblick dazu gibt Holger Helbig: Herr von Kleist und Frau Vogel beschließen ihren Tod und verwirren die Wissenschaft. Der Briefwechsel zwischen Heinrich von Kleist und Henriette Vogel als philologische Grenzsituation. In: Dorothea Lauterbach et al. (Hg.): Grenzsituationen. Wahrnehmung, Bedeutung und Gestaltung in der neueren Literatur. Göttingen 2002, S. 107–130, v.a. S. 113–117. Die Begriffe ›Suizid‹, ›Selbstmord‹ und assoziierte Wortbildungen werden hier synonym und wertungsfrei gebraucht. Vgl. dagegen Heinz Müller Dietz: Kein Ort für Kleist? Leben und Sterben des Dichters in der Sicht Christa Wolfs. In: Dietrich von Engelhardt u.a. (Hg.): Sterben und Tod bei Heinrich von Kleist und in seinem historischen Kontext. Würzburg 2006, S. 193–210, hier S. 194. Vgl. u.a. Karl-Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München 1987, v.a. S. 135–164; Bettine Menke: »Literatur und Selbsttötung« am Beispiel Heinrich von Kleists oder Die Worte und die Wirklichkeit. In: Andreas Bähr und Hans Medick (Hg.): Sterben von eigener Hand. Selbsttötung als kulturelle Praxis. Köln, Weimar, Wien 2005, S. 89–113; Walter Hinderer: Seinsausstand als Lebensfeier: Anmerkungen zu Heinrich von Kleists Todesauffassung. In: Dietrich von Engelhardt et al. (Hg.): Sterben und Tod bei Heinrich von Kleist (wie Anm. 4), S. 79– 100, v.a. S. 91–94, 99. Vgl. u.a. Günter Blamberger, Lásló F. Földenyi, Joachim Pfeiffer, Eva S. Poluda, Alexander Weigel und Gisela Stelly: Kleists letzte Inszenierung. Podiumsdiskussion in der Akademie der Künste in Berlin. 12.10.2000. In: Kleist-Jahrbuch 2001, S. 245–264; Günter Blamberger: Ökonomie des Todes. Kleists Todes-Briefe. In: Detlev Schöttker (Hg.): Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. München 2008, S. 145–160. Anders sah es unmittelbar nach der Tat aus: Ein Auszug aus Henriette Vogels erstem Abschiedsbrief an ihren Ehemann wurde durch dessen Todesanzeige sehr früh der Öffentlichkeit bekannt (vgl. Lebensspuren Nr. 539). Das Zitat gab Anlass zu spöttischer

Heinrich von Kleists und Henriette Vogels Abschiedsbriefe

223

der gleichberechtigt betrachtete man lediglich den als »Todeslitanei« bekannten poetischen Briefwechsel, der formal und inhaltlich eine Sonderstellung einnimmt.8 Wenig diskutiert worden ist dagegen die Dynamik des letzten Schreibens beider neben- sowie miteinander in den Briefen an Familie und Freunde.9 Sie soll im Folgenden schlaglichtartig beleuchtet werden und zwar mit Blick auf einen bisher weithin vernachlässigten, briefkulturellen Kontext: die zeitgenössischen Konventionen schriftlicher Sterbekommunikation. Abschiedsbriefe, d.h. letzte, bewusst verfasste Botschaften von Todgeweihten an die Nachwelt, stellen eine eigene Briefsorte dar.10 Deren Inhalte, Funktionen und Gebrauch orientieren sich an zeitgenössischen Einstellungen zu Tod und Sterben, Ritualen letzten Abschiednehmens, realhistorischen und literarischen Vorlagen. Ideengeschichtlich ist die Briefsorte um 1800 von vielfältigen Einflüssen geprägt: Neben christlichen und empfindsamen Inhalten zählen dazu v.a. Gedanken der Aufklärung, der zeitgenössischen Philosophien und der Romantik. Abschiedsbriefe haben diverse pragmatische Funktionen, u.a. als Testamentsersatz. Ihren Gebrauch beherrschen zwei Trends: Einige nutzen sie, um das eigene Sterben dem Ideal eines aus moralisch wie religiöser Sicht ›guten‹ Todes anzunähern;11 derartige Botschaften gelten als exemplarisch. Andere, v.a. SelbstKritik (vgl. u.a. Lebensspuren Nr. 544; Nachruhm Nr. 19 und 19b; sowie Friedrich Benjamin Osiander: Über den Selbstmord. Seine Ursachen, Arten, medizinisch gerichtliche Untersuchung und die Mittel gegen denselben […]. Hannover 1813, S. 301–302), wurde aber auch nachsichtig betrachtet (vgl. u.a. Nachruhm Nr. 20c). Wie jene Kleists waren die Abschiedsbriefe Henriette Vogels Gegenstand zeitgenössischer Privatkorrespondenzen (vgl. u.a. Nachruhm Nr. 10b, 16, 17b). 8 Vgl. v.a. Helbig: Herr von Kleist und Frau Vogel (wie Anm. 3), S. 120–130; Blamberger: Ökonomie des Todes (wie Anm. 6), S. 156–160. 9 Am ausführlichsten äußert sich dazu Helbig, doch die von Henriette Vogel allein verfassten Briefe lässt er jedoch fast komplett außen vor; Helbig: Herr von Kleist und Frau Vogel (wie Anm. 3), v.a. S. 113–119. 10 Bislang ist hierzu wenig publiziert: vgl. v.a. Michael MacDonald und Terence R. Murphy: Sleepless Souls. Suicide in Early Modern England. Oxford 1990, S. 324–334; Andreas Bähr: Der Richter im Ich. Die Semantik der Selbsttötung in der Aufklärung. Göttingen 2002; Harald Neumeyer: Anomalien, Autonomien und das Unbewusste. Selbstmord in Wissenschaft und Literatur von 1700 bis 1800. Göttingen 2009, v.a. S. 343– 400. Diese Autoren untersuchen lediglich letzte Briefe von Suizidenten; Bähr und Neumeyer konzentrieren sich dabei auf die Rolle von Selbstzeugnissen in der zeitgenössischen Suiziddebatte, nur MacDonald und Murphy gehen auf Genrefragen ein. Vgl. daher Marie Isabel Schlinzig: »Ich schreibe Ihnen vom Sterbebette aus«. Abschiedsbriefe in Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts. Dissertation University of Oxford 2010 [erscheint im Herbst 2012 bei de Gruyter]. 11 Der Begriff des ›guten‹ Todes bezieht sich hier auf christliche Modelle, die der mittelalterlichen Sterbekunst (ars moriendi) entstammen; gerade bei Selbstmorden davon nicht

224

Marie Isabel Schlinzig

mörder, finden in letzten Briefen ein geeignetes Medium, frei, teils bewusst nonkonformistisch zu kommunizieren; dabei lehnen auch sie sich häufiger an vorbildlichen Modellen an. Abschiedsbriefe sollen die Reaktion der Nachwelt auf den Tod des Schreibenden beeinflussen.12 Suizidenten dienen sie zumeist dazu, ihre v.a. aus moralischer wie religiöser Sicht verurteilte Tat zu begründen. Ihr Erklärungsdrang entspringt, wie Harald Neumeyer argumentiert, der Konditionierung durch eine Gesellschaft, die den Suizid als Normverletzung sanktioniert.13 Nun eignet der Briefsorte insgesamt ein konfessioneller Gestus, der sich vom christlichen Gebot der letzten Beichte auf dem Sterbebett herschreibt. Dieses Ideal prägt eine Rezeptionshaltung, die von letzten Worten Authentizität, eine Art Lebenssumme, »keine Dichtung, sondern Wahrheit« erwartet.14 Dem Anspruch begegnen Sterbende, u.a. indem sie sich schriftlich zu offenbaren suchen, in tröstender Absicht das Gegenüber beruhigen, täuschen – oder es offen provozieren. Beim Suizid wissen zudem Briefautor wie -leser um die problematische Natur des selbstgewählten Todes: Entsprechend ›konstruiert‹15 fällt mancher Abschiedsbrief, entsprechend kritisch zeitgenössische Reaktionen darauf aus. Ebenfalls am christlichen Modell orientiert sich die suizidale ›Sterbekunst‹, welche in Tatvorbereitung und -ausführung (v.a. in Todesart, Ort, Zeitpunkt, Kleidung, Position der Leiche) erkennbar ist. Veranschaulichend hierfür sei der Fall Mathieu Lovats angeführt, der 1805 durch Selbstkreuzigung sterben wollte. Lovat, berichtet Friedrich Benjamin Osiander, »arbeitete« über mehrere Tage hinweg »täglich an einem […] Kreutze, verschaffte sich große Nägel […], flocht eine Dornenkrone und ein großes Netz aus Stricken, das ihn halten sollte, im Fall die Nägel ihn nicht fest genug ans Kreuz geheftet hielten.«16 Vor seinem Selbstmordversuch deponierte er eine Abschiedsnachricht am Tatort. Darin »[meldet] er der Gerichtsbehörde […], daß sein Tod nicht das Werk eines Andern sey, sondern der Wille des

12 13

14 15 16

immer scharf zu trennen ist die antike Idee der Euthanasia. Vgl. dazu Volker Roelcke: »Ars Moriendi« und »euthanasia medica«: Zur Neukonfiguration und ärztlichen Aneignung normativer Vorstellungen über den »guten Tod« um 1800. In: Dietrich von Engelhardt u.a. (Hg.): Sterben und Tod bei Heinrich von Kleist (wie Anm. 4), S. 29–44. Vgl. u.a. MacDonald und Murphy: Sleepless Souls (wie Anm. 10), S. 325–327. Neumeyer: Anomalien (wie Anm. 10), S. 375. Daraus ergibt sich allerdings kein finaler Schreibzwang, wie ihn Neumeyer in seinem Vortrag behauptete (wie Anm. 2). Ich beziehe mich hier auf das unveröffentlichte Manuskript, das mir der Autor freundlicherweise zur Verfügung stellte. Blamberger: Ökonomie des Todes (wie Anm. 6), S. 145. Neumeyer (wie Anm. 2) bezeichnet Abschiedsbriefe von Selbstmördern als »interpretative Konstruktionen«. Osiander: Über den Selbstmord (wie Anm. 7), S. 192.

Heinrich von Kleists und Henriette Vogels Abschiedsbriefe

225

Höchsten ihm den Kreutzestod auferlegt habe« (ebd., S. 194). Die Tat wird sorgfältig inszeniert; die Botschaft spricht Dritte von Schuld frei und offeriert der Nachwelt eine Deutung, welche Lovats Handeln, folgt man seiner Logik, rechtfertigt, sogar auszeichnet. Original sowie Abschriften von Sterbebotschaften zirkulieren schließlich, wie andere Briefe, zunächst im Familien- und Freundeskreis. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sind in deutschen Landen gerade Schreiben von Suizidenten auch zunehmend in der Öffentlichkeit präsent; man findet sie in Zeitungen, Zeitschriften, Monographien verschiedenster Art und Anlage, Briefsammlungen. Befördert wird dieser Prozess durch das wachsende erfahrungsseelenkundliche Interesse und progressiver werdende Diskurse über den Suizid.17 Literarische Werke, allen voran Goethes Die Leiden des jungen Werthers, leisten ihren Beitrag zu dieser Popularisierung.

3. Allein schreiben. Konvention und Kreativität Kehren wir, um Kleists und Henriette Vogels Umgang mit der Briefsorte zu beleuchten, zunächst zurück zum Anfang. Den Eröffnungen letzter Botschaften eignet Signalcharakter: Sie kündigen den Tod des Schreibenden an, umreißen dessen Todeswunsch, seine raum-zeitliche Position, das Verhältnis zum Adressaten, enthalten metatextuelle Reflexionen. Kleist gestaltet mehrere dieser Elemente höchst effektiv. Im Ulrike-Brief vermischt er konventionelle Formulierungen und freudige Gelassenheit: »Ich kann nicht sterben, ohne mich, zufrieden und heiter, wie ich bin, mit der ganzen Welt, und somit auch, vor allen Anderen, meine theuerste Ulrike, mit dir versöhnt zu haben« (BKA IV/3, 732). Ähnlich formulieren andere Suizidenten den Schreibanlass und zwar historische, wie etwa Hauptmann von Arenswald: »Ich kann nicht aus der Welt gehen, ohne ihnen ein kleines Merkmahl meiner Freundschaft zu hinterlassen«,18 und fiktive, wie Charlotte, Heldin einer Erzählung von Johann Friedrich Ernst Albrecht: »Ich habe nicht können aus dieser Welt gehen, […] ohne den Grund der Verzweiflung anzugeben, warum und in welcher ich die Welt verlasse […]«.19 17 Siehe dazu v.a. Neumeyer: Anomalien (wie Anm. 10), u.a. S. 343–53; Schlinzig: Abschiedsbriefe (wie Anm. 10), v.a. S. 183–194; weiterführend zur zeitgenössischen Selbstmorddebatte u.a. Julia Schreiner: Jenseits vom Glück. Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts. München 2003. 18 [Carl Gottdried Küttner (Hg.):] Authentische Briefe des Hauptmanns von Arenswald, der sich am 29sten Septembr. 1781. Erschoß, nebst der Geschichte seines Todes, mit Anmerkungen herausgegeben. Frankfurt a.M., Leipzig 1782, S. 27. 19 Johann Friedrich Ernst Albrecht: Charlotte. Unglükliche Selbst und Kindesmörderin um der viehischen Wollust ihres eignen Vaters willen. In: ders.: Neue Biographien der Selbstmörder. 4 Bde. Frankfurt a.M., Leipzig 1794, 1800, III (1794), S. 1–26, (S. 8).

226

Marie Isabel Schlinzig

Der Sterbende löst sich schreibend von der irdischen Welt, der Angesprochene ist Gegenstand wie notwendiger Zeuge des Prozesses. Die durch Zeit und im Raum aufgespaltene Gemeinschaft von Briefschreiber, Botschaft und Empfänger ersetzt und variiert die klassische Szene am Sterbebett. Eng verknüpft mit dieser stellvertretenden Funktion der Briefsorte ist das angesprochene Rechtfertigungsbedürfnis. Marie wie Ulrike gegenüber bemüht sich Kleist mit großem rhetorischem Aufwand, sein Handeln zu erläutern. Dabei führt er eine Reihe von Gründen an, verstrickt sich jedoch in Vieldeutigkeiten, Widersprüche, Episodisches, literarische Zitate und Metaphern. Beispielhaft angeführt seien einige Unstimmigkeiten im Brief vom 10. November an Marie. Es sei ihm »ganz unmöglich länger zu leben«, versichert Kleist eingangs, den für Selbstmörder typischen Topos der Ausweglosigkeit aufrufend;20 unmittelbar zuvor spricht sein »Entschluß zu sterben« (BKA IV/3, 718) noch von Wahl. Am Briefende erhält Irdisches seltsamerweise wieder Wert, indem Henriette Vogel »Mittel genug in Händen hätte [ihn] hier zu beglücken«. Verklärend heißt es, sie ließe sich »leicht aus einer ganz wunschlosen Lage […] heraus heben«, wohingegen ihr Gatte »großmüthig genug war sie mir abtreten zu wollen« (BKA IV/3, 719). Gleichzeitig ist Henriette Vogels Wunsch zu sterben ausschlaggebend für Kleist. Ambivalente Emotionen (»jauchzende Sorge«, BKA IV/3, 719), Hyperbolik (»wollüstigsten aller Tode«; ebd., 722) und literarisches Wortmaterial (»zum Tode ganz reif«; ebd., 716) verstärken andernorts diese Brüche und laden den Brieftext emphatisch mit Bedeutung auf.21 Günter Blamberger hat »Kleists spektakuläre[n] Selbstmord« als Spekulation auf postumen Ruhm beschrieben, für welche die Briefe instrumental seien.22 Die Inkohärenzen und literarische Vielschichtigkeit der Schreiben lassen ein derart eindeutiges »Kalkül« jedoch eher fraglich erscheinen. Henriette Vogel erläutert ihre Gründe sterben zu wollen nur kurz. Im Brief an ihren Ehemann vom 20.11.1811 belässt sie es bei konventioneller Metaphorik und antizipierbaren Benennungen, die sie – wie Kleist an Marie am 10. November (BKA IV/3, 718) – sich nicht zu eigen macht: Nicht länger kann ich mehr das Leben ertragen, denn es legt sich mir mit eisernen Banden an mein Herz – nenne es Krankheit, Schwäche, oder wie du es sonst

20 Vgl. Bähr: Der Richter (wie Anm. 10), S. 331–355 (zu Kleists Selbstmord); S. 391–395 (zu ›Ausweglosigkeit‹). 21 Vgl. Hinderer: Seinsausstand (wie Anm. 5), v.a. S. 92 und 97. 22 Blamberger: Ökonomie des Todes (wie Anm. 6), S. 151 und 160.

Heinrich von Kleists und Henriette Vogels Abschiedsbriefe

227

magst, ich weiß es selbst nicht zu nennen – nur so viel weiß ich zu sagen, daß ich meinem Tode als dem größten Glücke entgegensehe […].23

Weiteres wird vertagt: »Ueber meinen Tod werde ich dir jenseit mehr Auskunft geben können«,24 schreibt sie an die Manitius und negiert so die Endgültigkeit ›letzter‹ Worte. Hierbei beruft sich Henriteet Vogel auf die speziell in der Empfindsamkeit kultivierte Vorstellung eines Wiedersehens im Jenseits und durchlässiger Grenzen zwischen den Welten. Ihrem Ehemann verspricht sie daher, ihr eigener und Kleists »Geister« würden »alles Uebel von [dessen] noch übrigen Lebensbahn wenden«.25 Henriette Vogel handhabt diese Ideen ganz konventionell. Im Vergleich dazu wirkt etwa die Sterbebotschaft eines französischen Dragoners, der sich 1773 gemeinsam mit einem Dienstkollegen das Leben nimmt, so unsicher wie verschmitzt: »Giebts nach diesem Leben noch eine Existenz, und ist es gefährlich, das erstere zu enden, so werde ich trachten, mich einen Augenblick wegzuschleichen, um zu Ihnen zu kommen, sie zu b e l e h r e n.«26 Insgesamt folgen Henriette Vogels Abschiedsbriefe der durch Empfindsamkeit und Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts geprägten Tradition vorbildlichen letzten Schreibens. Am besten belegen dies die Botschaften an Ludwig; modellhafte Gesten daraus seien hier kurz aufgelistet: Henriette Vogel segnet und tröstet Ehemann und Tochter; rät beiden zur rechten Lebensführung; bittet ersteren um Verzeihung und dankt ihm; überträgt ihre sozialen Rollen auf andere (so soll die Manitius ihre Position als Mutter übernehmen und Ludwig ihrem Vater das Kind ersetzen); ist bemüht, enge Verwandte vor zu großem Schreck zu bewahren; ordnet ihren Haushalt und wickelt ihre Geschäfte ab; grüßt Freunde und hinterlässt Erinnerungsstücke; und äußert Wünsche bezüglich ihrer Bestattung. Diese Gesten sollen soziale Verhältnisse stabilisieren und wirken zusammen mit dem antizipierten Wiedersehen bzw. der ›jenseitigen‹ Fürsorge tröstlich; gleichzeitig etablieren sie eine spezifische Form des Angedenkens. Wohlwollende Zeitgenossen reagieren darauf positiv. Christoph Ernst Friedrich Peguilhen betont, der »schoene Abschiedsbrief« an Ludwig sei »in einer Stunde geschrieben wo sie dem ewigen Richter so nahe stand«.27 Madame de 23 24 25 26

Georg Minde-Pouet: Kleists letzte Stunden (wie Anm. 1), S. 59. Georg Minde-Pouet: Kleists letzte Stunden (wie Anm. 1), S. 61. Georg Minde-Pouet: Kleists letzte Stunden (wie Anm. 1), S. 59f. Julius Friedrich Knüppeln: Über den Selbstmord. Ein Buch für die Menschheit. Gera 1790, S. 284. 27 Vgl. Peter Staengle: Kleist bei Varnhagen in Kraków. Eine Bestandsaufnahme mit Anhang. In: Brandenburger Kleist-Blätter 7, 53–103, hier S. 69.

228

Marie Isabel Schlinzig

Staël dagegen verwirft die Inanspruchnahme vorbildlichen Verhaltens: »Wie! diese Frau vertraut so gänzlich der That die sie begeht, daß sie sterbend schreibt: s i e w e r d e w a c h e n a u s h ö h e r n S p h ä r e n ü b e r i h r e T o c h t e r; während daß der Gerechte oft zittert auf dem Bette des Todes, hält sie sich des Looses der Seeligen gewiß«.28 Henriette Vogels sorgfältige Organisation ihres Haushalts, die Peguilhen lobt,29 deklassiert de Staël als Täuschungsmanöver, das eine verwerfliche »Sorglosigkeit über die That […], die sie begehen wird«, suggerieren solle.30 Ähnlich gemischt fallen die Reaktionen auf vorbildhafte Äußerungen bei anderen Selbstmördern wie z.B. von Arenswald31 aus. Dies ist u.a. ein Indiz dafür, wie heterogen Einstellungen zum Selbstmord um 1800 sind. Expliziter, umfassender und kohärenter als Kleist überträgt Henriette Vogel in ihren Briefen Elemente eines ursprünglich christlichen Narrativs vom exemplarischen Sterben auf den Suizid und impliziert damit auch die Zustimmung höherer Mächte. Letzteres versucht auch Kleist im Brief vom 12. Novmeber an Marie, allein es gebricht ihm dabei an Demut; seine Hybris kommuniziert v.a. Leidensdruck: Morgens und Abens knie ich nieder, was ich nie gekont habe, und bete zu Gott; ich kan ihn mein Leben das allerqualvolste daß je ein Mensch geführt hat jezo dancken, weil er es mir durch den [herrlichsten] und wollüstigsten aller Tode vergütigt. (BKA IV/3, 722)

Im gleichen Brief verweist er zum einzigen Mal aufs Jenseits als gegebene Zukunft, ohne es – wie im Brief an Sophie Müller32 – unter literarischen Selbstanspielungen als Traumvision zu verbrämen: »Ach, meine theure Freundin,« schreibt er, »mögte Dich Gott bald abrufen in jene bessere Welt wo wir uns alle mit der Liebe der Engel, einander werden ans Hertz drücken können« (BKA IV/3, 722).33 »Alle« – das schließt die Todesgefährtin ein und lässt die Marie wie Ulrike angebotenen Rechtfertigungen vergeb28 Anna Louise Germaine, Baronin von Staël-Holstein: Betrachtungen über den Selbstmord. Übersetzt von Fr. Gleich. Stralsund 1813, S. 71. 29 Vgl. Staengle: Kleist bei Varnhagen in Kraków (wie Anm. 27), S. 65. 30 Staël-Holstein: Betrachtungen (wie Anm. 28), S. 75. 31 Vgl. Schlinzig: Abschiedsbriefe (wie Anm. 10), S. 243–252. 32 Die Datierung dieses Briefes ist umstritten; gewöhnlich wird der 20.11.1811 angegeben. Inhaltliche und stilistische Ähnlichkeiten (z.B. die Verortung des Schreibenden zwischen Leben und Tod am Anfang) zwischen diesem und den Marie-Briefen vom 9. uund 12.11.1811 lassen nur vermuten, dass sie in zeitlicher Nähe entstanden sind. Ich danke Peter Staengle für die ausführliche Email-Korrespondenz zu diesem Brief. 33 Vgl. Henriette Vogels ersten Brief an Ludwig: »[D]ort wo wir uns alle fehlerfrei wiederfinden werden, – dort wird alles ausgeglichen werden. – «; Georg Minde-Pouet: Kleists letzte Stunden (wie Anm. 1), S. 60.

Heinrich von Kleists und Henriette Vogels Abschiedsbriefe

229

lich wirken. So vertagt auch Kleist Wesentliches. Insgesamt scheinen religiöse Gesten in seinen Briefen eher rhetorisch, werden ästhetisiert. Als Beispiel sei an den »Triumpfgesang« der Seele erinnert (BKA IV/3, 716). Neben musikalischen, poetischen und heroisch-kriegerischen Assoziationen ertönt darin der Jubel des gläubig Sterbenden oder des ihm vorbildlichen Schwans, dessen »letzter Laut« im aufklärerischen Volkslied ebenso klingt.34 Mit Hilfe des vielfarbigen Wortes situiert Kleist den ersten Brief an Marie zudem gleich eingangs im Grenzbereich zwischen Leben und Tod. Im Gegensatz zu Henriette Vogel, deren Schreiben bis zum 21. November weitgehend im Hier und Jetzt, Verweise auf Jenseits wie Tod in die Zukunft gerichtet bleiben, inszeniert Kleist lange vor dem eigentlichen Todesdatum die zeit-räumliche Doppelperspektive letzten Schreibens. Als Abschiednehmender blickt er auf Irdisches wie auf einen beständig zurückweichenden Horizont. Dieser Topos eröffnet bekanntermaßen den gemeinsamen Briefes an Sophie: Der Himmel weiß, meine liebe treffliche Freundin, was für sonderbare Gefühle halb wehmütig halb ausgelassen, uns bewegen, in dieser Stunde, da unsre Seelen sich, wie zwei fröhlige Luftschiffer, über die Welt erheben, noch einmal an Sie zu schreiben. (BKA IV/3, 724)

4. Gemeinsam Schreiben. Bezugnahmen und Brüche Ernst von Pfuel macht in diesem Schreiben nur »eine gewiße behaglichkeit dem Ziele nahe zu seyn« bei Kleist aus; noch weniger objektiv beurteilt er Henriette Vogels Nachschrift als »affektirt u höchst widerlich« (BKA IV/3, 723). Tatsächlich unterscheidet sich diese v.a. stilistisch deutlich von ihren anderen Botschaften: Doch wie das alles zugegangen Erzähl ich Euch zur andern Zeit; dazu bin ich zu eilig heut –––––– lebt denn wohl Ihr meine lieben Freunde und erinnert Euch in Freud und Leid, der zwei wunderlichen Menschen, die bald ihre große Entdeckungsreise antreten werden (BKA IV/3, 727)

34 Rudolph Zacharias Becker: Mildheimisches Lieder=Buch […]. 3. Auflage. Gotha 1801, S. 25. Vgl. auch Bohrer: Der romantische Brief (wie Anm. 5), S. 146–149.

230

Marie Isabel Schlinzig

Treffende Gedichtzitate haben in Abschiedsbriefen Tradition.35 Ähnlich wie in der »Todeslitanei« reagiert Henriette Vogel hier auf Kleists Schreiben und greift dabei wiederum auf ein lyrisches Goethe-Zitat zurück, das sie mit neuer, existentieller Bedeutung füllt.36 Der erotische Charakter von »Lilis Park« bleibt im Gegensatz zum spielerischen im Hintergrund.37 Die Nachschrift rundet die Kette aus Bildern, mit welchen Kleist zuvor ihren Bund fasste: die »Luftschiffer«, die Gemeinschaft »in der grünen oder rothen Stube«, die Tatsache, dass sie sich, »wie zwei trübsinnige trübseelige Menschen […] von ganzem Herzen lieb gewonnen haben«, beider Wandeln im Jenseitstraum (BKA IV/3, 724–727). Henriette Vogel bringt das darin unausgesprochen Bleibende auf den Punkt; ohne es selbst zu benennen, summiert und verlängert sie es ins Jenseits: als Versprechen, als Bitte um Angedenken – beides Gesten, die man aus ihren Abschiedsbriefen kennt. Ihr Sprechen von der »großen Entdeckungsreise« stattet Kleists »Luftschiffer« mit transzendentem Wissensdrang aus und entspricht dem Freund auch wesenhaft.38 Erneut sucht sie Kontinuität in der Beziehung zu anderen, wenn sie Sophie und Adam anspricht, das Gedenken in »Freud und Leid« des ehelichen Gedächtnisses verankert. Sieht man von der »Todeslitanei« ab, so artikuliert sich die Gemeinschaft der Todesgefährten formal wie inhaltlich in keinem der Briefe deutlicher als dem an das vertraute Paar. Nirgendwo sonst gebraucht Kleist die wir-Form so extensiv; an keiner anderen Stelle tritt Henriette Vogel derart selbstbewusst literarisch auf. Unterschiede in der Inszenierung des Schreib-Zeitpunktes lassen sich in den gemeinsamen Briefen schwerer greifen. Die Eröffnung von Kleists Hand erfasst die Schwellensituation rhetorisch brillant, hält sie ganz im »jezt«; die Zukunftsform braucht er nur im Jenseitstraum. Henriette Vogels Sinn für Chronologie bleibt ungebrochen, die »Entdeckungsreise« steht »bald« bevor. Ungewöhnlich wirkt daher aus ihrer Feder das komplexe InSzene-Setzen von Zeit zu Beginn des Briefs an Peguilhen, der wohl in der Nacht vom 20. zum 21. November entsteht: 35 Der zitierte Brief des Dragoners z.B. adaptiert Zeilen aus Alexis Pirons Ma dernière épigramme. Vgl. Knüppeln: Selbstmord (wie Anm. 26), S. 284. Mancher hinterließ auch eigene Verse: vgl. u.a. MacDonald/Murphy: Sleepless Souls (wie Anm. 10), S. 330–331; Neumeyer: Anomalien (wie Anm. 10), S. 356–357. 36 Vgl. dazu Helbig: Herr von Kleist und Frau Vogel (wie Anm. 3), S. 128, der Bezug nimmt auf das »Schatzgräber«-Zitat in Henriette Vogels »Todeslitanei« (Brandenburger Kleist-Blätter 7, 58). 37 Vgl. Helbig: Herr von Kleist und Frau Vogel (wie Anm. 3), S. 118. 38 Bezeichnenderweise requiriert Blamberger diese Formulierung als adäquaten Ausdruck von Kleists »Nomadismus«; vgl. Günter Blamberger: Kleist. Die Biographie. Frankfurt a.M. 2011, S. 463.

Heinrich von Kleists und Henriette Vogels Abschiedsbriefe

231

Mein sehr werther Freund! Ihrer Freundschaft die Sie für mich, bis dahin immer so treu bewiesen, ist es vorbehalten, eine wunderbare Probe zu bestehen, denn wir beide, nehmlich der bekannte Kleist und ich befinden uns hier bei Stimmings auf dem Wege nach Potsdamm, in einem sehr unbeholfenen Zustande, indem wir erschossen da liegen, und nun der Güte eines wohlwollenden Freundes entgegen sehn, um unsre gebrechliche Hülle, der sichern Burg der Erde zu übergeben. (BKA IV/3, 738)

Kleist scheint hier auf mehrerlei Weise gegenwärtig. Wie so mancher Eingangssatz seiner Novellen umspannt dieser Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, enthält im Kern alles vom gemeinsamen Tod bis zur Beerdigung; zugleich nutzt er den briefeigenen Verzerrungseffekt zwischen Niederschrift und Lektüre, gleitet mehrfach vom »ich« ins »wir«. Eigentümlich sind die Unterstreichungen: Im Manuskript steht das Wort »erschossen« in Zeile fünf, sorgfältig im Satz zurückgestaut hinter Freundschaftsdiskurs und fast neckischer Beschreibung von Personen, Örtlichkeit und ›Zustand‹. Dem Empfänger muss das Verb, wie das ebenfalls hervorgehobene »Stimmings«, beim Öffnen des Briefes sofort aufgefallen sein. Reminiszierende Vorbereitung und Schockmoment wirken unmittelbar gegen- wie miteinander, geben Prioritäten preis und sichern Aufmerksamkeit. So mancher fiktionale Autor eines Abschiedsbriefs nimmt sich selbst als Toten in den Blick; man denke an Rousseaus La nouvelle Héloïse und Goethes Werther. Historische Selbstmörder, wie die französischen Dragoner, formulieren ähnlich selbstbewusst: [W]ir sind unserm Wirth die Vorsicht schuldig, Ihn vor den Chikanen der Justitz zu sichern, und der Welt, die Genugthuung, ihren Fürwitz zu befriedigen. H u m a i n ist der grössere von uns beiden, B o r d e a u x der kleinere […]. Meine Herren vom Landgericht! unsere Leichname sind ihnen übergeben, machen sie damit, was ihnen beliebt, es liegt uns sehr wenig an ihrem Schicksal […].39

Die im Schreiben aufgehobene Stimme bringt den Leichnam zum Sprechen, gewöhnlich wenn es bei diesem aufgefunden und gelesen wird. Henriette Vogel weicht von diesem Schema ab: Sie betrachtet ihre toten Körper zunächst nicht antizipatorisch, sie spricht – mit Kleist – als Tote; der Hinweis auf die »gebrechliche Hülle« holt die Rhetorik nur teilweise in konventionelle Bahnen zurück. Als Anregung könnte hier Samuel Richardsons Clarissa or The History of a Young Lady gedient haben, dessen Protagonistin in ihren »posthumous letters« aus dem ›Jetzt des Jenseits‹ spricht.40 39 Knüppeln: Selbstmord (wie Anm. 21), S. 280–282. 40 Vgl. Schlinzig: Abschiedsbriefe (wie Anm. 10), v.a. S. 119. Laut Peguilhen hatten Kleist und Henriette Vogel »Klopstocks Oden« bei sich, in denen »Die todte Clarissa«

232

Marie Isabel Schlinzig

Für Kleist und Henriette Vogel wird der schriftliche Vorgriff zur Vorschrift; den Brief abschickend, legen sie anhand des Botenweges den Tatzeitpunkt fest.41 Im Moment der ersten Lektüre der Botschaft sollen evozierte Vorstellung und Wirklichkeit zur Entsprechung gebracht sein. Ein Einfluss Kleists auf den Eingangssatz bleibt Vermutung; unabweislich sind Korrekturen und Ergänzungen seinerseits an seinem wie an Henriette Vogels Briefteil; wenigstens letztere werden auf ihren Wunsch hin bzw. mit ihrer Zustimmung geschehen sein. Änderungen, Wiederholungen, Nach- und Zusätze beider Schreiber (und in beider Namen) belegen das längere gemeinsame Arbeiten. Kleists testamentarische Verfügungen, unzureichend sowie nur hier vorhanden, mögen wenigstens teilweise dem Prozess des Zusammen-Schreibens geschuldet sein. Allenthalben zeigt das Autograph sowohl inhaltlich wie formal eine teils subtile, teils offensichtliche Einflussnahme der Autoren aufeinander. Bereits Zeitgenossen könnten dies wahrgenommen haben, zumindest lässt Karl August Varnhagen von Enses Abschrift dies vermuten.42 Sie zeigt trotz Abweichungen,43 dass der Brief in seiner Materialität wie als Resultat eines redaktionellen Prozesses wahrgenommen wurde. Varnhagen vermerkt Papierart, -format, -farbe, -faltung und Siegelung des Originals, sämtlichst aussagekräftige Eigenschaften im Rahmen der zeitgenössischen Briefkultur.44 Auch dokumentiert er die zwei bedeutungsträchtigsten Streichungen, beide im ersten, in Henriette Vogels Briefteil: die Änderung von »machen wird« zu »macht« sowie die Ersetzung von »Mantelsack« durch »Felleisen« (BKA IV/3, 738f.). Signifikant ist v.a. die erstere. Die Präsensform ist adäquater, ihr Kontext widerspricht jedoch der zu Beginn angelegten zeitlichen Perspektivierung: Der nachträgliche Eingriff sucht die Bruchstelle zu glätten, indem er den von Henriette Vogel als zukünftig evozierten Moment des Todes in die Gegenwart zurückholt. Der Versuch ist nur teilweise erfolgreich und wirkt mit Blick auf den übrigen Brief inkonsequent. Die Stimmen der ›Erschossenen‹ und jene der Weiter-Schreibenden widersprechen einander, da erstere auf den Moment der Lektüre abzielen, während letztere auf lebendigste Weise und teils unfreiwillig komisch ihre Interaktion dokumentieren – so auf dem nachträglich eingeschobenen Zettel von Kleists Hand: »Ich

41 42 43 44

markiert war; Staengle: Kleist (wie Anm. 22), S. 70. Kleist hatte Clarissa mit Wieland gelesen (vgl. Lebensspuren 91). Vgl. v.a. die Ausführungen Menkes: »Literatur und Selbsttötung« (wie Anm. 5), S. 90– 92, 112; Helbig: Herr von Kleist und Frau Vogel (wie Anm. 3), S. 112. Brandenburger Kleist-Blätter 20, S. 43–45. Original und Abschrift unterscheiden sich mit Blick auf Orthographie, Zeichensetzung, Schriftart, Topologie und Unterstreichungen. Zum Thema ›Materialität‹ vgl. Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief. Ereignis und Objekt. Frankfurter Tagung. Frankfurt a.M. 2010.

Heinrich von Kleists und Henriette Vogels Abschiedsbriefe

233

glaube ich habe dies schon einmal geschrieben, aber die Vogel besteht darauf, daß ich es noch einmal schreibe« (BKA IV/3, 747).

5. Gemeinsam. Allein. Fassen wir zusammen und ergänzen: In den allein verfassten Botschaften greifen Kleist und Henriette Vogel auf Formulierungen und Inhalte zurück, die um 1800 für die Briefsorte charakteristisch sind. Henriette Vogel folgt empfindsamen Konventionen: Ihr Schreiben ist gemeinschaftsorientiert, testamentarische Verfügungen klar, funktional und detailliert. Gleichzeitig lässt es Manches offen, betont Eigenverantwortlichkeit. Henriette Vogel provoziert, indem sie einen exemplarischen Diskurs für sich in Anspruch nimmt und mit einem positiven, erlösungsgewissen Bild des Suizids verbindet. Ebenso emphatisch gestaltet sie die Todesgemeinschaft – Kleist taucht in allen ihren Botschaften namentlich auf; Ludwig gegenüber spricht sie mehrfach von »wir« und »uns«.45 Kleist hingegen benennt Henriette Vogel nur in den gemeinsamen Briefen, nur hier gibt es von ihm ein »wir«; bei Marie bleibt sie »Freundin«; Ulrike gegenüber erwähnt er sie nicht. Der Dichter bindet etablierte Formeln eher eklektisch und kreativ in seine eigene, komplexe Rhetorik ein; sein Schreiben verweigert eine eindeutige Lesart.46 Er kostet den Schwellencharakter der Briefsorte rhetorisch weit mehr aus als Henriette Vogel, was eine gewisse Distanz zum Gegenüber erzeugt. Dennoch fokussiert sein Schreiben auf das eigene Ich und dessen Beziehung zum Adressaten. Erst zum Ende hin öffnet er sich, auch gegenüber pragmatischen letzten Pflichten. Die beiden gemeinsam verfassten Briefe besitzen ob der verschiedenen Adressaten, Schreibanteile und Genese unterschiedlichen Charakter. Am überzeugendsten artikuliert sich die Gemeinschaft im Modus der Literarizität, v.a. im Müller-Brief. Henriette Vogel ist der flexiblere Schreibpartner: ›Mit‹ Kleist wird sie auch stilistisch experimentierfreudiger, wagt sich an literarische Anspielung und spielerisches Formulieren, wie auch die Eröffnung des Peguilhen-Briefs zeigt. Dieser zerfällt im übrigen in verschiedene 45 Vgl. Georg Minde-Pouet: Kleists letzte Stunden (wie Anm. 1), S. 25, 59f. 46 Vgl. Bohrer: Der romantische Brief (wie Anm. 5), S. 147; Pfeiffer: Sterben im Widerspruch. Kleists letzte Inszenierung. In: Blamberger et al. (Hg.): Kleists letzte Inszenierung (wie Anm. 6), S. 251–254, hier S. 251. Man hat seinen Briefen barocke, aufklärerische, empfindsame, pietistische, romantische sowie barocke Anklänge attestiert: vgl. u.a. Hilda M. Brown: Ripe Moments and False Climaxes: Thematic and Dramatic Configurations of the Theme of Death in Kleist’s Works. In: Bernd Fischer (Hg.): A Companion to the Works of Heinrich von Kleist. Woodbridge 2003, S. 209–226; Hinderer: Seinsausstand (wie Anm. 5), v.a. S. 91–94.

234

Marie Isabel Schlinzig

Schreibabschnitte, die teils autorspezifische Verfügungen dokumentieren, und ist angefüllt mit Wiederholungen und Unsicherheiten, die einen Verlust an Konzentration beim Blick auf die äußere Welt signalisieren. Dies erleben und formulieren beide Briefschreiber neben- wie miteinander.

Henriette Vogel und Heinrich von Kleist an Christoph Ernst Friedrich Peguilhen, 21.11.1811, Abschrift von Karl August Varnhagen, S. 1r

Heinrich von Kleists und Henriette Vogels Abschiedsbriefe

Ebd., S. 1v

235

236

Marie Isabel Schlinzig

Ebd., S. 2r

Martin Roussel

Kleists Briefe und Tod 1 Die Matrix von Kleists Tod Über zwanzig Jahre nach Kleists Tod überliefert Carl Eduard Albanus Erinnerungen seines einstigen Hauslehrers Christian Ernst Martini, der bis 1788 auch Kleist und dessen ein Jahr älteren Vetter Carl Otto von Pannwitz unterrichtete: Irre ich nicht, so hörte ich auch, daß K[leist] u. P[annwitz] in der Folge auch einmal schriftl. (persönl. sind beide nie wieder zusammen getroffen) die Verabredung getroffen hatten, beide eines freiwilligen Todes zu sterben. Verbürgen läßt sich dieß freilich nicht.2

Pannwitz muss es mit der Idee des Selbstmordes ernst gewesen sein. Wie Kleist war er bereits im Alter von 15 Jahren beim Militär. Am 10. Oktober – Kleists Geburtstag – 1795 beging er auf der Rückkehr vom Polenfeldzug Selbstmord. Ob und welchen Eindruck diese Nachricht bei Kleist hinterließ, wissen wir nicht. Das Thema, den Entschluss zum Tod mit jemand anderem zu teilen, findet sich jedenfalls virulent in den Lebenszeugnissen Kleists. Gab es also in der Form eines Knabenkontraktes eine Matrix für Kleists Tod, die darauf beruhte, jemanden zu finden, der mit ihm zusammen sterben will? Wäre Henriette Vogel in einer langen Reihe angefragter Kandidaten 16 Jahre später diejenige gewesen, die Ja gesagt hat, so dass Kleist, symbolisch, seinen Teil des Pannwitz’schen Vertrages hat erfüllen können?

1

2

Als Kehrseite und Fortsetzung zu den folgenden Überlegungen habe ich im November 2011 auf der Tagung »Ökonomie des Opfers« »Kleists Überleben« zwischen den Koordinaten Werk (Schreiben), Tod (als »Refrain des Lebens«) und Projektion (›Mythos‹ Kleist) diskutiert (erscheint im Kleist-Jahrbuch 2012). So im Brief vom 12. April 1832 an Ludwig Tieck. Zit. nach Wilhelm Amann: Gute Noten. Der Schüler Kleist in den Aufzeichnungen des Carl Eduard Albanus. In: Brandenburger Kleist-Blätter 7 (1994), S. 47–52, hier S. 50, vgl. zu Fragen der Zuverlässigkeit von Albanus als Zeitzeugen ebd., S. 48, Anm. 8.

238

Martin Roussel

Kann sein, kann sein auch nicht, könnte man mit Michael Kohlhaas sagen, viel mehr als eine Suggestion erreicht man nicht.3 Den eigenen Tod kann man nicht vorhersagen. Deshalb ist der Tod natürlicherweise immer erst im Nachhinein als Faktum einer Aussage feststellbar. Kaum etwas könnte mehr idée reçue sein als zu wissen, dass wir alle sterben werden. Die Aussage des eigenen Todes klingt, posthum dem Leben entwendet, nicht mehr leer, sondern fordert dazu auf, diesen Tod als Vermächtnis des Lebens anzunehmen. Das ist, so scheint es, der Fall Kleists. Und ist es nicht der Fall aller früh Gestorbenen? Der Büchners vielleicht am wenigsten, sicher aber der Karoline von Günderrodes, der von Kafka, Celan oder Sylvia Plath, und denken kann man auch an die, die Jahre und Jahrzehnte ihres Lebens schon für so gut wie tot gelten mochten, Hölderlin oder Robert Walser, als sie nicht mehr schrieben und in einer anderen Welt zu leben schienen. War Kleist in dieser Reihe, jedenfalls im Rückblick der Moderne, der Prototyp, »kein Klassiker und kein Romantiker […], kein preußisch-patriotischer Heimatautor, sondern einer der ersten modernen Menschen«,4 wie Curt Hohoff 1958 schrieb?5 – »[S]eine poetische Decke war ihm zu kurz«, schreibt Brentano lakonisch urteilend an Arnim im Dezember 1811;6 das war wohl seine Art von romantischer Ironie, zu kurz nämlich das Leben als Poesie. Für die Wirkungsgeschichte aber gilt anderes, hat der Tod die Rezeption des Werks in ungeheurer Weise, initial und änigmatisch beflügelt, als wären das kurze Leben und das Werk nur in einer oszillierenden Figur zu verstehen. Seine »letzte Inszenierung« am Kleinen Wannsee, so Günter Blamberger, sei einer »Ökonomie und Anökonomie des Opfers«7 verpflichtet gewesen, mit der Kleist der Geschichte, und das ist auch das Fort-

3

4 5

6 7

Wie sehr die ältere Biographik im Bemühen um ein stimmiges (und meistens romantisiertes) Gesamtbild über Gebote der Vorsicht hinweg ging, zeigt die – zumindest was die Darstellung des Todes angeht dennoch immer noch lesenswerte und für spätere Darstellungen maßgebliche – Biographie von Joachim Maass: Kleist. Die Geschichte seines Lebens. Bern, München 1977, hier S. 353. (Es handelt sich um die redaktionell gering bearbeitete Fassung von Joachim Maass: Kleist, die Fackel Preußens. Eine Lebensgeschichte. München, Wien, Basel 1957.) Curt Hohoff: Heinrich von Kleist in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1958, S. 10. Hohoffs Formulierung ist lesbar auf die Epoche Rousseaus, über den Nietzsche im 48. der »Streifzüge eines Unzeitgemäßen« in der Götzen-Dämmerung schrieb: »Rousseau, dieser erste moderne Mensch, Idealist und canaille in Einer Person«; Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari. München 1988, Bd. 6, S. 150. In: Peter Goldhammer (Hg.): Schriftsteller über Kleist. Eine Dokumentation. Berlin, Weimar 1976, S. 39. Vgl. Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt a.M. 2011, Kap. XII, S. 450–468.

Kleists Briefe und Tod

239

leben seines Werks, einen gleichsam uneinholbaren Einsatz im Voraus eingezahlt habe.8 Viele Bezüge – bis hin zu Vorwegnahmen des Todes – sind im Werk gefunden worden, hierunter besonders Tonis und Gustavs Tod in der Verlobung in St. Domingo. Kaum widersprochen wird Karl Heinz Bohrers Diktum aus seiner 1978er Antrittsvorlesung, mit dem »Kleists Selbstmord […] als letzter[r] Vollzug in einer Kette von imaginativen Handlungen« verstanden wird.9 In seinem Werk über den Romantischen Brief von 1987 analysiert Bohrer im Vergleich der Briefe mit denen Brentanos und Karoline von Günderrodes eindrucksvoll, wie Kleist Konzepte »ästhetischer Subjektivität« zunächst im Sinne einer »emphatischen Verinnerlichung« radikalisiert, dann aber anders als die Romantiker ad absurdum führt: Bohrers Kleist entdeckt hier den Tod als Spur des Lebens, nicht nur als Metapher sozialer Isolation, sondern als – ex negativo erschriebenes – Telos eines im Übrigen ziellosen Lebens.10 Ist also eine ästhetische Teleologie des Todes der Fall Kleists? Im Ausweg aus der Weglosigkeit koinzidieren, so denke ich, Todesoption und Schreiben bei Kleist. Wie beides zu korrelieren ist, dürfte auch über die Frage der Teleologisierung entscheiden. Kleists »teleologische Denkweise«, so Hans Joachim Kreutzer 1968, werde realiter erprobt in der Frage, wie sich »Vervollkommnung zur Endlichkeit des 8

In seinem Aufsatz von 2008 unterscheidet Blamberger eingehender zwischen »einer Ökonomie des Opfers«, denen das »Korpus der letzten Briefe Kleists« folge, und einer »grandiosen Anökonomie des Opfers«, wie sie die »Todeslitanei« belege; Günter Blamberger: Ökonomie des Opfers. Kleists Todesbriefe. In: Detlef Schöttker (Hg.): Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. München 2008, S. 145–160, hier S. 145. – Schon Holger Helbig hatte argumentiert: Die beiden Blätter mit der Todeslitanei seien »Nachrichten von außerhalb der Zeit und zwar auf eine Weise, die ihren Inhalt zeitlos macht. Die Briefe an Ulrike von Kleist und Frau Manitius dagegen sind zwar Nachrichten aus dem Jenseits, ihr Bezug aber ist ganz diesseitig«; Holger Helbig: Herr von Kleist und Frau Vogel beschließen ihren Tod und verwirren die Wissenschaft. Der Briefwechsel zwischen Heinrich von Kleist und Henriette Vogel als philologische Grenzsituation. In: Dorothea Lauterbach, Uwe Spörl, Uli Wunderlich (Hg.): Grenzsituationen. Wahrnehmung, Bedeutung und Gestaltung in der neueren Literatur. Göttingen 2002, S. 107– 130, hier S. 130. – Damit ist freilich wenig mehr gesagt, als dass die Todeslitanei ihrer Rhetorik und dem Charakter der Anrede ohne postalische Adressierung nach stark ästhetisiert ist und weniger dem Post- und Sendungswesen als vielmehr lyrischen und metaphysischen Traditionen und Poetiken verpflichtet ist. 9 Karl Heinz Bohrer: Augenblicklichkeitsemphase und Selbstmord. Zum Plötzlichkeitsmotiv Heinrich v. Kleists [1978]. In: ders.: Plötzlichkeit. Zum Augenblick ästhetischen Scheins. Mit einem Nachwort von 1998. Frankfurt a.M. 1981 (1998), S. 161–179, hier S. 163. 10 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entscheidung ästhetischer Subjektivität. München 1987, hier S. 51. Bohrer spricht gar von einer »›teleologische[n]‹ Obsession«.

240

Martin Roussel

menschlichen Lebens verhält.«11 Lässt sich hieran ein Leitfaden für die Fallgeschichte Heinrich von Kleists entwickeln, und wie ergibt sich dieser Fall Kleist aus verschiedenen Perspektiven: der quasi-autobiographischen etwa in den Briefen, der symbolisch-camouflierten in der Fiktion, der analytisch-synthetischen Nachträglichkeit späterer Zeiten? Tatsächlich zum ›Fall‹ macht sich Kleist in seinen Briefen, die uns die Aporien der »Geschichte meiner Seele« – so am 22. März 1801 an Wilhelmine von Zenge (MA II, 712) – ausführlich darlegen. Zuletzt kündet er hier seine Selbstmordabsichten in Briefen an Nahestehende an. Kann man das ›fiktive‹ Werk vom ›authentischen‹ Briefwerk unterscheiden, sei es nach Erzählperspektive, sei es nach dem Gegensatz von Rhetorisierung vs. Natürlichkeit? Dem widerspräche die zumindest teilweise ostentative Rhetorizität vieler Briefe, die Kleist zwischen amtlichem Kanzleistil, MiniaturErzählungen und Briefen im Stile Rousseaus oder nach den Vorgaben des Gellertschen Natürlichkeitspostulats variiert. In Gellerts Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen liest man: Man bediene sich also keiner künstlichen Ordnung, keiner mühsamen Einrichtungen, sondern man überlasse sich der freywilligen Folge seiner Gedanken, und setze sie nacheinander hin, wie sie in uns entstehen: so wird der Bau, die Einrichtung, oder die Form eines Briefs natürlich seyn.12

Im Sinne einer Poetik des Briefeschreibens kann man Gellerts Natürlichkeitsemphase nicht verstehen, insofern sie gerade keine produktionsästhetischen Regularien vorgibt. Vielmehr funktioniert Gellerts Abhandlung, insofern sie den Grundzügen eines Zeitalters der Natürlichkeit und des Individuums folgt und daraus folgend die Faktur von Briefen einem anthropologischen Paradigma zuordnet bzw. in den Rahmen einer »freien Geselligkeit« stellt, wie Schleiermacher den Bereich des Individuums in Gemeinschaften nennen würde.13 Das Beispiel des Werthers könnte zudem den Ver11 Hans Joachim Kreutzer: Die dichterische Entwicklung Heinrichs von Kleist. Untersuchungen zu seinen Briefen und zu Chronologie und Aufbau seiner Werke. Berlin 1968, S. 64f. 12 Christian Fürchtegott Gellert: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe. Hg. von Bernd Witte. Band IV. Berlin, New York 1989, S. 105–221, hier S. 126. 13 So wären bezüglich einer Poetik des Briefes generelle Zweifel anzumelden: Zwar ist die Bedeutung von Briefstellern als praktische Vorlagen und kommunikative Normierungen nicht zu unterschätzen; im Übrigen aber lebt die Form des Briefes von der Vielfalt der Prosa: Briefe können Erlebnisse schildern, Gefühle ausdrücken, knappe Mitteilungen sein oder, zusammengenommen, die Fragmente einer Autobiographie ergeben. Formbestimmungen etwa gar im Sinne einer Gattung lässt dies nicht zu. Eigentümlich

Kleists Briefe und Tod

241

dacht erhärten, dass die Natürlichkeit des Privatbriefs selbst im Dienst einer Effektrhetorik steht, die etwa über die Ersetzung von Tinten- durch Tränenströme »zu Herzen« geht oder »seelenvoll« sein kann.14 Auf der Produktionsseite sah Bernhard Siegert in der impliziten Selbstenthüllungsverpflichtung sogar das Dispositiv einer »Beamtenbildung« vorgeprägt.15 Natürlichkeit und Künstlichkeit, Gefühl und Rhetorik, innere und äußere Welt stünden demzufolge in einer Scheinspannung bzw. einer Dialektik, die nur um den Preis einer verkürzten Problemstellung auf den Nutzen des Staates (gegen die je eigenen Interessen) oder aber die Wahrheit des Individuums (gegen das Allgemeine des Staats) reduzierbar wäre. Einer schematischen Aufteilung in fiktive und authentische Texte widerspräche auch Heinrich Deterings Studie Das offene Geheimnis »zur literarischen Produktivität eines Tabus« von homoerotischen Subtexten. Am Beispiel der Penthesilea dechiffriert Detering eine existentiell-katalysatorische Dimension von Literatur und verortet literarische Kreativität zwischen Poetologie und Verdrängungsmechanismen.16 Für den Status Kleist’scher Briefe ist hiermit wenig gewonnen. Steht Kleists Leben und Sterben in einer Reihe mit den Änigmen des Werks, oder sollte man noch die Todesankündigung in den Briefen als poetisches Arrangement mehr denn als biographische Realie einordnen?17 Kann man aus dem literarischen Werk

14 15 16 17

sind jedoch die Markierungen und Normierungen der kommunikativen Funktion von Briefen (insbesondere in Anrede- und Schlussformeln). Denn in der Funktion unterscheiden sich Briefe von anderen Prosaerzeugnissen, denen sie etwa als Erzählung oder Mitteilung eines literarischen Genres gleichen können. Vgl. zu diesen Ersetzungsrelationen Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post (1751–1913). Berlin 1993. Heinrich Detering: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Göttingen 2002. Wie geht man also damit um, dass, bei allem Wissen um die Todesumstände, das Ereignis selbst entzogen bleibt? Obgleich Kleists Todesumstände – so betonen fast alle Biographien unisono – im Gegensatz zu weiten Strecken des Lebens bestens dokumentiert ist, bleiben perspektivische Brüche: »Die Akten-Lage des Realen zeigt, dass Schriften einen historischen Gegenstand nicht (nur) dokumentieren, sondern als solche bereits die Zeitlichkeit der Relation von Text und Gegenstand entfalten, die mit der Frage nach der testamentarischen Kraft der Schreiben sich aufdrängt.« Bettine Menke: ›Literatur und Selbsttötung‹, am Beispiel Heinrich von Kleists. Oder: Die Worte und die Wirklichkeit. In: Andreas Bähr (Hg.): Sterben von eigener Hand. Selbsttötung als kulturelle Praxis. Köln 2005, S. 89–113, hier S. 112; zuvor in: Kleist-Jahrbuch 2004, S. 21–41. – Menkes eigenartig formelle Feststellung verlagert das Verhältnis des Zeichens zu seiner Referenz in die Zeit der Rezeption: Gemäß welcher Logik aber konnte Kleists Tod das Werk supplementieren, überbieten oder ihm zugerechnet werden können?, wäre die

242

Martin Roussel

etwas für die Faktizität des Lebens bzw. Todes gewinnen? Bohrer setzt den Todeswunsch mehr oder weniger voraus – mit Verweis auf die Briefe und Kleists bezeugten Wunsch zu sterben – und sieht imaginative Ersatzhandlungen ins literarische Werk gesetzt, die dann wiederum symbolisches Vorbild für den realen Vollzug wurden. Er erkennt deutliche Parallelen zwischen den Briefen 1801 bis 1803 und denen in den letzten zwei Wochen vor dem 21. November 1811: Ein allgemeiner Todeswunsch ist in Kleists Korrespondenz zu einem sehr frühen Zeitpunkt, nämlich 1801/2 belegt. Es folgt die erste konkrete Selbstmord-Anzeige im berühmten Brief an die Halbschwester Ulrike vom 26. Oktober 1803. Diese Briefe der Frühzeit […] nahmen die letzten Selbstmordankündigungen in den Briefen an Marie und Ulrike von Kleist in Sprache, Argument und rhetorischen Formeln vorweg.18

Wie eine Matrix ergeben diese Briefe damit Koordinaten vor, innerhalb derer Kleists dichterisches Werk den Todeswunsch gleichsam konterkariert (ihn der produktiven Einbildungskraft überlässt). Taucht dieser Todeswunsch zunächst in der sogenannten Kant-Krise markant auf, wird er 1811 wieder aufgegriffen, um dann, unter veränderten kontextuellen oder psychischen – oder ästhetischen – Bedingungen in die Tat umgesetzt zu werden. Das Werk errichtete sich somit als Monument des Verschweigens, wo das Wort »ich« ausgelöscht wird. Aber es liest sich zugleich als Vorbereitung, symbolische Indikation, gemäß der Feder und Tinte gegen Pistole und Kugel eingetauscht werden können.19 Literatur funktioniert in diesem

Frage, um eine zweihundertjährige Verschiebung auf die Frage der Referenz hin neu auszurichten. 18 Bohrer: Augenblicklichkeitsemphase und Selbstmord (wie Anm. 9), S. 162. – Ganz in der Tradition Bohrers fragt Peter Staengle: »Kleist hatte [im Herbst 1811] mit einem baldigen Kriegsausbruch gerechnet – wollte er, wie schon 1803 in Nordfrankreich, ›den schönen Tod der Schlachten sterben‹?« Peter Staengle: Kleist. Sein Leben. 2., durchges. und um ein Register erw. Aufl. Heilbronn 2007, S. 175f. 19 Bohrer verweist hier auf Joachim Maass, der in Kleists Todesarrangement eine poetische, minutiöse Inszenierung sehen wollte. Vgl. Maass: Kleist (wie Anm. 3), S. 377. Wie sehr Maass/Bohrer die stets einflussreiche Deutungslinie des einsam Unerkannten vereinseitigen, erkannte schon Paul Hühner in der Wochenzeitschrift Die Zeit, als er in einer Besprechung von Maass’ Kleist. Die Fackel Preußens am 9. Januar 1958 schrieb: »Aus dem Unverständnis Goethes, dem kaum ganz nachspürbaren Unwillen eines Genialen gegen die Genialität, ist oft auf Kleists gesamtes Leben geschlossen worden: Kleist sei unverstanden und einsam gewesen. Dies war – Sembdners [soeben erschienene] ›Lebensspuren‹ zeigen es deutlich – nicht der Fall. Kleist ist, wo immer er auftauchte, zumindest mit Interesse aufgenommen worden. Daß man das Genie überall gleich hätte verstehen müssen, wäre unbillig zu verlangen«. Artikel »Das Genie entzieht sich der

Kleists Briefe und Tod

243

Sinn als Ersatz- wie Experimentalhandlung, als Versuchslabor des Todes. Zu fragen bliebe: Gibt es – und wenn ja: welche wären es? – Bedingungen, die dazu führten, dass Kleist die Imagination ins Reale überführt hat? Wie aber sähe eine Gegenthese aus? Problematisieren ließe sich zunächst der Status, den Bohrer Kleists Briefen zuspricht: Ist der Todeswunsch, der hier geäußert wird, authentisch? Welche rhetorischen Strategien sind zu berücksichtigen? Das mag angesichts des Faktums von Kleists Tod spitzfindig erscheinen. Aber ist Kleist nur deshalb 1803 den Schlachtentod nicht gestorben, weil Napoleons Landungsarmee für England niemals formiert wurde? Die zufällige Wende im Weltengeschick hätte ihm das Leben oder ihn dem Leben wieder zugespielt? Und sind die Bedingungen, unter denen der Todeswunsch 1803 und im November 1811 ausgesprochen wird, überhaupt vergleichbar? – Der Zusammenhang von geäußertem Todeswunsch und tatsächlichem Tod bedarf einer näheren Analyse. 1803 konnte Kleist den Schlachtentod noch vor Augen sehen – gerade diese Option war ihm 1811 entzogen. Das lässt nach anderen Parallelen für Kleists Sprache des Todes in den letzten Briefen vor dem Tod suchen, und hierfür rücken noch andere Passagen aus Kleists Briefen in den Blick. Schließlich fragt sich auch nach den präfigurativen Stellen in Kleists Dramen und Erzählungen: Genügt hier eine teleologische Stellenlektüre, um den symbolischen Selbsttötungsakt zu erkennen? Man könnte angesichts der zahlreichen Überlebensfigurationen bei Kleist anderes denken – von Graf F…s nur scheinbarem Tod im Krieg bis zu Michael Kohlhaas’ chronikalischem Überleben in nachfolgenden Generationen, Herrn von Trotas kaiserlich-göttlich affirmierten Sieg im Zweikampf oder sogar Richter Adams Entkommen, stampfend durch die tiefen Furchen im Schnee. In Der neuere (glücklichere) Werther, am 7. Januar 1811 in den Berliner Abendblättern erschienen, schießt sich ein junger Kaufmannsdiener aus Liebe zur Frau seines Herrn eine Kugel durch die Brust; während aber der alte Herr daraufhin am Schlag stirbt, überlebt der Diener und heiratet die Frau. Und »wer beschreibt wohl – wie soll ich sagen, seinen Schmerz oder seine Freude?«, schiebt der Erzähler ein (MA II, 454). Wer beschreibt es, könnte man fragen, aber auch: Was wird hier beschrieben, wenn nicht die Szene eines Überlebens (in der sich tiefes Leiden und daraus emporgehobenes Glück für einen Moment kreuzen), die gar keinen Hehl daraus macht, dass sie allem anekdotischen Anstrich zum Trotz eine Wertheriade ist: Soll sich also, gemäß der Kleist’schen Literatur,20 die anekdotische Wirklichkeit gePsychoanalyse. Heinrich von Kleists Lebensspuren und eine verfehlte Biographie des Dichters«. In: Die Zeit, Nr. 2, 9.1.1958). 20 Spätestens seit Reinhold Steig: Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe. Stuttgart 1901, S. 545–549, gilt Kleists Autorschaft als unstrittig.

244

Martin Roussel

gen die Wahrscheinlichkeit der Literatur und über den scheinbaren Tod hinaus behaupten? Handelt Kleists Werk nicht ebenso wie von der finalen dissimulatio auch von einer simulatio, die darin, dass alles an dieser Literatur in Zufällen, Widrigkeiten oder Unerwartetem zusammenstürzt, ihren Halt findet, wie Kleists Gleichnis vom Würzburger Torbogen es beschreibt, dessen Steine sich, stürzend, gegenseitig im Bogen halten? Ausgehend von diesen drei Fragekomplexen: dem Verhältnis des Werkes zum Tod, der Briefe 1803 zu denen im Herbst 1811 sowie insbesondere der Beziehung der Todesbriefe zum Tod, lässt sich das Verhältnis von Kleists Briefen – gemeint sind hiermit im Besonderen die der letzten Tage vor seinem Tod – und dem Selbstmord am Kleinen Wannsee eingehender verfolgen. Ziel ist es, auf eine Rhetorik aufmerksam zu machen, die das Symbolische und seine Überschreitung zum Realen wechselseitig vermischt und gegenseitig indiziert in einem Spiel von Nähe und Distanz der Sprache bis zum Tod (und darüber hinaus). Eine sich derart überkreuzende und überschlagende Rhetorik bildet die Matrix von Kleists Tod. Diese These soll anhand der Signatur von Kleists Briefen entfaltet – und darin dieses Briefwerk rhetorisch verstanden – werden. Entgegen der alten These Bohrers soll Kleists Handeln nicht als »die Reaktion eines extrem Einsamen« in »selbstmörderische[r] Manie« gewertet werden.21 An die Stelle des Gegensatzes von Gemeinschaft und Einsamkeit tritt die Spannung von Nähe und Distanz, in der Kleist den Lebensbegriff eines Unberührbaren zwischen den Polen Leben und Tod oszillieren lässt, während der Tod selbst mit einer Metaphorik der Nähe, des Verschmelzens und des Gemeinschaftlichen einhergeht.

»mit dem Rest einer erglänzenden Thräne«: Gesundung im Schreiben? Hat Kleist mit seiner Erzählung Die Verlobung in St. Domingo das Modell für die Tötung Henriette Vogels und den Selbstmord vorgegeben? Herbert Kraft setzt die Tötung Tonis durch Gustav – ein »Schuss […] mitten durch die Brust« – und Gustavs Selbsttötung – durch Kopfschuss – kommentarlos als Kurzkapitel unter der Überschrift »Liebesgeschichte« vor das Kapitel zu Kleists Tod.22 Jens Bisky spricht von einer ›äußerlichen‹ Nähe beider Todesinszenierungen; dem schließt sich Günter Blamberger an und folgert 21 Bohrer: Augenblicklichkeitsemphase und Selbstmord (wie Anm. 9), S. 179 u. 178. Vgl. zuletzt Peter Michalzik: Kleist. Dichter, Krieger, Seelensucher. Berlin 2011, S. 434, der von der »Tat eines Verzweifelten, eines Einsamen, eines Verlorenen« spricht. 22 Vgl. Herbert Kraft: Kleist. Leben und Werk. Münster 2007, S. 213–215.

Kleists Briefe und Tod

245

daraus lakonisch, Kleist habe sich jedoch mit dem imaginierten Freitod in der Erzählung, mit einem Kafka-Anklang, »›durch das Schreiben‹ niemals ›losgekauft‹« vor einem lebenslangen Sterben.23 Diesen relativierenden Einschlag, der die These eines romantischen Liebes- oder Literaturtodes entkräftet,24 verstärkt Gerhard Schulz: Mit der Imitation von Literatur hat dergleichen scheinbare Parallele nichts zu tun […]. Daß ihn der freiwillige Tod als ein Ausweg aus allen Wirrnissen und Unzulänglichkeiten seines Lebens und als Eingang in etwas Absolutes immer schon beschäftigt, interessiert, ja gereizt hat, liegt auf einer anderen Ebene.25

Der Motivationslage nach bietet Die Verlobung in St. Domingo tatsächlich wenig Vergleichsmöglichkeiten: Gustav und Toni haben sich als Liebende im und fürs Leben getroffen, aus Missverständnissen entwickeln sich die Umstände ihres zunächst Gegen- und dann im Tod Miteinanders. Henriette Vogel war für Kleist dezidiert Gefährtin im Sterben. Ähnliches ließe sich auch für Agnes und Ottokar in der Familie Schroffenstein sagen. Hier kann man wohl eher das Zitat des Romeo-und-Julia-Themas erkennen, das aus einer Sozial- und Generationsdramatik in eine der Sprache und des Maskenspiels verlagert wurde. Der Umstand, der zum Tod führt, betrifft immer zwei Liebende, so dass Liebe und Tod sich in einer Figur gegenseitig überhöhen und brechen. Das gilt im Übrigen auch für »die Todes- und Sterbeszenen von Jean Pauls Unsichtbarer Loge und Hesperus, in denen sich jeweils zwei Liebende begegnen«, die gleichfalls und allenfalls nur »literarisch-metaphorisch[ ]«, nicht aber »ideologisch-diskursiv« Vorbilder sein können.26 Jedenfalls bedingt erst die Nähe beider Liebenden das Spannungsmoment, aus dem sich in der Kommunikation mit weiteren Personen die gefühlte Einheit in Täuschung und Enttäuschung verwandeln kann, die zuletzt die Einheit der Liebenden in den Tod setzt. Hierzu fehlen Parallelen in Kleists Leben: Weder der pädagogische Diskurs mit Wilhelmine von Zenge noch die geteilte Todessehnsucht aus verschiedenen Motiven mit Henriette Vogel weisen auch nur annähernd vergleichbare Paradoxien auf. »Sie gingen, weil sie es wollten und konnten«,27 schreibt Bisky über den doppelten Freitod. 23 Blamberger: Heinrich von Kleist (wie Anm. 7), S. 451. 24 Vgl. Joachim Pfeiffer: Sterben im Widerspruch: Kleists letzte Inszenierung. Podiumsdiskussion in der Akademie der Künste, 12.10.2000. In: Kleist-Jahrbuch 2001, S. 251–254. 25 Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie. München 2007, S. 528. Vgl. Menke: ›Literatur und Selbsttötung‹, am Beispiel Heinrich von Kleists (wie Anm. 17). Hier auch weitere Forschungsliteratur. 26 Bohrer: Der romantische Brief (wie Anm. 10), S. 222f. 27 Jens Bisky: Kleist. Eine Biografie. Berlin 2007, S. 467.

246

Martin Roussel

Andererseits wissen wir, dass Kleist in sehr hohem Maße zur Identifikation mit Figuren seines eigenen Schreibens fähig war. Im Spätherbst 1807 schreibt er nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft an seine Kusine Marie: »Ich habe die Penthesilea geendigt, von dr ich Ihnen damals, als ich den Gedanken zuerst faßte, wenn Sie sich dßen noch erinnern einen so begeisterten Brief schrieb. Sie hat ihn wirklich aufgegeßen den Achill vor Liebe.« So schreibt Kleist, als habe er eine ergreifende oder erschreckende Entdeckung gemacht, »zwei große Thränen« seien seinem Stubennachbar Pfuel »in d Augen« getreten (MA II, 886). Das Zeugnis Pfuels sieht nach der Erinnerung eines Bekannten freilich anders aus. Er [Kleist] wohnte mit Pfuel in Dresden 1807 und 1808 in einer gemeinschaftlichen Wohnung Stube an Stube. In dieser Zeit dichtete er seine Penthesilea. Eines Tages trat er ganz verstört und tiefseufzend bei Pfuel ein, der besorgnisvoll auffuhr und fragte: »Was ist dir denn, Kleist? Was ist geschehen?« Dabei sah er, daß ihm die hellen Tränen über die Backen flossen. Kleist antwortete mit dem Ausdruck verzweiflungsvoller Trauer: »Sie ist nun tot!« – »Wer denn?« – »Ach, wer sonst, als Penthesilea!« Trotz des erschütternden Eindrucks wahrhaften Schmerzes, den hier Kleist fühlte, konnte Pfuel sich doch einiges Lächelns nicht erwehren, und sagte: »Du hast sie ja selbst umgebracht!« – »Ja freilich!« erwidert Kleist, und ging nun allmählich in die heitre Stimmung seines Freundes über.28

Folgt man der über die Pfuel’sche Seite überlieferten Variante, ist es Kleist, der aufgrund seiner starken identifikatorischen Haltung den »Eindruck wahrhaften Schmerzes« hervorruft. Nicht als Schreibtäter, wie ihn Pfuel in lächelnder Distanz kennzeichnet, erscheint er sich, sondern in ungebrochenem Mitleiden. Die Distanz zum eigenen Werk, die Pfuels Einwand erzwingt, hat allerdings eine heilsame, für den Mitleidenden befreiende Wirkung, denn Kleist »ging nun allmählich in die heitre Stimmung seines Freundes über«. – Hat sich Kleist als Überlebender seiner eigenen Dichtung gefühlt? Die Frage mag pathetisch klingen, doch sind solche Risse in der Motivierung, wie sie zwischen der Perspektive innerhalb einer Figur oder aus Sicht des Erzählers und der von außen auf den Text auftreten, von Kleist selbst beschrieben worden: Friedrich von Trota etwa, der im Duell schwer verwundet wird, und allen Erwartungen zum Trotz ein Genesender ist. Im Text wird die schwierige Begründungslage mit der Formel »wenn es Gottes Wille ist« (MA II, 266) dem Horizont menschlichen Urteilens entzogen. Nicht der Erzähler oder eine der Figuren vermag hier den überraschenden Bruch mit den Erwartungen kategorial zu erfassen, sondern nur das Gesetz (das der Erfahrung durch Allgemeingültigkeit ent28 Lebensspuren Nr. 198.

Kleists Briefe und Tod

247

zogen ist) in den Worten des Kaisers unter Zuhilfenahme Gottes (dessen Auffassung doch gerade durch Faktizität des Geschehens erfahrbar sein sollte) kann formaliter bestätigen, was als Fall doch (jedes Mal) entzogen bleibt. – Das Glück ist nicht kalkulierbar, am wenigsten im Erdbeben in Chili, wo eine Serie an Zufällen am Ende eine Verkehrung des Unglücks in Glück kennt, die an Kleists Tränen-Glück beim Abschluss der Penthesilea erinnern kann: Nachdem Donna Elvire »durch einen Besuch zufällig von Allem, was geschehen war, benachrichtigt« wurde – das heißt vor allem vom Tod ihres Kindes Juan –, »weinte diese treffliche Dame im Stillen ihren mütterlichen Schmerz aus, und fiel ihm [Don Fernando] mit dem Rest einer erglänzenden Thräne eines Morgens um den Hals und küßte ihn« (MA II, 163). Was ist inmitten dieses Satzes geschehen, so dass der Schmerz der Mutter, die Tränen versiegen, ja sogar die letzte Träne den Glanz eines neuen Glücks versprechen kann? Die Wendung ist auch hier eine, die von Innen, aus dem gefühlten Schmerz, in den Glanz einer Außenwahrnehmung führt, die kategorial mit dem Erlebten bricht. Die »Thräne« als Symbol seelischen Leids wird in diesem Satz als ästhetisches Phänomen refiguriert, das heißt als »erglänzende« in der Fremdwahrnehmung gebrochen; die ästhetische Figuration wiederum lagert sich in eine supplementäre Struktur ein, die den »Rest« zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht zum Mittleren zwischen Leid und Glücksgefühl macht. »Reste« (die übrig, unerklärlich oder unbeachtet bleiben), so könnte man verallgemeinern, sind der Kernbestand im seelischen Haushalt Kleist’scher Figuren; sie bedürfen der Interpretation, einer Lektüre aufs Ganze hin, die in der Zeit den Mangel kompensiert. Die Zeit der Lektüre selbst ist damit der – sprechende – acte manqué und das Supplement des Restes, ein Surrogat des imaginären Ganzen, das im Rest – als Idee seiner Restitution – illusionär aufscheint. Im Erdbeben von Chili rückt mit dem »Rest« die Handlung zurecht in ein neues Bild, das den Überlebenden gewidmet ist und nur im Klang eines Konjunktivs die Erinnerung an den Zufall und dem Schmerz bewahrt, dem es sich verdankt: »Don Fernando und Donna Elvire nahmen hierauf den kleinen Fremdling zum Pflegesohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen« (MA II, 163). Was innerhalb der Erzählung unglaublich erscheinen muss, wird im Ausblick zu einer Gegebenheit29 der Umstände. Und wird man von hier aus nicht auch das Ende des Michael Kohlhaas verstehen können, wo jenes seltsam märchenhaft deplatzierte Moment 29 Auf die temporale Anökonomie dieser Gabe (der Zeit) hingewiesen hat: Pamela Moucha: Verspätete Gegengabe. Gabenlogik und Katastrophenbewältigung in Kleists Erdbeben in Chili. In: Kleist-Jahrbuch 2000, S. 61–88.

248

Martin Roussel

der Zigeunerin, die Kohlhaas einen Zettel mit Weissagungen über die Zukunft der Kurfürstendynastie zukommen ließ, eine eigentümliche InnenAußen-Bewegung in Gang setzt: Kohlhaas verschluckt, inkorporiert auf dem Schafott jenen Zettel. Es heißt sodann: »Hier endigt die Geschichte vom Kohlhaas« (MA II, 105). Auch hier kann man jedoch einen Riss weiter mitlesen, wenn diese Geschichte sich dann in einem äußerlich-chronikalischen Stil supplementiert: Man legte die Leiche unter einer allgemeinen Klage des Volks in einen Sarg; und während die Träger sie aufhoben, um sie anständig auf den Kirchhof der Vorstadt zu begraben, rief der Kurfürst Söhne des Abgeschiedenen herbei und schlug sie […] zu Rittern. Der Kurfürst von Sachsen kam bald darauf, zerrissen an Leib und Seele, nach Dresden zurück, wo man das Weitere in der Geschichte nachlesen muß. Vom Kohlhaas aber haben noch im vergangenen Jahrhundert, im Mecklenburgischen, einige frohe und rüstige Nachkommen gelebt. (MA II, 105f.)

Kleists Unberührbarkeit So wenig, wie Kleist in seinen Briefen über sein eigenes Werk geschrieben hat, so wenig findet man auch vergleichbare Stellen, die ähnlich spielerisch zwischen Tod und Glück oszillierten. Eine Ausnahme macht ein Brief, der in einem längeren Auszug nur überliefert ist und im Juni 1807 aus Châlonssur-Marne an Marie von Kleist geschrieben wurde. Ähnlich wie bei den Schilderungen aus der Gemäldegalerie in Dresden finden sich hier – sonst sehr spärliche30 – Reflexionen über seine Erfahrung der Kunst. Auch hier handelt es sich um die bildende Kunst, vermutlich ein Gemälde Simon Vouets, das die sterbende Heilige Magdalena zeigt; unter dem Inventartitel La Madeleine soutenue par deux anges ist es für das Jahr 1640 bezeugt. Es hing bis 1956 in der Kirche St. Loup, bevor es ins Archiv wanderte.31 Auf die kunsttheoretischen Äußerungen kommt es mir hier aber weniger an als vielmehr auf die eigentliche Ekphrasis – das Motiv – und die in der Beschreibung ausgedrückten und gefolgerten emotiven Zustände:32 Es sind ein paar geflügelte Engel, die aus den Wohnungen himmlischer Freude niederschweben um eine Seele zu empfangen. Sie liegt mit Bläße des Todes über30 Vgl. Peter Gebhardt: Notizen zur Kunstanschauung Heinrich von Kleists. In: Euphorion 77 (1983), S. 483–493; Bettine Schulte: Unmittelbarkeit und Vermittlung im Werk Heinrich von Kleists. Göttingen, Zürich 1988, S. 225. 31 Eine kleinere Dublette hängt unter dem Titel Le ravissmeent de la Madeleine im Musée des Beaux-Arts in Besançon. Vgl. Jochen Bertheau: Die heilige Cäcilie in Châlons. In: Heilbronner Kleist-Blätter 19 (2007), S. 72–103. 32 Vgl. ausführlicher zu den Kontexten Martin Roussel: »Wie zart sie das zarte berühren«. Zur Kunst der Berührung bei Kleist. In: Kleist-Jahrbuch 2008/09, 82–114.

Kleists Briefe und Tod

249

goßen auf den Knien, dr Leib sterbend in die Arme dr Engel zurükgesunken. Wie zart sie das zarte berühren. Mit den äußersten Spitzen ihrer rosenrothen Finger nur das liebliche Wesen, das der Hand des Schiksals jetzt entflohen ist. Und einen Blik aus sterbenden Augen wirft sie auf sie, als ob sie in Gefilde unendlicher Seligkeit hinaussähe: Ich habe nie etwas Rührenderes und Erhebenderes gesehen. (MA II, 871)

Ästhetischer Genuss im Sinne von Rührung und erhebendem Gefühl meint demnach, dem Augenblick beizuwohnen, wo Körper und Seele sich trennen, der Körper tot zu Boden sinkt und die Seele »der Hand des Schiksals« entflieht. Das »als ob« und der Konjunktiv des Beisatzes über die »Gefilde unendlicher Seligkeit«, die sich im Augenblick des Todes eröffneten, lassen auf diesem Augenblicklichen der Erfahrung insistieren. Dies ist keine Vision der Transzendenz, sondern im Gegenteil: Die Rührung stellt sich ein angesichts der Engelsberührung, die die Sterbende im Bild erfährt, während ihr Kleist zuschaut. ›Berührung‹ im Bild kehrt bei Kleist als verinnerlichte ›Rührung‹ wieder; die alte Schicksalsbinarität von Kontingenz und Providenz wird in beiden Fällen abgelöst von etwas ›Erhebenderem‹: der Himmel im Gemälde, das Gefühl, der Vergänglichkeit inmitten des Lebens trotzdem enthoben zu sein, im Brief. Statt von Kontingenzbewältigung müsste man von einer Intensivierung sprechen: in der Alternative, als Körper gänzlich dem Schicksal zu gehören und ihm als Seele zugleich zu entfliehen. Die entgegenstrebende Bewegung einer Rührung (in der Tiefe der Seele) und dem Erhebenden entspricht dem. Nach Bohrer war es die »Ikonographie des Bildes« von Vouet, die »ihm zu einer genußvollen Sterberhetorik [verhalf]«.33 Wie die fulminante Selbstaffizierungsrhetorik belegt, geben die Zeilen jedoch mehr ein ästhetisches als ein rhetorisches Modell zu verstehen bzw. die Rhetorik als Moment ästhetischer Komplikation. Dabei sind weder die Rhetorik dieser Briefsteller noch die implizite Wirkungsästhetik originär. In Werthers Brief vom 24. November etwa stößt man auf Ähnliches: »Heut ist mir ihr Blik tief durch’s Herz gedrungen«, heißt es hier, und schließlich: Und ich sah nicht mehr in ihr die liebliche Schönheit […]. Ein weit herrlicherer Blik würkte auf mich, voll Ausdruk des innigsten Antheils des süßten Mitleidens. […]. Ich widerstund nicht länger, neigte mich und schwur: Nie will ich’s wagen, einen Kuß euch einzudrücken, Lippen, auf denen die Geister des Himmels schweben – Und doch – ich will – Ha siehst du, das steht wie eine Scheidewand 33 Bohrer: Der romantische Brief (wie Anm. 10), S. 162. Vgl. ebd., S. 161, wo Bohrer vom »unmittelbare[n] Propädeutikum für die ästhetisch-spirituelle Telelogie des Selbstmordprojektes« spricht. Vgl. aber die Relativierungen ebd, S. 222.

250

Martin Roussel

vor meiner Seelen – diese Seligkeit – und da untergegangen, die Sünde abzubüßen – Sünde?34

Wir finden hier eine Reihe an Elementen des Kleist-Briefes: intensive Blickwechsel, ein tiefes Berührtsein, während zugleich eine »Scheidewand« trennt, die doppelte gegenläufige Bewegung zum Himmel und zum Untergehenden. Die Figurenkonstellierung jedoch ist im Werther – sieht man von der Personifikation der Lippen ab – eine duale, die zur Intensität der geschilderten Situation beiträgt. Anders der Bildbetrachter Kleist, der nicht in die Szene involviert ist, und gerade dies bedingt die Intensität seiner Erfahrung. Während Goethe im Werther durch die Briefform vorgibt, Unmittelbares zu schildern, errichtet der Brief Kleists eine ästhetische Konstellation, die zwischen Kunst und Leben eine Scheidewand sieht. Ein solches Verbindend-Trennendes betrifft auch die Adressierung von Kleists Schreiben an seine Kusine. Am Beginn des überlieferten Auszuges schreibt er – während die Zeit der Kriegsgefangenschaft in Frankreich für ihn eine äußerst produktive gewesen sein muss – von seinem unlöslichen Geschick: Welch ein unbegreifliches Mißverständniß muß in dieser Sache obwalten. Wenn sich niemand für mich intereßirte, wedr Sie, noch U.. noch [der Kriegsminister] A[ngern]. so bliebe mir noch ein Ausweg übrig. Doch so werde ich mich wohl mit dem Gedanken bekannt machen müßen, bis ans Ende des Kriegs in dieser Gefangenschaft aushaltn zu müssen. (MA II, 870)

Dies ist eine der Stellen, wo Kleist seinen Todeswunsch artikuliert. Doch knüpft er ihn hier an Bedingungen, die nicht erfüllt sind: »Interesse« der ihm Nahestehenden verhindert den letzten »Ausweg«; deshalb muss er es im Leben aushalten. Das Interesse kann man hier als Gegenbegriff zu Berührung verstehen, denn helfen kann ihm niemand. Das Interesse tritt zwischen die Berührung, die eine Verbindung stiften würde, und den Freitod. Sein Leben beschreibt sich damit als eine Form von Unberührbarkeit, in der die Berührung eine nur gedachte, imaginierte ist. – Wie als Kontrapunkt zu dieser Unberührbarkeit strukturiert sich eine Erinnerung, die im Mittelteil des Schreibens aus dem Juni 1807 steht. Auf einer Bank abends im Jardin führt Kleist ein Gespräch mit einem Unbekannten, der ihn an Pierre Gualtieri, Maries bereits 1805 gestorbenen Bruder, erinnert: Ich kann Ihnen die Wehmuth nicht beschreiben die mich in disem Augenblik ergriff. Und sein Gespräch war auch ganz so tief und innig, wie ich es nur, einzig auf 34 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. I,8. Hg. von Waltraud Wiethölter. Frankfurt a.M. 1994, S. 183f.

251

Kleists Briefe und Tod

der Welt, kennen gelernt habe. Es war mir als ob er bei mir säße wie in jenem Sommer vor 3 Jahren wo wir in jedr Unteredung immer wiedr auf den Tod, als das ewige Refrain des Lebens zurük kamen. (MA II, 871)

Die Stimme des Fremden, »als ob sie P.. aus der Brust genommen gewesen wäre«, dazu sein »Herz«, das sich »so nach Mittheilung [sehnt]« (MA II, 870f.), geben der Beschreibung den Anschein größter Innigkeit und der Verbindung mit einem anderen. Hier, wo Kleist eine Szene größter Intimität beschreibt, zeichnet er zugleich eine Grenzlinie um diesen »Augenblik«, die ihn dem Leben selbst entfremdet: Die Stimme des Franzosen ruft eine gespenstische Nähe ins Bewusstsein, die durch das Thema, »den Tod, als das ewige Refrain des Lebens«, verstärkt wird. Der Tod ist das, was Innigkeit, Nähe, Unmittelbarkeit, Berührung gelingende Mitteilung zu bedeuten geben. Zugleich ist dieser Tod – als »Refrain« – selbst ein Passepartout des Lebens und ohne eigene Bedeutung. Ein »Eigenthum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich – «, heißt es schon im Brief an Wilhelmine von Zenge am 22. März 1801 (MA II, 713). Der Tod ist damit nicht mehr absoluter Gegensatz zum Leben, sondern Teil – Rahmen, parergon – des Lebens.35

genius sacramenti Zweierlei lässt sich aus diesem Brief für die Matrix von Kleists Tod aus seinen Briefen mitnehmen: Erstens gewinnt Kleist aus dem – jedenfalls ästhetisierten – Anblick des Sterbens eine Stimmung, die er als gerührt und erhebend bezeichnet; zweitens ist für ihn die Vorstellung zu sterben eine dezidiert gemeinschaftliche. Das ist noch anders zu verstehen als der an andere herangetragene Wunsch, mit einer anderen Person zusammen zu sterben: In der Erfahrung des Gemeinschaftlichen – aus einer intensivierten Zweisamkeit heraus – entdeckt Kleist den Tod »als das ewige Refrain des Lebens«, mithin könnte man in diese Entdeckung den tödlichen Ausgang der Familie Schroffenstein und der Verlobung in St. Domingo eintragen, in denen die Liebe, die innige Gemeinschaft nur im Tod Bestand hat. Denn im Brief von 1807 tritt der Tod zusammen mit dem Denken des »Augenblik[s]« auf den Plan, und ein »Blik aus sterbenden Augen« war es auch, den Kleist in Vouets Gemälde beschrieb, wo »sie auf sie« blickte: die Sterbende auf die Engel, und das doppelte »sie« wie ein Refrain die Untrennbarkeit präludiert. 35 »Für Kleist war der Tod im Sinne eines schön-erhabenen Ziels zu diesem Zeitpunkt zerstört«, kommentiert Bohrer: Der romantische Brief (wie Anm. 10), S. 89. Wie kann dann aber – neutralisiert – der Tod als Endpunkt gedacht noch Telos sein?

252

Martin Roussel

All dies bleibt etwas, das für Kleist mit Rührung und Distanz zur Metaphorik des Lebens gehörte. Noch Anfang Oktober 1811 schreibt er Marie von seiner »Liebe zur Kunst«, die vielleicht in Wien »von Neuem wieder aufwachte« (MA II, 989). Die überlieferten Briefe ab dem 9. November weisen dann einen stark veränderten Tonfall auf:36 »Meine liebste Marie, mitten in dem Triumpfgesang den meine Seele in diesem Augenblick des Todes anstimt« (MA II, 990), beginnt das Schreiben unheimlich. Es sind insgesamt drei Briefe an die Kusine, einer an Sophie Müller, ein Versöhnungsbrief an die Schwester Ulrike, schließlich ein Brief an Karoline Amalia Manitius – von Kleist stammt hier nur ein doppeltes »Adieu, adieu!« (MA II, 996) – und an Ernst Friedrich Peguilhen, der für die Nachlassregelungen vorgesehen war. »Nur so viel wisse«, konnte Marie von Kleist lesen, »daß meine Seele durch die Berührung mit der ihrigen [Henriette Vogels], zum Tode ganz reif geworden ist« (MA II, 991). Die neue Freundin habe eine Seele, die »wie ein junger Adler flieg[e]«, während es seine Aufgabe lediglich sei, »einen Abgrund tief genug zu finden um mit ihr hinab zu stürzen« (MA II, 993). Es war ihr »Entschluß«, mit ihm »zu sterben«,37 und das war für ihn, als dürfe er nicht wortbrüchig werden, als verpflichte ihn ein genius sacramenti, mit dem einst die römischen Legionäre ihre Gewissensverpflich36 »Von Interesse ist eigentlich nicht mehr, warum Kleist sterben muss – weil er an seiner Familie leidet, am preußischen Staat, am Misserfolg als Dichter usw. Das erscheint in der Addition nur banal. Von Interesse ist, warum Kleist so gelassen, nüchtern, vergnügt und ohne religiösen Trost sterben kann« (Blamberger: Ökonomie des Opfers, wie Anm. 8, S. 153). Dass sich Kleist »bis zuletzt als Nomade« darstelle (ebd.), der »ohne religiösen Trost« auskomme, kann den veränderten Tonfall der letzten Briefe (die »Todeslitanei« vielleicht ausgenommen), die Heiterkeit schon deshalb nicht erklären, weil das Abgrenzungsmoment zum Schreiben davor fehlt. Zudem versichert Kleist – glaubhaft oder nicht –, er könne nun beten (vgl. MA II, 993). Weder Todesort noch -zeitpunkt weisen eindeutig auf ein besonderes Kalkül hin. Blambergers »Nachweis« zielt darauf, »dass die Todes-Briefe das Bild von Kleists Autorschaft für die Nachwelt prägen« (S. 154) – und damit Kleists schlussendlich katastrophisches Leben und die katastrophische Literatur zusammendenken, als gäbe es jene Bohrer’sche »Teleologie des Todes« und nicht die Kontingenz eines Handelns, das, solange Handeln Schreiben bedeuten konnte, dezidiert lebensbezogen war. 37 MA II, 994. »Der Entschluß der in ihrer Seele aufging mit mir zu sterben, zog mich, in kann dir nicht sagen mit welcher unaussprechlichen und unwiederstehlichen Gewalt an ihre Brust […] – Ein Strudel von nie empfundner Seeligkeit hat mich ergriffen, und ich kann Dir nicht leugnen daß mir ihr Grab lieber ist als die Betten aller Kaiserinnen der Welt.« Hier wird sowohl der Sterbenskontrakt als zentrales Moment herausgestellt wie auch, dass es nicht sein Entschluss war, sondern es ihr Entschluss war, der ihm die alternative Handlungsmöglichkeit genommen hat. Weil sie (mit ihm) sterben wollte, konnte er (wie im Falle von Maries Nein) hinter die (vormals) Topik seines Sterbenswunsches (die in gewisser Weise darauf beruhte, dass der andere Nein sagt) nicht mehr zurück: Die Sprache bot keinen Raum der Distanz(ierung) mehr.

Kleists Briefe und Tod

253

tung zum Fahneneid begründeten. Kleist werde, so schreibt Henriette Vogel an ihren Mann, »meine Ueberkunft besorgen und sich alsdann selbst erschießen«.38 Zu Gott beten könne er nun, so Kleist, da er den »wollüstigsten aller Tode« vor Augen habe, und er überlegt, sich »mahlen zu lassen« – am Ende selbst Gemälde zu werden (MA II, 993). Er rechtfertigt die Liebe zu Henriette nicht als höhere gegenüber der zu Marie, sondern als eine »unaussprechliche[ ] und unwiederstehliche[ ] Gewalt«, die ex negativo darin begründet sei, dass Marie auf seine Frage: »erinerst Du Dich wohl, daß ich Dich mehrmals gefragt habe, ob Du mit mir sterben willst?«, immer gleich antwortete: »Aber du sagtest immer nein«, und er fährt fort mit der Erläuterung dieser »Gewalt«: »Ein Strudel von nie empfundener Seeligkeit hat mich ergriffen« (MA II, 994). Die berühmte Metapher von den zwei Seelen »wie zwei fröhlige Luftschiffer, [die sich] über die Welt erheben« (MA II, 994), schreibt er an Sophie Müller. Auf den »Morgen meines Todes« datiert er versöhnliche Worte an die Schwester (MA II, 996). Was mag es heißen, dass ihm auf Erden nicht, im Himmel aber wohl zu helfen sei? Die Frage ist spekulativ, die Rhetorik, mit der sich dieser Tod einzustellen verspricht, aber deutlich um eine ihm selbst rätselhafte Gewalt strukturiert, einen Strudel der Berührung, die seine Unberührbarkeit, Distanz und Lebensspannung – das Handeln im und fürs Leben aus der Notwendigkeit, das eigene Leben bestimmen zu müssen39 – zerstört hat. Noch einmal: Ihrer, nicht sein Entschluss war es zu sterben, er hat dazu den Abgrund gefunden.40 Die eigentümliche Wollust, »Lust im Tode«, erklärt sich von 38 Zit. nach Georg Minde-Pouet: Kleists letzte Stunden. Teil I: Das Akten-Material. Berlin 1925, S. 59. »Gott gebe seinen Seegen zu unserm vorhabenden Entschluß«, schreibt sie am Brief gleichfalls an ihren Mann, der wohl an den anderen anschließt und wahrscheinlich in Stimmings Krug geschrieben wurde (datiert auf »Donnerstag Morgen«, also den 21. November) (ebd., S. 25). So sehr auch Henriette Vogel und Kleist in ihrem Wunsch zu sterben übereinzustimmen scheinen, liegt doch die direktere, weniger ausgeschmückte Rhetorik des Sterbenswunsches bei ihr, während er das Wir des Sterbens noch stärker herausstellt, bildlich überhöht und seine eigene Rolle aus dem Wunsch mehr in den Vollzug legt. Man kann hierin – spekulativ – eine tiefe Unsicherheit spüren, die als weiteres Implement der Todesmatrix wohl auch die Heiterkeit (als Überspielen der Angst) erklären helfen kann. 39 Das Motto hierfür (aus dem 1807er Brief an die Kusine): »Wenn sich niemand für mich intereßirte, […] so bliebe mir noch ein Ausweg übrig« (MA II, 870) – und in der Distanz des Schreibens blieb dieser eine, finale Ausweg eben versperrt. 40 Für die Beziehung beider kann man zurecht den Abgrund auf Henriette Vogel selbst projizieren: »Im Sinne von Barthes’ Deutung [in den Fragmenten einer Sprache der Liebe] wird Henriette hier [im gemeinsamen Wunsch zu sterben] zum Atopos« (Helbig: Herr von Kleist und Frau Vogel beschließen ihren Tod und verwirren die Wissenschaft, wie Anm. 8, S. 119).

254

Martin Roussel

hier aus: Die Wahl der Freundin beruhte nur darauf, dass sie ihm die Entscheidung abnahm.41 Hierzu passen auch Indizien in Stimmings Krug, wo man neben dem Don Quixote in Tiecks Übersetzung Klopstocks Oden fand. Peguilhens Erinnerungen 1812/13, wenige Monate nach den Todesschüssen, vermerken wohl unter Einfluss der Werther’schen Szene (mit der aufgeschlagenen Emilia Galotti auf dem Pult, zu dessen Füßen der tote Werther gefunden wird) den Zusammenhang zwischen Lektüre und Tod einigermaßen präzise: »Unter diesen [Oden Klopstocks] waren besonders eingeschlagen: Rothschilds Gräber, und Die tote Clarissa«. Peguilhen selbst war überzeugt, hierin den Schlüssel zum Verständnis zu finden, warum Henriette Vogel sterben wollte – von Kleist ist auffälliger Weise nicht die Rede. In Klopstocks, von Peguilhen auf die Tote projizierten Worten, sieht man die Sterbende, wie »noch stille Röte die hingesunkene / Wange bedeckte«. »Freudiger war entronnen ihre Seele / […] Daß in dem Himmel sanft die liedervollen / Frohen Hügel umher zugleich ertönten«.42 Das ist natürlich nicht Vouets Gemälde,43 und auch nicht die exakte Position, in der Henriette Vogel gefunden wurde.44 Es ist die gleiche Sprache, wie die über Vouets Magdalena, in deren Strudel die rhetorische Distanz ihre symbolische Mitteilungsfunktion und ihre indexikalische Ursache überkreuzt. Was man liest, klingt wie nicht von dieser Welt, jenseitig ausgerichtet, aber noch darin insistiert es auf der Grenze, die das Ich nicht überschreitet. Ist das also poetisch oder tröstend oder beides nicht? Alles, was das Ende betrifft, bleibt auch posthum offen, ein Rätsel, je mehr man rätselt. In der heiteren Sprache der Todesbriefe steckt aber mehr als letzte Wünsche für den Himmel, von denen man glauben kann (oder nicht), Kleist habe sie geglaubt, sondern auch ein Abschied vom Schreiben. Es sind letzte Wünsche; seine Schriften, Entwürfe, vielleicht seinen zweibändigen Roman, der vielleicht die Geschichte meiner Seele geheißen 41 Bohrer sieht hierin noch – ungeachtet der Kontingenz des Todeszeitpunktes (Hätte sich Kleist auch ohne Henriette Vogel getötet?) – eine wirksame Teleologie: »Der Selbstmord war […] als teleologisches Projekt im Entscheidungsakt sich kreuzender semantischer Potentiale zunächst wiederentdeckt und daraufhin realisiert worden. Die spezifische Fassung dieser geschichtsphilosophisch neutralisierten Teleologie wird schließlich im Motiv der Lust, der »Lust im Tode« erläutert« (Bohrer: Der romantische Brief, wie Anm. 10, S. 150). 42 Nachruhm Nr. 39. 43 Ohne Blick auf die Rhetorik der Bild- wie der Selbstbeschreibung bleibt Peter Michalziks These, die Inszenierung folge Vouets »Sterbende Heilige Maria Magdalena«; Michalzik: Kleist, wie Anm. 22, S. 464–466. Schon bei Bohrer: Der romantische Brief (wie Anm. 10), S. 162f., wird Ähnliches erwogen. 44 Vgl. (mit deutlicher Kritik an Michalzik) Klaus Müller-Salget: Henriette Vogel als Sterbende Heilige Magdalena? Eine Klarstellung. In: Kleist-Jahrbuch 2011, 163f. Vgl. auch die zwischen beiden geführte fortgeführte Diskussion in Kleist-Jahrbuch 2012.

Kleists Briefe und Tod

255

hätte, hat er verbrannt. Zu den auffallendsten Stilistika der Briefe gehört die Wiederholung, die in der sogenannten Todeslitanei zur Serie gesteigert ist.45 Das was Rudolf Unger 1924 aus der »Geschichte des Palingenesiegedankens im 18. Jahrhundert« verstehen wollte,46 ist hier zur puren Wiederholung kondensiert; sie steht in der Erwartung des Unnennbaren, das ist die Geburt des Neuen schlechthin. In dieser Wiedergeburt stehen weder Sterblichkeit noch Unsterblichkeit im Fokus, sondern die Figur ihrer Grenze, eine endlose Erwartungshaltung. Es ist eine Metaphorik der Ununterscheidbarkeit, des ornatus der Seele, der Kleists Unsicherheit in der Sprache zu bestätigen scheint: »o Liebste, wie nenn’ ich dich«, schreibt er genau in der Mitte seiner annähernd 50 schmückenden Beiworte für die Todesgefährtin, zum Ende hin: »Ach, Du bist mein zweites besseres Ich«, und das ist, anders als Alkmenes »Ach« ein Supplement, das leer zu bleiben 45 Vgl. zum 1907 von August Sauer geprägten Terminus Blamberger: Ökonomie des Opfers (wie Anm. 8), S. 158. Die Einstufung als »Briefwechsel«, wie sie insbesondere Holger Helbig befürwortet, bestimmt sich aus dem adressierenden Gestus; vgl. Helbig: Herr von Kleist und Frau Vogel beschließen ihren Tod und verwirren die Wissenschaft (wie Anm. 8), hier S. 109, S. 122–125. 46 Rudolf Unger: Zur Geschichte des Palingenesiegedankens im 18. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2 (1924), S. 257– 274. Vgl. ders.: Herder, Novalis und Kleist. Studien über die Entwicklung des Todesproblems in Denken und Dichten vom Sturm und Drang zur Romantik. Frankfurt a.M. 1922; sowie den Hinweis auf Unger bei Kreutzer: Die dichterische Entwicklung Heinrichs von Kleist, S. 66. – Charles Bonnet hatte 1769 im Anschluss an Leibniz La paralingénésie philosophique, ou idées sur l’état passé et sur l’état futur des êtres vivants veröffentlicht (2 Bde. Genf: Claude Philibert & Barthelemi Chirol 1769; Münster: Philippe Henry Perrenon 1770). »On comprend«, heißt es hier über die Seele in einer Sprache, die Worte nur das Vergängliche, nicht aber den Keim des Unvergänglichen, germe impérissable anbieten kann, »que je veux parler de ce Germe impérisssable auqel, je conçois que l’Ame est unie, & qu’elle ne doit point abandonner. C’est cette Ame unie de tout tems à ce Corps invisible, qui constitue, dans mon Hypothèse, la véritalbe Personne de l’Animal. Tout le reste n’en est donc que l’Ecorce, l’Enveloppe ou le Masque« (Bd. 2, S. 5). – Zeitgleich in Deutschland veröffentlicht, aus dem Französischen von Johann Caspar Lavater: E. Bonnet: Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen. Zürich: Füeßlin und Compagnie 1769 u. 1770 [1771 erschienen]. Zum Tod schreibt Bonnet in Lavaters Worten: »Sollte nun der Mensch [Körper und Seele] im Tode auseinander zerlegt – um nachher wieder zusammengesetzt zu werden? – Sollte sich die Seele ganz von dem Körper absondern, um nachher mit einem anderen Körper vereinigt zu werden? Wie könnte man diese gemeine Meynung mit dem so philosophischen und so erhabenen Lehrsatz, daß der allmächtige Wille durch eine einzige Wirkung alles erschuf und erhält, in Uebereinstimmung bringen? […] Ist es dann nicht wahrscheinlich, der Mensch sey auf eine solche Weise vorhergebildet worden, daß der Tod sein Wesen nicht übern Haufen stößt, und daß seine Seele nicht aufhört, mit einem organischen Körper vereinigt zu seyn?« (S. 6f.) Kleists ›Augenblick der Berührung‹, in einer Wiederholungsschleife, gibt diesem Körper-Seele-Problem eine künstlerisch-existentielle Dynamik.

256

Martin Roussel

scheint, überflüssig in einer Sprache der »Cherubin und Seraph[en]«, denn mit diesem Ach verliert sich die Sprache zwischen zwei Menschen in der wie auch immer apostrophierbaren Synthese von Ich und Du in einem »zweite[n] bessere[n] Ich«.47 Henriette Vogels Text gibt sich dagegen dem Sprachfluss hin, »m armer kranker Heinrich, m zartes weißes Lämchen, m Himmelspforte«, schließt ihr sacramentum (DKV IV, 520). Wiederholung, wiederholte Abschiede finden sich auch in den Briefen: »Adieu« grüßt Kleist die Kusine Marie am 9. November, »Adieu noch einmal« am 10. November.48 Das doppelte »Adieu, Adieu!« an Karoline Amalia Manitius zitiert schon den Gruß von Henriette Vogel wenig oberhalb, für Ulrike schreibt er ein »lebe wohl; möge dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit, dem meinigen gleich«. Seine wohl letzten Zeilen zitieren sich selbst: »Ich glaube ich habe dies schon einmal geschrieben, aber die Vogel besteht darauf, daß ich es noch einmal schreibe« (MA II, 999). Von seinen »Gedancken und Schreibereien« spricht er im bitteren Rückblick auf das Familientribunal seiner Schwestern, die er so wenig wie Hoffnungen auf den König und einen möglichen Krieg mehr verfolgen wolle.49 Mit Blick auf den Tod gab es immer weniger zu sagen, und vielleicht ist es auch diese Koinzidenz, weshalb die »économie de la mort« der »essence testamentaire« seiner Schriften50 eine scharfe Kontur, ihr linéament, alignment gibt. Am 21. November 1811 galt nicht mehr, was Robert Walser, ziemlich genau 100 Jahre später schrieb: »Was tat ich zehn Jahre lang? Um diese Frage beantworten zu können, muß ich erstens seufzen, zweitens schluchzen und drittens ein neues Kapitel oder frischen Abschnitt beginnen«.51 47 MA II, 527. Die Todeslitanei ist undatiert, muss aber im Spätherbst 1811 entstanden sein, möglicherweise in den Tagen vor dem Tod. MA druckt nur Kleists Text. Das Faksimile einer Abschrift der Todeslitanei aus dem Nachlass Varnhagens findet sich am Schluss dieses Beitrags. 48 Hier ohne nähere Relevanz bleibt die aus meiner Sicht plausible Hypothese Klaus Müller-Salgets, Kleist habe die Briefe an die Kusine zwischen dem 9. und 12. November als eine Art Serienbrief gestaltet und nicht abgeschickt (vgl. DKV IV, 1071f.). 49 »Rechne« all dies, schreibt er an Marie von Kleist, »und Du wirst begreifen, daß meine ganze jauchzende Sorge nur sein kann, einen Abgrund tief genug zu finden um mit ihr hinab zu stürzen« (MA II, 993). 50 Jacques Derrida: De la grammatologie. Paris 1967, S. 100. Deutsch: »Als Verhältnis des Subjekts zu seinem eigenen Tod ist dieses Werden gerade die Begründung der Subjektivität – auf allen Organisationsstufen des Lebens, das heißt der Ökonomie des Todes. Jedes Graphem ist seinem Wesen nach testamentarisch«; Jacques Derrida: Grammatologie [1967]. Aus dem Französischen von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt a.M. 2009, S. 120. 51 Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. von Jochen Greven. Zürich, Frankfurt a.M. 1985, Bd. 16, S. 321.

Kleists Briefe und Tod

257

Damit richtet sich, erstens, das literarische Werk gegen den aus Zeugnissen und Briefen belegbaren Todeswunsch Kleists. Zweitens gewinnt sein Lebensbegriff Spannung aus seiner Korrelation zum Tod: Weil das Gegenüber nicht mit ihm sterben will, bleibt er im Leben gebunden. Drittens konstituiert Kleists Schreiben, so wie es in den überlieferten Briefen vorliegt, eine Matrix des Todes. Gegenüber der genuin ästhetischen Reflexion 1807 (Vouet-Gemälde) kehrt die gefühlsbetonte Sprache des Sterbens – der Grenzlinie zwischen Tod und himmlischer Seligkeit – in den Briefen aus dem November 1811 wieder: Kleist bezieht die Distanzlosigkeit, die Einheit von Tod und Seligkeit im Moment des Sterbens, auf Henriette Vogel, deren Todeswunsch und -entschluss er in die Tat umsetzt. Gemeinsam figurieren sie ein »zweites, besseres Ich«. Damit kann man, viertens, die fatale Zuspitzung bis zum Tod am 21. November 1811 als zufällig konsekutives Strukturmoment einer Begegnung denken, die Kleists verbal vehementem Wunsch, mit ihm zu sterben, die finale und unvorhersehbare Option bot. Todeswunsch und -option fielen zusammen. Das was vorher zwingend ans Leben binden musste, führte nun in den Tod: die Koinzidenz des zuvor Getrennten, von (adressiertem, aber abgelehntem) Todeswunsch und (ästhetisierter, aber ästhetisch faszinierter) Sterberhetorik.52 – Marie von Kleist mochte dies gewusst haben; jedenfalls identifizierte sie, für die Henriette Vogel »der lebendige Teufel«53 war, sich am Deutlichsten mit jener einzig lebbaren und dem je eigenen Wunsch notwendig unverfügbaren Alternative: »[E]rinerst du Dich wohl«, schrieb ihr Kleist einmal, »daß ich Dich mehrmals gefragt habe, ob Du mit mir sterben willst? – Aber Du sagtest immer nein –« (MA II, 994).

52 Eduard von Bülows Darstellung, die freilich in keiner Weise verbürgt ist, kann man somit darin folgen, als dass ihr Todeswunsch mit seiner Todesrhetorik korrelierte und die Umsetzung in die Tat seinem »ritterlichen« Selbstverständnis – als eine Art genius sacramenti – zu verdanken sein müsse: »Als es Kleist eines Tages schien, seine Freundin habe ganz besonders schön gesungen, sagte er zu ihr mit einem ihm wohl aus seiner Jugend überbliebenen Ausdrucke uniformirter Begeisterung: das ist zum Erschießen schön! Sie sah ihn in dem Augenblicke bedeutend an und erwiederte kein Wort; in einer einsamen Stunde kam sie aber auf diese ihm entschlüpfte Aeußerung zurück. Sie fragte ihn: ob er sich noch des ernsten Wortes erinnere, welches sie ihm schon früher einmal abgenommen habe, ihr im Fall sie ihn darum bitte, jeden, selbst den größten Freundschaftsdienst zu leisten? Seine ritterliche Antwort war: er sei dazu zu jeder Zeit bereit, und sie sagte ferner: Wohlan! so tödten Sie mich! Meine Leiden haben mich dahin geführt, daß ich das Leben nicht mehr zu ertragen vermag. Es ist freilich nicht wahrscheinlich, daß Sie dies thun, da es keine Männer mehr auf Erden gibt; – allein … Ich werde es thun, fiel ihr Kleist in das Wort, ich bin ein Mann, der sein Wort hält! – «; Eduard von Bülow (Hg.): Heinrich von Kleist’s Leben und Briefe. Mit einem Anhange. Berlin 1848, S. 73f. 53 So am 26.12.1811 an König Friedrich Wilhelm III. (Kleists Nachruhm, Nr. 91).

258

Martin Roussel

Kleists ›Todeslitanei‹, 21.11.1811, Abschrift von Karl August Varnhagen

Kleists Briefe und Tod

Henriette Vogels ›Todeslitanei‹, 21.11.1811, Abschrift von Karl August Varnhagen

259

260

Martin Roussel

Abschrift von Ernst Friedrich Peguilhens Beitrag in der Vossischen Zeitung vom 26. November 1811, der auch in der Spenerschen Zeitung vom 28. November 1811 nachgedruckt wurde. Als Reaktion darauf erschien im »Morgenblatt für gebildete Stände« vom 27. Dezember 1811 ein Artikel mit dem Titel »Oeffentliche Seligsprechung und Vergötterung des Mords und Selbstmords in Deutschland« in dem Peguilhens Text komplett zitiert wird (S. 1237–1240, hier S. 1238).

Ursula Kiermeier

Die dunkle Süße des Todes Heinrich von Kleist und Henriette Vogel als romantische Freitod-Ikonen bei Stefan Chwin

Wie stark Stefan Chwins Bindung an das Werk Heinrich von Kleists bis heute geblieben ist, lässt sich schon allein am Titel seines im Kleistjahr 2011 erschienenen Romans Panna Ferbelin1 [Das Fräulein Ferbelin] ablesen, der in polnischer Verfremdung (bzw. Aneignung) die Schlacht von Fehrbellin und zugleich den Kleist’schen Prinzen von Homburg anklingen lässt; im Prinzen sieht Stefan Chwin seit jeher Kleists wichtigstes literarisches Werk und steht damit in der polnischen Kleist-Rezeption nicht alleine. Die Danziger Passionsgeschichte, die Stefan Chwin um das Jahr 1900 ansiedelt und in der das Fräulein Ferbelin zur modernen Maria Magdalena avanciert, die eigenmächtig in den Verlauf der Heilsgeschichte eingreift, indem sie den neuen Messias Kurt Niemand vom Kreuzestod errettet, scheint auf der narrativen Ebene keine Parallelen zum Leben und Sterben Heinrich von Kleists und Henriette Vogels aufzuweisen. Doch der erste Augenschein trügt. Im Roman Panna Ferbelin werden intertextuelle Bezüge zum Selbstmordpakt am Wannsee und zu Stefan Chwins früheren Romanen hergestellt, am plakativsten durch die Geburt des Fräulein Ferbelin: Sie ist am Todestag und Todesort Heinrich von Kleists und Henriette Vogels geboren, »am 21. November im selben Gasthof, bei dem der Dichter Kleist und eine Frau namens Vogel Hand an ihr Leben gelegt hatten, denn Mutter übernachtete dort, als sie wenige Monate nach der Hochzeit mit Vater zur Familie nach Berlin reiste und die Stunde ihrer Entbindung gekommen war«.2 Der einstige Todesort wird von Stefan Chwin in Panna Ferbelin in 1 2

Stefan Chwin: Panna Ferbelin. Gdańsk 2011. Bis zur Drucklegung dieses Beitrags lag noch keine gedruckte Übersetzung des Romans vor. Die nicht anders markierten Übersetzungen stammen von der Autorin dieses Beitrags. Ebd., S. 51. Ob Stefan Chwin hier die Historie aus Unwissenheit oder poetischer Freiheit außer Kraft setzt, muss offen bleiben: zum vermutlichen Zeitpunkt der Geburt des Fräulein Ferbelin war »Stimmings Krug« längst abgerissen worden, um einer Villensiedlung zu weichen.

262

Ursula Kiermeier

einen Ort neuen Lebens verkehrt. Das gilt programmatisch für Chwins gesamte Danziger Passionsgeschichte. Maria Ferbelin deutet die passive Einwilligung des »Lehrers aus Neustadt« in seinen nahenden Kreuzestod, der den Zorn Gottes über die Sünden der Menschen besänftigen soll, als Selbstmord, den es zu verhindern gelte. Die Geschichte des romantischen Liebespaars Heinrich von Kleist und Henriette Vogel, das in einem prometheischen Akt die Gewalt über Leben und Tod dem christlichen Gott aus den Händen reißt und an sich zieht, wird konterkariert durch eine moderne Liebende, die sich gegen den todbringenden Heilsplan Gottes für das Leben ihres Geliebten entscheidet. Beide Entscheidungen, sei es die für den Freitod in Hanemann, sei es die für das Leben in Panna Ferbelin, sind für Stefan Chwin romantische Akte des Aufbegehrens gegen metaphysische Ordnungen. Dennoch hat sich der Autor mit der Volte vom Freitod ins Leben von seiner einstigen Freitodikone Heinrich von Kleist merklich distanziert. Die neue, ironisch gebrochene Distanz zum einst zutiefst verehrten Autor veranschaulicht ein Zitat aus Chwins monumentaler Freitodstudie Samobójstwo jako doświadczenie wyobraźni (2010, Der Freitod als Erfahrung der Vorstellungskraft). Er schreibt im Kapitel »Die Selbstmord-›Poetik‹. Das ›ästhetische‹ Moment der Tat« über den Selbstmordpakt und die Todesbriefe Henriette Vogels und Heinrich von Kleists: Kleist frühstückt am Wannsee mit seiner Geliebten, schießt ihr ins Herz, dann erschießt er sich. Sie knien voreinander. Welche Bedeutung hat dieses Todestheater – für sie und für ihn? Ging es um die Schaffung einer eigenen, romantischen Todespoetik mit dem Ehrgeiz auf legendäre Unsterblichkeit oder eher um die Nachahmung fremder Todesmuster? Für die einen war dieser Tod eine erbärmliche Komödie romantischer Selbstbezogenheit, für die anderen ein – zum Heulen – erhabener, improvisierter Ritus des freiwilligen Gangs aus dem Leben, der bis ins kleinste Detail vorbereitet war.3

Zu den Abschiedsbriefen von Selbstmördern im Allgemeinen schreibt Chwin übergangslos im Anschluss an die Schilderung des Doppelselbstmords: Forscher heben die semantische Armut der Abschiedsbriefe von Selbstmördern hervor, sogar wenn es um Künstler geht, sie unterstreichen jedoch, wie wichtig die nonverbale Inszenierung des Freitods ist. Der Regisseur James Whale, der als wasserscheu bekannt war, ertränkte sich im eigenen Swimmingpool, und hinterließ am Beckenrand ein Buch mit dem Titel Don’t go Near the Water.4

3 4

Stefan Chwin: Samobójstwo jako doświadczenie wyobraźni. Gdańsk 22011, S. 30. Ebd., S. 30f.

Die dunkle Süße des Todes

263

Abschieds- und Todesbriefe kennzeichne ästhetisch gesehen ein intellektueller Tunnelblick, die visuelle Inszenierung des Freitods stehe im Vordergrund. Gibt Stefan Chwin durch seine lapidare Beschreibung und die Kontextualisierung mit dem bewusst komischen Abgang James Whales seine einstige Deutung des Selbstmordpakts und insbesondere der Todesbriefe Heinrich von Kleists und Henriette Vogels nicht der Lächerlichkeit preis? Und das angesichts dessen, dass er in den 1990er Jahren den Deutschen noch vorwarf, auf dem Kleistschen Auge blind zu sein und nur Goethe und Schiller zu verehren, Kleist jedoch sträflich geringzuschätzen (so 1994 im Gespräch mit mir)? Stefan Chwins Lesart von Heinrich von Kleists Freitod und der Todesbriefe hat sich in den anderthalb Jahrzehnten seit dem Erscheinen seines Romans Hanemann unter dem Einfluss Maria Janions diametral verändert. Während Stefan Chwin die Todesbriefe in Hanemann (1995) als Dokumente eines revolutionären Liebens zum Tode im romantischen Liebesdiskurs verortet, folgt er fünfzehn Jahre später der Interpretationslinie Maria Janions, die Heinrich von Kleist aus dem romantischen Liebesdiskurs herauslöst, ihn stattdessen im ästhetischen Diskurs der Romantik ansiedelt und mit Adam Mickiewicz und Juliusz Słowacki gleichsetzt. Chwin folgt Maria Janion hierin spätestens seit seiner Freitodstudie.5 An dieser Stelle sollen zunächst ein paar allgemeine Worte zur Person Stefan Chwins nachgetragen werden: Er wurde 1949 in Danzig (vielmehr im polnischen Gdańsk) als Kind polnischer Umsiedler geboren und ist heute Professor für Polnische Philologie an der dortigen Universität. Berühmt wurde er weniger als Wissenschaftler als vielmehr als Romancier, Essayist und Literaturkritiker, der in die fremde, von den polnischen Umsiedlern in Danzig vorgefundene deutsche Welt eintaucht und Brücken zwischen der deutschen und polnischen Kultur schlägt. Chwins größter literarischer Wurf war bislang der Roman Hanemann,6 auf Deutsch erschien er in der Übersetzung Renate Schmidgalls unter dem Titel Tod in Danzig.7 Danzig und seine deutsche, jüdische und polnische Geschichte stehen seitdem im Zentrum von Chwins Werk. Zunächst war es die vorgefundene Materialität, waren es die deutschen Dinge, die auf der Flucht nicht mitgenommen werden konnten, die das Kind Stefan Chwin und später den jungen Autor in ihren Bann zogen: das alte Mobiliar, die kostbaren Tuche, die Villen der Danziger Vororte, in denen er aufwuchs. In seinem Vortrag Polski pisarz a Niemcy [Ein polnischer Schriftsteller und die Deutschen], den er im März 2004 auf einer Tagung in Breslau hielt, beschrieb er das so: 5 6 7

Ebd., S. 338. Stefan Chwin: Hanemann. Gdańsk 1995. Stefan Chwin: Tod in Danzig. Roman. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Berlin 1997.

264

Ursula Kiermeier

Ich lebte in einem einst deutschen Haus – das mochte heißen: Ich lebte im Hause derer, die meinen Tod gewollt hatten. In der Schule wurde mir versichert, die Deutschen wollten nach Danzig zurückkehren, weil sie noch alte Rechnungen offen hätten. Ihre Verbrechen waren Thema des Geschichtsunterrichts. Doch dieses Haus – das Haus unserer Feinde, in dem ich geboren worden war und lebte – hatte mich zu verzaubern verstanden. Das war eine befremdliche Erfahrung. Ich war mit Sienkiewicz, Pan Tadeusz, mit Wer bist du? Ein kleiner Pole, aber auch einem Weltatlas aus dem Jahre 1937 des Berliner Verlegers Westermann aufgewachsen, der mich postum Bewunderung für die Stahlstichkunst der alten Meister der Kartographie lehrte, obwohl er selbst – so bildete ich es mir zumindest ein – lediglich ein geschäftstüchtiger deutscher Verlagsbuchhändler gewesen war. Ich wuchs inmitten der herrlichen Villen, Parks, Mühlen und Gärten des Alten Oliva auf. Kunstsinn lehrten mich die Gegenstände, die ich betrachtete und die ich berührte. Mich faszinierte das deutsche Formempfinden.8

Über die bildende Kunst, insbesondere die Malerei Philipp Otto Runges und Caspar David Friedrichs, gelangte der junge Chwin zur deutschen Kultur, zur deutschen Romantik, dabei faszinierte ihn gerade dasjenige an der deutschen Kultur, was er in der polnischen nicht vorfand. Chwin selbst formuliert es so: Mich zog an, was Goethe ablehnte, was Grass ablehnt, was heute viele Deutsche ablehnen – die Düsternis der deutschen Gotik, das irrationale Dunkel der deutschen Romantik, die beunruhigende Kühle der protestantischen Religiosität, aber auch die düstere Färbung der deutschen Liebe, der deutschen Melancholie, des deutschen Todes – denn an einer solchen Färbung fehlte es mir im polnischen Leben, das – so empfand ich es – viel heiterer und dem äußeren Anschein nach oberflächlicher war. Der Tod ist in der deutschen Kultur eine recht gefährliche Angelegenheit, doch voller Neugier näherte ich mich diesen gefährlichen Regionen deutschen Geistes, schon allein durch die Lektüre Kleists, denn das polnische Todesempfinden befriedigte meine Herzensbedürfnisse nicht. Mich interessierte das ›dunkle‹ Deutschland – also das Deutschland, das es heute nicht mehr gibt und vielleicht auch zum Glück nicht mehr gibt. Aber gerade vor dem Hintergrund des dunklen Deutschlands zeichnete sich die Eigenständigkeit des polnischen Lebens so schön ab, die ich als kostbar erachtete: die warme Färbung des polnischen Katholizismus und – nennen wir es einmal so: der weise Unernst des polnischen Geistes.

Chwins Wahrnehmung der deutschen Kultur ist dichotom, wenn nicht gar manichäisch: Er unterteilt das deutsche Geistesleben in ein helles und ein 8

Dieses und das folgende Zitat entstammen meiner Übersetzung von Stefan Chwins unveröffentlichtem Vortrag Polski pisarz a Niemcy [Ein polnischer Schriftsteller und die Deutschen/Deutschland], der Ende März 2004 auf der deutsch-polnisch-französischen Schriftstellerkonferenz in Breslau gehalten wurde.

Die dunkle Süße des Todes

265

dunkles Deutschland und greift damit selbstredend auf einen älteren Deutschlanddiskurs des 20. Jahrhunderts zurück, auf den hier aus Raumgründen nicht näher eingegangen werden kann. Andrea Meyer-Fraatz versteht Stefan Chwins Rekurrieren auf Heinrich von Kleist als dessen Stilisierung »zum Muster des anderen Deutschen«9 und greift mit dieser Deutung deutlich zu kurz; Kleist ist in Chwins Roman weit mehr als nur eine weitere Verkörperung des polnischen Nachkriegsklischees vom ›anderen Deutschen‹, der nicht den Seelenfängern der Nazis ins Netz ging; Heinrich von Kleist und Henriette Vogel werden für Stefan Chwin zu Ikonen des existenziellen Freitods. Nach Chwin charakterisiert den Roman als literarische Gattung »immer eine Poetik der Versuchung«10, die Versuchung von Tod in Danzig ist die Versuchung des Todes, so wie sie sich im Bewußtsein des Menschen im zwanzigsten Jahrhundert manifestiert, das heißt, im Bewußtsein eines Menschen, der zwischen verschiedenen Nationen und Kulturen lebt, dessen Verhältnis zur Religion (und zur Gesellschaft) diffus geworden ist, der also keine starken Orientierungsmarken mehr in der Tradition zu finden und sich folglich auch nicht leicht gegen den Tod zu wehren vermag.11

Kleist wird für Stefan Chwin zur Inkarnation geistiger Unbehaustheit, zum Exempel des existenziellen Freitods, des bewussten Ausschlagens des Geschenks des Lebens in größter Heiterkeit und Seelenruhe. Der existenzielle Freitod ist nach Chwin ein Selbstmord, »zu dem es ›eigentlich grundlos‹ kommt«, »dessen Hauptursache eine besondere Form der Einweihung in die conditio humana ist, die eine radikale Ablehnung des Daseins bewirkt«.12 Zu den Eingeweihten gehörten nach Chwins Lesart auch Heinrich von Kleist und Henriette Vogel. Dass Kleist ein deutscher Schriftsteller war, tritt dabei in den Hintergrund. Chwin selbst kommentiert die Frage nach der Relevanz des ›Deutschtums‹ im Roman in seiner 1999 gehaltenen, aber erst 2005 publizierten Dresdner Poetikvorlesung Literatur und Selbstmord: Man hat mich einmal gefragt, warum ich als polnischer Schriftsteller einen Roman über einen Deutschen geschrieben habe. Die Frage ist falsch gestellt. Denn viel 9

Andrea Meyer-Fraatz: Die slavische Moderne und Heinrich von Kleist. Zur zeitbedingten Rezeption eines Unzeitgemäßen in Rußland, Polen und Kroatien. Wiesbaden 2002, S. 163. 10 Stefan Chwin: Selbstmord und Literatur. In: Ders.: Stätten des Erinnerns. Gedächtnisbilder aus Mitteleuropa. Dresdner Poetikvorlesung. Aus dem Polnischen übersetzt von Sylvia Miodona, Alfred Sproede und Bogumila Partyk-Hirschberger. Mit einer Einleitung von Roland Erb sowie einem Nachwort und einer Bibliographie von Alfred Sproede. Dresden 2005, S. 105–151, hier S. 145. 11 Ebd., S. 146. 12 Chwin, Samobójstwo jako doświadczenie wyobraźni (wie Anm. 3), S. 5.

266

Ursula Kiermeier

wichtiger als das Deutschtum von Hanemann ist seine Situation als Fremder. Ich wollte eine Figur darstellen, die in einer besonders schwierigen, existentiellen Situation lebt – an einer Schnittstelle zwischen verschiedenen Nationen, Kulturen und Religionen, sowie an einer historischen Epochenschwelle.13

Heinrich von Kleist und Henriette Vogel sind im Roman Tod in Danzig in allererster Linie die positiven Projektionsflächen des Professors für Gerichtsmedizin Hanemann, die romantische Verkörperung des erfüllten Versprechens des gemeinsamen Todes Liebender: Der Freitod von Kleist und Witkiewicz, so wie ich ihn in Tod in Danzig beschreibe, ist durch das Prisma von Philemon und Baucis gesehen […]. Die Geschichte von Philemon und Baucis symbolisiert in der griechischen Kultur das Wunschbild vom gleichzeitigen Tode der Liebenden[…] Im griechischen Mythos leuchtet über den Geschicken von Philemon und Baucis die Poesie eines glücklichen gemeinsamen Abschieds der Liebenden von der Welt. […] Bei den Griechen war der gemeinsame Tod der Liebhaber ein Geschenk der Götter; die Romantiker wußten dagegen bereits, daß man den Göttern nachhelfen muß, damit sie die Liebenden gleichzeitig in ihr Reich aufnehmen. Und genau auf diesem Weg transformierte sich der antike Mythos zum romantischen Mythos des Doppel-Selbstmordes. In der romantischen Version der Erzählung nimmt das Liebespaar Gott die Gabe gemeinsamen Sterbens selbstherrlich aus der Hand […]. Keiner will den anderen überleben, denn – wie es der Mythos definiert – wer nach dem Tod einer geliebten Person weiterlebt, begeht Verrat an ihr.14

Durch die Lektüre der Todesbriefe Heinrich von Kleists und Henriette Vogels durchlebt Hanemann die Glückseligkeit eines gemeinsamen Sterbens so intensiv, dass auch der ihm lauschende junge Pole, Chwins literarisches Alter Ego, wünscht, einer der beiden Selbstmörder gewesen zu sein: […] oh wie sehr wünschte ich mir, einer von ihnen zu sein, diese luftige Freude in mir zu spüren, das Entzücken, das in Henriettes Worten mitschwang, die unglaubliche, ruhige Gewißheit, daß der Weg, der sich durch die Wolken schlängelte, wie durch die leichten, hellblauen Felsen auf den Bildern von Caspar David Friedrich, daß dieser Weg nirgendwohin führte, daß er geradewegs in den Brennpunkt des Glanzes lief, der nicht die Sonne war, sondern ein flüchtiger Schleier, ähnlich dem Blütenstaub im April, voller beflügelter Seelen, die sich an den Händen hielten. Und unten lief Henriette auf den See zu, durch Tulpen und Glockenblumen, die so deutlich, so greifbar waren, als hätte Philipp Otto Runge sie mit dünnem Pinsel gemalt.15

13 Ders., Literatur und Selbstmord (wie Anm. 10), S. 150f. 14 Ebd., S. 148f. 15 Chwin, Tod in Danzig (wie Anm. 7), S. 143f.

Die dunkle Süße des Todes

267

Doch neben die Erfüllung des Versprechens des gemeinsamen Todes der Liebenden tritt auch ein Exempel für den Treuebruch, den Verrat an der Geliebten. Mit dem Thema von Literatur und Verrat in der polnischen Literatur beschäftigte sich Stefan Chwin bereits in seiner Habilitationsschrift Literatura a zdrada – od Konrada Wallenroda do Małej Apokalipsy [Literatur und Verrat – von Konrad Wallenrod bis zur Kleinen Apokalypse]16. Scham und Trauma des Überlebenden, der sich durch sein Weiterleben als Verräter an der Liebe seines Lebens fühlt, durchziehen auch den gesamten Roman Tod in Danzig, denn der Protagonist will sich als Verräter empfinden. Für seine Schuldgefühle sucht sich Hanemann neben den beiden positiven Freitodikonen Kleist und Vogel auch zwei Projektionsflächen des gebrochenen Versprechens: einen der berühmtesten polnischen Künstler der Zwischenkriegszeit, Stanisław Ignacy Witkiewicz (bekannter unter der Kurzform seines Namens Witkacy) und dessen Geliebte Czesława Oknińska. Die klassische Deutung von Witkacys Freitod ist die eines Bilanzselbstmordes: Aus Angst davor, kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs deutschen oder sowjetischen Truppen in die Hände zu fallen und gefoltert oder misshandelt zu werden, entschied sich der Dramatiker für das kleinere Übel, einen selbstbestimmten Tod ohne vorherige Qualen und Demütigungen. Doch Chwin versteht Witkacy und seine Geliebte nicht nur als eingekesselte Kriegsflüchtlinge, sondern wie Kleist und Vogel zudem als Repräsentanten des ›existenziellen Freitods‹. Stefan Chwin erhebt Witkacy zum literarischen Propheten des dreuenden Untergangs und stellt dessen literarische Apokalypse Abschied vom Herbst neben Aldous Huxleys und Oswald Spenglers Werke. Das Wissen um das kommende Unheil machte Witkacy nach Stefan Chwin schon zu Lebzeiten zum Toten: In diesem Sinne lebte Witkacy in den zwanziger und dreißiger Jahren in einem eigentümlichen Geisteszustand: Er fühlte sich, als ob er schon zu den Verstorbenen gehörte. […] Die Geschichte wird also eine Kreisbewegung vollziehen und wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren. Von dem Vieh sind wir gekommen, und zum Vieh kehren wir zurück, pflegte Witkacy zu sagen.

Stefan Chwin schreibt Witkacys Gefühl, bei lebendigem Leibe tot zu sein, jedoch nicht nur dessen Visionen der kommenden technisierten Massenkultur zu, sondern primär seinem persönlichen Überlebenstrauma: Die stärkste Erschütterung aber erlebte seine ohnehin emotional instabile Persönlichkeit nach dem Selbstmord seiner Verlobten Jadwiga Janczewska. […] Später 16 Stefan Chwin: Literatura a zdrada – od Konrada Wallenroda do Małej Apokalipsy. Kraków 1993.

268

Ursula Kiermeier

machte sich der junge Witkacy Vorwürfe, er habe den Selbstmord nicht verhindert oder das Mädchen gar unbewußt dazu getrieben, weil er wieder einmal seiner Neigung zu zynischen Experimenten mit der Seele anderer Menschen nachging. Der Tod seiner Verlobten stürzte ihn in tiefe Verzweiflung«.17

Witkacy habe seit dem Selbstmord Janczewskas 1914 immer wieder vergeblich versucht, ihr in den Tod zu folgen und dort mit ihr vereint zu werden, sei jedoch an seinem Vorhaben gescheitert. Doch nicht nur er ist gezeichnet vom Überlebenstrauma des Hinterbliebenen, er selbst verweigert seiner Geliebten Czesława Oknińska den gemeinsamen Gang in den Tod. Hanemann interessiert sich daher stärker für die Geliebte als den Jahrhundertkünstler Witkacy, denn »der Augenblick des Aufwachens neben ihrem toten Liebhaber lastete auf ihrem gesamten späteren Leben. Über viele Jahre hin bemühte sie sich, die ›Schicksale auszugleichen‹, ähnlich wie es Witkacy zuvor versucht hatte. Beide erlebten die ›Scham des Überlebenden‹ nach dem Tod eines geliebten Menschen«.18 Diese Empfindungen teilt auch die Romanfigur Hanemann. Er versinkt nach dem rätselhaften Tod seiner Geliebten in eine Lethargie, eine tiefe depressive Starre, aus der er sich nicht zu lösen versteht. Er ist lebendig tot. Stefan Chwin präsentiert in Tod in Danzig zwei nationale Varianten des Doppelselbstmordes von Liebenden. Dass es sich bei Heinrich von Kleist und Henriette Vogel nicht um ein klassisches Liebespaar handelt, das sein Glück im Diesseits gesucht und gefunden hat, aber am Leben scheitert oder es als Seinsform negiert, blendet Chwin wie viele andere polnische Kleist-Interpreten aus; er nimmt nicht zur Kenntnis, dass Kleist Henriette Vogel »ausdrücklich als Todesund nicht als Lebensgefährtin gewählt« hat, wie es Klaus Müller-Salget formuliert.19 Kleists Spielart des dunklen Deutschlands im Rahmen des romantischen Liebes- und Todesdiskurses büßt für Chwin jedoch mit dem Erscheinen von Maria Janions Nachwort zu einer Auswahl von Kleist-Dramen ihre Strahlkraft, ihre Inbrunst, ihre Süße weitgehend ein und reduziert sich auf den ästhetisch-esoterischen Romantikdiskurs. Karol Sauerland sieht Stefan Chwins Werk zwar von Anfang an vom Einfluss der Kleistdeutung Maria Janions, der großen polnischen Romantikforscherin, dominiert,20 doch irrt er hierin meines Erachtens: Es mag sein, dass Maria Janion Stefan Chwin 17 Chwin, Literatur und Selbstmord (wie Anm. 10), S. 115. 18 Ebd., S. 117. 19 Klaus Müller-Salget: Heinrich von Kleist. Stuttgart 2., durchgesehene und überarbeitete Auflage 2011, S. 37. 20 Karol Sauerland: Zur Kleistrezeption in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Marie Haller-Nevermann, Dieter Rehwinkel (Hg.): Kleist – ein moderner Aufklärer? Göttingen 2005, S. 147–159, hier S. 158f.

Die dunkle Süße des Todes

269

auf Heinrich von Kleist als Autor hingewiesen hatte, aber die Kleist-Lesarten und Diskurszuschreibungen Maria Janions und Stefan Chwins unterschieden sich zur Entstehungszeit des Romans Hanemann diametral. Erst mit der Jahrtausendwende übernimmt Stefan Chwin Janions Lesart und gab seine eigene, ursprüngliche Lesart zumindest nach außen hin auf. Auch Alfred Sproede sieht Stefan Chwin durch seine Doktorandenzeit im Danziger Romantik-Forschungskreis Maria Janions beeinflusst, die Sproede als »Passionaria des literaturwissenschaftlichen Marxismus« bezeichnet, deren Forschungsschwerpunkt sich nach dem gesellschaftlichen Scheitern des Marxismus in den frühen 1990er Jahren »auf das Faszinosum der ›existentiellen‹ Grenzsituation (ostateczność), auf das Geworfensein und auf Kierkegaardsches Entweder-Oder aller Art«21 verlagert habe. Das erklärt, warum Maria Janion auch Kleists Leben und Werk primär durch das Prisma seines Freitods rezipiert. Sie schreibt: »aus dem Doppelselbstmord entstand ein Mythos, der Kleist letztendlich berühmter machte als sein Werk. Tatsächlich wurde der Selbstmörder Kleist zum Emblem, aber einem anderen als Werther, denn der Hauptfigur von Goethes Roman war die immanente Todesekstase fremd«.22 In ihrem 2001, also erst sechs Jahre nach Chwins Roman Hanemann erschienenen Nachwort »Absolut, namiętność, tragedia« [Das Absolute, die Leidenschaft, die Tragödie] referiert Janion unter anderem auf die Kleist-Deutung Friedrich Nietzsches: »Kleist starb, weil er nicht geliebt wurde, er wurde so tief in sein Inneres getrieben, dass der Schritt hinaus in die Welt einer Explosion gleichkam.«23 Sie sieht Kleist wie auch seine Protagonisten als geistesverwirrt und dadurch romantisch: Im übrigen rechnet man ihn selbst wie auch seine literarischen Figuren zu den pathologischen Typen – eben wegen eines ihnen innewohnenden Dämonismus. Es hat den Anschein, als könnte man sie als echte romantische Figuren betrachten. Das sind Menschen, die von einer irrwitzigen Leidenschaft beherrscht werden, fast schon Wahnsinnige und zugleich Träumer, die in Schlafwandlerei verfallen, Somnabulismus, übernatürliche Bewusstseinszustände […]. In jeder dieser Figuren findet ein Prozess des Reifens zum Tode statt, der Vollzug findet oder nicht.24

21 Alfred Sproede: Stefan Chwin – Philologe und Erzähler. In: Chwin: Stätten des Erinnerns (wie Anm. 10), S. 155–179, hier S. 155f. 22 Maria Janion: Absolut, namiętność, tragedia. In: Heinrich von Kleist: Dramaty wybrane. Przełożył Jacek St. Buras. Kraków 2000 (Pisarze Języka Niemieckiego. Seria pod patronatem Karla Dedeciusa Deutsches Polen-Institut Darmstadt), S. 349. 23 Ebd., S. 350. 24 Ebd., S. 354f.

270

Ursula Kiermeier

Mit Karl-Heinz Bohrer geht Maria Janion davon aus, dass es sich um einen neuen, romantischen, ästhetisch-esoterischen Todesdiskurs handelt, »der völlig andersartig ist als der christlich-theologische Diskurs, aber auch als die Ordnung von Liebe und Tod«.25 Janion zieht Parallelen zwischen Kleist und Rejtan, beide seien dem romantischen Wahnwitz Verfallene, ekstatisch Getriebene der Todeslust. Doch Stefan Chwin deutet Kleist in Hanemann nicht primär als Getriebenen, sondern als treibende Kraft, er sieht ihn als romantisch selbstbewussten, selbstbestimmten, freien Geist, der die innere Freiheit zum ›existenziellen Selbstmord‹ besitzt und in einem prometheischen Akt den Göttern, hier bereits dem christlichen Gott, ein weiteres Attribut aus den Händen reißt: die hora incerta, die Ungewissheit der Todesstunde des Menschen. Nach christlicher Lehre ist dem Menschen die Kenntnis seiner Todesstunde versagt, um ihn in ständiger Demut und Frömmigkeit zu halten. Wüsste der Mensch, wann er sterben wird, könnte er fröhlich vor sich hin sündigen und sich gerade noch rechtzeitig vor seinem Tode bekehren, so der mittelalterliche Gedanke, der bis in die Frühe Neuzeit fortlebte. Maria Janion erhebt Heinrich von Kleist zur romantischen Freitodikone und schreibt über den Doppelselbstmord: »Der Doppelselbstmord war ein exquisiter philosophisch-literarischer Akt.« Sie liest Heinrich von Kleist durch das Prisma Friedrich Nietzsches und Karl-Heinz Bohrers, die den Freitod Kleists als Triumphzug aus dem Leben feiern, und zitiert hierfür Kleists Abschiedsbrief an Marie von Kleist: Er hatte in Henriette Vogel einen ebenso todesreifen Menschen gefunden, wie er selbst es war. Alles war längst erreicht: [ich sterbe, weil mir auf Erden nichts mehr zu lernen und zu erwerben übrig bleibt]. Der Tod ist also die Fülle, das Absolute, das glückseligste Ziel.26

Sie führt den Gedanken des Triumphzugs aus dem Leben fort: »Das ist kein Tod von Liebenden, denen eine feindselige Welt Unrecht tat.«27 So erklärt Janion die heitere Stimmung Heinrich von Kleists und Henriette Vogels vor ihrem Freitod. Sie fasst ihre Überlegungen in folgendem Gedanken zusammen: »Die im Tod erlangte Identität ermöglicht die Unsterblichkeit durch den Tod als Absolutum, ein Transzendieren in die übersinnliche, übernatürliche, jedoch nicht religiös oder theologisch verstandene Welt. Sie ist eine Art ästhetischer Spiritualität.«28 Janion sieht in Kleists Haltung zum 25 26 27 28

Ebd., S. 357. Ebd., S. 352. Ebd. Ebd., S. 353.

Die dunkle Süße des Todes

271

Tod ein kulturelles Novum, sie spricht sogar von einer »Todeslust« Kleists. Janions Lesart ist die Lesart des ausgehenden 20. Jahrhunderts in Polen. Kleist wird in der polnischen Poesie vor allem in dieser ikonischen Rolle des ästhetischen Bruchs mit der katholischen Tradition, als Ikone des Tabubruchs gegen die Lebenspflicht, wahrgenommen, so bei den Dichtern der bruLion-Generation Marcin Świetlicki und Jacek Podsiadło. Heinrich von Kleist wird zur Ikone polnischen Freidenkertums stilisiert und eines Todes, der nicht die Pforte ins christliche Jenseits öffnet. Doch wie in diesem Beitrag gezeigt, verortete Stefan Chwin den Doppelselbstmord am Wannsee in Tod in Danzig weder primär als politisches Fanal noch als ästhetisch-esoterischen Triumphzug aus dem Leben, sondern als Akt der Freiheit im romantischen Liebes- und Todesdiskurs, als eingelöste Verheißung der Liebe eines Lebens. Erst fünfzehn Jahre später schwenkt Stefan Chwin auf Maria Janions interpretatorische Leitlinie ein.

272

Ursula Kiermeier

Schreiben des Berliner Polizeipräsidenten Schlechtendahl an Peguilhen vom 6.12.1811: Ihm wird untersagt, seinen Bericht über den Tod Heinrich von Kleists und Henriette Vogels zu publizieren, Abschrift von Karl August Varnhagen

Jadwiga Kita-Huber

»Im ewigen Dakapo der Zeit« Jean Pauls Briefwechsel mit Emilie von Berlepsch als Beitrag zur Liebesbriefkultur um 1800

1. Einführung In einem der ersten Briefe an die Schriftstellerin Emilie von Berlepsch schreibt Jean Paul: Ich habe nie eine Seele der andern geopfert. Die Liebe hat so viele Stufen als es menschliche Liebenswürdigkeiten giebt, und die Liebe für die höchste darf die für die untergeordneten nicht vernichten. Sonst war ich, wie Sie mich jezt verlangen; aber sol ich jene Fülle des Herzens, die die ganze Erde und alle Wesen und Planeten aus ihm heraus sperret, um den weiten Plaz alles Liebenswürdigen mit Einem Wesen auszufüllen, wiederbegehren? – Ihre Foderung (oder Ihre Unähnlichkeit mit mir in diesem Punkte) ist keine Eigenheit Ihres Wesens, sondern eine Aehnlichkeit mit Ihrem Geschlechte. Das Gegenteil wäre eine Eigenheit; und eine Aehnlichkeit mehr, die Sie mit unserm hätten.1

Im angeführten Zitat finden sich die wichtigsten Aspekte des spannungsgeladenen Briefwechsels zwischen Jean Paul und Berlepsch: Erstens greift der Dichter auf sein als kontrovers empfundenes Liebeskonzept zurück, das in einer bestimmten sozialen Praxis verankert war und – wie sich anhand der Briefe rekonstruieren lässt – in einen Metadiskurs über die Liebe mündet. Zweitens lässt das Zitat Spuren der Geschlechterdebatte der Zeit erkennen, die von Fragen nach der Dynamik der Geschlechterbeziehungen und nach dem sozialen Ort der Frau als Autorin begleitet werden.2 Auffallend sind drittens manche für Jean Paul charakteristische kommunikative

1 2

Der Brief vom 12.09.1797. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Eduard Berend, Abtl. III, Bd. II, Berlin 1958, S. 370–371. Diese Fragen werden seit den 1980er durch die Gender Studies gestellt. Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche-Werke-Wirkung. München 2000, S. 14.

274

Jadwiga Kita-Huber

Strukturen und stilistisch-ästhetische Merkmale, auf die gegen Ende der Analyse kurz eingegangen wird.

2. Jean Pauls merkwürdiger Epistel-Salon und das Konzept der Simultanliebe Ende der 80er bis Anfang der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts entwickelt Jean Paul in seinem Freundeskreis in Hof ein epistolarisches Kommunikationsmodell, das auch als System der Simultanliebe3 bekannt wird. In der jüngsten Forschungsliteratur zu dem großangelegten, mehrbändigen Editionsprojekt »Briefe an Jean Paul« wird sogar von einem »Epistel-Salon« gesprochen, der dem von Rahel Levin-Varnhagen vergleichbar sei.4 Im Zentrum dieses eigentümlichen Salons steht Jean Paul, der mit seinen Freunden und Freundinnen bzw. Geliebten nach bestimmten und von allen Beteiligten akzeptierten Regeln Briefe austauscht.5 Dabei geht es um das gemeinsame Schreiben, Lesen und Empfinden von Liebeskorrespondenz, geprägt von einem schwärmerischen Freundschafts- und Liebesideal. Als Stoff gelten reale Liebesgeschichten, die von allen an der Rundkorrespondenz Beteiligten kommentiert, reflektiert und sogar antizipiert werden, so dass man hier sogar von einer »Poetik der Vorwegnahme realer Gegenwart«6 sprechen kann. Die »Zirkularbriefe«7 werden nicht per Post geschickt, sondern von Hand zu Hand gereicht. Eine Praxis also, die den Ersatzcharakter des Briefes, der in der Brieftheorie Christian Gellerts ein locus classicus ist – der Brief »[vertritt] die Stelle eines Gesprächs«8 – umzukehren bzw. zu paro3 4 5

6 7 8

Rolf Vollmann: Das Tolle neben dem Schönen. Ein biographischer Essay. München 2000. S. 88–106. Der gesamte gesellige Kontext wird auch als die »erotische Akademie« Jean Pauls bezeichnet. Vgl. Uwe Schweikert: Jean Paul. Stuttgart 1970, S. 30. Vgl. Dorothea Böck: »Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch« (Novalis). Zwischen realer und imaginärer Geselligkeit. Jean Pauls Epistel-Salon. In: Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 37 (2002), S. 146–175, hier S. 155. Den Kern des Kreises bildeten vier junge Frauen aus Hof: Helene Köhler, Renate Wirth, Amöne Herold und ihre jüngere Schwester Caroline. Vgl. Jörg Paulus: »Simultanliebe« und »Schäfersekunden«. Liebeskultur im Jean Paul-Kreis. In: Annette Simonis, Renate Stauf, Jörg Paulus (Hg.): Der Liebesbrief, Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin 2008, S. 35–60, S. 46. Seitens der Männer gehörten dem Kreis Christian Otto, Emanuel Osmund und Paul Emil Thieriot an. Vgl. Dorothea Böck: Phantastische Epistel-Experimente. Poetische Biographik im Umfeld Jean Pauls. In: Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 41 (2006), S. 131–151, hier S. 134. Paulus: »Simultanliebe« und »Schäfersekunden« (wie Anm. 5), S. 52. Böck: »Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch« (wie Anm. 4), S. 155. Christian Fürchtegott Gellert: Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen [Leipzig 1751]. In: Die espistolographischen Schriften. Faksimiledruck nach den Ausgaben von 1742 und 1751. Mit einem Nachwort von Reinhard M.G. Nickisch. Stuttgart 1971, S. 3.

»Im ewigen Dakapo der Zeit«

275

dieren scheint. Da, wo Gespräche durchaus möglich sind, wird das Medium ›Brief‹ bevorzugt.9 Das Ziel des epistolaren Experiments ist also nicht die »Kommunikation zwischen räumlich getrennten Partnern«, die ihre Entfernung »durch Briefe einander süs […] machen«,10 sondern (wie jüngst erarbeitet wurde) eine »imaginierte Geselligkeit«.11 Es geht um die Produktion und Potenzierung von empfindsamen Gefühlen und die »Stimulation von Einbildungskraft bzw. Imagination an sich«.12 Die empfindsamen Rundbriefe werden damit eine einzigartige Quelle des Wissens über das innere und äußere Leben der Frau um 1800, das Jean Paul in seinem Werk mit großem Publikumserfolg – besonders bei Frauen – umsetzt.13 Nach dem Erfolg des Romans Hesperus oder 45 Hundposttage (1795) wird Jean Pauls Postutopie in ganz Deutschland bekannt; der Adressatenkreis erweitert sich. In das kontroverse System der nicht-egoistischen Simultanliebe14 werden jetzt adlige emanzipierte Briefschreiberinnen, die sogenannten genialischen Weiber, einbezogen: Charlotte von Kalb, Emilie von Berlepsch, Caroline von Feuchtersleben, Juliane von Krüdener, Josephine von Sydow u.a. Gleichzeitig kommt es zu Spannungen im System der Simultan9

10 11 12

13 14

In einem Brief an seinen Freund Friedrich Oerthel vom Januar 1796 veranschaulicht Jean Paul diese Idee folgendermaßen: »Wir sind alle in so alternierenden Stimmungen beisammen – der eine ist heute warm, der andere morgen und der dritte übermorgen gegen Abend und selten begegnen sich die besten Menschen gerade in gleicher Wärme und in gleicher Kälte – und das Uebel ist so gros, daß ich oft das als ein gutes Mittel dagegen gehalten habe, wenn die Leute kaum zu einander sprächen sondern nur schrieben und wenn sich eine Geselschaft guter Freunde an einem Tisch zusammensezte und so mit einander bei so schneller Post Briefe wechselte von den äussersten Enden des Tisches.« Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. II (wie Anm.1), S. 142. Jean Paul, zitiert nach Böck: »Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch« (wie Anm. 4), S. 157. Böck: »Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch« (wie Anm. 4), S. 157. Böck: Phantastische Epistel-Experimente (wie Anm. 5), S. 134–135. Das in der frühen Korrespondenz entwickelte Konzept der Simultanliebe überträgt Jean Paul später aus der Lebenswelt in die fiktionalen Werke, wo es nicht nur inszeniert sondern auch theoretisch verhandelt wird. Vgl. Jean Paul: Hesperus oder 45 Hundposttage: In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Norbert Miller, Abtl. I, Bd. I, Darmstadt 2000, S. 813 und S. 843. Trotz der Probleme, die das Konzept der Simultanliebe in der Realität bereitet, wird es noch bis etwa 1801 vorausgesetzt, also bis Jean Pauls Hochzeit mit Karoline Mayer. Nach dieser Zäsur wird es sowohl im fiktionalen Werk als auch in den Briefen revidiert. Vgl. z.B. Des Luftschiffers Gianozzo Seebuch. In: Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. I, Bd. III, S. 945. Vgl. Günter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie. Frankfurt a.M. 2004, S. 87. Über die nicht-egoistische Simultanliebe spricht Jean Paul im Aufsatz »Es gibt weder eine eigennützige Liebe noch eine Selbstliebe, sondern nur eigennützige Handlungen«, der im Anhang zum Quintus Fixlein enthalten ist. Vgl. Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. I, Bd. IV (wie Anm. 12), S. 219–225.

276

Jadwiga Kita-Huber

liebe, da nicht alle Korrespondentinnen das epistolare System Jean Pauls, etwa den Ausfall an Privatheit, gleichermaßen akzeptieren. Überdies spitzt sich jetzt der Konflikt von Leben und Werk besonders zu, denn die Briefschreiberinnen wollen über die empfindsame Liebeskorrespondenz hinaus auch am Leben Jean Pauls teilnehmen. Sie verehren den Autor des Hesperus und wollen endlich dem Menschen Jean Paul begegnen. Der Dichter wehrt sich in seinen Briefen immens gegen die Vereinnahmung und besteht darauf, nicht in der Realität, sondern in seinen Werken gänzlich enthalten zu sein.15 Er versucht, die Beziehungen ganz in das Medium Schrift bzw. Brief zu verlagern, was ihm grundsätzlich auch gelingt. Der Briefwechsel mit adligen Frauen zirkuliert nicht nur in Jean Pauls Freundeskreis, sondern auch in den Romanen, wo die Briefschreiberinnen später ihre vermeintlich intimen Zeilen wiederlesen können.16

3. Emilie von Berlepsch (1757–1830) Die erste Begegnung mit Emilie von Berlepsch fällt auf die bewegten Jahre zwischen Hesperus und Titan (1795–1803), die Zeit der Unstetigkeit in der Liebe und der Wanderjahre mit Stationen in Leipzig, Weimar und in Berlin, wo der Dichter endlich in den Hafen der Ehe einfährt. Die Korrespondenz mit Berlepsch, die sich mit dem Briefwechsel mit anderen »weiblichen Kraftgenies«17 wie z.B. Esther Gad zeitlich deckt, ist wegen ihrer inhärenten Dramatik im Kontext des Simultanliebekonzepts besonders aussagekräftig. Bereits am Anfang der Beziehung schreibt Jean Paul an seinen Freund Oerthel, als würde er die künftigen Spannungen ahnen: »Ich weis voraus, sie wird mich zu sehr einnehmen. Das doppelte Lesegeld gäb’ ich darum, hätt’ ich nur eines ihrer Werke gelesen oder wüste die Titelblätter auswendig.«18 Zum Zeitpunkt ihrer Begegnung mit Jean Paul ist Emilie von Berlepsch nicht nur als Schriftstellerin, sondern auch als Verteidigerin der Frauen15 Vgl. Thomas Wirtz: Schreibversuche. Jean Pauls Briefe bis 1805. In: Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 31 (1996), S. 23–37, S. 33. Wie Thomas Wirtz schreibt, sind für Jean Paul nicht die Briefe, sondern »das veröffentlichte und textidentische Buch […] das schlechthin Intime«. Ebd., S. 32. 16 Sogar ganze Briefe wurden in die fiktionalen Werke übernommen. Vgl. z.B. den Abschiedsbrief von Karoline von Feuchtersleben, der im Titan zitiert wird. Vgl. Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. I, Bd. III (wie Anm. 12), S. 376. 17 Diese Bezeichnung verwendet Jean Paul in bezug auf Frauen, die innerlich eher männlich sind. Er setzt sie den idealen Hausfrauen entgegen: »[…] so sind die guten Weiber; die weiblichen Kraftgenies hingegen sind wie wir.« Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf. In: Ders.: Sämtliche Werke, Abtl. I, Bd. IV, (wie Anm. 12), S. 925– 1080, S. 1060. 18 Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. II, (wie Anm. 1), S. 344.

»Im ewigen Dakapo der Zeit«

277

rechte und Autorin von Veröffentlichungen über Liebe und Ehe bekannt. Ähnlich wie andere um diese Zeit schreibende Frauen veröffentlicht sie anonym: zuerst Reiseberichte in Zeitschriften und Gedichte im Göttinger Musenalmanach. Ihr erstes größeres Werk ist die Sammlung kleiner Schriften und Poesien (1787). Im Jahr 1791 erscheint im Neuen Teutschen Merkur ihre Abhandlung »Über einige zum Glück der Ehe nothwendige Eigenschaften und Grundsätze«, in der sie über Liebe, Ehe und das Selbstverständnis der Frau reflektiert.19 Mit diesem Text bezieht sie idealtypisch Position in der am Ausgang des 18. Jahrhunderts stattfindenden Debatte um das Verhältnis von weiblicher Gelehrsamkeit und Ehe.20 Berlepsch spricht sich gegen die geschlechtertypische Ausrichtung des spätaufklärerischen Bildungsprojekts aus und fordert die Vereinbarkeit von Ehe und Bildung. Dabei setzt sie sich für die weibliche Unabhängigkeit in der Ehe und die Errichtung einer autonomen weiblichen Kultur ein.21 Überdies verfasst sie Schriften über zeitgenössische Politik, z.B. über die Besetzung der Schweiz durch Frankreich im Jahr 1799. Als ihr wichtigstes Werk gilt das 1802–04 in Hamburg erschienene vierbändige Caledonia, das auf ihre längere Reise nach Schottland zurückgeht. Das dem Freund Johann Gottfried Herder gewidmete und auch ohne Autorennennung erschienene Werk ist die erste Beschreibung Schottlands durch eine deutsche Schriftstellerin überhaupt.22

19 Emilie von Berlepsch: Über einige zum Glück der Ehe nothwendige Eigenschaften und Grundsätze. In: Neuer Teutscher Merkur, 5. Stück (1791), S. 63–102. 20 Vgl. Andrea Albrecht: Bildung und Ehe genialer Weiber. Jean Pauls Diesjährige Nachlesung an die Dichtinnen als Erwiderung auf Esther Gad und Rahel Levin Varnhagen. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 80 (2006), H. 1, S. 378–407. 21 Nach Berlepsch sollten die Frauen nach der Zeit der Aufklärung selbständiger und selbstbewusster werden: »Wir müssen alleine stehen lernen! Wir müssen unsere Denkart, unsern Character in unsern eignen Augen so ehrwürdig machen, daß uns das Urtheil andrer in unserem geprüften und gerechten Urtheil über uns selbst nicht irre machen kann.« Berlepsch: Über einige zum Glück der Ehe nothwendige Eigenschaften und Grundsätze (wie Anm. 19), S. 89. 22 Vgl. Susanne Kord: Ein Blick hinter die Kulissen. Deutschsprachige Dramatikerinnen im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1992, S. 247–248.Die Reisebeschreibungen sind subjektiv und durchsetzt mit persönlichen Empfindungen der Autorin. Sie wurden stark von den Schriften des schottischen Poeten Robert Burns und den Gesängen Ossians beeinflusst, deren Übersetzung Emilie von Berlepsch vorhatte, jedoch nicht realisieren konnte. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Emilie_von_Berlepsch (13.07.2011).

278

Jadwiga Kita-Huber

4. Der Liebesdiskurs in der Korrespondenz von Jean Paul und Emilie von Berlepsch Der Briefwechsel zwischen Jean Paul und Emilie von Berlepsch erstreckt sich – mit unterschiedlicher Intensität – zwischen 1797 und 1814. Im Folgenden wird nur die intensive Liebeskorrespondenz der ersten Monate besprochen, also von der ersten Begegnung in Hof und Franzensbad im Sommer 1797 bis zur Verlobung im Januar 1798 in Leipzig. Dabei ist anzumerken, dass der Briefwechsel dieser Zeit nicht vollständig dokumentiert ist, denn nach der Lösung der Verlobung, zu der es bereits im Februar 1798 kam, wurden von Berlepsch zahlreiche Briefe von und an Jean Paul vernichtet. So fehlen zum Beispiel zwei Briefe, die Berlepsch am Tag des Jean Paulschen Heiratsversprechens schrieb, und mehrere, die unmittelbar danach entstanden. Dass sie existierten, erfahren wir aus Jean Pauls Brief an Christian Otto, der sie – da sie auch als Rundbriefe fungierten – noch vor der Vernichtung zur Lektüre bekam.23 Die sich schnell abspielende Korrespondenz der ersten Phase kann die sich überstürzenden Ereignisse kaum einholen. Es scheint, so Jörg Paulus, »als werde [sie] nun tatsächlich nach dem Schema eines empfindsamen Briefromans inszeniert«.24 Schon der erste Brief Berlepschs an den großen »Kenner wahrer und starker Gefühle«25 thematisiert das für Jean Pauls Liebeskonzept wichtige Problem des Egoismus bzw. Eigennutzes in der Liebe und sorgt für erste Mißverständnisse. Während Jean Paul den Egoismus im Sinne der Simultanliebe versteht, liest ihn Berlepsch herkömmlich als den Anspruch, die geliebte Person ganz für sich gewinnen zu wollen: »Weis ichs denn nicht daß keine Liebe ganz rein von Egoismus ist, und ists nicht Härte gegen mich selbst daß ich mir vorwerfe ich liebte Sie nicht uneigenüzig genug, da ich den Gedanken fast nicht zu ertragen vermag, daß Sie nicht wieder herkommen mögten«26. Dies korrespondiert mit ihren Ansichten aus dem Aufsatz Ueber Liebe als Leidenschaft, und den Grundsatz zur Beurtheilung ihrer Dignität (1790), in dem sie Liebe als Leidenschaft versteht und der Sinnlichkeit den Primat gibt: »Ich habe hier von der Liebe, in sofern sie Leidenschaft bedeutet, zu reden, und da sie nothwendig auf einen äussern Gegenstand unmittelbar sich beziehet, so wird unstreitig auf Sinn23 Vgl. Jean Pauls Brief an Christian Otto vom 21.-27.02. 1798. In: Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. III (wie Anm. 1), S. 47f. 24 Paulus: »Simultanliebe« und »Schäfersekunden« (wie Anm. 5), S. 54. 25 Emilie von Berlepsch an Jean Paul am 28. Juli 1797. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, Abtl. IV, Bd. II: Briefe an Jean Paul 1794–1797. Hg. von Dorothea Böck und Jörg Paulus. Berlin 2004, S. 354. 26 Ebd., S. 353.

»Im ewigen Dakapo der Zeit«

279

lichkeit sich gründen.«27 Dass dieses Verständnis mit Jean Pauls Ansichten unvereinbar war, zeigt auch sein späterer Brief an sie, in dem es im Klartext heißt: »was ich suche […] ist eine sanftere Weiblichkeit […] eine Liebe, die nicht Leidenschaft gegen einen sondern Wohlwollen gegen alle ist«.28 Diese gegensätzlichen Ausgangspositionen prägen den gesamten Briefwechsel und antizipieren den Abbruch der erst begonnenen Beziehung. Neben dem Liebesdiskurs führt Jean Paul in seinem ersten Brief an Berlepsch den Paralleldiskurs über Literatur ein, der immer mehr an Bedeutung gewinnt. Das heißt zunächst, dass der Dichter seine literarischen Absichten bezüglich der Adressatin unverblümt preisgibt: er möchte die von ihr vertretene »idealische«, innere Welt in seinem Kardinalroman Titan möglichst genau wiedergeben.29 Berlepsch scheint diesen Wunsch zu überhören und konzentriert sich in ihren empfindsamen Briefen auf die Kontroverse über die Liebe. Im Brief vom 3. September 1797, in dem sie Jean Paul ihre Liebe bekennt, kommt sie explizit auf das Konzept der Simultanliebe zu sprechen. Sie fokussiert zuerst das Problem von Kunst und Leben, von Genius und Mensch, wobei sie sich nicht für den Genius, sondern für den Menschen Jean Paul entscheidet, denn nur als Menschen seien sie sich in der Liebe gleichwertig: »Sie scheinen mir in der Entfernung mehr ein Genius als ein Mensch […] Aber in der Gegenwart erscheint mir mehr der Mensch und wir rücken uns näher; meine innige Zärtlichkeit für Sie gibt mir den Wahn einer völligen Gleichheit zwischen uns, also auch gleicher Ansprüche und Foderungen.«30 Die Simultanliebe bzw. die ungebundene Freiheit in der Liebe, die Jean Paul nur als Genius zukommt, bezeichnet sie hingegen als »das elastische leichte Schweben«,31 das dem Dichter »die ausdauernde unverrückte Stellung an einem anderen Herzen unmöglich [macht]«.32 Da dieses »Schweben« jedoch bei den Beteiligten Schmerzen verursacht, müsse es in Frage gestellt werden. Berlepsch weigert sich also, die Regeln der Simultanliebe des Jean-Paul-Kreises zu akzeptieren. Sie will Individualität und Harmonie mit sich selbst und riskiert damit eine offene 27 Berlepsch: Ueber Liebe als Leidenschaft. In: Der Teutsche Merkur, Dezember 1790, S. 411–438, hier S. 413. 28 Jean Paul an Emilie von Berlepsch am 17. Oktober 1800. In: Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. IV (wie Anm. 1), S. 6. 29 Vgl. den Brief vom 23. Juli 1797. In: Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. II (wie Anm. 1), S. 352. Nach Günter de Bruyn sind alle adligen Frauen, mit denen Jean Paul brieflich verkehrte, nur Stoff für seinen Kardinalroman. Vgl. de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter (wie Anm. 13), S. 200. 30 Berlepsch an Jean Paul am 03.09.1797. In: Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. IV, Bd. II (wie Anm. 25), S. 378. 31 Ebd., S. 379. 32 Ebd.

280

Jadwiga Kita-Huber

Auseinandersetzung mit dem Geliebten: »Die Anderung die Sie an mir verlangen, würde mein Wesen verrüken, unharmonisch machen; ich fühle zu sehr daß eben diese Einheit der Wünsche, dieses ausschließende in mir mein Bestes ist«.33 Jean Paul kann dieses Ausschließende jedoch nicht akzeptieren und verficht seine Position mit erneuter Stärke in kraftvollen Metaphern. So in dem zu Eingang dieses Beitrags zitierten Brief, wo es weiter heißt: Der Mensch ist ein aus so vielen Kräften zusammen geimpftes Wesen (gleichsam mehr ein Baum-Garten als ein Baum), daß er zum Gedeihen fast Sonne und Regen und Frühling und Herbst und Licht und Schatten zugleich bedarf: er hält oft die Übermacht Einer Kraft für Harmonie aller Kräfte, und den freien Anklang aller Töne für Disharmonie. Ich sehne mich (figürlich und unfigürlich) von der Messiade zum Epigram, vom Kampaner Thal in die Holzschnitte – von der Dichtkunst ins bürgerliche Leben – vom Land in die Stadt – von Ihnen zu Andern, – aber freilich noch stärker zurück.34

Jean Paul kann und will in Berlepsch nur eine Simultankorrespondentin sehen. Da er sie jedoch nicht verlieren kann und will, vertröstet er sie – und dies ist bei ihm eher eine Ausnahme – auf eine gemeinsame Zukunft, in der die Sphäre des Epistolarischen überschritten werden soll: »Wir werden in Leipzig (wenn Sie meine Eigenheiten so tragen, wie ich Ihre achte) einen Himmel nach dem andern ersteigen und neue Stunden erleben mitten im ewigen Dakapo der Zeit«.35 In dieser musikalischen Metapher wird nach Jörg Paulus, der sich mit Jean Pauls Bildern der Zeitaufhebung befasste, das Verlangen nach Zeitraffung, Verkürzung der Zeit ausgedrückt.36 Geht man von der wörtlichen Bedeutung des »Dakapo« aus, so lassen sich vielleicht noch andere Bedeutungen fixieren. Der musikalische Begriff da capo (aus dem Italienischen) bedeutet erstens die Spielanweisung, ein Musikstück von der so bezeichneten Stelle an von vorne (d.h. da capo) zu beginnen. Zweitens verweist er auf die besonders im 17. Jahrhundert verwendete Da-capo-Arie, die aus zwei deutlich kontrastierenden Teilen besteht. Nach dem zweiten Teil wird der erste wiederholt, wobei der Solist bei diesem zweiten Durchgang Improvisationen und Verzierungen anbringt.37 Behält man diese Bedeutungen vor Augen, so ruft diese Metapher zum 33 34 35 36 37

Ebd. Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. II (wie Anm. 1), S. 371. Ebd. Vgl. Paulus, »Simultanliebe« und »Schäfersekunden« (wie Anm. 5), S. 56. Vgl. Das große Lexikon der Musik in acht Bänden. Hg. von Marc Honegger und Günther Massenkeil, Bd. II, Freiburg-Basel-Wien 1979, S. 243–244. Die Da-capo-Arie wurde v.a. von Händel, Bach und Telemann verwendet. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts herrschte sie nicht nur in Oper, Oratorium und Kantate vor, sondern fand auch Verwendung in der Kirchenmusik im katholischen und protestantischen Bereich. Vgl. ebd.

»Im ewigen Dakapo der Zeit«

281

einen einen bekannten Liebestopos auf: das Bestreben der Liebenden, die Zeit festzuhalten resp. zu wiederholen. Zum anderen lässt sie sich auf Jean Pauls Simultanliebeskonzept und dessen Widerspiegelung im gesamten Briefwerk übertragen: jede neue Briefschreiberin bedeutete eine improvisierte Wiederholung des im Voraus geahnten Musters, nach dem die Beziehungen mit genialischen Frauen immer gleich verlaufen. Trotz der Unterschiede in den Liebeskonzepten und Erwartungen wird der Briefwechsel nicht eingestellt. Vielmehr wird versucht, Vorwürfe und Missverständnisse zu vermeiden. So bemüht sich auch Jean Paul, seine Liebe zu Emilie möglichst individuell zu präzisieren: »ich liebe Ihre (möcht’ ich sagen) metrische Seele unbeschreiblich und ewig«.38 Als eher unglücklich erweist sich hingegen seine weitere Formulierung »Sie wissen nicht, wie ich Sie liebe«,39 die Emilie in ihrer Antwort parodistisch weiterführt: »Ihre Worte […] klingen unaufhörlich in meinem Innern, und beschäftigen mich so heilsam […] Ich denke viel nach über das wie. Das ist wieder so ein unerreichbarer Punkt eine ewig-verhüllte Gestalt die alles Sehnen der liebenden Seele nicht zu ergreifen, zu enthüllen vermag. Wissen Sie denn, wie ich Sie liebe, Sie die so viel wissen? Gewis nicht. Auch ich weis es nicht.«40 Berlepsch ist sich der Verschiedenheit dieser ›Wie’s‹ bewusst und fordert hierin keine Übereinstimmung. Sie besteht jedoch auf die Gegenseitigkeit in der Liebe, die auch abweichende Ansichten und Wünsche einzubeziehen vermag. Jean Pauls musikalische Analogien aufnehmend, greift sie erneut und unvermittelt sein Liebeskonzept an: »Liebe kann und darf innere Unähnlichkeiten haben, consonn mehr als unisonn tönen – ob ich doch gleich sehr viel auf leztre halte – aber sie muß sich deßen recht klar bewußt seyn muß immer nach Verähnlichung streben, und den sanften Dämpfer der Simpathie, der Schonung, der freundlichen Täuschung auf das Instrument sezen wenn es disharmonisch klingen will.«41 Noch kurz vor der Verlobung lehnt sie Jean Pauls »Biegsamkeit« und »Vielseitigkeit« mit Nachdruck ab, die sie als gefährlich ansieht. Jean Pauls Ausdrücke wörtlich zitierend, schreibt sie im letzten erhaltenen Brief aus der Verlobungszeit:

38 Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. II (wie Anm. 1), S. 376. 39 Ebd., S. 377. 40 Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. IV, Bd. II (wie Anm. 25), S. 401. Im Gegenzug zu Jean Pauls Äußerung definiert sie ihre Liebe zu ihm folgendermaßen: »Es ist nicht Idealisch, und doch auch nicht recht Menschlich […] es hat vom religiösen die Rührung die Fülle, die Bewundrung, die Begeisterung, die Sehnsucht, aber – noch nicht ganz die Zuversicht.« Ebd. 41 Ebd., S. 402.

282

Jadwiga Kita-Huber

Die Fähigkeit die sie giebt von mir zu – irgend einem leeren leichten Wesen zu gehen, ist schön und glücklich, aber die , die sie sich selbst zugestehen ist schon zu viel, ist fehlerhaft.42

In seinem letzten Brief aus dieser Zeit geht Jean Paul nicht mehr auf das Konzept der Simultanliebe ein, sondern verhandelt Fragen, die für ihn als Dichter grundsätzlicher und dramatischer sind. Zum einen problematisiert er Empfindungen und die Empfindsamkeit als solche, zum anderen verweist er auf den Konflikt zwischen Leben und Kunst, den er in der Gegenüberstellung zwischen der Wortsprache und der sie bedrohenden Körpersprache bildlich vorführt: Sie wissen, daß ich so oft die Wortsprache über die Körpersprache seze; aber doch fühl’ ich […] daß jene die Sehnsucht nach dieser nicht nimt sondern mehrt, daß aber diese beinahe jene entbehren wil, wenn der Mensch an der Seite und an den Augen und an den Herzen und an den Lippen seiner geliebten Seele ist.43

In dem Brief treten neben den für Jean Paul charakteristischen musikalischen Liebesmetaphern auch typische Topoi und Wendungen des empfindsamen Liebesbriefmodells auf, die zugleich – hier insbesondere durch Kommentare – ironisiert werden. So kommt Jean Paul z.B. auf die »heiligzarte Empfindung« zu sprechen, die Berlepsch das Verbrennen der Bogen »befahl« und ihn zwar »innig erquickt«, in Wirklichkeit aber ein unnötiges Opfer war.44 Jean Paul ironisiert das empfindsame Liebesbriefmodell sowohl in den Briefen an die großen Frauen als auch an die Hofer Freundinnen. Wie Thomas Wirtz gezeigt hat, wird die Empfindsamkeit als ein Kommunikationsspiel inszeniert, zugleich werden aber ihre Sprechbedingungen thematisiert.45 Um diesen Effekt zu erzielen, bedient sich Jean Paul des Interruptionsstils, der die Rede sogar einige Male innerhalb eines einzigen Briefs zum Abbruch bringt. Nach der Aufzählung des empfindsamen Inventars, was häufig in langen Metaphernketten geschieht, folgen plötzlich ein Absatz und anschließend ein Kommentar der vorausgegangenen, graphisch markierten Stelle: »Ich unterbrach mich, um mich nicht immer

42 Ebd. In diesem Brief bekennt sich Berlepsch – so wie in ihren theoretischen Schriften – zur Liebe als großer reiner Empfindung, nach der sie sich im Leben immer richtet. Vgl. ebd., S. 403. 43 Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. III (wie Anm. 1), S. 9. 44 Ebd., S. 10. 45 Thomas Wirtz: Schreibversuche. Jean Pauls Briefe bis 1805. In: Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 31 (1996), S. 23–37, S. 35.

»Im ewigen Dakapo der Zeit«

283

tiefer in mein Ich hineinzuschreiben«46. Dem wiederum folgen in der Regel ein Gedankenstrich und einige Belanglosigkeiten über den Autor oder das Postwesen.47 Thomas Wirtz, der in solchen Strukturen die Zertrümmerung des empfindsamen Modells bei Jean Paul erkennt, spricht hier von Subjektkonstitution im Brief bzw. von Selbstbehauptung des Autors im Text. Dabei überwache das Ich die rhetorischen Elemente der Diskurse.48 Wie bereits erwähnt, scheitert die Verlobung mit Berlepsch bereits im Folgemonat. Auch die gemeinsame Kunstreise nach Dresden bringt keine Hoffnung mehr auf die Belebung der Liebesbeziehung. Der Anfang 1798 ab- bzw. unterbrochene Liebesdiskurs wird erst 1801, jedoch unter anderen Bedingungen und mit anderen Erwartungen, kurz wieder aufgenommen. In der Zwischenzeit unternimmt Berlepsch ihre große Reise nach Schottland. Die räumliche Entfernung begünstigt die Entstehung sehr langer Briefe, die aus grandiosen Reisebeschreibungen und tiefsinnigen Menschenbeobachtungen bestehen und zugleich eine wichtige Vorarbeit für ihr späteres umfassendes Werk Caledonia sind. In warmen Freundschaftsbriefen vertraut sie Jean Paul sogar ihren Liebeskummer – die Beziehung mit ihrem Reisebegleiter James Macdonald – an und sieht in dem ehemaligen Verlobten ihren einzigen Retter und Vertrauten in Deutschland. Der Liebesdiskurs hingegen wird erst dann aufgenommen, wenn beide anderweitig verheiratet sind. Dabei kommt es zu einigen merkwürdigen Annäherungen. Emilie von Berlepsch scheint nun die Praxis des Rundbriefes nicht nur zu akzeptieren,49 sondern teilweise auch selbst zu übernehmen. Sie spickt ihre Briefe an Jean Paul mit wörtlichen Zitaten aus der Liebeskorres46 Jean Pauls Brief an Renate Otto vom Oktober 1796. In: Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. II (wie Anm. 1), S. 253. Thomas Wirtz verweist in diesem Kontext noch auf den Brief Jean Pauls an Christian Otto vom August 1798, in dem es heißt: »ich wolt’ ich dürfte empfindsam sein wie andere Leute; mein Inneres ist tiefer bewegt als die obersten Wellen verrathen – aber da jede wieder gleich ein Strudel wird, so hab’ ich gar nicht den Muth, nur eine über das Ufer schlagen zu lassen«. Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. III (wie Anm. 1), S. 89. Vgl. mehr dazu Wirtz: Schreibversuche (wie Anm. 45), S. 35. 47 In der Liebeskorrespondenz mit Berlepsch, die in einer konkreten Lebenswirklichkeit ihre Verankerung hatte und in der die Liebe nicht nur auf dem Papier hergestellt wurde, verflechten sich empfindsame Passagen mit sachlichen Informationen, z.B. zur postalischen Realität. Sie werden – den Regeln des Interruptionsstils gemäß – durch Gedankenstriche zusammengehalten. 48 Interessant ist in diesem Kontext auch die Frage nach dem Briefadressaten, der in Jean Pauls Briefen aus dem Text verschwindet. Wirtz sieht hier eine Selbstbehauptung, »die nicht auf den Schreiber als einen außertextuellen Referenten, sondern auf seine Präsenz als Geschriebenes verweist«. Wirtz: Schreibversuche (wie Anm. 45), S. 26. 49 Vgl. z.B. den Brief vom 20. Juli 1799. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, Abtl. IV, Bd. 3.2: Briefe an Jean Paul 1799-1800. Hg. von Markus Bernauer, Angela Goldack, Petra Kabus. Berlin 2009, S. 26–28.

284

Jadwiga Kita-Huber

pondenz mit ihrem künftigen Ehemann, kommentiert sie und erwartet Kommentare. Durch den Einbezug des Ehepartners und den Ausfall der Privatheit reaktiviert sie quasi das Szenario der Simultanliebe. Allerdings revidiert auch Jean Paul sein Liebeskonzept. Im Oktober 1802 schreibt er an Berlepsch: erst jetzt in der Heiligung der Ehe hab’ ich die rechte Liebe gelernt oder vielmehr sie geläutert von fremdem Zusaz; und jezt erst trag’ ich das Herz, das Sie recht und besser liebt als sonst. (Denn Sie hatten leider sonst mit Ihren Anklagen so sehr Recht als sonst ich zuweilen mit meinen) aber diese rechte Liebe wil That und Gegenwart. Briefe sind ihr nur eine Bühne, wo sie spielt und dichtet und doch nicht genug sich ausspricht.50

Dieser Gedanke wird in einem Brief an Hans Georg von Ahlefeldt (1802) noch zugespitzter formuliert: »Die Ehe rottet alle Simultan-Liebe mit Wurzeln aus; man fragt fast gar zu wenig nach neuen Weibern, was wieder zu deutsch ist.«51 Trotz der Annäherung zeichnet sich ab 1802 ein langsamer Abbruch des Briefwechsels ab; die lange geschmiedeten Pläne eines, wenn auch kurzen, Wiedersehens gehen nicht in Erfüllung.52

5. Spuren der Geschlechterdebatte um 1800 Bereits im oben rekonstruierten Liebesdiskurs zwischen Jean Paul und Berlepsch lassen sich Spuren der Geschlechterdebatte der Zeit erkennen. Schon in der eingangs zitierten Passage verweist Jean Paul darauf, dass das unterschiedliche Liebesverständnis geschlechterbedingt – und dadurch fest – sei. Die Dynamik der Geschlechterbeziehungen widerspiegeln auch sachliche Teile der Korrespondenz, insbesondere nach 1800. Berlepschs Briefe enthalten seitenlange Klagen einer alleinstehenden, geschiedenen Frau, die sich in Deutschland einsam und ausgestoßen fühlt und die vor Einsamkeit, 50 Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. IV (wie Anm. 1), S. 185. Über seine veränderte Situation nach der Eheschließung schreibt er schon am 03.01.1802 an Berlepsch wie folgt: »Meine alten Argonautenzüge nach dem goldnen Vlies der Weiber haben sich in Kreuzzüge nach dem h. Grab der Männer verwandelt. Ich gehe kälter neuen Freundinnen entgegen – und wärmer alten.« Ebd., S. 124. 51 Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. IV (wie Anm. 1), S. 125. Der Brief ist auf den 5.1.1802 datiert. 52 Ab November 1801 sind die Abstände zwischen den Briefen immer länger und umfassen sogar einige Jahre. Der Briefwechsel bricht ab, nicht (nur) deshalb, weil Jean Paul den letzten Band von Titan abschlossen hat (und Emilie als Vorbild nicht mehr braucht). Zum Abbruch führen auch die Entfernung, die den persönlichen Kontakt nicht möglich macht, die bürgerliche Realität, das Eheleben und nicht zuletzt die Zeitökonomie. Vgl. zu den möglichen Gründen für den Abbruch der Korrespondenz auch Paulus: »Simultanliebe« und »Schäfersekunden« (wie Anm. 5), S. 57–59.

»Im ewigen Dakapo der Zeit«

285

Spott und Verleumdung Angst hat.53 Auffallend ist dabei die Diskrepanz zwischen ihrer Selbständigkeit im Denken und der sozialen Unsicherheit, die sich etwa in der krampfhaften Suche nach einer Beziehung äußert. Auch wenn sie Jean Paul nicht mehr heiraten kann, plant sie mit ihm und seiner künftigen, dem Namen nach zu dieser Zeit noch unbekannten Ehefrau – ausführlich und detailliert – eine gemeinsame Zukunft: »Ich brauche Liebe, Pflege, Leben mit andern, wenn ich an Leib und Seele erhalten werden soll«.54 Erst die Heirat mit dem Amts- und Domänenrat August Harmes, wenngleich nicht standesgemäß, führt zu einer Entspannung.55 Des Weiteren sprechen die Briefe über den sozialen Ort der Frau als Autorin. Dass Berlepsch bereits zu ihren Lebzeiten anerkannt war, zeigt der von Carl von Schindel im Jahr 1823 verfasste Artikel im Lexikon Die deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, wo sie als »eine der geistreichsten und gebildetsten Schriftstellerinnen Deutschlands« bezeichnet wird.56 Obwohl Jean Paul zu der Lektüre der frühen Werke Emilies nicht kommt, verfolgt er das von ihr aktuell Geschriebene und leitet ihr sogar eine Rezension weiter, der zufolge sie »unter allen Weibern die beste Prosa«57 schreibe. Über ihr großes Werk Caledonia berichtet er selbst in höchsten Tönen: Ihr Buch ist mit Eleganz der volendeten Welt-Bildung geschrieben, ohne doch die Individualität einer seltenen Kraft weniger zu zeigen. Ich gestehe, Ihre kosmopolitischen Digressionen – worin ich freilich oft da ein Gemälde finde, wo der andere nur eine Farbe sieht – fasten mich am stärksten und manche führten mir schöne 53 Andererseits ist für sie als »genialische«, gebildete Frau nicht jede Ehe möglich. Im Brief vom 10.12.1800 schreibt Jean Paul: »Zwei Löwen wohnen nicht gern in Einem Wald; Sie konten wohl in der Liebe aber nicht in der Ehe durch ein Ebenbild glücklich werden – den Antheil mit Antheil bezeugen. Ihr innerer Mensch ist keine wächserne Figur, die jeder Finger ändert, sondern eine organische, die ihm weich folgt und doch ihre Form bewahrt.« Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. IV (wie Anm. 1), S. 27. 54 Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. IV, Bd. 3.2 (wie Anm. 49), S. 290. 55 Im Brief vom 19. November 1800 schreibt sie über ihre neue Situation und Lebensweise: »Aber wenige werden das verstehn. Emilie von B. eine Mecklenbergische Pachtersfrau? Die Dichterin Emilie eine vergeßene, unbekante Landwirthin? Dies, mein Freund, will ich eben möglich machen und verbinden.« Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. IV, Bd. IV: Briefe an Jean Paul 1800–1804, hg. von Michael Rölcke und Angela Steinsiek, Berlin 2010, S. 61. 56 Carl Wilhelm Otto August von Schindel: Die deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, Leipzig 1823, S. 189–190. Dennoch, oder vielmehr deswegen, fühlt sie sich als schreibende Frau in Deutschland verfolgt und mißverstanden. So fragt sie rhetorisch nach ihrer Rückkehr aus Schottland in einem Brief an Jean Paul: »Und ist es aufmunternd für die Ausbildung deutscher Weiber daß mich Deutschland so behandelt?« Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. IV, Bd. IV (wie Anm. 55), S. 146. 57 Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. IV (wie Anm. 1), S. 52–53.

286

Jadwiga Kita-Huber

Abende zurück, wo ich uneiniger mit Ihnen war als jetzt. In meinem Glaubensbekenntnis stehen einige neue Artikel, wie der 2te Titan zeigt.58

Überdies schätzt er ihre die Schweiz betreffenden Werke (Einige Bemerkungen zur richtigern Beurtheilung der erzwungenen Schweitzer-Revolution) und nennt Berlepsch die »Vordichterin eines schweizerischen Festes«,59 als sie im Dezember 1809 Deutschland besuchen will. Behält in diesem Briefwechsel also die Bücherwelt die Oberhand über die Lebenswelt? In dem bereits zitierten Brief vom Oktober 1802, in welchem das Ende des Liebesbriefes, jedoch nicht des Briefes über die Liebe, angekündigt wird, führt Jean Paul zum letzten Mal die beiden Diskurse zusammen und stellt tatsächlich die Priorität des Buches als des schlechthin Intimen heraus: [die] rechte Liebe will That und Gegenwart. Briefe sind ihr nur eine Bühne, wo sie spielt und dichtet und doch nicht genug sich ausspricht. Eine Umarmung ist mehr werth als zehn Briefe. Und doch bitt’ ich Sie um diese, da das lebendige Beisammensein uns entzogen ist. […] Schrieben Sie so viele Bücher wie ich: so könt’ ich Briefe entbehren. Sie leben ja immer im Geheimnis meiner Seele durch den Titan, dessen 3. und noch mehr künftig dessen lezten Teil ich Ihrem Lesen empfehle.60

In der Figur der emanzipierten Gräfin Linda de Romeiro, derer Vorbild Emilie von Berlepsch war, scheint die Diskrepanz zwischen Leben und Literatur künstlerisch aufgehoben zu sein.

58 Jean Pauls Brief vom 27. Juni 1802. In: Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. IV (wie Anm. 1), S. 156. 59 Dennoch muss man sagen, dass das große Thema der freundschaftlichen Korrespondenz der letzten Jahre v.a. Jean Pauls Werke sind. Im Zentrum steht der Titan, den Berlepsch – nach ihren Lektüreeindrücken gefragt – vielfach kommentiert und dabei Lob und Kritik vermischt. Auffallend ist also, dass Jean Paul hier viel offener für fremde resp. weibliche Meinungen über seine Literatur ist, als z.B. im Briefwechsel mit Charlotte von Kalb der Fall war, wo er gegen »ihr Einmengen in (sein ästhetisches) Leben« protestierte. Vgl. zu jener Korrespondenz: Thomas Wirtz: Liebe und Verstehen. Jean Paul im Briefwechsel mit Charlotte von Kalb und Esther Gad. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (1998), S. 177–200, S. 191. 60 Der bereits zitierte Brief vom 9.10.1802. In: Jean Pauls Sämtliche Werke, Abtl. III, Bd. IV (wie Anm. 1), S. 185.

Hans Esselborn

Jean Pauls frühe Briefe an Verleger Eine Alternative zum empfindsamen Briefdiskurs

Jean Pauls bisher nicht beachtete Briefe an Verleger stehen in vielfachem Kontrast zur zeitgenössischen, empfindsamen und romantischen Briefkultur und lohnen deshalb eine eigene Beschäftigung. Da sie meist Angebote von Manuskripten, Bitten um Geld und Nachfragen darstellen, verdanken sie sich praktischen Absichten, nicht persönlicher Selbstdarstellung und Kommunikation wie die Freundschafts- und Liebesbriefe der Zeit. Als Geschäftsbriefe stehen sie in der Tradition der zeremoniellen und umständlichen barocken »Sekretariatsbriefe«, daneben ist der Einfluss der witzigen galanten Korrespondenz zu spüren. Jean Paul galt als gewiefter Geschäftspartner, da er Konzepte und Abschriften seiner Briefe aufbewahrte1 – zur geschäftlichen Dokumentation wie als Quelle von sprachlichen Wendungen und Bildern – und nur so sich als erster freier Schriftsteller behaupten konnte. Auf diese Kopien, die meist als einzige von der Korrespondenz erhalten blieben, werde ich mich stützen. Die Forschung zum »Jahrhundert des Briefes« – auch die wenige zu Jean Pauls Briefen2 – hat sich nur für den persönlich gehaltenen Privatbrief nach der Gellertschen Reform interessiert. Dieser wird so sehr als einzige Möglichkeit gesehen, dass das Genre der Verlegerbriefe, das für die Produktion und Rezeption der Literatur seit dem 18. Jh. wichtig ist, fast gar 1

2

Vgl. Jean Pauls Aussage: »Mein Korrespondenzbuch macht, dass ich jedes Datum eines Briefes einschreibe und folglich bei Buchhändlern und sonst den großen Ruf eines scharfen Geschäftsmannes einhandle.« Zit. nach Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. von Eduard Berend. Dritte Abteilung. Bd. I, S. X, Fußnote 1. Nach diesem Band werden fortan die Briefe des Autors mit Seitenangabe zitiert. Dabei werden die Abweichungen von der heutigen Schreibweise nicht eigens notiert. Thomas Wirtz (Schreibversuche. Jean Pauls Brief bis 1805. In: Jahrbuch der Jean PaulGesellschaft 31 (1996), S. 23-38) spricht nur von den privaten Briefen und betont deren enge Verflochtenheit mit dem literarischen Werk. Dorothea Böck (»Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch« (Novalis). Zwischen realer und imaginärer Geselligkeit – Jean Pauls Epistel-Salon. In: Jahrbuch der Jean Paul-Gesellschaft 37 (2002), S. 146-175) behandelt nur die Liebes- und Freundschaftsbrief im Kontext der Romantik.

288

Hans Esselborn

nicht untersucht wird. Deshalb ist hier bei einem wichtigen Schriftsteller der Goethezeit, der Fragen des Urheberrechts und der Zensur thematisierte, Pionierarbeit zu leisten.3 Solange die Autoren nicht auf das Geld für Ihre Bücher angewiesen waren, sondern es sich nur um Nebeneinkünfte handelte, gab es ein gleichberechtigtes, arbeitsteiliges Verhältnis zwischen ihnen und den Verlegern als Spezialisten der Buchherstellung und Verbreitung. Der Aufschwung der Buchproduktion und besonders der Belletristik im 18. Jahrhundert gab den Buchhändlern und Verlegern die Gelegenheit, Geld im großen Stil auf Kosten der Autoren zu verdienen und erweiterte zugleich den möglichen Kreis von Autoren über die beamteten Intellektuellen hinaus. Autoren ohne Anstellung wie der junge Jean Paul hatten erstmals die Hoffnung, ihren Unterhalt durch das Schreiben von Büchern zu bestreiten. Wenn die Autoren aber auf das Honorar angewiesen waren, ergab sich eine tiefgreifende Abhängigkeit von den Verlegern. Daraus folgte eine offenkundige Asymmetrie auch im Briefwechsel, in dem meist die geschäftlichen Beziehungen abgewickelt wurden. Erst die Stärkung der Position der Autoren durch das neue Urheberrecht ganz am Ende des Jahrhunderts konnte die Abhängigkeit lindern. Deren verbale Entsprechung war das Genre des Bittbriefs gegenüber einem höher gestellten Patron, der in der hierarchischen Gesellschaft des Barock entwickelt und in der galanten Epoche als Insinuationsbrief fortgeführt wurde.4 Deutlichster Ausdruck der persönlichen Abhängigkeit waren die Anrede- und Schlussformeln, für die es im 17. Jahrhundert ausführliche Titularlisten gab. Diese Formeln überlebten den zeremoniellen und galanten Briefstil bis in späte 18. Jh. Jedenfalls weisen die Briefe des jungen Jean Paul wie die Antworten der Verleger die üblichen Formeln auf.5 Die Standardanrede ist mit leichten Variationen »Hochedelgeborner, Hochgeehrtes-

3

4

5

Ludwig Fertig (»Ein Kaufladen voll Manuskripten«. Jean Paul und seine Verleger. Sonderdruck aus dem Archiv für Geschichte des Buchwesens. Bd. 32. Frankfurt a.M. 1989) versteht seine Arbeit als ersten Überblick der faktischen Beziehungen. Er geht nicht auf die Kommunikation und den Stil der Briefe ein. Vgl. Carmen Furger: Briefsteller. Das Medium Brief im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2010, S. 56: »Die Menschen in der Frühen Neuzeit schrieben einander Anwerbungsschreiben, um einen persönlichen Nutzen daraus zu ziehen, indem sie sich etwa Zugang zum Klientelkreis einer bestimmten Person verschaffen wollten.« Vgl. Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2000, S. 50: »Die fehlende Interaktionsnähe der epistolographischen Konzepte wird dabei durch Insinuationen und Komplimente – insbesondere in der formula initialis und der formula finalis – kompensiert.«

Jean Pauls frühe Briefe an Verleger

289

ter Herr«6 Die Schlussformeln verwenden die Ausdrücke »Hochachtung«, »Hochedelgeboren« und »Diener« mit dem Adjektiv »gehorsamer« oder »ergebenster«.7 Nur in aufklärerischen und empfindsamen Freundschaftsbriefen wird auf diese Formeln verzichtet. In geschäftlichen Schreiben Jean Pauls findet sich die Anrede »Freund« erstmals gegenüber Karl Philipp Moritz, in dem der Autor einen Leidensgenossen in der Armut und der Literaturbegeisterung sieht, den er um die Vermittlung für die Veröffentlichung der Unsichtbaren Loge bittet: »so bitt’ ich Sie ihm [dem Manuskript] durch Ihr Urtheil oder einige Blätter oder das Ganze eine merkantilische Hand zuzuwenden, die es aus der geschriebnen Welt in die gedrukte führe.«8 Wird also im geschäftlichen Kontext eine vergleichbare zeremonielle Anrede von Bittsteller und Patron gebraucht, so ist der jeweilige Stil entsprechend der sozialen Stellung und konkreten Situation auffällig differenziert. Dies gilt für alle Anlässe des jungen Autors: das Angebot von Manuskripten, die Bitte um Vermittlung oder die Nachfrage nach den eingeschickten Texten, aber auch den Versuch, sich bekannt zu machen und um Rat zu bitten. Immer glaubte der Bittsteller Jean Paul mit unterwürfigen Wendungen und Komplimenten Wohlwollen erregen zu müssen, während die Adressaten recht direkt Annahme, Ablehnung oder Bedingungen des Drucks wie der Bezahlung formulierten. Der Stil der Verleger ist also sachlich, manchmal auch schroff und gelegentlich belehrend. 9 Die Verhandlung um den Preis für die Manuskripte ist für den jungen Autor ein Eiertanz, den er in den Briefen einerseits mit versteckten Anspielungen, andererseits auch mit direkten Armutsbekenntnissen vollführt. Hier geht es wohl um die Erregung von Mitleid oder um die Rechtfertigung dafür, dass überhaupt von Geld die Rede ist.10 6

So in den Briefen an Göschen, Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. IX, S. 3, bzw. 4f. Varianten sind »Hochzuverehrender Herr« oder Hochgeehrter Herr«. 7 Sie lauten z.B. »Ich bin mit wahrer und ausgezeichneter Hochachtung | Ew. HochEdelgeboren | gehors. Diener«; Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 320. 8 Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 354. 9 Vgl. den Brief von Bekmann. Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. IV. Abt. Bd. I, hg. v. Monika Meier, S. 81: »daß 2rth. 12g. alles wäre was ich für den Bogen geben könnte, daß ich das Werk nicht eher als zu Johannis liefern könte weil ich zu viel angefangene Arbeit noch zu fertigen habe, und daß der Titel seyn müßte Faustin philosophischer oder kosmopolitischer Nachlaß«. 10 Im empfindsamen Brief an Moritz formuliert er die paradoxe Situation, dass geistige Güter und ihre finanzielle Vermarktung unvermeidbare Widersprüche sind. Es widerstrebt ihm, das Buch »wie einen amputierten Ldor auf der Buchhändler-Börse zirkulieren zu lassen und es dem gefühllosen Tasten von geistigen Sklavenhändlers anzubieten, die ich nicht kenne«. Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 354.

290

Hans Esselborn

Jean Pauls schließlicher Abschied vom zeremoniellen und galanten Briefstil im Brief an Karl Philipp Moritz mit dem Manuskript der Unsichtbaren Loge fällt genau mit seiner Wendung von der erfolglosen Satire zum beliebten Roman zusammen. Im späteren Briefwechsel mit dem Verleger Matzdorff, Moritz’ Schwager, der den Roman schließlich veröffentlicht, wandelt sich der empfindsame Briefstil allmählich zu einem kollegial-geschäftlichen, in dem Jean Paul seine Interessen zu wahren versucht: »Da nur ein billiges Gleichgewicht zwischen dem Vortheil des Verlegers und Autors die doppelte Buchhaltung zwischen beiden führen kan.«11 Diese Art des Umgangs wird vom Erfolg der Unsichtbaren Loge 1793 und des folgenden Hesperus 1795 gestützt. Dabei entsteht, auch bedingt von der Etablierung des geistigen Urheberrechts, das Modell eines gleichberechtigten Austauschs von Informationen über Manuskripte und Drucke, aber auch den Schreibprozess, wie es in den Verlegerbriefen des 19. und 20. Jahrhunderts zur Regel wird. Doch zunächst zum typischen Verlegerbrief Jean Pauls aus den achtziger und frühen neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts, der von zeremoniellen Wendungen, übertriebenen Komplimenten und Selbstherabsetzungen geprägt ist. Gerade letztere wirken heute peinlich, z.B. wenn der Autor schreibt: »Können Sie mir meine Bitte nicht bewilligen, so vergessen Sie sie wenigstens, so wie ich im Gegenteil die Bewilligung derselben niemals vergessen würde«.12 Aber auch die überschwänglichen Komplimente sind oft unerträglich, wie in dem allerdings nicht abgeschickten Brief an Herder, in dem dieser mit der Sonne verglichen wird, einem beliebten Symbol für Gott: Mir that es alzeit wol, wenn ich die Sonne mit einem menschlichen Gesicht im Kalender gemalet sah. Diese Art von Menschwerdung milderte ihren Glanz und brachte sie dem Menschen näher … Aber Sie haben ia ein Menschenangesicht! Und vielleicht doch auch für mich.13

11 Brief an Matzdorff, Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. II, S. 104. 12 Brief an Voss, Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 70. Vgl. den Brief an Reich, Bd. I, S. 119: »Vielleicht haben Sie sich schon bei dem ersten Anblik dieser Handschrift entschlossen, sie nicht zu lesen; aber wenigstens darf ich Sie bitten, lesen Sie nur diesen Brief.« 13 Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 340. Vgl. den Brief an Reich, ebd. Bd. I, S. 120: »Aber ist es wahr, daß sich an Ihrer Hand schon mehrere Niedergedrückte aufgerichtet«.

Jean Pauls frühe Briefe an Verleger

291

Zur Beurteilung dieser Ausdrücke muss man an die Tradition dieser Schreiben denken. Es herrschten noch lange »hierarchisch geprägte Briefformen«.14 Typisch am galanten Briefstil […] waren die sprachliche Höflichkeit und die ausgeschmückten Komplimente, die zum Teil soweit gingen, dass der Schreiber fast die eigene Existenz entschuldigen zu müssen glaubte und bei jeder Gelegenheit versicherte nicht lästig fallen zu wollen. 15

Der Bittbrief an einen möglichen Wohltäter ist von der Strategie des Gewinnens von Aufmerksamkeit und Zuneigung bestimmt, »die sich in der Wortwahl niederschlägt und auf eine Erhöhung des Adressaten und Verkleinerung des Sprechers hinausläuft. […] Mit Insinuationen sucht man die Gewogenheit des Adressaten und empfiehlt zugleich sich und sein Anliegen«.16 Die captatio benevolentiae mit dem Anschein der modestia gehört zur Rhetorik, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts maßgebend auch über Gellerts Briefreform hinaus war. Jean Pauls Briefe an Verleger zeigen bei allen Gelegenheiten eine ähnliche Strategie der Gewinnung von Aufmerksamkeit und Wohlwollen mit entsprechenden Formulierungen: »Aus einem Band satirischer Abhandlungen schikk’ ich Ihnen einige Proben vermischter Art, um von Ihnen zu erfahren, ob sie unter die Misgeburten oder ob sie unter die Geschöpfe gehören, welche die Wiedergeburt von Ihrer Hand verdienen.«17 Ähnlich lauten Briefe, in denen erstmals die Bekanntschaft von jemand gesucht wird, der im literarischen Betrieb tätig ist. So schreibt Jean Paul an den Autor Blankenburg: Der V[erfasser] dieses Briefes weis seine Zudringlichkeit, Ihnen sich und seine Geburten bekant zu machen, mit nichts als dem Gefül vom Werte dessen zu entschuldigen, der sie ihm vielleicht vergeben wird, wenn er aus dem ältern Produkte sieht, dass derselbe einen Lerer der Kritik b r a u c h e, und aus dem iüngern, dass er einen v e r d i e n e.18

Man versteht hier kaum wegen des unterwürfigen und umständlichen Stils, mit dem der junge Autor sein Tun entschuldigt und seine Wünsche vorträgt, dass er Texte aus verschiedenen Schaffensperioden mitschickt, um 14 Johannes Anderegg: Schreibe mir oft! Zum Medium Brief zwischen 1750 und 1830. Göttingen 2001, S. 16. 15 Furger: Briefsteller (wie Anm. 4) S. 168f. 16 Manfred Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990, S. 113, vgl. S. 131. 17 Brief an Reich, Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 119. 18 Brief an Blankenburg, Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 111.

292

Hans Esselborn

seinen literarischen Fortschritt zu zeigen und Zuspruch eines anerkannten Autors zu bekommen. Der Briefschreiber begibt sich von vornherein in eine inferiore Rolle, wenn er Urteil und Ratschlag von älteren Autoren erbittet: »Aber ich falle vielleicht in einen ungleich unverzeihlichern Feler, wenn ich Sie um die Lesung der hier folgenden Satire zu bitten wage […] Es tut diese Bitte der, dem Bekantschaft, Jare, Unterstüzung, äusserlicher Gehalt und Alles felen«.19 Vergleichbar ist die notwendige Nachfrage nach dem übersandten Manuskript aus Angst um den Verlust auf der Post, mit der Bitte um Antwort oder die Rücksendung des Werkes: »Verzeihen Sie daher den Anschein einer Zudringlichkeit in der Bitte, mich über den Empfang und noch mer über die Wirkung meines Briefes durch eine baldige Antwort zu beleren.«20 Auch bei diesen berechtigten Mahnbriefen gibt es nicht den Anschein von Forderung und Vorwürfen, sondern die Selbstverleugnung dominiert selbst bei einem Brief an Göschen, von dem Jean Paul Geld zu bekommen hat.21 Wie wichtig die Erregung von Aufmerksamkeit für einen unbekannten Autor ist, zeigt eine Inszenierung Jean Pauls, die er sich mit dem berühmten Verleger Hartknoch leistet. Er überreicht diesem persönlich aber inkognito ein Manuskript mit einem Brief, in dem er sich vorstellt: Ich hätte dieses stat schriftlich eben so gut mündlich sagen können, aber niemand ist unfähiger als ich, aus dem Stegreif oder vom Blatte zu reden. Sie können diese Unfähigkeit daraus abnehmen, weil ich einen Brief geschrieben, ungeachtet ich doch der Überbringer desselben, der iezt mit einem sehr einfältigen Gesichte vor Ihnen steht, selber bin.22

Dieses Vorgehen hat zwar keinen Erfolg, aber wird von Jean Paul später literarisch verwertet, nämlich Vult aus den Flegeljahren zugeschrieben, der für das fiktive Werk Hoppelpoppel oder das Herz vergebens einen Verleger sucht. Grundsätzlich geht es darum, die Verleger zum Abdruck der Texte und zu einem Honorar zu bewegen. Über die Standardmittel der Komplimente und Selbstverkleinerung hinaus, wählt der Autor später die Erregung von Mitleid durch das Bekenntnis der Armut. Entweder zwingt ihn die blanke Not zu diesem herabsetzenden Bekenntnis23 oder er hofft, dass 19 Brief an Weiße, Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 113. 20 Brief an Voss, Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 60. 21 Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 209: »Wahrhaftig ich gäbe diesen elenden Brief darum, wenn ich ihn gar nicht zu schreiben brauchte«. 22 Brief an Hartknoch, Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 119. 23 Vgl. Betz (wie Anm. 16), S. 146: »Armut galt im Barock als Schande, als Beweis geringer Fähigkeit oder niedriger Herkunft.«

Jean Pauls frühe Briefe an Verleger

293

der Appell an die Menschlichkeit im Zuge der Empfindsamkeit Chancen bietet. Mit diesem früher vermiedenen Geständnis der Armut sind wir aber schon in den Bereich der Aufrichtigkeit als Kontrast zur zeremoniellen und stilisierten Sprache gelangt. »Übrigens hat mir das Schiksal die Lage beschieden, die mir es nicht erlaubet, Ihnen zu verschweigen, daß ich es nicht vermag, mir die geschminkte Larve der schriftstellerischen Uneigennüzigkeit zu kaufen«.24 Das Reden von Aufrichtigkeit und Offenheit hindert aber den Briefschreiber meist nicht, seine Bitten um Geld eher umständlich und indirekt vorzubringen. Zunächst sollen die Möglichkeiten der verbalen Präsentation vorgeführt werden, die zwischen der sachlichen Mitteilung und der gewundenen und fast unverständlichen Formulierung oszillieren. Jean Paul kann ebenso seinen Witz im Sinne des aufklärerischen 18. Jahrhunderts, vielleicht auch im Sinn von galantem Scherz und Scharfsinn, in kühnen gedanklichen Verbindungen sprühen lassen. Am Ende der untersuchten Zeit kann er auch empfindsame und pathetische Töne verwenden. Als Beispiel für die komplizierte Sprache sei ein Brief an den verehrten Schriftsteller und Herausgeber Lichtenberg zitiert, der auch die damalige Vorstellung Jean Pauls von Gedankenwitz demonstrieren kann. Wenn ein Jüngling von 22 Jahren sich die Freiheit nimt, Ew. eine Satire für das Magazin zu senden, worin schon Ihre Satiren stehen: so kan er nicht das Geringste zu seiner Vertheidigung anführen und ich zweifle sehr, ob sogar die Satire selber, hätte sie auch die grösten Gaben, im Stande ist, seine Sache mit einigem Glükke zu führen und ihn von dem Vorwurfe der Unbescheidenheit zu retten.25

Witz im Sinne der Aufklärung als Suche nach entlegenen Ähnlichkeiten mit einem Feuerwerk von Metaphern und Anspielungen ist aber der Ausnahmefall bei den Verlegerbriefen, da hier die traditionelle Insinuation mit Komplimenten und Selbsterniedrigung gilt. Nur bei einem Adressaten, bei dem sich Jean Paul wohl fühlt, wie dem Autor und Verleger Meißner entfaltet er seine witzigen Fähigkeiten: »Mein satirisches Mskrpt über die menschliche Tugend nistet zwar bei Ihnen wie in einem Ägypten, gegen den bethlehemitischen Kindermord der Rezensenten geschirmt, allein ich möchte’ es doch haben«.26 Diese witzige Selbstinszenierung blieb nicht ohne Wirkung wie Meißner selbst schreibt: »Ich ließ, weil wahrlich seine Briefe trefflich waren, ein paar seiner Aufsätze […] einrücken«.27 24 25 26 27

Brief an Meißner, Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 126. Brief an Lichtenberg, Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 124. Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 273. Zit nach Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 454.

294

Hans Esselborn

Trotzdem ist es nicht leicht zu entscheiden, ob die witzigen Metaphern und Anspielungen funktional sind, also die Veranschaulichung und Akzentuierung des Sachverhalts bewirken oder nur zur Demonstration der eigenen literarischen Fähigkeiten dienen, wie sie sich in den zeitgleichen Jugendsatiren zeigen. Funktionaler Witz scheint im folgenden Schreiben vorzuliegen: Der Verfasser […] darf soviel doch von den gegenwärtigen Satiren sagen, daß wenigstens die Zähne, womit sie verwunden sollen, keine eingesezten und aus fremden Zahnläden ausgebrochnen, sondern ihre eignen sind; freilich aber ist die Politur und Schärfe derselben darum noch nichts weniger als erwiesen.28

Im Bittschreiben an Wieland um eine Veröffentlichung im Teutschen Merkur, verkleidet der Autor seinen Wunsch in eine mythologische Allegorie, nämlich in eine Anrede an den »Lieben Merkur«. Hier scheint die Demonstration des virtuosen allegorischen Schreibens zu überwiegen, allerdings erfolglos. Wenn man die Briefe Jean Pauls an Verleger von 1781–1795 überblickt, zeigt sich ein allmähliches Freischwimmen des Autors von der traditionellen Insinuation zu einem freieren Stil, der sich im Gebrauch des Witzes und der Metaphern dem seiner Werke nähert. Die ersten Bittbriefe sind noch ganz altmodisch und umständlich wie der an den Herausgeber des Deutschen Museums vom August 1781, ähnlich auch der erste überlieferte Bittbrief um neue Bücher, mit dem Jean Pauls umfangreiche und lange andauernde Korrespondenz mit seinem Lehrer, Gönner und Kollegen Vogel beginnt. Ew. Hochehrwürden mus ich gehorsamst um Vergebung bitten, dass ich Denenselben neulich so lange beschwerlich gewesen bin. Dieselben sezzen so viel neue Gütigkeiten zu den alten hinzu, daß es mir schwer wird, Worte zu finden, die genug Dankbarkeit verriethen – und noch schwerer, so kühn zu sein, Dieselben um neue zu bitten.29

Das Hervortreten eines offeneren Stils, der später hauptsächlich vom Formprinzip des Witzes bestimmt wird, hängt einerseits vom gewachsenen Selbstbewusstsein des Autors, aber noch deutlicher vom jeweiligen Adressaten ab. Wenn zu diesem eine kollegiale oder freundschaftliche Beziehung besteht wie zu Meißner und Vogel im Laufe der Zeit, dann gibt Jean Paul seinem originären Bedürfnis nach Selbstdarstellung in Witz und Metaphern 28 Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 119. 29 Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 2.

Jean Pauls frühe Briefe an Verleger

295

nach. Doch auch in diesem Fall bittet der junge Autor »um Nachsicht für den freien Ton darin«.30 Es dürfte klar geworden sein, welch großer Unterschied zwischen Jean Pauls frühen Geschäftsbriefen und den gleichzeitigen Privatbriefen besteht. Die zentrale Differenz liegt darin, dass die Briefe an Verleger eine klare praktische Absicht verfolgen, nämlich den Druck der satirischen Manuskripte gegen Geld. Dieser Zweck erfordert sachliche Aussagen. Somit sind wir weit vom prototypischen empfindsamen Briefwechsel entfernt, der idealer Weise keinen sachlichen Bezug hat, sondern nur der Selbstdarstellung und der Beteuerung und Erhaltung des gegenseitigen Wohlwollens dient.31 Der klare Zweck der Briefe lässt sich aber anscheinend nicht ohne traditionelle Rhetorik erreichen, da es offensichtlich einen Zwang des Genres Brief zu einer gewissen Einkleidung der Absichten je nach der herrschenden Mode gibt. Am deutlichsten zeigt sich dies an den zeremoniellen Anrede- und Schlussformeln, die anscheinend nur schwer modifiziert werden können. Sie sind Versatzstücke und Fremdkörper, aber etablieren andererseits ein kalkulierbares Interaktionsmuster für die Korrespondenten.32 Die offensichtlich unerlässlichen Komplimente und Selbstverkleinerungen der Insinuation sind inszenierte und nicht wörtlich zu nehmende Aussagen. Dabei ist es auffällig, wie in den Briefen Jean Pauls sachliche Mitteilungen, Komplimente und witzige Bemerkungen ineinander übergehen. Die Tendenz zur Abschweifung und zum rhetorischen Exzess wird stärker in den späteren Briefen, wo viele Passagen eher ästhetischen als pragmatischen Charakter haben. Nun sollte man aber nicht in den Irrtum verfallen, die rhetorische Seite der Briefe als verlogen und künstlich anzusehen, wie es die Diskussion der Zeit suggeriert. Die Forschung hat inzwischen genügend herausgestellt, dass die Beteuerung und Wortwahl der Offenheit ebenfalls einen sprachlich-literarischen Code darstellt, der zur Konventionalisierung neigt. Jean Paul nimmt an dieser Diskussion der Zeit teil, wenn er in Abwertung der traditionellen Rhetorik schreibt: »Doch ich lasse den Voitüre; und wünsche Ihnen aufrichtig, ohne Dekorazion und Zierbuchstaben, zu Ihrer neuen Stelle Glük, so wie denen, deren Lehrer Sie geworden.«33 Das Bei30 Brief an Meißner, Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 274. 31 Vgl. Vellusig (wie Anm. 5), S. 105: »Das kommunikative Gefüge des Briefes stabilisiert sich in dem Maße, in dem der Informationsgehalt abgesenkt wird. […] Wer nichts zu schreiben hat und dennoch schreibt, bekundet das Bedürfnis nach Nähe, das die Aufhebung der räumlichen Distanz selbst ins Zentrum der Mitteilungsabsicht stellt.« 32 Vgl. Beetz (wie Anm. 16), S. 173. 33 Brief an Meißner, Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 200.

296

Hans Esselborn

spiel der Geldforderung, des »punctum saliens« wie der Autor selbst schreibt, zeigt, dass Pragmatik und Rhetorik dialektisch miteinander verbunden sind. Das manchmal direkt ausgesprochene Bekenntnis der Armut kann schockieren, aber auch Mitleid erwecken und deshalb rhetorisch wirksam sein. Doch sind die oft witzigen Anspielungen an das Geld34 tatsächlich wohl effektiver, weil sie von den Adressaten gerne gelesen und leichter akzeptiert werden können. Sie sind zudem üblicher und können vom Bittsteller ohne Prestigeverlust riskiert werden. Insgesamt sind Jean Pauls Geschäftsbriefe als Dokumente der Kommunikation und Zeugnisse eines gezielten Umgangs mit der Sprache auch eine Art der Literatur wie die Briefkultur des 18. Jahrhunderts überhaupt. Den individuellen und zeitgemäßen Stil erschreibt sich der junge Autor in der Praxis aufgrund seines zunehmenden Selbstbewusstseins und seiner allmählichen Erkenntnis der Struktur der Buchproduktion und der modernen Autorrolle.

34 Vgl. Jean Paul: Sämtliche Werke III. Abt. (wie Anm. 1), Bd. I, S. 50: »Es ist gewis, dass der Parnas keine peruanische Goldgrube ist; wenigstens ist es gewis, dass dieienigen, die darinnen graben, gleich andern Bergleuten, die Schäze ser bedürfen, die sie suchen.«

Antje Arnold

»Original-Geschichte« und »Buch des Andenkens« Rahel Levin Varnhagens Briefe

Es herrscht heute Konsens darüber, dass Rahel Levin Varnhagens Briefe – wie die Briefe vieler anderer – als literarisches Werk1 zu betrachten sind und keineswegs etwa nur als Gebrauchstexte zur Unterstützung ihrer Salontätigkeit oder etwa als bloße Vorstufe zu einem – freilich nie geschriebenen – Werk. Bloß: Wie werden ihre Briefe zum Werk und zudem noch zu einer »Original-Geschichte«? Sicher nicht allein, indem Levin Varnhagen ihre Briefe durch die Aufforderung zu deren Sammlung zum Kunstwerkstatus erhebt, wenn sie an Wilhelmine von Boye schreibt: »Und sterb’ ich – such alle meine Briefe ... zu bekommen. […] Es wird eine OriginalGeschichte und poetisch«.2 Als sie dies im Juli 1800 schreibt, hat der Doppelcharakter des Briefes als privat-biografische bzw. literarische Gattung, wie schon in der antiken Brieftheorie diskutiert, einen neuen Aufschwung in den zahllosen Briefromanen oder auch geschlechterübergreifenden Korrespondenzen des »briefsüchtigen 18. Jahrhunderts«3 erlebt. Ich will mich im Folgenden darauf konzentrieren, anhand des Programms der ›Originalgeschichte(n)‹ die Briefliteratur Levin Varnhagens zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit um 1800 zu diskutieren. Veranschaulichen will ich dies am Prozess der Buchwerdung von Rahel Levin 1

2

3

Vgl. Sabina Becker (Hg.): Rahel Levin Varnhagen: Studien zu ihrem Werk im zeitgenössischen Kontext. St. Ingbert 2001; Ursula Isselstein: »Rein erhabenes Monument« oder »vollständige Ausgabe«? Zur Mediendiskussion zwischen Karl Gustav von Brinckmann und Karl August Varnhagen um »Rahel«. In: Nikolaus Gatter (Hg.): Makkaroni und Geistesspeise. Berlin 2002 (Almanach der Varnhagen Gesellschaft. 2), S. 187–207. Rahel Levin: Dokument XXX an Wilhelmine von Boye, 1. Juli 1800. Zit. nach Rahel Levin Varnhagen: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Hg. von Barbara Hahn. Mit einem Essay von Brigitte Kronauer. 6 Bde. Göttingen 2011, hier Bd. 6, S. 68. Wenn nicht anders vermerkt, werden ihre Briefe nach dieser Ausgabe (mit Band- und Seitenangabe) zitiert. Reinhart M.G. Nickisch: Der Brief und andere Textsorten im Grenzbereich der Literatur. In: Heinz Ludwig Arnold, Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 1996, S. 357–364, hier S. 358.

298

Antje Arnold

Varnhagens Briefen zu einem von Karl August Varnhagen gefertigten Buch des Andenkens, das im Original in der Biblioteka Jagiellońska in Krakau aufbewahrt ist. Es soll näher beleuchtet werden, wie die von Levin Varnhagen praktizierte Konversationskultur im mündlichen und mündlich fingierten Gespräch nicht zuletzt durch ihren Ehemann Karl August Varnhagen konserviert und memoriert werden sollte und wie das Projekt letztlich scheitern musste. Die Konversationskunst Levin Varnhagens ist fest mit der Institution des Salons verbunden, die in Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens4 (1799) ihre theoretische Fundierung und im »Symphilosophieren« (F. Schlegel) ihr Schlagwort erhält. Levin Varnhagen tritt in die Fußstapfen einer langen Reihe von Vorgängern: Die französische gegenhöfische Salonkultur des 17. Jahrhunderts öffnet zunächst die adlige Konversationskultur dem Bürgertum und wird Vorbild für die literarischen Salons auch in Deutschland; sie bringt insbesondere mit der Salonière Madeleine de Scudéry eine Theoretikerin der Konversation und Geselligkeit hervor.5 Scudéry kleidet ihre Theorie in literarische Gespräche ein, so beispielsweise in ihre Konversation über die Konversation (1680) oder in ihre preziösen Romane. Darin realisiert sie nun im Schriftlichen das, was die mündliche Konversation zu leisten hat: nämlich dem Ideal des neminem laedere folgen und zwanglose Zerstreuung suchen und sich gleichzeitig der Verpflichtung und Fragilität der Konzepts hochbewusst sein, den Einzelnen gesellschaftsfähig zu machen.6 Genau diese Spannung von mündlicher Konversation und ihrer Verschriftlichung deckt Levin Varnhagen mit Salon und Briefwerk ab. Um 1700 ist der Boden bereitet für eine Intimisierung der Gespräche, die die Empfindsamkeit professionalisieren wird.7 Mit der Empfindsamkeit und der Entwicklung des literarischen Markts im 18. Jahrhundert in Deutschland verändert sich die Kommunikationssituation zugunsten einer Schriftlichkeit, wie sie dann nicht nur im sprichwörtlich gewordenen »Jahrhundert des Briefes«8 ihren Ausdruck finden wird. Vielmehr wird dadurch 4 5 6 7 8

Insbesondere auf Grundlage des Salons Henriette Herz’, aber auch in regem Briefaustausch mit Levin. Vgl. Antje Eske: Die Verbindung von Social Web und Salonkultur. 13 Salonièren. Hamburg 2010, S. 53-62. Vgl. Karl-Heinz Göttert: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988, S. 171. Vgl. dazu neuerdings Antje Arnold: Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin, Boston 2012 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 73). Georg Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. Teil I und II. 2. Aufl., unveränd. Nachdr. der 1. Aufl. [Berlin] 1889–1891.

»Original-Geschichte« und »Buch des Andenkens«

299

auch die mündliche Kommunikationssituation verändert, man trifft sich nicht mehr nur zu Gesprächen, sondern auch und besonders zum gemeinsamen Schweigen.9 Gleichzeitig ist ein Briefwechsel in aller Regel keine private Angelegenheit, sondern in das Geselligkeitskonzept des 18. Jahrhunderts eingebunden: Briefe werden laut vorgelesen und diskutiert. Das private Gespräch des Seelenverwandten mit dem Abwesenden ist somit Fiktion. In diesen Raum hinein tritt Levin Varnhagen, und, wie zu betonen ist, gerade nicht nur als Salonière zwischen 1790 und 1806, sondern als exzessive Schreiberin von Briefen, in denen sie auf der Grenze von Realität und Fiktion gesellige Konversation erprobt und deren Möglichkeiten auslotet. Sie ist damit zugleich der im 18. Jahrhundert perfektionierten empfindsamen Geselligkeit – und deren Sozialisierungsfunktion – wie auch der stürmerischen und romantischen Radikalisierung des empfindsamen Geselligkeitskonzepts verpflichtet. Wie hochgradig kunstvoll und kunstbewusst Levin Varnhagen schreibt, zeigt sich, wenn sie betont, nicht (schön) schreiben zu können. Am 2. Juli 1813 leitet sie intertextuell ironisch ihren Brief an Clemens Brentano wie folgt ein: »Top! Schreiben kann ich nicht; wie Prinz Hamlet.«10 Den kurzen Brief beschließt sie so: »Der Prinz ist geschwätzig geworden: weil er nicht zu sprechen versteht; und noch ein Buch vollschreiben könnte; auch weil er nicht zu mahlen versteht.«11 Bemerkenswert ist hier, dass die vermeintliche Unfähigkeit zu schreiben überboten wird: Nicht schreiben, aber besonders nicht sprechen und malen zu können, bedeutet für Levin Varnhagen ein großes Defizit. Schreiben und Sprechen verwendet sie als Synonyme. Denn in ihren Briefen inszeniert sie nicht nur mündliche Dialoge stilistisch geradezu perfekt, sondern kontrastiert immer wieder das Sprechen mit dem abwesenden Seelenverwandten gegenüber dem Schreiben, das sie angeblich nicht beherrsche. Ihr Postskriptum zu diesem Brief zeigt Dublin u.a 1968, S. 302. Vgl. zudem Werner Faulstich: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830). Göttingen 2002 (Die Geschichte der Medien. 2), S. 83–102. 9 Gellert lässt im Roman Leben der Schwedischen Gräfinn von G*** seine Erzählerin emphatisch ausrufen: »O was ist das Vergnügen der Freundschaft für eine Wollust, und wie wallen empfindliche Herzen einander in so glücklichen Augenblicken entgegen! Man sieht einander schweigend an, und die Seele ist doch nie beredter, als bey einem solchen Stillschweigen. Sie sagt in einem Blicke, einem Kusse ganze Reihen von Empfindungen und Gedanken auf einmal, ohne sie zu verwirren.« Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe hg. von Bernd Witte. Bd. 4: Roman, Briefsteller. Berlin, New York 1988, S. 74. 10 Rahel Levin Varnhagen: Brief Nr. 592 an Clemens Brentano in Prag. 2. Juli 1813 (Bd. 2, S. 498). Zum Kontext dieses Briefwechsels mit Brentano vgl. außerdem den Essay von Brigitte Kronauer in dieser Levin Varnhagen-Ausgabe (Bd. 1). 11 Ebd, Bd. 2, S. 499.

300

Antje Arnold

folglich ihre Skepsis gegenüber dem geschriebenen Wort, dass nämlich der Ausdruck nicht dem Eindruck adäquat sei und so ein falsches Bild oder sogar ein Nichtverstehen auf Seiten des Lesers provoziert werden könne. Sie schreibt damit auch zeitgemäß gegen die die Wahrhaftigkeit verschleiernde Affektation an: »Mein Billett ist auch affektiert: Sie haben Recht; ich hätte viel inniger und anders schreiben mögen: doch Sie hindern mich. Und die Eil: und das Papier.«12 Dieser kurze Brief ist der Auftakt zu einer Kunstreflexion Levin Varnhagens und ihrem Selbstverständnis als Künstlerin. Sie entfaltet in einem an drei Tagen verfassten ausführlichen Brief an Brentano im August 1813 ihr epistolographisches Programm. Sie reflektiert darüber, wie das Missverstehen eines Briefs, z.B. als »Koketterie«13, zu vermeiden sei. Bereits zuvor habe sie darauf hingewiesen, dass der Brief als Gespräch mit Abwesenden daran krankt, die Rezeption des Gesagten/Geschriebenen nicht unmittelbar verfolgen zu können, dass Mienenspiel und Gestik einem Brief nicht einzuschreiben seien. Die Unmittelbarkeit eines Gesprächs habe außerdem den Vorteil der möglichen Korrektur eines Missverstehens: Levin Varnhagen beschreibt rhetorisch ausgefeilt, dass ihre Beschäftigung mit sich selbst aus den Fehlurteilen anderer herrühre und rechtfertigt so ihre angebliche Eitelkeit, verstanden werden zu wollen, als Selbstschutz. Dabei stellt sie einerseits ganz selbstbewusst ihre rhetorischen Schreibkünste aus und zieht diese in einer captatio benevolentiae andererseits ebenso unverhohlen wieder zurück: Ich schreibe ohnehin heute furchtbar schlecht: so konfuse: noch viel konfuser, als sonst. Weil sich so viel vordrängt und herauswill, und ich Ihnen mit Eins so viel Rechenschaft geben möchte, und in der schwülen Hitze doppeltes SchreibEchauffement habe. Ich kann gar nicht schreiben: und doch muß dieser Brief noch hundert Bogen groß werden.14

Ihre Worte sind deutlich: Sie kann und will nur in echauffiertem Zustand schreiben und setzt damit beim rhetorischen Modell der Selbstaffizierung zur Affizierung des Gegenübers an, das seit Mitte des 18. Jahrhundert auch die Schauspieler-Diskussion befeuert. Emotionale Wirkung auf andere erlangt, verknappt gesagt, nur derjenige, der die betreffende Emotion selbst bei sich hervorrufen kann.

12 Ebd. 13 Rahel Levin Varnhagen: Brief Nr. 597 an Clemens Brentano in Wien. 1.–4. August 1813 (Bd. 2, S. 508). 14 Ebd., Bd. 2, S. 510.

»Original-Geschichte« und »Buch des Andenkens«

301

Horazens einflussreiches Diktum von der Selbst-Affizierung als Grundvoraussetzung für emotionale Bewegung ist allerdings mit Vorsicht zu behandeln: Die Forderung des »si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi: tum tua me infortunia laedent«15 nämlich impliziert zweierlei: Zuerst bewegt die Natur die Menschen je nach Situation in ihrem Inneren, um dann in einem zweiten Schritt die Regungen des Geistes bzw. der Seele durch die interpretative Sprache auszudrücken: »post effert animi motus interprete lingua«.16 Einerseits funktioniert das Wirkungsziel der Erregung von Affekten nur durch Selbst-Affizierung – wodurch wiederum eine vermeintlich unvermittelte ›Seelenverwandtschaft‹ möglich wird. Andererseits wird das zeitliche Auseinanderklaffen von Seelenbewegung und Seelenaussprache – »Übersetzung« – deutlich. In diesem Dilemma der schriftlichen Nachahmung mündlicher Rede, verstanden als Gestus der Unmittelbarkeit, steckt auch Levin Varnhagen. Gleichwohl hindert es sie nicht daran, die Affektsprache auf ein hohes kunstvolles – man könnte auch sagen künstliches – Niveau zu heben und ins Zentrum ihres Briefwerks zu stellen. Da »Affizierung durch Selbstaffizierung […] eine erzählbare Welt«17 voraussetzt, die Levin Varnhagen im Leben selbst findet, gestaltet sie die Themen ihres Salons als private Gespräche, die seit der Frühen Neuzeit das Gegengewicht zum wissenschaftlich-gelehrten Diskurs bilden.18 Mit dieser Entscheidung befindet sie sich um 1800 in guter Gesellschaft. Ihre ganz eigentümliche Affektsprache im Brief ist es aber vor allem, die sie nachweislich im Salon so begeisterungsfähig gemacht hat. Diese Affektsprache ist – auch wenn die Mündlichkeitsfiktion der gegenteiligen Behauptung bedarf – nur in der Schriftlichkeit zu realisieren. Es lassen sich daran bestimmte Stiltugenden zeigen, die die Kunstfertigkeit Levin Varnhagens im Schriftlichen ausweisen und die (aus heutiger Perspektive gern als Nachfolge von beispielsweise Goethes Behrisch-Briefen rezipiert) gewisse Konversationsmaximen wie den Ausschluss des pathos aus dem Gespräch aufbrechen bzw. schlichtweg ignorieren. Im Gegenteil, das pathos, bei Levin Varnhagen besser mit

15 Q. Horati Flacci opera. Hg. von D.R. Shackleton Bailey. 3. Aufl. Stuttgart 1995 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), 102: »Wenn du willst, dass ich weine, ist es zunächst an dir zu leiden: dann werden mich deine Schicksalsschläge treffen« (Übers. d. Verf.). 16 Ebd., 111: »Dann gibt die Natur die Bewegungen des Geistes durch die Sprache als Übersetzerin kund« (Übers. d. Verf.). 17 Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990 (Studien zur deutschen Literatur 107), S. 141. 18 Karl-Heinz Göttert: Art. Gespräch/Dialog. In: Ulfert Ricklefs (Hg.): Fischer Lexikon Literatur. Bd. 2 (G–M). Frankfurt a.M. 1996, S. 738–757.

302

Antje Arnold

echauffement zu bezeichnen, ist geradezu die Voraussetzung für ihr Schreiben. 1824 fasst sie zusammen: »Das Abgeschmackteste ist aber, daß ich die Feder ohne höchstes Echauffement nicht führen kann.« Sie spricht von der notwendigen »Entzündung« von Geist und Erinnerungsvermögen. Damit korrespondiert ihre Behauptung, dass sie ohne »Gedankenpläne« schreibe, […] sondern Einfall, Anregung, Gedanke, Ausdruck, ist alle eine und dieselbe Explosion und ein Fluß. Hab’ ich nun eine schlechte Feder – die mich noch mehr irritiert – oder bin nervenzitternd bis zur Bläue – welches nach der ersten Seite Statt hat – erhitzt, so wird Phrase, Wort, Ausdruck, Form und Reihe der Gedanken, Periode, Ton des Ganzen, davon affiziert; kurz, holprig, fließend, gelinde, streng, scherzhaft, ruhig; je nachdem! Und beinah immer brech’ ich mittem im Erguß, ihn selbst, oder seinen Ausdruck ab.19

Levin Varnhagen wendet im schriftlichen Brief an, was sie auch im mündlichen Gespräch erfolgreich macht: • den kunstvollen, vermeintlich unsystematischen Stil der Konversation, der durch seine Ungezwungenheit gerade erst ausweist, nicht rednerisch überzeugen zu müssen, sondern plaudern zu dürfen; • die facilitas, die weit mehr als Leichtigkeit in der Auffassung und Geläufigkeit im Stil bedeutet, nämlich Umgänglichkeit, und somit die Grundlage des Umgangs, der conversatio, bildet; • die Durchmischung der Themen, die eine solche Dialogsituation in Briefform begünstigt; • das Spielerische der ars sermonis, das auf das delectare zielt und bei Levin Varnhagen bedeutet, sie werde ihre Briefpartner nicht »wie das Papier behandeln«.20 Aus diesem Grund ist es ihr auch zuwider, den vielen Nachfragen nach privater Konversation – Gesprächen unter vier Augen – nachzukommen; sie sei schließlich kein »Einsiedler«21 und eine Beichte eigne sich höchstens für die Briefkommunikation. Vielmehr basiert ihr künstlerisches Selbstverständnis auf dem Gegenteil: Ich liebe unendlich Gesellschaft: und von je; und bin ganz überzeugt, daß ich dazu geboren, von der Natur bestimmt und ausgerüstet bin. Ich habe unendliche Ge19 Rahel Levin Varnhagen: Brief Nr. 1183 an Sophie von Grotthuß in Oranienburg. 15. Dezember 1824 (Bd. 4, S. 505f.). 20 Rahel Levin Varnhagen: Brief Nr. 597 an Clemens Brentano in Wien 1.–4. August 1813 (Bd. 2, S. 517). 21 Ebd., Bd. 2, S. 511.

»Original-Geschichte« und »Buch des Andenkens«

303

genwart und Schnelligkeit des Geistes, um aufzufassen, zu antworten, zu behandlen. Großen Sinn für Naturen, und alle Verhältnisse; verstehe Scherz und Ernst: und kein Gegenstand ist mir bis zur Ungeschicklichkeit fremd, der dort vorkommen kann. Ich bin bescheiden, und gebe mich doch preis durch Sprechen: und kann sehr lange schweigen; und liebe alles Menschliche, dulde beinah alle Menschen. […] auch ich halte [Vertrauen] für das Größte im Umgang; und Umgang für das Menschlichste im Leben.22

Wie eingangs betont, benennt Levin Varnhagen ihre Konversationskultur mit neuen Worten, siedelt sie zwischen »Leben« und »Text« an, verfertigt scheinbar ungeordnet und spontan entlang romantischer Kunsttheorie ihre Briefliteratur und hat doch deren kalkulierte Memorierung im Blick. Die Konservierung ihrer Konversation ordnet sie schließlich – als »Original-Geschichte« – zwar noch selbst an, kann aber mit Karl August Varnhagen kein eigenes Buchprojekt mehr auf die Beine stellen. Vielmehr fällt es ihrem Ehemann zu, sich unmittelbar nach ihrem Tod 1833 an die Publikation zu machen. Es entstehen drei Fassungen des Buch des Andenkens, von denen die erste in einem Band 1833 als Privatdruck für den engen Freundeskreis veröffentlicht wird, die zweite ein Jahr darauf in drei Bänden und die dritte nie.23 Karl August Varnhagen steht vor der Aufgabe, die soeben als zentral identifizierte Affizierung als Voraussetzung für die so genannte Seelenverwandtschaft einzufangen, die schriftliche Fixierung aber zugleich nicht im Topos des ›toten Buchstabens‹ scheitern zu lassen. Nicht zuletzt scheint es Kleist auf die Formel gebracht zu haben, wenn er diese besondere Fähigkeit Rahel Levin Varnhagens, die es im Buch des Andenkens zu bewahren galt, in einem Billet so umschreibt: »Sie haben in Ihren Worten so viel Ausdruck, als in Ihren Augen« (vgl. Tafel 31).24 Die lebendige Levin Varnhagen in Buchform zu überführen bedeutet aber auch, sich damit auseinanderzusetzen, dass ihr Schreibprinzip Redigieren, Sortieren oder Festlegen verbietet. Gerade dies hat Karl August Varnhagen jedoch getan. Er hat, indem er das Projekt Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde bearbeitet, zugleich auch kommentiert und sortiert. Und er hat nicht nur das Briefwerk seiner Frau herauszugeben versucht, sondern auch etwas Neues daraus gemacht und sich dennoch, wie ihm viele Zeitgenossen vorwarfen, daran gehalten, nichts zu zensieren. Dass aufgrund von Zensur und Revolution eine tatsächliche Herausgabe un22 Ebd., S. 511f. 23 Vgl. zur Entstehungsgeschichte ausführlich Barbara Hahn: Rahel. Ein Buch des Denkens für die Nachwelt. In: Rahel Levin Varnhagen (wie Anm. 2), Bd. 6, S. 11–39. 24 Heinrich von Kleist als Anmerkung zu Levin Varnhagen, Rahel: Brief Nr. 520 an Alexander von der Marwitz. 23. November 1811 (wie Anm. 2, Bd. 2, S. 316), vgl. auch BKA IV/3, 709-712.

304

Antje Arnold

denkbar war, soll für diese Überlegungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass er als Herausgeber tätig war und aus der Fertigstellung des Buches nicht wegzudenken ist. Vielmehr muss betont werden, dass das groß angelegte Sammlerprojekt der Beachtung ebenso wert ist wie die Qualität der Briefe Levin Varnhagens. Als problematisch erscheint somit, dass die umfassende Neuedierung des Buchprojekts von Barbara Hahn aus dem Frühjahr 2011 als Autorin nur Levin Varnhagen nennt und Karl August Varnhagen als Herausgeber und letztlich Co-Autor dieses Buches nicht in die Titelei aufgenommen hat. Dies sei, so Barbara Hahn, deshalb geschehen, weil nicht suggeriert werden solle, Karl August »verfälschte«25 die ›Originalgeschichten‹ seiner Frau durch Eingriffe. Letztlich ist es aber nicht Karl August Varnhagen mit seinen Kommentaren oder der äußere Grund der Zensur, die das Projekt »Rahel« zum Scheitern bringen. Vielmehr ist es die Stillstellung der romantischen ›Dialogphilosophie‹ in Schriftlichkeit und überdies in eine ›in Ordnung gebrachte‹ Schriftlichkeit, die die überkomplexe Thematik des Gesprächsdialogs26 einzufrieren droht und so zu hermeneutischen Schwierigkeiten führen muss. Es zeigt sich letztlich anhand der gescheiterten Buchform aus den Briefen Levin Varnhagens ein Krisenbewusstsein im Umgang mit der Konversation als neuralgischem Punkt eines sich abzeichnenden neuen Sprachbewusstseins,27 das den Kommunikationserfolg bzw. den ständig drohenden Misserfolg von Briefeschreibenden in den Vordergrund rückt.

25 Barbara Hahn: Rahel. Ein Buch des Denkens für die Nachwelt (wie Anm. 23), S. 16. 26 Karl-Heinz Göttert: Gespräch/Dialog (wie Anm. 18), S. 738. 27 Vgl. Walter Pape: Vom Gedächtnißmahl zum gräulichen Festmahl: Kannibalismus als Metapher und Motiv bei Nestroy, Novalis und Kleist. In: Lothar Blum, Achim Hölter (Hg.): Romantik und Volksliteratur. Beiträge des Wuppertaler Kolloquiums zu Ehren von Heinz Rölleke. Heidelberg 1999 (Beihefte zum Euphorion; 33), S. 145–160.

Paweł Zarychta

»Ich würde anwesend schweigen« Zur Poetik des Trauerbriefs nach 1800 am Beispiel der Briefe Rahel und Karl August Varnhagens an Rosa Maria und David Assing 1

Der unermüdliche Briefeschreiber und -sammler Karl August Varnhagen von Ense führte sein Leben lang einen regen Briefwechsel auch mit seiner älteren Schwester Rosa Maria. Dies dokumentieren über 170 erhaltene Briefe2 aus der Zeit zwischen 1803 und 1839. Da es sich dabei um Texte aus fast vier Jahrzehnten handelt, verschaffen sie uns einen Einblick in verschiedene Lebensphasen, geben Auskunft über wichtigere Ereignisse und enthüllen dabei oftmals Emotionen, Gedanken und Sorgen der beiden Briefpartner. Diese beziehen sich auf Begebenheiten des Alltags, auf Reisen, gelesene Bücher, Besuche und Bekanntschaften, aber auch auf existentielle Momente wie Geburt und Tod von Familienmitgliedern. Briefe, die aufgrund dieser Anlässe geschrieben werden, nehmen dabei eine besondere Stellung ein, weil hier einerseits Freude bzw. Trauer bekundet werden und andererseits der Briefautor auch sehr vorsichtig auf die emotionale Befindlichkeit des Brieflesers bzw. der Briefleserin eingehen muss. Dies wiederum führt zu einer bewussten und kontrollierten Ausgestaltung des Geschriebenen, zur Verwendung eines bestimmten Repertoires an Topoi und Stilfiguren, was folglich den privaten Brief, der in der Romantik von den hergebrachten Schemata der Rhetorik befreit werden sollte, zurück in rhetorische Konventionen verfallen lässt. Im vorliegenden Beitrag soll 1

2

Der vorliegende Beitrag ist im Zusammenhang eines gerade anlaufenden, umfassenderen Forschungsprojekts zu sehen, dessen Ziel es ist, den Nachlass des Ehepaars Assing in den Beständen der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau (BJK), mit besonderer Berücksichtigung dessen Briefwechsels, wissenschaftlich zu erfassen und zu veröffentlichen. Eine genaue Zahl kann derzeit nicht angegeben werden. Die vorläufige Bestandsaufnahme führt zu der Feststellung, dass Briefe Varnhagens an Rosa Maria Assing, teilweise auch in Abschriften, die in der BJK aufbewahrt werden, mindestens über zwei Kästen verteilt sind. Bislang ist noch keine systematische Anordnung und Erfassung der Manuskripte erfolgt. Dies gilt auch für die Angaben bei Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin 1911.

306

Paweł Zarychta

dieser Rückfall ins Rhetorische am Beispiel der unveröffentlichten Trauerbriefe Karl August Varnhagens von Ense und seiner Frau Rahel, die das Ehepaar an Rosa Maria (geb. Varnhagen) und David Assing im April 1818 geschrieben hat, dokumentiert und analysiert werden. Bevor wir uns dieser Aufgabe zuwenden, sei hier zunächst auf die theoretischen und präskriptiven Äußerungen zu Trauer- bzw. Kondolenzbriefen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hingewiesen.

*** Was die allgemeine Tendenz in der privaten Korrespondenz um 1800 angeht, so lässt sich einerseits feststellen, dass die Aufhebung der klassischen Gattungslehre infolge der Schlegel’schen Idee einer ›progressiven Universalpoesie‹ sich auch in den sich immer weniger an den Konventionen orientierenden, immer subjektiver und freier gestalteten Privatbriefen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts widerspiegelt, wofür der Briefwechsel Heinrich von Kleists wohl als eines der prominentesten Beispiele genannt werden kann. Mit Robert Vellusig könnte man feststellen, dass »der private Briefwechsel sich als eigenständige kommunikative Praxis in geltungsbewußter Abgrenzung von den rhetorischen Mustern«3 in dieser Periode zu entwickeln beginnt; andererseits gibt es laut Rainer Baasner aber auch eine konservative Ausrichtung, die noch den Brieftraditionen und Regelwerken des 18. Jahrhunderts verpflichtet bleibt: Der Brief des 19. Jahrhunderts sei weiterhin stark den hergebrachten Konventionen unterworfen, weil es nicht nur im öffentlichen sondern auch privaten Briefwechsel weiterhin wichtig bleibe, nur ja »den rechten Ton« zu treffen, und weil die Korrespondenz mit ihren inhaltsarmen, auf die Etikette bedachten Umgangsformen des Bildungsbürgertums nach wie vor eine delikate Angelegenheit sei.4 Dies gilt besonders für Trauer- bzw. Kondolenzbriefe, die weiterhin den strengen formalen Vorgaben unterworfen bleiben, wie sie in Briefstellern seit jeher besprochen und kodifiziert werden. Hinweise auf Regeln zum Schreiben finden sich schon im Allzeitfertigen Briefsteller von 1692 und in August Bohses Gründlicher Anleitung zu Teutschen Briefen von 1706. Schon hier wird ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass in dieser Briefsorte Trauer bzw. Mitleid, also auch persönliche Affekte, ausgedrückt werden sollten und unbedingt ein ›natürlicher Stil‹ zu verwenden sei. Dieser

3 4

Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2000, S. 56. Vgl. auch Reinhard M.G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991, S. 49. Vgl. Rainer Baasner: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis. In: Ders. (Hg.): Briefkultur im 19. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 1–36, hier S. 15.

»Ich würde anwesend schweigen«

307

Grundsatz wird in späteren Briefstellern immer wieder hervorgehoben. So fordert beispielsweise Gellert 1751: Ob gleich alle Briefe natürlich seyn sollen: so müssen es doch die am meisten seyn, in welchen ein gewisser Affekt herrscht. Wenn man also dem andern seine Traurigkeit, sein Mitleiden, seine Freude, seine Liebe, in einem hohen Maaße zu erkennen geben […] will: so lasse man sein Herz mehr reden, als seinen Verstand; und seinen Witz gar nicht!5

Und einige Zeilen weiter: Man wisse von keiner Kunst, von keiner Ordnung in seinem Briefe. Der Beweis dieser Regel liegt in den Affekten selber. Wer recht gerührt, recht betrübt, recht froh, recht zärtlich ist, dem verstattet seine Empfindung nicht an das Sinnreiche, oder an eine methodische Ordnung zu denken.6

Gellert postuliert also für Briefe, die aus einem emotionalen Anlass verfasst werden, eine durchaus anti-rhetorische Haltung, die sich im Verzicht auf die techne, die rhetorische Kunst, äußern sollte. Stattdessen sollte der Schreibende vor allem auf seine und seines Briefpartners Affekte eingehen und sich von diesen Affekten leiten lassen. Die Wortwahl, der ornatus, und die Anordnung der Gedanken, die dispositio, würden sich bei einem solchen Verfahren von selbst ergeben. Paradoxerweise wird dieses Plädoyer für die Natürlichkeit des Briefes von Gellert mit einer Reihe von Briefbeispielen versehen, die als Muster gelten sollten. Die Natürlichkeit bleibt also auch bei Gellert der techne, auch wenn sie neu verstanden wird, verpflichtet.7 Zwar gelten die genannten Empfehlungen Gellerts in erster Linie für die Epistolographie des 18. Jahrhunderts, man kann sie aber auch als weiterhin verbindlich für den Briefwechsel um und nach 1800 betrachten, zumal sie in wenig veränderter Form auch mehrmals in den Briefstellern des 19. Jahrhunderts wiederholt werden. So schreibt zum Beispiel der anonyme 5

6 7

Christian Fürchtegott Gellert: Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig 1751, S. 79. Mehr zum Gellert’schen Verständnis der Natürlichkeit vgl. Gert Skriver: Die natürliche Rhetorik bei Gellert. In: http://tysk.au.dk/fileadmin/www.tysk.au.dk/augias/aug60_gertskriver.pdf (20.8.2012). Gellert: Briefe (wie Anm 5), S. 79. Dieses Paradoxon versucht Gert Skriver zu erklären: »Die […] Paradoxe sind jedoch nur scheinbar. Sie entstehen dadurch, dass Gellert an den Anfang einer Ästhetik gestellt wird, die erst die nächste Generation, die Sturm und Drang-Bewegung, zur Vollkommenheit bringt. Außerdem spielt die Vorstellung mit, dass Rhetorik ausschließlich mit der barocken Manier verbunden sei. Aber die übertriebene Künstlichkeit, das ›Dunkle und Schwülstige‹ in der Schreibart der vorigen Generation, wird von Gellert als schlechte Kunst betrachtet, gegen die er keine kunstlose Natürlichkeit, sondern eine bessere Kunst setzen will.« Skriver: Die natürliche Rhetorik (wie Anm. 5), S. 21.

308

Paweł Zarychta

Autor eines Briefstellers von 1827, dass man in den sogenannten Beileidsversicherungsschreiben »seine Theilnahme ungezwungen, herzlich und auf eine dem Gegenstand angemessene Weise an den Tag zu legen […] und sich vor aller Uebertreibung [zu] hüten [hat]. […] Das eigene Gefühl muß auch hier einen jeden selbst lehren, wie und in welchen schicklichen Ausdrücken er […] seine Theilnahme an den Tag zu legen hat«.8 In diesem Briefsteller wird also das Natürlichkeitspostulat Gellerts als weiterhin gültig ausgewiesen. Und auch in diesem Fall werden mehrere Briefe als Muster angefügt, die zu erkennen geben, dass sie einem festen Schema – das unten vorgestellt wird – folgen und sich einer Reihe von konventionellen Ausdrücken bedienen (wie etwa »tief bewegt«, »tief erschüttert«, » großer« bzw. »schmerzlicher Verlust«, »innigster Antheil«, »Herz« und Herzmetaphorik, Gesundheits- und Kraftwünsche, Hinweise auf Gott und das Jenseits usw.), die als Mittel der rhetorischen, d.h. der technischen Amplifikation identifiziert werden müssen. Ähnliche Anweisungen gibt Georg Carl Claudius in seinem Allgemeinen Schriftsteller von 1822. Von Claudius erfahren wir jedoch u.a. auch, dass das 19. Jahrhundert eine Veränderung der Gepflogenheiten im Bereich schriftlicher Beileidsbekundung mit sich brachte, da noch im 18. Jahrhundert eine Sitte herrschte, wonach die Hinterbliebenen verpflichtet waren, ein so genanntes Notifikationsschreiben an alle Verwandten, Familienmitglieder und Bekannten des Verstorbenen zu richten, in dem man den Todesfall bekannt machte. Es sei dabei fast selbstverständlich gewesen, dass die Benachrichtigten auf solche Schreiben zu antworten hatten, um Beileid, Trauer und Trost zu bekunden.9 Mit der Entwicklung der Presse und dank eines erleichterten Zugangs zu den Printmedien wurden Notifikationsschreiben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allmählich durch gedruckte Anzeigen ersetzt. Diese Neuentwicklung führte dazu, dass sich eine neue Sitte entwickelte, wonach die Angehörigen des Dahingeschiedenen oft ausdrücklich darum baten, auf Beileidsbezeugungen zu verzichten. Diese neue Gepflogenheit galt jedoch nicht für alle Betroffenen. Claudius nennt folgende Personengruppen als Ausnahmen: nahe Verwandte, vertraute Freunde sowie alle, mit denen man »in genaueren Verbindungen und Verhältnissen [stand] oder denen [man] eine besondere Aufmerksamkeit und Hochachtung schuldig [war]«.10 Somit waren weiterhin nahe Ver8

Vgl. F. C***: Kurzer mit den nöthigsten Regeln und Anweisungen versehener Briefsteller. Nürnberg 1827, S. 173f. 9 Vgl. Georg Claus Klaudius: Allgemeiner Schriftsteller, nebst einer kurzen Anweisung zu den nöthigsten schriftlichen Aufsätzen für das gemeine bürgerliche Geschäftsleben. Leipzig 1822, S. 281. 10 Vgl. ebd.

»Ich würde anwesend schweigen«

309

wandte und enge Freunde zum Verfassen von Kondolenzbriefen verpflichtet. Auch in Bezug auf stilistisch-rhetorische Regeln, geben die Autoren der Briefsteller entsprechende Hinweise, was man in einem Kondolenzbrief schreiben darf und wovon man absehen sollte. So wird für Briefe an einen Verwandten und Freund empfohlen, »sein Mitgefühl lebhafter« zu äußern, »die Trostgründe mit[zu]theilen, von denen wir glauben, daß sie [ihn] am meisten beruhigen können«, und auch die »erhabenen Wahrheiten unserer Religion von der Unsterblichkeit der Seele, von Gottes weisen Absichten und dem Wiedersehen nach dem Tode« zu erwähnen. Der konkrete Fall sollte also mit Hilfe der Topik relativiert und von der individuellen (finiten) auf eine allgemeine, transzendente (infinite) Ebene übertragen werden. Bei diesem Verfahren wird jedoch ausdrücklich Vorsicht geboten: »Auch müssen unsere Beruhigungsgründe nicht so vorgetragen seyn, daß wir einen falschen Erfolg voraussehen können, indem sie dem Temperamente, der Denk- und Empfindungsweise des Leidtragenden durchaus widersprechen.«11 In der Behandlung der Trauerbriefe spielt die Frage nach dem, was angemessen ist und was nicht, d.h. das Problem des rhetorischen decorum bzw. aptum eine zentrale Rolle. In dieser Hinsicht wird weiterhin die Gottsched’sche Natürlichkeit als Faustregel empfohlen: Auch vermeide man vorzüglich hochtrabende, auf Stelzen daher schreitende Worte. Alltägliche Beruhigung, in einen großen Wortschwall eingekleidet, machen den Tröster lästig – eine Thräne des Mitgefühls, der stille Ausdruck unsers theilnehmenden Herzens sind dem Leidenden erquickender. […] In allen Fällen muß der Ton dieser Briefgattung ernst und feierlich seyn. Die lebhafte Sprache des Gefühls ist nicht ausgeschlossen.12

Auf der dispositionellen Ebene geben die Autoren der Briefsteller um 1800 in etwa folgendes Aufbauschema an: Grußformel, Erwähnung des traurigen Vorfalls als Anlass des Schreibens, Versicherung der Teilnahme im Leid, Hinweis auf die transzendente/religiöse Dimension des Vorfalls, evtl. ein vorsichtiger Versuch, das Unglück zu relativieren, Versicherung der Bereitschaft zur Hilfe.13 Ein solches Schema entspricht der klassischen Dispositio-Lehre der Rhetorik, die seit der Antike auch aufs Briefeschrei-

11 Vgl. ebd., S. 282. 12 Vgl. ebd., S. 282f. 13 Vgl. die diesbezügliche Passage ebd., S. 233f.

310

Paweł Zarychta

ben übertragen wurde: salutatio, captatio benevolentiae, exordium, narratio, peroratio bzw. conclusio.14 Obwohl es nicht in den zitierten Briefstellern thematisiert wird, sollte abschließend angemerkt werden, dass Kondolenzbriefe, auch als Beileidsversicherungs- bzw. Beileidsbekundungsschreiben bezeichnet, ihrem rhetorischen Wesen nach dem genus demonstrativum zuzuordnen sind. Nach Aristoteles wird in dieser Redegattung »über Tugend und Laster, über Schönes und Häßliches« gesprochen,15 und der persuasive Zweck besteht nicht in der Provokation einer Entscheidung oder Handlung. Indes wird vor allem die rhetorische Kunst, techne, demonstriert, die Lob, Kritik und auch Affekte besonders hervorheben, d.h. amplifizieren sollte. Den Ausgangspunkt der persuasiven Texte im genus demonstrativum stellt immer die Tugend dar, die als »ein Vermögen […] sich Güter zu verschaffen und zu erhalten, und ein Vermögen, wohltätig zu sein mit vielen und großen Dingen, und zwar allen gegenüber und in jeder Hinsicht«,16 definiert wird. Im Kontext unserer Überlegungen soll dabei das Moment des ›Wohltätigseins‹ als ein Merkmal der Tugend betont werden, denn die uns hier interessierenden Beileidsbekundungen kann man ohne weiteres als Ausdruck einer wohl gemeinten Tätigkeit verstehen, die dem Briefpartner in einer schwierigen Lebenslage Trost und Erbauung spenden soll. Dies bestätigen auch allgemeine Aussagen über Kondolenzbriefe in den Briefstellern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So lesen wir zum Beispiel in der bereits zitierten anonymen Anweisung von 1827: »Im Allgemeinen bedauert man in solchen Schreiben den erlittenen Verlust oder das Leiden, das die Person betroffen, sucht sie durch passende Trostgründe zu beruhigen und ihr Muth und Kraft […] einzuflössen.«17

*** In folgenden Abschnitten des vorliegenden Beitrags soll gezeigt werden, wie diese theoretischen Prämissen beim privaten Briefwechsel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konkret umgesetzt wurden. Als Beispiele sollen dabei die Kondolenzbriefe Karl August und Rahel Varnhagens dienen, die das Ehepaar an die Schwägerschaft David und Rosa Maria Assings im April 1818 abschickte. Bevor wir uns der Analyse zuwenden, seien hier 14 Mehr über traditionelle Dispositionsschemata in Briefen vgl. u.a. Carmen Furger: Briefsteller. Das Medium »Brief« im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 140–160 sowie Vellusig: Schriftliche Gespräche (wie Anm. 3), S. 36–50. 15 Vgl. Aristoteles: Rhetorik. Übers. von Franz G. Sieveke, München 1995, I.9.1, S. 47. 16 Vgl. ebd. (I.9.4). 17 Vgl. F. C***: Kurzer Briefsteller (wie Anm. 8), S. 173.

»Ich würde anwesend schweigen«

311

kurz die biographischen Grundinformationen zum Ehepaar Assing angeführt, da es sich hier um Literaten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts handelt, die heute kaum bekannt sind. Rosa Maria Varnhagen, spätere Assing,18 wurde am 28. Mai 1783 in Düsseldorf als erstes Kind von Johann Andreas Jacob und Anna Maria Varnhagen geboren. Ähnlich wie ihre Mutter wurde Rosa Maria protestantisch erzogen, während ihr Bruder Karl August wie sein Vater der katholischen Konfession folgte. Nach mehrmaligem Wechsel des Wohnorts ließ sich die Familie Varnhagen 1796 in Hamburg nieder. Rosa Maria wird in dieser Stadt bis zu ihrem Tod wohnen. Wie in einem anonym veröffentlichten Nachruf, wahrscheinlich von David Assing selbst, dargestellt, hatte sie einen Charakter, »der die reinsten Unschuld des Herzens von einem klaren, festen Verstande durchdrungen zeigte, und der, bei aller Milde für Menschen und Welt, das eigenthümlich Gute unerschütterlich bewahrte und ausbildete. [Sie] besaß alle Eigenschaften der sorgsamen Hausfrau, der erziehenden Mutter und der gebildeten Salondame in seltnem Vereine«.19 Rosa Maria war in ihrer Jugendzeit, u.a. durch die Kontakte ihres Bruders, u.a. mit Justinus Kerner, Adalbert von Chamisso, Amalia Schoppe und Ludwig Uhland befreundet. Sie betätigte sich zunächst als Erzieherin in Hamburg und leitete zeitweilig ein Mädchenpensionat in Altona. In den 1820er und 1830er Jahren führte sie in Hamburg einen kleinen literarischen Salon, in dem die geistigen Eliten der Hansestadt und befreundete Dichter verkehrten, u.a. Heinrich Heine, Karl Gutzkow und Friedrich Hebbel. Sie betätigte sich auch literarisch und schrieb eine Reihe von Gedichten, darunter Sonette und Romanzen, die sich vor allem in der Jugendzeit an französischen Vorbildern orientierten, sowie drei Erzählungen. Ein Teil der Texte wurde noch zu ihren Lebzeiten u.a. in den Zeitschriften Der Gesellschafter und Der grüne Musenalmanach veröffentlicht. Nach dem Tod Rosa Marias gab ihr Ehemann die meisten Gedichte und die drei epischen Texte in einem Sammelband unter dem Titel Rosa Maria’s poetischer Nachlaß 18 Bei den biographischen Angaben stütze ich mich u.a. auf folgende Quellen: Ludmilla Assing: [Lebenslauf der Eltern], Manuskript, BJK, V 12; Ad. [vermutlich David Assing]: Rosa Maria Assing, geb. Varnhagen von Ense. In: Neuer Nekrolog der Deutschen, 18 (1840), Weimar 1842, S. 120–124; Wolfgang Bunzel / Red.: Assing, Rosa Maria (Antoinette Pauline). In: Killy Literaturlexikon, Bd. 1 A–Blu. Hg. von Walther Killy, Berlin 2008, S. 239f. 19 Ad. [vermutlich David Assing]: Rosa Maria Assing, geb. Varnhagen von Ense. In: Neuer Nekrolog der Deutschen 18 (1840), Weimar 1842, S. 120-124, hier S. 121f. Von der Autorschaft David Assings zeugen der emotionale Stil, die mehrfache Erwähnung des Gatten und seiner persönlichen Verdienste sowie die Ankündigung des von ihm zum Druck vorbereiteten Nachlasses Rosa Maria Assings.

312

Paweł Zarychta

(1841) heraus. Rosa Maria Assing starb an einem monatelangen Leiden am 22. Januar 1840. Ihr Ehemann David Assur, wie sein ursprünglicher Name lautete, wurde am 12. Dezember 1787 in Königsberg als Sohn des jüdischen Kaufmanns Levi Assur und dessen Frau Caja geboren.20 Er studierte Medizin in Halle, Tübingen und Wien und promovierte 1807 bzw. 1808 in Königsberg. Während der Studienzeit knüpfte er Kontakte zu dem Dichter Justinus Kerner und über ihn zu der sogenannten Schwäbischen Dichterschule (darunter zu Gustav Schwab) und u.a. zu Adalbert von Chamisso. Ebenfalls über Kerner, mit dem David Assur eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte, lernte er Karl August Varnhagen (von Ense) und später dessen Schwester Rosa Maria kennen, mit der ihn zunächst ein Briefwechsel und später das Band der Ehe verbinden sollte. 1811 erblindete Assur infolge eines missglückten chemischen Experiments an einem Auge, was seinen Hang zu Depressionen verstärkte.21 Die Beziehung zwischen Rosa Maria und David Assur entwickelte sich allmählich und nicht ohne Schwierigkeiten vor dem Hintergrund der napoleonischen Kriege, bei denen er 1813/14 als Regimentsarzt sowohl beim russischen als auch beim preußischen Militär diente. Problematisch für die Beziehung waren auch konfessionelle Fragen. Der junge Arzt entstammte nämlich einer jüdischen Familie, während sie, wie schon angemerkt, protestantisch erzogen worden war. Noch vor Kriegsende ließ sich Assur in Hamburg nieder, wo er im Frühjahr 1816, wohl aus praktischen Überlegungen heraus, um etwa uneingeschränkt praktizieren oder aber auch heiraten zu dürfen,22 evangelisch getauft wurde und seinen Bürgereid ablegte. Seitdem trug er den einge20 Bei diesem biographischen Überblick stütze ich mich auf folgende Quellen: Ludmilla Assing: [Lebenslauf der Eltern], Manuskript, BJK, V 12; Hans Schröder: Assing, David. In: Ders.: Lexikon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart. Hamburg 1849, H. 1, S. 105–107; Johann F. Merzdorf: Assing, David. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Leipzig 1875, Bd. 1, S. 624f. 21 Vgl. Rosa Maria Assing (Varnhagen) an David Assing (Assur), 23. Dezember 1811, Manuskript BJK, V 12: »Nicht allein des letzten Unfalls wegen bedaure ich Sie, denn dieser, obgleich ein Unglück, wäre noch zu ertragen mit einem sonst heitern Gemüth, […] sondern schon früher habe ich einen stillen Schmerz in Ihrer Seele geahnt, der jede Lebensfreude von Ihnen verscheucht und Sie alles umher in trübem Licht sehen läßt, daß so viel Schönes und Gutes was sich auf der weiten Erde hin und her bewegt für Sie keinen Reiz hat, und Sie deswegen bedauert.« 22 Rosa Maria Assing (Varnhagen) schreibt schon am 6. Oktober 1805 in einem Brief an ihren Bruder (Manuskript, BJK, V 16), in dem sie die Annahme der Stelle einer Erzieherin in einem jüdischen Haus erwägt, eindeutig und selbstbewusst: »[I]n meinen Handlungen [sollen] nicht die Vorurtheile und Rücksichten der Mengen [meine Entscheidungen] bestimmen«. Daher ist es anzunehmen, dass die Konversion nicht auf den persönlichen Druck seitens Rosa Marias bzw. ihrer Familie zurückzuführen ist.

313

»Ich würde anwesend schweigen«

deutschten Nachnamen Assing, während er zeitweise seine Briefe und Schriftstücke mit ›David Assur Assing‹ bzw. ›David A. Assing‹ unterschrieb.23 Das literarisch aktive und interessierte Ehepaar pflegte Kontakte zur sogenannten Schwäbischen Dichterschule, beteiligte sich z.B. am Deutschen Dichterwald (1811) von Justinus Kerner und am Rheinischen Odeon. Der Tod seiner Ehefrau war für David Assing ein erschütterndes Erlebnis, das er nicht mehr verkraftete. Er starb kurz nach seiner Gattin am 5. April 1842. Der Ehe entstammten drei Kinder, ein Sohn namens Carl Eginhard und die Mädchen Ottilie (1819–1884) und Ludmilla (1821–1880). Die beiden Töchter betätigten sich bekanntlich wie ihre Eltern literarisch und publizistisch, Ludmilla wurde zudem nach dem Tod Karl August Varnhagens zur Verwalterin und Herausgeberin dessen Nachlasses. Carl Eginhard, der den ersten Namen zu Ehren von Rosa Marias Bruders trug, wurde in einer schwierigen und schmerzhaften Entbindung am 9. Juni 1817 geboren, wovon der unveröffentlichte Doppelbrief Karl August und Rahel Varnhagens vom 17. Juni 1817 an David Assing berichtet.24 Zehn Monate später, Mitte April 1818, starb der Erstgeborene, was die Familie Assing/Varnhagen erschütterte. Aus diesem traurigen Anlass verfassten Karl August Varnhagen und seine Frau Rahel insgesamt drei Kondolenzbriefe an die trauernden Eltern. Im Folgenden sollen diese Texte einer kurzen Analyse unterzogen werden, indem mit Hilfe der rhetorischen Begriffskategorien Einblicke in die Poetik des Kondolenzbriefes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegeben werden sollen.

*** Als erstes sei das Kondolenzschreiben Karl Augusts Varnhagens an seine Schwester Rosa Maria vom 19. April 1818 passageneweise angeführt und analysiert: Geliebteste Schwester! Das dacht’ ich nicht, als ich freudig deinen Brief erbrach, freudig wieder endlich Nachrichten von dir zu erhalten, daß ein so trauriger Inhalt mich erwartete! Heftig hat der Anfang deines Briefes mich erschüttert, ich konnte nur mit Mühe mich faßen, als Rahel eintrat, und durch die Art ihrer lebensregen 23 Vgl. z.B. Rosa Maria’s [Assings] Poetischer Nachlaß. Hg. von D.A. Assing, Altona 1841. 24 Varnhagen schreibt hier: »Ich habe keine Worte, um dir meine Empfindung zu schildern; das Leiden meiner armen Schwester erschütterte mich im Innersten, ich hatte Mühe die dann doch fröhliche Botschaft aus solchem Jammer zu entwinden«; ähnlich schreibt Rahel in dem angehängten Brief: »Sie sehen meine herzliche innige Gratulation kann auch nicht freÿ aus mir heraus. Ich war gestern schwach, u sehr erschüttert von dem Leid der Armen Mutter.« Karl August Varnhagen von Ense / Rahel Varnhagen an David Assing, 17. Juni 1817, Manuskript BJK, V 16.

314

Paweł Zarychta

Theilnahme mich zugleich noch mehr erschütterte und stärkte. Ich fühle, was du verloren hast, geliebte Schwester, ich fühle ganz deinen Zustand mit dir, die Betroffenheit, die Leere, die große tiefe Störung des innersten Gemüths! Was soll ich dir sagen? Es sind hier alle Worte zu wenig! Ich möchte bei dir sein, dich an mein Herz drücken, und dir durch Gegenwart und schweigende Thätigkeit deinen Schmerz tragen helfen; ich glaub’ es dir, daß es der größte ist, den du je erfahren, mein armes Röschen!25

Wie es die Regeln vorsehen, beginnt der Brief mit einer Grußformel, der salutatio, anhand deren sich in diesem Fall auch die besondere Betroffenheit zeigt. Die meisten Briefe an seine Schwester eröffnet Varnhagen mit »Meine theure Schwester«, »Liebe Schwester« bzw. »Liebe Rosa«, und hier schreibt er ausnahmsweise »Geliebteste Schwester!« Die Grußformel wird in anderen Briefen überdies in der Regel dem Fließtext mit einem Devotionalraum vorangestellt,26 während Varnhagen sie hier direkt in das Briefkorpus einbaut, was die Unmittelbarkeit des Schreibens und die Spontaneität des Ausdrucks zeigen sollte. Da der Brief jedoch – im Gegensatz zu dem noch zu analysierenden Brief Rahels – keine Streichungen und Berichtigungen beinhaltet, muss angenommen werden, dass diese Unmittelbarkeit und Spontaneität nur suggeriert werden sollte und der ganze Brief ins Reine abgeschrieben worden ist. Der salutatio folgt eine Passage, die auf dem Topos nach den Zeitumständen beruht, dem locus a tempore, der hier zu einer antithetischen Gegenüberstellung von Freude über den erhaltenen Brief und Trauer über dessen Inhalt ausgestaltet wird. In einer Reihe von emphatischen Sätzen werden die klassischen Schlüsselbegriffe eines Kondolenzbriefs angeführt: »erschüttert«, »Theilnahme«, »Schmerz«, »verlieren«, »Leere«. Diese Wörter dienen als Gerüst, um die persönliche Betroffenheit, aber auch das Mitleiden des Briefautors durch Mittel der rhetorischen Amplifikation gemäß den Regeln des genus demonstrativum (z.B. durch die anreihende Klimax »die Betroffenheit, die Leere, die große tiefe Störung« und die darauf folgende exclamatio) stärker zur Geltung zu bringen. Der Fokus liegt jedoch weiterhin bei der Briefempfängerin und ihren möglichen Gefühlen bzw. Affekten. Dies entspricht innerhalb der dispositio der für die Einleitung einer Rede typischen captatio benevolentiae. Varnhagen versichert hier nicht nur seine innigste Teilnahme an der Trauer seiner Schwester, sondern thematisiert auch die Notwendigkeit, das Unaussprechliche, das im Falle des physischen Beisammenseins mit den Trauernden zu Verschweigende, in Worte zu fassen. Varnhagen greift dabei die bewährte 25 Diese und die nachfolgenden Passagen des Briefs werden nach dem Manuskript Karl August Varnhagen von Ense an Rosa Maria Assing, 19. April 1818, BJK, V 16, zitiert. 26 Vgl. zur Briefgestaltung auch den Beitrag von C. Socha in diesem Band.

»Ich würde anwesend schweigen«

315

rhetorische Figur der dubitatio auf, womit der Redner seinen Standpunkt durch »die gespielte rednerische Hilflosigkeit« zu kräftigen sucht.27 Die dubitatio wird vornehmlich dort verwendet, wo Zweifel, Skrupel oder Ratlosigkeit in Anbetracht des Übels, des Unglücks usw. amplifiziert werden sollten. So fragt auch Varnhagen nach der Todesnachricht rhetorisch »Was soll ich dir sagen?« und antwortet in einer subiectio: »Es sind hier alle Worte zu wenig! Ich möchte bei dir sein, dich an mein Herz drücken, und dir durch Gegenwart und schweigende Thätigkeit deinen Schmerz tragen helfen; ich glaub’ es dir, daß es der größte ist, den du je erfahren, mein armes Röschen!« In dieser gesamten dubitativen und amplifizierenden Passage wird das zentrale Paradoxon deutlich, das Kondolenzbriefen ihrem Wesen nach innewohnt: Der im 18. Jahrhundert zum Gemeinplatz gewordene und Anfang des 19. Jahrhundert in Briefstellern häufig wiederholte Ausspruch, Briefe seien nichts anderes als eine schriftliche Unterredung mit einer abwesenden Person,28 scheint in Bezug auf die Trauer- bzw. Kondolenzbriefe seine Gültigkeit zu verlieren. In den meisten persönlichen Briefen wird zwar der Wunsch deutlich, wie Baasner bemerkt, »einer anderen Person in Gedanken nahe zu sein, mit ihr in Gedankenaustausch zu treten, unabhängig von der Entfernung […], wobei die geistige Nähe nicht durch die unmittelbare körperliche Nähe der anderen gestört wird«.29 Somit wird gerade im Fall von privaten Beileidsbekundungen eher das Verlangen nach der körperlichen Nähe – wie im Brief Varnhagens – laut, da diese erst eine in Trauerfällen übliche nonverbale Kommunikation möglich machte. Die physische Entfernung zwingt die Brief-Autoren zu einem Versuch, die üblichen Gesten und das Beisammensein mit den Hinterbliebenen (hier: »an das Herz drücken«, »schweigende Thätigkeit«) in das Medium der Sprache zu übersetzen und damit die physischen Gegebenheiten rhetorisch zu überbrücken. Die Qualifizierung des Briefs als ein schriftliches Gespräch anstatt einer mündlichen Unterredung verliert damit bei Kondolenzbriefen seine Gültigkeit, weil diese Texte in einer Situation verfasst werden, in der die sprachliche Kommunikation eigentlich in den Hintergrund treten 27 Mehr zur Figur der dubitatio vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1990, S. 383–384, §§ 776– 778. 28 Die Feststellung, dass ein Brief ein schriftliches Gespräch mit einer abwesenden Person ist, gehört zu den klassischen Eröffnungssätzen der Briefsteller im 18. und 19. Jahrhundert, vgl. z.B. Gellert: Briefe (wie Anm. 5), S. 3; J.D.F. Rumpf: Allgemeiner Briefsteller für Deutsche zur Bildung des bessern Geschmacks im gewöhnlichen und schwierigen Briefschreiben. Berlin 1821, S. III u. S. 2 oder Johann Christian Vollbeding: Neuester gemeinnützlicher Briefsteller für das bürgerliche Geschäftsleben. Berlin 1820, S. 3. 29 Baasner: Briefkultur (wie Anm. 4), S. 2.

316

Paweł Zarychta

müsste. Hingegen provoziert die physische Entfernung gerade das, was am Ende zur Rhetorisierung dieser Briefsorte führt. Dies wird auch in dem Brief Varnhagens deutlich. In folgenden Abschnitten seines Briefes verlagert er seinen Fokus von der Schwester und ihrem Schmerz auf seine eigenen Erfahrungen und Überlegungen, was ihn am Ende eine verallgemeinernde Perspektive annehmen lässt: Ich sollte gestählter sein gegen die Verwüstungen des Todes im Leben, weil ich sie in Wirklichkeit und Gedanken stets reichlich im Auge gehabt; aber was mich stählen sollte, macht meine Empfindungen nur weicher und reizbarer. Ich kann sagen, daß kein Gegenstand mir täglich und stündlich so wiederkehrend vorschwebt, so meine Gedanken erregt und beschäftigt, wie die Vorstellung des Endes dieses Lebens, des Vergehens überhaupt in Welt und Zeit. Beruhigt über die quälenden Ungewißheiten, die sonst so leicht mit solchen Betrachtungen sich verbinden, beruhigt im Ganzen, wenn auch im Einzelnen schwankend, finde ich dem Leben überhaupt aus diesem Stoffe eine ernste harte Farbe zugemischt.

Zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht Varnhagen in diesem Teil seines Briefes, der mit den rhetorischen Termini als narratio zu bezeichnen ist, eigene, nicht weit in der Vergangenheit liegende Erfahrungen aus der Zeit der napoleonischen Kriege 1813–1815, in denen er als Hauptmann der österreichischen und russischen Armee alltäglich mit Tod und Sterben konfrontiert war. Auch in dieser Passage geht Varnhagen antithetisch vor, indem er die Begriffe »stählen« und »weicher« als Schlüsselbegriffe gegenüberstellt, die wiederum zu verallgemeinernden Feststellungen über das »Vergehen in Welt und Zeit« führen. Dieser erste Teil der narratio wird mit einem durch Gedankenstrich und Ausrufezeichen hervorgehobenen Satz abgeschlossen: Die Furcht des Verlierens ist mit jedem Empfangen schon gegeben, sie knüpft sich an jedes Verhältniß und Besitzthum –!

Diese Formulierung, welche die bisherigen Gedanken zusammenfasst, hat hier eindeutig die Funktion einer sententia. In der rhetorischen Systematik ist diese Figur als ein infiniter (nicht auf einen Individualfall begrenzter) Gedanke definiert, der als Beweis oder aber als Wortschmuck verwendet wird. Lausberg stellt fest: »Als ornatus gibt die sententia dem finiten Hauptgedankengang eine infinite und damit philosophische Erhellung«.30 Damit wird deutlich, dass Varnhagen die für Kondolenzbriefe typische und in Briefstellern empfohlene Strategie verfolgt, den individuellen Fall auf eine 30 Vgl. Lausberg: Handbuch (wie Anm. 26), § 872, S. 431.

»Ich würde anwesend schweigen«

317

religiöse bzw. philosophische Ebene zu übertragen. Mit rhetorischen Termini wird ein solches Abstraktionsverfahren als Statusveränderung bzw. -verschiebung bezeichnet. Dabei wird eine causa finita mit Mitteln der rhetorischen techne in eine causa infinita überführt. Der hervorgehobene, sprichwortartige Satz, die sententia, markiert eindeutig diesen Übergang vom Individuellen zum Allgemeinen, was in weiteren Passagen des Briefes noch deutlicher zur Geltung kommt: Den ganzen Winter hindurch machten solche Gedanken keinen unwesentlichen Theil meines innern Betriebs der Seele aus; ich dachte nicht, daß sich daran sobald eine Erfahrung reihen sollte, zu der sie als Vorbereitung erscheinen könnten! Jetzt muß von Hamburg mir solche schmerzliche Kunde eintreffen! – Ist es uns zu verdanken, wenn wir meinen, es sei so sehr viel doch nicht mit dem Leben, und nicht grade alles daran wenden? Jeder betrübende Fall, besonders solcher Art, leitet zu Höherem, sei es nun religiös oder philosophisch angesehn, und das wir doch wieder, weil es unerreichbar und unergründlich ist, nicht immer erstreben können, sondern wir müssen ....... immer aufs neue in das frische Weiterleben zurück, und Heiteres und Schönes faßen und geben! Das wird dir, geliebte Schwester, am wenigsten fehlen, die du ein so braves Herz und so wackre Verhältnisse hast – auch theure Hoffnungen darfst du einem nicht zürnenden Geschick vertrauen. Das weiß ich, liebes Röschen, aber ich traure darum nicht weniger mit dir, und fühle die Last, die dieser Augenblick auf dein Herz wirft! Ein theures Gut für Euch in dieser Bedrängniß ist euer fortdauerendes liebevolles Verbindungsglück! Möge der Himmel Euch darin erhalten und segnen! Auch mir liegt in solchem Verhältniß das höchtse Glück des Lebens, um deßentwillen es schon werth wäre gelebt zu haben –!

Die hier erfolgte Veränderung des Status vom Finiten zum Infiniten, vom Individuellen zum Allgemeinmenschlichen erfüllt eindeutig die in den Briefstellern empfohlene rhetorische Strategie, die trauernde Person »durch passende Trostgründe zu beruhigen und ihr Muth und Kraft […] einzuflössen«.31 Varnhagen versucht dies durch seine Hinweise auf die philosophisch-religiöse Dimension des Todes, auf dessen unergründliche Erhabenheit (»Jeder betrübende Fall, besonders solcher Art, leitet zu Höherem«) sowie durch einen Aufruf zur Hoffnung und zum Weiterleben im Umkreis der liebenden Familie (»wackre Verhältnisse«, »euer fortdauerndes liebevolles Verbindungsglück«) zu erreichen. Somit entspricht die dispositionelle Anordnung des Varnhagen’schen Kondolenzbriefs auch in dieser Hinsicht den oben genannten Regeln der zeitgenössischen Briefsteller. In den drei folgenden Abschnitten des Briefs, die aus Platzgründen nicht zitiert werden können, versichert Varnhagen seiner Schwester, dass auch seine Frau Rahel am Schmerz der Hinterbliebenen »innigsten Antheil 31 Vgl. F. C***: Kurzer Briefsteller (wie Anm. 8), S. 173.

318

Paweł Zarychta

nimmt«. Dann berichtet Varnhagen kurz darüber, wie er und Rahel den Winter 1817/18 verbracht haben. Im vorletzten Abschnitt legt er den Fokus wieder auf Rosa Maria Assing, diesmal jedoch in Verbindung mit seiner eigenen Person. Varnhagen erinnert sich hier nämlich an die gemeinsame Kindheit,32 womit er zum einen seine große Sehnsucht nach der Schwester ausdrücken, zum anderen ihre Gedanken auf positive Ereignisse aus der Vergangenheit leiten will. Des Weiteren präsentiert sich Varnhagen als liebender Bruder, der hofft, in Zukunft in der Nähe seiner Schwester wohnen und ihr in schwierigen Lebenslagen beistehen zu können. Diese als Parenthesen zu kennzeichnenden Abschnitte runden die zuvor eingeleitete Trost- und Erbauungsstrategie ab. Zum Abschluss des Briefes kehrt Varnhagen zu seinem Hauptgedankengang zurück und stellt abermals die trauernde Schwester in den Mittelpunkt. In den letzten Sätzen seines Schreibens, die rhetorisch als peroratio zu klassifizieren sind, wiederholt der Autor seine positive Grundbotschaft, die den Inhalt des gesamten Briefs bündig zusammenfasst: Lebe wohl und glücklich, liebes Röschen, und faße und erheitre dich, zu frischem Leben in heitrer Kraft! Es ist uns Menschen doch nichts anders übrig. Grüße bestens und herzlichst Mama, die gewiß auch sehr gelitten hat! Mögen ihr neue Freuden Ersatz gewähren! Lebe wohl, theure Schwester! In innigster treuster Liebe dein | KAVvE. | Karlsruhe, den 19. April 1818. | Abends spät.

Der ganze Brief setzt damit nicht nur das von den zeitgenössischen Briefstellern empfohlene Schema der dispositio – von der salutatio bis hin zur peroratio – um, sondern ebenso werden die für einen Kondolenzbrief in Regelwerken vorgesehenen rhetorischen Verfahren, Topoi, Formulierungen und Schlüsselbegriffe angewendet. Auch wenn der Brief Varnhagens stellenweise die Züge einer vertraulichen, fast intimen Nachricht trägt, ist seine Rhetorik weit von dem entfernt, was unter dem Begriff der »Natürlichkeit« postuliert wurde.

32 Sowohl hier als auch in den Memoiren werden die gemeinsamen Kinderjahre Karl Augusts und Rosa Marias als sehr glücklich dargestellt. Vgl. Karl August Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. In: Ders.: Werke in fünf Bänden. Hg. von Konrad Feilchenfeldt, Bd. I, Frankfurt a.M. 1987, S. 18: »Meine Schwester, Rosa Maria, doch gewöhnlich Röschen genannt, um anderthalb Jahr älter, gewährte mir das Glück einer lieblichen, in Spiel und Ernst gleich wohltätigen Genossenschaft und dabei eines reiferen Vorbildes, für Rat und Anhalt immer bei der Hand. Wir liebten uns wahrhaft, hatten ein unbeschränktes Kindervertrauen zueinander, und wenn ja kleine Zänke eintraten, dessen ich mich doch kaum erinnere, so gingen sie schnell und spurlos vorüber.«

319

»Ich würde anwesend schweigen«

*** Einen separaten Kondolenzbrief schreibt Karl August Varnhagen an seinen Schwager David Assing: Ich fange für dich, geliebter Schwager, noch ein besonderes Blatt an. Heute Abend bekam ich eure Briefe, ich kam gerade vom Hofe, wo die Hochzeit des Fürsten Fürstenberg gefeiert worden war. Tief im Innersten ergriff mich die Trauernachricht. Der Anblick der zarten, schönen Haaren die du mit so freundlichem Sinn mir mitgeschickt, bewegte mich zu den wehmüthigsten Empfindungen. Ich danke dir, lieber Aßing! Du bist meiner Theilnahme an deinem und Röschens Schmerz versichert! Könnte ich nur beitragen Euch zu trösten und zu erheitern, die Entfernung hemmt nicht nur die That, sie bricht auch das Wort! Des Wortes bedürft’ Ihr auch nicht, eure Briefe zeigen euren Schmerz zu würdig, als daß er zu besprechen wäre. Ich würde anwesend schweigen, um so mehr entfernt! Aber euren besten Trost habt Ihr in eurer treuen, dauernden Liebe, in der glücklichen Vereinigung. Laßt sie Euch zu neuer Kraft und Heiterkeit beseelen! — Meine geliebte Rahel war sehr erschüttert; sie grüßt dich herzlichst und wünscht euch alles Heil und Segen! Schreibe mir bald ein Wort wieder von deinem und Rosa’s Befinden! Arme, arme Freunde! — Es war kein Tag vergangen, wo ich nicht Euer und eures Kindes innigst gedacht hätte. — Leb wohl, geliebter Schwager, faße dich um Rosa’n zu trösten. Leb wohl und bleibe der innigsten Mitempfindung und heißesten Liebe versichert deines treuen / KAVvE.33

Dieser Brief ist um etwa zwei Drittel kürzer als jener an die Schwester und unterscheidet sich davon deutlich in seinem Grundton, der nicht so intim und direkt ist wie im vorher besprochenen Fall. Trotzdem lassen sich bereits nach oberflächlicher Betrachtung Gemeinsamkeiten hinsichtlich der vorher festgestellten formalen Momente finden. Wie im Brief an die Schwester geht die Argumentation auch hier vom Topos nach den Zeitumständen aus – wir erhalten dabei zusätzlich die Information, dass man sich sich in Todesfällen in der Familie Haare des Verstorbenen zuschickte – und sofort im Anschluss wird Teilnahme und Beileid bekundet. Auch in diesem Brief greift Varnhagen den Topos der verbalen Hiflosigkeit in Anbetracht des Leidens auf: »Ich würde anwesend schweigen, um so mehr entfernt!« Im nächsten Schritt geht der Briefautor zum Trostspenden über, was durch Hinweise auf die Liebe des Ehepaares erfolgt. Im gesamten Brief werden auch die zentralen Schlüsselworte eines Kondolenzbriefs verwendet: »tief ergreifen«, »wehmütigste Empfindungen«, »Theilnahme«, »trösten«, »erheitern«, »Schmerz« usw. Trotz der Kürze seines Briefs und der eher distanzierten Haltung setzt Varnhagen also

33 Karl August Varnhagen von Ense an David Assing, 19. April 1818, Manuskript BJK, V 16.

320

Paweł Zarychta

auch in dem Brief an den Schwager die zeitgenössischen Briefkonventionen um.

*** Zum Schluss sei noch der Brief Rahel Varnhagens an David Assing angeführt und kurz besprochen, den sie aus demselben Anlass schrieb und als Anhang dem eben zitierten Brief ihres Gatten beifügte:34 Es ist über den garstigen Zaubertodt so wenig zu sagen – u doch sagt’ ich gestern so viel über den von Ihrem kleinen Söhnchen – u das beßte sagen Sie u Rosa selbst: so, daß ich schweigen möchte. Wir faßen nicht mehr viel in unserer Seele darum heilt uns wie Sie sagen die Zeit! – sonst ist es wirklich nicht zu verschmerzen das Sterben eines so lieben Creatürchen zu sehen. Man behält’s immer vor Augen! Ich wünsche Ihnen Beÿden bald ein andres Kindchen u möchte wo möglich Ihnen das Glück was Sie in einander finden noch lebendiger machen. Aber so weise man seÿn kann sind Sie selbst. Beÿde. Rosa ihr ruhiger, weiser einfacher Brief war desto mehr Abbild des wahren Schmerzes! Möge Gott erlauben, daß dies Ihr letzter seÿ! Fast möcht’ ich sagen, wir wollen nicht zu danken vergeßen, daß das Bübchen dem nun nicht ausgesetzt ist. Aber solch stiere Gedanken sind nicht tröstlich ich kann mich nur ihrer nicht erwehren u bin meist verdrießlich wenn Freunde Trauer haben. Seÿn Sie beÿde meines innigsten Antheils in allem was Sie betreffen kann gewiß, wenn ich ihn auch heüte schroff ausdrücken muß. Ihre R.35

Eine erste Analyse dieses Briefs führt sogleich zu der Feststellung, dass zwar auch hier die für Beileidschreiben typischen Schlüsselbegriffe wie z.B. »Antheil« und »Schmerz« erwähnt werden, die Anordnung der Gedanken sich aber keineswegs dem oben genannten Schema zuordnen lässt. Rahel eröffnet den Brief nicht einmal mit einer klassischen Grußformel, sondern beginnt ihn in medias res, ohne einem bestimmten Topos als Ausgangspunkt für weitere Sätze oder Argumente zu folgen. Zwar wird auch hier die Schwierigkeit des Sprechens über den Tod thematisiert, aber Rahel bedient 34 Bemerkenswert ist, dass Rahel Varnhagen ihren Kondolenzbrief beinahe ausschließlich an David Assing richtet. Rosa Maria Assing und deren Familie finden auch in den Briefen der Gattin Varnhagens sehr selten Erwähnung. Darum ist es schwierig zu beurteilen, was für ein Verhältnis sie zu ihrer Schwägerin hatte. In einem der wenigen Briefe, in dem Rahel Varnhagen auf Rosa Maria Assing eingeht, schreibt sie von einem Besuch der Schwägerin mit ihren zwei Töchtern Ludmilla und Ottilie bei den Varnhagens: »Eine liebe gute, tief gebildete Frau und Mutter. Ich hatte sie nie gesehen; und dann ganz vertraut den tag durchbringen strengte mich an.« Überdies sind nach meiner jetzigen Kenntnis nur sechs Briefe und zwei Billets von Rahel Varnhagen an Rosa Maria Assing (z.T. nur als Abschriften) überliefert. 35 Rahel Varnhagen an David Assing, 19. April 1818, Manuskript BJK V 16.

»Ich würde anwesend schweigen«

321

sich nicht der Figur der dubitatio oder einer simulierten verbalen Hilflosigkeit. Indes betont sie, dass sie über den Tod des Assing-Sohns durchaus viel gesprochen habe, in diesem Brief aber davon absehen möchte, weil »das beste« schon von den Eltern selbst gesagt wurde. In rhetorischen Termini wäre diese Sinnfigur als praeteritio zu klassifizieren, die in der »Kundgabe der Absicht, gewisse Dinge auszulassen«, besteht36. Man sollte jedoch bei der Autodidaktin Rahel nicht davon ausgehen, dass sie rhetorische Figuren bewusst gebraucht. Im Gegenteil zeugen sowohl die äußere Form – Streichungen, Auslassungen, orthographische Fehler – als auch die Konstruktion des Briefes davon, dass hier keine persuasive Strategie angewendet wird. Dies bestätigt Rahel Varnhagen selbst, die ihre eigene epistolographische Verfahrensweise im Brief an den schweizerischen Publizisten Ignaz Paul Troxler »unmethodisch« nennt: »Ich will nämlich, ein Brief soll ein Porträt von dem Augenblick sein, in welchem er geschrieben ist«, stellt sie ausdrücklich fest. Und anderer Stelle desselben Schreibens steht: »Ich kann nur Briefe schreiben; und manchmal einen Aphorism; aber absolut über keinen Gegenstand, den man mir oder ich mir selbst vorlegen möchte.«37 Diese Unabhängigkeit von Konventionen lässt Rahel Varnhagen auch im oben zitierten Brief zur Geltung kommen. Sie fasst ihre Beileidsbekundungen und Trostworte in kurze Sätze, die zu keiner argumentativen Struktur, zu keiner narratio ausgebaut werden, die von einer besonders starken Identifikation mit den Trauernden zeugen soll. Der Satzbau ist bestimmt durch das Fragmentarische, das Bruchstückhafte, und der Fokus der Aussagen verändert sich mit fast jedem Satz, so dass man nur schwer eine tiefe Teilnahme am Schmerz der Hinterbliebenen erkennen kann. Zudem durchbricht sie das weibliche Rollenklischee, nach dem von weiblichen Briefen eine größere Affektiertheit erwartet würde, indem sie eine gewisse emotionale Kühle nicht zu unterdrücken versucht. Formulierungen wie »Ich wünsche Ihnen Beÿden bald ein andres Kindchen«, »wir wollen nicht zu danken vergeßen, daß das Bübchen dem [Schmerz] nun nicht ausgesetzt ist« oder »Seÿn Sie beÿde meines innigsten Antheils […] gewiß, wenn ich ihn auch heüte schroff ausdrücken muß« überraschen in einem Kondolenzbrief. Dass Rahel Varnhagen die Regeln, das decorum (aptum) dieses Briefgenres verletzt, scheint ihr jedoch bewusst zu sein, zumal sie dies in ihrem Brief selber konstatiert: »Aber solch stiere Gedanken sind nicht tröstlich«. Und dennoch schreibt sie den Brief nicht neu oder streicht oder ändert zumindest die genannten Stellen, was sie 36 Vgl. Lausberg: Handbuch (wie Anm. 26), §§ 882–886, S. 436–438. 37 Rahel Levin Varnhagen an Ignaz Paul Troxler, 7. Januar 1816. In: Rahel Varnhagen. Briefwechsel. 4 Bde. Hg. von Friedhelm Kemp. München 1979, S. 96.

322

Paweł Zarychta

folgendermaßen begründet: »[I]ch kann mich nur ihrer [Gedanken] nicht erwehren u bin meist verdrießlich wenn Freunde Trauer haben.« Wie Herta Schwarz feststellt, sprengt Rahel Varnhagen in ihren Briefen regelmäßig die traditionellen Formen,38 indem sie sich nicht nach hergebrachten Konventionen richtet, sondern ihre Texte als spontane Momentaufnahmen erachtet. Dies gilt auch für ihre Kondolenzbriefe, nicht nur für den hier angeführten, sondern etwa auch für den an Karoline von Woltmann vom 26. März 1818 oder den an Rosa Maria Assing vom 17. August 1826.39

*** Dieser kurze Vergleich der Kondolenzbriefe Karl August Varnhagens und seiner Frau Rahel dokumentiert beispielhaft die zwei Entwicklungslinien in der Geschichte des deutschen Briefes. Einerseits orientieren sich die Beileidsbekundungen Varnhagens noch immer eindeutig an den Lehren der klassischen Rhetorik und der zeitgenössischen Briefsteller, was von der weitgehend konservativen Haltung der deutschen Briefeschreiber und des bürgerlichen Publikums zeugt. Auf der anderen Seite sind die Kondolenzbriefe Rahels der neuen, romantischen Ästhetik verpflichtet, welche die hergebrachten Konventionen sogar bei diesem heiklen Briefgenre missachtet und verwirft. Erst Autorinnen und Autoren wie Rahel Varnhagen setzen das Postulat der Natürlichkeit und der sich nach den Affekten orientierenden Unmittelbarkeit des Ausdrucks, das für diesen Texttyp mindestens seit einem halben Jahrhundert ständig wiederholt wurde, in einem größeren Ausmaß um. Mit Herta Schwarz lässt sich konstatieren, dass erst von diesem Zeitpunkt an »die Fixierung des Augenblicks und die Schilderung der Ereignisse in ihrer Kontingenz, Momentanismus und Diskontinuität«40 allmählich zu Merkmalen des modernen Briefwechsels werden.

38 Vgl. Herta Schwarz: »Brieftheorie« in der Romantik. In: Angelika Ebrecht, Regina Nörtemann, Herta Schwarz (Hg.): Brieftheorien des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays. Stuttgart 1990, S. 225–238, hier S. 231. 39 Vgl. Rahel Varnhagen: Gesammelte Werke. Hg. von Konrad Feilchenfeldt, Uwe Schweikert und Rahel E. Steiner, Bd. II, S. 526-528 bzw. Bd. III, S. 246-248. 40 Schwarz: »Brieftheorie« in der Romantik (wie Anm. 37), S. 231.

Yvonne Delhey

»Auch die wahrsten Briefe sind meiner Ansicht nach nur Leichen« Die Briefe der Karoline von Günderrode

Christa Wolfs Erzählung Kein Ort. Nirgends (1979) beginnt mit zwei Zitaten, einem von Heinrich von Kleist und einem von Karoline von Günderrode, die dem Text als Motti vorangestellt sind: Ich trage ein Herz mit mir herum, wie ein nördliches Land den Keim einer Südfrucht. Es treibt und treibt, und es kann nicht reifen. .......................................... Kleist Deswegen kömmt es mir aber vor, als sähe ich mich im Sarg liegen und meine beiden Ichs starren sich ganz verwundert an...............................................Günderrode1

Beide Male wird aus den Briefen der Autoren zitiert, weshalb das Zitierte durchaus als Selbstaussage verstanden werden darf, und diese Vermutung durch die Erzählung, die die beiden Schriftsteller zu einer nie stattgefundenen Begegnung in Winkel am Rhein zusammenführt, bestätigt. Christa Wolf macht sie zu Repräsentanten ihrer Generation, deren Außerordentlichkeit nicht nur aus der Beharrlichkeit, mit der sie nach eigenem literarischen Ausdruck suchten, sondern auch aus dem Mut und der Entschlossenheit spricht, mit dem sie ihrem irdischen Dasein ein Ende setzten. Der Todesmut erscheint in ihrer Lesung noch heroischer, weil er als Einsicht in die Ausweglosigkeit gedeutet wird, in der die trotzige Tat der letzte Widerstand des Individuums vor dem Abgrund des Nihilismus ist, der sich um sie auftut.2 Dazu ließe sich viel anmerken, was allerdings hier nicht geschehen soll. Der Artikel will vielmehr das subjektive Selbstverständnis, das hier als ›normal‹ vorausgesetzt und aus der gleichen Haltung heraus auch auf die Briefe übertragen wird, zur Diskussion stellen. Dabei soll das 1 2

Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends [1979]. In: Christa Wolf, Gerhard Wolf: Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Gesprächsraum Romantik. Prosa und Essays. Berlin, Weimar 1986, S. 103–186, hier S. 103. Vgl. Christa Wolfs Essay Der Schatten eines Traumes. Karoline von Günderrode – ein Entwurf. In: Ebd., S. 211-269.

324

Yvonne Delhey

gewählte Beispiel den Blick eher auf Karoline von Günderrode als auf Christa Wolf lenken, denn die Vorstellung, dass in einem persönlichen Brief ein Individuum Stimme und Ausdruck findet, dürfte den meisten von uns vertraut sein. Die Frage ist, welche Vorstellung von Identität sich damit verbindet und ob sich die individuelle Person in ihren Eigenschaften mit der Darstellung im Text decken muss. Indirekt wird dieses Problem von Günderrode in einem Brief an Gunda und Friedrich Carl von Savigny vom 31. Mai 1804 angesprochen, in dem sie auf das sich in Frankfurt verbreitende Gerücht, sie sei Tian, reagiert. Natürlich wissen alle drei, wer Tian ist, aber dennoch spielt Günderrode mit dieser Identitätszuweisung, wenn sie am Ende des Briefes fragt: »Adieu, Gundelchen, adieu, lieber Savigny, wer bin ich? | Dein Günderrödchen«.3 Zunächst noch einmal zurück zum Beginn: Das Günderrode-Zitat stammt aus einem Brief, in dem sie Ende Mai 1802 auf einen Brief Clemens Brentanos reagiert, dem sie sich über dessen Schwester Kunigunde Brentano (der späteren Gunda von Savigny) aus anfänglicher Bewunderung für sein Werk empfahl.4 Die darauf einsetzende Korrespondenz fördert eher Missverständnisse und Distanz und bietet reichlich Beispiele, in denen beide Zweifel an der Offenheit des ›Gesprächs‹ äußern, auch wenn die Forderung zugleich als absurd verworfen wird, weil der Gegenwärtigkeit des Ichs noch die Vorstellung eines essentiellen Wesenskerns – eben jene Identität der Person, die Christa Wolf in ihrer Erzählung voraussetzt – fehlt. Karl Heinz Bohrer wird, Friedrich Carl von Savigny zitierend, von der »›Augenblicks‹-Verhaftung ihrer ›Seele‹« sprechen – doch dazu später mehr.5 Nach Art des Mediums verbindet sich das Verlangen nach dem Erkennen im Anderen mit der Reflexion über seinen Brief, das heißt, den von ihm verfassten Text. In diesem Zusammenhang ist die zitierte Stelle zu sehen: Ich weiß nicht, ob ich so reden würde, wie Sie meinen Brief in dem Ihrigen reden lassen: aber es kommt mir sonderbar vor daß ich zuhöre wie ich spreche und meine eignen Worte kommen mir fast fremder vor als fremde. Auch die wahrsten Briefe sind meiner Ansicht nach nur Leichen, sie bezeichnen ein ihnen einwohnend gewesenes Leben und ob sie gleich dem Lebendigen ähn3 4 5

Max Preitz: Karoline von Günderrode in ihrer Umwelt II. Karoline von Günderrodes Briefwechsel mit Friedrich Karl und Gunda von Savigny. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1964, S.158–235, hier S. 201. Das Kleist-Zitat, auf das hier nicht weiter eingegangen wird, stammt aus einem Brief vom 28./29. Juli 1801, den Kleist an Adolfine von Werdeck schrieb (DKV IV, 256). Vgl. Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München, Wien 1987, S. 84. Bohrer bezieht sich auf einen Brief Friedrich Carl von Savignys an Karoline von Günderrode vom 29. November 1805.

»Auch die wahrsten Briefe sind meiner Ansicht nach nur Leichen«

325

lich sehen, so ist doch der Moment ihres Lebens schon dahin: deswegen kömt es mir aber vor (wenn ich lese, was ich vor einiger Zeit geschrieben habe) als sähe ich mich im Sarg liegen und meine beiden Ichs starren sich ganz verwundert an.6

Die Schizophrenie ist also nicht eine dem Sein, sondern eine dem Text (den verschiedenen Briefen) geschuldete, die allerdings in der Summe auf das reflektierende und schreibende Ich zurückfällt. Karoline von Günderrode antwortet damit auch auf das Augenblicksgefühl, das Clemens Brentano in seinem Brief zelebriert hatte, den er mit der Bemerkung einleitet, dass er »eigentlich immer so viel zu sagen [hat], daß es kaum der Mühe lohnt, zu schreiben«7. Was bei Clemens Brentano so lapidar daherkommt, ist romantisches Programm und entspricht der Vorstellung, schriftlichen und mündlichen Dialog aneinander anzugleichen. Auch die Momentbezogenheit des reflektierenden Ichs hat dort seine Entsprechung. Die Briefkultur um 1800 gleicht einer »Art schriftlicher Gesprächskultur«, die am »guten Ton des gesellschaftlichen Lebens« ausgerichtet ist.8 Sie hat ihre Wurzeln im Stilideal des ›lettre galant‹, so wie es unter anderem von Madeleine de Scudéry in den Conversations nouvelles sur divers sujets (1685) formuliert wurde. Dieser Stil wirkt noch nach in den zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfassten Briefen Rahel Varnhagens und Bettina von Arnims wie auch in denen ihres Bruders Clemens Brentano, und selbst die ersten Briefe Karoline von Günderrodes sind voll von endlos ritualisierten Höflichkeitsfloskeln, mit denen sie ihrer Freundin Karoline von Barkhaus in ›natürlich ungezwungener‹ Weise ihre Zuneigung mitteilt und die in ebensolcher Weise erwidert werden. Wie anders liest sich dazu beispielweise Bettina von Arnims erster Brief an Friedrich Carl von Savigny, den sie im Februar 1802 verfasste: Die Orgelmänner gehen hier auf der Straße herum lieber Savigny und spielen die liebe Feuerstunde schlägt, halten Sie doch auch wieder einmal Feuerstunde und schreiben Sie mir und denken Sie an mich, es ist nun schon ein halbes Jahr daß Sie mich nicht gesehen haben ich will wetten Sie wissen nicht mehr wie ich aussehe ob ich braune oder blaue Augen habe, ich will es ihnen sagen meine Augen sind groß und braun etwas heller als des Clemenz seine und ich habe einen kleinen 6

7 8

Zitiert nach: Bettina von Arnim: Werke und Briefe. Hg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Bd. I: Clemens Brentano’s Frühlingskranz. Die Günderode. Hg. von Walter Schmitz, Frankfurt a.M. 1986, S. 833–834. Schmitz benutzt das von Heinz Amelung 1925 im Insel-Verlag (Leipzig) herausgegebene Günderode-Buch Bettina von Arnims als Quelle.. Ebd, S. 829. Zitiert nach: Ludwig Geiger: Karoline von Günderode und ihre Freunde. Stuttgart 1895, S. 100–108. Rainer Baasner: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis. In: ders. (Hg.): Briefkultur im 19. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 1–36, hier S. 14.

326

Yvonne Delhey

hübschen rothen Mund sonst hatte ich rote Farbe aber jetzt bin ich sehr braun geworden über haubt bin ich sehr garstig.9

Der Brief ist ein bewusst gesetzter Regelbruch und sollte nicht davon ablenken, dass Bettina von Arnim sehr wohl den guten Ton zu treffen wusste. Zwischen den ersten Briefen der damals noch unverheirateten Bettina Brentano und denen Karoline von Günderrodes eröffnen sich Welten, die auch etwas vom gesellschaftlichen Ton zeigen, den sich beide zu diesem Zeitpunkt in ihrem Umfeld eigen machen konnten. Karoline von Günderrode wird darin, mit zunehmender Vertrautheit, freier, aber zur Schriftlichkeit behält sie ein anderes Verhältnis als Bettina von Arnim, auch wenn letztere mit ihrem Günderode-Buch (1840), das die Tradition der Briefromane fortsetzt, dieses Bild zu korrigieren suchte. Die Anzahl der Briefe Karoline von Günderrodes, die man in diesem Buch liest und die tatsächlich von ihr geschrieben wurden, ist gering. In der Darstellung Bettina von Arnims findet sie einen Dialogpartner und eine Harmonie im Gespräch, die in den Originalbriefen der Günderrode meist fehlt. Immerhin, für die Günderrode-Rezeption war das Buch sicher nicht unwichtig. An ihm kann das Spannungsfeld, das sich aus der nicht klar zu benennenden Grenze zwischen authentischem und literarisiertem Brief ergibt, wunderbar untersucht werden, wobei die Authentizität sich dabei schnell als Falle erweist, die nichts mit dem Original zu tun hat, wie Waldemar Oehlke mit seinen Studien zeigte.10 »[D]ie Echtheit von Brief und Gefühl und die Forderung nach ihrer Kongruenz [ist] eine Erfindung des 18. Jahrhunderts«, schlussfolgert Annette Anton in ihrer Studie zur Authentizität in der Briefkultur des 18. und 19. Jahrhunderts.11 Die Frage nach der Authentizität des Ausdrucks taucht auch in Karl Heinz Bohrers Betrachtung des, wie er ihn nennt, romantischen Briefs auf.12 Er versucht ihr durch die Autonomieerklärung der Kunst zu entkommen und nennt das Selbstbewusstsein, dass in den Briefen Clemens Brentanos, Heinrich von Kleists und Karoline von Günderrodes zum Ausdruck kommt, ästhetische Subjektivität. Es wird noch zu klären sein, ob er damit dem Ich und der kommunikativen Situation, in der es sich befindet, gerecht wird.

9

Bettina von Arnim: Werke und Briefe. Hg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Band 4: Briefe. Hg. von Heinz Härtl, Ulrike Landfester und Sibylle von Steinsdorff. Frankfurt a.M. 2004, S. 9. 10 Waldemar Oehlke: Bettina von Arnims Briefromane. Berlin 1905 (Palaestra. Untersuchungen und Texte aus der deutschen und englischen Philologie. Band XLI). 11 Annette Anton: Authentizität als Fiktion: Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1995, S. 25. 12 Bohrer: Der romantische Brief (wie Anm. 5).

»Auch die wahrsten Briefe sind meiner Ansicht nach nur Leichen«

327

Nun evoziert der Brief als »eine an einen abwesenden Empfänger adressierte schriftliche Mitteilung«13 zwar eine Gesprächssituation, aber durch die Verschriftlichung kommt zu der inhaltlichen ein handlungsorientierter, pragmatischer Aspekt von Kommunikation, der nicht unberücksichtigt bleiben sollte: »Briefe zu bekommen hieß, in ein funktionierendes Netz sozialer Interaktion eingebunden zu sein, ernst genommen zu werden, Gegenstand des Interesses fernlebender Personen zu sein und als kommunikativer Gegenpart gebraucht zu werden«.14 Man las sich die Briefe vor, tauschte Korrespondenzen mit Dritten aus und schuf damit eine Halböffentlichkeit, in der private Briefe nicht selbstverständlich zur Angelegenheit zweier Personen gehörten. Ein bezeichnendes Beispiel für diese Situation ist, dass Clemens Brentano Karoline von Günderrode bittet, seiner Familie zu verschweigen, dass er ihr zur Publikation ihrer Gedichte und Phantasien von Tian (1804) gratuliert – bezeichnend deshalb, weil schnell der Eindruck einer Intimität entsteht, die gesellschaftlich nicht tragbar war. Die Halböffentlichkeit wird zudem noch durch den damals gängigen Postverkehr begünstigt, bei dem man Briefe an Dritte ›einlegte‹, also mitschickte und damit den Empfänger zum Vermittler von Nachrichten machte. Diese Praxis förderte ein System sehr genauer sozialer Kontrolle, das nur mit einer gewissen konspirativen Energie zu unterlaufen war, wie der Briefwechsel zwischen dem Stiftsfräulein Karoline von Günderrode und dem verheirateten Friedrich Creuzer beweist. Wie lässt sich unter solchen Bedingungen, und damit zurück zum Ausgangspunkt, ein subjektives Selbstverständnis im Dialog mit den anderen aufbauen? Solange man sich auf festgelegte gesellschaftliche Rollenmuster beschränkt, ist ein Gespräch machbar. Der Reiz solcher Briefwechsel lag aber gerade in der Intensivierung der persönlichen Beziehung und dort beginnt die Schwierigkeit mit der Wahrhaftigkeit des persönlichen Ausdrucks. Wann wird Sympathie Freundschaft, und wo fängt Liebe an? Was in den Briefen fortwährend im Dialog ausgelotet und bestätigt werden muss, findet seinen Widerhall im literarischen Werk. Liebe ist im Werk der Günderrode ein zentrales Thema, über das in seiner Allgemeinheit (u.a. in dem Gedicht Liebe), als Gefühl in der Trauer oder als Verlust (u.a. in Don Juan, Der Trauernde und die Elfen, Die Bande der Liebe und Einstens lebt ich süsses Leben) im historischen oder mythischen Rahmen behandelt wird. Wiederholt 13 Wolfgang G. Müller: Brief. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. von Dieter Lamping. Stuttgart 2009, S. 75–83, hier S. 75. 14 Baasner: Briefkultur im 19. Jahrhundert (wie Anm. 8), S. 19.

328

Yvonne Delhey

wird in den Gedichten dabei auch das Verhältnis zum geliebten Anderen thematisiert (»Die Einzige«, »An Eusebio«, »An meine Heilige« oder »Wo erfrag ich den Freund«). Was hier in Briefen und Gedichten zur Sprache kommt, kann auf einer kommunikativen Ebene durchaus aufeinander bezogen werden, der man, wie Niklas Luhmann zeigte, eine Funktion zuweisen kann, die in ihrer Semantik vom jeweiligen gesellschaftshistorischen Kontext bestimmt wird. Liebe ist, so verstanden, ein kommunikativer Code, der in der Zeit um 1800 seine Form in der romantischen Liebe findet: »Die Form des Code […] ist ausschlaggebend für die Zulassung von Möglichkeiten der Kommunikation, daher auch ausschlaggebend für die Transformation dieser Möglichkeiten und damit das, was einer Epoche ihr Sinnzentrum gibt.«15 Mit der romantischen Liebe wird die »Reflexion von Autonomie bzw. Selbstreferenz« möglich, womit die Individualität ihren persönlichen Ausdruck finden kann.16 Auf Günderrode bezogen, heißt das, dass im Brief vorbereitet wird, was im literarischen Werk seine Fortsetzung findet. Wenn Karl Heinz Bohrer daraufhin den Beginn der ästhetischen Subjektivität im romantischen Brief verortet, zeigt er sich zunächst von Luhmanns Überlegungen inspiriert. Er erliegt allerdings dem Missverständnis, Luhmanns Versuch, Literatur als Subsystem der Kunst als ein autonomes gesellschaftliches Feld zu verstehen, dem eigene kommunikative Codes zugrunde liegen, ziele auf die Autonomie der Kunst: Wir werden die Briefe von vornehmlich Heinrich von Kleist, Karoline von Günderrode und Clemens Brentano im Unterschied zur Briefliteratur des 18. Jahrhunderts und der Frühromantik also nicht einfach als psychologisch-autobiographische Dokumente zu lesen haben, in denen die Autoren eine psychische Situation sozusagen erinnernd abbildend wiederholen. Eine solche naturalistische Mimesiserwartung lassen die hochgradig ästhetisch konstruierten Briefe nicht zu: Wir haben sie als autonome Texte zu lesen, in denen das Ich sich gewissermaßen erst semantisch findet, erfindet.17

Bohrers Vorschlag fasst das Problem allerdings nur bedingt, denn nicht alle Briefe der drei Genannten richten sich an ästhetischen Prinzipien aus, und andererseits ist noch die einfachste Abbildung immer auch schon eine Konstruktion und Interpretation der Wirklichkeit. Würde man seinen Vorschlag der Textautonomie Ernst nehmen, müsste man die Briefe, die Bettina von Arnim der Günderrode zudichtet, als Ausdruck eines anderen Günderrode-Ichs lesen. 15 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. 3. Auflage, Frankfurt a.M. 1983, S. 51. 16 Ebd. 17 Bohrer: Der romantische Brief (wie Anm. 5), S. 13 (meine Hervorhebung).

»Auch die wahrsten Briefe sind meiner Ansicht nach nur Leichen«

329

Die Schwierigkeit in der Rezeption der Günderrode-Briefe beginnt bei der Editionsgeschichte, die es der wissenschaftlichen Erschließung sicher nicht einfach macht. In die historisch-kritische Werkausgabe, die Walter Morgenthaler 1991 unter Mitarbeit von Karin Obermeier und Marianne Graf herausgab und die 2006 nochmals aufgelegt wurde, sind die Briefe nicht aufgenommen.18 Mit der Ausgabe soll an die Arbeit von Leopold Hirschbergs (1920–22) und Elisabeth Salomons (1923) angeknüpft werden, die den Briefen auch wenig bzw. keine Beachtung schenken, was daran liegen könnte, dass es kaum originale Handschriften gibt. Jedenfalls blieben frühere Bemühungen, Briefe Günderrodes zu veröffentlichen, weitgehend unberücksichtigt. Was dazu im Einzelnen zu melden ist, kann man bei Max Preitz nachlesen, der in den 1960er Jahren im Jahrbuch des Deutschen Hochstifts (1962 und 1964) einen ansehnlichen Teil der verloren geglaubten Briefe aus dem Nachlass veröffentlichte.19 Die aktuellste Ausgabe der Briefe wurde von Birgit Weißenborn in dem Band Ich sende Dir ein zärtliches Pfand. Die Briefe der Karoline von Günderrode (1992) zusammengestellt. Weißenborn richtet sich an ein größeres Lesepublikum und verfolgt – wie die meisten vor ihr – einen biographischen Ansatz, womit die Auswahl der gedruckten Briefe (immerhin 260 der bekannten 400 Briefe), zu denen auch Briefe und Texte anderer Personen aus dem Umkreis der Günderrode hinzugezogen werden, begründet wird. Nicht immer ist die Auswahl einleuchtend, etwa da, wo der relativ geschlossene erste Briefwechsel mit Clemens Brentano, den Walter Schmitz in seine Ausgabe von Bettina von Arnims GünderodeBuch aufnahm, nicht vollständig erscheint.20 So fehlt zum Beispiel jener eingangs erwähnte Brief Karoline von Günderrodes, aus dem Christa Wolf in Kein Ort. Nirgends zitiert. Dieser Entscheidung fällt der wissenschaftliche Anspruch zum Opfer und die Briefe, Original oder Abschrift, bleiben zufälliger Kommentar zur Lebensgeschichte. Warum wurden die Briefe nicht in das Gesamtwerk aufgenommen? Lassen sie sich aus editorischen Gründen nicht integrieren oder spielen andere Motive eine Rolle? Noch einmal zurück zum Beginn: Oberflächlich betrachtet lassen sich zwischen Karoline von Günderrode (1779–1806) und Heinrich von Kleist (1777–1811) einige Parallelen herstellen, mit denen sich dem momentbezogenen Bewusstsein, das weiter oben erörtert wurde, andere Identitätszuweisungen entgegensetzen lassen, wodurch die historische Person genauere 18 Karoline von Günderrode: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. Hg. von Walter Morgenthaler mit Karin Obermeier und Marianne Graf. Frankfurt a.M. 1991. 19 Eine ausführlichere Darstellung aller vorangegangenen Briefeditionen ist auch bei Morgenthaler zu finden. 20 Vgl. Bettina von Arnim: Werke und Briefe (wie Anm. 6).

330

Yvonne Delhey

Konturen erhält: Sie gehören derselben sozialen Schicht an, sind allerdings beide finanziell nicht unabhängig genug, um sich die Existenz als freier Schriftsteller leisten zu können. Beide müssen sich sehr früh in die gesellschaftlichen Gegebenheiten fügen – Kleist beim preußischen Militär, Günderrode als Stiftsfräulein in einem evangelischen Stift für adlige unverheiratete Frauen in Frankfurt. Kleist ist vierzehn Jahre alt und Halbwaise, als er Soldat wird; Günderrode tritt mit siebzehn in das Stift ein – erstaunlich früh und durchaus im heiratsfähigen Alter. Sowohl Günderrode wie Kleist entdecken im Umgang mit Freunden, hauptsächlich im Umgang mit Freunden, ihre individuellen Veranlagungen. Die Bedeutung des neu entstehenden Diskurses von Freundschaft und Liebe in dieser Zeit sollte gerade mit Blick auf Günderrode nicht unterschätzt werden. Die Studien, die Beide betreiben, sind im besten Fall auf die individuelle Selbstentwicklung ausgelegt, was durchaus akzeptiert wurde, solange klar war, in welchen gesellschaftlichen Verhältnissen die Selbstentfaltung ihre Basis fand. Letzteres war bei beiden fraglich. Man kann, wie Christa Wolf mit ihrer marxistisch geprägten Perspektive zeigte, diesen Vergleich noch weiter treiben und ihrer beider Freitod als unumgängliches Scheitern an der damaligen Gesellschaft erklären. Das ist allerdings schon wieder eine Sinnzuweisung, die weder dem Kleist’schen noch dem Günderrodeschen Selbstverständnis gerecht wird, da sich für beide mit dem Tod eine Transzendenzerfahrung verbindet, für die es in der Geschichtsauffassung nach Marx keine Entsprechung mehr gibt. Günderrodes Briefe, sicher die, die sie an Friedrich Creuzer schrieb, aber auch in denen an Friedrich Carl und Gunda von Savigny sowie an Clemens Brentano bestärken die Annahme, dass sie immer wieder nach ihrer Position – und damit eben auch nach ihrem Selbstverständnis als Person – im sozialen Beziehungsgeflecht suchte. Zweimal setzt sich Karoline von Günderrode mit dem Lebensmodell einer Dreierbeziehung auseinander: das erste Mal 1804, als Gunda Brentano und Friedrich Carl von Savigny heiraten. Von wem der Vorschlag ausgeht, kann nicht ausgemacht werden, aber anfangs gibt es wohl eine gewisse Einigkeit, der sich Günderrode nach der Heirat der beiden schnell entzieht: Sie sieht ganz offensichtlich ihren intellektuellen Freiraum in einer Weise ausgefüllt, der nicht ihren Vorstellungen entspricht, auch wenn die Nähe zu den Beiden ihr eine standesgemäße gesellschaftliche Position ermöglicht hätte. Als sich ein Jahr später nochmals die Frage eines Dreierbundes stellte, dann mit Friedrich Creuzer und dessen Frau Sophie, stimmte der intellektuelle Austausch. Die fortwährenden Interventionen von verschiedenen Seiten zeugen allerdings davon, dass die Verbindung gesellschaftlich eher als problematisch denn segensreich galt.

»Auch die wahrsten Briefe sind meiner Ansicht nach nur Leichen«

331

Ihr Selbstverständnis als Autorin entwickelt sie nach dem Erscheinen ihrer Gedichte und Phantasien (1804) beinahe beiläufig und neben ihren Verwicklungen im Privaten. Sie mag dann zwar eine Autorin sein, die unter Pseudonym schreibt, sie verfügt aber dennoch über genug Selbstbewusstsein, diese Rolle auch gesellschaftlich auszufüllen. Ganz wesentlich ist dabei – und das verdient mehr Beachtung – ihr Alter. Ihre ersten erhaltenen Briefe schrieb sie, als sie bereits zwei Jahre im Cronstetten Hyspergischen Adligen Damenstift lebte. Diese Position, mit siebzehn Jahren als Stiftsdame mit relativer Unabhängigkeit zur patriarchalisch-bürgerlichen Gesellschaft zu leben, ist die Voraussetzung für ihre Entwicklung als Autorin. Das Stift bot ihr bei aller Beschränkung gesellschaftlichen Umgangs doch einen Freiraum, den Frauen im familiär-häuslichen Kreis so nicht kannten: sie übernimmt Selbstverantwortung. Darin liegt ein für ihre Entwicklung zur Autorin wichtiger Schritt, weil dem eine individuelle Entwicklung vorausgeht, für die es in der bürgerlichen Gesellschaft kein Pendant gibt. Es ist unklar, wie bewusst sie sich dieser Tatsache war. Die erhaltenen Briefen deuten darauf hin, dass sie diesen Prozess hin zur selbstständigen Autorschaft (sei es in der für die damaligen Zeit üblichen Kooperation mit Friedrich Creuzer) nicht bewusst steuerte, ihn aber durchaus bewusst reflektierte. Beispielhaft sei ein weiterer Brief an Clemens Brentano, nun vom 10. Juni 1804, zitiert: Wie ich auf den Gedanken gekommen bin, meine Gedichte drucken zu lassen, wollen Sie wissen? Ich habe stets eine dunkle Neigung dazu gehabt, warum und wozu frage ich mich selten; ich freute mich sehr, als sich jemand fand, der es übernahm, mich bei dem Buchhändler zu vertreten, leicht und unwissend, was ich tat, habe ich so die Schranke zerbrochen, die mein innerstes Gemüt von der Welt schied; und noch hab ich es nicht bereut, denn immer neu und lebendig ist die Sehnsucht in mir, mein Leben in einer bleibenden Form auszusprechen, in einer Gestalt, die würdig sei, zu den Vortrefflichsten hinzuzutreten, sie zu grüßen und Gemeinschaft mit ihnen zu haben.21

Betrachtet man das soziale Beziehungsgefüge, das sich durch die Briefe ergibt, so erschließen sich die wichtigsten Freundschaftsbeziehungen, die Karoline von Günderrode unterhielt, und es wird ersichtlich, wie stark sie in den Brentano-Savigny-Kreis integriert war. Betrachtet man danach nur die Personen, die ihr literarisches Talent förderten, so verschwindet das gesellschaftliche Netzwerk und reduziert sich auf einige wenige Personen, von denen die Nees-von Esenbecks die stabilste gesellschaftliche Bindung 21 Karoline von Günderrode: ›Ich sende Dir ein zärtliches Pfand‹. Die Briefe der Karoline von Günderrode. Hg. von Birgit Weißenborn. Frankfurt a.M., Leipzig 1992, S. 151f., hier S. 151.

332

Yvonne Delhey

bilden. Das ist nicht so merkwürdig, hatte die Günderrode doch zwei Jahre vor ihrem Tod, im April 1804 erst ihr literarisches Debüt. Das dazwischen liegende Jahr 1805 war für sie als beginnende Autorin ein überaus erfolgversprechendes. Man kann darin eine besondere Tragik, man sollte allerdings auch den Erfolg sehen – er zeigt eine Zielstrebigkeit, die bei Berücksichtigung der ›Produktionsbedingungen‹, unter denen sie schrieb, sehr erstaunt. Kann die Literaturwissenschaft Werk und Leben der Autorin zusammenfügen oder bedarf es dazu vielmehr einer eher literarischen Darstellung? Karoline von Günderrode übertrug ihre literarischen Ambitionen jedenfalls nicht auf ihre Briefe. Eine Poetik des »geschriebenen Geplauders«,22 wie sie Bettina von Arnim in ihren literarisierten Briefen vertritt, war nicht ihre Art.23 Das will aber nicht sagen, dass eine genauere Auswertung der Briefe unnötig ist. Autorschaft war für sie keine Selbstverständlichkeit, aus der sich eine gesellschaftliche Position und Bestimmung ergab, mit der sie Einfluss auf die Öffentlichkeit hätte nehmen können. Dafür war sie zu sehr in die gesellschaftlichen Verpflichtungen eingebunden, die ihre Herkunft und ihre sozialen Netzwerke verlangten. Sie war Adlige, unverheiratetes Stiftsfräulein, Freundin, Geliebte und Autorin. Wie ›authentisch‹ sie dabei als Person war, lässt sich kaum sagen, in ihren Texten ist sie es in jeder Zeile. Von ästhetischer Subjektivität lässt sich in den Briefen aber nicht sprechen. Die Literatur ist für sie kein Sublimationsraum für einen individuellen Ausdruck, der kein anderes kommunikatives Ventil im gesellschaftlichen Dialog findet. Die Briefe sind Zeugnisse einer kommunikativen Auseinandersetzung, die in ihren Gedichten (unter anderem) ihre Fortsetzung – sei es mit anderen Ausdrucksmitteln – findet, denn, hier kommt noch einmal Niklas Luhmann ins Spiel, Literatur ist nicht als ein von der Gesellschaft losgelöstes kommunikatives System aufzufassen.

22 Bettina von Arnim: Werke und Briefe. Bd. I (wie Anm. 6), S.174. 23 Hier zeigt sich, wie wenig Günderrode Romantikerin ist bzw. wie stark Bettina von Arnim von den literaturtheoretischen Ansätzen von z.B. Friedrich Schlegel geprägt ist. Vgl. dazu: Karin Zimmermann: Die polyfunktionale Bedeutung dialogischer Sprechformen um 1800. Exemplarische Analysen: Rahel Varnhagen, Bettina von Arnim, Karoline von Günderrode. Frankfurt a.M. 1992.

Verzeichnis der Exponate / Abbildungsverzeichnis

»Heinrich von Kleist und die Briefkultur seiner Zeit« Biblioteka Jagiellońska Kraków, 28.9.–28.10.2012

Die folgende Aufstellung bietet ein kombiniertes Verzeichnis der Abbildungen in diesem Band (»Abb.« mit Seitenzahl) und der Exponate der Krakauer Ausstellung (hier abgebildete Briefe, die nicht in der Ausstellung gezeigt wurden, sind durch ein nachgestelltes Asterisk* gekennzeichnet). Für die großzügige Bereitstellung der Abbildungen und Druckgenehmigung danken wir der Biblioteka Jagiellońska sowie den weiteren Rechteinhabern.

Briefe Heinrich von Kleists (nach Empfänger, chronologisch) AUGUSTE HELENE VON MASSOW 13. (-18.) März 1793. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist. – Abb. S. 338, 339. ULRIKE VON KLEIST Früher PSB: Leihgabe Ernst von Schönfeldts, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist. 25. Februar 1795. – Abb. S. 93. Mai 1799. – Abb. S. 71, 101, 353. 12. November 1799. – Abb. S. 354.* 26. August 1800. – Abb. S. 345.* 27. Oktober 1800. – Abb. S. 91.* 25. November 1800. 23. März 1801. – Abb. S. 359, 361.* 01. April 1801. 12. Januar 1802.. 18. März 1802. November 1802. Dezember 1802. 13./14. März 1803. – Abb. S. 187. 05. Oktober 1803. 24. Juni 1804. – Abb. S. 94. 02. August 1804. – Abb. S. 101.

Dezember 1804. 24. Oktober 1806. Abb. S. 92, 362.* 06. Dezember 1806. 23. April 1807. 14./15. Juli 1807. – Abb. S. 100.* 05. Januar 1808. – Abb. S. 347.* 25. Oktober 1807. – Abb. S. 364. 02. November 1808. – Abb. S. 98.* August 1809. – Abb. S. 102.* 11. August 1811. – Abb. S. 96.* 18. September 1811. – Abb. S. 97.* 21. Nov. 1811. – Abb. S. 348, 349, 368. WILHELMINE VON ZENGE Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist. April/Mai 1800. – Abb. S. 108.* 30. Mai 1800. – Abb. S. 58. »Denkübungen für Fräul. Wilhelmine«, Frühjahr/Sommer 1800. – Abb. S. 355. 20./21. Aug. 1800. – Abb. S. 342, 343, 344. 30. Aug./01. Sept. 1800. – Abb. S. 341, 344. 04./05. September 1800. – Abb. S. 351.* 11./12. September 1800. – Abb. S. 351.* 13.-18. September 1800. – Abb. S. 78. 19.-23. September 1800. – Abb. S. 344.* 16.-18. November 1800. – Abb. S. 356, 378.

334

Verzeichnis der Exponate / Abbildungsverzeichnis

11./12. Januar 1801. – Abb. S. 79.* 31. Januar 1801. – Abb. S. 141, 341.* 22. März 1801. – Abb. S. 357, 358. 28. März 1801. – Abb. S. 388.* 09. April 1801. – Abb. S. 81. 04. Mai 1801. 15. Aug. 1801. – Abb. S. 57, 346, 352, 369. 10. Oktober 1801. – Abb. S. 352. 27. Oktober 1801. – Abb. S. 350. 02. Dezember 1801. GOTTLOB CHRISTIAN KUNTH 12. April 1801 (Quelle: BKA IV/1, 545). – Abb. S. 74.* OTTO AUGUST RÜHLE VON LILIENSTERN 13. Juli 1807. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen, Kleist. – Abb. S. 363, 383.* KARL AUGUST VARNHAGEN VON ENSE [Oktober 1808]. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen, Kleist. – Abb. S. 387.* ACHIM VON ARNIM 14. Oktober 1810. – Abb. S. 365, 385.* RAHEL LEVIN 24. Oktober 1811. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen, Kleist. – Abb. S. 367.

Briefe an Kleist Achim von Arnim, November 1810. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen, Kleist. Johann Wolfgang Goethe, 01. Februar 1808. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Goethe.

Briefe über Kleist Friedrich de la Motte Fouqué an Karl August Varnhagen von Ense, 19. Februar 1808. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen, Fouqué. Friedrich de la Motte Fouqué an Karl August Varnhagen von Ense, 07. Januar 1811. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen, Fouqué. – Abb. S. 366.

Sonstige Kleist-Materialien Heinrich von Kleists Verlobungstasse für Wilhelmine von Zenge. Klassizistisch, mit Gräserdekor. KPM, um 1800. Nachbildung der Originaltasse (Kleist-Museum, Frankfurt an der Oder; Foto: Iglhaut + von Grote). Abb. S. 115.* Berliner Abendblätter (1810–1811). Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen, Kleist. – Abb. S. 205, 384. Notizen und Abschriften über den Tod Heinrich von Kleist. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen, Kleist. – Abbildungen von Abschriften Varnhagens in diesem Band: • Henriette Vogel / Heinrich von Kleist an Christoph Ernst Friedrich Peguilhen, 21. Nov. 1811. – Abb. S. 234, 235, 236. • Henriette Vogel / Heinrich von Kleist: ›Todeslitanei‹, 21. Nov. 1811. – Abb. S. 258, 259. • Ernst Friedrich Peguilhen: Artikel für die Vossische Zeitung, 26. Nov. 1811. – Abb. S. 260. • Polizeipräsident Schlechtendahl an E.F. Peguilhen, 06. Dez. 1811. – Abb. S. 272. Fotographien der Ausstellung »Heinrich von Kleist und die Briefkultur seiner Zeit«, Biblioteka Jagiellońska Kraków, 28.9.–28.10.2012. – Abb. S. 54 (Fotos: Ingo Breuer).

Briefe anderer Autoren Hans Christian Andersen an einen unbekannten Empfänger, 1844. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Andersen. Honoré de Balzac an einen Redakteur von »Le Messager« Ballard o.A., Brief an einen unbekannten Empfänger. BJK 7919, K. 23–24, 35–36. Emilie von Berlepsch an Jean Paul, 16. April 1798. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Berlepsch. George Byron an Dr. Kennedy, 1823. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen 40. François René de Chateaubriand an eine unbekannte Empfängerin, 1821. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Chateaubriand.

»Heinrich von Kleist und die Briefkultur seiner Zeit«

Fryderyk Chopin, Karte an einen unbekannten Empfänger, o.A. BJK, Rkp. 7852 K. 40. Charles Dickens an Carlyle, 1843. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen 52. Alexandre Dumas (père) an den Theaterdirektor in Frankfurt o.A. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Dumas. Aleksander Fredro an Gwalbert Pawlikowski, 1849. BJK, Rkp. 11046 K. 124–125. Johann Wolfgang Goethe an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 15. Dez. 1803. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Goethe. Johann Wolfgang Goethe an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 27. Nov. 1803. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Goethe. Nikolaj Gogol an Vasilij Žukovski, 1847. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Gogol. Friedrich von Hardenberg (Novalis) an den Vater, 16. Juli (1799). Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen 81. E.T.A. Hoffmann an Helmina von Chezy, 10. September 1816. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen 87. Victor Hugo an Józef Tański, o.A. BJK: Rkp. 7919, K. 15–16. Zygmunt Krasiński an Bronisław Trentowski, Briefe aus den Jahren 1846-1858. BJK, Rkp. 9057 K. 152–160. Józef Ignacy Kraszewski an die Urgroßmutter, Konstancja Nowowiejska, Briefe 1842. BJK, Rkp. Przyb. 52/86 (inkl. Feder und Visittenkarten). Teofil Lenartowicz an Józef Ignacy Kraszewski, 1887. BJK Rkp. 8917 K. 112– 113. Ferenc Liszt an Wincenty Kirchmayer, Briefe 1843–1846. BJK: Rkp. Przyb. 14/89. Giacomo Meyerbeer an einen unbekannten Empfänger, o.A. [um 1831] . BJK: Rkp. 7919 K. 78. Adam Mickiewicz an Zofia Ankwiczowa, 1830. BJK, Rkp. 7869 K. 3–6. Adam Mickiewicz an den Bruder, Franciszek Mickiewicz, 1836. BJK, Rkp. 5748 K. 67–68. Julian Ursyn Niemcewicz an General Wincenty Krasiński, o.A. BJK, Rkp. 7859 K. 15.

335

Julian Ursyn Niemcewicz an Marek Sarnecki, 1823. BJK, Rkp. 7859 K. 17. Cyprian Kamil Norwid an Maria Trębicka, spätere Faleńska, 1848. BJ Rkp. 4285 K. 38–40. Cyprian Kamil Norwid an Józef Bohdan Zaleski, 1848. BJK, Rkp. 9206 K. 88–91. Aleksandr Puschkin an Bulgarin, o.A. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen 201. Jean Paul [Richter] an Emilie von Berlepsch, 23. Juli 1797. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa Berlepsch. Jean-Jacques Rousseau an Pastor Vernes, 1755. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen 221. Friedrich Schiller an Geheimrat Christian Karl Voigt, o.A. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa Schiller. Mary Shelley an R. M. Milnes, 1847. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen 234. Percy Bysshe Shelley an Charles Olivier, 1818. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen 234. Juliusz Słowacki an Leonard Niedźwiedzki, Briefe 1841. BJK, Rkp. 4408. Germaine de Staël an Adalbert von Chamisso, 1810. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen 237. William Makepeace Thackeray an einen unbekannten Empfänger, o.A. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Thackeray. Alfred Tennyson an einen unbekannten Empfänger, [1875]. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Tennyson. Kornel Ujejski an Wanda Młodnicka, Briefe 1885. BJK, Rkp. 11 455 S. 5–10, 11–118. Christian Martin Wieland an Carl Spener, 22. Dezember 1793. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa 2 W.

Druckwerke Berlinischer Briefsteller für das gemeine Leben, Berlin 1798. BJK 592090 I, St. Dr. Bernatowicz, Feliks: Nierozsądne śluby. Listy dwojga kochanków na brzegach Wisły mieszkających przez F.B zebrane. Warszawa 1820. BJK 75242 I, St. Dr. Gellert, Christian F.: Briefe nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten

336

Verzeichnis der Exponate / Abbildungsverzeichnis

Geschmacke in Briefen, Leipzig 1763. BJK 131542 I St. Dr. Gellert, Christian F.: Listy Jmci Pana Gellerta Sławnego Akademiy Lipskiey Professora z Niemieckiego na Polski Iężyk przełożone. W Wrocławiu znaydują się Wilhelma Bogumiłego Korna, Księgarni 1774. BJK 51335 I. Gellert, Christian F.: Sämmtliche Schriften. Leipzig 1784. BJK Lit. Niem 147, Bd. 4 und Bd. 9. Goethe, Johann W.: Die Leiden des jungen Werthers. Berlin 1775. BJK Lit. Niem. 1206. Grohmann, Johann Gottfried: Ideenmagazin. Bd. 4, H. 37, 2. Auf. Leipzig [o.J.]. – Abb. S. 164, 182.* Królikowski, Józef Franciszek: Proste zasady stylu polskiego. Poznań, Bydgoszcz 1826. BJK 51402 I. Der moderne Briefsteller. Kraków 1809. BJK 715124 I. Montesquieu, Charles: Lettres Persanes, Paris 1784. BJK Lit. Franc. 1250. Niemcewicz, Julian U.: Leybe i Siora, czyli listy dwóch kochanków. Warszawa 1821. BJK 72934 I. Rautenstrauchowa, Lucja: Emmelina i Arnolf. Warszawa 1821. BJK 55419 II Richardson, Samuel: Clarissa. Or the History of a Young Lady. London 1748. BJK Lit. Ang.214 II Richardson, Samuel: Pamela: or Virtue rewarded. London 1772. BJK Lit. Ang. 212 II. Rousseau, Jean-Jacques: Julie ou la nouvelle Héloïse. Paris 1780/1781. BJK Lit. Franc. 1345 II. Szumski, Tomasz: Dokładna nauka języka i stylu polskiego w dwóch częściach. Poznań 1809. BJK 51691 I. Szymański, Stanisław: Wzory biletów, listów i memoryalów w różnych materyach, Warszawa 1784. BJK 586450 I. Weise, Christian: Curiöse Gedancken von deutschen Briefen. Leipzig, Dresden 1698. BJK 113951 I.

Graphisches Material [Anonym:] Promenades ou Itinéraire des Jardins de Chantilly. Orné d’un Plan et de

vingt Estampes […] dessinées et gravées par MÉRIGOT. Paris 1791. – Abb. S. 175.* Bollinger, F.W.: Immanuel Kant, um 1818– 1832, 1. Hälfte 19. Jh, Aquatinta. BJK I 6520. Chodowiecki, Daniel: div. Kupferstiche, Ende 18./Anfang 19. Jh. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen 301. Haas, Peter: Berlin, Das Königliche Schloss, Radierung koloriert + Stahlstich, 1780. BJK I 12348. Hall, H.: Lord [Georg] Byron, Porträt, Stahlstich, o.A. BJK I 16936. Lehmann, Gott. Arn.: Ein Tag in Berlin, Radierung, um 1810. BJK I 12348. Paris – Place de la Concorde, 1. H. 19. Jh., Lithographie koloriert. BJK I 22 766. Pfeiffer von, C.: Christoph Martin Wieland, Porträt, Aquatinta 1800. BJK I 23 518. Regius Mons (Königsberg), Radierung koloriert, vor 1825. BJK I 19 197. Richter, Johann Carl August: Tarant im Plauenschen Grunde, Aquarell mit Radierung 1840, BJK I 1645. – Abb. S. 171. Sagert, Hermann: Kleists Porträt, nach einem Miniaturgemälde gestochen von Peter Friedel, 1848. Früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen, Kleist. – Abb. siehe vorderer Buchumschlag. Siedlecki, Franciszek: Cyprian Kamil Norwid, Aquatinta, 1904. BJK I 7011. Schweiz: Basel und Bern, Radierungen, o.A. BJK I 15 480. Schweiz: Ansichten von Interlaken u. Thun, Radierungen, 1. H. 19. Jh. BJK I 16065. – Abb. S. 170 (Thun). Zschokke, A. L: Napoleon I, Porträt, 1. H. 19. Jh., Stahlstich. BJK I 1856.

Sonstiges Kavalleriepistole MAN13, französisch, nach 1806. Slg. der Firma Arsenał. Feder Józef Ignacy Kraszewskis. BJK, Rkp. Przyb. 52/86.

Bildtafeln   

337

Tafel 1 Plakat der Ausstellung »Heinrich von Kleist und die Briefkultur seiner Zeit« in der Biblioteka Jagiellońska, Krakau 28.9.–28.10.2012

338















Bildtafeln

Tafel 2 »Was soll ich Ihnen zuerst beschreiben, zuerst erzählen?« – Kleists erster Brief, an Auguste Helene von Massow, 13.–18. März 1793, S. 1r

Bildtafeln   

Tafel 3 Reisewege und Postwege – Kleists erster Brief, an Auguste Helene von Massow, 13.–18. März 1793, S. 2v

339

340















Bildtafeln

Tafel 4 Brief und Siegel – Kuvert von Kleists Brief an Wilhelmine von Zenge, 20. August 1800

Bildtafeln   

341

Tafel 5 Brief und Siegel – Kleist an Wilhelmine von Zenge, 30. August 1800 (oben) und 31. Januar 1801 (unten)

342















Bildtafeln

Tafel 6 »so will ich dir denn mein Herz so gut ich kann auf dieses Papier mahlen« – Kleist an Wilhelmine von Zenge, 20. August 1800, S 1r

Bildtafeln   

Tafel 7 »Weil doch die Post vor morgen Abend nicht abgeht ...« – Kleist an Wilhemine von Zenge, 21. August 1800, S. 1r

343

344

Bildtafeln

Tafel 8 Brief und Buchhaltung – Details aus Briefen an Wilhelmine von Zenge, 21. August 1800 (vgl. Tafel 6), 30. August 1800 (S. 3r), 19.–23. September 1800 (S. 4v)

Bildtafeln   

Tafel 9 Postwege und Reisewege – Kleist an Ulrike von Kleist, 26. August 1800, S. 1v (Ausschnitt), 2r

345

346

Bildtafeln

Tafel 10 Post-Probleme – Kleist an Wilhelmine von Zenge, 15. August 1801, S. 1r

Bildtafeln   

Tafel 11 Post-Probleme – Kleist an Ulrike von Kleist, 5. Januar 1808, S. 1r

347

348















Bildtafeln

Tafel 12 Kuvert und Papier (Kleists letzter Brief) – Kleist an Ulrike von Kleist, 21. November 1811 (s. Tafeln 13 u. 32)

Bildtafeln   

Tafel 13 Kuvert und Papier (Kleists letzter Brief) – Kleist an Ulrike von Kleist, 21. November 1811, unbeschriebene Rückseite des Doppelblatts (s. Tafeln 12 u. 32)

349

350















Bildtafeln

Tafel 14 Kuvert und Papier – Kleist an Wilhelmine von Zenge, 27. Oktober 1801

Bildtafeln   

Tafel 15 Kuvert und Beschriftung – Kleist an Wilhelmine von Zenge vom 4./5. September 1800 und vom 11./12. September 1800

351

352















Bildtafeln

Tafel 16 Kuvert und Beschriftung – Kleist an Wilhelmine von Zenge aus Paris vom 15. August 1801 (oben) und vom 10. Oktober 1801 (unten)

Bildtafeln   

353

Tafel 17 Lebenspläne und Reisepläne – Kleist an Ulrike von Kleist, Mai 1799, S. 2r

354

Bildtafeln

Tafel 18 »Denn meine Absichten u. Entschlüsse sind Schaumünzen, die aus dem Gebrauche gekommen sind« – Kleist an Ulrike von Kleist, 12. November 1799, S. 2v

Bildtafeln   

Tafel 19 Denkübung für Wilhelmine von Zenge – Frühjahr bzw. Sommer 1800, Bl. 2 (1r und Ausschnitt von 1v)

355

356

Tafel 20 Der Torbogen in Würzburg – Kleist an Wilhelmine von Zenge, 16.–18. November 1800, S. 4r

Bildtafeln

Bildtafeln   

Tafel 21 Kant-Krise? – Kleist an Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801, S. 2v

357

358















Bildtafeln

Tafel 22 Kant-Krise? – Kleist an Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801, S. 3r

Bildtafeln   

359

Tafel 23 »Mein Wille ist zu reisen« – Kleist an Ulrike von Kleist, 23. März 1801, S. 1r

360















Bildtafeln

Tafel 24 »Was ist böse? Absolut böse?« – Kleist an Wilhelmine von Zenge, 15. August, 1801, S. 2r

Bildtafeln   

361

Tafel 25 »Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen, und Dir zuschicken«. – Kleist an Ulrike von Kleist, 23. März 1801, S. 1r

362















Bildtafeln

Tafel 26 Die Schlacht bei Jena und Auerstedt: »Wie schrecklich sind diese Zeiten?« – Kleist an Ulrike von Kleist, 24. Oktober 1806, S. 1r

Bildtafeln   

363

Tafel 27 »Soeben ist der Befehl […] zu meiner Loslassung angekommen. Ich bin aber ganz ohne Geld«. – Kleist an Otto August Rühle von Lilienstern, 13. Juli 1807, S. 1r

364

Bildtafeln

Tafel 28 »Es ist nicht unmöglich, daß wir den Codex Napoleon zum Verlag be­ komen«: Das Phöbus-Projekt – Kleist an Ulrike von Kleist, 25. Oktober 1807, S. 1v

Bildtafeln   

Tafel 29 Berlin und die Abendblätter: »machen Sie mir den Brentano wieder gut, liebster Arnim«. – Kleist an Achim von Arnim, 14. Oktober 1810

365

366

Bildtafeln

Tafel 30 »Mit den Abendblättern geht es recht fatal« – Friedrich de la Motte Fouqué an Karl August Varnhagen von Ense, 7. Januar 1811

Bildtafeln   

367

Tafel 31 »Sie haben in Ihren Worten so viel Ausdruck, als in Ihren Augen« – Kleists Billett an Rahel Levin, 24. Oktober 1811

368













Tafel 32 Kleists letzter Brief (Gesamtabdruck: Tafeln 12 u. 13)



Bildtafeln

Ingo Breuer

Bilder einer Ausstellung Erläuterungen zu den Bildtafeln

TAFEL 1 Plakat der Ausstellung zu »Heinrich von Kleist und die Briefkultur seiner Zeit« vom 29. September bis 28. Oktober 2011 in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau. Plakatgestaltung und graphisches Design der Ausstellung: Mariusz Paluch; Vorbereitung der Exponate: Monika Jaglarz und Małgorzata Kusak; konservatorische Arbeiten: Sekcja Konserwacji BJ, Abbildungen und Scans: Elżbieta Augustak, Tadeusz Duda, Szymon Kotarski; Texte: die Herausgeber und Kuratoren.

TAFELN 2 und 3 Kleist an seine Tante Auguste Helene von Massow, Frankfurt am Main 13.–18. März 1793 (im Brief hat Kleist fälschlicherweise 1792 angegeben), S. 1r u. 2v – früher PSB: Leihgabe Ernst von Schönfeldts, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Am Anfang dieses ersten erhaltenen Kleist-Briefs schreibt er an seine Tante: »Was soll ich Ihnen zuerst beschreiben, zuerst erzählen?« Der achtseitige ›Bericht‹, in dem Kleist zahlreiche Reisestationen und einige ›Abenteuer‹ (z.B. über einen »Straßenräuber«) auflistet, diese mit Reflexionen über die Schönheiten der Natur, aber auch kriegerischen Platitüden (»Die Franzosen oder vielmehr das Räubergesindel wird jezt aller wärts geklopft«) kombiniert, endet mit der Bitte an die Tante, den »Mischmasch von Brief nicht zu kritisiren« (Zitate nach BKA IV/1, S. 8, 12, 19, 23). Allerdings handelt es sich beim Brief als Gattung per se um ein hybrides Genre, da er erstens das Spektrum z.B. vom Geschäftsbrief bis zur intimen Kommunikation abdeckt, zweitens eine Mischung von Autobiographie, Bekenntnis, Reisebericht, philosophischer Reflexion usw. darstellen kann. Auf Tafel 3 (S. 2v) finden sich unterstrichen die wichtigen Stationen seiner Reise mit der Postkutsche, darunter auch heute unbekanntere wie der Post-Knotenpunkt Vacha als Kreuzung mit der Strecke zwischen Kassel

370

Ingo Breuer

und Nürnberg. Die auf dieser Seite genannten Stationen lauten nach der Post Karte durch ganz Deutschland (Augsburg 1795, Reprographischer Nachdruck Bad Langensalza [2002]): Berka (bei Eisenach), Vacha, Hünefeld, Fulda, Neuhof, Schlüchtern, Salmünster (bei Kleist steht eigentümlicherweise »Westminster«), Gel[n]hausen, Hanau und Frankfurt. Bei Kleist liegt allerdings »Schüchtern« vor Fulda, wie es auch sonst noch mehrere Fehler in dieser Reisebeschreibung zu geben scheint (vgl. den Kommentar in DKV IV, 586–591). Was Kleist hier als eigene Reiseroute per Postkutsche beschreibt, stellt natürlich zugleich die Strecke dar, die der Brief zurück in die Heimat nimmt.

TAFELN 4 u. 5 a/b Kleist an Wilhelmine von Zenge, 20. Aug. 1800, 30. August 1800 und 31. Januar 1801 – früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Kleist verwendet in Briefen an Wilhelmine von Zenge – wahrscheinlich z.T. zur Tarnung – unterschiedliche Siegel, oben das der Familie von Zenge (BKA IV/1, 178), im Brief vom 30. Aug. 1800 dasjenige von Ludwig von Brockes (BKA IV/1, 215) und im Brief vom 31. Jan. 1801 das eigene Siegel (BKA IV/2, 462).

TAFEL 6 u. 7 Kleist an Wilhelmine von Zenge, 20. August 1800, S. 1r und 21. August 1800, S. 1r – früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Auffällig ist, dass Kleist einen Papierbogen, den er sonst meist im Querformat als gefaltetes vierseitiges Doppelblatt benutzt, hochkant beschreibt. Zwar habe ich den ganzen Weg über von Berlin nach Pasewalk an Dich geschrieben, trotz des Mangels an allen Schreibematerialien, trotz des unausstehlichen Rütteln des Postwagens, trotz des noch unausstehlicheren Geschwätzes der Passagiere, das mich übrigens so wenig in meinem Concept störte, als die Bombe in Stralsund Carln 12t in dem seinigen. Aber das Ganze ist ein Brief geworden, den ich Dir nicht anders als mit mir selbst u durch mich selbst mittheilen kann, denn, unter uns gesagt, es ist mein Herz. Du willst aber schwarz auf weiß sehen, u so will ich Dir denn mein Herz so gut ich kann auf dieses Papier mahlen, wobei Du aber nie vergessen mußt, daß es bloße Copie ist, welche das Original nie erreicht, nie erreichen kann. Ich reisete den 17t Morgends um 8 Uhr mit der Stettiner bedeckten Post von Berlin ab. (20. August 1800, DKV IV, 76)

In den Briefen finden sich zahlreiche Reflexionen über den Postverkehr, hier über eine Verspätung: »Weil doch die Post vor morgen Abend nicht

Bilder einer Ausstellung

371

abgeht, so will ich noch ein Blättchen Papier für Dich beschreiben […].« An diesem Punkt werden auch die Probleme bei der Zählung der Briefe deutlich, denn nicht immer kann genau bestimmt werden, welche Briefe separat und welche zusammen in einem Kuvert versandt wurden (vgl. BKA IV/1, 177). Tatsächlich wurden die Briefe vom 20. und 21.8. gelegentlich als zwei Briefe gezählt; dem entspricht auch die Nummerierung auf den beiden Briefen bzw. Briefteilen (»Nmr. 1« und »Nmr. 2«; vgl. BKA IV/1, 179f., 188f.), nicht aber die spätere Zählung Kleists, z.B. in der Liste im Brief vom 30.8./1.9.1800, S. 3r, wo der Brief aus Pasewalk als zweiter gilt (vgl. die folgende Tafel). Beide Briefe bzw. Briefteile wurden offenbar zusammen in einem Umschlag versandt. Hier stellt sich die Frage nach dem Kriterium, was als ein Brief zu gelten hat: der einheitliche Versand in einem Briefumschlag, die Datierung (jeder Tag zählt dann separat), inhaltliche Einheit und Abgeschlossenheit, die Grußformeln am Anfang und Schluss oder etwas anderes. Die Aussage »so will ich dir denn mein Herz so gut ich kann auf dieses Papier mahlen« greift die Vorstellung empfindsamen Briefeschreibens auf, nach der der Brief die Fortsetzung des Gesprächs unter Freunden ist, also einer Authentizität des Fühlens Ausdruck verleihen soll – wobei Kleist darauf aufmerksam macht, dass es sich beim Brief stets nur um eine »bloße Copie« des Herzens handeln könne. Entsprechend ist seine Aussage gegenüber Ulrike von Kleist vom 23.3.1801 zu verstehen: »Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen, und Dir zuschicken« (vgl. Tafel 25). Kleist macht auf diverse Probleme beim Reisen aufmerksam: das »Rütteln« und das »Geschwätz« in diesem doch vergleichsweise angenehmen Transportmittel (einer »bedeckten Post«), aber auch auf die Probleme bei der Verfügbarkeit der Schreibmaterialien Feder, Tinte und Papier. In diesem Brief verwendet Kleist zwei verschiedene Tinten (vgl. BKA IV/1, 177), in einem anderen zwei verschiedene Papiersorten (vgl. Tafel 20). Auf das Problem verlorener Briefe verweist er am 21. August und schlägt eine Buchhaltung der abgeschickten und empfangenen Briefe vor: Wie leicht können Briefe auf der Post liegen bleiben, oder sonst verloren gehen; wer wollte da gleich sich ängstigen? Geschrieben habe ich gewiß, wenn Du auch durch Zufall nicht eben sogleich den Brief erhalten solltest. Damit wir aber immer beurtheilen können, ob unsere Briefe ihr Ziel erreicht haben, so wollen wir beide uns in jedem Schreiben wechselseitig wiederholen, wie viele Briefe wir schon selbst geschrieben u empfangen haben. Und so mache ich denn hier mit unter folgender Rubrik den Anfang: Abgeschickt Empfangen Von Berlin den 1t Brief ––––

372

Ingo Breuer

TAFEL 8 a–c Kleist an Wilhelmine von Zenge, Koblenz bei Pasewalk 31.8. (S. 1r, bei BKA IV/1, die die Schreiben vom 30. und 31. als ein Brief ansehen, entsprechend auf S. 3r), Leipzig 30. August 1800 (S. 3r), Würzburg 19.–23. September 1800 (S. 4v) – früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Kleists Nummerierung seines Briefwechsels mit Wilhelmine von Zenge stellt einen roten Faden der Korrespondenz bei der Würzburger Reise dar; stets findet sich – in wechselnden Anordnungen – eine Bilanz ›abgeschickter‹ und ›empfangener‹ Briefe (vgl. Tafel 7), die zudem auch nochmal die Reiseroute dokumentieren. Die Angst vor Zustellungsproblemen war berechtigt angesichts der Kriegswirren, die den Postverkehr (also sowohl die Nachrichtenübermittlung als auch die Reisetätigkeit) immer wieder sogar zum Erliegen brachten. Für weitere auch postalische Unsicherheiten sorgten die oft undurchsichtigen Reisepläne Heinrich von Kleists: Im oberen Brief berichtet er, dass die Reise nicht über Regensburg nach Wien gehen solle, sondern weiter östlich auf der kürzeren Postroute über Dresden und Prag; doch endet seine Reise schließlich sogar westlich von Regensburg in Würzburg. Auffällig sind, wie z.B. schon im ersten erhaltenen Kleist-Brief, also dem an seine Tante von Massow aus dem Jahr 1793, die unterstrichenen Ortsnamen.

TAFEL 9 Kleist an Ulrike von Kleist, Berlin 26. August 1800, S. 1v (Ausschnitt), 2r (komplett). – Früher PSB: Leihgabe Ernst von Schönfeldts, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Sein Routenwechsel und hier das Reisen incognito als »Klingstedt« machten es nicht leicht, Kleist postalisch zu erreichen; so korrigiert er seine Halbschwester in diesem Brief, dass sein Reisebegleiter nicht das Pseudonym »Buchholz sondern Bernhoff« trägt (S. 1v), und verzeichnet nochmal übersichtlich die Adressen und Pseudonyme von Brockes und ihm selbst. Unten findet sich die Bitte an Ulrike, die dort aufgelisteten Schulden an Hörergeldern bei seinen Frankfurter Dozenten zu begleichen.

TAFEL 10 Kleist an Wilhelmine von Zenge, 15. August 1801, S. 1r – früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Die Zustellungsprobleme in diesen Kriegszeiten waren offenbar beträchtlich, so dass die von Kleist und von Zenge geführten Listen abge-

Bilder einer Ausstellung

373

sandter und empfangener Briefe berechtigt sind. Unmittelbar zu Beginn dieses Briefes berichtet Kleist von Problemen mit der Post, zunächst von verloren gegangenen Briefen: Mein liebes Minchen, Dein Brief, u die Paar Zeilen von Carln u Louisen haben mir außerordentlich viele Freude gemacht. Es waren seit 10 Wochen wieder die ersten Zeilen, die ich von Deiner Hand laß; denn die Briefe, die Du mir, wie Du sagst, während dieser Zeit geschrieben hast, müssen verloren gegangen sein, weil ich sie nicht empfangen habe. Desto größer war meine Freude, als ich heute auf der Post meine Adresse u Deine Hand erkannte – (DKV IV, 258)

In diesem Brief berichtet Kleist über ein weiteres interessantes postalisches Detail: Es war durchaus die Regel, dass man selbst seine Briefe vom Postamt holen und sich dabei identifizieren musste – eine persönliche Zustellung gab es gegen Aufpreis (z.B. wenn ein Brief nach mehreren Tagen nicht abgeholt worden war): Aber denke Dir meinen Schreck, als der Postmeister meinen Paß zu sehen verlangte, u ich gewahr ward, daß ich ihn unglücklicher weise vergessen hatte – ? Was war zu thun? Die Post ist eine starke halbe Meile von meiner Wohnung entfernt – Sollte ich zurücklaufen, sollte ich noch zwei Stunden warten, einen Brief zu erbrechen, den ich schon in meiner Hand hielt? – Ich bat den Postmeister, er mögte einmal eine Ausnahme von der Regel machen, ich stellte ihm die Unbequemlichkeit des Zurücklaufens vor, ich vertraute ihm an, wie viele Freude es mir machen würde, wenn ich den Brief mit mir zurücknehmen könnte, ich schwor ihm zu, daß ich Kleist sei und ihn nicht betrüge – Umsonst! Der Mann war unerbittlich. Schwarz auf weiß wollte er sehen, Mienen konnte er nicht lesen – Tausendfältig betrogen, glaubte er nicht mehr, daß in Paris jemand ehrlich sein könnte. Ich verachtete, oder vielmehr ich bemitleidete ihn, hohlte meinen Paß, u vergab ihm, als er mir Deinen Brief überlieferte. Ganz ermüdet lief ich in ein Caffehaus u laß ihn – (DKV IV, 258)

Die Postangestellten standen unter einem strengen Reglement, was sich auch in diesem Brief ablesen lässt, denn Briefe wurden offenbar nur gegen Ausweis ausgehändigt, wenn man nicht persönlich bekannt war. In der Nachschrift auf der vierten Seite dieses Briefs (S. 2v) bittet Kleist nach den vorangegangenen Schwierigkeiten: »Schreibe bald (Ich habe Dir schon von Paris aus einmal geschrieben) – aber nicht mehr poste restante, sondern dans la rue Noyer, No. 21« (DKV IV, 263). Der Beginn des Briefs dokumentiert, dass nicht nur Wilhelmine von Zenges Brief angekommen ist. Kleist bedankt sich auch für »die Paar Zeilen von Carln u Louisen«, die wahrscheinlich separat beigelegt gewesen sein dürften, denn es war schon aus finanziellen Gründen nicht unüblich, dass ein Briefumschlag mehrere Briefe enthielt – manchmal auch zur

374

Ingo Breuer

Weiterleitung an andere Personen, wie es bei diesem Brief der Fall ist, denn in der Nachschrift vermerkt Kleist: »Gieb das folgende Blat Louisen, das Billet schicke Carln« (DKV IV, 263).

TAFEL 11 Kleist an Ulrike von Kleist, 5. Januar 1808, S. 1r – Früher PSB: Leihgabe Ernst von Schönfeldts, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Zunächst hatte Kleist nicht »kennt« geschrieben, sondern das schwächere »zu kennen scheint«. Da er aber einen teuren Boten zu Ulrike gesandt hat, muss die preisgünstigere Variante, also die Anfrage per Brief, als geradezu unmöglich dargestellt werden. Er bittet dringend um Geld und, wie sich am Schluss herausstellt, soll dies der Bote direkt in Empfang nehmen. Die Dringlichkeit ist für Kleist offenbar derart hoch, dass er postalische Verzögerungen unbedingt vermeiden will.

TAFEL 12 u. 13 Kleist an Ulrike von Kleist am 21. November 1811 – früher PSB: Leihgabe Ernst von Schönfeldts, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Das Doppelblatt ist einseitig beschrieben und dann so zusammengefaltet und gesiegelt, dass ein eigener Umschlag überflüssig wird. Die leere Rückseite verhindert eine Beschädigung des Texts durch das Erbrechen des Siegels (›Kuvertbeschriftung‹ auf S. 4v, hier oben links); zudem ist dadurch die Schrift von außen kaum mehr lesbar. Es handelt sich hier um den letzten erhaltenen Originalbrief Kleists; von den übrigen ›Todesbriefen‹ sind nur Abschriften erhalten (siehe die Abbildungen im Text). Vgl. Tafel 32 mit der Detailabbildung des Brieftexts.

TAFEL 14 Kleist an Wilhelmine von Zenge, 27. Okt. 1801 (BKA IV/2, 125–131) – früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Das beidseitig beschriebene Doppelblatt dient gleichzeitig als Umschlag. Auf der Vorderseite (obere Reihe) bleibt daher die linke Seite für Adresse und Portovermerke frei – die rechte Hälfte der Rückseite (untere Reihe) kann beschrieben werden. In der BKA wird der Zustand der Handschriften mit größter Genauigkeit beschrieben, aber dieses Detail ist nicht immer unmittelbar evident, da – anders als z.B. in der Marburger Georg-BüchnerAusgabe – leere Blätter und Blattränder nicht mitgedruckt werden, so dass Blattformate usw. nicht augenfällig werden (z.B. bei einem Doppelblatt

Bilder einer Ausstellung

375

durch den Unterschied zwischen Rand mit Faltungskante bzw. äußeren Ausfransungen).

TAFEL 15 Kleists Briefe an Wilhelmine von Zenge vom 4./5. September 1800 auf der Reise nach Würzburg und vom 11./12. September 1800 aus Würzburg – früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Auffällig sind die zahlreichen postalischen Informationen: diverse z.T. gestrichene Portovermerke und korrigierte Frei-Vermerke (oben z.B. Streichungen »Frankfurt a. d. Oder« und »frei bis Berlin« sowie darüber in roter Schrift »frei bis Witterbg« korrigiert zu »Berlin«; zusätzlich mit Hinweis, den Brief beim Kaufmann Clausius abzugeben; unten Postamtsstempel »Würzburg«, Portovermerke in roter und schwarzer Schrift, »frei bis Leipzig« (d.h. die Empfängerin zahlte das Porto für den verbleibenden Weg) und ein Vermerk der Empfängerin: »sie kamen beide zu gleicher Zeit« – andere Briefe hatte sie durchnummeriert (Angaben und Zitate nach BKA IV/2, 250). Dass Empfänger das Porto ganz oder teilweise zu zahlen hatten, war üblich; einmal schreibt Kleist explizit an Wilhelmine von Zenge: »Diese Correspondenz wird Dir vieles Geld kosten. Ich werde das ändern, so viel es möglich ist. Was es Dir doch kostet, werde ich Dir schon einst ersetzen.« (DKV IV, 103)

TAFEL 16 Kuverts der Briefe Kleists an Wilhelmine von Zenge aus Paris vom 15. August 1801 (oben) und 10.Oktober 1801 (unten) – früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Der Brief vom 15.8.1801 enthält zahlreiche Portovermerke in roter und schwarzer Schrift (»10«, »7½«, »12½«) sowie einen Stempel »P« in einem unten offenen Dreieck über dem Namen »Wilhelmine de Zenge«, während der Brief vom 10.10. nur einen Portovermerk (»2«) trägt. Während sich auf dem Brief vom 15.8. Kleists Siegel befindet, ist es auf dem Brief vom 10.10. das Siegel der Familie von Zenge. Auch hat nicht Kleist selbst, sondern vermutlich Karl von Zenge die Adresse geschrieben, d.h. der eigentliche Absender wird hier verschleiert. Möglicherweise wurde der Brief vom 10.10. aber auch in einem Sammelumschlag aus Paris abgesandt und von Wilhelmines Bruder dann an seine Schwester weiterverschickt. Die postalischen Hintergründe von Kleists Korrespondenz sind noch bei Weitem nicht ausreichend erforscht. Auf beiden Kuverts finden sich zwei Eintragungen aus der Hand Wilhelmine von Zenges: erstens die Nummerierungen auf der Vorderseite

376

Ingo Breuer

»No 6« (korrigiert von »5«) bzw. »No 7« und zweitens das Datum auf der Rückseite (Beschreibung nach BKA IV/2, 83 u.109).

TAFEL 17 Kleist an Ulrike von Kleist, Mai 1799, S. 2r (letzter Absatz) – früher PSB: Leihgabe Ernst von Schönfeldts, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist In den frühen Briefen propagiert Kleist zahlreiche Male, dass der Mensch einen Lebensplan haben müsse, wiewohl er an keiner Stelle eine konkrete Aussage dazu macht, was darunter in seinem Fall zu verstehen ist – zu bedenken ist allerdings seine Bemerkung gegenüber Christian Ernst Martini vom 18./19. März 1799: »Allen, die um meinen Entschluß wissen, meiner Familie, mit Ausschluß meiner Schwester, meinem Vormunde, habe ich meinen neuen Lebensplan nur zum Theil mitgetheilt […]« (DKV IV, 20f.). Im vorliegenden Brief wird allerdings der Eindruck erweckt, dass es nun zu spät für einen solchen Plan sei, was zumindest für den Fall, dass Kleist nun an eine akademische Karriere denkt, durchaus zutreffend wäre, denn dafür gilt er nach der längeren Militärzeit als zu alt: So lange ein Mensch noch nicht im Stande ist, sich selbst einen Lebensplan zu bilden, so lange ist u bleibt er unmündig, er stehe nun als Kind unter der Vormundschaft seiner Ältern oder als Mann unter der Vormundschaft des Schicksals; Die erste Handlung der Selbstständigkeit eines Menschen ist der Entwurf eines solchen Lebensplan’s. Wie nöthig es ist, ihn so früh wie möglich zu bilden, davon hat mich der Verlust von sieben kostbaren Jahren, die ich dem Soldatenstande widmete, von sieben unwiderbringlich verlornen Jahren, die ich für meinen Lebensplan hätte anwenden gekonnt, wenn ich ihn früher zu bilden verstanden hätte, überzeugt. (DKV IV, 38f.)

Auf S. 3r ergänzt Kleist: »Ein Reisender, der das Ziel seiner Reise, u. den Weg zu seinem Ziele kennt, hat einen Reiseplan. Was der Reiseplan dem Reisenden ist, das ist der Lebensplan dem Menschen« (DKV IV, 40). Die Metapher der Lebensreise wird sich bewahrheiten, insofern als Kleist in seinem weiteren Leben immer wieder auf Reisen sein wird, so dass in der Forschung gelegentlich von einem Nomadentum Kleists die Rede ist.

TAFEL 18 Kleist an Ulrike von Kleist, 12. November 1799, S. 2v – früher PSB: Leihgabe Ernst von Schönfeldts, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist »Große Entwürfe mit schweren Aufopferungen auszuführen, ohne selbst auf den Lohn verstanden zu werden Anspruch zu machen, ist eine Tugend, die wir wohl bewundern, aber nicht verlangen dürfen. Selbst die größ-

Bilder einer Ausstellung

377

ten Helden der Tugend […] rechneten doch auf diesen Lohn […]« (DKV IV, 45). Obwohl er in diesem Kontext auch Jesus und Columbus als Pioniere ihrer Zeit herbeizitiert, sieht er sich dennoch als ›altmodisch‹: »Denn meine Absichten u. meine Entschlüsse sind solche Schaumünzen, die aus dem Gebrauch gekommen sind u nicht mehr gelten; daher zeige ich sie gern zuweilen einem Kenner der Kunst, damit er sie prüfe u mich überzeuge, ob, was ich so emsig u eifrig sammle u aufbewahre, auch wohl ächte Stücke sind, oder nicht« (DKV IV, 46).

TAFEL 19 Kleists Denkübungen für Wilhemine von Zenge, Frühjahr/Sommer 1800, zweites Blatt (Rückseite nur Ausschnitt) – früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Die Abbildungen in BKA IV/1, 137 u. 139 sind fehlerhaft, da aufgrund eines vertauschten Seitenverhältnisses stark gestaucht (korrekt wäre bei der dortigen Abbildungsbreite von ca. 15 cm eine Abbildungshöhe von ca. 18 statt 12 cm). Die zweite Denkübung behandelt die Frage »Eine Frau, die achtungswürdig ist, ist darum noch nicht interessant. Wodurch erwirbt u erhält sich nun wohl eine Frau das Interesse ihres Mannes?« (DKV IV, 61) Nichts sei »dem Interesse so zuwider, als Einförmigkeit«, und nur Talente führten laut Kleist zu Abwechslung, wobei es »nicht eben nothwendig« sei, daß die Talente der Musik, des Zeichnens, des Vorlesens [etc.] bis zur Vollkommenheit ausgebildet sind, wenn nur überhaupt der Sinn für das wahre Schöne dabei herrschend ist« (DKV IV, 62). Jenseits der problematischen inhaltlichen Aspekte bleibt interessant, dass auch hier – im Sinne Harsdörffers – das ›Gesprächspiel‹ zum universellen didaktischen Programm wird und zugleich – im Sinne Gellerts – der Brief als Fortsetzung des Gesprächs fungiert, indem eine virtuelle und in diesem Fall auch deutlich asymmetrische Zwiesprache inszeniert wird – die literarisierte Variante findet sich dann in Kleists Über die allmählige Vertigung der Gedanken beim Reden (vgl. die Einleitung zu diesem Band). Die dritte Denkübung enthält dann nur noch eine Frage, die von Wilhelmine von Zenge zu beantworten wäre.

TAFEL 20 Kleist an Wilhelmine von Zenge, Berlin 16.–18. November 1800, S. 2r (Ausschnitt s.u.) und 4r (Tafel 20) – früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist

378

Ingo Breuer

Es handelt sich hier um eines der zahllosen Beispiele für Wilhelmine von Zenge, bei denen Phänomene aus der physikalischen Welt auf die moralische bezogen werden: »Da gieng ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Thor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dache ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen – u. ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblichen Trost […]« (DKV IV, 159). Inwieweit solche Aussagen (auch) als authentischer Ausdruck subjektiven Empfindens ernst zu nehmen sind, ist nur schwer zu beantworten.

Graphische Elemente wie der Torbogen haben in Kleists Briefen Seltenheitswert, doch hier findet sich ein berühmt gewordenes Beispiel: Während der Brief mit Tinte geschrieben ist, hat Kleist den Torbogen mit Bleistift gezeichnet und dieses Schreibwerkzeug ebenso für die folgende Anmerkung benutzt: »d 30t Xbr 1800 | am vorletzten Tage im alten Jahrhundert.« (DKV IV, 165, vgl. die Beschreibung in BKA IV/1, 379) Dies weckt die Vermutung, dass Kleist und Wilhelmine von Zenge einen Tag vor dem Jahres- bzw. Jahrhundertwechsel (bei Kleist anders als heute üblich gezählt, aber rechnerisch völlig korrekt die Nacht vom 31.12.1800 zum 01.01.1801) zusammengesessen, die Briefe durchgeblättert und diskutiert haben, wobei Kleist erst zu diesem Zeitpunkt an einer freien Stelle des Briefs diese Zeichnung anfertigte. Hätte er bereits beim Verfassen eine solche Zeichnung anfertigen wollen, hätte er sie sicherlich auf der Seite der Beschreibung des Würzburger Torbogens und nicht erst viele Seiten später (und dort dann unkommentiert) eingefügt. Zudem wurde generell in Reisehandbüchern davon abgeraten, unterwegs mit Bleistift zu schreiben, da sich diese Schrift beim Transport stark abreiben könne; Tinte ist dauerhafter. Diese offensichtlich gemeinsame spätere Diskussion der Briefinhalte bestätigt den hohen Status der Briefe als Unterhaltungs- und Bildungsinstrument, als Ideenmagazin vielleicht nur für einen externen Zweck (als Topik für literarische Werke), sondern auch im Rahmen des gebildeten ›Gesprächspiels‹; tatsächlich sind Kleists Briefe an Wilhelmine von Zenge in Form eines sorgsam konstruierten fortlaufenden Texts geschrieben, so

Bilder einer Ausstellung

379

dass die Verlobte z.B. nach seiner Ankunft in Paris noch lange Zeit warten muss, bis er bei seiner Darstellung zur Beschreibung der Stadt kommt. Auffällig ist auch die Verwendung von zwei verschiedenen Papiersorten für diesen Brief: beide Male Postpapier, das erste Doppelblatt aber chamois, das zweite hellblau (vgl. BKA IV/1, 379).

TAFEL 21 u. 22 Kleist an Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801, S. 2v und S. 3r – früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Hier handelt es sich um den Brief über Kleists angebliche ›Kant-Krise‹: Vor kurzem ward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt – u. Dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mittheilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich. […] Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. so ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – u. alles Bestreben, ein Eigenthum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich – (DKV IV, 205)

Die grünen Gläser sind zu Kleists Zeit bereits lange als Sonnenschutz in Gebrauch, auch wenn ihr Nutzen kontrovers diskutiert wird. So bezeichnet George Adams in seiner Anweisung zur Erhaltung des Gesichts und zur Kenntnis der Natur des Sehens (2. Auflage, Gotha 1800, S. 158) die grünen Gläser als gesundheitsschädigend, da sie zwar »dem Anblick wohl thu[n]«, aber nicht »den Eindruck der Lichtstrahlen auf die Netzhaut mildern« (zahlreiche weitere Belege finden sich bei Michael Mandelartz: Grüne Gläser. Quellentexte zu Kleists sog. Kantkrise. Zugleich eine kleine Motivgeschichte grüner Brillen unter URL: http://www.kisc.meiji.ac.jp/~mmandel/recherche/kleist-grueneglaeser.html, 24.8.2012). Erwähnt werden sie auch von seinem Lehrer Christian Ernst Wünsch in der »Einleitung« seiner Kosmologischen Unterhaltungen für junge Freunde der Naturerkenntniß (2. Auflage, Leipzig 1791, S. 7), die Kleist seiner Verlobten zur Lektüre empfohlen hatte. Dort heißt es: »Du wirst dich sehr irren, […] wenn du glaubst, daß die Farbe dieses majestätischen Lichtes wirklich so gelbroth sei, wie sie dir scheint – Siehest du nicht, daß ein schwarzes Glas vor das Fernrohr geschraubt ist? […] Weißt du noch, wie wir durch rothes Glas alle Sachen roth, durch blaues blau, durch grünes grün gesehen haben – ?« Bei dem Bild, das Kleist hier be-

380

Ingo Breuer

nutzt, handelt es sich also um das erste, was Wilhelmine von Zenge in Wünschs Buch gelesen und die Familie von Zenge mit dem ›Hauslehrer‹ Kleist diskutiert haben dürfte. Kleist spricht in diesem Zusammenhang zudem weniger über Erkenntniskritik als über die verlorene Gewissheit, sich nach dem Tod ›Unsterblichkeit‹ zu sichern, d.h. es geht ihm um Ruhm und Ehre. Wie noch öfter, erklärt Kleist hier diese Erfahrung zur persönlichen Katastrophe: »Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und nun habe ich keines mehr – –« (DKV IV, 205). Die Folgerung aus diesem in der Forschung immer wieder als traumatische ›Kant-Krise‹ bezeichneten Vorfall (sofern es denn einer war), besteht jedoch nicht in der Resignation, sondern in einer Neuorientierung, in diesem speziellen Fall durch (Bildungs-) Reisen nach Frankreich und in die Schweiz, was der unmittelbar folgende Brief an seine Halbschwester Ulrike von Kleist bestätigt (siehe Tafel 23). Beide Reiseziele waren bei Schriftstellern seit Jahrzehnten äußerst beliebt. Berühmte publizierte Tagebücher und Reisebeschreibungen stammen etwa von Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg, Friedrich Nicolai, Heinrich August Ottokar Reichard, Johann Friedrich Reichardt, Johann Jakob Volkmann, Sophie von La Roche und Johann Wolfgang Goethe. Es ist noch nicht geklärt, in welchem Ausmaß sich Kleist – sei es für die Reise selbst, sei es für seine brieflichen Beschreibungen – von solchen früheren Reiseberichten hat inspirieren lassen. Auswahl gab es reichlich, was auch für seine früheren Reiseziele gilt, denn Kleist bewegte sich stets auf den Hauptstrecken des zeitgnössischen Tourismus.

TAFEL 23 Kleist an Ulrike von Kleist, 23. März 1801, S. 1r – früher PSB: Leihgabe Ernst von Schönfeldts, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Kleist wiederholt gegenüber seiner Halbschwester die Reisepläne, die er am Tag zuvor gegenüber seiner Verlobten als Resultat der angeblichen ›Kant-Krise‹ geäußert hatte: Mein liebes Ulrikchen, ich kann Dir jetzt nicht so weitläufig schreiben, warum ich mich entschlossen habe, Berlin sobald als möglich zu verlassen u ins Ausland zu reisen. Es scheint, als ob ich eines von den Opfern der Torheit werden würde, deren die Kantische Philosophie so viele auf das Gewissen hat. […] Der Gedanke, daß wir hienieden von der Wahrheit nichts, gar nichts, wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nennen, nach dem Tode ganz anders heißt, und daß folglich das Bestreben, sich ein Eigenthum zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ganz vergeblich u. fruchtlos ist, dieser Gedanke hat mich in dem Heiligthum meiner

Bilder einer Ausstellung

381

Seele erschüttert – Mein einziges u höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines mehr. […] Mein Wille ist zu reisen. (DKV IV, 207f.)

TAFEL 24 Kleist an Wilhelmine von Zenge, 15. August 1801, S. 2r – früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Die Relativierung der Werte, wie Kleist sie in den Briefen der ›KantKrise‹ formuliert, findet sich ein halbes Jahr später in einer neuen Variante wieder: Man sage nicht, daß eine Stimme im Innern uns heimlich u deutlich anvertraue, was Recht sei. Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinem Feinde zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten u mit Andacht ißt er ihn auf – Wenn die Überzeugung solche Thaten rechtfertigen kann, darf man ihr trauen? – Was heißt das auch, etwas Böses thun, der Wirkung nach? Was ist böse? Absolut böse? Tausendfältig verknüpft u verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen andern, u oft die schlechteste erzeugt die beßten – (DKV IV, 261, Hervorhebungen wie im Manuskript, bei DKV kursiv/fett)

Auch hier wird Erkenntniskritik mit dem Ehrbegriff in Verbindung gebracht, aber nun – zumindest scheinbar – verworfen: Freiheit, ein eignes Haus, u ein Weib, meine drei Wünsche, die ich mir beim Auf u Untergange der Sonne wiederhole, wie ein Mönch seine drei Gelübde! O um diesen Preis will ich allen Ehrgeiz fahren lassen u alle Pracht der Reichen u allen Ruhm der Gelehrten – Nachruhm! Was ist das für ein seltsames Ding, das man erst genießen kann, wenn man nicht mehr ist? (DKV IV, 262)

TAFEL 25 Kleist an Ulrike von Kleist, 23. März 1801, S. 1r – früher PSB: Leihgabe Ernst von Schönfeldts, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Der Möglichkeit, in einem Brief dem Herzen authentischen Ausdruck zu verleihen, hat Kleist bereits in einem Brief an Wilhelmine von Zenge vom 20.8.1800 eine Absage erteilt (vgl. Tafeln 6 und 7). Die vorliegende Briefpassage setzt das Thema fort: »Ich weiß nicht, was ich Dir über mich unaussprechlichen Menschen sagen soll. – Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen, und Dir zuschicken. – Dummer Gedanke!« (DKV IV, 313) Die ›Unaussprechlichkeit‹ muss also kein Ausdruck einer existentiellen oder ontologischen Krise sein, sondern kann auch als Kommentar zu Möglichkeiten und Grenzen epistolarer Kommunikation im Rahmen der Briefkultur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts

382

Ingo Breuer

verstanden werden. In diesem Kontext wäre obige Äußerung möglicherweise als recht konventionell einzustufen.

TAFEL 26 Kleist an Ulrike von Kleist, Königsberg 24. Oktober 1806, S. 1r – früher PSB: Leihgabe Ernst von Schönfeldts, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Kleist bezieht sich hier auf den Sieg von Napoleons Truppen über die preußische Armee bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 – ein besonders traumatisches Ereignis in den anti-napoleonischen Befreiungskriegen. Die königliche Familie flüchtete nach Königsberg, wo sich Kleist bereits seit 1804 aufhielt. Zum Zeitpunkt, als er diesen Brief schrieb, waren offenbar noch keine verlässlichen Nachrichten über die Schlacht zu erhalten, doch Kleist zeigt sich relativ gut informiert über die damaligen Truppenbewegungen und andere militärischen Details: Wie schrecklich sind diese Zeiten? […] Werdet Ihr flüchten? Es heißt ja, daß der Kaiser den Franzosen alle Hauptstädte zur Plünderung versprochen habe. Man kann kaum an eine solche Raserei der Bosheit glauben. Wie sehr hat sich Alles bestätigt, was wir vor einem Jahre schon voraussahen. Man hätte das ganze Zeitungsblatt von heute damals schon schreiben können. […] Vierzig tausend Mann auf dem Schlachtfelde, und doch kein Sieg! Es ist entsetzlich. Pfuel war, kurze Zeit vor dem Ausbruch des Krieges, Adjudant bei dem General Schmettau geworden, der bei Saalfeld geblieben ist. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Auch von Rühlen habe ich seit drei Wochen keine Nachrichten erhalten. Sie standen beide bei dem Corps des Prinzen Hohenlohe, das, wie es heißt, eingeschlossen und von der Elbe abgeschnitten ist. Man kann nicht ohne Thränen daran denken. (DKV IV, 363)

TAFEL 27 Kleist an Otto August Rühle von Lilienstern, 13. Juli 1807, S. 1r (Fortsetzung S. 1v u. 2r siehe Abb. unten) – früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen, Kleist Mit der Freilassung Kleists aus der französischen Gefangenschaft hat er das Problem, dass entweder postalische oder andere Probleme aufgetreten sind, hier was die erwartete Zusendung von Buchhonoraren betrifft, die Kleist zur Finanzierung seiner Rückreise benötigt. Da diese Sendung bisher ausgeblieben ist, wendet er sich an seinen alten Freund: »Mein liebster Rühle, | ich schreibe dir nur ganz kurz, um dir folgende Notizen zu geben. Soeben ist, von dem Gen. Clarke, der Befehl zu meiner Loslassung angekommen. Ich bin aber ganz ohne Geld, und nicht im Stande, zu reisen, wenn du mir nicht unverzüglich das Geld von Arnold schickst. Ich zweifle auch gar

Bilder einer Ausstellung

383

nicht daran, […] daß das Geld schon unterwegs ist. Sollte es aber doch, unvorhergesehener Hindernisse wegen, unmöglich gewesen sein: so mußt du es entweder noch möglich machen […] oder aber wenigstens meiner Schwester Ulrike davon Nachricht geben […].« (DKV IV, 380)

Diesen Brief hat Kleist auf den ersten drei Seiten eines Doppelblattes geschrieben und offenbar in einem eigenen Umschlag befördern lassen; die Schrift ist schlechter lesbar als sonst, was z.T. an der etwas gröber aufgetragenen bzw. etwas verlaufenen Tinte liegen dürfte, aber durchaus auch an der mehrmonatigen Gefangenschaft unter schlechten Bedingungen.

TAFEL 28 Kleist an Ulrike von Kleist, 25. Oktober 1807, S. 1v – früher PSB: Leihgabe Ernst von Schönfeldts, z. Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist Gestrichen ist hier die Passage »Es ist nicht unmöglich, daß wir den Codex Napoleon zum Verlag bekommen«. Ebenso ist später der Rückbezug auf diese Stelle gestrichen: »Wenn es uns mit dem Codex Napoleon glücken sollte (ich bitte dich, nichts von dieser Sache zu sagen) so würde es vielleicht nöthig sein, so schnell und so viel Geld herbei zu schaffen, daß ich noch nicht recht weiß, wie wir uns aus dieser Verlegenheit ziehen werden […]« (DKV IV, 391f., Streichung wie im Manuskript). Durch die Vehemenz der Tilgung wurde das Papier stark beschädigt, so dass es heute

384

Ingo Breuer

an diesen Stellen äußerst brüchig ist. Der helle Schimmer über der Tilgung stammt von neueren Restaurierungsmaßnahmen.

[zu Tafel 29]

Bilder einer Ausstellung

385

TAFEL 29 Kleist an Achim von Arnim, 14. Oktober 1810, S. 1r (Fortsetzung S. 1v u. S. 2r siehe Abb. unten) – früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen, Kleist Er entschuldigt sich hier für seine eigenmächtige Kürzung und Änderung in dem von Clemens Brentano bei den Berliner Abendblättern eingereichten Aufsatz über Caspar David Friedrich (s. Abb.). Er erschien gezeichnet mit »cb« für Clemens Brentano. Hier hält sich Kleist v.a. am Anfang an Briefkonventionen, die Respekt gegenüber dem Empfänger signalisieren sollen, mittelsdesetwas größeren Devotionalraums und des Ehrfurchtszeichens (vgl. auch den Beitrag von B. Gribnitz in diesem Band): »Machen Sie doch den Brentano wieder gut, liebster Arnim, und bedeuten Sie ihm, wie unpassend und unfreundlich es ist, zu so vielen Widerwärtigkeiten, mit welchen die Herausgabe eines solchen Blattes verknüpft ist, noch eine zu häufen« (DKV IV, 453).

»Hab’ ich denn einen bösen Willen dabei gehabt? Und wenn ich aus Irrthum gefehlt habe, ist es, bei einem solchen Gegenstande, werth, daß Freunde Worte deshalb wechseln?« (DKV IV, 453)

TAFEL 30 Friedrich de la Motte Fouqué an Karl August Varnhagen von Ense, 7. Januar 1811 – früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen, Fouqué

386

Ingo Breuer

Bei diesem Brief handelt es sich um eine der besonders interessanten ›Lebensspuren‹, da hier die massiven Schwierigkeiten bei den Berliner Abendblättern thematisiert werden: Mit den Abendblättern geht es recht fatal; sie sind ein Eris-Apfel zwischen Hitzig und Kleist geworden, so daß sich letztrer damit zu Kuhn, – schreibe Kuhn, Herausgeber des Freimüthigen!! – gewandt hat. Das nimmt mir nun alle Lust am Mitarbeiten, vorzüglich, da daß Blatt eine gänzliche Zeitungswendung nimmt. Früher habe ich mancherlei dahinein gegeben: Reflexionen, Ankündigungen, kleine Novellen oder vielmehr wohl nur Anekdoten u. dgl. m.

TAFEL 31 Kleists Billett an Rahel Levin, 24. Oktober 1811 – früher PSB, z.Zt. BJK: Slg. Varnhagen, Kleist Hier handelt es sich um ein Billet, also eine Kurzmitteilung auf kleinerem Papierformat, hier 9,7x11,5 cm, zwei Mal gefaltet und gesiegelt (vgl. die Angaben in BKA IV/3, 709). Ein solches Billet, das nur über eine kurze Strecke zu befördern war, wurde verständlicherweise nicht per Post, sondern von einem Boten (z.B. einem Bediensteten) überbracht: Obschon ich das Fieber nicht hatte, so befand ich mich doch, in Folge desselben, unwohl, sehr unwohl; ich hätte einen schlechten Tröster abgegeben! Aber wie traurig sind Sie, in Ihrem Brief. – Sie haben in Ihren Worten so viel Ausdruck, als in Ihren Augen. Erheitern Sie sich; das Beßte ist nicht werth, daß man es bedauere! Sobald ich den Steffen ausgelesen bringe ich ihn zu Ihnen HvKleist d 24t

Vermutlich da solche Mitteilungen nur einen ›niederen‹ Status innerhalb der Briefkultur hatten, wurden sie wohl trotz ihrer Häufigkeit nur selten aufbewahrt. Dies dürfte einer der Gründe für die Tatsache sein, dass auch von Kleist nur wenige Billets erhalten sind, darunter eines an Karl August Varnhagen von Ense (siehe Abbildung auf S. 387), den späteren Ehemann Rahel Levins und in dessen Nachlass sich auch viele der hier in diesem Band abgebildeten und in Krakau befindlichen Briefe und Dokumente von und über Kleist befinden (vgl. die Beiträge von M. Jaglarz, A. Arnold und P. Zarychta in diesem Band). Eine weitere Schwund- oder Vorstufe eines Briefs findet sich im Schreiben an Wilhelmine von Zenge vom 28. März 1801, in dem Kleist am Schluss schreibt: »Dieser Zettel gilt für keinen Brief. Bald, wenn ich Antwort von Ulrike habe, schreibe ich Dir wieder.« (DKV IV, 210, siehe Abbildung auf S. 388) Kleist bezieht sich hier auf die gemeinsame Buchführung

Bilder einer Ausstellung

387

der versandten und empfangenen Briefe, allerdings ist die Aussage vielleicht auch bedeutsam für eine Poetik des Briefs ex negativo, d.h. abgeleitet aus der Abgrenzung gegenüber anderen postalischen Mitteilungsformen wie dem Billet und anderen ›Kurzmitteilungen‹.

Billet an K.A. Varnhagen von Ense (vom Empfänger ergänzt: »Dresden, Oktober 1808«): »Lieber Varnhagen,| Ich bin zweimal im goldnen Engel gewesen, ohne Sie zu treffen. Heute bin ich krank. Wollen Sie Nachmittag eine Tasse Caffe bei mir trinken? […]«

388

Kleist an Wilhelmine von Zenge, 28. März 1801: »Dieser Zettel gilt für keinen Brief.«

TAFEL 32 (siehe Tafeln 12 u. 13) Kleists letzter Brief an Ulrike von Kleist am 21. November 1811 – früher PSB: Leihgabe Ernst von Schönfeldts, z.Zt. BJK: Slg. Autographa, Kleist

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Dr. Antje Arnold – Studium der deutschen Philologie, lateinischen Philologie, Archäologie in Köln, Birmingham und Prag. Promotion 2011, bis 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. Jahrhunderts, Empfindsamkeit, Theorie der Unterhaltung, Rhetorikund Poetikgeschichte, Mythos und Mythologie, Prager Deutsche Literatur. Buchpublikationen (Auswahl): Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert (Berlin, Boston 2012), Emotionen in der Romantik. Repräsentation, Ästhetik, Inszenierung (hg. mit Walter Pape; Berlin, Boston 2012). Dr. Ingo Breuer – Studium der Germanistik und Anglistik in Marburg und Coventry, seit 1996 Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Lehrtätigkeit an Hochschulen in Amsterdam, Bristol, Marburg und Trento, Kurzzeitdozenturen in Verona und Lissabon. Buchpublikationen in Auswahl: Kleist-Handbuch: Epoche, Werk, Wirkung (Hg.; Stuttgart, Weimar 2009), Kleist-Jahrbuch (Mit-Hg. seit 2004), Theatralität und Gedächtnis. Deutschsprachiges Geschichtsdrama seit Brecht (Köln u.a. 2004), Uwe Johnson-Jahrbuch (Mit-Hg. 2004-2006), Robert Musils »Die Amsel«: Kritische Lektüren (Mit-Hg., Bozen u.a. 2000), Der fremde Blick: Perspektiven interkultureller Kommunikation und Hermeneutik (Mit.-Hg., Bozen u.a. 1997), Erläuterungen und Dokumente: Peter Weiss: »Marat/Sade« (Mit-Verf., Stuttgart 1995). – Zahlreiche Aufsätze zur deutschsprachigen Literatur vom 17. bis 21. Jahrhundert. Dr. Anna Busch – Studium der Literaturwissenschaften, Rechtswissenschaften und Linguistik in Göttingen, Kapstadt und Berlin, zweijähriger Aufbaustudiengang Editionswissenschaften, vereidigte Übersetzerin, Stipendiatin der Nachwuchsförderung Berlin-Brandenburg, 2011 Promotion zu Julius Eduard Hitzig. Seit Februar 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin in der Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe »Berliner Intellektuelle 1800-1830« und Herausgeberin der Briefedition »Julius Eduard Hitzig«. Dr. Anna Castelli – Studium der Germanistik und Romanistik, Promotion über Bild und optische Medien im Werk Kafkas (Universität Pisa); DAAD Stipendium am Kulturwissenschaftlichen Seminar, Humboldt-Universität

390

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

zu Berlin; derzeit Lehre am Lehrstuhl für Westeuropäische Literaturen der Europa-Universität Viadrina Frankfurt an der Oder. Forschungsschwerpunkte: Kafka, Literatur des 20. Jahrhunderts, Geschichte und Theorie der Medien. Veröffentlichungen (deutsch, italienisch) über Thomas Mann, Kafka, Kleist; Monographie (italienisch): Lo sguardo di Kafka. Dispositivi di visione e immagine nello spazio della scrittura (›Kafkas Blick. Dispositive des Sehens und Bild im Raum des Schreibens‹; Milano 2012). Dr. Yvonne Delhey – seit 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Radboud Universiteit Nijmegen. Studium der Literaturwissenschaft, Politikwissenschaften und Geschichte in Aachen und Amsterdam, wo sie 2002 promovierte. Zusammen mit Sabine Jentges Leiterin des interkulturell und interdisziplinär ausgerichteten Projekts: »Spurensuche in der Stadt: die Stadt als urbanes Palimpsest«. Forschungsschwerpunkte im Bereich der Gegenwartsliteratur, Multikulturalität, ferner in den Bereichen: Raum und Literatur, Reisebericht, autobiographisches Schreiben. Zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze, Monographie: Schwarze Orchideen und andere blaue Blumen. Reformsozialismus und Literatur in der DDR (Würzburg 2004). Prof. Dr. Hans Esselborn – Lehrte bis 2009 Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Köln. Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Tübingen, Paris, München und Köln. Promotion 1971, Habilitation 1987. Gastprofessuren an der University of Kansas, Université Nancy 2, Université Paris XII, Université Lyon 3 und Jagiellonen-Universität Krakau. Forschungsschwerpunkte: Aufklärung und Jean Paul, Klassische Moderne, Literatur und Film, interkulturelle Aspekte, Literatur und Naturwissenschaft/Technik (Science Fiction). Buchpublikationen: Georg Trakl. Die Krise der Erlebnislyrik (Köln, Wien 1981), Das Universum der Bilder. Die Naturwissenschaft in den Schriften Jean Pauls (Tübingen 1989), Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts (Hg.; Würzburg 2003); Ordnung und Kontingenz. Das kybernetische Modell in den Künsten (Hg.; Würzburg 2009). Prof. Dr. Anne Fleig – Professorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für deutsche und niederländische Philologie der FU Berlin. Studium der Fächer Neuere Deutsche Literatur und Medienwissenschaften, Kunstgeschichte und Soziologie in Marburg. Postdoktorandin im DFG-Graduiertenkolleg »Körper-Inszenierungen« an der FU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart, Gattungs-Geschlechtergeschichte der Literatur, Literatur- und Kulturgeschichte der Gefühle und ihrer Codierung, Bewegung als ästhetisches Paradigma der Mo-

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

391

derne. Buchpublikationen (Auswahl): Handlungs-Spiel-Räume. Dramen von Autorinnen im Theater des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Würzburg 1999), Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports (Berlin, New York 2006), Körper-Inszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel (hg. mit Erika FischerLichte; Tübingen 2000), Zur Geschichte der Gefühle (hg. mit Claudia Benthien u. Ingrid Kasten; Köln, Weimar, Wien 2000). Dr. Barbara Gribnitz – Studium der Geschichte und Germanistik in Greifswald und Leipzig, Promotion mit einer Arbeit über Kleists Erzählung Die Verlobung in St. Domingo, DAAD-Lektorin an der Université d’Artois, Arras (Frankreich), seit 2008 Mitarbeiterin des Kleist-Museums, Mitarbeiterin in der Redaktion der Gedankenstriche und des Kleist-Jahrbuchs. Buchpublikation: Schwarzes Mädchen, weißer Fremder. Studien zur Konstruktion von ›Rasse‹ und Geschlecht in Kleists Erzählung »Die Verlobung in St. Domingo« (Würzburg 2002), Caroline de la Motte Fouqué, geb. von Briest, auf Nennhausen (Frankfurt/Oder 2010). Dr. Leonhard Herrmann – wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte in der Literatur der Goethezeit, im Bereich Gegenwartsliteratur und in der Kanontheorie, ferner in Fragen von Literatur und Erkenntnis und dem Verhältnis von Literatur und Religion. Veröffentlichungen (Auswahl): Klassiker jenseits der Klassik. W. Heinses Ardinghello – Individualitätskonzeption und Rezeptionsgeschichte (Berlin, New York 2010), Kanon als System. Kanonbegriffe und Kanon-Modelle in der Literaturwissenschaft (in: Lothar Ehrlich et al. (Hg.): Die Bildung des Kanons. Köln, Weimar 2007). Dr. Monika Jaglarz, stellv. Leiterin der Handschriftenabteilung der Jagiellonen-Bibliothek. Studium der Geschichte an der Jagiellonen-Universität Krakau. Mitarbeiterin der an der Jagiellonen-Bibliothek angesiedelten Forschungsgruppe zur Erforschung der neueren Handschriften, Geschichte des Buches. Forschungsschwerpunkte: Handschriftenkunde, Editionswissenschaft, Geschichte des Buches. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Księgi metrykalne kościołów radomskich z lat 1591–1795. Seria A, Metryki chrztów. T.1; Kościół św. Jana Chrzciciela 1598–1795 (›Pfarrbücher der Kirchen aus Radom aus den Jahren 1591–1795. Reihe A, Taufregister, Bd. 1; Kirche des hl. Joh. d. Täufers.‹; wiss. Bearbeitung des Quellenmaterials M. Jaglarz; Radom 2004), Księgarstwo krakowskie w XVI w. (›Krakauer Buchkunst im 16. Jh.‹; mit Jadwiga Grzybowska, Urszula Klatka; Kraków 2004), Invertarium librorum manuscriptorum Bibliothecae Iagellonicae (Kraków 2008), Archiwum Domowe Pawlikowskich, cz. 1 (›Hausarchiv der Familie Pawlikowski, T.1‹; Kra-

392

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

ków 2008); Archiwum Zygmunta Lubicz Zaleskiego w zbiorach Biblioteki Polskiej w Paryżu. Informator o zasobie (›Archiv von Zygmunt Lubicz Zaleski in den Beständen der Biblioteka Polska in Paris. Bestandsaufnahme‹; Kraków 2011). Dr. habil. Katarzyna Jaśtal – wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Jagiellonen-Universität Krakau. Studium der Germanistik in Krakau, Freiburg im Breisgau und Wien. 2005/06 Stipendiatin der Alexander von Humboldt Stiftung an der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: österreichische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; Galizien und Bukowina in deutschsprachiger Literatur; deutschsprachige Literatur der Restaurationszeit insbesondere Heinrich Heine, literarischer Körperdiskurs, Literatur und Medizin. Buchpublikationen (Auswahl): Erzählte Zeiträume. Kindheit in den Randgebieten der Habsburgermonarchie in den österreichischen Autobiographien nach 1945 bei Elias Canetti, Manès Sperber und Gregor von Rezzori (Kraków 1998); Körperkonstruktionen in der frühen Prosa Heinrich Heines (Krakau 2009), Transkulturelle Perspektiven. Die deutschsprachige Literatur der Moderne in ihren Wechselwirkungen (hg. mit Agnieszka Palej; Krakau 2009), Variable Konstanten. Mythen in der Literatur (hg. mit A. Palej, P. Moskała u. A. Dąbrowska; Wrocław 2011). Ursula Kiermeier, M.A. – Studium der Deutschen Philologie, Geschichte und Publizistik in Mainz, Breslau und Berlin. 1991–1994 DAAD-Lektorin an der Jagiellonen-Universität Krakau, 1996–1998 Redakteurin bei Karl Dedecius am Deutschen Polen-Institut Darmstadt. 1999 Mitarbeiterin beim polnischen Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse 2000. 2001–2006 DAAD-Lektorin am ILS der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań im Rahmen der Dolmetscher- und ÜbersetzerInnenausbildung. Fritz-Thyssen-, Herzog Ernst- und Fritz-Stern-Stipendiatin. Seit Oktober 2007 wieder an der Jagiellonen-Universität Krakau tätig, heute am Institut für Germanistik. Absolventin des Aufbaustudiengangs Konferenzdolmetschen am UNESCO-Lehrstuhl der Jagiellonen-Universität 2011. Forschungsschwerpunkte: geistliche Literatur der Frühen Neuzeit und des Pietismus (Angelus Silesius, Daniel Caspar von Lohenstein, Gerhard Tersteegen), Übersetzungsgeschichte; Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen in der Literatur. Seit 1994 zudem Übersetzerin zahlreicher literarischer und wissenschaftlicher Texte aus dem Polnischen, darunter: Jan Kochanowski: Treny. Thränen (Krakau 2000), Zofia Nałkowska: Die Ungeduldigen. Roman. Aus dem Polnischen von Ursula Kiermeier. Mit einem Nachwort von Włodzimierz Bolecki (Polnische Bibliothek; Frankfurt a. M. 2000).

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

393

Dr. Jadwiga Kita-Huber – wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Jagiellonen-Universität Krakau. Studium der Germanistik und Philosophie in Krakau und Jena. 2003 Promotion an der JagiellonenUniversität Krakau mit einer Arbeit über Paul Celan. 2011–2013 Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie und -übersetzung, deutschsprachige Lyrik des 20. Jahrhunderts, Jean Paul. Veröffentlichungen (Auswahl): Zur Übersetzbarkeit später Gedichte Paul Celans ins Polnische (in: Text & Kritik 53/54, 2002: Paul Celan); Verdichtete Sprachlandschaften. Paul Celans lyrisches Werk als Gegenstand von Interpretation und Übersetzung (Heidelberg 2004), Peter Bürger: Teoria awangardy (Übersetzung; Krakau 2006). Prof. Dr. Maria Kłańska – seit 1973 Arbeit am Germanistischen Institut der Jagiellonen-Universität Krakau, 1978 Promotion, 1985 Habilitation, 1986/87 und 1991 Humboldt-Stipendiatin, 1993–99 und 2007–11 Direktorin des Germanistischen Instituts, seit 1993 Universitätsprofessorin der Jagiellonen-Universität Krakau, seit 1994 Leiterin des Lehrstuhls Deutsche Literatur, seit 2001 ordentliche Professorin, 2001 Herder-Preis, 2006 Titel ›Meister‹ und Förderung bis 2009 durch die Stiftung für die Polnische Wissenschaft, Autorin und Herausgeberin zahlreicher Bücher, ca. 150 Aufsätze. Forschungsschwerpunkte: Österreichische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; Galizien und Bukowina in deutschsprachiger Literatur; Ostjudentum; Nachleben der Antike und der Bibel in der modernen Literatur. Dr. Inka Kording – Studium der Germanistik, Rhetorik und Philosophie in Tübingen und Frankfurt am Main, anschließend Mitglied im Graduiertenkolleg »Theorie der Literatur« an der Universität Konstanz, leitet derzeit das Abendgymnasium des Kolping-Bildungszentrums Heilbronn. Buchpublikationen: Louise Gottsched – mit der Feder in der Hand. Briefe aus den Jahren 1730 bis 1762 (Darmstadt 1999); Verschlungene Grenzen. Anthropophagie in Literatur und Kulturwissenschaften (hg. mit Annette Keck u. Anja Prochaska, Tübingen 1999), Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung (hg. mit Anton Philipp Knittel, Darmstadt 2003), (V)Erschriebenes Ich. Individualität in der Briefliteratur des 18. Jahrhunderts. Louise Gottsched, Anna Luisa Karsch, Heinrich von Kleist (Dissertation, erscheint Herbst 2012). Aufsätze zur Literaturtheorie und zur Literatur des 18. Jahrhunderts. Dr. Nadja Müller – wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut der Germanistik der Heinrich Heine Universität Düsseldorf. Studium der Philosophie und der Neueren und Älteren deutschen Philologie. Abschluss des Promotionsverfahrens im Januar 2011 mit einer Arbeit über Gottlieb Wil-

394

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

helm Rabener. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. Jahrhunderts, Ironie und Satire, Mittelalter- und Mythenrezeption, bürgerlicher Realismus. Zahlreiche Aufsätze u.a. zur Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert (u.a. zu Texten von Fontane, Kafka, Flaubert, Tolstoi, Muschg). Monographie: Moral und Ironie bei Gottlieb Wilhelm Rabener. Paratext und Palimpsest in den »Satyrischen Schriften« (Göttingen 2012). Prof. Dr. Klaus Müller-Salget – Studium der Germanistik, Latinistik und Philosophie in Bonn. Promotion 1970, 1970-1974 Assistent/Dozent an der Universität Gießen, dann wieder in Bonn. Habilitation 1980 ebenda. Lehrstuhlvertretungen in Bochum, Bonn und Passau, 1986–1988 Dozent in Erlangen. DFG-Forschungsprojekt »Deutschsprachige Schriftsteller in Palästina/Israel« 1987–1992 (mit Unterbrechungen). Gastprofessur an der Hebrew University in Jerusalem 1992/93, 1993 Ordinariat für Neuere deutsche Sprache und Literatur an der Universität Innsbruck, 2008 emeritiert. Mitherausgeber von Kleists Sämtlichen Werke und Briefen in vier Bänden im Deutschen Klassiker Verlag (1987–1997) und des Kleist-Jahrbuchs (seit 1998). Weitere Publikationen: Alfred Döblin. Werk und Entwicklung (1972, 2. Aufl. 1988), Erzählungen für das Volk. Evangelische Pfarrer als Volksschriftsteller im Deutschland des 19. Jahrhunderts (1984), Erläuterungen und Dokumente: Max Frisch: »Homo faber« (1987; Überarb. und erw. Neuausgabe 2008), Max Frisch (1996 u.ö.), Heinrich von Kleist (2002; 2., durchgesehene und überarb. Aufl. 2011), Literatur ist Widerstand. Aufsätze aus drei Jahrzehnten (2005). Zahlreiche Aufsätze zur deutschsprachigen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Prof. Dr. Zdzisław Pietrzyk – seit 2003 Direktor der Jagiellonen-Bibliothek, Studium der Geschichte, Promotion in Krakau 1999. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte 16.–19. Jh., Kirchengeschichte, Geschichte der Reformation, Editionswissenschaft. Über 250 Aufsätze und zahlreiche Editionen (darunter Briefeditionen), u.a. Listy Władysława Sikorskiego do Władysława L. Jaworskiego i Prezydium Naczelnego Komitetu Narodowego (1914–1919) (›Briefe Władysław Sikorskis an Władysław L. Jaworski und das Nationale Hauptpräsidium‹, hg. mit Z. Koziński; Kraków 1987), Listy Marka Wajsbluma do Stanisława Kota z lat 1927–1961 (›Briefe Marek Wajsblums an Stanisław Kot 1927–1961‹, hg. mit Z. Koziński; Kraków 1996). Hg. der Reihe Bibliotheca Iagellonica. Fontem et Studia. Dr. Martin Roussel – seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität zu Köln. Studium der Germanistik, Pädagogik und Philosophie, Promotion 2007 über Robert

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

395

Walser. Seit 2007 Redaktionsleitung des Kleist-Jahrbuchs, Vorstandsmitglied der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft. Seit April 2009 wissenschaftlicher Geschäftsführer des Internationalen Kollegs Morphomata (Center for Advanced Studies). Buchpublikationen: Kreativität des Findens. Figurationen des Zitats (Hg.; München 2012), Name, Ding. Referenzen (Hg. mit Stefan Börnchen u. Georg Mein; München 2011), Matrikel. Zur Haltung des Schreibens in Robert Walsers Mikrographie (Frankfurt a.M. 2009), Einschnitte. Identität in der Moderne (Hg. mit Oliver Kohns; Würzburg 2007), Eingrenzen und Überschreiten. Ver-fahren in der Moderneforschung (Hg. mit Markus Wirtz u. Antonia Wunderlich; Würzburg 2005), Aufsätze v.a. zur Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert (u.a. Kleist, Goethe, Robert Walser, Marlene Streeruwitz), zu Schrift und Literatur, zur Theorie kultureller Figurationen. Marie Isabel Schlinzig, D. Phil. (Oxford) – derzeit als Leverhulme Early Career Fellow an der Universität von Oxford tätig. Forschungsschwerpunkte: Briefkultur und Briefliteratur des 18. bis 21. Jahrhunderts (besonders die Konventionen schriftlicher Sterbekommunikation) sowie Heinrich von Kleist (v.a. die künstlerische Rezeption seiner Biographie). Ihre Monographie Abschiedsbriefe in Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts erscheint 2012 bei Walter de Gruyter. Publikation u.a.: From Magic Columns to Cyberspace. Time and Space in German Literature, Art, and Theory (hg. mit Daniel Lambauer und Abigail Dunn, München 2008). Caroline Socha, M.A. – Studium der Germanistik, Psychologie und Pädagogik an der Universität Heidelberg bis 2010; arbeitet an einer Dissertation zu Text und Typographie zwischen 1750 und 1850. Seit 2007 editionspraktische Tätigkeit im Rahmen der Mitarbeit an der Brandenburger KleistAusgabe (BKA) und der Franz Kafka-Ausgabe (FKA). Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Buchdrucks und der Typographie, Literatur der Goethezeit, Theorie der Literatur und Edition. Publikationen in Auswahl: Joseph Görres, Schriftproben von Peter Hammer (Reprint der Ausgabe von 1808; mit Roland Reuss, Heidelberg 2011), Der zerbrochne Krug (In: Heinrich von Kleist, Etappen der Werkgeschichte. Katalog zur Ausstellung in der Heidelberger Heiliggeistkirche, hg. von Roland Reuß u. Peter Staengle. Basel, Frankfurt a.M. 2011). Dr. Paweł Zarychta – Studium der Germanistik, Promotion über Lessings Rhetorik im antiquarischen Streit; DAAD-Stipendium an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; derzeit Lehre am Institut für Germanische Philologie an der Jagiellonen-Universität Krakau. Forschungsschwerpunkte: Lessing, neuere deutsche Literatur, literarische Rhe-

396

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

torik, Übersetzungstheorie und -praxis. Veröffentlichungen über Lessing, deutsch-polnische Literaturkontakte, intertextuelle Bezüge zwischen Bibel und Literatur. Buchpublikationen: Spott und Tadel. Lessings rhetorische Strategien im antiquarischen Streit (Frankfurt a.M., Berlin, Bern, New York 2007), Authentizität und Polyphonie. Beiträge zur deutschen und polnischen Lyrik seit 1945 (hg. mit Jan Röhnert, Jan Urbich u. Jadwiga Kita-Huber; Heidelberg 2008), Der heiligen Schrift auf der Spur. Beiträge zur biblischen Intertextualität in der Literatur (hg. mit Maria Kłańska u. Jadwiga Kita-Huber; Wrocław, Dresden 2009), »Cóż za księga!« Biblia w literaturze niemieckojęzycznej od Oświecenia po współczesność (››Welch ein Buch!‹ Bibel in der deutschsprachigen Literatur seit der Aufklärung bis zur Gegenwart‹; hg. mit Maria Kłańska u. Jadwiga Kita-Huber; Kraków 2010) – Übersetzungen u.a.: Immanuel Kant: Ugruntowanie metafizyki moralności (›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹; Kraków 2005), Dieter Schenk: Noc morderców. Mord polskich profesorów we Lwowie i holokaust w Galicji Wschodniej (›Der Lemberger Professorenmord‹; Kraków 2011).

ALEXANDER LÖCK, DIRK OSCHMANN (HG.)

LITERATUR UND LEBENSWELT (LITERATUR UND LEBEN. NEUE FOLGE, BAND 82)

Welchen besonderen Zugang zur Welt bieten literarische Texte? Wie nehmen wir unsere Lebenswelt mit Hilfe von Texten wahr? Und was bedeutet sie uns in dieser Perspektive? Der vorliegende Band geht diesen Fragen systematisch wie historisch nach. Neben systematischen Beiträgen zum Verhältnis von lebensweltlichem Wahrnehmen und literarischem Darstellen bietet er eine Reihe von Studien, die dieses Verhältnis an konkreten Beispieltexten vom Mittelalter bis zur Gegenwart untersuchen. Er fragt dabei auch, welche Formen eines Konflikts zwischen lebensweltlicher Wahrnehmung durch Individuen und kulturell-gesellschaftlichen Normen und Verhältnissen literarischen Darstellungen aus verschiedenen Epochen zugrunde liegen. 2012. 242 S. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-412-20950-6

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

MICHAEL ZAREMBA

JEAN PAUL DICHTER UND PHILOSOPH EINE BIOGRAFIE

Am 21. März 2013 jährt sich sein Geburtstag zum 250. Mal: Jean Paul, 1763 in Wunsiedel geboren, 1825 in Bayreuth verstorben, war schon zu Lebzeiten einer der bedeutendsten und erfolgreichsten deutschen Schriftsteller. Mehrfach wurde er zum »Lieblingsdichter der Deutschen« ausgerufen. Seine literarischen Werke fanden viele Bewunderer. Die Weimarer Klassiker Wieland und Herder zählten dazu, ebenso wie die Philosophen Fichte und Hegel. Auch nachfolgenden Dichtergenerationen galt er als großes Vorbild. Doch seine ausufernden Textlabyrinthe stießen bisweilen auch auf Kopfschütteln und Unverständnis. Als autodidaktisch gebildeter Literat und Philosoph stand Jean Paul als Solitär zwischen Weimarer Klassik und Romantik, zwischen Auf klärung und Idealismus. Michael Zaremba stellt das Leben und Wirken des freigeistigen und feinsinnigen Dichters und Denkers nach dem neuesten Forschungsstand kompetent und kurzweilig vor. Seine Biografie ist eine Einladung, diesen liebenswert versponnenen Romantiker und scharfzüngig spottenden Realisten (neu) kennen und schätzen zu lernen. 2. AUFLAGE 2012. 335 S. 20 S/W-ABB. GB. MIT SU. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-412-21091-5

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

STEFANO BIANCA (HG.)

»WIR SIND DIE SPÄTEN ERBEN DES SCHÖNEN, DAS EWIG WÄHRT« MICHAEL STETTLER UND RUDOLF FAHRNER EINE DICHTERFREUNDSCHAFT IN BRIEFEN

Der ausführlich kommentierte Briefwechsel zwischen Michael Stettler (19132003) und Rudolf Fahrner (1903-1988) ist ein bewegendes Zeugnis der Freundschaft zwischen zwei Menschen, denen das Leben in der Dichtung und aus der Dichtung ein tiefes Bedürfnis war. Zugleich ist er ein Dokument, das wie kein anderes eine frische und authentische Sicht auf das Nachleben des George-Kreises in den Jahrzehnten nach 1945 vermittelt. Michael Stettler, aus einem alten Berner Patriziergeschlecht stammend, war Architekt und Kunsthistoriker und hat sich einen Namen als Direktor des Berner Historischen Museums und der Abegg-Stiftung gemacht. Der Germanist und Historiker Rudolf Fahrner stammt aus dem österreichischen Waldviertel, studierte bei Friedrich Gundolf in Heidelberg und Friedrich Wolters in Marburg, und hat selber in Marburg, Heidelberg, Athen, Ankara, Karlsruhe und Kairo gelehrt. Beiden Autoren wurde in jugendlichem Alter die Begegnung mit Stefan George zu einem prägenden Erlebnis. Diese Edition belegt erstmals ihr Wirken und ihren intensiven gegenseitigen Austausch als Dichter. 2013. 226 S. 12. S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-20951-3

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar