Tribunal der Blicke: Kulturtheorien von Scham und Schuld und die Tragödie um 1800 9783412213794, 9783412206840

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Tribunal der Blicke: Kulturtheorien von Scham und Schuld und die Tragödie um 1800
 9783412213794, 9783412206840

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Literatur – Kultur – Geschlecht Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte

Herausgegeben von

Anne-Kathrin Reulecke und Ulrike Vedder in Verbindung mit Inge Stephan und Sigrid Weigel

Kleine Reihe Band 30

Claudia Benthien

Tribunal der Blicke Kulturtheorien von Scham und Schuld und die Tragödie um 1800

2011

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildung: „Theatervorhang“, Fotograf: Martin Baumann (2003); © Bildagentur Adpic

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: xPrint s.r.o. Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20684-0

Inhalt I. Einleitung...............................................................................

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Theater und Tribunal / Historische Affektkulturen in der Tragödie / Scham und Schuld in der Tragödie um 1800 / Dialogizität und Agonalität in der ‚Deutschen Klassik‘ / Repräsentation von Affekten / Zu diesem Buch & Danksagung

II. Kulturtheorien von Scham und Schuld 2.1 ‚Schamkulturen‘ und ‚Schuldkulturen‘......................................

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Aktuelle Konflikte in Affektkulturen / Shame cultures und guilt cultures / Kritik und Heuristik des kulturtheoretischen Modells / Besonderheiten fiktionaler Affektkulturen

2.2 Differenzierungen von Scham und Schuld................................

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Entstehung und Relation der beiden Affekte / Scham-‚Selbst‘ versus Schuld-‚Handlung‘ / Emotionen des self-assessment / Wahrnehmung, Raum und Zeit / Scham-Schuld-Zyklen: Das Mythem von Kain und Abel

2.3 Theorien der Schuld . ...............................................................

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Transformation von Scham in Schuld in der alttestamentlichen Genesis / Paradigma Ödipus: Schuld in der antiken Tragödie / ‚Schuldlos schuldig‘: Philosophie des Tragischen um 1800 / „Schuldbewußtsein“ und KulturÜber-Ich / Die Instanz des Gewissens

2.4 Theorien der Scham.................................................................. Scham, Maske, Anti-Theatralität / Tödliche Scham: Jean Racines Phädra / Scham und Blick: Das visuelle Feld als Kampfzone / Psychoanalyse des Schamaffekts / Scham und Selbstreflexivität / ‚Schamhaftigkeit‘ um 1800

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Inhalt

III. Tragödien um 1800 3.1 ‚Mittelalterliche‘ Affektkulturen I – Friedrich Schiller: Die Jungfrau von Orleans............... 105 Tragödientheoretische Ambivalenzen / Das Charisma der Jungfrau: Selbstheroisierung als Hybris / „Fremder Ketten Schmach“: Beschädigte Kriegerehre und versehrte Genealogie / Der Blick als delophiles und theatophiles Ereignis / Der innere Gerichtshof des Gewissens / Tribunal der zentripetalen Blicke / Verhüllung in Fahnen: Allegorisierung der Unschuld

3.2 ‚Mittelalterliche‘ Affektkulturen II – Heinrich von Kleist: Die Familie Schroffenstein.......... 135 Schicksalsdrama, Zufallstragödie – oder Parodie? / Kollision historischer Ehrkonzepte: Blutrache, Fehde, Duell / Die Evidenz des ‚Rechtgefühls‘ / Gewalt als Schamabwehr / Die „Unschuld der Gefallenen“: Schuldreflexionen bei Kleist / Entzug von Darstellung: Gesichtsverlust, Schleier, Vorhang / Auslöschung der Genealogie

3.3 ‚Antike‘ Affektkulturen I – Friedrich Schiller: Die Braut von Messina................... 165 Ein fatalistisches „Trauerspiel mit Chören“ / Familienfluch und negative Prophetie / „Schlangenhaß der Brüder“ und (Auto-)Aggression des Helden / Don Cesars Schuld und Sühne? / Männliche Schuld und Inzesttabu / Aspekte der Dramaturgie von Scham und Schuld

3.4 ‚Antike‘ Affektkulturen II – Heinrich von Kleist: Penthesilea................................. 194 Archaisierung der Antike und Kontrafaktur der Jungfrau von Orleans / „In grimmiger Beschämung“: Affektdynamik von Scham und Zorn  / Täuschung und Verstoßung einer Königin / Zerreißung als Strafe für Liebesverrat? / Beschämung des Gesetzes / „Vernichtendes Gefühl“

IV.  Schlussbetrachtung................................................................ 225 Zu Schillers und Kleists Anthropologie / Tragische Scham? / Kulturtheorien und Literatur

Inhalt



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Literatur A. B. C. D.

Quellen..................................................................................... Forschungsliteratur zu Scham und Schuld................................ Forschungsliteratur zur Tragödie um 1800................................ Sonstige Forschungsliteratur.....................................................

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I.  Einleitung Theater und Tribunal Der Buchtitel Tribunal der Blicke führt Scham und Schuld, die beiden Leitkategorien der Untersuchung, pointiert zusammen. Ursprünglich dem Bereich der Schuldkultur entstammend wird der Begriff des Tribunals hier mit einem schamkulturellen Sinn belegt, indem die Vorstellung einer Sanktion durch herabsetzende, beschämende Blicke aufgerufen wird. Überdies wird in der Formel die konstitutive Wahrnehmungssituation des Theaters als ‚Schaubühne‘ mit der juristischen Sphäre verbunden, was für die zeitgenössische Dramaturgie durchaus angebracht ist, denkt man etwa an Gerichtsdramen wie Heinrich von Kleists Lustspiel Der zerbrochene Krug. In der christlichen Schuldkultur fungiert das Theater selbst als eine Art Tribunal, nicht zuletzt wegen der Leitfrage nach der tragischen Schuld des Helden und deren sukzessiver Aufdeckung im Verlauf der Handlung. Auch Friedrich Schiller verwendet den Tribunal-Begriff in Bezug auf das Theater, allerdings indem er eine ungewohnte Wendung vollzieht: „Nunmehr sind alle meine Verbindungen aufgelöst. Das Publikum ist mir jetzt alles, mein Studium, mein Souverain, mein Vertrauter. Ihm allein gehör ich jetzt an. Vor diesem und keinem andern Tribunal werde ich mich stellen. Dieses nur fürchte ich und verehr ich.“1 Schiller deklariert die Zuschauer selbst zum ‚Tribunal‘ und meint damit eine kollektive Richterschaft, deren Urteil er sich als Autor vollständig unterwerfen möchte. Er verabsolutiert die Macht des Publikums, indem er es als Lehrmeister, Herrscher und intimen Freund adressiert und sich dadurch in fundamentale Abhängigkeit von diesen sozialen Instanzen bringt. Nicht der Held, sondern der Dramatiker steht also vor diesem Tribunal, wobei sein Scheitern weniger tragische Schuld als ein beschämendes Versagen wäre. Auch Schiller also stellt sich streng genommen vor ein ‚Tribunal der Blicke‘, versteht man dieses als machtvolles Kollektiv, das ein Individuum anerkennen und bestätigen oder durch Verachtung vernichten kann. Scham 1 Friedrich Schiller. „Ankündigung der Rheinischen Thalia“. Sämtliche Werke 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 9. Aufl. München 1993. 854–860, S. 856. Es handelt sich um ein Zitat aus dem Werbetext Schillers für die geplante Zeitschrift Rheinische Thalia, den er als Einzeldruck an Freunde, Schriftsteller und literarisch Interessierte verschickte. Von der Zeitschrift erschien aber (im Frühjahr 1985) lediglich ein einziges Heft. Vgl. Kommentar, ebd., S. 1214 f.

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Einleitung

hängt eng mit der Dimension der Visualität zusammen, Schuld hingegen mit der Dimension der Auditivität – in einem Tribunal wird ein Urteil verkündet und vernommen, nicht aber visuell ausgedrückt und perzipiert. Auch diese Verschränkung von Sehen (Scham) und Hören (Schuld) ist in der Titelformel impliziert. Dieses Buch widmet sich zwei Affekten, die nicht nur theologisch und tragödientheoretisch relevant sind, sondern gleichermaßen aufschlussreich für eine Historische Anthropologie der Gefühle und die Frage ihrer Darstellbarkeit. Aufgrund ihrer Verwandtschaft werden beide in der Kulturtheorie oft gemeinsam verhandelt; sie werden entweder als relational interpretiert oder aber systematisch kontrastiert. Eine leitende Unterscheidung stellt der Umstand dar, dass Scham, anders als zu Schuld, nur schwer in Handlungskontexte einbindbar und, in radikaler Form, vernichtend und irreversibel ist. Dieser Affekt trifft das Selbst in seiner Integrität, was beim Schuldgefühl, verstanden als Reaktion auf konkrete Fehlhandlungen, nicht unbedingt der Fall ist. Daher wird Scham als Reaktion auf Selbstschädigung, Schuld eher als Reaktion auf Fremdschädigung verstanden. In einer einflussreichen kulturanthropologischen Debatte wird die Frage diskutiert, ob es sinnvoll ist, Kulturen beziehungsweise Gesellschaftsformen anhand ihrer leitenden Orientierung am Scham- oder am Schuldparadigma zu unterteilen, worauf die in diesem Buch gewählte Formulierung der ‚Affektkulturen‘ anspielt. Scham und Schuld als „moral emotions“2 reagieren aber nicht nur auf Verstöße gegen gesellschaftliche Regeln und Normen, sondern überdies auf persönliche Moralvorstellungen – auf Fragen danach, wie man leben und sein sollte. Der Soziologe Sighard Neckel bezeichnet Scham und Schuld daher als „die beiden psychischen Wachposten der Person, die oft auch gemeinsam salutieren“.3 Bei der Verletzung oder Überschreitung moralischer Standards kommt ihnen gleichsam eine „Signalfunktion“4 zu, wie der Sozialpsychologe Günter Bierbrauer bemerkt: Scham und Schuld gehören zu den selbstreferentiellen Emotionen, das heißt, sie basieren auf einer wechselseitigen Beziehung zwischen 2 Gabriele Taylor. Pride, Shame, and Guilt. Emotions of Self-Assessment. Oxford 1985, S. 100. 3 Sighard Neckel. „Achtungsverlust und Scham. Die soziale Gestalt eines existenziellen Gefühls“. Zur Philosophie der Gefühle. Hg. v. Hinrich Fink-Eitel u. Georg Lohmann. Frankfurt a. M. 1993. 244–265, S. 249. 4 Günter Bierbrauer. „Normative Regulation durch Emotionen. Scham und Schuld im Kulturvergleich“. Begegnung und Konflikt. Eine kulturanthropologische Bestandsaufnahme. Hg. v. Wolfgang Fikentscher. München 2001. 49–62, S. 55.



Einleitung

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der Bewertung des Selbst im Hinblick auf eigene Standards und die der Anderen.5 Psychodynamisch hängen Scham und Schuld eng zusammen und auch in der dramatischen Literatur werden sie besonders in ihrer Wechselwirkung relevant. Bereits in der antiken Tragödie – beispielsweise in Sophokles’ Aias und König Ödipus oder Euripides’ Medea – ist Scham, ebenso wie Schuld, ein zentrales Handlungsmotiv. Aufgrund der Problematisierung von Sichtbarkeit und Gesehenwerden ist Scham grundlegend, und in paradoxer Weise, an die theatrale Gestaltung gebunden. Das eindringlichste Beispiel ist die Selbstblendung des Ödipus, das Herausreißen der eigenen Augen und die gleichzeitige Selbstauslieferung an den öffentlichen Blick – wobei dieser Blick im doppelten Sinne, als fiktionsinterner Blick der Thebaner und fiktionsexterner Blick der Zuschauer, zu verstehen ist. Scham und Schuld sind für die Gattung der Tragödie von jeher besonders aufschlussreich: die Scham, da sie an die phänomenologischen Grenzen der Darstellung und Darstellbarkeit rührt;6 die Schuld, da sie untrennbar von der (antiken) Konzeption des Tragischen ist. Überdies sind beide Affekte leitend für die biblische Anthropologie, insbesondere die Erzählung vom Sündenfall, auf die sich Schiller und Kleist in ihren jeweiligen Werken beziehen: Man kann ihre Auseinandersetzung mit den Komplexen von Scham und Schuld als dramatische Versuchsanordnung beschreiben – als Frage danach, durch welche Konstellationen und Bedingungen die Protagonisten der hier behandelten Werke in den Zustand dieser ‚vernichtenden‘ Affekte geraten und – falls sie es tun –, auf welche Art sie sich wieder daraus zu lösen vermögen. Historische Affektkulturen in der Tragödie Die Untersuchung widmet sich je zwei Tragödien beziehungsweise Trauerspielen von Kleist und Schiller, die für diesen Zusammenhang als besonders einschlägig zu bezeichnen sind. Sie beschränkt sich auf die beiden Dramatiker, weil diese zu den wenigen Autoren gehören, die sich um 1800 einer Neuentwicklung tragischer Formen verschrieben haben – und auch, weil die intertextuellen Bezüge zwischen beiden bislang nur wenig erforscht wurden, sich aber gerade bezüglich der genannten Affektdarstellung als fruchtbar erweisen. Kleist hat mit Die Familie Schroffenstein und 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. Hans-Thies Lehmann. „Das Welttheater der Scham. Dreißig Annäherungen an den Entzug der Darstellung“. Merkur 45.9/10 (1991): 824–838.

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Einleitung

Penthesilea nur zwei vollendete Trauerspiele verfasst. Sein unvollendetes Stück Robert Guiskard ist zwar ebenfalls dem tragischen Genre zuzurechnen, wurde hier aber nicht berücksichtigt, da erstens pro Autor nur zwei Werke behandelt werden sollen und der Text zweitens aufgrund seines Fragmentcharakters weniger gut geeignet erscheint, insbesondere was die Relation von Affektdynamik und Dramaturgie betrifft. Ferner weisen unter anderem Kleists Lustspiel Amphitryon und sein „historisches Ritterschauspiel“ Das Käthchen von Heilbronn zwar tragische Elemente auf, diese sind aber weniger einschlägig und komplex als in Die Familie Schroffenstein und Penthesilea. Bei Schiller war die Auswahl der zu behandelnden Werke deutlich schwieriger, denn dessen neun Dramen sind sämtlich, bis auf das Schauspiel Wilhelm Tell, dem tragischen Genre zugehörig, auch wenn dies nicht alle Werke in ihrer Gattungsbezeichnung anzeigen. Von den acht ‚tragischen‘ Bühnentexten Schillers spielen zwei im Mittelalter, vier in der Frühen Neuzeit und zwei in der historischen Gegenwart des Autors. Die Entscheidung für Die Jungfrau von Orleans und Die Braut von Messina ist inhaltlich zweifach begründet: zum einen, weil beide Texte eine ausgeprägte Affektdynamik von Scham und Schuld aufweisen, zum anderen, weil mit ihnen je ein ‚mittelalterliches‘ und ein ‚antikisiertes‘ Werk in den Blick kommen. Vom Sujet her nahe gelegen hätte auch die Behandlung des Trauerspiels Maria Stuart; dieses Werk wurde aber nicht ausgewählt, weil es in der Frühen Neuzeit spielt und eine der Forschungsfragen, die hier verfolgt werden, darin besteht, den leitenden Rekurs beider Dramatiker auf Mittelalter und Antike zu thematisieren. Alle vier Dramen sind um 1800 entstanden, aber historisch in zurückliegenden Epochen angesiedelt: Kleists Trauerspiel Penthesilea spielt im antiken Griechenland, in der so genannten archaischen Zeit, der Epoche der trojanischen Kriege. Die anderen drei Werke sind im Mittelalter situiert: Schillers „Trauerspiel mit Chören“ Die Braut von Messina in einem „fiktiven mittelalterlichen Spielraum“7 im 11. oder 12. Jahrhundert auf Sizilien, Kleists Trauerspiel Die Familie Schroffenstein in einer nicht näher bestimmten, ebenfalls mittelalterlichen Zeit in Schwaben und Schillers „romantisches Trauerspiel“ Die Jungfrau von Orleans der Realgeschichte entsprechend im Spätmittelalter (frühes 15. Jahrhundert) in Frankreich. In der Braut von Messina finden sich neben mittelalterlichen Elementen 7 Wolfgang Albrecht. „,Der freie Tod nur bricht die Kette des Geschicks‘. ‚Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder‘“. Schiller. Das dramatische Werk in Einzelinterpretationen. Hg. v. Hans-Dietrich Dahnke u. Bernd Leistner. Leipzig 1982. 218–247, S. 220.



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auch viele Bezugnahmen auf die attische Tragödie und das antike Weltbild; ferner ist das Stück in einem hybriden Kultur- und Religionsraum verortet. Die Wendung hin zur Antike ist bekanntlich für die Deutsche Klassik programmatisch, der Rückbezug auf das Mittelalter hingegen für die Kleist nahestehenden Romantiker. Es hat sich jedoch in der Forschung immer wieder gezeigt, dass sich diese Synthese zeitgenössischer und älterer Mentalitäten in der Literatur um 1800 als problematisch erweist. JanDirk Müller etwa spricht kritisch von Kleists „Mittelalter-Phantasma“8 und Helga Gallas stellt mit Blick auf Penthesilea sowie Johann Wolfgang von Goethes Iphigenie in Frage, „wie und ob überhaupt die griechische Tragödie mit einer neuen Thematik und einem veränderten historischen Bewußtsein zu vereinbaren sei.“9 Ähnliches wurde über Schillers Versuch eines revivals der attischen Tragödie in seiner Braut von Messina gesagt (die ebenfalls als „Anti-Iphigenie“10 bezeichnet wurde). Gattungsgeschichtlich handelt es sich bei den vier behandelten Dramentexten um Geschichtsdramen, wobei dieser Begriff streng genommen nur auf Die Jungfrau von Orleans und Penthesilea zutrifft – jene beiden Dramen also, die tatsächlich historische beziehungsweise mythische Sujets aufgreifen. Nach einer Vorrangstellung im Barock verschwindet das Geschichtsdrama in der Aufklärungszeit aufgrund neu entstehender dramatischer Untergattungen – Sturm-und-Drang-Drama, Bürgerliches Trauerspiel – temporär von der Bühne. Stattdessen treten nun aus dem Leben gegriffene Protagonisten der unmittelbaren Gegenwart auf. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts stehen dann insbesondere Schillers historische Dramen (Don Carlos, Wallenstein, Maria Stuart, Die Jungfrau von Orleans und Wilhelm Tell) für eine neue Popularisierung dieser Untergattung und gelten bereits kurz nach ihrer Entstehung als modellbildend. 8 Jan-Dirk Müller. „Kleists Mittelalter-Phantasma. Zur Erzählung ‚Der Zweikampf‘ (1811)“. Kleist-Jahrbuch (1998): 2–20. Neben der Erzählung Der Zweikampf und dem Trauerspiel Die Familie Schroffenstein ist das „historische Ritterschauspiel“ Das Käthchen von Heilbronn ein weiteres wichtiges im Mittelalter spielendes Werk Kleists. 9 Helga Gallas. „Antikenrezeption bei Goethe und Kleist: Penthesilea – eine AntiIphigenie?“. Momentum dramaticum. Hg. v. Linda Dietrick u. David G. John. Waterloo 1990. 209-220, S. 209. 10 Benedikt Jeßing. „Im Wettstreit mit den Alten und den Neueren. Schillers ,Die Braut von Messina‘ im Kontext klassizistischer Dramenästhetik“. Der ganze Schiller – Programm ästhetischer Erziehung. Hg. v. Klaus Manger. Heidelberg 2006. 359– 376, S. 371.

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Die historische Rückwendung, die Schiller und Kleist in den vier behandelten Werken vornehmen, wird in diesem Buch chronologisch nachvollzogen, indem das in jüngster Epoche (Spätmittelalter) spielende Stück zuerst, das in der ältesten Epoche (archaische Antike) spielende zuletzt behandelt wird. Diese immer tiefer in die historische Dimension eintretende Reihenfolge entspricht auch der Entstehungsgeschichte der Werke. Die beiden inhaltlich und dramaturgisch stark miteinander korrespondierenden Dramen Die Jungfrau von Orleans und Penthesilea fungieren überdies als intertextueller Rahmen der Untersuchung. Die in allen vier Dramen erfolgte historische Rückwendung bei der Wahl der Sujets verweist, so die Leitthese des Buches, auf den Wunsch, andere – im weitesten Sinne: archaische – Gefühlsökonomien zur Verfügung zu haben. Anders als etwa Gotthold Ephraim Lessing, der in seiner Minna von Barnhelm das Problematischwerden von Konzepten der Scham, der Ehre und der Schuld in seiner historischen Gegenwart aufzeigt,11 geht es Schiller und Kleist nicht um eine Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur, sondern im Gegenteil um eine historisierende Wirkungsästhetik, die die Wucht des Tragischen in rückwärtsgewandten Affektkulturen sucht. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass in keinem der vier Dramentexte der höfische Diskurs oder die bürgerliche Konversation eine wichtige Rolle spielt; vielmehr findet sich eine dem tragischen Genre gemäße Archaisierung und stilistische Anhebung der Sprache und auch des dramatischen Konflikts. Mit den hier vorgelegten Analysen wird ein affektanalytischer Ansatz entwickelt, der auf vier unterschiedlichen Ebenen Kontraste herauszuarbeiten sucht: (1) Auf einer ersten Ebene wird die „[g]egensätzische“12 Dramatik Schillers und Kleists verglichen, insbesondere mit Blick auf ihre je spezifische Affektdarstellung und -dramaturgie; (2) auf einer zweiten Ebene geht es um die Gegenüberstellung ‚mittelalterlicher‘ (christlicher) und ‚antiker‘ (heidnischer) Affektkulturen; (3) auf einer dritten Ebene stehen sich Scham und Schuld als auf divergierende Kulturmodelle verweisende Leitaffekte der jeweiligen Werke gegenüber; (4) auf einer vierten Ebene steht das Personal selbst im Fokus und damit die Frage, wie Scham 11 Vgl. Claudia Benthien. „Scham und Schulden. Die Ökonomie der Gefühle in Lessings ‚Minna von Barnhelm‘“. Schuld und Scham. Jahrbuch Literatur und Politik 3. Hg. v. Alexandra Pontzen u. Heinz-Peter Preußer. Heidelberg 2008. Heidelberg 2008. 107–121. 12 Vgl. Bernd Hamacher. „Geschichte und Psychologie der Moderne um 1800 (Schiller, Kleist, Goethe). ‚Gegensätzische‘ Überlegungen zum ‚Verbrecher aus Infamie‘ und zu ‚Michael Kohlhaas‘“. Kleist-Jahrbuch (2006): 60–74.



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und Schuld mit Blick auf die Relation von Individuum und Kollektiv sowie die Kategorie Geschlecht theatral gestaltet werden. Die vorliegende Studie dient der Zusammenführung von Kulturtheorie und Literatur, die als je spezifische anthropologische Wissensdiskurse gleichberechtigt nebeneinander stehen. Im ersten, theoretischen Hauptteil (Kulturtheorien von Scham und Schuld) wird bewusst auf eine Historisierung der Affektkonzepte verzichtet; die zeitgenössische Auseinandersetzung mit den Affekten erfolgt im Wesentlichen mittels der Dramenanalysen im zweiten Hauptteil (Tragödien um 1800). Beide Teile des Buches ergänzen und erläutern sich gegenseitig; sie können jedoch auch unabhängig voneinander rezipiert werden, da sie jeweils in sich abgegrenzte Gegenstandsbereiche umfassen. Ebenso sind die vier Tragödienanalysen sowohl aufeinander bezogen, als auch in sich abgeschlossen. Dass das Buch sich überwiegend mit aktuellen Theorieansätzen befasst, hängt mit dem umfassenden und präzisen Wissen zusammen, das diese bezüglich der beiden Affekte erlangt haben. Hinter diesen Erkenntnisstand zurückzugehen und stattdessen zeitgenössische Konzepte von Scham und Schuld heranzuziehen, hätte einen qualitativen Rückschritt bedeutet, insbesondere weil die beiden Autoren bei der Affektgestaltung und emotionalen Motivierung durchaus differenziert vorgehen und der Theoriebildung ihrer Zeit, wie sich zeigen wird, darin deutlich voraus waren. Scham und Schuld in der Tragödie um 1800 In Kleists Die Familie Schroffenstein und Penthesilea, ebenso wie in Schillers Die Braut von Messina, spielt der Aspekt des tragischen Irrtums bzw. Verkennens eine entscheidende Rolle: Die Protagonisten werden schuldig am Tod einer geliebten Person, da sie Fakten oder Identitäten missdeuten. Ihre Schuld ist insofern als tragisch zu bezeichnen, als sie die Tötung unwissentlich oder im Zustand geistiger Umnachtung selbst vollziehen. Kleist jedoch steht dem teleologischen Konzept der Tragödie kritischer gegenüber als Schiller, der sich explizit auf die antike Tragödie und den Gedanken der tragischen Schuld bezieht. So finden sich in Familie Schroffenstein auch persiflierende und groteske Darstellungsweisen, die die tragischen Ereignisse konterkarieren, und in Penthesilea werden Elemente der (griechischen) Tragödie, wie etwa die Katharsis, metatheatral verhandelt. Überdies werden, wie bereits erwähnt, in vielen Kleist-Werken tragische und komische Elemente auf komplexe Art und Weise miteinander verschränkt. Im Unterschied zu den Autoren der Klassik, bei denen der viel zitierte ‚Zwiespalt von Pflicht und Neigung‘ zumeist zugunsten der Pflicht entschieden

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wird, sind Kleists Protagonisten ihren Affekten unterworfen und in der Regel nicht zu einer rationalen, den Neigungen und Leidenschaften entsagenden Lösung fähig. Sie werden daher schuldig, um die Scham über ihre Gefühle zu überwinden. In zahlreichen Werken ist Scham allerdings auch ein von Kleist positiv bewertetes Leitgefühl, gerade weil es den Kern der Person so stark tangiert. Insbesondere in jenen Texten, die Kleist in die Antike oder ins Mittelalter zurückverlegt, kommt dieser Affekt und das mit ihm einhergehende Konzept personaler Ehre zum Tragen. Scham als signifikanter, von anderen differenzierter Affekt wurde in der Schiller-Forschung bislang nicht behandelt – oder wenn doch, dann implizit als Tugend der Schamhaftigkeit und unter dem ästhetischen Paradigma der weiblichen ‚Anmut‘ beziehungsweise dem Topos der ‚schönen Seele‘, wie Schiller ihn in der Abhandlung Über Anmut und Würde entwickelt hat.13 In der Kleist-Forschung hingegen steht bezüglich des Schamaffekts oft der körpersprachliche Ausdruck, insbesondere das Erröten, im Fokus. Drei Aspekte werden dabei berücksichtigt: Erstens die Tatsache, dass diese physiologische Reaktion eine unwillkürliche, vom Subjekt nicht steuerbare Regung ist und ihr daher eine entscheidende Authentizität und ‚innere Wahrheit‘ eignet, wie sie in Kleists Werk nur der Ohnmacht vergleichbar zukommt. Zweitens betont die Forschung die semiotische Uneindeutigkeit des Errötens.14 Doch wird diese Mehrdeutigkeit des Errötens als Körperzeichen etwa in Penthesilea selbst verbalisiert – „der Wangen Rot, war’s Wut, war’s Scham“15 – und ist insofern für Kleists Dramaturgie und Anthropologie des Rätselhaften geradezu konstitutiv. Drittens wird Scham in der Kleist-Forschung mit einer Theorie der Darstellung und der ‚Antitheatralität‘ korreliert, denn das Erröten, ebenso wie das Senken oder Verbergen des Blicks, erfüllten in dieser Lesart eine Doppelfunktion von Zeigen und Verbergen. Während sich die Thematik der Schuld bei Schiller insbesondere im Kontext der Tragödie und der Konzeption des Tragischen findet (z.  B. mit Blick auf genealogische Erbschuld, den antiken fatum-Gedanken, die 13 Vgl. Friedrich Schiller. „Über Anmut und Würde“. Sämtliche Werke 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 9. Aufl. München 1993. 433–488. 14 So besteht etwa Dietmar Skrotzkis Forschungsbeitrag im Wesentlichen in einer Benennung bzw. Fixierung jener Affekte, die Kleist seines Erachtens mittels dieser ‚Gebärde‘ kodiert; vgl. Dietmar Skrotzki. Die Gebärde des Errötens im Werk Heinrich von Kleists. München 1971. 15 Heinrich von Kleist. „Penthesilea. Ein Trauerspiel“. Sämtliche Werke und Briefe 1. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. München 1987. 321–428, V. 97.



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Hamartia oder den vom bürgerlichen Trauerspiel übernommenen Topos weiblicher Unschuld), wird sie bei Kleist vermehrt auch mit Blick auf juridische Diskurse behandelt.16 In Kleists œuvre ist eine auffällige Präsenz von Rechtspersonen zu beobachten. In anderen Werken sind demgegenüber zwar die Inhalte des Rechts gegeben, personale Rechtsinstanzen (wie z. B. Herrscher oder Richter) aber bleiben absent, was eine verunsichernde Wirkung hat und die soziale Ordnung gefährdet. Oder die Figuren vertrauen auf ein vermeintliches Gottesurteil, das Schuld unzweideutig belegen soll. Die Infragestellung göttlicher Gerechtigkeit (Theodizee) und die damit einhergehende Ambivalenz von Schuld und Unschuld ist Leitthema mehrerer Erzählungen.17 Kleists Erzählung Die Marquise von O. und sein Drama Prinz Friedrich von Homburg kreisen um juristische Konzepte wie Schuld, Vorsatz, Begnadigung und Freispruch und deren literarische Reflexion.18 Schuld wird bei Kleist ferner – und durchaus in spannungsreicher Korrelation zur Rechtsdimension – mit Blick auf die biblische Anthropologie, insbesondere die Erzählung vom Sündenfall und den Topos vom ‚gefallenen Menschen‘, behandelt, eine Thematik die sich bei Schiller zwar ebenfalls, aber keineswegs so prominent findet. Scham und Schuld als christlich-moralische und antik-tragische Affekte gehen in allen vier Dramen enge Wechselwirkungen ein. Zum Beispiel wird Scham vielfach durch Schuld (Aggression) abzuwehren gesucht,19 aber sie wird auch diskursiv von der affektiv betroffenen Person als Schuld ‚behauptet‘, wodurch die beschämte Person leichter wieder in die Gemeinschaft reintegrierbar ist, weil sich Schuld in Handlungskontexte einbinden lässt, Scham jedoch nicht. Oder Figuren durchlaufen unterschiedliche Phasen, in denen der eine Affekt in den anderen übergeht oder beide sich fortwährend ablösen, was oft mit unterschiedlichen, je spezifischen theatralen Situationen und Settings – zwischen Monolog und Dialog, Intimität und ‚großer Szene‘ – einhergeht. Bei Schiller werden Scham und Schuld als psychologische Motivationen dramaturgisch explizit eingesetzt und, als moralische Prüfung, eng mit der Instanz des Gewissens verbunden (theatralisiert etwa im Monolog der Heldin in Die 16 Vgl. Claudia Benthien. „Schuld und Scham“. Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Ingo Breuer. Stuttgart u. Weimar 2009. 359–361. 17 So etwa in Michael Kohlhaas, Der Findling und Das Erdbeben in Chili. 18 Vgl. Remigius Bunia. „Vorsätzliche Schuldlosigkeit – begnadete Entscheidungen. Rechtsdogmatik und juristische Willenszurechnung in ,Der Prinz von Homburg‘ und ,Die Marquise von O... ‘“. Kleist-Jahrbuch (2004): 42–61, S. 42. 19 Vgl. Till Bastian u. Micha Hilgers. „Kain. Die Trennung von Scham und Schuld am Beispiel der Genesis“. Psyche 44 (1990): 1100–1112.

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Jungfrau von Orleans oder in der Argumentation um den Freitod des Helden in Die Braut von Messina). Bei Kleist hingegen werden sie entweder als bloß äußerliche, reaktionäre Motivierungen und Selbst-Täuschungen entlarvt (so etwa in der archaischen Rachefehde in Die Familie Schroffenstein) oder aber als den Handelnden selbst wesentlich unzugänglich bleibende und daher auch für die Zuschauer rätselhafte Emotionen vorgeführt (so in Penthesilea). Ihre Darstellung, ihr Einsatz und ihre Funktionen in den vier Dramen sind vielschichtig und je spezifisch. Während Scham und Schuld in Kulturtheorien vielfach zusammen diskutiert werden, ist das für die neuere Literaturgeschichte nicht der Fall. Für beide Autoren wurde die Fragestellung bislang nicht untersucht. Auch in der Tragödientheorie fehlt eine Auseinandersetzung mit der Kategorie der Scham, ihr kommt, im Unterschied zur extensiv traktierten Kategorie der Schuld, kaum Beachtung zu.20 Schuld gilt als der edlere, ethisch wertvollere und insbesondere den christlichen (und in der Überzahl protestantischen) Dichtern und Denkern sichtlich vertrautere Affekt. In der Zeit um 1800 entwickelt sich mit der Philosophie des Tragischen überdies eine Auffassung der menschlichen Existenz, die das der Tragödie entnommene Schuldkonzept anthropologisiert und universalisiert.21 Zugleich entstehen neue Auffassungen über die Bedeutung von Scham und Schamhaftigkeit in einer sublimierten Kultur. Mit diesem Buch wird daher auch das Ziel verfolgt, die einseitige Fixierung der Tragödienforschung auf den Aspekt der Schuld zu hinterfragen, insofern es gerade die Scham ist, die in aktuellen Kulturtheorien so eng mit dem für die Tragödie leitenden Konzept autonomer Subjektivität sowie dessen existenzieller Beschädigung verbunden wird. Dialogizität und Agonalität in der ‚Deutschen Klassik‘ Aufgrund der spezifischen und kulturtheoretisch ausgerichteten Fragestellung soll – nicht systematisch, aber gleichwohl explizit – auch der intertextuelle Vergleich zwischen beiden Autoren thematisiert werden. Dabei erweist sich die Forschungslage zum Verhältnis von Friedrich Schiller (1759–1805) und Heinrich von Kleist (1777–1811) als paradox: Zum 20 Als Ausnahme ist die philosophische Untersuchung von Bernard Williams anzuführen, die bei der Behandlung der Antike unter anderem auch die Tragödie in den Blick nimmt; vgl. Bernard Williams. Scham, Schuld und Notwendigkeit. Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral. Übs. v. Martin Hartmann. Berlin 2000. 21 Vgl. Rita Felski. „Introduction. Defining Tragedy“. Rethinking Tragedy. Hg. v. ders. Baltimore 2008. 1–25, S. 2 f.



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einen finden sich immer wieder Hinweise zur Relevanz des ‚Klassikers‘ Schiller für den ‚Antiklassiker‘ Kleist, zum anderen ist das intertextuelle Verhältnis beider Œuvres trotz ihres immensen Ranges für die germanistische Literaturwissenschaft noch in keiner wissenschaftlichen Publikation systematisch untersucht worden.22 Zeugnisse für die persönliche Bekanntschaft oder eine briefliche Korrespondenz von Schiller und Kleist sind nicht überliefert. Im Unterschied zu Goethe, dessen Signifikanz schon früh erforscht wurde und um dessen Gunst sich Kleist intensiv, aber vergeblich bemühte, wird das Verhältnis zu Schiller eher als unterschwellige Rivalität betrachtet.23 Zum Erweis der Bedeutung Schillers werden in der Regel drei Briefe angeführt, die Kleist im August 1800 und Januar 1801 verfasste.24 Anknüpfend an diese Briefzitate wurde konstatiert, dass die 22 Die nachfolgenden Ausführungen beruhen auf: Claudia Benthien. [Art.] „Friedrich Schiller“. Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Ingo Breuer. Stuttgart u. Weimar 2009. 219–227. 23 Katharina Mommsen zum Beispiel spricht davon, Kleist habe gehofft, „den nach Schillers Tod freigewordenen Platz an Goethes Seite einnehmen zu können“; Katharina Mommsen. Kleists Kampf mit Goethe. Frankfurt a. M. 1979, S. 14. 24 Im Brief an seine Verlobte bemerkt Kleist, er habe ihr „den Wallenstein von Schiller“ gekauft und fügt hinzu, sie möge das Drama wie er selbst lesen, so dass ihre „Seelen [...] in dem dritten Gegenstande zusammentreffen. [...] Träume Dir so mit schönen Vorstellungen die Zeit unsrer Trennung hinweg. Alles was Max Piccolomini sagt, möge, wenn es einige Ähnlichkeit hat, für mich gelten, alles was Thekla sagt, soll, wenn es einige Ähnlichkeit hat, für Dich gelten“. Brief Kleists an Wilhelmine von Zenge vom 6.8.1800. Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe 2. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. München 1987. 515–522, S. 517 f. Die zweite Bezugnahme findet sich in einem Brief Kleists an seine Schwester Ulrike, wobei hier Schillers Don Carlos den Referenztext darstellt: „Elisabeth ehrte die Zwecke Posas, auch ohne sie zu kennen. […] Ich baue ganz auf Dein Vertrauen zu mir u[nd] auf Deine Verschwiegenheit“. Im selben Brief heißt es über Wallenstein: „Du kannst das Buch als ein Geschenk von mir betrachten, denn sein Inhalt muß nicht gelesen, sondern gelernt werden. Ich bin begierig ob Wall[enstein] den Carlos bei Dir verdrängen wird. Ich bin unentschieden“. Brief Kleists an Ulrike von Kleist vom 21.8.1800. Ebd. 525–527, S. 525. Die dritte Erwähnung erfolgt in einem anderen Brief an die Verlobte, wobei die idealistischen Protagonisten Schillers hier als Verhaltensexempel dienen: „Würde wohl etwas Großes auf der Erde geschehen, wenn es nicht Menschen gäbe, denen ein hohes Bild vor der Seele steht, das sie sich anzueignen bestreben? Posa würde seinen Freund nicht gerettet, und Max nicht in die schwedischen Haufen geritten sein. Folge daher nie dem dunkeln Triebe, der immer nur zu dem Gemeinen führt. Frage Dich immer in jeder Lage Deines Lebens ehe Du handelst: wie könntest Du hier am edelsten, am schönsten, am vortrefflichsten handeln? – und was Dein erstes Gefühl Dir antwortet, das tue.“ Brief Kleists an Wilhelmine von Zenge vom 11.[u.12.]1.1801. Ebd. 609–613, S. 612.

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intellektuelle Auseinandersetzung mit Schiller primär Kleists Frühwerk prägt; doch lassen sich in späteren Werken wie Penthesilea oder Die Hermannschlacht ebenfalls zahlreiche Korrespondenzen finden: „Die Nähe zu Werken und Themen Schillers ist unübersehbar, die Spur eines literarischen Wettkampfs (nach Schillers Tod 1805) jedoch nicht mehr deutlich ausgeprägt.“25 Fragt man nach den weltanschaulichen und ästhetischen Korrespondenzen bzw. Divergenzen zwischen den beiden Autoren, so offenbart sich ein zutiefst widersprüchliches Bild, das fortwährenden ideologischen Konjunkturen und ästhetischen Umwertungen unterworfen zu sein scheint, die eng mit der Geschichte der Germanistik selbst zusammenhängen. „In der Literatur über Schiller und Kleist wird gerne auf die Verschiedenheit der beiden Dichter hingewiesen. Wenn man über Kleist schreibt, wählt man Schiller als Kontrastfigur, um die Eigenart Kleists um so deutlicher hervortreten zu lassen.“26 Ulrich Johannes Beil verweist auf das Problem einer Funktionalisierung von Schiller als bloße Folie: „Die Crux der bisherigen Schiller-Kleist-Vergleiche scheint zu sein, dass die klassische, idealistische Ästhetik als eine bekannte Größe vorausgesetzt und Kleists Entwurf dann entsprechend dagegengehalten wird.“27 Helmut Koopmann bemerkt, Kleist als „Antipode“ Schillers zu verstehen, bedeute zwangsläufig, „daß Schillers Welt in heiterer Ruhe erschien mit einer am Ende strahlend triumphierenden Geistigkeit, in der die Schlacken der irdischen Existenz hinweggeläutert waren“, was zu einer polaren Gegenüberstellung führe: „Schiller also als Klassizist, Kleist als moderner Dämon, Schiller als Überwinder der Geschichte, Kleist als der hoffnungslos in sie Verstrickte, der Glanz des Idealisten hier und die schwer überschattete Welt eines unglücklichen Realisten da“.28 Er stellt dies fest, nicht ohne aber im Anschluss die irritierende Beobachtung zu formulieren, dass Schiller eigentlich eine katastrophischere Welt als Kleist schildere und dessen Werke zumeist im Untergang

25 Hartmut Reinhardt. „Rechtsverwirrung und Verdachtspsychologie. Spuren der Schiller-Rezeption bei Heinrich von Kleist“. Kleist-Jahrbuch (1988/89): 198–218, S. 215. 26 Elsbeth Leber. Das Bild des Menschen in Schillers und Kleists Dramen. Bern 1969, S. 5. 27 Ulrich Johannes Beil. „‚Kenosis‘ der idealistischen Ästhetik. Kleists ‚Über das Marionettentheater‘ als Schiller-réécriture“. Kleist-Jahrbuch (2006): 75–99, S. 78. 28 Helmut Koopmann. „Schiller und Kleist“. Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 50 (1990): 127–143, S. 138 u. 129.



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enden, während man bei Kleist (auch) utopische Tendenzen und in die Zukunft gerichtete Perspektiven finde.29 Einerseits werden in der Forschung die vermeintlich antagonistischen Divergenzen beschworen, wie etwa, „Schiller transzendiert, Kleist hält hingegen an der Immanenz alles Wirklichen fest, auch wenn es ihm dabei in das Bodenlose des Nichts entgleitet“, oder dass der „Schillersche Held noch im Untergang freiwillig seinen Arm den Göttern [leiht, während] Kleist nur noch den Schmerz der Verlassenen [kennt], denen sich das Göttliche verhüllt und vernächtigt und denen es stets von neuem entgleitet“.30 Andererseits werden aber auch intellektuelle Gemeinsamkeiten konstatiert: „Die philosophischen Denktraditionen, in denen Schiller und Kleist stehen, berühren und überschneiden sich vielfach“.31 Als zentral gilt die beiderseitige Auseinandersetzung mit der Philosophie Immanuel Kants, was zur These führt, „the philosophical development of both thinkers can be dated from a ‚Kant-Erlebnis‘“32. Andere Forscher begreifen die Funktion Schillers hingegen selbst als eine Art ‚Kant‘ für die Herausbildung von Kleists Ästhetik: Während die Beschäftigung mit Kant für Kleist „auf eine negative Art fördernd [wirkt], so erscheint Schiller als ein positiver Markstein auf Kleists Wege zu seinem Selbst, indem er für Kleist zum Deuter einer von der irreführenden ratio unabhängigen Lebenshaltung wird“33. Kleists Auseinandersetzung mit Schiller sei „dem Range, wenn auch nicht der Erscheinungsform nach, mit der Kant-Krise zu vergleichen“, da sie „ähnlich tief reicht, langzeitig wirkt und ein wichtiges Moment im Selbstverständnis und in der Bekundung der eigenen Person darstellt“.34 Donald Crosby wählt die bündige Formel einer „similarity-within-difference“35, um die creative kinship beider Autoren zu charakterisieren. Bezüglich konkreter intertextueller Referenzen wurde von Gisela Berns konstatiert, dass die früheren Stücke, insbesondere Die Familie Schroffenstein, ein „engmaschiges Netz von Don Carlos- und Wallenstein-Zitaten“ enthalten, die späteren Stücke, besonders Prinz Friedrich von Homburg, 29 Vgl. ebd., S. 133 u. 143. 30 Benno von Wiese. „Der Tragiker Heinrich von Kleist und sein Jahrhundert“. Ders. Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel 1. Hamburg 1958. 275–293, S. 291 f. 31 Johannes Endres. Das ‚depotenzierte‘ Subjekt. Zu Geschichte und Funktion des Komischen bei Heinrich von Kleist. Würzburg 1996, S. 82. 32 Donald H. Crosby. „The Creative Kinship of Schiller and Kleist“. Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 53 (1961): 255–264, S. 255. 33 Werner Psaar. Schicksalsbegriff und Tragik bei Schiller und Kleist. Berlin 1940, S. 30. 34 Koopmann 1990, S. 139. 35 Crosby 1961, S. 263.

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hingegen fast nur noch Wallenstein-Zitate aufweisen; ferner verändere sich die Art des Zitierens, so finden sich „in den früheren Stücken lange, meist wörtliche, noch untereinander verschränkte Einlagen, in den späteren Stücken einzelne, eher stichwortartige, und dadurch in sich verfremdet wirkende Einsprengsel“36. Die bedeutendsten Intertexte weisen die Werke Die Familie Schroffenstein, Penthesilea, Die Hermannschlacht, Michael Kohlhaas und Das Marionettentheater auf.37 Nach Hartmut Reinhardt stellt sich „die Zitat-Präsenz“ von Schillers Wallenstein-Trilogie in Kleists erstem Drama Die Familie Schroffenstein als so massiv dar, „daß man den Autor gelegentlich in einer wahren Zwangsfixierung gefangen glaubt, zumindest aber den klaren Fall einer inneren Abhängigkeit zu konstatieren hat“38. Auch Koopmann geht, unter Bezugnahme auf Crosbys These der ‚verbal echos‘, auf den Zusammenhang dieser Werke ein.39 Als leitenden Bezug zum Wallenstein-Komplex hält Werner Psaar die Thematik von Vertrauen und Argwohn sowie die Entzweiung der Fürstenhäuser Friedland und Piccolomini fest.40 Crosby weist zwei thematische Schiller-Reminiszenzen in Kleists Trauerspiel nach: die Ähnlichkeit von Ottokars und Agnes Liebesbeziehung mit der von Max und Thekla einerseits, des freundschaftlich-väterlichen Verhältnisses von Jeronimus und Sylvester mit dem von Max und Wallenstein andererseits.41 Johannes Endres weist auf Kleists (topisches) Baummotiv der Eiche hin, in dem sich „Schillersches Bildvokabular“ wiederfände; des Weiteren bemerkt er, dass sich die dramatischen Konstellationen von Wallenstein und Familie Schroffenstein „auf verblüffende Weise“42 gleichen. Auch Reinhardts Bemerkung, dass sich „im Motivisch-Rhetorischen deutliche Rückspiegelungen“ der Penthesilea auf Die Jungfrau von Orleans „nicht gewärtigen lassen“,43 hat sich längst als unzutreffend erwie36 Gisela Berns. „,Mit dem Rücken gegen‘ Schiller. Zur Funktion der Schillertexte in Kleists ‚Prinz Friedrich von Homburg‘“. Ethik und Ästhetik. Werke und Werte in der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. v. Richard Fisher. Frankfurt a. M. u. a. 1995. 329–348, S. 331. 37 Nachfolgend werden nur die Bezüge zu den beiden hier behandelten Dramen näher ausgeführt; bezüglich der anderen genannten Kleist-Texte vgl. Benthien 2009a, S. 222–225. 38 Reinhardt 1988/89, S. 204; zu weiteren Korrespondenzen: vgl. ebd., 204–211. 39 Vgl. Koopmann 1990, S. 136 f. 40 Vgl. Psaar 1940, S. 27. 41 Vgl. Crosby 1961, S. 256. 42 Endres 1996, S. 107 u. 109. 43 Reinhardt 1988/89, S. 215.



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sen. Schon Crosby bezeichnete Johanna und Penthesilea als „literary half sisters“44; Ähnlichkeiten bestünden unter anderem darin, dass sich beide auf ‚heiliger Mission‘ befinden und einem göttlichen Gebot folgten; die konkrete Ausgestaltung des Konflikts und seiner moralisch-psychologischen Konsequenzen sei die entscheidende Neuerung Kleists gegenüber Schiller.45 Endres konstatiert, der „Vorlagencharakter“ der Schillerschen Jungfrau reiche „bis in Einzelheiten der Gestaltung“ und es zeige sich, „daß Schillers tragische Heroin an allen Ecken und Enden des Kleistschen Dramas präsent“ sei: „Als Rivalin Penthesileas kommentiert sie zugleich deren Verhalten. Mit ihr ist darüber hinaus der Deutungsrahmen der idealistischen Tragödie evoziert, freilich so, daß ihn das Drama auch wieder überschreitet. Auf diese Weise wird die Schillersche Tragödie bei Kleist an ihre menschlichen und künstlerischen Grenzen geführt.“46 Weitere „zwingende Parallelen“ seien die Ausgestaltung der Begegnung von Penthesilea und Achill nach dem Modell von Johanna und Lionel, aber auch Leitmotive wie das jeweils zweifache Verbergen des Gesichts der Heldin nach dieser Begegnung sowie der in beiden Werken eintretende dreimalige Theaterdonner nach dem ‚Fall‘:47 „Kleists Heldin hat, wenn man so will, ihren Schiller gelesen.“48 Auch Volker Nölle führt Analogien zwischen Johannas und Penthesileas Situation an, wie die Liebe zu einem Feind und das Negieren des Auftrags aufgrund der erotischen Leidenschaft.49 Das Hauptinteresse seines Beitrags aber besteht in der Frage, warum Kleist im Unterschied zu Schiller auf einen Monolog seiner Heldin verzichtet; Schillers Jungfrau dient dabei als Folie einer normativen Dramaturgie. Er entwickelt die Leitthese: „Kleists Penthesilea [wird] mit ihrer ‚gegenklassischen‘ Verfahrensweise als Gegenentwurf zu Schillers Credo, zu weiten Bereichen seiner Anthropologie, seiner Menschengestaltung lesbar und vollzieht insgesamt eine ‚gegenklassische Bewegung‘“50. Nach Walter Hinderer lässt sich die Jungfrau „als Vorläuferin der ‚Penthesilea‘ verstehen, allerdings mehr als Widerspruch denn als Kontrafaktur, so positiv Kleist 44 45 46 47 48 49

Crosby 1961, S. 258. Vgl. Crosby 1961, S. 258 f.; ausführlicher dazu siehe auch Kapitel 3.4. Endres 1996, S. 114. Vgl. ebd., S. 115 f. Ebd., S. 120. Vgl. Volker Nölle. „Eine ‚gegenklassische‘ Verfahrensweise. Kleists ‚Penthesilea‘ und Schillers ‚Jungfrau von Orleans‘“. Beiträge zur Kleist-Forschung 13 (1999): 158–174, S. 166. 50 Ebd., S. 171.

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auch ansonsten auf die dramatische Produktion Schillers reagiert hat“51. Als Korrespondenzen nennt er etwa den „numinosen Stellenwert“ einer Eiche in beiden Werken, den Umstand, dass Penthesilea wie Johanna in der Vorgeschichte in einem idyllischen, arkadischen Zustand gelebt hat und dass sich Penthesilea „auf dem Tiefpunkt ihrer Existenz wie Johanna aus der Sprache zurückzieht und schweigt“.52 Auch in Anbetracht der hier zusammenfassend dargestellten Einzelbeiträge ist festzuhalten, dass sich die Forschung zur intertextuellen Relation von Schiller und Kleist noch am Anfang befindet – wenn Koopmann vor 20 Jahren von einem „weißen Fleck auf der literaturwissenschaftlichen Landkarte“53 sprach, so hat sich dieses Bild bis heute nicht wesentlich geändert. Interpretationsansätze, die über das Aufweisen von Textbelegen und das Formulieren von Spekulationen hinausgehen, sind selten. Dabei hat die Intertextualitätsforschung schon früh systematische Unterscheidungen zwischen verschiedenen Typen der literarischen Bezugnahme vorgenommen, etwa zwischen Partizipation als „dialogische[r] Teilhabe an der Kultur“, Transformation als „Ursupation des fremden Wortes“ und Tropik als „Abwendung des Vorläufertextes“.54 Sämtliche Formen der Intertextualität werden von Kleist fortwährend praktiziert, wie bereits der summarische Durchlauf durch die beiden hier zu behandelnden Werke zeigt. Ein wegweisendes Modell zur Interpretation von Kleists Umgang mit dem vorhandenen ‚Schiller-Material‘ stellt Beils Studie zu Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater dar. Unter Bezugnahme auf Harold Blooms „Topografie des Fehllesens“55 subsumiert er Kleists Vorgehen unter dem Stichwort der „Kenosis“ (griech. ‚Entleerung‘). Man habe es „mit Abwehrformen der Zerstückelung, der Diskontinuität, der Reduktion und der Isolation zu tun, ketzerischen Arten der Wiederholung, zu denen neben der Metonymie auch die Literalisierung, die Verwörtlichung, gehört“56. Daraus entwickelt Beil die überzeugende These, dass 51 Walter Hinderer. „,Vom giftigsten der Pfeile Amors sei, / heißt es, ihr jugendliches Herz getroffen‘. Schillers ,Jungfrau von Orleans‘ und Kleists ,Penthesilea‘“. Beiträge zur Kleist-Forschung (2003): 45–68, S. 46. 52 Ebd., S. 50, 56 u. 64. 53 Koopmann 1990, S. 129. 54 Renate Lachmann u. Schamma Schahadat. „Intertextualität“. Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hg. v. Helmut Brackert u. Jörn Stückrath. Reinbek b. Hamburg 2004. 678–687, S. 679, 681 u. 683. 55 Harold Bloom. Eine Topografie des Fehllesens. Übs. v. Isabella Mayr. Frankfurt a. M. 1997. 56 Beil 2006, S. 95; Bezugnahme auf Bloom: ebd., S. 96.



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die „Rätselhaftigkeit des Kleistschen Textes […] sich zu keinem geringen Teil der asystematischen Rekombination von Begriffen, Motiven und Gedanken aus verschiedenen Werken Schillers [verdankt], Akten anarchischer Fragmentierung, die gerade nicht die Verbindung zum Vorgänger betonen, sondern die Abspaltung, die Differenz“57. Der Umgang mit dem Schiller-Material wird von Beil weiterhin als „Verfahren der Metonymie“ gekennzeichnet, das drei Leitfunktionen erfüllt: erstens die „‚Desakralisierung‘ kanonischer Texte“, zweitens das Betreiben von „Wiederholung als Veräußerlichung und Verwörtlichung“ und drittens die Reduktion der „schon rein quantitiv respektgebietende[n] Sprachmacht des berühmten Vorgängers auf ein wenige Seiten umfassendes, bewusst ‚falsch‘ notierendes ‚Stenogramm‘“.58 Die hier skizzierte methodische Perspektive ist zukunftsweisend, da sie die textuellen Strategien und ihre (bewussten und unbewussten) ideologischen Intentionen gleichermaßen berücksichtigt. In der vorliegenden Untersuchung wird sie exemplarisch in Kapitel 3.4 zum Tragen kommen. Repräsentation von Affekten In den Kulturwissenschaften wurde vor einigen Jahren ein emotional turn ausgerufen. Seitdem haben Fragen der Emotionalität und Affektivität in den Geisteswissenschaften Hochkonjunktur. Während zunächst Gefühle insgesamt im Spannungsfeld von Körper, Psyche und Kultur im Zentrum standen,59 hat sich die Forschung inzwischen stark ausdifferenziert, und es wurden zahlreiche Untersuchungen auch zu einzelnen Emotionen vor57 Ebd., S. 95. 58 Ebd., S. 95 f. 59 Aus der unüberschaubaren Zahl aktueller Publikationen werden hier nur einige interdisziplinäre, im deutschsprachigen Raum entstandene Bände genannt, deren Schwerpunkt auf der Affektdarstellung in den Künsten liegt: Klaus Herding u. Bernhard Stumpfhaus (Hg.). Pathos – Affekt – Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Berlin 2004; Antje Krause-Wahl u. a. (Hg.). Affekte. Analysen ästhetischmedialer Prozesse. Bielefeld 2006; Johann Anselm Steiger u. a. (Hg.). Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 2006; Dorothee Kimmich u. Schamma Schahadat (Hg.). [Themenheft] „Kulturen der Leidenschaften – Leidenschaften in den Kulturen“. arcadia 44 (2009); Martin Harbsmeier u. Sebastian Möckel (Hg.). Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike. Frankfurt a. M. 2009; Cornelia Zumbusch (Hg.). Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Berlin 2010. Die gegenwärtig prominenteste interdisziplinäre Forschungseinrichtung zu diesem Komplex ist das Exzellenzcluster Languages of Emotion an der Freien Universität Berlin.

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gelegt.60 Dabei wurde mehrheitlich die Annahme zugrunde gelegt, dass Gefühle nicht anthropologisch konstant, sondern je spezifisch und kulturell sind. Durch die Untersuchung von ‚Gefühlskulturen‘ verspricht man sich Einblicke in die Mentalität anderer Epochen oder Kulturen. Denn anhand der jeweiligen Vorstellungen von Emotionalität lassen sich historische Konzeptionen etwa von Subjektivität, Individualität und Innerlichkeit festmachen. Emotionen lassen sich nur abstrakt als ‚anthropologische Konstanten‘ fassen, denn sie sind historischen Veränderungen unterworfen und werden kulturell je spezifisch kodiert und modelliert.61 Die hohe Valenz der Scham als moralisches Gefühl (‚Schamhaftigkeit‘) etwa ist für die Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts konstitutiv, in der Gegenwartskultur hat sie diese hingegen wesentlich verloren. Historisch und kulturell variierend sind auch die Normen darüber, welches Verhältnis der Mensch zu seinen Gefühlen einzunehmen hat: ob er sie eher beherrschen, unterdrücken, lenken oder sie ausdrücken, ihnen freien Lauf lassen soll. Jede Kultur bildet ein unterschiedliches Verhältnis zu den Affekten selbst und auch zum literarischen beziehungsweise theatralen Umgang mit ihnen aus. Die in Literatur und anderen Künsten dargestellten Gefühle sind nicht nur von ihrer Medialität, sondern auch von den kulturellen Erwartungen an sie geprägt. Gefühle werden also nicht nur repräsentiert, sondern auch erzeugt sowie gewissermaßen in und mit diesen Künsten ‚verwaltet‘. Was unter ‚Gefühl‘, ‚Affekt‘ und ‚Emotion‘ verstanden wird, variiert in hohem Maße. Die Bezeichnungen stehen teils als konkurrierende Begriffe nebeneinander, teils überschneiden sie sich in ihrer Bedeutung und verweisen dabei auf verschiedene historische Diskurse und Praktiken. In der Literaturwissenschaft beispielsweise galt (und gilt) die Kultur des Barock als künstlich und entsprechend hat sich der auch zeitgenössisch relevante Terminus ‚Affekt‘ (Affektation, Affektiertheit) durchgesetzt, um diese Epoche zu beschreiben, während die Kultur des 18. Jahrhunderts in emphatischer Weise den Begriff des ‚Gefühls‘ (und der ‚Empfindung‘) für sich reklamierte, was die Forschung ebenfalls übernahm. Entsprechend sind leitende Konnotationen für den Ausdruck ‚Gefühl‘ 60 Diese können hier nicht umfassend angeführt werden; im Rahmen der Untersuchung soll dies aber exemplarisch anhand der interdisziplinären Forschungen zu Scham und Schuld geleistet werden. 61 Die nachfolgende Passage greift einige Gedanken auf, die in einer gemeinsam mit Anne Fleig und Ingrid Kasten formulierten Einleitung publiziert wurden: Claudia Benthien u. a. „Einleitung“. Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Hg. v. ders. u. a. Köln u. a. 2000. 7–20.



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Attribute wie ‚tief‘ und ‚echt‘, für ‚Affekt‘ eher solche der Oberflächlichkeit und Artifizialität. Der historisch jüngere Begriff ‚Emotion‘ (bzw. Emotionalität) wird heute von der Emotionspsychologie besetzt und eher mit behavioristischen Modellvorstellungen assoziiert. Doch der Etymologie nach, ausgehend von dem lateinischen motio, movens, verweisen ‚Emotion‘ und ‚Emotionalität‘ auf die Grundbedeutung der ‚Bewegung‘ – wobei offen bleibt, ob ein Individuum von ‚Emotionen bewegt wird‘ oder ob die Wahrnehmung von Emotionen dasjenige ist, was ‚bewegt‘.62 Die Sprache weist vielzählige Spuren einer ‚Leiblichkeit‘ von Gefühlen auf. In der Soziologie, der philosophischen Phänomenologie ebenso wie in der Psychoanalyse hat sich demgegenüber die Leitthese einer ‚Introjektion‘ der Gefühle im historischen Verlauf durchgesetzt. Demnach wurden sie in archaischer Vorzeit als externe, atmosphärisch-numinose Mächte verstanden, die den Leib von außen ‚ergreifen‘.63 Beginnend in der Epoche der großen griechischen Tragiker und ersten Philosophen wurden sie sukzessive entmythologisiert, immaterialisiert und symbolisch in das ‚Innere‘ des Menschen verlagert, um die Preisgabe und das Ausgeliefertsein ihnen gegenüber zu überwinden. Gefühle waren einer zunehmenden Kontrolle und Regulierung, aber auch einer Psychologisierung unterworfen. Als Folge des Postulats, dass Gefühle sich im Psychisch-Inneren ereignen und sich erst sekundär äußerlich pathognomisch manifestieren – im gestischen, mimischen und vegetativen Körperausdruck –, entstand der Glaube an ihre grundsätzliche Theatralisierbarkeit: an die Möglichkeit der Simulation von Gefühlen. In diesem Zusammenhang erlangte das Theater als öffentlicher Ort einer ‚Alphabetisierung‘ der Leidenschaften bereits im Zeitalter des Barock eine hohe Bedeutung. Gefühle wurden zunehmend 62 Wichtig für diesen Zusammenhang ist die semantische Ambivalenz vieler Gefühlsbezeichnungen, welche uneindeutig zwischen dem leiblichen und dem innerseelischen Bereich changieren. Insbesondere die Verben des Tastens und Fühlens sind identisch, wenn z. B. die Rede ist von ‚Ergriffenheit‘, ‚Empfinden‘‚ ‚Fühlen‘ oder ‚Berührtsein‘. Vgl. Ludwig Jäger (Hg.). Zur historischen Semantik des deutschen Gefühlswortschatzes. Aachen 1988; Hartmut Böhme. „Gefühl“. Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hg. v. Christoph Wulf. Weinheim u. Basel 1997. 525–548, S. 533 f.; ders. „Der Tastsinn im Gefüge der Sinne. Anthropologische und historische Ansichten vorsprachlicher Aisthesis“. Tasten. Hg. v. Kunst- und Ausstellungshalle der BRD. Göttingen 1996. 185–210; Claudia Benthien. Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse. Reinbek b. Hamburg 1999, S. 242–264. 63 Vgl. Hermann Schmitz. System der Philosophie II.1: Der Leib. Bonn 1965, S. 365– 504; ders. System der Philosophie III.2: Der Gefühlsraum. Bonn 1969, S. 9–20 u. 403–520.

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‚erlernt‘, inszeniert und in der sozialen Interaktion strategisch eingesetzt.64 Die bürgerliche Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts wendete sich dann gegen diese als inauthentisch und theatralisch geltenden Affekte und setzte ihnen eine neue ‚Natürlichkeit‘ entgegen, die eines individuellen Ausdrucks bedarf, der sich oftmals der Versprachlichung entzieht. Damit gewann die Körpersprache, als eine zum verbalen Gefühlsausdruck konkurrierende Ausdrucksform, deutlich an Relevanz,65 wie sich exemplarisch anhand einer zeitgenössischen Darstellung zeigen lässt: In gar vielen Fällen sind die Gebehrden eine so genaue und lebhafte Abbildung des innern Zustandes der Menschen, daß man ihre Empfindungen dadurch weit besser erkennet, als der beredteste Ausdruck der Worte sie zu erkennen geben würde. Keine Worte können weder Lust noch Verdruß, weder Verachtung noch Liebe so bestimmt, so lebhaft, viel weniger so schnell ausdrüken, als die Gebehrden. Also ist auch nichts, wodurch man schneller und kräftiger auf die Gemüther würken kann.66

Johann Georg Sulzer formuliert hier ein ‚Lob der Gefühle‘, die sich als nonverbales Pathos manifestieren. Den „Gebehrden“ wird eine wesentlich höhere Authentizität und Differenziertheit zugeschrieben als der Sprache, den verbalisierten Emotionen. Ferner wird ihnen, mit Blick auf das Theater, eine unmittelbare, schnellere und intensivere Wirkung bei den Zuschauern attribuiert. Am Beispiel der Scham lässt sich der sich hier offenbarende historische Wandel der Repräsentation von Affekten exemplarisch nachzeichnen: In der Frühen Neuzeit wird der Affekt primär sprachlich repräsentiert, indem in der Figurenrede ‚Scham‘, ‚Schmach‘ und ‚Schande‘ artikuliert werden und die Protagonisten ihr eigenes Erröten oder das ihres Gegenübers verbalisieren. Im Verlauf der Theatergeschichte wird Scham (wie Affektivität überhaupt) dann mehr und mehr zu einem nonverbalen und visuellen Zeichen – und zwar in diesem konkreten Fall: zu einer Geste des Ent64 Vgl. Ursula Geitner. Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992. 65 Vgl. Barbara Korte. „Theatralität der Emotionen. Zur Körpersprache im Roman des 18. Jahrhunderts“. Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Hg. v. Claudia Benthien u. a. Köln u. a. 2000. 141–156; Alexander Košenina. Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ‚eloquentia corporis‘ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995; Rainer Ruppert. Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Berlin 1995. 66 Johann Georg Sulzer. [Art.] „Gebehrden“. Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt 1. Leipzig 1773. 571–574, S. 571.



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zugs von Sichtbarkeit. Gebärden der Scham, insbesondere das Verbergen des Gesichts, werden standardisiert und in den Bühnenanweisungen notiert. Auch in vielen Tragödien bzw. Trauerspielen von Schiller und Kleist ist von ‚Scham‘, ‚Schande‘ und ‚Schmach‘ einerseits, von ‚Reue‘, ‚Sühne‘ und ‚Schuld‘ andererseits die Rede – die Figuren nutzen diese Kategorien, um sich selbst oder aber andere zu kennzeichnen. Diese emotionalen und psychischen Dispositionen und Zustände finden sich aber eben nicht nur in der Figurenrede, sondern sie werden auch nonverbal repräsentiert oder aber in Handlungsvollzügen erkennbar. Eine solche körpersprachlich grundierte Dramaturgie der Affekte, in der – prominent dann bei Kleist – auch die Eindeutigkeit der Affekt-Kodierung zur Disposition gestellt wird, ist für die Zeit um 1800 wegweisend. Trotz der Konjunktur des Gefühls-Begriffs im 18. Jahrhundert und der komplementären Abwertung des Affekt-Begriffs wird in dieser Untersuchung ‚Affekt‘ als Leitbegriff gewählt. Ein zentraler Grund dafür ist, dass die behandelten Werke nicht im 18., sondern im frühen 19. Jahrhundert spielen, mithin auf gewandelte Vorstellungen von Emotionalität rekurrieren und auf ein Theater, das dem „Naturalism in der Kunst offen und ehrlich den Krieg [erklärt]“67. Die Validität des Affekt-Begriffs wurde sowohl für Schiller als auch für Kleist nachgewiesen, wenngleich beide Autoren ihn nicht durchgehend benutzen: Yixu Lü und Anthony Stephens etwa begründen ihre Wahl dieses Begriffs damit, dass Kleist zwar meist den Begriff ‚Gefühl‘ wähle, dieser aber eine sehr breite semantische Skala umfasse, „die die meisten zeitgenössischen Konnotationen von ‚Affekt‘ subsummiert“; Schiller hingegen verwende in seinen ästhetischen Schriften den Begriff ‚Affekt‘ „auf eine Art und Weise, die sich vielfach mit Kleists Semantik des ‚Gefühls‘ decke; die Übernahme des Affekt-Begriffs auch für Kleist erscheint ihnen aufgrund des wichtigen Einflusses von Schiller auf Kleist als „unverfänglich“.68 Auch Ulrich Port verwendet in seinen einschlägigen Studien zur Gestaltung von Emotionen in den Tragödien um 1800 durchgehend den Affekt-Begriff.69 Er begründet diese Wahl unter Rekurs auf 67 Friedrich Schiller: „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“. Sämtliche Werke 2: Dramen II. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. München 1981. 815–823, S. 819. 68 Yixu Lü u. Anthony Stephens. „‚Gewaltig die Natur im Menschen‘. Affekte und Reflexivität der Sprache in Kleists vollendeten Trauerspielen“. Kleist-Jahrbuch (2008/09): 214-231, S. 215, Anm. 2. 69 So bereits in den Titeln erkennbar: Ulrich Port. „,Künste des Affekts‘. Die Aporien des Pathetischerhabenen und die Bildrhetorik in Schillers ,Maria Stuart‘“. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 46 (2002): 134–159; ders. „,In unbegriffner

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Aby Warburgs Konzept der Pathosformel70 damit, dass es sich bei Affekten um „bereits kulturell überformte und diskursivierte“71 Darstellungen von Leidenschaften handele, beziehungsweise um die latente Spannung zwischen ‚Simulation‘ und ‚Stimulation‘ derselben. In der zeitgenössischen Tragödie könne man extreme Affektgebärden finden, die auf die antike Tragödie rekurrieren und deren Eigenart in dem Zugleich von exzessiver Darstellung und ritueller Affekt-‚Bändigung‘ liege. Zwei weitere Gründe für die Wahl des Affekt-Begriffs sind zum einen dessen Verwendung in nicht historisch ausgerichteten psychoanalytischen Schamtheorien, die einen wichtigen Schwerpunkt innerhalb dieser Untersuchung bilden,72 zum anderen der Umstand, dass dem Affekt-Begriff, neben der Konnotation des ‚Artifiziellen‘ auch eine Konnotation der ‚Unwillkürlichkeit‘, des Physiologisch-Reflexhaften anhaftet, was als spezielles Charakteristikum für Scham gilt. Schuld ist diesbezüglich weniger eindeutig. So wird auch zu diskutieren sein, unter welchen Prämissen Schuld überhaupt als Affekt zu verstehen ist und ferner, ob und wie sie körpersprachlich repräsentierbar ist. Zu diesem Buch & Danksagung Erstmalig auf die vorliegende Fragestellung gestoßen bin ich im Herbst 1997 beim Besuch einer Inszenierung von Kleists Die Familie Schroffenstein in der Regie von Andrea Breth an der Berliner Schaubühne. Die auffällige Wechselwirkung von Scham und Schuld in diesem Stück resultierte in einer ersten Interpretation des Trauerspiels unter dieser Perspektive, präsentiert auf der Tagung Kleists Duelle der Heinrich von Kleist-Gesellschaft Leidenschaft empört‘? Zur Diskursivierung der (tragischen) Affekte in Kleists ‚Penthesilea‘“. Kleist-Jahrbuch (2002): 94-108; ders. Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755–1888). München 2005. 70 Vgl. Aby Warburg. „Dürer und die italienische Antike“. Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Hg. v. Horst Bredekamp u. Michael Diers. Berlin 1998. 443–450; ders. „Italienische Antike im Zeitalter Rembrandts“ [Vortrag gehalten im Mai 1926 in Hamburg]. Zit. n. Ernst H. Gombrich. Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Übs. v. Mattias Fienbork. Frankfurt a. M. 1981, S. 312. 71 Port 2005, S. 25. 72 Vgl. die nachfolgenden Monografien, die den Affekt-Begriff bereits im Titel tragen: Micha Hilgers. Scham. Gesichter eines Affekts. Göttingen 1996; Serge Tisserton. Phänomen Scham. Psychoanalyse eines sozialen Affekts. Übs. v. Reinhard Tiffert. München 2000.



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im Juli 1998.73 Nachfolgend blieb das Thema aufgrund einer thematisch und epochal ganz anders gearteten Habilitationsschrift einige Jahre latent, bis zu meinem Berliner Habilitationsvortrag „‚Vernichtendes Gefühl‘. Zur Affektdynamik von Scham und Schuld in Schillers Jungfrau von Orleans und Kleists Penthesilea“ im Juli 2004, der die Fragestellung vergleichend auf Schiller und Kleist anzuwenden suchte. In dieser Zeit entstand auch die Idee zu diesem Buch. Ein Stipendium als Senior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) im Sommersemester 2006 ermöglichte mir die Ausarbeitung des Theorierahmens. Dem IFK, insbesondere dem damaligen Direktor Hans Belting, sei für dieses Stipendium, die intellektuell anregenden Monate in Wien und insbesondere die Möglichkeit, im April 2007 dort die internationale Tagung Scham und Blick. Das visuelle Feld als Kampfzone abzuhalten, herzlich gedankt. Danken möchte ich auch der Universität Hamburg, die mir im Rahmen der Berufungsverhandlung die Genehmigung erteilte, nur ein Semester nach der Rufannahme diesen externen Forschungsaufenthalt zu realisieren. Des Weiteren möchte ich meiner Universität für die Gewährung eines Forschungssemesters im Wintersemester 2009/10 danken, das mir die konzentrierte Weiterarbeit an dem Manuskript ermöglichte. Und schließlich möchte ich der University of California, Berkeley – namentlich dem Chair des German Department, Niklaus Largier – danken, da ich dort im Februar und März 2010 einen Forschungsaufenthalt wahrnahm, der besonders den Schiller-Kapiteln zugute kam. Und ich möchte den Kolleginnen und Kollegen Andrea Allerkamp, Günter Blamberger, Daniel Fulda, Martin van Gelderen, Nicola Gess, Isabel Gil, Ortrud Gutjahr, Klaus Herding, Dorothee Kimmich, Christoph Laferl, Paul Michael Lützeler, Alexandra Pontzen, Heinz-Peter Preußer, Daniela Rippl, Werner Röcke, Anja Tippner, Schamma Schahadat, Thorsten Valk und Hans Rudolf Velten danken, die mir im Rahmen von Vortragseinladungen die Möglichkeit gaben, Teile aus diesem Buch zu präsentieren – ihre Namen seien an dieser Stelle auch deswegen erwähnt, weil es bisweilen zu leichtem Unmut geführt hat, dass ich meine Beiträge für anschließende Sammelband-Publikationen nicht zur Verfügung gestellt habe, mit dem Verweis auf die geplante, nunmehr endlich abgeschlossene Monografie. Zu Dank verpflichtet bin ich, last but not least, den Studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Anna Burgdorf, Ann-Kristin 73 Vgl. Claudia Benthien. „Gesichtsverlust und Gewaltsamkeit. Zur Psychodynamik von Scham und Schuld in Kleists ‚Familie Schroffenstein‘“. Kleist-Jahrbuch (1999): 128–143.

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Düber, Anna-Lisa Menck, Markus Redlich, Falko Schnicke, Carla Swiderski und Lydia White für ihre Unermüdlichkeit und Gründlichkeit bei der Literaturrecherche und -beschaffung sowie ihre Umsicht und Sorgfalt bei der Korrektur des Manuskripts und der Druckfahnen.

II.  Kulturtheorien von Scham und Schuld 2.1  ‚Schamkulturen‘ und ‚Schuldkulturen‘ Aktuelle Konflikte in Affektkulturen Von Forschern unterschiedlicher Disziplinen wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts die These entwickelt, dass sich Kulturen in Schamkulturen (shame cultures) und Schuldkulturen (guilt cultures) differenzieren lassen. Dieser einflussreiche und viel diskutierte, aber auch umstrittene Gedanke hat in den letzten Jahren, insbesondere im Kontext des Irakkonflikts, neue Relevanz erlangt und wird nunmehr vor allem mit Blick auf die Gegenüberstellung christlicher und islamischer Religionskulturen diskutiert. Nahezu alle so genannten primitive cultures, die Länder Asiens, insbesondere Japan und China, sowie die meisten östlichen Mittelmeerländer gelten als Schamkulturen, während die USA, England und andere jüdischchristliche – insbesondere protestantisch geprägte – Länder und Ethnien zu den Schuldkulturen zählen. Eine solche Klassifikation in Scham- und Schuldkulturen wird mit weitreichenden Interpretationen zu den ökonomischen, sozialen und moralischen Grundsätzen der jeweiligen Kulturen verbunden.1 Ihr liegen meist offene, zum Teil auch unterschwellige Wertungen zugrunde, gelten Schamkulturen doch tendenziell als rückständig und unmenschlich, Schuldkulturen hingegen als aufgeklärt und human. Die Polarität impliziert daher auch einen Entwicklungsgedanken und eine Privilegierung von Schuldkulturen. Unter dieser Perspektive ist die jüngste Bezugnahme auf diese Kategorien im Zuge der politischen Folgen des zweiten Irakkriegs diskussionswürdig, die hier einführend kurz dargestellt werden soll. Es wird versucht, die gewalttätigen Terrorakte als Ausdruck von Schamkonflikten zu deuten. Die ‚islamische Welt‘ wird pauschal als Schamkultur aufgefasst, welche archaische Riten und Demütigungspraktiken vollzieht, um erlittene Gesichtsverluste abzuwehren. So argumentiert etwa der Schriftsteller Leon de Winter hinsichtlich der Ermordung des niederländischen Filmregisseurs Theo van Gogh durch einen islamischen Fundamentalisten im

1 Vgl. Milton B. Singer. „Shame Cultures and Guilt Cultures“. Gerhard Piers u. ders. Shame and Guilt. A Psychoanalytic and a Cultural Study. Springfield 1953. 43–86, S. 45.

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Jahr 2004.2 Ihm zufolge komme die Tötung einem Ritualmord gleich, der die kollektive Ehre der männlichen Muslime wieder herzustellen suche, die durch Van Goghs und Ayaan Hirsi Alis Kunstfilm Submission verletzt wurde – ein Film, der misshandelte muslimische Frauen zeigt, deren Körper mit misogynen Koranstellen beschrieben sind. In dem mit einem Messer auf den Leichnam gehefteten Bekennerbrief der Mörder tauchen Begriffe wie Demütigung, Ehre, Respekt und Rache auf, wie sie laut De Winter „überall in der arabisch-islamischen Kultur gebräuchlich sind“.3 Ein vergleichbarer Krieg der Bilder liegt den medial inszenierten Hinrichtungen westlicher Geiseln im Irak zugrunde, etwa die per Video im Internet übertragene Enthauptung des Amerikaners Nick Berg, ebenfalls im Jahr 2004. Die islamistischen Terroristen bezeichneten diese ‚Schlachtung‘ als Racheakt für die Misshandlungen von Irakern in US-Gefangenschaft. Dienten die entblößenden und gewaltsamen Akte, die die amerikanischen Soldaten an den irakischen Häftlingen im Gefängnis von Abu Ghraib vollzogen, der Demütigung der Inhaftierten sowie der irakischen Bevölkerung insgesamt,4 so war die Veröffentlichung der Bilder für die Täter und die Bush-Administration gleichermaßen beschämend, wobei letztere diese Scham auch prompt durch Zuweisung von Schuld an ‚perverse‘ Einzeltäter von sich wies.5 Die Schuld, die die amerikanischen Soldaten durch die Missachtung ihrer Schutzpflicht auf sich luden, wird durch die sich in den Bildern offenbarenden sadistischen Machtgelüste potenziert. Derart 2 Vgl. Leon De Winter. „Vor den Trümmern des großen Traums. Warum selbst in den Niederlanden, dem Mutterland der Toleranz, die islamischen Vorstellungen von Respekt und Ehre mit westlichen Werten nicht harmonieren können“. Die Zeit (18.11.2004): 17–19. 3 De Winter nimmt Bezug auf den niederländischen Arabisten und Islamwissenschaftler Hans Jansen, allerdings ohne konkrete bibliografische Referenz; von ihm sind mehrere diesbezüglich einschlägige Werke erschienen, so etwa: Hans Jansen. The neglected Duty. The Creed of Sadat’s Assassins and Islamic Resurgence in the Middle East. New York 1986; ders. The Dual Nature of Islamic Fundamentalism. London u. Ithaca 1997. Die Bedeutung des Schamgefühls untersucht exemplarisch auch: Mansour Bakhtiar. Das Schamgefühl in der persisch-islamischen Kultur. Eine ethnopsychoanalytische Untersuchung. Berlin 1994. 4 Vgl. Seymour Hersh. Chain of Command. The Road from 9/11 to Abu Graib. New York 2004, S. 38; Ruth Leys. From Guilt to Shame. Auschwitz and After. Princeton 2007, S. 3 f. 5 Vgl. Niels Werber. „‚Torture or only Mistreatment?‘ Normativität, Normalismus und Normenreflexion nach Abu Ghraib“. Schuld und Scham. Jahrbuch Literatur und Politik 3. Hg. von Alexandra Pontzen u. Heinz-Peter Preußer. Heidelberg 2008. 239–52, S. 246.



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führt die Entwürdigung und ‚Schmach‘ der Opfer, paradoxer Weise, zur Beschämung der Täter. Wie sich hier exemplarisch zeigt, erfolgen in kulturellen Interaktionen komplexe Dynamiken zwischen Scham und Schuld, die einer systematischen Theoretisierung bedürfen und im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehen. Solche Wechselverhältnisse von Scham und Schuld – sowie von entsprechenden Scham- und Schuldattributionen – finden sich kulturübergreifend und sind doch als je spezifisch zu verstehen. So ist, um noch ein weiteres aktuelles Beispiel anzuführen, festzustellen, dass sich in den USA – jener Gesellschaft, die in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts als paradigmatische Schuldkultur aufgefasst wird – in jüngster Zeit eine Strafpraxis etabliert hat, deren Ziel die öffentliche Stigmatisierung von Verurteilten ist. Diese shame penalties, so argumentieren ihre Befürworter, seien wirksamer als Gefängnis- oder Geldstrafen. Verbrecher, die ein T-Shirt mit der Aufschrift ‚Ich bin ein Ladendieb‘ oder ‚Ich habe vergewaltigt‘ tragen müssen, würden ihr Außenseitertum am eigenen Leibe erfahren, sich durch die verächtlichen Blicke ausgestoßen fühlen und so den Wunsch nach Besserung und sozialer Reintegration entwickeln. Schuld wird hier durch aufoktroyierte Scham ‚gesühnt‘. Die aktive, öffentliche Beschämung dient dabei zur Erniedrigung der beschämten Person, die diese Degradierung passiv zu erleiden hat.6 Die Philosophin Martha Nussbaum kritisiert die Inhumanität dieser Verknüpfung von Schuld und Scham, insofern eine konkrete strafbare Handlung (Schuld) zur Charaktereigenschaft einer gebrandmarkten Person (Scham) werde; demgegenüber privilegiert sie das (judeo-christliche) schuldkulturelle Paradigma, da dieses als humaner gelte. Schuld-Strafen transportierten die Aussage, eine ‚schlechte Handlung‘ begangen zu haben, Scham-Strafen hingegen, ein ‚defizitärer Mensch‘ zu sein.7 Scham-Strafen haben Nussbaum zufolge „a strong deterrent potential“8 – sie wirken auf ohnehin psychisch labile Personen verstörend – und führten daher oft nicht zu einer Stabilisierung und Besserung.9 Während die herkömmliche Bestrafung in westlichen Ge6 Vgl. Martha C. Nussbaum. Hiding from Humanity. Disgust, Shame, and the Law. Princeton 2004, S. 203. 7 Vgl. ebd., S. 230. 8 Ebd., S. 235. 9 Ähnlich argumentiert wird interessanter Weise auch bezüglich inhaftierter Delinquenten: Insofern diese im Gefängnis Deprivationsmechanismen wie den Entzug von Bewegungsfreiheit, Gütern und persönlicher Entscheidungsautonomie erleiden, gehören Gefühle der Demütigung und Scham untrennbar zur Erfahrung des Strafvollzugs. Der schwierige Umgang mit diesen fortwährenden Degradierungen

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sellschaften eher anonym erfolgt und oftmals in Form von Freiheitsentzug vollzogen wird, stellen Schamstrafen Öffentlichkeit bewusst her und betonen überdies die Beziehung zwischen dem Täter und der sozialen Umgebung, von der dieser zeichenhaft separiert wird. Die stigmatisierte Person fungiert als Anderer, als „the person he [the normal] is normal against“10. Wie sich hier zeigt, stellen Gesellschaften durch Sanktionierungen und Strafen die für sie grundlegenden Werte und Normen dar (expressive Funktion), zugleich aber auch her (performative Funktion). Derartige aktuelle Auseinandersetzungen mit Scham- und Schuldgefühlen können zum kritischen Ausgangspunkt einer Befassung mit literarischen Werken und den in ihnen gestalteten historischen Gesellschaftsformen und Kulturkonflikten dienen. Dabei soll die Polarisierung in idealtypisch voneinander unterschiedenen Affektkulturen als Denkmodell fungieren, das für die zu untersuchenden Tragödien von Schiller und Kleist aufschlussreich ist. Denn alle vier Stücke verhandeln kulturelle Differenzen – Differenzen historischer, geographischer und religiöser Art –, die nicht zuletzt durch die Kontrastierung ihrer Entstehungszeit um 1800 mit historisch früheren Epochen (Mittelalter, Antike) sowie ‚fremden‘ Kulturen zu erklären sind. Die dadurch entstehenden, bewusst konturierten affektkulturellen Unterschiede evozieren ein Konfliktpotential, für das die Stücke unterschiedliche Lösungen finden. Insbesondere der Affekt der Scham ist es, der in ältere und fremde Kulturen projiziert wird, um existenzielle, das Individuum zerstörende Konflikte zu beschreiben. Shame cultures und guilt cultures Die Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen wurde insbesondere mit Blick auf die Mechanismen sozio-psychologischer Kontrolle entwickelt, die eine Gesellschaft nutzt, um moralische und ethische Normen und Beschämungen, die oftmals in Aggressivität (gegenüber dem Personal oder sich selbst) resultieren, verhindere, dass der Täter die psychische Stärke und Stabilität entwickelt, die aber notwendig sind, um Einsicht in das Unrecht seiner Tat zu erlangen und letztlich seine Schuld anzuerkennen – Scham inhibire daher in gewissem Sinne Schuld bzw. ein Schuldgefühl; vgl. Hermann Geissbühler u. Willi Nafzger. „Scham und Schuld im Lichte des Rechts sowie in den Erfahrungen und Reflexionen des Strafvollzugs“. Scham – ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven. Hg. v. Rolf Kühn u. a. Opladen 1997. 111–124. 10 Nussbaum 2004; S. 219; sie zitiert hier: Erving Goffmann. Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity. New York 1963, S. 6.



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und Standards zu etablieren. Der Anthropologin Ruth Benedict zufolge, die diesen Gedanken als erste ausformuliert hat, beruhen Schamkulturen auf einer äußeren Instanz, die Fehlverhalten sanktioniert. Da innere Kontrollmechanismen (noch) nicht ausgebildet sind, muss die Einhaltung von Normen von außen abgesichert werden. Schamgefühle entstehen als Reaktion auf eine solche externe Kritik oder Bloßstellung und entsprechend benötigt Scham ein Publikum (oder die Phantasie eines solchen): True shame cultures rely on external sanctions for good behaviour, not, as true guilt cultures do, on an internalized conviction of sin. Shame is a reaction to other people’s criticism. A man is shamed either by being openly ridiculed and rejected or by fantasying to himself that he has been made ridiculous. In either case it is a potent sanction. But it requires an audience or at least a man’s fantasy of an audience. Guilt does not. In a nation where honor means living up to one’s own picture of oneself, a man may suffer from guilt though no man knows of his misdeed and a man’s feeling of guilt may actually be relieved by confessing his sin.11

Nach Benedict beruhen Schuldkulturen im Unterschied zu Schamkulturen darauf, dass ihre Mitglieder Moralvorstellungen und Normen durch Erziehung verinnerlicht und damit auch die urteilende Autorität internalisiert haben.12 Schuldgefühle entstehen nicht in der Konfrontation mit anderen, sondern im Selbst, das sich in eine schuldige und eine beschuldigende Instanz dialogisch aufspaltet. Für Benedict besteht die Unterscheidung des Weiteren in der Frage, ob es die Möglichkeit gibt, den Affekt durch Konfession, Buße oder auferlegte Sanktionen zu verarbeiten, was in Schuldkulturen möglich ist, in Schamkulturen nicht. Ein Gesichtsverlust ist daher, etwa im alten Japan, irreversibel. Implizit wird die Möglichkeit der rituellen Verarbeitung des Affekts und die damit eröffnete Chance zur Wiedereingliederung des beschädigten Individuums in die Gemeinschaft, wie dies in einer Schuldkultur gegeben ist, bei Benedict als Fortschritt verstanden. Benedicts kulturkomparatistischer Ansatz wurde von dem Gräzisten Eric Dodds auf das antike Griechenland übertragen und damit auch zum diachronen Modell. Während die Gesellschaft zur Zeit Homers (8. Jh. v. 11 Ruth Benedict. The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture. London 1947, S. 223. Bezüglich des Konzepts der Sanktionen bezieht Benedict sich auf Margaret Meads Definition (hier zitiert in einer späteren Ausgabe): „The term sanctions is used to denote the mechanisms by which conformity is obtained, by which desired behavior is induced and undesired behavior prevented.“; Margaret Mead. „Interpretive Statement“. Cooperation and Competition among Primitive Peoples. Hg. v. ders. Boston 1961. 458–515, S. 493. 12 Vgl. Benedict 1947, S. 223.

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Chr.) laut Dodds als Schamkultur zu bezeichnen ist,13 wandelt sich die griechische Kultur im Laufe des archaischen Zeitalters in eine Schuldkultur – eine Entwicklung, die im Zeitalter der Klassik, kulminierend in der attischen Tragödie (5. Jh. v. Chr.), ihren Höhe- und Schlusspunkt findet. Die Figuren Homers leben in einer konstanten Furcht vor dem Gesichtsverlust. Die Sanktion durch Beschämung (aidōs) hat die Funktion der öffentlichen Missbilligung und Empörung als Ausdruck der ausgleichenden und vergeltenden Gerechtigkeit (nemesis).14 Nicht das Gewissen, sondern die Verachtung oder der Spott der anderen sind die höchste Strafinstanz, wie die Philosophin Gabriele Taylor diesbezüglich anmerkt.15 Weniger eine Bestrafung durch die Götter als eine Stigmatisierung durch die soziale Umwelt wird gefürchtet; das öffentliche Ansehen stellt den größten Wert und die üble Nachrede eine existenzielle Schädigung dar.16 In der attischen Tragödie dominieren demgegenüber bereits schuldkulturelle Reaktionen und Umgangsweisen (vgl. dazu Kapitel 2.3). Der altgriechische Begriff aidōs ist schwer übersetzbar und umfasst ein sehr weites Bedeutungsspektrum („‚Ehrfurcht‘, ‚Mitleid‘, ‚Scheu‘, ‚Rücksicht‘, ‚Ehrgefühl‘, ‚Feingefühl‘, ‚Feinfühligkeit‘, ‚Respekt‘ u. v. a.“17). Der Altphilologe Douglas Cairns überträgt das dazugehörige Verb aideomai 13 „Ich sage ‚Scham‘ und nicht ‚Schuld‘, denn amerikanische Anthropologen haben uns kürzlich gelehrt, zwischen ‚Schamkulturen‘ und ‚Schuldkulturen‘ zu unterscheiden, und die von Homer skizzierte Gesellschaft gehört eindeutig zur ersten Klasse. Der höchste Wert für einen homerischen Menschen ist nicht ein ruhiges Gewissen, sondern das Genießen der timé, der öffentlichen Hochschätzung [...]. Und die stärkste moralische Macht, die der homerische Mensch kennt, ist nicht die Furcht vor Gott, sondern die Rücksicht auf die öffentliche Meinung, aidós [...].“; Erec Robertson Dodds. Die Griechen und das Irrationale. Übs. v. Hermann-Josef Dirksen. Darmstadt 1970, S. 15 f. 14 Vgl. Vessela Ivanova Misheva. Shame and Guilt. Sociology as a Poietic System. Uppsala 2000, S. 117 f.; zu dieser Thematik allgemein siehe auch: Jessica Wissmann. Motivation und Schmähung: Feigheit in der Ilias und in der griechischen Tragödie. Stuttgart 1997; David Konstan. „Shame in Ancient Greece“. Social Research 70.4 (2003): 1031–1060. 15 Vgl. Gabriele Taylor. Pride, Shame, and Guilt. Emotions of Self-Assessment. Oxford 1985, S. 54. 16 Vgl. ebd. 17 Jürgen Ruhnau. [Art.] „Scham, Scheu“. Historisches Wörterbuch der Philosophie 8. Hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Völlig neu bearb. Aufl. Basel 1992. 1208–1215, Sp. 1208 f. „The truth is that, while aidōs, aideomai, and cognate words are very common in Homer, they embrace a much wider area of meaning than can be accommodated within a single term in any modern language. The original meaning of the the aidōs-words is not ‚shame‘ but ‚awe‘ [Ehrfurcht, Scheu],



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mit den Formeln ‚ich schäme mich vor‘ und ‚ich respektiere (bzw. achte)‘.18 Diese Formeln verweisen auf einen existenten oder drohenden Ehrverlust. Im ersten Fall wird die Beschädigung der eigenen Ehre ausgedrückt, was als Scham empfunden wird, im zweiten Fall wird die Ehre des Anderen performativ, durch die verbale Artikulation des eigenen schamhaften oder demütigen Verhaltens, anerkannt. Beide sprachlich artikulierten Vorgänge werden in der Antike, ungewöhnlicher Weise, mit dem gleichen Begriff bezeichnet; Cairns schließt daraus, „in the concept of a aidōs we have an implicit recognition of the ways in which the honour of self is inextricably bound up with that of others.“19 Aidōs ist also, nicht nur aufgrund dieser zweifachen grammatischen Funktion, nicht mit unserem Begriff der ‚Scham‘ gleichzusetzen. Es handelt sich um ein für die Antike zentrales Konzept, das besonders männliche Ehre und Ehrverluste, z.  B. im Krieg, umschreibt, aber auch so etwas wie ein Gerechtigkeitsbewusstsein umfasst.20 Seine Bedeutung kommt ihm insbesondere in der frühen archaischen Zeit Homers zu, was etwa der Umstand belegt, dass in der Ilias das Wort aidōs sogar isoliert als Schlachtruf Verwendung findet, um Scham auslösendes, d. h. unehrenhaftes, kriegerisches Verhalten zu verhindern.21 Als einschlägiges literarisches Beispiel lässt sich der antike Heros Aias anführen, Titelheld einer Tragödie des Sophokles,22 aber auch Figur in Homers

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especially ‚religious awe‘.“ James T. Hooker. „Homeric Society: A Shame-Culture?“ Greece and Rome 34 (1987): 121–125, S. 123. Vgl. Douglas L. Cairns. Aidōs. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature. Oxford 1993, S. 2. Ähnlich bereits bei Hooker mit konkretem Bezug auf Homer: „It is worth noting [...] that the phrase with aideomai in Odyssey 14.145-6 could in theory mean either ‚I am ashamed to speak his name‘ or ‚I speak his name with respect‘. It is only the immediate context which compels us to understand the expression in the latter sense.“ Hooker 1987, S. 124. Cairns 1993, S. 13. „Aδς bedeutet im Grunde zunächst den Respekt, den man einem anderen oder sich selbst in Hinsicht auf die τιμ [Ehre] schuldet, die jenem anderen oder einem selbst gehört. [...] Aδς ist so das Gefühl, das jemand dazu führt, einen Verstoß gegen die eigene τιμ als Affront zu empfinden oder selbst eine Handlung zu vermeiden, die ihr Schaden zufügen könnte. Aber es ist auch das Gefühl, das jemand dazu führt, einen Gott, Vater oder Mutter, einen Fremden oder einen Schutzflehenden zu achten, so daß es nicht nur mit Ehre, sondern auch mit Gerechtigkeit verbunden ist.“ Hugh Lloyd-Jones. „Ehre und Schande in der griechischen Kultur“. Antike und Abendland 33.1 (1987): 1–28, S. 4. Vgl. ebd., S. 4; Bernard Williams. Scham, Schuld und Notwendigkeit. Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral. Übs. v. Martin Hartmann. Berlin 2000, S. 93. „Sophocles is, above all, the poet of shame.“; Melvin R. Lansky. „Shame and Suicide in Sophocles’ ‚Ajax‘“. Psychoanalytic Quarterly 65 (1996): 761–786, S. 765.

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Ilias. Aias sucht seine, wie er meint, verlorene Ehre durch einen heroischen Racheakt zurückzuerlangen und stürzt sich durch die Tat erst wirklich in Schande. Denn in seiner Raserei (até) – einer „narcissistic rage“23 – verwechselt er ein vermeintliches Feindesheer mit seiner eigenen Viehherde und metzelt sie nieder. Dieser Fehler ist für den nach Achill immerhin ‚zweitgrößten‘ Helden vor Troja derart beschämend, dass er sich aus Schande selbst tötet. Als Todesart wählt er eine dem japanischen Harakiri – einem Freitod aufgrund von irreversiblem Ehrverlust und Schande – vergleichbare Form des Suizids: Er stürzt sich ins eigene, zuvor in den Boden gerammte Schwert. Das Beispiel zeigt, inwiefern Scham und Schande in der Zeit Homers einerseits an den Anderen, das öffentliche Bild der Person, geknüpft sind, andererseits aber auch, wie sich ein Individuum in der tragischen Einsamkeit des Selbst mit diesem Zustand auseinanderzusetzen hat. Kritik und Heuristik des kulturtheoretischen Modells Der Philosoph Bernard Williams hat, entgegen der Auffassung mehrerer Altphilologen,24 argumentiert, dass es in der griechischen Antike für ‚Schuld‘ zwar kein eigenes Wort gab, gleichwohl aber dessen konzeptuellen Gehalt; seines Erachtens wurden ‚Schuld‘ wie ‚Scham‘ im Begriff aidōs vereint.25 Diese These ist, wenn auch nicht explizit, gegen Dodds Auffassung des Übergangs von einer Schamkultur in eine Schuldkultur in der longue durée der archaischen Zeit gerichtet. Insgesamt ist in der jüngeren Forschung zu beobachten, dass sich zwar viele Argumente gegen Benedicts und Dodds’ kulturanthropologischen Dualismus von Scham- und Schuldkulturen finden, dieser aber gleichwohl als Strukturmodell beibehalten wird; es werden lediglich einzelne Aspekte kritisiert und entsprechend inhaltliche oder terminologische Umgewichtungen vorgenommen. Cairns beispielsweise hat weniger die Beobachtungen Dodds zur griechischen Antike von Grund auf in Frage gestellt als die von Bene23 Ebd., S. 776. 24 Dodds’ These wird noch Jahrzehnte später bestätigt: „It is clear that the Homeric heroes had no concept of ‚guilty feeling‘, while the very word later used to mean ‚guilty‘ (aitios) never has this sense in Homer.“; Hooker 1987, S. 121. 25 Vgl. Williams 2000, S. 104-108. Er bezieht sich in seinen Ausführungen indirekt auf Lloyd-Jones, der ähnlich argumentiert; vgl. Lloyd-Jones 1987, S. 3 u. 7–9. Vergleichbar gilt dies für die korrelativen Begriffe ‚Bestrafen‘ (als Gegenpol zur Schuld) und ‚Rache‘ (als Gegenpol zur Scham), für die es ebenfalls nur ein gemeinsames Wort gab; vgl. Eva-Maria Engelen. „Eine kurze Geschichte von ‚Zorn‘ und ‚Scham‘“. Archiv für Begriffsgeschichte 50 (2008): 41–73, S. 43.



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dict unter Bezugnahme auf die Anthropologin Margaret Mead entwickelten kulturkomparatistischen Thesen zur Unterscheidung externer vs. interner (internalisierter) Sanktionen.26 Benedicts Versuch, diese an die unterschiedlichen Kulturtypen bzw. Religionskulturen – Japan und USA – anzubinden ist nach Cairns irreführend: Ihr Dualismus beruhe auf dem von Mead übernommenen Leitgedanken, äußerliche Sanktionen, kennzeichnend für Schamkulturen, „must be set in motion by others“, internalisierte Sanktionen hingegen, kennzeichnend für Schuldkulturen, „operate automatically“.27 Insbesondere bezweifelt er die Annahme, dass die Internalisierung von Normen, wie sie nach Benedict prägend für eine Schuldkultur ist, regelhaft nach dem psychoanalytischen Modell der ÜberIch-Formation erfolge (was im nachfolgenden Kapitel 2.4 näher erläutert wird).28 Auch Scham beruhe auf internalisierten Sanktionen, insofern sie „a matter of the self ’s judging the self in terms of some ideal“ sei; Scham bedürfe zwar konzeptuell eines Publikums, ob es sich dabei aber um externe oder interne Beobachtungs- und Beurteilungsinstanzen handele, sei letztlich irrelevant, denn erforderlich seien lediglich die Existenz eines „concept of an ‚other‘“ sowie „a negative evaluation of oneself in respect of some ideal“.29 Dass dies zutrifft, zeigt das Beispiel des sophokleischen Aias. Auch Schamkulturen beruhen also zum Teil auf internalisierten, im Individuum selbst ausgetragenen Sanktionen und Beurteilungen, die gleichwohl auf interpersonellen Konflikten basieren. Scham ist dann „a social but inner experience of self as an unattractive social agent, under pressure to limit possible damage via escape or appeasement“30. Kulturen gründen sich in je unterschiedlichen Ausprägungen sowohl auf verinnerlichte Normen und Verhaltensregeln als auch auf konkrete soziale Interaktion, bei der Verhandlungen und Vollzüge von Anerkennung und Zurückweisung im Mittelpunkt stehen. Dabei verläuft der Prozess der Aneignung und Verinnerlichung dieser Normen, sozialpsychologisch betrachtet, komplexer, als etwa von Mead oder Benedict dargestellt: Menschen werden weder ausschließlich intern noch extern gesteuert; ‚innere‘ und ‚äußere‘ Bedin26 Vgl. Mead 1961; zu Mead siehe auch Cairns 1993, S. 29–41. 27 Vgl. Cairns 1993, S. 29, der mit diesen Formulierungen Mead zitiert; Mead 1993, S. 493. 28 Vgl. Cairns 1993, S. 40 f. 29 Ebd., S. 16–18. 30 Paul Gilbert. „What is Shame? Some Core Issues and Controversies“. Shame. Interpersonal Behavior, Psychopathology, and Culture. Hg. v. dems. u. Bernice Andrews. New York 1998. 3–38, S. 30; diese These vertritt bereits Singer, auf den sich Cairns auch gelegentlich bezieht; vgl. Singer 1953, S. 52.

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gungen stehen vielmehr in einem dynamischen Wechselverhältnis.31 Auf Moral und Ethik aufbauende Emotionen wie Scham und Schuld dienen auch dazu, die äußere Realität und die normativen Konstruktionen der eigenen Kultur zu definieren, weswegen in ihnen gleichsam Person, Umwelt und Handlungen korrelieren:32 „Sie fungieren als normatives Regulativ, weil idealiter normatives Verhalten als moralisch richtiges Verhalten positive Gefühle hervorruft und abweichendes Verhalten negative Gefühle.“33 Emotionen steuern und leiten Verhalten auf ganz unterschiedlichen Ebenen; spezifisch für Scham und Schuld ist, dass sie als Regulativ wirken und zugleich selbst Resultat normativer Standards sind.34 Dies zeigt sich exemplarisch an den unterschwellig religiös geprägten Einstellungen, wie sie etwa Benedicts Unterscheidung westlicher, d.h. euro-amerikanischer und östlicher, d.h. asiatischer Kulturen, zugrunde liegen, insbesondere in der Höherbewertung der westlichen Schuldkulturen. Die Anthropologin Millie Creighton hat in einer unvoreingenommenen Auseinandersetzung mit Benedicts Thesen sowie anhand eigener ethnologischer Untersuchungen zur japanischen Affektkultur dargelegt, dass einige von Benedicts Grundgedanken trotz aller Kritik durchaus zutreffend sind. Zwar zieht auch sie in Zweifel, ob an der Differenz externer vs. interner Sanktionen als Leitkriterium für Scham- vs. Schuldkulturen festgehalten werden sollte. So führt sie beispielhaft an, dass im traditionellen japanischen Denken Schuld mit der Angst vor externer Bestrafung assoziiert wird, während die Furcht vor öffentlicher Beschämung internalisiert wird35 – was zu einer vollständigen Verkehrung des ursprünglichen Topos’ führt. Zugleich aber weist sie darauf hin, dass es durchaus kulturelle Unterschiede gebe, die konkret mit Scham oder Schuld und ihrer jeweiligen Leitfunktion als „mechanisms of social control“36 zusammenhängen. Bedeutsam für die Herausbildung unterschiedlicher Affektkulturen ist nach Creighton der jeweilige Typus der Sozialstruktur: Während sie das in der japanischen Kultur vorherrschende „self-concept“ unter Bezugnahme auf den Soziologen Esyun Hamaguchi als ‚kontextuell‘ und 31 Vgl. Günter Bierbrauer. „Normative Regulation durch Emotionen. Scham und Schuld im Kulturvergleich“. Begegnung und Konflikt. Eine kulturanthropologische Bestandsaufnahme. Hg. v. Wolfgang Fikentscher. München 2001. 49–62, S. 50. 32 Vgl. ebd., S. 51. 33 Ebd., S. 54. 34 Vgl. ebd., S. 54. 35 Vgl. Millie R. Creighton. „Revisiting Shame and Guilt Cultures: A Forty-Year Pilgrimage.“ Ethos 18 (1990): 279–307, S. 282 u. 285. 36 Ebd., S. 291.



,Schamkulturen‘ und ,Schuldkulturen‘

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‚gruppenorientiert‘ bezeichnet, insofern „relevant social relationships“ in die Selbstvorstellung mit aufgenommen werden, wird das Individuum in der euro-amerikanischen Tradition „as an independent being“ und „autonomous unit of action within a social group“ definiert.37 Creighton verdeutlicht diesen Gegensatz anhand unterschiedlicher Erziehungsmethoden. So sind in Japan physische Strafen oder Sanktionen durch ‚Stubenarrest‘ und ‚Auszeit‘ bei kleinen Kindern unüblich, wie sie in den USA und in Europa lange Zeit praktiziert wurden (teilweise auch noch werden), stattdessen werden japanische Kinder durch Lächerlichmachen oder Beschämung sanktioniert. Ziel dieser Erziehungsmethode sei es, dass sie ihr ‚Ungenügen‘ (Scham), nicht ihre ‚Fehlhandlung‘ (Schuld), anerkennen.38 Eine Erziehungsmaßnahme, die sich auch im modernen Japan noch findet, ist „maternal ostracism“ (‚mütterliche Ächtung‘), indem die Mutter vorgibt, ihr Kind sei nicht mehr anwesend und sämtliche Hilfsappelle des Kindes als Reaktion auf diese ‚Verstoßung‘ ignoriert.39 Jede dieser kulturspezifischen Sanktionen für kindliches Fehlverhalten wird im einen Kulturkreis akzeptiert, im anderen hingegen als überaus grausam wahrgenommen, was Creighton als Beweis für deren Relativität ansieht. Westliche Erziehungsmaßnahmen beruhen eher auf Strafen und Verboten, wodurch dem Kind schmerzlich vor Augen geführt wird, dass es (noch) nicht autonom und unabhängig ist, östliche Erziehungsmaßnahmen hingegen eher auf dem Prinzip der Ächtung und Verbannung, was dem Kind suggeriert, es sei aus der sozialen beziehungsweise familiären Einheit ausgeschlossen.40 In beiden Fällen wird das jeweilige kulturelle Ideal – Independenz versus Interdependenz – durch die Sanktion krisenhaft in Frage gestellt und temporär negiert, wodurch seine Relevanz erlernt werden soll. Resümierend kommt Cairns zu dem Schluss, „[a]ny difference between a ‚shame-culture‘ and a ‚guilt-culture‘ [...] will be one of degree rather than of kind“.41 Diese Einschätzung korrespondiert mit anderen neueren Konzepten, die ihren kulturkomparatistischen Ansatz selbst reflektieren und relativieren.42 Aber bereits Dodds hat dies betont, wenn er bemerkt, er verwende die beiden Begriffe als „deskriptive Termini zur 37 Ebd., S. 294; vgl. auch Esyun Hamaguchi. „A Contextual Model of the Japanese. Toward a Methodological Innovation in Japan Studies“. Journal of Japanese Studies 2 (1985): 289–321. 38 Vgl. Creighton 1990, S. 298. 39 Vgl. ebd., S. 298 f. 40 Vgl. ebd., S. 299. 41 Cairns 1993, S. 44 f. 42 Z. B. Creighton 1990.

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Beschreibung der beiden gemeinten Haltungen“, setze damit aber keine „Kulturzyklentheorie“ voraus.43 Ferner hält er hinsichtlich der Affektkulturen der Antike fest, „daß die Unterscheidung eine nur relative ist, da tatsächlich viele Verhaltensweisen, die für die Schamkultur bezeichnend sind, während der ganzen archaischen und klassischen Zeit beibehalten werden. Es findet zwar ein Übergang statt, aber er geschieht nur allmählich und unvollständig.“44 ‚Schamkulturen‘ und ‚Schuldkulturen‘ werden von Dodds daher – und zu Recht – nur als heuristische Modelle verstanden, die sich zwar typologisch, zu analytischen Zwecken von einander unterscheiden lassen, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit aber nicht in dieser Reinform zu beobachten sind. Um die diskutierte Begrifflichkeit und die verschiedenen Differenzierungsmerkmale für die nachfolgenden Untersuchungen zur Tragödie um 1800 terminologisch anwendbar zu machen, werden sie an dieser Stelle typologisch gegenüber gestellt (wobei anzumerken ist, dass diesen auf Kulturen bezogenen Merkmalen im nächsten Kapitel noch weitere, eher auf das Individuum bezogene, folgen werden; insbesondere Aspekte der Individualgenese werden dort auch ausführlicher erläutert): Übersicht 1: Idealtypische Gegenüberstellung von Scham- und Schuldkulturen45 Differenzierungsmerkmal

Schamkulturelle Typologie

Primat externer SanktionsOrt, von dem aus mechanismen Sanktion erfolgt Ablauf / Vollzug der Sanktion Sanktion muss (aktiv) von außen erfolgen Kontrollinstanz Soziale Gemeinschaft (extern) Ort der Artikulation Externe Beschämung und von Normen Demütigung Art der Norm Konvention

Moralische Bezugsgröße

Schuldkulturelle Typologie Primat internaler Sanktionsmechanismen Sanktion erfolgt in der Regel unwillkürlich, da verinnerlicht Gewissen, ‚innerer Richter‘ (intern) Internalisierte Normen und moralische Vorstellungen Moral

Innere oder äußere, in (Kultur-)Über-Ich jedem Fall kollektiv geprägte Ideale

43 Dodds 1970, S. 17. 44 Ebd. 45 Diese Übersicht nimmt Anregungen und Formulierungen einer tabellarischen Übersicht auf, wie sie der Soziologe Sighard Neckel – dem Publikationsdatum seiner Schrift entsprechend von einer schmaleren theoretischen Textbasis ausgehend – erstellt hat; vgl. Sighard Neckel. Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt u. New York 1991, S. 48.

,Schamkulturen‘ und ,Schuldkulturen‘



Devianzempfindung Gefühlte Sanktion Soziale Sanktion Zeitliche Dimension Transzendierbarkeit des Zustands

Form der seelischen Entlastung Art der Schädigung Sozialtypus Ziel erzieherischer Sanktionen Symbolische Ausrichtung der Kultur

45

Schande, Stigmatisierung, Missachtung durch Dritte Soziale Angst, Anerkennungs- und/oder Liebesverlust Verbannung, Ächtung

Fehlhandlung, Tat, Selbstverurteilung, ‚Sünde‘ Gewissensangst, Gewissensbisse

Tendenzielle Irreversibilität der Scham und der sozialen Beschädigung Erschwerte Möglichkeiten, den Affekt/die erlittene Stigmatisierung durch kulturelle Handlungen zu transzendieren Ritual, ‚Wiedergutmachung‘

Abbüßbarkeit der Schuld, daher Möglichkeit der sozialen Reintegration Kulturelle Instrumentarien und Rituale zur Überwindung des Affekts vorhanden

Bestrafung

Beichte: Vergebung, Geständnis: Reue Auf Clan oder Familie Auf das Individuum bezogebezogener (längerfristiger) ner (temporärer) AnsehensStatusverlust verlust Hoher Stellenwert von Ge- Hoher Stellenwert von meinschaft (Interdependenz, Individualität und Autonomie kontextuelle Identität) (Independenz) Erfahrung des AusgestoErfahrung der mangelnßenseins und Verlust der den Unabhängigkeit von Kontextualität Bezugspersonen Hohe Bedeutung von Ehre Auf das Innere des Individuund öffentlichem Ansehen, ums und dessen SelbstachAusrichtung des Einzeltung ausgerichtete Kultur nen auf Erwartungen der Gemeinschaft

Besonderheiten fiktionaler Affektkulturen Die Auffassung, dass die hier gegenübergestellten schamkulturellen und schuldkulturellen Charakteristika nur bedingt auf reale Gesellschaften übertragbar sind, sondern vielmehr idealtypische Konstrukte darstellen, trifft umso mehr für literarische Texte zu, weil in ihnen die jeweils vorherrschenden Affektkulturen diskursiv entworfen werden. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, weswegen an der umstrittenen kulturtheoretischen Differenzierung festgehalten werden soll: weil im Blickwinkel dieser Studie keine tatsächlichen Gesellschaften oder Sozialformen stehen, sondern die von Schiller und Kleist retrospektiv projizierten ‚Kulturphantasmen‘, deren Konstruktcharakter offenbar ist und um deren konkrete Konzeptualisierungen und

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poetische Motivierungen es gehen soll. Ob zum Beispiel überhaupt soziale Öffentlichkeit von den Dramatikern gezeigt wird oder das Werk sich eher im privaten Raum abspielt, ist daher von hoher Bedeutung für die jeweils gestalteten Affektkulturen. Auch die gewählte historische Semantik und das im Einzelnen verfügbare oder benutzte Wortfeld (von Scham, Schmach, Schande, Schuld, Unschuld, Reue etc.) ist signifikant. Ein weiterer im Kontext der Befassung mit literarischer Affektgestaltung bemerkenswerter Aspekt wird von dem Altphilologen Kenneth Dover – ebenfalls mit Blick auf die griechische Antike – formuliert, wenn er sagt, „the difference between ‚guilt-cultures‘ and ‚shame-cultures‘ [is] a difference more in the way people talk then in the way they feel.“46 Diese Bemerkung ist für die vorliegende Untersuchung in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Zum einen, weil mitzudenken ist, dass Gefühle wie Scham und Schuld nicht präexistent sind, sondern, wie alle emotionalen Erfahrungen, von der jeweiligen Sprache geprägt werden, die zur Verfügung steht, um sie zu benennen.47 Wenn es also in einer bestimmten Kultur kein Wort für ‚Schuld‘ gibt, aber dafür ein sehr bedeutungsträchtiges und vielschichtig semantisiertes Wort für ‚Scham‘, so trägt dies dazu bei, dass Individuen hier eher Scham- als Schuldgefühle entwickeln. Zum anderen ist Dovers Aussage methodologisch insofern von Bedeutung, als dass in den behandelten Dramentexten zu beobachten ist, dass Figuren mittels sprachlicher Benennung ihrer oder fremder Gefühle nicht nur bemüht sind, diese angemessen sprachlich zu fixieren und so zu verstehen, sondern sie bisweilen auch versuchen, einen Affekt in einen anderen verbal ‚umzukodieren‘, was zumeist der Verhüllung oder Negierung eines noch intensiveren und schmerzhafteren Gefühls dient. Da dies in Monologen wie in Dialogen geschieht, handelt es sich um Simulationen vor anderen oder auch sich selbst. Derartige Mechanismen sprachlicher Maskierung von Gefühlen sind für die literarische Gattung des Dramas, die sich dadurch auszeichnet, dass das Bewusstsein der Protagonisten fast ausschließlich im Dialog, durch Verbalisierung, vermittelt werden kann, von besonderer Relevanz. Nicht selten hat das Aussprechen von Scham- und Schuldgefühlen in den Dramen sogar konkrete Handlungen zur Folge, die die zunächst nur artikulierten – also möglicherweise nur behaupteten – Seinszustände performativ herstellen, sie verbal duplizieren oder auch unterlaufen.

46 Kenneth J. Dover. Greek Popular Myth in the Time of Plato and Aristotle. Oxford 1974, S. 220, Anm. 3. 47 Vgl. Cairns 1993, S. 46, Anm. 109.



Differenzierungen von Scham und Schuld

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2.2  Differenzierungen zwischen Scham und Schuld Entstehung und Relation der beiden Affekte Der Begriff der Affektdynamik soll in dieser Untersuchung zweierlei bedeuten: Zum einen steht er für die phänomenologischen Charakteristika, Eigenarten und leiblichen Wirkungen einzelner Gefühle, wie sie etwa der Philosoph Hermann Schmitz herausgearbeitet hat,1 zum anderen für die psychodynamischen Wechsel- und Abwehrstrukturen zwischen unterschiedlichen Gefühlen, mit denen sich insbesondere Psychologie und Psychoanalyse befassen. Im Anschluss an das Kapitel zur Differenzierung von Kulturen anhand des Paradigmas von Scham und Schuld sollen nunmehr beide mit Blick auf das Individuum, ebenfalls anhand komparatistisch argumentierender Theorieansätze, näher charakterisiert und kontrastiert werden. Auch diese Gegenüberstellung, die ein großes Spektrum von Merkmalen, Aspekten und methodischen Ansätzen berücksichtigen wird, dient vor allem heuristischen Zwecken, denn faktisch gehen Scham- und Schuldgefühle oft ineinander über oder sind zwar kognitiv, nicht aber von ihrer emotionalen Intensität und Wirkung her klar zu trennen, wie der Psychologe Sylvan Tomkins argumentiert hat: Shyness, shame, and guilt are not distinguished from each other at the level of affect, in our view. They are one and the same affect. This is not to say that shyness in the presence of a stranger, shame at a failure to cope successfully with a challenge, and guilt for an immorality are the same experience. Clearly they are not. The conscious awareness of each of these experiences is quite distinct. Yet the affect that we term shame-humiliation, which is a component of each of these total experiences, is one and the same affect.2

Trotz dieses Arguments und ungeachtet der Einsicht, dass sie als „unangenehme Gefühle mit potenzieller Wechselwirkung“3 tatsächlich phänomenal eng verwandt sind, hat sich, anknüpfend an die dargestellte Debatte 1 Vgl. Hermann Schmitz. System der Philosophie III.3: Der Rechtsraum. Bonn 1973; ders. System der Philosophie III.2: Der Gefühlsraum. Bonn 1996. Am Beispiel von Scham und Zorn wird dies nachfolgend noch erläutert. 2 Silvan Tomkins. Shame and its Sisters. A Silvan Tomkins Reader. Hg. v. Eve Kosofsky Sedgwick u. Adam Frank. Durham u. London 1995, S. 133; dem Emotionskomplex „shame-humiliation“ stellt Tomkins „contempt-disgust“ gegenüber, es geht also nicht um einen konkreten Scham-Schuld-Gegensatz; vgl. ebd., S. 133–178. 3 Alexandra Pontzen u. Heinz-Peter Preußer. „Ritualisierte Verarbeitungsformen von Fehlverhalten. Eine Einleitung zu ‚Schuld und Scham‘“. Schuld und Scham. Jahrbuch Literatur und Politik 3. Hg. v. dens. Heidelberg 2008. 7–24, S. 10.

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in der Kulturanthropologie, die systematische Unterscheidung sowie die theoretische Relationierung der beiden Affekte in den damit befassten Wissenschaften weitgehend durchgesetzt. Nahezu alle Untersuchungen zur Scham behandeln daher auch explizit die Frage ihrer Abgrenzung zur Schuld und umgekehrt. Im Unterschied zu anderen Differenzierungen – zum Beispiel Scham versus Ehre, Scham versus Stolz – beinhaltet die Scham-Schuld-Opposition sowohl synchrone als auch diachrone Dimensionen, wie sich bereits im vorangegangenen Kapitel zeigte. Dabei erscheint es sinnvoll, die diachrone Ebene weiter zu differenzieren: makroskopisch mit Blick auf die Kulturhistorie, was andeutungsweise schon erfolgt ist und nachfolgend weiter vertieft wird, mikroskopisch mit Blick auf die Individualgenese, was im Mittelpunkt des vorliegenden Kapitels steht. Es besteht in der Forschung weitgehende Übereinstimmung darin, Scham als ein Gefühl zu verstehen.4 Scham wird affektiv-leiblich erfahren und manifestiert sich durch spezifische körperliche Reaktionen und Gebärden, wie dem Erröten oder dem Senken des Blicks. Weitere, in experimentellen Situationen gewonnene Befunde zur Schamreaktion sind: Veränderungen der Stimme in Lautstärke und Tonqualität, Veränderungen der Mimik, Lachen, Selbstberührungen und die von Günter Seidler so benannten „reflektorischen Gesten“5 (das Führen der Hand ans Gesicht, zumeist ans Kinn, oder das Abstützen des Daumens auf dem Wangenknochen); eine Verstärkung der gestisch-mimischen Schamreaktion besteht noch darin, beide Hände vors Gesicht zu halten und den Kopf abzusenken.6 Gegenüber derartigen recht eindeutigen Emotionszeichen für Scham steht in Frage, ob auch die diesbezüglich uneindeutigere Schuld überhaupt als ‚Gefühl‘ bezeichnet werden kann, gilt sie doch dem modernen Verständnis zufolge eher als objektive Gegebenheit, die durch Gesetze geregelt und durch Rechtsakte festgestellt wird. Psychologisch ist Schuld aber oft weniger eindeutig, als juristische und soziale Regulierungen es vermuten lassen – es ist dann von ‚Schuldgefühlen‘ die Rede. Diese kann ein Mensch haben, auch wenn faktisch keine Schuld besteht; umgekehrt kann eine juristische Schuld vorhanden sein, ein Schuldgefühl jedoch gänzlich feh4 Vgl. Anna Blume. Scham und Selbstbewusstsein. Zur Phänomenologie konkreter Subjektivität bei Hermann Schmitz. Freiburg u. München 2003, S. 64. Es finden sich nur wenige Einsprüche gegen die Annahme, Scham als Gefühl zu verstehen; diese argumentieren dahingehend, dass Scham eher eine vegetative, unwillkürlich-körperliche Reaktion sei; vgl. Pontzen u. Preußer 2008, S. 10. 5 Günter H. Seidler. Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham. 2. verb. u. erweit. Aufl. Stuttgart 2001, S. 25. 6 Vgl. ebd.



Differenzierungen von Scham und Schuld

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len.7 Unter dieser Perspektive lässt sich Schuld als Gefühl verstehen und so ist es in den Kultur- und Sozialwissenschaften auch vielfach geschehen. Sinnvoll ist es demnach, zwischen „objektiver Gegebenheit“ (Schuld) und „subjektivem Empfinden“ (Schuldgefühl) zu unterschieden.8 Im Folgenden wird dennoch des Öfteren der Begriff ‚Schuld‘ anstelle von ‚Schuldgefühl‘ verwendet, da dies der in der Forschung regelhaft benutzte Terminus ist. Nur wenn auf ein subjektives Empfinden hingewiesen werden soll, das beispielsweise im Unterschied zur rechtlichen Situation vorherrscht, wird bewusst der Begriff ‚Schuldgefühl‘ gewählt. Anders als für Scham gibt es für Schuld kaum decodierbare körpersprachliche Zeichen, einzig der gesenkte Blick lässt sich als solches anführen. Der Psychoanalytiker Gerhard Piers definiert das Schuldgefühl als eine spezifische Form der inneren Spannung und Furcht („painful internal tension“), wobei als urteilende und strafende Instanz gemäß psychoanalytischer Theorie das Über-Ich fungiert: Guilt, then, is the painful internal tension generated whenever the emotionally highly charged barrier erected by the Super-Ego is being touched or transgressed. The transgressors against which this barrier has been erected are Id impulses that range from aggressiveness to destructiveness. Most authors also include here sexual impulses, particularly those related to incestuous drives. The irrational punishment, the unconscious threat of which is held forth to the transgressor, is governed by the Law of Talion and consequently spells either complete annihilation or mutilation of the offending organ as carrier of the tabooed impulse. The psychologically most important anxiety contingent to the feeling of guilt is, therefore, the widely studied castration anxiety after which the entire punishment complex is usually named.9 7 „Auch aus sozialpsychologisch-psychoanalytischer Sicht ist es bedeutsam, zwischen objektiver, realer Schuld und Schuldgefühlen zu unterscheiden. Man kann als Deutscher z.  B. reale Schuld auf sich geladen haben, ohne dabei Schuldgefühle zu empfinden [...].“; Wolfgang Mertens. [Art.] „Schuld“. Kompendium psychoanalytischer Grundbegriffe. München1992. 209–213, S. 212; siehe auch Taylor, die über eine solche Person schreibt: „He may of course be guilty and not feel guilty, for he may think the law in question bad and oppressive, or he may be quite indifferent towards the authority of the law. To feel guilty he must accept not only that he has done something which is forbidden, he must accept also that it is forbidden, and thereby accept the authority of whoever or whatever forbids it.“ Gabriele Taylor. Pride, Shame, and Guilt. Emotions of Self-Assessment. Oxford 1985, S. 85. 8 Pontzen u. Preußer 2008, S. 15, Anm. 45. 9 Gerhart Piers. „Shame and Guilt. A Psychoanalytic Study“. Ders. u. Milton B. Singer. Shame and Guilt. A Psychoanalytic and a Cultural Study. Springfield 1953. 5–41, S. 5 f.

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Unterdrückte Triebe und sexuelle Wünsche sowie die – sie stärkenden oder auch abwehrenden – aggressiven Impulse lösen nach Piers starke Schuldgefühle aus. Unbewusst gefürchtet wird dem Talionsgesetz entsprechend eine Analogiestrafe an eben jenen Organen, die die verbotene Transgression (oder den Wunsch danach) initiieren.10 Der Psychoanalyse zufolge stellt diese Schuld-Angst vor konkreten Strafen individualgenetisch bereits eine eher späte Stufe der Kindheitsentwicklung dar, die deutlich nach der Scham entsteht: „[G]uilt feeling requires the formation of a Super-Ego […] and consequently, it belongs to a comparatively late stage. The dynamic requisite for shame is merely that the process of Ego-finding be under way. Shame has much to do with body function and body performance as such; guilt requires another object – that, too, speaks for a later development of guilt.“11 Auch Sigmund Freud geht davon aus, dass der Übergang von Scham zu Schuld vollzogen ist, sobald sich die ursprüngliche (umfassendere) Angst vor Liebesverlust in eine (konkrete, spezifische) Angst vor konkreten Strafen ausdifferenziert hat.12 Freud zufolge entstehen Schuldgefühle erst im Zuge der infantilen Sexualentwicklung und des ödipalen Konflikts. Der Wunsch des kleinen Jungen nach einer erotischen Bindung mit seiner Mutter löst Rivalität mit dem Vater und intensive Schuldgefühle aus – aufgrund des Triebes (‚drängende Libido‘) und aufgrund der Aggressionen (Tötungsphantasien) gegenüber dem Vater. Aus Furcht vor Bestrafung (Kastration) unterdrückt der Knabe sein Begehren und identifiziert sich fortan mit der männlichen Elterninstanz: Aggression wird derart in 10 Das Talionsgesetz beruht auf dem alten Strafrechtsgrundsatz ‚spiegelnder Strafen‘, wie er sich etwa im germanischen und mittelalterlichen Recht findet, wonach Gleiches mit Gleichem vergolten werden soll; es rekurriert auch auf das alttestamentliche ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ sowie auf die antike Rechtspraxis. Freud führt das Talionsgesetz im Zuge seiner Interpretation des Ödipus-Mythos ein, so etwa in seiner Schrift Das Unheimliche, wo es heißt: „[D]ie Selbstblendung des mythischen Verbrechers Ödipus ist nur eine Ermäßigung für die Strafe der Kastration, die ihm nach der Regel der Talion allein angemessen wäre.“; Sigmund Freud. „Das Unheimliche“. Gesammelte Werke 12. Hg. v. Anna Freud u. a. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 1986. 227–268, S. 243 [der hier kursivierte Name ‚Ödipus‘ ist im Original gesperrt]. 11 Piers 1953, S. 30. 12 „This dramatic change is seen in the fact that the fear of loss of love is replaced by fear of punishment. The fear of being found out thereby also ‚comes to an end‘, since ‚nothing can be hidden from the super-ego, not even thoughts‘“; Misheva 2000, S.  130, die hier Freud (in englischer Übersetzung) zitiert; vgl. Sigmund Freud. „Das Unbehagen in der Kultur“. Gesammelte Werke Bd. 14. Hg. v. Anna Freud u. a. London 1955. 419–506, S. 484 f.



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Idealisierung transformiert. Die Übernahme des Inzestverbots des Vaters als eine an sich selbst gerichtete Forderung stellt zugleich die erste Stufe des Gewissens dar.13 Freud versteht diesen Prozess – obgleich er nur für das männliche Kind ausformuliert wird und auf einen speziellen Gesellschafts- und Familientypus rekurriert – als universell: „In der Tat hatte jeder Einzelne diese Phase durchgemacht, ihren Inhalt aber dann in energischer Anstrengung verdrängt und zum Vergessen gebracht. Der Abscheu vor dem Inzest und ein mächtiges Schuldbewußtsein waren aus dieser individuellen Vorzeit erübrigt worden.“14 Freud hält „ein großes Stück des Schuldgefühls“ für unbewusst, insofern „die Entstehung des Gewissens innig an den Ödipuskomplex geknüpft ist“ und dieser nun mal „dem Unbewußten angehört“.15 Dieser Auffassung wird hier jedoch nicht gefolgt, denn Schuld- und Schamgefühle treten sowohl in unbewusster als auch in bewusster Form auf. Als existentielle Erfahrungen der frühen Kindheit sind sie in der Regel verdrängt, was aber nicht für spätere soziale Interaktionen und emotionale Bindungen gilt, in denen sie in vergleichbarer Intensität auftreten können. Wegweisend bleibt die Psychoanalyse gleichwohl in ihrer Konzeptualisierung der Schuld als internalisiertes Gefühl: dem ‚Gewissen‘, das auf einer ‚intersystemischen‘, inneren Spaltung beruht, wonach ein Teil des Ich den anderen anklagt bzw. beschuldigt. (Eben dieser psychodynamische Mechanismus findet sich in den zu untersuchenden Dramen wieder, ausgestaltet etwa im Medium eines ‚dialogisierten Monologs‘.) Allgemein beruhen Schuldgefühle eher auf einer Missbilligung durch sich selbst – und somit auf „autonomous moral agents“16 –, Schamgefühle hingegen auf einer Missbilligung durch andere. Aus diesem Grund bezeichnet der Sozialpsychologe Wolfgang Blankenburg Schuld als „introversiver“, denn sie beruhe, im Unterscheid zur Scham, auf der Bildung einer intrapsychischen Gewissensinstanz; Scham hingegen sei ohne eine deutliche „Außen-Innen-Relation“ nicht denkbar.17

13 Vgl. Jörg Klein. Inzest. Kulturelles Verbot und natürliche Scheu. Opladen 1991, S. 37. 14 Sigmund Freud. „Die Widerstände gegen die Psychoanalyse“. Gesammelte Werke 14. Hg. v. Anna Freud u. a. 2. Aufl. London 1955. 97–110, S. 108. 15 Sigmund Freud. „Das Ich und das Es“. Gesammelte Werke 13. Hg. v. Anna Freud u. a. 3. Aufl. London 1955. 235–289, S. 281. 16 Douglas L. Cairns. Aidōs. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature. Oxford 1993, S. 37. 17 Wolfgang Blankenburg. „Zur Differenzierung zwischen Scham und Schuld“. Scham – ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven. Hg. v. Rolf Kühn u. a. Opladen 1997. 45–55, S. 49.

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In der Forschung werden unterschiedlichste Parameter angeführt, um Scham und Schuld psychologisch zu differenzieren. Dabei stellt die Untersuchung von Piers und Milton Singer nicht nur die erste wissenschaftliche Monographie zur shame and guilt-Thematik dar, sondern auch die erste psychoanalytische Untersuchung, die die beiden Gefühle von der ‚Triebsphäre‘ abkoppelt.18 Ferner ist innovativ, dass Piers Scham mit der Kategorie des Ich-Ideals verknüpft. In einer kontrastiven Gegenüberstellung grenzt er Scham von Schuld anhand der folgenden vier Punkte ab: 1) Shame arises out of a tension between the Ego and the Ego-Ideal, not between Ego and Super-Ego as in guilt. 2) Whereas guilt is generated whenever a boundary (set by the Super-Ego) is touched or transgressed, shame occurs when a goal (presented by the EgoIdeal) is not being reached. It thus indicates a real ‚shortcoming‘. Guilt anxiety accompanies transgression; shame, failure. 3) The unconscious irrational threat implied in shame anxiety is abandonment, and not mutilation (castration) as in guilt. 4) The Law of Talion does not obtain in the development of shame, as it generally does in guilt.19

Scham entsteht aufgrund einer Spannung zwischen Ich und Ich-Ideal, Schuld hingegen aufgrund einer Spannung zwischen Ich und Über-Ich. Schuld-Angst begleitet daher, wie Piers bemerkt, Übertretung, Scham hingegen Versagen. Einer psychoanalytischen Grundannahme zufolge entsteht das Ich-Ideal durch die Internalisierung der Ideale der liebenden Eltern (und wird dann durch die Identifikation mit Geschwistern und der peer group verstärkt), während das Über-Ich auf einer Internalisierung der Verbote der strafenden Eltern beruht.20 Daran anknüpfend bemerkt Piers, dass Schuldgefühle auftreten, wenn eine (vom Über-Ich gesetzte) Grenze berührt oder überschritten wird, während Scham entsteht, wenn ein (vom Ich-Ideal vorgehaltenes) Ziel nicht erreicht wird. Ferner bestehe die unbewusste Bedrohung, die Scham-Angst hervorruft – wie auch in der ethnologischen Studie von Creighton argumentiert wird – in Verbannung, nicht aber in Versehrung wie bei Schuld-Angst. Entsprechend spielt das für das Schuldgefühl so bedeutsame Talionsgesetz für die Scham keine Rolle. 18 Vgl. Seidler 2001, S. 117 f. 19 Piers 1953, S. 11. 20 Vgl. ebd., S. 25–30; Helen B. Lewis. Shame and Guilt in Neurosis. New York 1971, S. 18–29; siehe auch Cairns 1993, S. 20, der diese Unterscheidung zusammenfassend darstellt.



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Scham-‚Selbst‘ versus Schuld-‚Handlung‘ „Punishment is for what he [a person] has done and not for what he is. Both guilt and punishment concentrate on the deed or the omission. Similarily, feelings of guilt are localized in a way in which feelings of shame are not localized; they concern themselves with the wrong done, not with the kind of person one thinks one is.“21 Taylor stellt hier dar, dass die jeweilige Referenz bei Scham und Schuld abweicht: Während es bei Scham das Selbst ist, ist es bei Schuld eher eine (vom Selbst vollzogene) Handlung. Der Psychoanalytiker Léon Wurmser knüpft an ebendiese Leitdifferenz an, wenn er argumentiert, dass Scham auf ein „Bild des idealen Selbst“ rekurriere (also bezogen ist auf das Ich-Ideal), Schuld hingegen auf einen „Kodex von idealen Handlungen“ (also bezogen ist auf das Über-Ich).22 Mehrere Autoren beziehen sich auf diese Unterscheidung von Selbst und Handlung, wenn sie auch bisweilen andere Begriffe wählen. So spricht Cairns von einer „shame/self versus guilt/agent distinction“23 oder Nussbaum bemerkt: „Shame [...] pertains to a trait or feature of the person, whereas guilt pertains to an act.“24 Cairns betont des Weiteren, „shame is concerned with the self as a whole, with what kind of person one is and would like to be, and [...] guilt is concerned with one’s actions as an agent, with what one does.“25 Aufgrund dieser Gleichsetzung mit dem Selbst, der ganzen Person, gilt Scham als „archaischer, umfassender und weniger differenziert“26 als Schuld. Scham weist also einen „primären Qualitätscharakter“ auf (Vergleich von Eigenschaften), Schuld einen „primären Handlungscharakter“ (Vergleich von Handlungen), wie Wurmser treffend formuliert.27 Ferner wird von ihm die folgende Unterscheidung eingeführt: „Das Schuldgefühl setzt der Stärke Schranken; Scham verdeckt und verhüllt Schwäche.“28 Wurmser hat Schamkonflikte als narzisstische Konflikte beschrieben – als innere Auseinandersetzungen, die um Selbstachtung, 21 Taylor 1985, S. 89; ganz ähnlich formuliert dies Misheva, die Forschung zu diesem Komplex resümierend: „Shame and guilt thus appear to have different referents, namely, self and action“; Misheva 2000, S. 93. 22 Léon Wurmser. Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Übs. v. Ursula Dallmeyer. 2. erw. Aufl. Berlin u. a. 1993, S. 135. 23 Cairns 1993, S. 22. 24 Martha C. Nussbaum. Hiding from Humanity. Disgust, Shame, and the Law. Princeton 2004, S. 229. 25 Cairns 1993, S. 21. 26 Wurmser 1993, S. 135. 27 Ebd., S. 140. 28 Ebd., S. 56.

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Macht und Ohnmacht kreisen. Scham stellt den eigenen Wert in Frage, sie ist eine Form der Selbstschädigung, wohingegen Schuld primär bedeutet, einem anderen geschadet zu haben.29 In der Tragödie werden insbesondere Spannungsverhältnisse zwischen derartigen Fremd- und Selbstschädigungen ausagiert, was mit – zumeist expliziten, teils auch impliziten – Bezugnahmen auf Scham und Schuld einhergeht. Ähnlich fasst den Unterschied auch Neckel aus soziologischer Perspektive: „Schuld ist das Gefühl, durch eigenes Handeln die Verletzung einer Norm verantwortet zu haben; Scham jenes, in seiner Integrität beschädigt zu sein. Schuld entsteht in der Übertretung von Verboten, Scham im Verfehlen eigener Ideale: in der Diskrepanz zwischen dem realen und dem idealen Selbstbild.“30 Schamgefühlen eigne demnach, anders als Schuldgefühlen, per se ein sozialer Bezug: Scham ist „[s]oziale Angst“ und nicht „Gewissensangst“ wie Schuld.31 Insofern Schuld aber die ‚Rechte des Anderen‘ anerkenne, handele es sich Nussbaum zufolge um einen höher stehenden Affekt:

29 Vgl. Herbert Morris. On Guilt and Innocence. Essays in Legal Philosophy and Moral Psychology. Berkeley u. a. 1976, S. 61; Taylor 1985, S. 87. 30 Sighard Neckel. „Achtungsverlust und Scham. Die soziale Gestalt eines existenziellen Gefühls“. Zur Philosophie der Gefühle. Hg. v. Hinrich Fink-Eitel u. Georg Lohmann. Frankfurt a. M. 1993. 244–265, S. 249. 31 Ebd., S. 249. Beim Begriff der ‚sozialen Angst‘ bezieht Neckel sich auf Norbert Elias, der diese dezidiert beschrieben hat: „Das Schamgefühl ist eine spezifische Erregung, eine Art von Angst, die sich automatisch und gewohnheitsmäßig bei bestimmten Anlässen in dem Einzelnen reproduziert. Es ist, oberflächlich betrachtet, eine Angst vor der sozialen Degradierung, oder, allgemeiner gesagt, vor den Überlegenheitsgesten Anderer; aber es ist eine Form der Unlust oder Angst, die sich dann herstellt und dadurch auszeichnet, daß der Mensch, der die Unterlegenheit fürchten muß, diese Gefahr weder unmittelbar durch einen körperlichen Angriff noch durch irgendeine andere Art des Angriffs abwehren kann. Diese Wehrlosigkeit vor der Überlegenheit anderer, dieses völlige Ausgeliefertsein an sie stammt nicht unmittelbar aus der Bedrohung durch die physische Überlegenheit Anderer, die hier und jetzt gegenwärtig sind, obwohl sie ganz gewiß auf psychische Zwänge, auf die körperliche Unterlegenheit des Kindes gegenüber seinen Modelleuren zurückgeht. [...] [D]er Konflikt, der sich in Scham-Angst äußert, ist nicht nur ein Konflikt des Individuums mit der herrschenden, gesellschaftlichen Meinung, sondern ein Konflikt, in den sein Verhalten das Individuum mit dem Teil seines Selbst gebracht hat, der diese gesellschaftliche Meinung repräsentiert; es ist ein Konflikt seines eigenen Seelenhaushalts; er selbst erkennt sich als unterlegen an.“; Norbert Elias. Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen 2: Wandlungen der Gesellschaft; Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. 21. Aufl. Frankfurt a. M. 1997, S. 397 f.



Differenzierungen von Scham und Schuld

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Guilt is a type of self-punishing anger, reacting to the perception that one has done a wrong or a harm. Thus, whereas shame focuses on defect or imperfection, and thus on some aspect of the very being of the person who feels it, guilt focuses on an action (or a wish to act), but need not extend to the entirety of the agent, seeing the agent as utterly inadequate. [...] In and of itself, guilt recognizes the rights of others. In that way, its very aggression is more mature, more potentially creative, than the aggression involved in shaming, which aims at a narcissistic restoration of the world of omnipotence. Guilt aims, instead, at a restoration of the wholeness of the separate object or person.32

Positive Eigenschaften werden dem Schuldgefühl hier weder aus christlicher noch aus psychoanalytischer Warte zugeschrieben, sondern in ethischmoralischer Hinsicht. Scham erweist sich gegenüber Schuld als stärker selbst verhaftet und daher ‚unreifer‘. Moraltheorien räumen dem Schuldgefühl den Vorrang ein, weil dieses den Schuldigen nötige, sich den Opfern zuzuwenden, also weniger ich-bezogen und narzissistisch sei.33 Emotionen des self-assessment Taylor zufolge handelt es sich bei Scham und Schuld um Gefühle der Selbsteinschätzung („Emotions of Self-Assessment“34). Entsprechend zählt der Kognitionspsychologe Michael Lewis beide zu den „ichbewußten Emotionen“35. Nach Lewis wird dem Selbst bei Erfolg oder Versagen in Bezug auf Normen und Ziele ein „Signal“36 gegeben; die jeweilige Art der Selbst-Attribution entscheidet dann darüber, welches Gefühl entsteht. Lewis differenziert zwei Arten der Selbstbewertung, „global“ und „spezifisch“,37 wobei er ersteres für Scham charakteristisch hält, letztere für Schuld. In seinem Modell der „ichbewußte[n] Emotionen“ wird Scham „Hybris“ als Gegenpol zugeordnet, Schuld hingegen „Stolz“.38 Ähnlich wie andere Autoren (z. B. Wurmser) geht Lewis davon aus, dass Scham ausgelöst wird, „wenn das Selbst sich auf das Selbst als ganzes ausrichtet und eine Bewertung des gesamten Selbst stattfindet, während das 32 Nussbaum 2004, S. 207. 33 Vgl. Bernard Williams. Scham, Schuld und Notwendigkeit. Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral. Übs. v. Martin Hartmann. Berlin 2000, S. 109. 34 Taylor 1985, Untertitel des Buches. 35 Michael Lewis. Scham. Annäherung an ein Tabu. Übs. v. Rita Höner. Hamburg 1993, S. 91. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 102–103. 38 Ebd., S. 106.

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Selbst bei der Schuld auf die Handlungen des Selbst ausgerichtet ist.“39 Daraus leitet er eine schematisch anmutende, inhaltlich aber korrekte Kausalität ab: Wenn ein Mensch bei einem Verhalten, das er anhand seiner Normen als Mißerfolg bewertet, sein Selbst global bewertet, ist Scham die Folge. Auch Schuld ist die Folge eines Versagens; bei ihr liegt der Schwerpunkt jedoch auf dem Tun des Selbst. Bei Erfolg finden wir dieselbe Parallele vor. Wenn eine Handlung als Erfolg bewertet und eine globale Attribuierung vorgenommen wird, ist Hybris (Hochmut) die Folge; wenn die Handlung als Erfolg bewertet und eine spezifische Attribuierung vorgenommen wird, ist Stolz die Folge.40

Nach Lewis stellt Scham „einen globalen Angriff auf das Selbst“ dar, weswegen es besonders schwer falle, „diese Emotion zu zerstreuen“; im Unterschied dazu sei es leichter, sich von Schuldgefühlen zu befreien, und zwar durch konkrete „korrigierende Handlungen“.41 Anders als bei Scham, bei der das Selbst Subjekt und Objekt zugleich ist, sind Subjekt und Objekt bei Schuldgefühlen verschieden, weswegen diese Emotion weniger intensiv und eher ‚zerstreubar‘ ist. Williams hat ein psychologisches Modell von Scham und Schuld entwickelt, das jeweils auf einer ‚verinnerlichten Figur‘ aufbaut: „Mit Blick auf die Scham handelt es sich dabei [...] um einen Zuschauer oder einen Zeugen. Mit Blick auf die Schuld ist die verinnerlichte Figur ein Opfer oder der Vollstrecker eines Urteils.“42 Die internalisierte Figur in der Schuld nimmt ihm zufolge eine durch Wut gekennzeichnete Haltung ein; die Reaktion des schuldigen Subjekts darauf ist Furcht (vor Aggression). In der Scham ist demgegenüber keine spezifische Haltung der verinnerlichten Figur erforderlich, notwendig ist allein, dass das Subjekt sich selbst als scheiternd, schwach oder mangelhaft wahrnimmt.43 Der (reale oder imaginierte) Blick des Beobachters in der Scham lenkt die Aufmerksamkeit auf das Scham-Subjekt; die Wut des Opfers bzw. die stellvertre39 Ebd., S. 102. 40 Ebd., S. 106. 41 Ebd., S. 107 u. 109. „Shame and guilt each involve internal attributions but are likely to vary along the dimensions of globality and stability. To the extent that guilt involves a focus on some specific behavior, the guilt experience is likely to involve internal, specific, and fairly unstable attributions. [...] | In contrast, shame involves a focus on the global self, which is presumably relatively enduring. Thus, the shame experience is likely to involve internal, stable, and global attributions.“; Ronda L. Dearing u. June Price Tangney. Shame and Guilt. New York u. London 2002, S. 52. 42 Williams 2000, S. 195. 43 Vgl. ebd., S. 195–197.



Differenzierungen von Scham und Schuld

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tende Aggression des Vollstreckers hingegen lenkt die Aufmerksamkeit auf das Opfer, das als Objekt dem sich schuldig fühlenden Subjekt personal gegenüber tritt.44 Die Identität von Subjekt und Objekt in der Scham bewirkt, dass das Selbst eine „ambivalente Haltung sich selbst gegenüber“ einnimmt, was Scham von Schuld nach Anja Lietzmann strukturell unterscheidet, insofern letztere „ein eindeutiges Verhältnis und die volle Verantwortung der Person ihrer Tat gegenüber voraus[setzt]“.45 Für das Betroffensein von Scham ist daher, im Unterschied zu den meisten anderen Gefühlen, eine spezifische Selbstreflexivität symptomatisch: „In der Scham erlebe ich mich als ins-Verhältnis-zu-mir-selbst-gesetzt“46, wie Anna Blume formuliert. Das Selbst nimmt beide Rollen – des oder der Schädigenden und des oder der Geschädigten – zugleich ein, im auffälligen Unterschied zur Schuld, wo es sich in der Regel um zwei getrennte Personen handelt. Wahrnehmung, Raum und Zeit Neben diesen Ich-psychologischen Dimensionen, bei denen das jeweilige Selbstverhältnis und die Möglichkeiten der Verarbeitung des Affekts im Zentrum stehen, findet sich ein weiterer Argumentationsstrang, der beide Gefühle anhand ihrer Wahrnehmungsmodi differenziert. Erstmalig formuliert hat dies der Psychoanalytiker Erik Erikson, wenn er hervorhebt, dass sich das Individuum in Situationen der Beschämung von Augen umringt fühle, während in Schuld-Situationen eher die Stimme des Über-Ich (imaginär) zu hören sei; er hebt ferner die genealogische Abfolge dieser Erfahrungen hervor: „Die mit dem Sehen zusammenhängende Scham geht der mit dem Hören zusammenhängenden Schuld voraus; im Schuldgefühl wird die eigene Schlechtigkeit ganz für sich allein empfunden, wenn niemand zuschaut und alles schweigt – bis auf die Stimme des Über-Ichs.“47 Auch Wurmser betont, dass das – der Scham zugehörige – Ich-Ideal einen deutlich visuellen Charakter aufweist.48 Williams greift diesen Grundgedanken auf, wenn er bemerkt, Scham sei „mit dem Blick und dem Gesehenwerden verbunden“, Schuld demgegenüber 44 Vgl. ebd., S. 198. 45 Anja Lietzmann. Theorie der Scham. Eine anthropologische Perspektive auf ein menschliches Charakteristikum. Hamburg 2007, S. 103. 46 Blume 2003, S. 56. 47 Erik H. Erikson. Kindheit und Gesellschaft. Übs. v. Marianne von Eckardt-Jaffé. Stuttgart 1971, S. 247. 48 Vgl. Wurmser 1993, S. 134.

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„im Hören veranker[t], im Klang der Stimme, die in einem urteilt“ oder sie sei „das moralische Gefühl des Worts“.49 Auch seine Begrifflichkeit des ‚Zuschauers‘ oder ‚Zeugen‘ einerseits, des ‚Opfers‘ oder ‚Vollstreckers‘ andererseits, lassen sich auf die konzeptuellen Unterschiede von Sehen und Hören beziehen. Dieser auf die Artikulations- und Perzeptionsmodi bezogene Gegensatz zwischen Sehen und Hören ist für die nachfolgenden Dramenanalysen aufschlussreich, insofern manche der Werke eher Visualität und Blicke, etwa in Form von stummen Tableaus oder gestischen Sequenzen, ins Zentrum stellen, andere eher akustische Elemente und das Gehör, zum Beispiel in Form von Musik, Chören oder sich verbal artikulierende Autoritäten. Es werden so auch unterschiedliche AffektÄsthetiken evoziert. Die Differenzierung von Scham als einem auf das Gesehen-Werden bezogenen Gefühl und von Schuld als einem Gefühl, das eher auf Hören rekurriert, geht ferner mit voneinander abweichenden „Zeitigungsmodi“50 einher, wie Blankenburg betont, wonach Scham eher raumbezogen ist, Schuld eher zeitbezogen. Dieser zunächst irritierende Gedanke wird durch das Argument plausibilisiert, dass Scham-Szenen in der Regel in Kopräsenz eintreten, im Hier-und-Jetzt einer Situation geteilter Anwesenheit, während Schuld-Szenen eher nicht-räumlich vorgestellt werden, dafür aber in Zeitstrukturen eingebunden sind – zum Beispiel indem Gefühle der Schuld, bisweilen mit beträchtlichem Abstand, nach der ‚Fehlhandlung‘ auftreten und oft erst in Momenten des Alleinseins und der nachträglichen Reflexion erfolgen. Für die Ausgestaltung von Konflikten in Dramentexten und Bühneninszenierungen sind diese Dimensionen ebenfalls von Belang, da sie die jeweilige Dramaturgie konkret beeinflussen können. Nachfolgend wird in einer zweiten Übersicht zusammengefasst, welche theoretischen Unterscheidungsmerkmale zwischen Scham- und Schuldgefühlen mit Blick auf das Individuum in diesem Kapitel erörtert wurden:

49 Williams 2000, S. 104. 50 Blankenburg 1997, S. 53.



Differenzierungen von Scham und Schuld

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Übersicht 2: Differenzierungen zwischen Schamgefühl und Schuldgefühl in aktuellen Theoriebildungen51 Differenzierungsmerkmal

Schamgefühl

Schuldgefühl

Zeitpunkt der Individualgenese

Archaisch (frühe Kindheit),

Psychische Referenz

Ich-Ideal

Relativ spät (da an Ausbildung der Instanzen Ich und Über-Ich gebunden) Über-Ich, Gewissen

Affektive Reaktion auf

Parameter

Versagen, Nichterreichung eines Ziels Verhüllen und Verdecken von Schwäche Vergleich von Eigenschaften

Übertretung von Grenzen, Verboten Der Stärke Schranken setzen Vergleich von Handlungen

Bezugsgröße

Selbst

Handlung, konkrete Tat

Art der Selbstbewertung

Global

Lokal, spezifisch

Art der Schädigung

Selbstschädigung, Verletzung der eigenen Integrität

Ziel bzw. Wunsch Affektiver Gegenpol

Narzisstische Selbstwiederherstellung Hybris

Fremdschädigung, Verletzung von verbindlichen Normen Restauration der Integrität der anderen Person Stolz

Verinnerlichte Figur

‚Zuschauer‘ oder ‚Zeuge‘

‚Opfer‘ oder ‚Vollstrecker‘

Leitender Wahrnehmungsmodus

Auf Sehsinn bezogen, Gesehenwerden

Funktion des Gefühls

Sinnbild des Erlebens Zeitigungsmodus Situativer Modus

Auf Gehör (‚Gehorchen‘) bezogen, Hören auf Ge- und Verbote, bzw. das Gewissen Umzingeltsein von Blicken Hören der Stimme des Gewissens, des Gesetzes Raum- und körperbezogen, Zeitbezogen, vorwiegend vorwiegend präsentisch retrospektiv, in Relation zu Vergangenem Kopräsenz, szenische Oft zeitversetzte Reaktion, Wahrnehmung, leibliche An- Situation der Isolation des wesenheit von Beschämtem Schuldempfindenden und Gegenüber

In nahezu allen in diesem Kapitel angeführten psychologischen, philosophischen und kulturtheoretischen Gegenüberstellungen von Scham und Schuld ist Scham der umfassendere Affekt, der schwerlich vom Selbst 51 Diese Übersicht berücksichtigt eine Tabelle des Psychopathologen Wolfgang Blankenburg, die je­doch wesentlich weniger Parameter umfasst und primär die eigene Position schematisch darzustellen sucht; vgl. ebd. S. 54.

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zu differenzieren ist und es in seiner Integrität trifft. Schuld demgegenüber, verstanden als konkrete Fehlhandlung, bietet die Möglichkeit der Buße oder Aufsichnahme von Strafe, wodurch sie sowohl eher vom Selbst abtrennbar als auch transzendierbar ist. Allgemein gesprochen, kann in Schuld-Situationen das positive Selbstbild eher erhalten bleiben, indem die Fehlhandlung vom Selbst abgespalten, gesühnt und so schließlich das Gefühl überwunden wird. In Scham-Situationen ist eine solche Separierung nicht möglich, wird hier doch das positive Selbstbild als solches zerstört oder zumindest massiv in Frage gestellt.52 „Für die Tilgung der Schuld sind abgestufte Formen der Sühne gegeben – die Scham geht aufs Ganze“53, wie der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann treffend bemerkt. Scham-Schuld-Zyklen: Das Mythem von Kain und Abel Aus der Unerträglichkeit von Scham sowie der fehlenden kulturellen Verarbeitungsmöglichkeiten dieses Gefühls resultiert eine Reihe von psychodynamischen Abwehrmechanismen, die sich sämtlich auf die in der Scham erfahrene Passivierung beziehen. Als gravierendste psychische Reaktionsbildung benennt Wurmser eine permanente ‚Charakterhaltung‘ der Scham, die zu einer Feindseligkeit gegen sich Selbst und einer depressiv-zurückgezogenen Persönlichkeit führt, die jegliche Exposition vermeidet und in Passivität und Selbstnegation verharrt.54 Zwei weitere bedeutende psychische Abwehrmechanismen haben demgegenüber, auf je unterschiedliche Art und Weise, die Transformation der erlittenen Passivität in – als befreiend erlebte – Aktivität zum Ziel. So können identitätsbedrohende Schamkonflikte zum einen durch eine Haltung ostentativer Schamlosigkeit zu bannen gesucht werden, was sich etwa in Form von verbaler Aggression, körperlicher bzw. sexueller Exhibition oder dem willentlichen und fortgesetzten Brechen von Tabus äußert.55 Zum anderen besteht ein leitender Befreiungsversuch aus passivierenden Situationen existenzieller Beschämung darin, Gefühle der Selbstschädigung durch 52 Vgl. Cairns 1993, S. 23; er bezieht sich diesbezüglich auf: Helen Merrel Lynd. On Shame and the Search for Identity. New York 1958, S. 50 u. 208 und Taylor 1985, S. 92 u. 134 f. 53 Hans-Thies Lehmann. „Das Welttheater der Scham. Dreißig Annäherungen an den Entzug der Darstellung“. Merkur 45.9/10 (1991): 824–38, S. 827. 54 Vgl. Wurmser 1993, S. 73 u. 149. 55 Vgl. ebd., S. 394–396; Micha Hilgers. Scham. Gesichter eines Affekts. Göttingen 1996, S. 274 u. 277; Lietzmann 2007, S. 75–83.



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solche der Fremdschädigung zu verdecken. Dies erfolgt entweder, indem Schamgefühle als Schuldgefühle wahrgenommen beziehungsweise als solche verbalisiert werden – Sidney Levin spricht treffend von einer ‚Übersetzung‘ („translation of guilt into shame“).56 Oder es geschieht, indem Scham dadurch abgewehrt wird, dass sie durch aggressive Handlungen faktisch in Schuld überführt wird – „Die Schande nimmt ab mit der wachsenden Sünde“57 heißt es entsprechend in Friedrich Schillers ‚republikanischem Trauerspiel‘ Die Verschwörung des Fiesco zu Genua. In einer diesbezüglich modellhaften psychoanalytischen Deutung der biblischen Mythe von Kain und Abel haben Till Bastian und Micha Hilgers gezeigt, inwieweit Kains Schuldigwerden durch die Tötung seines Bruders als Reaktion auf eine primäre Beschämung – das Nicht-Angeblicktwerden durch Gott – zu verstehen ist.58 Beide Söhne Adams bringen Gott ein Opfer dar, aber Kains Opfer wird nicht beachtet, was er als Willkür empfindet. Als Reaktion auf das Übergangenwerden durch Gott errötet Kain und senkt seinen Blick zu Boden – die beiden typischen Gebärden der Scham, wie etwa Kleist sie in seinem Werk exzessiv einsetzt.59 Schuld bezieht sich nach Bastian und Hilgers auf Handlungen, denen ein Konflikt, eine Entscheidung, zuvorgeht. Scham hingegen ist einem solchen Konflikt oft vorgängig; der Konflikt folgt der Schamszene, in Form des genannten Abwehrmechanismus, erst nach.60 Diese Affektdynamik zeigt sich beispielhaft anhand des in der deutschen Klassik häufig gestalteten

56 In many instances patients translate shame into guilt as a means of avoiding the analysis of their shame.“ Sidney Levin. „Some Metapsychological Considerations on the Differentiation between Shame and Guilt“. International Journal of Psychoanalysis 48 (1967): 267–276, S. 274. 57 Friedrich Schiller. „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“. Sämtliche Werke  1: Gedichte, Dramen I. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 8. durchges. Aufl. München 1987. 639–754, S. 698. 58 Vgl. Till Bastian und Micha Hilgers. „Kain. Die Trennung von Scham und Schuld am Beispiel der Genesis“. Psyche 44 (1990), S. 1100–1112. 59 Nachfolgend exemplarisch nur zwei Beispiele aus der Erzählung Die Marquise von O...: „Der Graf F... „versicherte plötzlich, blutrot im Gesicht, daß er sie außerordentlich liebe: sah wieder auf seinen Teller nieder, und schwieg“; Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe 2. Hg. v. Helmut Semdner. 7. Aufl. München 1987, S. 116; „Der Graf hatte ein Knie vor ihr gesenkt; die rechte Hand lag auf seinem Herzen, das Haupt sanft auf seine Brust gebeugt, lag er, und blickte hochglühend vor sich nieder, und schwieg“; ebd., S. 140. 60 Vgl. Bastian u. Hilgers 1990, S. 1105.

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Zwiespalts von ‚Pflicht‘ und ‚Neigung‘,61 wie er für Schillers Dramen so typisch ist: „Schuldig wird man durch eine Entscheidung, die letztlich immer auch einen Ambivalenzkonflikt beinhaltet“62, wie Bastian und Hilgers diesbezüglich bemerken. Auch im Falle des biblischen Narrativs ist dies evident: Kain wählt den Ausweg aus der Passivierung der Scham, indem er sie durch seine Tat in Schuld verwandelt und den Zuschauer seiner Beschämung, der zudem sein Rivale ist, aktiv vernichtet: „Schuld verhüllt Scham“63, wie der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme diesen Mechanismus pointiert beschreibt. Die Transformation „diffus ansteckende[r] Scham in konkrete, individuell zurechenbare, persönliche Schuld“ ist eine „Wendung ins Aktive“.64 Gleichzeitig erfolgt auch eine Verschiebung der Wut von Gott auf Abel. Besonders evident ist dieser Mechanismus im Hinblick auf Gewalthandlungen. Kain erfährt die Nichtbeachtung durch Gott als Kontingenz und Ungerechtigkeit, denn dessen Zurückweisung erfolgt ohne Begründung – und sie ist absolut. Er empfindet nicht nur Scham aufgrund dieser narzisstischen Kränkung, er wird auch wütend, was Gott bemerkt und als „Sünde“ (Gen 4.765) anprangert. Als Gott Kain somit nicht nur missachtet, sondern im Anschluss überdies seine daraus resultierenden Gefühle missbilligt, lockt dieser seinen Bruder aufs Feld und schlägt ihn tot: eine vorsätzliche Tötung, mit der Kain auch seine ursprünglich auf Gott gerichtete Aggression auf den Bruder überträgt.66 Die Bestrafung, die Gott Kain für den Brudermord auferlegt, ist entsprechend härter als die Vertreibung aus dem Paradies und die Sanktionierung Adams und Evas im Genesis-Kapitel zuvor. Gott verflucht Kain, prophezeit ihm Hungersnot, ewige Heimatlosigkeit und Fremdheit, was der Täter als zu hohe Strafe beklagt, da er als Paria von jedwedem getötet werden könne. Dieses Argu61 „Der Wille des Menschen steht aber vollkommen frei zwischen Pflicht und Neigung“; Friedrich Schiller. „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“. Sämtliche Werke 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 9. Aufl. München 1993. 570–669, 4. Brief, S. 576. 62 Bastian u. Hilgers 1990, S. 1105. 63 Hartmut Böhme. „Enthüllen und Verhüllen des Körpers. – Biblische, mythische und künstlerische Deutungen des Nackten“. Paragrana 6.1 (1997): 218–46, S. 224. 64 Bastian u. Hilgers 1990, S. 1110. 65 Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Wortkonkordanz. Hg. v. d. evangel. Kirche in Deutschland. Stuttgart 2000. 66 Vgl. Eugen Drewermann. Strukturen des Bösen 2: Die jahwistische Urgeschichte in psychoanalytischer Sicht. Paderborn u. a. 1985, S. 276.



Differenzierungen von Scham und Schuld

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ment sieht Gott erstaunlicherweise ein und gibt Kain ein Zeichen, „dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände“ (Gen 4,15). Durch Kains Weiterleben wird einerseits seine finale Bestrafung suspendiert, zugleich aber wird jener Zustand der Beschämung, den Kain durch Aggression abzuwehren suchte, perpetuiert. Das ‚Kainsmal‘ ist entsprechend zugleich ein Stigma und ein magisches Schutzzeichen.67 Anhand der psychoanalytischen Deutung der alttestamentlichen Erzählung von Kain und Abel zeigt sich die unterschiedliche Qualität und Intensität der beiden Affekte; insbesondere der umfassende, das Ich in Frage stellende Charakter der Scham wird sichtbar, wie auch Lehmann mit Bezug auf Bastians und Hilgers’ Thesen formuliert: Von Kain bis Kafka weist das Schamgefühl hinter sich zurück auf eine prim- ordiale Nichtigkeitserfahrung, eine maßlose Abweisung im Blick [...]. Alle Schuld kennt Ökonomie, und wenn die antike Tragödie das Inkommensurable von menschlicher Verfehlung und göttlichem Strafgericht artikuliert, so steht das Maß einer solchen Ökonomie noch als Kontrastbild im Hintergrund. Maßlos aber ist jener Affekt der Beschämung, der angesichts einer Bevorzugung/Benachteiligung entsteht, hinter die kein Appell zurückführt. Gott hat es vorgezogen, vorzuziehen.68

Mit Blick auf die Unerträglichkeit der Situation ist nach Bastian und Hilgers die aktive Umwandlung von Scham in Schuld oft die einzige Möglichkeit, dem Schamaffekt zu entkommen. Das aus der Handlung – hier: der Tötung des von Gott bevorzugten Bruders – resultierende Schuldgefühl jedoch kann erneut Scham auslösen, was möglicherweise wiederum versucht wird, affektiv abzuwehren. In der Psychologie werden derartige Dynamiken im Anschluss an den Psychoanalytiker Franz Alexander als ‚SchamSchuld-Zyklen‘ und ‚Schuld-Scham-Zyklen‘ bezeichnet.69 Piers gibt in seiner Untersuchung zwei anschauliche Beispiele für die Komplexität (und Fatalität) derartiger Zyklen: Take a male individual in whom sexual impulses mobilizing the Oedipal conflict arouse a (conscious or unconscious) sense of guilt. To avoid this conflict and its painful concomitant guilt anxiety, he either inhibits his sexuality 67 Vgl. Michael Weinrich. „Schuld und Sünde. Zusammenhänge und Unterscheidungen“. Wie? ‚Auch wir vergeben unseren Schuldigern?‘ Mit Schuld leben. Hg. v. Jürgen Ebach u. a. Gütersloh 2004. 88–123, S. 102. 68 Lehmann 1991, S. 832. 69 Vgl. Franz Alexander. „Remarks about the Relation of Inferiority Feelings to Guilt Feelings.“ International Journal of Psychoanalysis 19 (1938): 41–49; Piers 1953, S. 18 f.

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Kulturtheorien

entirely or permits only pregential outlets or equivalents. Such behavior will bring him into sharp conflict with the accepted and expected behavior of his chronological or social peers. The resulting anxiety has clearly the character of shame. However, the shame tension in turn will be so painful that it would lead to over-compensatory behavior, say Don Juanism. This brings him again back to the tabooed Oedipal sphere, giving rise to the feeling of guilt. Thus we have the cycle: sexual impulse → guilt → inhibition and/or regression → shame → sexual acting out → guilt. The dynamic polarity of the two forms of anxiety is clearly demonstrated. A very similar cycle obtains in the realm of hostility. It is an almost universal occurence in our culture that impulses (or acts) of aggression generate a sense of guilt which results in their inhibition. This inhibition frequently spreads from distructiveness proper to assertiveness and in more pathological cases, to ‚activity‘ as such. The resulting passivity brings about a conflict accompanied by the anxiety signal of shame. Shame in turn might lead to overcompensatory aggressive fantasies or behavior, setting of the alarm signal of guilt. Thus a similar vicious cycle is established: Aggression → guilt → inhibition, passivity → shame → overcompensatory aggressiveness → guilt.70

Anhand der hier skizzierten Abfolge der unterschiedlichen psychischen Zustände wird deutlich, dass in beiden gewählten Beispielen libidinöse bzw. aggressive Impulse – allgemeiner gesagt: nach außen gerichtete Wünsche oder Triebe – den Ausgangspunkt der Affektdynamik bilden. Eine derartige aktive Selbstexpression oder -exposition führt zu Schuldgefühlen und nachfolgend, insofern die Wünsche unterdrückt werden, auch zu Scham. Die als passivierend erlebte Scham wird durch Aktivität und Aggression wieder in Schuld transformiert – und so weiter. Piers spricht daher von der „dynamic polarity“ der beiden Angstformen, als die er Scham- und Schuldgefühle begreift. Eine solche, unter Umständen zyklisch sich wiederholende psychodynamische Wechselwirkung der beiden Affekte, bei der ihnen jeweils (unbewusst) die Aufgabe zugeschrieben wird, der Abwehr des je anderen zu dienen, ist es, die sich vielfach in narrativen Künsten gestaltet findet und sich in den im zweiten Teil dieses Buches zu untersuchenden Werken als virulent erweist.

70 Piers 1953, S. 18 u. 19 [Hervorh. der Scham-Schuld-Zyklen v. C. B.].



Theorien der Schuld

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2.3  Theorien der Schuld In diesem sowie im nachfolgenden Kapitel werden Aspekte behandelt, die jeweils nur einen der beiden Affekte – Scham oder Schuld – betreffen, und daher bislang noch nicht zur Sprache kamen. Zuerst geht es um die Kategorie der Schuld, die für die westliche Kulturgeschichte besonders in dreierlei Hinsicht von basaler Bedeutung ist: Zum einen gilt sie der biblischen Anthropologie und dem judeo-christlichen Glauben zufolge als postlapsale Grundbefindlichkeit und wird im Alten wie im Neuen Testament als Teil der conditio humana benannt. Zum anderen ist sie Leitaffekt der Gattung Tragödie, als der in der Antike entstandenen und mehr als zwei Jahrtausende als maßgeblich angesehenen literarischen Form, die in der Neuzeit zunehmend von einem philosophisch-geistesgeschichtlichen Theoriekontext umrankt wurde. Und schließlich hat die Psychoanalyse ein grundlegendes, unbewusstes ‚Unbehagen in der Kultur‘ behauptet, was sich als Resultat unterdrückter frühkindlicher Aggression und Autonomiebestrebungen und daraus resultierender Schuldgefühle einstellt. Transformation von Scham in Schuld in der alttestamentlichen Genesis Das Essen von den Früchten des Baumes der Erkenntnis ‚öffnet Adam und Eva die Augen‘, sie ‚erkennen‘, dass sie nackt sind, woraufhin sie sich Schurze aus Blättern anfertigen. Thematisiert wird die Wahrnehmung geschlechtlicher Differenz: Der biblischen Narration zufolge wird die Scham dadurch initiiert, dass sich Mann und Frau als different wahrnehmen und das voneinander Abweichende vor dem anderen durch Schurze aus Blättern zu verbergen suchen. Obgleich Adam Eva nach ihrer Erschaffung durch Gott, im Unterschied zu allen Tieren, sofort als Seinesgleichen identifiziert hatte – als „Fleisch von meinem Fleisch“1 –, so beruhte diese Gleichheit auf einer Verkennung, wie sich nachträglich herausstellt. Erst als Gott selbst sich nähert, verbergen sich beide in toto, von Kopf bis Fuß in den Bäumen; jetzt löst das Gesehenwerden an sich Scham – mit Wurmser präzisiert: Schamangst2 – aus. Adam und Eva verbleiben in diesem Zustand der Scham, verborgen vor Gottes Blick in den Bäumen, sie suchen nicht, das Gefühl aktiv abzuwehren, etwa durch physische Aggression, wie 1 Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Wortkonkordanz. Hg. v. d. evangel. Kirche in Deutschland. Stuttgart 2000, Gen. 2,23. 2 Vgl. Léon Wurmser. Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Übs. v. Ursula Dallmeyer. 2. erw. Aufl. Berlin u. a. 1993, S. 73–75.

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später ihr Sohn Kain. (Man kann aber durchaus von verbaler Aggression sprechen: Adam verrät Eva, gibt ihr die Schuld; sie wiederum verweist auf die Schlange als Schuldige.) Stattdessen erhalten sie von Gott jeweils zwei Strafen: die Plage der körperlichen Arbeit auf dem Feld wird dem Mann auferlegt ebenso wie die Sterblichkeit, die Schmerzen der Geburt und das Begehren der Frau („[u]nd dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein“3). Adams Strafen sind eher allgemeinmenschlicher Art – sie betreffen die conditio humana –, während Evas Strafen eine ergänzende geschlechtlich-biologische Dimension beinhalten, die sich auf ihre körperliche Lust und Reproduktion bezieht. Beiden wird durch die jeweiligen Strafen Schuld zugeschrieben und Gott selbst ist es, der die Scham derart in kulturelle Vollzüge transformiert. Ein auffälliges Merkmal der ersten biblischen Schamszene ist, dass Gott selbst dem in den Büschen verborgenen Paar Kleidung anfertigt, „Röcke von Fellen“4 macht und ihnen eigenhändig anzieht. Er nimmt ihnen so zwar ihre (Körper-)Scham durch einen kulturellen Akt, gleichwohl bleibt die Beschämbarkeit konstitutiv ‚darunter‘ erhalten, also aktualisierbar, als eine Beschämbarkeit, die gleichermaßen in der Kreatürlichkeit und Blöße wie in der geschlechtlichen Differenz besteht. Am Ausgang des Paradieses stehen Adam und Eva nicht mehr als akut Beschämte, sondern als latent Schuldige da. Parallel zur Diskussion von Scham- und Schuldkulturen am Leitfaden der Antike einerseits, am Gegensatz traditioneller östlicher und westlicher Kulturen andererseits, wurde ein dritter Argumentationsstrang entwickelt, der die polytheistische attische Kultur von der monotheistischen jüdischchristlichen Kultur unterscheidet und diese als Schuldkultur fasst: „[F]or the origins of guilt morality we must turn to the Jews and to the appearance of the Christian God. In the Judeo-Christian tradition guilt was equivalent to the sense of sin, a cause for self-doubt if not self-hatred. This sense of original sin can be called primitive guilt.“5 Im Alten Testament finden sich zwar viele Textstellen, die auf ein Primat der Scham hinweisen, diese werden jedoch eingeschränkt, nur bezüglich des Aspekts der Sexualscham behandelt oder aber verkappt unter den Schuldbegriff subsumiert.6 Auch dass sich im Alten Testament vielfach schamkulturelle Strukturen finden, 3 4 5 6

Gen. 3,16. Ebd., 3,21. Jan Blomsted. Shame and Guilt. Diderot’s Moral Rhetoric. Jyväskylä 1998, S. 15. Vgl. Knud Ejler Løgstrup. [Art.] „Scham“. Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handbuch für Theologie und Religionswissenschaft 5. Hg. v. Knut Galling. Tübingen 1961. 1383–1386, S. 1383 f.; Matthias Heesch. [Art.] „Scham“. Theologische Realenzyklopädie 30. Hg. v. Gerhard Müller. Berlin u. New York 1999. 65–72, S. 65.



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insofern moralische Werturteile durch eine machtvolle externe Instanz erfolgen7 und biblische Figuren von dieser – oft auch von Gott selbst – stigmatisiert werden, zum Beispiel Kain, findet wenig Beachtung. Vielmehr werden Judentum und Christentum, Altes und Neues Testament, in der Regel unter dem Paradigma der Schuldkultur diskutiert. Ausgehend von der mythischen Vertreibung aus dem Paradies und der Verhängung von Strafen durch Gott wird argumentiert, dass sich die Schuld Adams und Evas trotz der Aufsichnahme der Strafen nicht abtragen lässt, sondern Beständigkeit besitzt, in Form der ‚Erbschuld‘ auf sämtliche Nachfahren übertragen und Schuldhaftigkeit so Teil der menschlichen Existenz wird. Durch die Kollektivschuld des Mordes an Jesus Christus’, der durch seinen Opfertod die Schuld der Menschen stellvertretend auf sich nimmt, wird die schuldkulturelle Struktur im Neuen Testament (und Christentum) gegenüber dem Alten Testament (und Judentum) einerseits noch verstärkt. Andererseits hat die im Kreuzigungsgeschehen exemplifizierte modellhafte Fähigkeit zur Übernahme von Schuld auch eine entlastende Funktion für die ‚Sünder‘. Eine Veränderung erfährt die Schuldkonzeption in der Frühen Neuzeit durch Martin Luther und die evangelische Theologie, die dem Individuum und seinem Gewissen einen wesentlich stärkeren Raum einräumt, als es die katholische Theologie mit ihren liturgisch geordneten und meist sakramental unterstützen „Entschuldungsriten“8 der Beichte, Buße und Reue getan hat.9 aus der „radikalen Verinnerlichung des SchuldBegriffs“ folgt, dass sich die Seele gewissermaßen selbst für ihr Abfallen von Gott straft.10 Von der Schuld ist bereits nach Auffassung der frühen Kirche die ‚Sünde‘ zu unterscheiden, insofern diese keine Schuld vor Gott, sondern vor der kirchlichen Gemeinschaft und ihrer Rechtsordnung ist. Sowohl Schuld als auch Sünde werden in der christlichen Religion aus der Perspektive ihrer Vergebungsfähigkeit vor Gott (oder seinen irdischen Stellvertretern) betrachtet. 7 Vgl. Vessela Ivanova Misheva. Shame and Guilt. Sociology as a Poietic System. Uppsala 2000, S. 112 f. 8 Joachim v. Soosten. [Art.] „Schuld“. Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien 3. Hg. v. Christoph Auffahrt u. a. Stuttgart 2000. 266–268, S. 267. 9 „In principle, the mechanism of confession so prominent in a guilt-culture is apparently absent from shame-cultures, where confessing in front of a priest can make the feeling of shame even stronger. There is no relief for chagrin, embarrassment, or a sense of humiliation through confession or making one’s fault a matter of public knowledge.“; Misheva 2000, S. 115. 10 Matthias Laarmann. [Art.] „Schuld, III. Ethik und Theologie“. Lexikon des Mittelalters 7. Hg. v. Norbert Angermann u. a. München 1995. 1578–1580, Sp. 1578.

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Während die christliche Kultur zahlreiche Mechanismen zur Befreiung von Schuldgefühlen bereitstellt – dazu gehören auch das rituelle Schuldbekenntnis, die Bitte um Vergebung und die Bezeugung moralischer Umkehr vor Gott (intim) und in der Gemeinde (öffentlich)11 – finden sich keine derartigen Mechanismen, um Schamgefühle zu transzendieren. Um es pointiert zu formulieren: Es gibt im Christentum (wie auch im Judentum) zwar ausgeklügelte Rituale der ‚Entschuldung‘, aber keine kulturellen Techniken der ‚Entschämung‘. Dies hat auch Auswirkungen auf die moderne Tragödienkonzeption: Ihrer bloß ‚latenten‘ Schamthematisierung steht eine explizite – und teilweise exzessive – Schuldthematisierung gegenüber. Paradigma Ödipus: Schuld in der antiken Tragödie Die literatur- und theaterwissenschaftliche Forschung geht davon aus, dass es im Wesentlichen zwei historische Epochen und Kulturräume gab, in denen Tragödien verfasst wurden, die dieser Bezeichnung würdig sind: zum einen die klassische Antike, insbesondere die des griechischen Theaters mit einem römischen ‚Nachspiel‘ bei Seneca, zum anderen das westeuropäische Theater der Frühen Neuzeit.12 In der Tragödie, so der Literaturwissenschaftler Gérard Schneilin, dient der „Untergang des schuldigen Einzelhelden“ der „Bestätigung der sinngebenden, übergeordneten Macht“; das Tragische gelte seit den Griechen als Grenzsituation, „wobei das Übertreten der Grenze als schuldhaft empfunden und bestraft wird“.13 Die hier erwähnte tragische Schuld ist eng an die aristotelische Kategorie der Hamartia, des Fehlers oder Irrtums des Helden, gebunden. Bereits in der Tragödientheorie des Aristoteles kommt ihr eine Schlüsselfunktion zu, insofern sie der wichtigste ‚Anteil‘ ist, den der Held an der Handlung inne hat, wie der Gräzist Manfred Fuhrmann darlegt: Sie ist nicht sittliche Schuld – sonst wäre der Untergang des Helden als verdiente Folge nicht geeignet, beim Zuschauer die tragischen Affekte hervorzurufen; sie ist gleichwohl eine Form der Verantwortlichkeit, der Zurechenbarkeit – sonst erläge der Held dem Zufall, dem blind waltenden Schicksal, so daß der Zuschauer dem Geschehen keinerlei inneren Zusammenhang beizumessen vermöchte, geschweige denn von den tragischen Affekten ergriffen 11 Vgl. Joachim v. Soosten. [Art.] „Schuld“. Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien 3. Hg. v. Christoph Auffahrt u. a. Stuttgart 2000. 266–268, S. 267. 12 Vgl. Gérald Schneilin. [Art.] „Tragödie“. Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. 3. Aufl. Reinbek 1992. 1061–64, S. 1061. 13 Ebd., S. 1062 f.



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würde. Die Hamartia, eine Kategorie für ‚fahrlässiges‘ Verhalten, die ein breites Spektrum von Möglichkeiten umfaßt, vermeidet einerseits einen direkten, gänzlich ungebrochenen Kausalnexus zwischen dem sittlichen Verhalten des Helden und dem Ausgang des Stücks; sie vermeidet andererseits, daß sich die ethisch-dianoetisch bedingten Handlungen des Helden und die von außen eindringenden Ereignisse in völliger wechselseitiger Unabhängigkeit vollziehen. Sie begründet eine eigentümliche Zwischenform: Held und Handlungsgefüge sind an einer Stelle miteinander verknüpft, und zwar nicht durch eine schlechtweg dem Charakter entspringende Unzulänglichkeit, sondern durch ein untypisches Versagen in einer ungewöhnlichen Situation.14

Fuhrmann beschreibt eine in der Tragödie vollzogene Gradwanderung: Die Schuld des Helden darf nicht explizit und aktiv verursacht sein, sie muss aber dennoch existieren – er befindet sich, wie exemplarisch anhand von Sophokles’ Tragödie König Ödipus (ca. 425 v. Chr.) erläutert werden soll, in einem moralisch ambivalenten Zustand des ‚Unschuldig-Schuldigseins‘: Dodds zufolge thematisiert Sophokles, deutlich ausgeprägter etwa als Homer, die zermalmende Last der Schuld; Ödipus wird von ihm daher als „sophokleischer ‚Leidensmann‘“15 bezeichnet und so, wie dies in der Kulturtheorie des 20. Jahrhunderts recht häufig geschieht, mit Jesus, dem paradigmatischen Leidenden des Christentums, in Korrespondenz gebracht.16 Dodds bemerkt mit Blick auf die archaische Zeit und ihre sukzessiven Übergänge in die klassische Periode bezüglich der Schuldthematik: Ferner sollte man nicht vergessen, daß aus dieser archaischen Schuldkultur einige der tiefgründigsten tragischen Dichtungen der Menschheit entstanden sind. Vor allem Sophokles, der letzte große Repräsentant der archaischen Weltsicht, stellt die ganze tragische Bedeutung der alten religiösen Themen in ihrer ungemilderten, nicht versittlichten Form dar: das übermächtige Gefühl menschlicher Hilflosigkeit angesichts der göttlichen Undurchdringlichkeit und der áte, die am Ende aller menschlichen Bemühungen steht. Sophokles hat diese Gedanken auch in das kulturelle Erbe der abendländischen Menschen eingefügt.17

Dodds betont die tragische Dimension einer Schuld, die dem Individuum als undurchschaubarer Schicksalszusammenhang auferlegt wird. Unter 14 Manfred Fuhrmann. Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ‚Longin‘. Eine Einführung. 2. Aufl. Darmstadt 1992, S. 44 (‚dianoetisch‘: auf die Lehre vom Denken bzw. Kunst des Denkens bezogen‘). 15 Erec Robertson Dodds. Die Griechen und das Irrationale. Übs. v. Hermann-Josef Dirksen. Darmstadt 1970, S. 24. 16 Vgl. z. B. Gerhard Vinnai. Jesus und Ödipus. Frankfurt a. M. 1999. 17 Dodds 1970, S. 35 f.

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dem hier verwendeten Begriff der até (Verblendung, Wahn, irrationales Verhalten) wird eine von den Göttern auferlegte Sanktion verstanden, die den Helden zu Fehlhandlungen treibt und die er nicht mit rationalem Bewusstsein vollzieht.18 Dabei gehen Scham und Schuld oft ineinander über, insofern die até auch eine Form der Raserei, des Kontrollverlusts darstellt, mit der der Held nicht selten auf eine selbst empfundene Beschämung reagiert.19 Die Tötung seines Vaters Laios und die inzestuöse Liebesbeziehung mit seiner Mutter Jokaste sind Akte des Schuldigwerdens, die Sophokles’ Ödipus in Unwissenheit begeht, ja die gerade als Resultat seiner Flucht vor diesem ihm prophezeiten Unheil anzusehen sind. Offensichtlich aber ist, dass ihm von Sophokles eine partielle Mitschuld auferlegt wird, wenn er einerseits als aufbrausend charakterisiert wird, andererseits als uneinsichtig den unheilvollen Zeichen gegenüber (Hybris).20 Im Jähzorn ermordet er einen Unbekannten, der sein leiblicher Vater ist. Ignoranz bezüglich seiner eigenen Herkunft und Abwehr der Wahrheit kennzeichnen ihn auch im Umgang mit dem Seher Tereisias. Die tradierte Vorstellung einer Erblichkeit von Schuld hängt mit dem Glauben an die Einheit der Familie zusammen, den die archaische griechische Gesellschaft mit anderen frühen Gesellschaftsformen teilt: „Mochte die Lehre von der Erbschuld auch unbillig sein, so wurde in ihr doch ein Naturgesetz deutlich, das Anerkennung heischte: Die Familie war eine moralische Einheit, das Leben des Sohnes die Fortführung der väterlichen Existenz, und er erbte des Vaters sittliche Schuld genauso wie seine geschäftlichen Schulden.“21 Dodds zufolge „ist die Befreiung des Individuums von den Fesseln des Clans und der Familie eine der großen Errungenschaften des griechischen Rationalismus und eine Leistung, die der athenischen Demokratie angerechnet werden muß“22. König Ödipus 18 Vgl. John Simons. „Hamartia and Até in Schiller’s Drama“. Colloquia Germanica 19 (1986): 187–202, S. 187; Dodds 1970, S. 26. 19 Vgl. dazu die Darstellung der Raserei des griechischen Helden Aias in der gleichnamigen Sophokles-Tragödie in Kapitel 2.1 sowie nachfolgend Kapitel 3.4, die Analyse von Kleists Penthesilea unter dieser Perspektive. 20 Die im 19. Jahrhundert virulente Schuldfrage – ob sie eher moralisch-sittlich oder eher fatalistisch-schicksalhaft ist – beherrscht die Ödipus-Philologie im Grunde bis heute; vgl. Michael Lurje. Die Suche nach der Schuld. Sophokles ‚Oedipus Rex‘, Aristoteles’ ‚Poetik‘ und das Tragödienverständnis der Neuzeit. München u. Leipzig 2004, S. 2. 21 Dodds 1970, S. 22. 22 Ebd.



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gehört zu jenen Werken, die diesen Umbruch literarisch reflektieren und ihn zugleich problematisieren, als noch nicht abgeschlossen darstellen. Darüber hinaus lässt sich das Stück „als Rebellion des athenischen Rationalismus gegen die Autorität des Orakels von Delphi interpretieren“, wie der Germanist Jacques Le Rider bemerkt, der Ödipus als „Mann der Aufklärung, der die dogmatische Wahrheit in Frage stellt“, interpretiert.23 Ödipus versucht mit allen Mitteln, dem ihm und seiner Familie prophezeiten Schicksal zu entkommen, und eben dies führt dazu, dass es ihn nachfolgend ereilt: „Das Tragische erwächst somit aus der Freiheit, welche die tragische Figur bewahrt zu haben glaubt und die sie doch schon verloren hat.“24 Faktisch besteht das Handeln dieses Helden in einer ‚Entscheidung ohne Wahl‘25, wie Jean-Pierre Vernant treffend formuliert. Die antike Tragödie ist in einer Zeit angesiedelt, in der sich ein Übergang von der „faktizistischen“ zur „voluntaristischen“ Schuldauffassung vollzieht.26 Mit dieser Begrifflichkeit wird eine Form der unfreiwillig und kontingent erlittenen und als schmachvoll erlebten Bürde (genealogische Erbschuld) von einer eher aktiven, vom Subjekt zu verantwortenden Form der Schuld differenziert.27 Auch Ödipus’ Schuld steht ambivalent zwischen einer solchen erlittenen Bürde und einer freiwilligen Tat: Sie ist nur bedingt als personale Schuld zu bezeichnen, da sie als transgenerationeller Fluch und Erbschuld von seinen Eltern übertragen wird. Ödipus jedoch 23 Jacques Le Rider. Freud – von der Akropolis zum Sinai. Die Rückwendung zur Antike in der Wiener Moderne. Übs. v. Christian Winterhalter. Wien 2002, S. 184. 24 Ebd., S. 183. 25 „Decision sans choix“; Jean-Pierre Vernant. „Ébauches de la volonté dans la tragédie greque“. Ders. u. Pierre Vidal-Naquet. Mythe et trágedie en Grece ancienne. Paris 1973. 41–74, S. 48. 26 Vgl. Reinhold Glei u. a. [Art.] „Schuld“. Historisches Wörterbuch der Philosophie 8. Hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Basel 1992. 1442–1472, Sp. 1443. Auch in der römischen Antike findet sich eine frühe Differenzierung von „absichtlicher Gesetzesübertretung (iniuria, culpa, vitium) und unabsichtlicher Verfehlung (error, peccatum, delictum)“; ebd., Sp. 1444. 27 Williams kritisiert an diesem Gedanken, dass Schuld in der Neuzeit, im Unterschied etwa zur archaisch-antiken Auffassung, auf die Dimension freiwilliger, aktiver Fehlhandlungen eingeschränkt wird, während früher „alles, was ich einem anderen angetan habe, ob nun willentlich oder nicht“ in diesen Bereich fiel. Es zeichnet sich hier eine neuzeitliche Verengung des Schuldbegriffs ab, die irrationale, unbewusst motivierte oder unwillkürlich vollzogene Handlungen – wie sie etwa für die Gattung der Tragödie so typisch sind – als Ursache von Schuld eher ausgrenzt; vgl. Bernard Williams. Scham, Schuld und Notwendigkeit. Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral. Übs. v. Martin Hartmann. Berlin 2000, S. 108.

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sucht sich aktiv aus dieser familiären Verstrickung und Fatumsbindung loszulösen.28 Die antike Tragödie verhandelt derartige Ambivalenzen zwischen faktizistischer und voluntaristischer Schuld, die in dieser Zeit noch als ineinander greifend verstanden werden. Nach Vernant und Pierre Vidal-Naquet entsteht durch ihr unaufgehobenes Spannungsverhältnis sogar die eigentliche Dimension des Tragischen: Die tragische Schuld konstituiert sich also in einer ständigen Konfrontation zwischen einerseits der alten religiösen Auffassung des Fehlers, einer Befleckung, die ein ganzes Geschlecht befällt und sich unerbittlich von Generation zu Generation fortpflanzt – in Form einer ‚Até‘ [Verblendung, E. F.], eines von den Göttern geschickten Wahns, und andererseits in der neuen Auffassung, die im Rechtswesen praktisch wird, wo der Schuldige sich als ein privates Individuum definiert, welches frei gewählt hat, ein Verbrechen zu begehen, ohne dazu gezwungen worden zu sein.29

Das schuldkulturelle Denken der klassischen Zeit entsteht durch eine sukzessive Transformation und Umstrukturierung des bereits in der Archaik vorhandenen Schuldgefühls: Streng genommen wird aus dem archaischen Schuldgefühl ein Gefühl für Sündhaftigkeit nur durch jenen Vorgang, den Kardiner als ‚Internalisierung‘ des Gewissens bezeichnet, ein Phänomen, das spät und undeutlich in der grie28 Aspekte der Schuldhaftigkeit und Hybris der Eltern im Mythos sind u. a., dass der Vater, König Laios, außereheliche Beziehungen zu minderjährigen Knaben hatte und die Mutter, Königin Jokaste, bereit war, ihr eigenes Kind zu töten, ferner, dass sie trotz des negativen Orakels ein Kind zeugten. Laios entführte und vergewaltigte Chrysippos, den Sohn seines Gastgebers Pelops, der sich nachfolgend selbst tötete. Aus dieser Tat entsprang der Auffassung vieler Historiker zufolge der Fluch, den der Vater Pelops auf das Geschlecht der Labdakiden verhängte; vgl. Jean-Pierre Vernant. „Le Tyran boiteux: d’ Œdipe à Périandre“. Ders. u. Pierre Vidal-Naquet. Œdipe et ses mythes. Paris 1986. 54-86, S. 60; Jean Bollack. Sophokles. König Ödipus 2: Essays. Frankfurt a. M. u. Leipzig 1994, S. 68-70; Claudia Benthien „Schuldlos Schuldig?“. ‚Ödipus, Tyrann‘ von Sophokles nach Hölderlin von Heiner Müller in der Inszenierung von Dimeter Gotscheff. Hg. v. Ortrud Gutjahr. Würzburg 2010. 135–148, S. 144. 29 „La culpabilité tragique se constitue ainsi dans une constante confrontation entre l’ancienne conception religieuse de la faute, suillure attachée à toute une race, se transmettant inexorablement de génération en génération sous forme d’une áte, d’une démence envoyée par les dieux, et la conception nouvelle, mise en œuvre dans le droit, où le coupable se définit comme un individu privé, qui sans y être contraint, a choisi délibrérément de commettre un délit.“ Jean-Pierre Vernant. „Ébauches de la volonté dans la tragédie greque“. Ders. u. Pierre Vidal-Naquet. Mythe et trágedie en Grece ancienne. Paris 1973. 41–74, S. 72; dt. Übs. zit. n. Egon Flaig. Ödipus. Tragischer Vatermord im klassischen Athen. München 1998, S. 32.



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chischen Welt erscheint und erst lange, nachdem das weltliche Recht die Bedeutung des Motivs zu erkennen begonnen hatte, zum Allgemeingut wird. Die Übertragung des Begriffs der Reinheit von der magischen in die moralische Sphäre vollzog sich ebenfalls spät. Erst in den letzten Jahren des fünften Jahrhunderts [v. Chr.] findet man den Gedanken ausformuliert, daß reine Hände nicht genügen: Das Herz muss ebenso rein sein.30

Dodds stellt hier dar, welchen zentralen Veränderungen das Schuldkonzept in der klassischen Antike unterworfen war. Diese umfassen nicht nur die Verlagerung des Gefühls nach Innen (als Introjektion des ‚Gewissen‘), sondern auch die annähernde Gleichsetzung von schuldhaften Handlungen und schuldhaften Wünschen oder Intentionen. ‚Schuldlos schuldig‘: Philosophie des Tragischen um 1800 Neben der antiken Konzeption von Schuld, wie sie in der Tragödie maßgeblich ausformuliert wurde und die sich durch die charakteristische Spannung von faktizistischer und voluntaristischer Schuld auszeichnet, ist für dieses Buch besonders die sich wandelnde Auffassung der Tragödie um 1800 von Bedeutung. Denn in dieser Zeit vollziehen sich zwei bedeutsame, miteinander verwobene, paradoxe Wandlungen: Die Tragödie als Gattung wird, erstmalig in ihrer Geschichte, von Grund auf in Frage gestellt und wird sich von dieser Krise auch nicht wieder erholen. Zeitgleich aber entsteht im deutschsprachigen Raum um 1800 eine avancierte kulturtheoretische Auseinandersetzung mit der Tragödie: die Philosophie des Tragischen.31 Es handelt sich um einen Paradigmenwechsel, da die Diskussion um die Gattung Tragödie bis zur Weimarer Klassik auf rezeptions- und wirkungsästhetischen Grundlagen geführt wurde, die um 1800 dann von gehaltsästhetischen Fragen abgelöst wird: Gefragt wird nicht 30 Dodds 1970, S. 24 f; Dodds bezieht sich hier auf: Abram Kardiner. The Psychological Frontiers of Society. New York 1945, S. 439; zur Introjektion von Gefühlen und zur ‚Erfindung des Seeleninnenraums‘ vgl. auch: Hermann Schmitz. System der Philosophie II.1: Der Leib. Bonn 1965, S. 365–504; ders. System der Philosophie III.2: Der Gefühlsraum. Bonn 1969, S. 9­–20 u. 403–520; Hartmut Böhme. „Gefühl“. Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hg. v. Christoph Wulf. Weinheim u. Basel. 1997. 525–548, S. 530–532. 31 „Seit Aristoteles gibt es eine Poetik der Tragödie, seit Schelling erst eine Philosophie des Tragischen“; Peter Szondi. „Versuch über das Tragische“. Schriften 1. Frankfurt a. M. 1978, S. 149–260, S. 151; siehe zu diesem Zusammenhang auch: Thomas Martinec. „Von der Tragödientheorie zur Philosophie des Tragischen. Poetikgeschichtliche Skizze eines Umschwungs“. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 49 (2005): 105–128.

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mehr (poetologisch) danach, wie Tragödien zu schreiben sind, damit sie besonders gelungen sind – d. h. emotionale und ethisch-moralische Wirkungen beim Zuschauer erreichen –, sondern was sie an philosophischen, auf den Zustand des Menschen und seine Weltsicht bezogenen Aussagen beinhalten.32 Diese Interessenverschiebung hat zur Folge, dass das der Tragödie entnommene Schuldkonzept nunmehr anthropologisiert und universalisiert wird.33 Beispielhaft spricht etwa Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in seiner Tragödientheorie vom „Streit der Freiheit im Subjekt“; er bezieht sich auf Aristoteles, wenn er definiert, „die tragische Person“ sei „nothwendig eines Verbrechens schuldig“ und weiterhin bemerkt, ein Werk sei desto „tragischer oder verwickelter“, je höher diese Schuld ist; als Exempel führt er, wie die meisten Theoretiker seiner Zeit, die Figur des sophokleischen Ödipus an.34 Zentral ist dabei die Bemerkung, „das höchste denkbare Unglück“ sei dasjenige, ohne eigentliche Schuld schuldig zu werden: „Es ist also nothwendig, daß die Schuld selbst wieder Nothwendigkeit, und nicht sowohl, wie Aristoteles sagt, durch einen Irrthum, als durch den Willen des Schicksals und ein unvermeidliches Verhängniß oder eine Rache der Götter zugezogen sey.“35 Schuld als „Nothwendigkeit“ – eine solche faktizistische Kausalität stellt die Autonomie des Subjekts fundamental in Frage, wodurch streng genommen die Kategorie der Schuld selbst transzendiert wird, da Schuldigwerden, so die einhellige Auffassung der bereits diskutierten Theorieansätze, mit vom Subjekt – freiwillig oder nicht, in jedem Fall aber aktiv – vollzogenen Handlungen zu tun hat. Schelling orientiert sich also an der archaischen Schuldauffassung, die in der Zeit der griechischen Tragödie, wie skizziert, eine letzte Blüte und zugleich ihren Untergang erlebt. Es lässt sich an dieser Stelle auch auf Schiller rekurrieren, der explizit davon spricht, dass „eine blinde Unterwürfigkeit 32 Vgl. Jean-François Courtine. „Tragödie und Erhabenheit. Die spekulative Interpretation des ‚König Ödipus‘ an der Schwelle des deutschen Idealismus“. Die Realität des Wissens und das wirkliche Dasein. Erkenntnisbegründung und Philosophie des Tragischen beim frühen Schelling. Hg. v. Jörg Jantzen. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. 161–210, S. 185; Heinz Schlaffer. [Art.] „Tragödie“. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte 3. Hg. v. Jan-Dirk Müller u. a. Berlin u. New York 2003. 669–674, S. 671. 33 Vgl. Rita Felski. „Introduction. Defining Tragedy“. Rethinking Tragedy. Hg. v. ders. Baltimore 2008. 1–28, S. 2 f. 34 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Philosophie der Kunst. Darmstadt 1966, S. 339. 35 Ebd.



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unter das Schicksal immer demütigend und kränkend für freie, sich selbst bestimmende Wesen“36 sei. Schillers an Kant orientierte Wortwahl der Demütigung und Kränkung nimmt dabei bemerkenswerter Weise eher auf Attribute der Scham, nicht der Schuld, Bezug. Der Gedanke der Freiheit bzw. Unfreiheit des Helden steht im Zentrum vieler Tragödientheorien um 1800; so entwickelt Schelling, anknüpfend an Schiller, eine paradoxe Definition der Freiheit des tragischen Helden:37 „Es ist der größte Gedanke und der höchste Sieg der Freiheit, willig auch die Strafe für ein unvermeidliches Verbrechen zu tragen, um so im Verlust seiner Freiheit selbst eben diese Freiheit zu beweisen, und noch mit einer Erklärung des freien Willens unterzugehen.“38 Das „Erhabene in der Tragödie“ bestehe eben darin, „daß dieser schuldlose Schuldige freiwillig die Strafe übernimmt“39 – hier findet sich erstmalig die für die Tragödientheorie bis heute konstitutive Formel vom ‚schuldlos schuldigen‘ Helden (wie sie bei Aristoteles bereits impliziert, aber noch nicht benannt wird). Schelling bezieht sich erneut auf die Antike; in der christlich geprägten Moderne hingegen sieht er die Voraussetzungen einer solchen Konzeption des Tragischen nicht mehr gegeben, insofern nach christlicher Vorstellung alles Unheil überwindbar ist.40 Auch existiert die Auffassung nicht länger, dass Götter dem Menschen einen Fluch auferlegen, der sie schuldig werden lässt. Mehrere Tragödien um 1800 rekurrieren daher 36 Friedrich Schiller. „Über die tragische Kunst“. Sämtliche Werke 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 9. Aufl. München 1993. 372–393, S. 380 f. 37 Zur Darlegung der Paradoxien des Freiheitsbegriffs in Schillers Tragödientheorie ließen sich viele Zitate anführen, das einschlägigste ist vielleicht das nachfolgende aus der Abhandlung Über das Erhabene: „Kann [der Mensch] also den physischen Kräften keine verhältnismäßige physische Kraft mehr entgegensetzen, so bleibt ihm, um keine Gewalt zu erleiden, nichts anders übrig als: ein Verhältnis, welches ihm so nachteilig ist, ganz und gar aufzuheben und eine Gewalt, die er der Tat nach erleiden muß, dem Begriff nach zu vernichten. Eine Gewalt dem Begriffe nach vernichten, heißt aber nichts anders, als sich derselben freiwillig unterwerfen. Die Kultur, die ihn dazu geschickt macht, heißt die moralische.“; Friedrich Schiller: „Über das Erhabene“. Sämtliche Werke 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 9. Aufl. München 1993. 792–808, S. 793– 794. 38 Schelling 1966, S. 341. 39 Ebd., S. 343. 40 Vgl. Marie-Christin Wilm. [Art.] „Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: ‚Philosophie der Kunst‘“. Tragödientheorie. Texte und Kommentare. Vom Barock bis zur Gegenwart. Hg. v. Ulrich Profitlich. Reinbek b. Hamburg 1999. 135–144, S. 142.

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nicht zufällig auf antike Modelle, um an deren ‚klassischer‘ Schuldauffassung zu partizipieren. Die ‚schuldlose Schuld‘ als leitender Gedanke des Tragischen rührt dabei stärker als bisher in der Forschung anerkannt wurde an die Kategorie der Scham, die, wie dargestellt, kulturtheoretisch als fundamentaler Angriff auf das Selbst gedeutet wird – auf ein Selbst, das sich aufgrund des erdrückenden Zustands fehlender Gerechtigkeit und Kausalität nicht länger als handelnd und autonom erlebt. „Schuldbewußtsein“ und Kultur-Über-Ich Bis ins 20. Jahrhundert wurde die Wahrnehmung der griechischen Tragödie maßgeblich durch Sophokles’ König Ödipus und dessen Rezeption, insbesondere im Idealismus, geprägt – und damit durch das Modell des ‚unverschuldet schuldig werdenden‘ männlichen Helden. Aufgrund seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Ödipus-Mythos gilt Freud als „one of the most influential architects of the modern tragic sensibility“41. Anknüpfend an Schellings romantischen Schicksalsbegriff begreift auch Freud König Ödipus als Schicksalstragödie par exellence; ihre tragische Wirkung beruht, so Freud, „auf dem Gegensatz zwischen dem übermächtigen Willen der Götter und dem vergeblichen Sträuben der vom Unheil bedrohten Menschen“42. Die „Unwissenheit“ des Ödipus ist nichts als „die legitime Darstellung der Unbewusstheit, in die für den Erwachsenen das ganze Erlebnis versunken ist“ und der „Zwang des Orakels, der den Helden schuldlos macht oder schuldlos machen sollte“ nur die „Anerkennung der Unerlässlichkeit des Schicksals, das alle Söhne verurteilt hat, den Ödipuskomplex zu durchleben“.43 Trotz (oder wegen) der dem Verstand nicht einsichtigen „Fatumsvoraussetzung“44 löse die Tragödie König Ödipus Betroffenheit und Entsetzen aus, weil sich der Leser oder Zuschauer in dem Helden und dessen Versuch der aktiven Befreiung aus dem Schicksalszusammenhang selbst erkennt.45 Diese Wirkung von Sophokles’ Tragödie 41 Felski 2008, S. 9. 42 Sigmund Freud. „Die Traumdeutung“. Gesammelte Werke 2/3. Hg. v. Anna Freud u. a. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1961. 1–642, S. 268. 43 Sigmund Freud. „Abriß der Psychoanalyse“. Gesammelte Werke 17. Hg. v. Anna Freud u. a. London 1955. 63–138, S. 119. 44 Brief Freuds an Wilhelm Fließ vom 14.10.1897. Sigmund Freud. Briefe an Wilhelm Fließ: 1887–1904. Hg. v. Jeffrey M. Masson. Frankfurt a. M. 1986. 291–294, S. 293. 45 „Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn. Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf



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stellt den wesentlichen Unterschied zur späteren Schicksalsdramatik dar, die die Rezipienten eher ungerührt lässt.46 Nicht das ‚blinde Geschick‘, das Figuren gänzlich ohne ihr Dazutun ins Unglück treibt, ist also tragisch, erforderlich ist vielmehr ein Spannungsverhältnis von Erleiden und Tun, von ‚Schicksal‘ und dem (zum Scheitern verurteilten) aktiven Versuch der Befreiung aus der Schuldverstrickung. Die Psychoanalyse ist damit auch die erste „nichtreligiöse Institution“, die eine Konzeption „transpersonale[r] Schuld“ entwickelt.47 Freud bestimmt das Schuldgefühl als „Ausdruck des Ambivalenzkonflikts, des ewigen Kampfes zwischen dem Eros und dem Destruktions- oder Todestrieb“48. In seiner Kulturtheorie sucht er darzulegen, dass es für den Zusammenhalt sozialer Gemeinschaften notwendig ist, die ihnen „entgegenstehende Aggression zu hemmen, unschädlich zu machen, vielleicht auszuschalten“49. Diese Aufgabe wird dem Individuum selbst angelastet und erfolgt in Form der in der frühen Kindheit erlernten Introjektion – der Unterdrückung äußerer Aggressionen wie dem aus ihr resultierenden inneren Schuldgefühl: Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als ‚Gewissen‘ gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Indivi-

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die Mutter, den ersten Haß und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon.“ Freud 1961a, S. 269. Beispielsweise Grillparzers Drama Die Ahnfrau, über das Le Rider bemerkt: „Es gibt keinen Konflikt zwischen dem Willen der Menschen und dem der Götter, wie es in der griechischen Tragödie der Fall ist. Ebenso gibt es keine notwendige Folge zwischen Erbsünde, Bestrafung, Sühne und die Hoffnung auf Erlösung wie bei Calderón. Das Schicksal ist eine Fatalität, welche nicht einmal den ‚Gesetzen‘ der Astrologie folgt.“ Le Rider 2002, S. 181. Er bezieht sich hier auf Benjamins Diskussion des Schicksalsdramas nach Calderón; vgl. Walter Benjamin. Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. v. Rolf Tiedemann. 7. Aufl. Frankfurt a. M. 1996, S. 109–113. Jutta-Anna Kleber. „Schuld und Krebs. Geschichte und Ende der Unheilbarkeit in der Moderne“. Schuld. Hg. v. Gerburg Treusch-Dieter u. a. Tübingen 1999. 121–137, S. 127. Freud 1955d, S. 492. Ausführlich zur psychoanalytischen Konzeption der Schuld nach Freud vgl.: Claudia Benthien. „Antikes ‚Schuldbewußtsein‘ und psychoanalytische Mythologie“. Freud und die Antike. Hg. v. Claudia Benthien u. a. Göttingen 2011. 241–267. Freud 1955d, S. 482.

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duen befriedigt hätte. Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewußtsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis. Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen läßt.50

Erst im Anschluss an die „Aufrichtung“51 des Über-Ich ist es Freud zufolge sinnvoll von ‚Gewissen‘ und ‚Schuldgefühl‘ zu sprechen. Denn erst mit der Existenz des Über-Ich als dem Ich gegenüber kritischer und strafender Instanz wird Schuld als „intersystemische Beziehung“52 in den psychischen Apparat eingeführt: Wir kennen also zwei Ursprünge des Schuldgefühls, den aus der Angst vor der Autorität und den späteren aus der Angst vor dem Über-Ich. Das erstere zwingt dazu, auf Triebbefriedigungen zu verzichten, das andere drängt, da man den Fortbestand der verbotenen Wünsche vor dem Über-Ich nicht verbergen kann, außerdem zur Bestrafung. [...] Es wird also trotz des erfolgten Verzichts ein Schuldgefühl zustande kommen und dies ist ein großer ökonomischer Nachteil der Über-Ich-Einsetzung, wie man sagen kann, der Gewissensbildung.53

Freud formuliert hier eine höchst pessimistische, resignative Auffassung von Kultur. Die äußere Befriedung als unter Verzicht erreichtes Kulturgut hat eine innere Spaltung und Entfremdung zur Folge, in der eine „vom übrigen Ich“ abgesonderte „beobachtende[] Instanz“ entsteht:54 das (säkularisierte) Gewissen, das das Ich beurteilt und beschuldigt. In seiner ‚normalen‘ Ausprägung ist das Schuldgefühl wenig auffällig, da es wesentlich unbewusst bleibt; erst bei Psychopathologien, wie etwa bei Zwangsneurosen, oder auch bei Melancholikern erscheint es in übersteigerter und dem Bewusstsein zugänglicher, quälend intensiver Form. Die Instanz des Gewissens Die psychoanalytische Konzeption der Schuld und des Gewissens greift theologische und philosophische Grundgedanken auf. Bereits Augustinus entwickelte eine erste ‚Psychologie der Schuld‘, insofern er als Träger von 50 Ebd., S. 482 f. 51 Ebd., S. 484. 52 Vgl. Jean Laplanche u. Jean-Bernard Pontalis. „Schuldgefühl“. Das Vokabular der Psychoanalyse. Übs. v. Emma Moersch. 12. Aufl. Frankfurt a. M. 1994. 458–460, S. 459. 53 Freud 1955d, S. 486 f. [zwei einzelne Zitate]. 54 Sigmund Freud. „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“. Gesammelte Werke 15. Hg. v. Anna Freud u. a. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1961, S. 65.



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Schuld primär das eigene, von Gott mit Freiheit begabte und in der ‚Sünde‘ sich hochmütig erweisende Selbst ansah. Dies führte zu einer „radikalen Verinnerlichung des Schuldbegriffs“55 und zur Vorstellung, dass die Seele sich gewissermaßen selbst strafe. Im Akt der Reue wird die eigene Schuld erkennbar und damit die erlittene Entfremdung von Gott. Das deutsche Wort ‚Gewissen‘ geht aus dem griechischen synterestis bzw. dem lateinischen conscientia hervor. In allen drei Sprachen wird durch das Präfix eine Relationalität ausgedrückt, die ein ‚Mit-Wissen‘ markiert; dieses ist ausschließlich „auf eigenes Verhalten bezogen, d. h. ‚begleitendes Bewußtsein‘“56. Bei den Kirchenvätern ist die conscientia des Christen zugleich ein Wissen um das eigene Stehen vor Gott (coram Deo).57 Die Kategorie des Gewissens wurde schon früh, insbesondere von Augustinus, im psychisch-seelischen Inneren des Menschen lokalisiert beziehungsweise mit diesem gleichgesetzt, wenn dieser etwa vom ‚Inneren, das man Gewissen nennt‘ spricht („intus hominis, quod conscientia vocatur“58). In die neuhochdeutsche Sprache geht der Begriff ‚Gewissen‘ durch Luthers Bibelübersetzung ein und findet sich insbesondere im Neuen Testament. Luther bestimmt das Gewissen als ‚eine Tugend nicht des Handelns, sondern des Urteilens‘ („non est virtus operandi, sed virtus iudicandi“59); Christian Thomasius konkretisiert dies, insofern er bemerkt, dass das Selbsturteil sich auf die Handlungen des Menschen bezieht („judicium hominis de actionibus suis“60). Eine einflussreiche und insbesondere für Schillers Entwurf von Subjektivität relevante Theorie des Gewissens stammt von Kant. Er definiert das Gewissen als „ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist“61 und hebt damit die Autoreflexivität dieser Instanz hervor. In seinem berühmten forensischen Modell des ‚inneren Gerichtshofes‘ figuriert das Gewissen als 55 Joachim v. Soosten. [Art.] „Schuld“. Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien 3. Hg. v. Christoph Auffahrt u. a. Stuttgart 2000. 266–268, S. 267. 56 Hans Reiner. [Art.] „Gewissen“. Historisches Wörterbuch der Philosophie 3. Hg. v. Joachim Ritter. Darmstadt 1974. 574–592, Sp. 575. 57 Vgl. ebd., Sp. 580. 58 Aurelius Augustinus. Aurelii Avgvstini Opera. Sancti Avrelii Avgvstini Enarrationes in psalmos I-L. Hg. v. Eligius Deckers. Turnhout 1956, Ps. XLV.3, S. 519. 59 Martin Luther. „De votis monasticis Martini Lutheri iudicium. 1521.“ D. Martin Luthers Werke. Weimarer Ausgabe 8. Hg. v. Hermann Böhlau. Weimar 1889. 564–669, S. 606. 60 Thomasius, zit. n. Reiner 1974, Sp. 585 [da sich die Angabe trotz umfänglicher Suche nicht verifizieren ließ]. 61 Immanuel Kant. „Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft“. Werke in sechs Bänden 6: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983. 645–879, S. 859.

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intrapsychischer Richter, was zu der paradoxen Situation führt, dass „der durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine und dieselbe Person vorgestellt“62 wird. Aufgrund dieser – Kant selbst zufolge – „ungereimte[n]“ Gerichtsvorstellung, insofern ja „der Ankläger jederzeit verlieren“ müsste, hat sich das menschliche Gewissen „einen anderen [...] zum Richter seiner Handlungen denken müssen[,] eine wirkliche oder bloß idealische Person“.63 Weil aber dieser Andere als „allverpflichtend“ und alle Gewalt inne habend gedacht werden muss, wird das Gewissen letzten Endes „als subjektives Prinzip einer vor Gott seiner Taten wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden müssen“.64 Da infolge der Säkularisierung jedoch nicht umstandslos eine ‚Stimme Gottes‘ im Menschen postuliert werden kann und Kant entsprechend alle religiösen Bezüge aus seinem Gewissensbegriff ausgrenzt,65 muss das ‚subjektive Prinzip‘ des Gewissen stattdessen durch das Konstrukt einer „Selbstverdoppelung des Ichs“66 erklärt werden. Kant entwirft eine „zwiefache Persönlichkeit“ des Menschen, „der sich im Gewissen anklagt und richtet“; dieser befindet sich in einer dramatischen Situation: „einerseits vor den Schranken eines Gerichtshofes, der doch ihm selbst anvertraut ist, zitternd stehen zu müssen, anderseits aber das Richteramt aus angeborener Autorität selbst in Händen zu haben“.67 Heinz Dieter Kittsteiner bemerkt diesbezüglich, dass nach Kant der Mensch „keinem fremden Richter unterworfen“ ist, sondern eben „mit einem ‚doppelten Selbst‘ ausgestattet; gleichsam mit einem Ich über seinem Ich, das die vormaligen Funktionen Gottes wahrnimmt“.68 Kants Bild des inneren Gerichtshofs sei letztlich nur metaphorisch zu verstehen, denn „ein ‚äußerer Richter‘ hat jederzeit die Gewalt der hinter dem Gesetz stehenden Exekutive zur Verfügung, der ‚innere Richter‘ hingegen muß sich auf dieses ‚dunkle Gefühl‘ der Achtung vor dem Gesetz verlassen.“69 Kant formalisiert das Gewissen, indem er ihm die inhaltliche Beurteilung der ethischen 62 Ebd. 63 Immanuel Kant. „Die Metaphysik der Sitten“. Werke in sechs Bänden 6: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983. 303–634, S. 573 f. 64 Kant 1983a, S. 574. 65 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner. Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a. M. 1991, S. 276. 66 Heinz Dieter Kittsteiner. [Art.] „Gewissen“. Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien 1. Hg. v. Christoph Auffahrt u. a. Stuttgart 1999. 495–497, S. 495. 67 Kant 1983a, S. 574, Anm. 68 Kittsteiner 1991, S. 279. 69 Ebd. S. 279 u. 465 f.; vgl. Kant 1983a, S. 573.



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Pflichtgemäßheit einer Handlung abspricht.70 Dies sei vielmehr „Sache der subjektiv-praktischen Vernunft“, das Gewissen habe demgegenüber lediglich die Aufgabe, „darüber zu urteilen, ob die Prüfung der Pflichtgemäßheit einer Handlung überhaupt stattgefunden hat“, ferner, mit welchem Resultat – und nur eine eventuelle Abweichung rufe das ‚schlechte Gewissen‘ auf den Plan.71 An dieser Stelle ist die leitende Unterscheidung in ein ‚gutes‘ und ein ‚schlechtes‘ Gewissen zu erwähnen, die mit der bereits von Thomasius getroffenen Differenzierung einer conscientia antecedens von einer conscientia consequens einhergeht.72 Erstere hat die Verhinderung unmoralischer, ‚gewissenloser‘ Handlungen zum Ziel – und soll zur Ausbildung einer moralisch-ethischen Persönlichkeit beitragen –, letztere verurteilt das Selbst bei Fehlhandlungen und löst Gewissensbisse, Schuldgefühle und Reue aus. Gerade die dem Gewissen von Kant attribuierte automatisierte und unbewusste Kraft „leiht ihm den Schein der Eingeborenheit“73 und verdeckt seinen Konstruktcharakter, seine Kulturalität. Das Gewissen wird als wesentlich unbewusst und unwillkürlich konzipiert: Es ist ein ‚dunkles Gefühl‘, wie Kittsteiner sagt, oder, mit Kant selbst, ein der Person unweigerlich folgender Schatten: Jeder Mensch hat Gewissen, und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt.74

Die hier bereits anklingende Opazität des Gewissens wird von Martin Heidegger auf die Formel einer „Unheimlichkeit seiner selbst“ gebracht, der sich das Subjekt zu stellen hat und die in einer grundlegenden „Befindlichkeit der Angst“75 resultiert. Eben diese Eigenarten sind es, die auch

70 Vgl. Wilfried Härle. [Art.] „Gewissen, IV. Dogmatisch und ethisch“. Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft  3. Hg. v. Dieter Betz u. a. 4. neu bearb. Aufl. Tübingen 2004. 902–906, Sp. 904. 71 Ebd. 72 Thomasius, zit. n. Rainer 1974, Sp. 585. 73 Gernot Böhme u. Hartmut Böhme. Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a. M. 1985, S. 354. 74 Kant 1983b, S. 573. 75 Martin Heidegger. Sein und Zeit. 17. Aufl. Tübingen 1993, S. 296.

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Freud mit seiner Formel vom ‚Unbehagen in der Kultur‘ zu beschreiben gesucht hat. Epistemologisch ist das Gewissen als innere Instanz des Schuldgefühls insbesondere deswegen aufschlussreich, weil es mit der Konzeptualisierung von Subjektivität so eng verbunden ist. In der Philosophie des Idealismus wird ebendies zu seinem besonderen Kennzeichen, wie etwa die Definition Georg Wilhelm Friedrich Hegels, „[d]as Gewissen drückt die absolute Berechtigung des subjectiven Selbstbewußtseyns aus, nämlich in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht und Pflicht ist“76, nachdrücklich zeigt: Weder wird auf religiöse noch auf weltliche Autoritäten, etwa das Strafrecht, rekurriert. Auch die später für die psychoanalytische Kategorie des Gewissens so wichtige Instanz des (elterlichen, väterlichen) Über-Ich spielt keine Rolle. Das Subjekt ist in der Szene des Gewissens in und mit sich allein und auf sich selbst – erlebend oder erleidend – zurückgeworfen. Noch Heidegger, der die Stimme des Gewissens als das „Sichzurückholen aus dem Man“77 definiert, also ebenfalls Subjektivität ins Zentrum rückt, spricht vom „Ruf“ des Gewissens, der „aus mir und doch über mich“78 kommt, und rekurriert somit auf diese (prekäre) Independenz. Heidegger betont überdies in seinen Ausführungen zum Zusammenhang von Gewissen und Schuldfähigkeit die bereits eingeführte übertragene Bedeutung des Hörens, wenn er etwa formuliert, das „Anrufverstehen besagt: Gewissenhaben-wollen“79. Es handelt sich um ein inneres Hören, dessen Modus eher Schweigen als Sprache ist, und das sich im Subjekt vollzieht, daher keines Gegenübers bedarf.80 Der ‚Wille zum Gewissen‘ stellt nach Heidegger „die ursprüngliche existenzielle Voraussetzung für die Möglichkeit des faktischen Schuldigwerdens“81 dar. Er begreift das Gewissen demnach als eine Art immer neu zu vollziehender ‚Entscheidung‘, wodurch Schuld erneut in den bereits erörterten Leitgegensatz zur Scham gestellt wird, die eben einer solchen Entscheidung – wie Bastian und Hilgers explizit formuliert haben – prinzipiell zuvorgeht. 76 Georg Wilhelm Friedrich Hegel. „Dritter Abschnitt. Das Gute und das Gewissen“. Ders. Gesammelte Werke. Grundlinien der Philosophie des Rechts 14.1. Hg. v. Klaus Grotsch u. Elisabeth Weisser-Lohmann. Düsseldorf 2009. 114–155, S. 119. 77 Heidegger 1993, S. 270. 78 Ebd., S. 275. 79 Ebd., S. 288. 80 „Dem angerufenen Selbst wird ‚nichts‘ zu-gerufen, sondern es ist aufgerufen zu ihm selbst, das heißt, zu seinem eigenen Seinkönnen.“; ebd., S. 273. 81 Ebd., S. 288.



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2.4  Theorien der Scham Scham, Maske, Anti-Theatralität Im Unterschied zur skizzierten inneren Spaltung des Selbst, wie sie für das Schuldgefühl maßgeblich ist, findet sich in der Theoretisierung von Scham eher eine Betonung externer Instanzen oder Agenten. Zwar können auch diese internalisiert werden, aber alle Modelle der Scham verbleiben gleichwohl bei Situationen einer konfliktuösen Konfrontation mit Anderen. In diesem Kapitel, das zentrale Aspekte der kulturtheoretischen Auseinandersetzung mit Scham behandelt, erfolgt insbesondere eine Auseinandersetzung mit der Dimension der Visualität und daran anschließenden philosophischen und psychoanalytischen Theoriebildungen, die das Verhältnis von Selbst und Anderem ins Zentrum stellen. Eine antithetische Verknüpfung von Scham und Blick ergibt sich schon aus der historischen Semantik, bedeutet doch die indogermanische Wurzel des Wortes ‚Scham‘ (‚sku‘/‚ska’ bzw. ‚kem‘) ‚bedecken‘, und ‚verhüllen‘.1 Entwicklungsgeschichtlich stellt die physiologische Schamreaktion, das Erröten, eigentlich einen Anachronismus dar: Aufgrund der sich in ihm offenbarenden negativen emotionalen Bewegung (Anzeichen von Schwäche, Unsicherheit, Selbstzweifel) hätte diese variation genetisch längst verschwinden müssen; stattdessen aber sind etwa aus der Antike keinerlei maßgebliche Dokumente über das Erröten überliefert, weswegen man geradezu von einer ‚Evolution zur Scham‘ sprechen muss.2 Ähnlich 1 Vgl. Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm. [Art.] „Scham“. Deutsches Wörterbuch 8.  Bearb. v. Moritz Heyne. Leipzig 1893. 2107–2110, Sp. 2107; dies. [Art.] „Haut“. Deutsches Wörterbuch 4.2. Bearb. v. Moritz Heyne. Leipzig 1877. 701–710, Sp. 701; Hans-Thies Lehmann. „Das Welttheater der Scham. Dreißig Annäherungen an den Entzug der Darstellung“. Merkur 45.9/10 (1991): 824–838, S. 824; Claudia Benthien. Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse. Reinbek b. Hamburg 1999, S. 47, Anm. 9. 2 Vgl. Vessela Ivanova Misheva. Shame and Guilt. Sociology as a Poietic System. Uppsala 2000, S. 38–40. Misheva bezieht sich auf: Charles Darwin. The Origin of Species by Means of Natural Selection Or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. Hg. v. John Wyon Burrow. Oxford u. New York 1968, S. 130 f. Sie leitet die These, dass das Phänomen des Errötens – das sie mit Darwin als „injurious variation“ betrachtet – im Laufe der Evolution eigentlich hätte verworfen werden müssen, von Darwins Selektionstheorie ab und bezieht sich dabei im Wesentlichen auf folgendes sehr allgemein gehaltenes Zitat Darwins: „This preservation of favorable variations and the rejection of injurious variations, I call Natural Selection“; Charles Darwin: The origin of species. Harmondsworth 1968, S. 130 f.; Misheva 2000, S. 39, Anm. 14. Auf Darwins The expressions of the emotions in man

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hat Norbert Elias in seinen Arbeiten zum Zivilisationsprozess argumentiert: die „Scham- und Peinlichkeitsschwelle“3 werde kulturell generiert und sei spätestens in der Frühen Neuzeit stark vorgerückt.4 Interessant für diese doppelte Schwelle zwischen Natur und Kultur, Physiologie und Affekt, ist insbesondere die Reaktionsweise des Errötens, eine „Akzentuierung der Körpergrenze“5, die zugleich betont wird und als unwillkürliche Maske fungiert. Das Erröten desjenigen, der sich schämt, erfüllt für die, die es wahrnehmen, eine Doppelfunktion von Zeigen und Verbergen, Darstellung und Entzug. Als basaler physiologischer Reflex hat das Erröten einerseits, ähnlich wie die changierenden Farbspiele der Reptilienhaut, eine Art Signalwirkung, andererseits dient es dem Schutz (der Intimität, der Integrität der Person). Eine vergleichbare Dialektik aus Zeigen und Verbergen – oder, wie Lehmann es nennt, dem „Paradox gegenwärtiger Nichtanwesenheit“6 – lässt sich auch für den Blick des oder der Beschämten feststellen: „In shame I wish to continue to look and to be looked at, but I also do not wish to do so.“7 Eine Schamreaktion kann also, insofern sie äußerlich beobachtbar ist, genau das bewirken, was sub-

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and animals referiert Misheva nur, um ihre These insofern zu stützen, als dass dort veranschaulicht wird, dass Erröten für den Prozess der sexuellen Selektion keinen nennenswerten Vorteil bedeutet. Darwin selbst spricht nicht explizit von einer anachronischen Entwicklungsgeschichte. Vgl. Charles Darwin. „Selbstaufmerksamkeit. – Scham. – Schüchternheit. – Bescheidenheit: Erröten“. Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei Menschen und Tieren. Übs. v. J. Victor Carus. 2. Aufl. Stuttgart 1874. 316–355. Norbert Elias. Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen 2. 21. Aufl. Frankfurt a. M. 1997, S. 397; siehe zu seiner diesbezüglichen Argumentation insgesamt den Abschnitt „Scham und Peinlichkeit“; ebd. S. 397–409. Die damit (vermeintlich) verbundenen Wertungen, wonach die Erhöhung von Scham und Peinlichkeit ein westlicher zivilisatorischer Wert sei, der diese Gesellschaftsformen gegenüber anderen privilegiert, wurden von dem Ethnologen Hans Peter Duerr auf zweifelhafter Materialbasis kritisiert und zu widerlegen gesucht; vgl. Hans Peter Duerr. Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß 1. Frankfurt a. M. 1988; Michael Schröter. „Scham im Zivilisationsprozeß. Zur Diskussion mit Hans Peter Duerr“. Gesellschaftliche Prozesse und individuelle Praxis. Hg. v. Hermann Korte. Frankfurt a. M. 1990. 42–85; Cas Wounders. „Duerr und Elias. Scham und Gewalt in Zivilisationsprozessen“. Zeitschrift für Sexualforschung 7 (1994): 203–216. Lehmann 1991, S. 829. Ebd. Silvan Tomkins. Shame and its Sisters. A Silvan Tomkins Reader. Hg. v. Eve Kosofsky Sedgwick u. Adam Frank. Durham u. London 1995, S. 137.



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jektiv intendiert verhindert werden soll.8 Diese von beiden Positionen – als Beschämter und Wahrnehmender – aus wirksame double-bind-Struktur nimmt Lehmann zum Ausgangspunkt seiner Reflexionen über das Verhältnis von Theater und Scham. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Affekt hängen beide eng zusammen, rekurrieren doch nahezu alle Schamtheorien auf theatrale Arrangements – auf Bühnenszenarien, in denen es (unfreiwillige) Darsteller gibt, ebenso wie Zuschauer, ein Publikum. Kritik an diesem zweipoligen Darsteller-Publikums-Konzept artikulieren Taylor und Williams, die es als zu pauschal ansehen. Ihres Erachtens ist einzubeziehen, dass eine wohlwollende Betrachtung durch ein ‚Publikum‘, das dem ‚Darsteller‘ nicht genehm ist, zu Scham führen könne, ebenso wie eine verachtende Betrachtung durch ein ‚Publikum‘, das dem ‚Darsteller‘ gänzlich gleichgültig ist, keinerlei Scham auslösen müsse.9 Williams bemerkt daher zu Recht: „Bei der Scham geht es nicht nur darum, gesehen zu werden, sondern darum, von einem Beobachter in einer bestimmten Sichtweise gesehen zu werden.“10 Das griechische theomai, als Ursprung des Wortes ‚Theater‘, heißt anschauen – theatron benennt ursprünglich nur den Zuschauerraum –, ebenfalls spricht man vom ‚Schauspiel‘, ‚Zuschauer‘ (spectator, spectateur) und ‚Spektakel‘. Auch in der Theaterwissenschaft war, dem Modell der Guckkastenbühne entsprechend, lange Zeit die Ebene des Visuellen vorherrschend, was erst jüngst eine Revision erfuhr. Die Scham, so lässt sich verallgemeinernd festhalten, ist das Andere der im Theater institutionalisierten Schaulust. Lehmann deutet sie entsprechend als „Anti-Affekt“ und „Ausdruckshemmung“.11 Er bemerkt, die Maske, das im (antiken) Theater wichtigste Requisit, könne nahezu „als Synonym der Scham“ gelten: „Maske wie Scham schützen und beschirmen einen Bereich des Selbst, den eigenen wie den anderen, grenzen einen Intimbereich gegen fremde Zudringlichkeit ab, verneinen beide den Austausch der Blicke, die Verhüllung 8 Vgl. Günter H. Seidler. Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham. 2. verb. u. erweit. Aufl. Stuttgart 2001, S. 23. 9 Vgl. Gabriele Taylor. Pride, Shame, and Guilt. Emotions of Self-Assessment. Oxford 1985, S. 60 f. u. 64 f. 10 Bernard Williams. Scham, Schuld und Notwendigkeit. Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral. Übs. v. Martin Hartmann. Berlin 2000, S. 97. Es folgen Beispiele, die verdeutlichen, dass man sich sowohl für Bewunderung schämen kann als auch sich nicht schämen kann, wenn man von einem ‚Publikum‘ Verachtung erfährt, wenn dieses einem nichts bedeutet. 11 Lehmann 1991, S. 824; bezüglich des Begriffs der Scham als ‚Hemmung‘ rekurriert Lehmann auf: Otto Friedrich Bollnow. Die Ehrfurcht. Frankfurt a. M. 1947, S. 109.

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der Identität ebenso wie das niedergeschlagene Auge.“12 In dieser Deutung, die eng an die psychoanalytische Schamtheorie anknüpft (vgl. Wurmsers The Mask of Shame) wird die Verhüllungsfunktion der Scham betont. Aus der Doppelfunktion einer Maske von Zeigen und Verbergen entwickelt Lehmann die paradoxe Situation des Theaters und stellt dar, inwiefern bedeutende dramatische Werke, insbesondere solche, die der Gattung Tragödie angehören, vielfach den Schamaffekt in den Mittelpunkt stellen. Die theatrale Repräsentation von Scham ist eine besondere Herausforderung an den Schauspieler, insofern ihr basales Zeichen, das Erröten, nicht willkürlich generierbar ist. Dass es für einen Affekt sowohl willkürliche als auch unwillkürliche (An-)Zeichen gibt, macht ihn darstellungstheoretisch prekär. Eine verbale Expression von Scham wie auch die entsprechende, bereits benannte Mimik und Gestik können dieses Manko nur teilweise beheben, denn ihnen haftet unweigerlich ein Authentizitätszweifel an. Dass dem Schamaffekt eine sprachliche „Nicht-Mitteilbarkeit“ inhärent ist, hat zur Folge, dass es „keine reflektierende Distanz“ zu jener „Reflexionsbewegung“ gibt, „die sich als Schamaffekt manifestiert“.13 Wer Scham empfindet, kann sich nicht zugleich darüber sprachlich äußern, dies ist erst aus einer retrospektiven Position heraus möglich. Tödliche Scham: Jean Racines Phädra Scham wirft ein Darstellungsproblem auch aus dem einfachen Grunde auf, weil der drängende Wunsch einer Dramenfigur, vor Scham zu verschwinden, im Boden zu versinken, mit der Notwendigkeit ihrer fortgesetzten Bühnenpräsenz konfligiert. Exemplarisch zeigt sich dies in Jean Racines Tragödie Phèdre (Phädra), ein Stück des französischen Klassizismus, das als Musterbeispiel für die Theatralisierung von Scham gilt, weil dieser Affekt hier „absolut, kosmisch, mythisch gesteigert erscheint und beinahe mit der Formulierung radikaler Unmöglichkeit des Seins zusammenfällt“.14 Der Grund von Phädras Scham ist, dass sie in Liebe zu ihrem Stiefsohn Hippolyt entbrannt ist – eine Leidenschaft, die der Königin als Erbschuld durch die Götter auferlegt wurde.15 In Hippolyt sieht sie die reine, junge und 12 13 14 15

Lehmann 1991, S. 824. Seidler 2001, S. 31. Lehmann 1991, S. 833. Das Begehren wurde der Königin wesentlich aufgrund von moralischen Fehlhandlungen ihrer Eltern auferlegt. Auch die Mutter wurde von der Liebesgöttin Venus vor Lust in den Wahnsinn getrieben, was unter anderem in der ‚Perversion‘ resultierte, dass sie sich von einem Stier begatten ließ. Der Vater führte ein zügelloses



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unschuldige Verkörperung ihres demgegenüber moralisch stigmatisieren Gatten Theseus.16 Sie wird von Racine als sterbenskranke Frau eingeführt, die sich niemandem anvertraut und wegen ihrer unterdrückten Gefühle dem Tode nahe ist: „Exorbitante Scham über ihr inzestuöses Begehren will Phädra schon bei ihrem ersten Auftritt verbieten, sich auch nur auf der Bühne zu zeigen. [Sie] kann sich nicht zeigen, aber ebensowenig ihre Neigung noch länger verschweigen.“17 Es ist die paradoxe Anti-Theatralität dieser Tragödie, dass sich die Heldin dem Gesehenwerden beständig zu entziehen sucht. „Vom Blick der Neugier allzuscharf bewacht“ muss sie ihren „Gram“ unter „heitrer Stirn“ verbergen.18 Als sie ihrer Amme ihre Gefühle für den Stiefsohn offenbart, reagiert diese zutiefst entsetzt und verfällt in eine antikisierte fatum-Klage.19 Trotzdem gesteht Phädra, als sie die Nachricht vom (vermeintlichen) Tode ihres Mannes vernimmt, Hippolyt ihre Liebe und wird von ihm, der entsetzt und beschämt reagiert, zurückgewiesen. In ihren Monologen steigert die Königin sich in „Bilder der absoluten Verworfenheit“20 hinein, muss sie doch überdies erfahren, dass Hippolyt eine Kriegsgefangene seines Vaters liebt, die seine Gefühle erwidert. Zur Scham über die unkontrollierbare Leidenschaft kommt die Demütigung hinzu, verschmäht zu werden. Als Theseus zurückkehrt, belügt Phädra ihn und schwärzt Hippolyt als denjenigen an, der sie sexuell

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Leben und hatte zahllose außereheliche Liebschaften; vgl. Michael Grant u. John Hazel. Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. Übs. v. Holger Fließbach. 7. Aufl. München 1990. 293–285. Er ist stigmatisiert durch unmäßige Sexualität, mehrfach gebrochene Treuegelübde und den brutalen Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung sexueller Interessen. Auch Phädra wurde von ihm in der Vorgeschichte geraubt und erzwungener Maßen zu seiner Frau gemacht. So spricht z. B. Hippolyts Erzieher Theramen vom ‚Joch‘ der Sexualität, dem Theseus sich „so gern gebeugt“ (V.65 f./60 f.) und auch Hippolyt selbst erwähnt euphemistisch „die oft gelobte und gebrochne Treu’“ und „leichten Liebesschwüre“ (V.91 f./84) seines Vaters. Phèdre wird in der deutschen Übertragung durch Friedrich Schiller zitiert. Da die dortigen Versangaben nicht mit dem Original übereinstimmen, werden in Kursivdruck auch die entsprechenden Versangaben der französischen Ausgabe angeführt; Jean Racine. „Phädra. Trauerspiel von Racine. Übersetzt von Schiller“. Friedrich Schiller. Sämtliche Werke 3: Dramatische Fragmente, Übersetzungen, Bühnenbearbeitungen. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 6. Aufl. München 1980. 587–645; Jean Racine. „Phèdre“. Théâtre complet 2. Hg. v. Jean-Pierre Colinet. Paris 1983. 275–342. Lehmann 1991, S. 833. V. 1350 u. 1353/1247 u. 1250. „Gott! All mein Blut erstarrt in meinen Adern. | O Jammer! O verbrechenvolles Haus | Des Minos! Unglückseliges Geschlecht!“ (V. 289–291/265–267). Lehmann 1991, S. 833.

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bedrängt habe. Anstatt dies besonnen zu prüfen und seinen Sohn selbst zu befragen, verfällt der König in rasende Wut und verflucht ihn. Hippolyt wehrt sich – seinerseits aus Schamgefühl – gegenüber dem ungerechten Vorwurf nicht. Der väterliche Fluch zeitigt die tragische Konsequenz, dass der Sohn einen grausamen Tod erleidet, wie die Zuschauer in einem Botenbericht erfahren.21 Phädra vergiftet sich aus Scham, nicht ohne aber ihrem Mann vorher ihre Schuld zu gestehen. Die Königin tötet sich, ähnlich wie Sophokles’ Iokaste, aufgrund einer irreversiblen Schande. Phädras erbärmlicher Tod wird, im Unterschied zum hinter der Szene vollzogenen Suizid Iokastes, auf dem Schauplatz gezeigt. Dieses ausagierte, auf der Bühne sichtbare Sterben verweist auf die Möglichkeit einer Theatralisierung der weiblichen Scham und Inzestschuld, die im antiken Theater noch nicht gegeben war. Es verweist auch auf die Einführung der Kategorie des Gewissens und des finalen Geständnisses vor dem Tod, wodurch das antike Sujet in eine christliche Ethik überführt wird und zugleich schamkulturelle mit schuldkulturellen Mechanismen korreliert werden. Und dennoch hat das Geständnis Phädras keine Vergebung zur Folge; Theseus wünscht vielmehr, dass mit ihrem Tod die Erinnerung an sie und ihre „schwarze[] Tat“ stürbe.22 Er nimmt also ihren Wunsch nach einer Transformation der Scham in Schuld nicht an. Phädra bleibt beschämt, keines Blickes würdig. Zwar gibt ihr Tod, wie sie im Sterben sagt, „dem Tag“, den sie „befleckte“, seinen „Glanz“ zurück23 – ihr selbst aber bleibt eine solche Reinigung verwehrt. 21 Er wird von seinem Wagen gerissen und von den eigenen, davor gespannten Pferden zu Tode geschleift, die vor einer grässlichen Flutwelle Neptuns zu fliehen suchen (V. 1498–1570/1622–1706). Die Todesart der Schleifung rekurriert auf die schmähliche Tötung des Trojaners Hektor, die Achilles in Homers Ilias vollzieht. Friedrich Ohly bezeichnet sie als „Zerreißung“ und ordnet sie, ebenso wie die Zerreißung des Theseus in (Euripides’) Phädra und die des Achilles in Heinrich von Kleists Penthesilea, dem Paradigma einer „Zerreißung als Strafe für Liebesverrat“ zu. Auf diesen Zusammenhang wird im Kapitel 3.4 näher einzugehen sein. Vgl. Friedrich Ohly. „Die Zerreißung als Strafe für Liebesverrat in der Antike und im alten Testament“. Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Hg. v. Karl Hauck u. a. Berlin u. New York 1986. 554–624, S. 573–576 u. 613–622. 22 V. 1786 f./1645 f. Tragödientheoretisch betrachtet findet sich gleichwohl ein versöhnliches Ende, denn Theseus, nun kinderlos, nimmt Aricia, die Geliebte des toten Sohns und Kriegsfeindin der Athener, als Adoptivkind an, wie er in den letzten zwei Versen des Stücks verkündet: „[S]ie, die er liebte, nehm ich | Zur Tochter an, was auch ihr Stamm verschuldet“ (1797 f./1653 f.). Diese Handlung ist eine explizite Wendung gegen die faktizistische Schuldordnung (genealogische Erbschuld). 23 V. 1783–1786/1642–1644.



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Racines Phädra ist eine Tragödie, die die Scham als Grenzphänomen des Theaters exemplarisch aufzeigt. Dabei spielt die Visualität eine entscheidende Rolle. Scham und Blick: Das visuelle Feld als Kampfzone In der Theorie des Blicks, wie sie der Philosoph Jean-Paul Sartre entwickelt hat, kommt der Scham eine prekäre Rolle für die Identitätsbildung zu. Sartre „zielt auf die Erfahrung des Objektseins als Grundstruktur ab, die in der Scham deutlicher wird als bei anderen Affekten“24. Obgleich ein Angeblickter die Präsenz des Anderen erleidet, weil er sich ihr ausgeliefert fühlt, ist er fundamental auf sie angewiesen, kommt er nach Sartre doch nur durch diesen Blick zur Existenz.25 Denn der Blick sei die „reine Verweisung auf mich selbst“26 und dieses visuelle ‚Erfasstwerden‘ manifestiere sich affektiv als Scham. Die Scham sei die „Anerkennung des Tatbestandes, daß ich wirklich jenes Objekt bin, das der Andere ansieht und aburteilt.“27 Sartre beschreibt eine von Unausweichlichkeit und Asymmetrie gekennzeichnete Situation, in der Reziprozität – die Möglichkeit der Einnahme der Position des Anderen28 – keinerlei Beachtung zukommt: „Indem man sich schämt, teilt man die Fremdbewertung als Selbsteinschätzung und rechtfertigt seine Bloßstellung als selbst verursacht.“29 Zugleich nimmt man sie als gegeben an, wie Sartre apodiktisch formuliert: „Ich bin dieses Sein. Keinen Augenblick denke ich daran, es zu leugnen; meine Scham ist ein Geständnis.“30 Der Andere ist eine zwischengeschaltete Instanz, die im

24 Hilge Landweer. Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls. Tübingen 1999, S. 39. 25 „[W]eil ich der Vermittlung des Anderen bedarf, um zu sein, was ich bin.“; JeanPaul Sartre. „Der Blick“. Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Übs. u. hg. v. Justus Streller. Hamburg 1952. 192–259, S. 241. 26 Ebd., S. 201. 27 Ebd., S. 204. 28 Das Fehlen einer „Beschreibung dieses ganzen Prozesses auch aus der Perspektive des Anderen“ wird von Seidler an Sartre kritisiert, der sich in seiner Schamtheorie unter dem Paradigma der Alterität gleichwohl auf den Philosophen bezieht. Seidler 2001, S. 36. 29 Sighard Neckel. „Achtungsverlust und Scham. Die soziale Gestalt eines existenziellen Gefühls“. Zur Philosophie der Gefühle. Hg. v. Hinrich Fink-Eitel u. Georg Lohmann. Frankfurt a. M. 1993. 244–265, S. 251. 30 Sartre 1952, S. 204.

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Selbst einen Schnitt herstellt, eine „Selbstvergegenständlichung“31 hervorruft, und doch zugleich die einzige Möglichkeit der Vermittlung bietet. Dadurch aber fungiert der Andere auch als „indispensable mediator between myself and me“32. Die Scham als ‚Geständnis‘ funktioniert also als eine auf der vorangegangenen schmerzhaften Spaltung beruhende sekundäre Wiedervereinigung der beiden Teile des Selbst. Eine solche Struktur ist spezifisch für die Scham und differenziert sie, so Tomkins, von allen anderen Affekten: „In contrast to all other affects, shame is an experience of the self by the self. [...] Shame is the most reflexive of affects in that the phenomenological distinction between the subject and object of shame is lost.“33 Seidler rekurriert diesbezüglich auf den von Ernst Tugendhat entwickelten Begriff des „Sichzusichverhalten[s]“34, mit dem dieser die Freudsche Kategorie des Ich kritisiert. Was Sartre als Konstellation zwischen einem Ego und einem Alter fasst, potenziert sich, wenn das Ich sich von vielzähligen Augenpaaren umkreist sieht. Schmitz bezeichnet diese umzingelnden Blicke als „aggressive Vektoren, mit denen die ergreifende Macht den Beschämten durchbohrt.“35 Die ‚Gefühlsbasis des Rechts‘ lasse sich anhand der polaren Affekte Zorn und Scham besonders deutlich erkennen: Zorn besitzt nach Schmitz eine „zentrifugale“ Dynamik, einen „Richtungsraum“, der impulsiv nach außen strebt, zylindrisch in alle Richtungen.36 Der Richtungsraum der Scham hingegen besitzt einen „zentripetale[n] Charakter“: er ist kreisförmig nach innen drängend, entsprechend den „Bewegungssuggestionen“ der „extremen Zusammenziehung, des Sichduckens, Schrumpfens und Versinkens“.37 Schmitz charakterisiert die spezifische Atmosphäre der Scham und die ihr zugrunde liegende asymmetrische soziale Konstellation in einer phänomenologisch ‚dichten Beschreibung‘: Die Weise des Betroffenseins von intensiver, durchbohrender Scham ist völlige Passivierung. Der Beschämte will sich am Liebsten vor sich verstecken, von sich fortlaufen, in Staub und Nichts versinken […]. Die Entfaltung dieses Impulses 31 Anna Blume. Scham und Selbstbewusstsein. Zur Phänomenologie konkreter Subjektivität bei Hermann Schmitz. Freiburg u. München 2003, S. 159. 32 Misheva 2000, S. 76. Misheva rekurriert mit dieser Formulierung, ohne konkrete Belegstelle, auf Sartre. 33 Tomkins 1995, S. 136. 34 Ernst Tugendhat. Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Frankfurt a. M. 1979, S. 149. 35 Hermann Schmitz. System der Philosophie III.3: Der Rechtsraum. Bonn 1973, S. 40. 36 Ebd., S. 42. 37 Ebd.



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ist […] aber dadurch behindert, daß die Atmosphäre der Scham von allen Seiten konzentrisch angreift, wie es die ringsum zeigend auf den Beschämten sich richtenden Finger […] suggestiv versinnlichen. Daher bleibt dem von der Scham eingekreisten und durchbohrten Menschen eigentlich kein Fluchtweg außer dem absurden Versuch, sich in sich selbst hinein zu verkriechen.38

Es ist diese paradoxe Existenzweise der Nichtexistenz – eine Art Totstellreflex – die der Scham, im Unterschied zu den anderen Affekten, eigen ist. Erikson spricht ähnlich wie Schmitz von dem Wunsch, „das Gesicht zu verstecken, am liebsten jetzt und hier in die Erde zu versinken“ und fügt hinzu, bei Scham handele es sich „wohl um einen gegen das Ich gekehrten Zorn. Der Schamerfüllte möchte vielmehr die Welt zwingen, ihn nicht anzusehen oder seine beschämende Situation nicht zu beachten. Er würde am liebsten die Augen aller anderen zerstören. Stattdessen muß er seine eigene Unsichtbarkeit wünschen.“39 Tomkins hat für diese, die Scham kennzeichnende Eigenart eine ‚negative Affekttheorie‘ entwickelt. Im Unterschied zu anderen Emotionstheorien, die die Gefühlsexpression in den Mittelpunkt stellen, sucht er zu erklären, welche psychischen Mechanismen ein Mensch entwickelt, um bestimmte negative Affekte zu vermeiden – sie nicht zu empfinden oder zumindest äußerlich zu verbergen.40 Diese Mechanismen gehen in der Regel auf frühkindliche, vielfach traumatische Erfahrungen zurück und intendieren, wie Tomkins am Beispiel der Angst ausführt, „to guide action so that negative affect is not experienced“41. Ferner bewahren sie davor, Gefühle in bestimmten habitualisierten Situationen immer wieder neu zu durchleben, in denen sie faktisch nicht benötigt werden (zum Beispiel starke Angst vor Autos beim Überqueren einer Straße). Allgemein gesprochen wird Scham aus dem schlichten Grund zu vermeiden gesucht, weil sie ein unangenehmes Gefühl ist, oder aber, spezifischer, weil es Ziel einer auf Selbstdisziplinierung, Härte und sozialen Erfolg ausgerichteten Erziehung ist, dieses negative und das Selbst in Frage stellende Gefühl insgesamt zu unterdrücken oder zu ignorieren.42 38 Ebd., S. 41. 39 Erik H. Erikson. Kindheit und Gesellschaft. Übs. v. Marianne von Eckhardt-Jaffé. Stuttgart 1971, S. 247. 40 Vgl. Tomkins 1995, S. 166. 41 Ebd. 42 „The child is taught by such an adult that his display of shame, quite apart from its sources and its appropriateness, is itself a response which arouses contempt in the parent, so that he is ashamed to show that he feels ashamed. Shame itself then must be hidden as an ugly scar is hidden, lest it offend the one who looks at it. [...] The

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Psychoanalyse des Schamaffekts Wurmser differenziert drei Hauptformen der Scham, die sich unter anderem in ihrem Verhältnis zur Zeit sowie in ihrer Intensität unterscheiden: erstens die „Schamangst“ – ein akuter Impuls zur Verhinderung von Scham, das heißt eine momentane, singuläre Angst, die durch plötzliche Bloßstellung hervorgerufen wird und die die Gefahr drohender Zurückweisung und Verachtung vorbeugend signalisiert; zweitens der depressive Schamaffekt, der nach bereits erfolgter (und in der Regel wiederholter) Bloßstellung entsteht und um einen depressiven Persönlichkeitskern kreist; drittens die demgegenüber noch gesteigerte Form der Scham als permanente „Charakterhaltung“ – eine die Persönlichkeit verändernde Reaktionsbildung, die sich grundlegend gegen die Zeigelust richtet.43 In ihrer innersten Schicht ist Scham nach Wurmser „die stets sich vertiefende Überzeugung des eigenen Liebesunwertes“44. Der Wunsch nach Verbergen und Unsichtbarkeit ist die Kehrseite eines ursprünglicheren Begehrens nach Anerkennung. Die Anerkennung beruht wesentlich auf einem (faktischen wie metaphorischen) ‚Gesehenwerden‘, auf einer sich im Angeschautwerden zeigenden Zuneigung – beispielhaft ist der liebevolle Blick einer Mutter auf ihr Kind. Sigmund Freud hat das Auge bekanntlich als Zone der sexuellen Haupttriebe des Exhibitionismus und der Schaulust (oder Skopophilie) bestimmt.45 Verschiedene Psychoanalytiker haben sich zu Recht gegen diese einseitig erotische Dimension des Sehens gewandt und die Bedeutung der visuellen Partialtriebe ausgeweitet. So bemerkt Wurmser: child’s parent may require that the child hide his shame response not only because of an intolerance of the display of shame as such, as described above, but also because the display of shame means that the child has accepted defeat. Such a parent may wish his child to become independent, competent, to have high achievement motivation as well as to achieve much. When the child who feels defeated hangs his head in shame, this evokes contempt, not for the affect of shame as such but as a sign of quitting or lack of motivation or both. This child must hide shame lest he betray his lack of persistence and of lack of will to achieve and to succeed.“; ebd., S. 172; siehe diesbezüglich auch: Sidney Levin. „Some Metapsychological Considerations on the Differentiation between Shame and Guilt“. International Journal of Psychoanalysis 48 (1967): 267–276, S. 269–273. 43 Léon Wurmser. Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Übs. v. Ursula Dallmeyer. 2. erw. Aufl. Berlin u. a. 1993, S. 73–77 u. 145–150. 44 Ebd., S. 157. 45 Vgl. ebd., S. 240; siehe auch Julia Freytag. Verhüllte Schaulust. Die Maske in Schnitzlers ‚Traumnovelle‘ und Kubricks ‚Eyes Wide Shut’. Bielefeld 2007, S. 23–26.

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Ihrer Funktion nach dient Scham als Abwehrhaltung (als Reaktionsbildung) und Triebhemmung gegen 2 Partialtriebe – den Exhibitionismus und den Voyeurismus (oder Skopophilie). Es gibt Anzeichen dafür, daß unsere Konzeptualisierung der beiden Triebe erweitert werden muß: der erstere zu einer allgemeineren und schon sehr früh deutlich erkennbaren Notwendigkeit zum Selbstausdruck und zu dem Erreichen von aggressiven und libidinösen Zielen durch solche Ausdrucksmittel, der letztere zu dem Einschließen der ebenso archaischen Wünsche, Macht und Liebe, Kommunikation und Herrschaft durch Wahrnehmung zu gewinnen.46

Wurmser entwickelt daher neue, auf die beiden Partialtriebe des Sehens bezogene Konzepte: einerseits das der „Delophilie“ (‚Zeige-Lust‘), dem Wunsch, sich zur Schau zu stellen, andererseits das der „Theatophilie“ (‚Seh-Lust‘), der visuellen Faszination durch das Gegenüber: Theatophilie kann definiert werden als das Verlangen zuzuschauen und zu beobachten, zu bewundern und sich faszinieren zu lassen, Vereinigung und Meisterung oder Beherrschung durch aufmerksames Sehen zu erzielen. Dieser Wunsch ist von frühester Kindheit an als grundlegender, angeborener Trieb wirksam. Delophilie wird definiert als das Verlangen, sich auszudrücken und andere durch Selbstdarstellung (self-exposure) zu faszinieren, sich ihnen zu zeigen und sie zu beeindrucken, mit dem anderen durch Kommunikation zu verschmelzen. Auch sie hat ihren Ursprung in archaischen Zeiten.47

Beide nach Wurmser angeborenen Partialtriebe besitzen je eine aktive und eine passive Form. Die aktiven Formen werden als macht- und lustvoll erlebt und daher ersehnt, die passiven als entmächtigend oder überwältigend und daher zu vermeiden gesucht. So äußert sich die aktive Delophilie als „magisches Sichzurschaustellen“, die passive in Form der „Bloßstellung und Enthüllung“.48 Die Theatophilie findet sich demgegenüber in Form der „aktiven Neugier“ („durch Sehen den anderen in sich aufnehmen, mit ihm verschmelzen, [...] ins Innere eindringen“) und als „passive[s] Erlebnis der Exhibition“ („Fasziniertsein durch andere“, Überwältigtwerden).49 In der Scham manifestieren sich Konflikte, die mit der Hemmung oder Enttäuschung dieser Wünsche einhergehen, dem Nichtgelingen des Ausdrucks oder der Wahrnehmung.50 46 47 48 49 50

Wurmser 1993, S. 164. Ebd., S. 257 f. Ebd., S. 262. Ebd., S. 262 f. Vgl. Lehmann 1991, S. 829.

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Ähnlich wie Sartre denkt Wurmser das visuelle Feld letztlich als Kampfzone – als eine hierarchische Konstellation, in der jeweils eine Position mit Souveränität, die andere mit Ohnmacht besetzt ist. Sartre findet dafür die eingängige Formel: „Der Blick des Anderen verbirgt seine Augen, er scheint vor ihnen zu stehen.“51 Einer solchen strukturellen Asymmetrie – die Michel Foucault in seinen Ausführungen über Jeremy Benthams panoptisches Gefängnis als „Scheidung des Paares Sehen/Gesehenwerden“52 bezeichnet hat – steht die (kulturkritische) Sehnsucht nach einem reziproken Blick gegenüber, nach einem coup de foudre, wie er in Mythos und Literatur vielfach geschildert wird. Tomkins zufolge verhindert jedoch ein „taboo on mutual looking“53 das Erlebnis des intensiven Blicktausches. Das kulturübergreifende Tabu hat seines Erachtens verschiedene Ursachen: Es sucht Intimität zu vermeiden, ebenso wie Sexualität, den unkontrollierten Gefühlsausdruck, ebenso wie die Kommunikation nichtartikulierter Gedanken. Es ist ein früh anerzogenes Verbot, das wie alle Tabus den drängenden Wunsch nach seiner Transgression evoziert: „Indeed, many of us fall in love with those into whose eyes we have permitted ourselves to look and by whose eyes we have let ourselves be seen. This love is romantic because it is continuous with the period before the individual lovers knew shame.“54 Für Tomkins ist der schamlose wechselseitige Blick in die Augen des Anderen heillos romantisch, gleichermaßen existenziell wie sexuell aufwühlend. Die soziale Disziplinierung des Sehens führt zum Verlust dieser nur in der frühen Kindheit vorhandenen ‚visuellen Unschuld‘. Der Blick wird fortan durch Scham reguliert, wie auch die Scham wesentlich durch Blicke hervorgerufen wird. Scham und Selbstreflexivität Die avancierte psychoanalytische Schamtheorie Seidlers nimmt Anleihen unter anderem bei Sartre, Tomkins und Wurmser, erweitert diese Ansätze jedoch um die Dimensionen der ‚Triangularität‘. Seidlers Ausgangspunkt ist die Bedeutung des Anderen, der in seinen Worten nicht allein „Zeuge[] der Scham“ ist, sondern auch ihr „Erzeuger“ und ihr „Bezeuger“.55 Der 51 Sartre 1952, S. 200. 52 Michel Foucault. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übs. v. Walter Seitter. 10. Aufl. Frankfurt a. M. 1992, S. 259. 53 Tomkins 1995, S. 144. 54 Ebd., S. 147. 55 Seidler 2001, S. 42. Den Konnex zwischen Scham und einer Figur des ‚Zeugen‘ hat auch Williams hergestellt, wie bereits in Kapitel 2.1 erwähnt; vgl. Williams 2000, S. 195.



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Blick des Scham-Zeugen, wie Seidler ihn mit Sartre konzipiert, ist dabei nicht „konkretistisch“ zu verstehen, „als der Augenausdruck des Anderen, sondern als die Summe seiner Merkmale, die ihn als transzendentales, sich seiner Erfassungsmöglichkeiten entziehendes Bewußtsein ausmachen“ – oder, einfacher formuliert, als die „Wahrnehmung, vom Gegenüber wahrgenommen zu werden“.56 Gegen Sartre (und Wurmser57) betont Seidler die positive Dimension dieser Konfrontation mit dem Anderen aufgrund der durch sie initiierten Selbstreflexivität. Er argumentiert ferner, dass Schamsituationen phänomenologisch betrachtet keineswegs beständig in „Verwerfung“ resultieren; ebensogut können sie „Übereinstimmung“ herstellen, wenn nämlich inneres Bild (‚intentionales Ich‘) und externe Wahrnehmung korrespondieren.58 Scham bedeutet hier letztlich eine prozessuale und im Wortsinn ‚bildende‘ Form der Selbsterkenntnis, die durch den Spiegel des Anderen in Gang gesetzt wird. Seidler benennt den folgenden Vorgang: Ich1 wird vom Anderen wahrgenommen und nimmt zeitversetzt als Ich2 dessen Bild von Ich1 wahr. Das Ich1/Ich2 bleibt intentionaler Erkenntnisablauf, nimmt jetzt aber sein vom Anderen zurückgeworfenes Bild von sich zu seinem Objekt, das bereichert ist um assimilierbare Alterität, das als Selbst Ich und Nicht-Ich in einem ist. Jeder intentionale Sprung aber (von I1 zu I2, I3 usw.) ist erstmalig – so daß sich für uns die Frage nach dem infiniten Regreß nicht als unlösbares Problem einstellt: Das Ich ist nicht reduzierbar auf eine Organfunktion oder die Summe seiner Erfahrungen; es ist sicher auch beides, es ist vor allem aber ein generatives – oder besser: generierendes – Prozeßgeschehen.59

Nach Seidler ist Scham, verstanden als Konfrontation mit Alterität, notwendig zur Herausbildung des psychischen Selbst, weil „die innere Reflexivität aus der Aneignung einer äußeren Wahrnehmungskonfiguration erfolgt“60; das Selbst aktualisiert sich im Prozess von Beziehungen und Wahrnehmungen und ist daher nur unter der Berücksichtigung der Po56 Seidler 2001, S. 53 u. 197. 57 „Die wechselseitige Wahrnehmung von Subjekt und Objekt wird von [Wurmser] nämlich nicht als basale Kreation von Identität verstanden, sondern immer schon als Verurteilung des einen durch den anderen. Triebziel ist nicht die wechselseitige Wahrnehmung, sondern die billigende Wahrnehmung des einen durch den anderen. Andernfalls resultiere beim Angeblickten Scham.“; ebd., S. 209. 58 Ebd., S. 39 u. 60. 59 Ebd., S. 59 [die tiefer gestellte Ziffer ‚1‘ zu Beginn des zweiten Satzes findet sich in der zitierten Ausgabe nicht; es handelt sich aber – wie der Autor bestätigt hat – um einen Fehler, der daher hier korrigiert wurde]. 60 Ebd., S. 89.

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sition des Anderen angemessen zu konzipieren. Seidler unterscheidet, anknüpfend an bestehende psychoanalytische Ansätze, ‚Selbst‘ und ‚Ich‘ und fasst unter der Kategorie des Selbst jene psychische Entität, die in der Lage ist, das Ich zu beobachten, zu ihm eine Distanz einzunehmen und damit auch eine mögliche Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdbild zu erkennen. Seidler definiert das Selbst daher als „Bruchverhältnis“ zwischen dem ‚unreflektierten Ich‘ und dem ‚zurückgeworfenen Ich‘; seinerseits wahrnehmbar ist es durch das „weiterhin bestehende intentionale Ich“, das sich dieses Selbst zum Objekt nehmen kann.61 Sowohl Ich als auch Selbst sind nach Seidler keine statischen, unveränderlichen Gegebenheiten, sondern reziprok: „wechselseitige Wahrnehmungsprozesse“62. Dabei steht das Verhältnis von Ich und Anderem psychodynamisch sowie individualgenetisch in einer Korrelation zum Verhältnis von Ich und Selbst: Aus der äußeren Bruchlinie zwischen dem intentionalen Ich des Subjekts und dem Anderen wird eine innere: zwischen dem Ich und dem Selbst. An dieser Bruchlinie, an dieser Schnittstelle manifestiert sich die Scham. [...] Das so etablierte Selbst ist Voraussetzung dafür, daß eine Beziehung zum realen Anderen als wechselseitiger Wahrnehmungs- und Bestätigungsvorgang realisierbar wird, ‚Bestätigungsvorgang‘ nicht hinsichtlich eines vordergründigen ‚Selbstwertgefühls‘, sondern kategorial.63

Die „Fähigkeit zur Selbstobjektivierung“64 ist erforderlich, um schließlich die Instanz und Existenz des Anderen internalisieren zu können. Seidlers Leitthese zur kindlichen Schamreaktion ist daher, „daß es sich bei der Blickabwendung vom fremden Gesicht um eine Blickwendung nach Innen handelt. Das fremde Gesicht wirkt dabei als tertium comparationis, das dem Kind über die interaktionelle Organisation von Störendem eine Herausdifferenzierung aus der Übereinstimmung mit der Mutter ermöglicht.“65 Wie hier ersichtlich, ist Seidlers Bestimmung des Schamaffekts an die Einführung der Figur des Dritten gebunden und diese Figur wird letztendlich immer wieder temporär vom Selbst übernommen. Die sich daraus ergebende und für seine Theorie leitende Triangularität stellt Seidler insbesondere unter Rekurs auf die Ödipalität und die Freudsche Konstruktion der ‚Urszene‘ dar. Anders als Freud und viele ihm folgenden Psychoanalytiker sieht Seidler aber nicht Schuld als Leitaffekt der ödipalen Phase, sondern Scham. 61 62 63 64 65

Ebd., S. 55. Ebd. Ebd., S. 60 f. Ebd., S. 172. Ebd., S. 151.



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Der eigentlich ödipale Entwicklungsschritt bestehe darin, dass anstelle der zuvor intendierten Vereinigung mit dem begehrten Objekt (der Mutterinstanz) nunmehr das Gewahrwerden von deren Verbindung mit einem Dritten („Fremden“) erfolge: „Damit einhergehend tritt das Kind an die Stelle des bisher seine Vereinigungsbemühungen störenden Fremden und wird so aus dem offenbar jetzt realisierten Glück ausgeschlossen.“66 Es erwirbt seine Fähigkeit allein zu sein durch das Versprechen einer wechselnden Besetzung dieser Dyade. Nicht die Anzahl der real vorhandenen Personen macht Konfigurationen nach Seidler dyadisch oder triadisch, sondern die prinzipielle „Verfügbarkeit der ‚dritten Position‘, die immer dann gegeben ist, wenn die eigene Person in Anwesenheit von jemand anderem Gegenstand der eigenen Aufmerksamkeit werden kann, also objektivierbar ist.“67 Entscheidendes Merkmal der Ödipalität und mithin der Triangularität ist nach Seidler das Vorhandensein einer „reflexive[n] Selbststruktur“68. Diese ist, wie dargelegt, essentiell an den Schamaffekt und die mit und in ihm entstehende prozessuale Selbstbeziehung gebunden. Die Theoretisierung der Scham mit Blick auf die durch sie hergestellte reflexive Selbststruktur ist für die Gattung des Dramas von besonderer Relevanz, wird den Bühnenfiguren doch nur die Möglichkeit eröffnet, ihr Selbst-Bewusstsein mittels Sprache und daher mittels einer spezifischen Form der Externalisierung von sich selbst zu artikulieren. Herausragendes dramatisches Medium der Selbstreflexivität ist natürlich der Monolog. Fehlt dieser, wie es etwa bei Kleist oft der Fall ist, ist anzunehmen, dass andere ästhetische Mittel gebraucht werden, um entsprechende psychische Strukturen zu gestalten – oder dass derart die Unmöglichkeit von Selbstreflexivität der Figuren angedeutet werden soll. ‚Schamhaftigkeit‘ um 1800 In der christlich geprägten europäischen Kulturgeschichte wurden Scham und Schuld traditionell eher mit Weiblichkeit assoziiert: Schuld aufgrund der biblischen ‚Ursünde‘ und Evas aktiver Rolle als Verführerin; Scham aufgrund der größeren Notwendigkeit der Frau, ihren Körper den Blicken und dem sozialen Zugriff zu entziehen. Schon in der Antike wurden weibliche Schamhaftigkeit und Tugendhaftigkeit gleichgesetzt, was sich bis weit ins Aufklärungszeitalter hinein hielt. Entsprechend galten die 66 Ebd., S. 198. 67 Ebd., S. 206. 68 Ebd., S. 196.

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Gebärden der Scham wie das Erröten oder das Senken des Blicks als Ausdruck geschlechtsadäquaten Verhaltens; dies spiegelt sich deutlich in der Körpersprache der Zeit, wie sie in Literatur und bildender Kunst überliefert werden. Schamhaftigkeit war einerseits ein hoher Wert, da sie für die Unberührtheit und sexuelle ‚Unschuld‘ einer jungen Frau stand. Andererseits wurde sie im Zeitalter der Empfindsamkeit allgemeiner mit der Eigenschaft der Sensitivität assoziiert und daher auch für den empfindsamen Mann legitim, ja sogar zum Zeichen seiner Humanität. In den Wörterbüchern des 18. Jahrhunderts finden sich begriffliche Unterscheidungen im Wortfeld ‚Scham‘, um dessen körperliche, seelische und moralische oder natürliche und kulturell angeeignete Dimensionen zu differenzieren. So weist etwa Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexikon zwei unabhängige Einträge über Scham auf: Erstens findet sich unter dem Stichwort „Schaam“ ein langer physiologisch-medizinischer Artikel, der sich (nahezu) ausschließlich mit dem Genitalbereich befasst (besonders dem weiblichen),69 zweitens ein deutlich kürzerer Artikel unter dem Stichwort „Scham“, der sich mit Scham als Affekt beschäftigt und diesen wie folgt definiert: „Scham, Lat. pudor, ist die Unlust, welche wir über das Urtheil anderer von unserer Unvollkommenheit empfinden [...].“70 Der Artikel widmet sich der „moralischen Scham“ als „Affekt, welcher aus der Vorstellung, man dürffte wegen gewisser Reden und Thaten wegen verachtet werden, entsteht“.71 Ausdifferenziert und anhand von Beispielen und Zitaten erläutert werden Ursachen, Objekte und Wirkungsweisen der Scham. Bemerkenswert ist besonders die Unterscheidung einer ‚präventiven‘ versus einer ‚reaktiven‘ Form der Scham: „Denn in Ansehung der Scham selbst ist sie entweder eine vorhergehende, welche vor den Reden und Thun, die unserer Ehre Abbruch tun können, hergehet, daß man sich nemlich schämet, etwas zu reden, und zu thun; oder eine nachfolgende, welche erfolget, wenn bereits etwas geredet oder gethan worden, so unserer Ehre nachtheilig.“72 Um diesem Umstand Rechnung zu tragen wird der

69 Johann Heinrich Zedler. [Art.] „Schaam“. Grosses vollständiges Universal-Lexikon 34.  Nachdr. d. Ausg. Halle u. Leipzig 1742. Graz 1961. 649–656. „[B]ey dem Weibs-Volcke aber verstehet man darunter diejenigen Theile ihrer Geburthsglieder, welche ohne vorhergegangene Anatomische Oeffnung und Zergliederung zu Gesichte kommen können [...].“; ebd., Sp. 649. 70 Johann Heinrich Zedler. [Art.] „Scham“. Grosses vollständiges Universal-Lexikon 34. Nachdr. d. Ausg. Halle u. Leipzig 1742. Graz 1961. 841–846. 71 Ebd., Sp. 842 f. 72 Ebd., Sp. 846.



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(reaktiven) ‚Scham‘ um 1800 das Konzept der (präventiven) ‚Schamhaftigkeit‘ gegenübergestellt: Erst mit Veredlung der Begriffe von Anstand erwacht auch die Schamhaftigkeit. Wenn die Scham in dem Verdruße über bloß gegebene Schwachheiten besteht, so besteht die Schamhaftigkeit in sorgfältiger Ausweichung allen dessen, was uns Verachtung zuziehen könnte. Nicht nur schämen wir uns eines Vergehens, sondern auch einer selbst bloß eingebildeten Schwachheit.73

Scham und Schamhaftigkeit hängen also in der zeitgenössischen Vorstellung eng zusammen, sind aber durchaus nicht identisch: Hiebei fällt man natürlich darauf, eine gewisse Analogie zu suchen zwischen der Schaamhaftigkeit und dem, was man in einem weiteren Sinne des Wortes Schaam zu nennen pflegt: denn die Verwandtschaft ist unläugbar, man sehe nun auf die Beschaffenheit des Gefühls oder auf den allgemeinen Sprachgebrauch. Schaam, ich rede nun von diesem weiteren Sinne, ist das Gefühl des Unwillens darüber, daß etwas im Gemüth vorgegangen ist, es sei nun dieses etwas seinem Wesen nach verdammlich oder nur seiner Beschaffenheit nach, denn sie bezieht sich nicht nur auf das Böse, sondern auch auf das Unvollkommene. Worauf hiebei der Unwille eigentlich gerichtet ist, sieht man sehr leicht, wenn man die Schaam mit der Reue vergleicht. Wo jene ist, kann diese auch sein, aber jene ist etwas höheres. Die Reue nemlich bleibt bei der Wirklichkeit dessen stehen, was geschehen ist, und sieht also auf den Zusammenhang und auf die Folgen; bei Einigen auf die äußeren, bei Andern auf die innern, welche das Gewissen hervorbringt. Die Schaam hingegen schließt nun von der Wirklichkeit auf die Möglichkeit, und der Unwille geht darauf, daß es möglich war, so zu handeln oder so zu denken, und daß im Gemüth ein Princip war, woraus dies hervorgehen konnte, oder eins fehlte, wodurch es hätte verhindert werden müssen. Daher ist die Schaam auch nicht auf die bloße Vorstellung gerichtet; ich kann mir Alles Böse und Verächtliche, dessen ich mich schämen würde, denken und hin und her darüber reden, ohne mich im geringsten zu schämen.74

Friedrich Schleiermacher sucht hier zu argumentieren, dass Scham im Unterschied zu Schuldgefühlen und Reue nicht nur auf die „Wirklichkeit“, also auf tatsächlich erfolgte Taten oder Fehlhandlungen reagiert, sondern auch auf die „Möglichkeit“ derselben; er versteht Scham demnach als eine Form der moralischen Empörung darüber, dass derartiges vorsätzliches Handeln möglich und denkbar war und sucht eine „Theorie der Scham als Theorie der Bewahrung von Interaktionsformen durch Unterlassung 73 Leonhard Meister. „Ueber die Schamhaftigkeit“. Fliegende Blätter größtentheils historischen und politischen Innhalts. Basel 1783. 112–139, S. 112 f. 74 Friedrich Schleiermacher. „Versuch über die Schaamhaftigkeit“. Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde. Jena u. Leipzig 1907. 50–74, S. 53–55 [Erstdruck 1800].

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des in ihrem Rahmen Unpassenden“75 zu entwickeln: Die „Schaamhaftigkeit“ soll Scham-Erfahrungen verhindern und richtet sich nicht (nur) gegen eine Schädigung des Selbst, sondern auch des Anderen: „Dasjenige, worauf sie dringt, ist eigentlich Achtung für den Gemüthszustand eines Andern, die uns hindern soll, ihn nicht gleichsam gewaltsamerweise zu unterbrechen“ und allein die Schamhaftigkeit habe daher „Anspruch auf den Namen einer Tugend“,76 Konzipiert wird hier ein ethisches, auf den Anderen gerichtetes, prohibitives Schamgefühl, das dem antiken aidōsBegriff (in seinen Bedeutungsdimensionen von ‚Ehrfurcht‘, ‚Achtung‘ und ‚Respekt‘) durchaus nahekommt. Die Tugend der Schamhaftigkeit wird insbesondere für den Bereich von Sexualität und „rohe[r] Begierde“ als wichtig angesehen – „Dinge“, die Schleiermacher zufolge den „wirklich Liebenden“ ohnehin „ein Gräuel“ seien.77 Es sei essentiell, „gewisse Vorstellungen, diejenigen nemlich, welche sich auf die Mysterien der Liebe beziehen, entweder gar nicht zu haben oder wenigstens nicht mitzutheilen, und dadurch in Anderen zu erregen“78. Der Autor sieht hier die „Hülfe der Frauen“ als notwendig an, „weil von ihnen, in denen die Schaam als in ihrem schönsten Heiligthume wohnt, auf die hiebei immer vorzüglich gesehen wird, und in denen jede Verbindung zwischen dem Innern und Aeußern so viel zarter und feiner ist [...].“79 Mit der Behauptung eines ‚natürlichen‘ Zusammenhangs von Weiblichkeit und Schamhaftigkeit ist Schleiermacher nicht allein, so schreibt etwa Leonhard Meister: „Sowohl wegen feinerer Empfindsamkeit als wegen grösserer Gefahr, ist das weibliche Geschlecht von Natur schamhafter als das männliche“ und bemerkt, dass die Schamhaftigkeit „eine Tugend [ist], ohne welche das weibliche Geschlecht aufhören würde, weib-

75 Matthias Heesch. [Art.] „Scham“. Theologische Realenzyklopädie 30. Hg. v. Gerhard Müller. Berlin u. New York 1999. 65–72, S. 69. 76 Schleiermacher 1907, S. 60. u. S. 62. 77 Ebd., S. 67 f. 78 Ebd., S. 50. Noch im entsprechenden Band in Jacob und Wilhelm Grimms Wörterbuch wird zum Begriff ‚Schamhaftigkeit‘ gesagt, dieser bezeichne „vor allem die scheu, zurückhaltung in geschlechtlicher beziehung, die furcht, den eigenen trieb zu verrathen, die fähigkeit, ihn in schranken zu halten, verfeinert: scheu sein empfindungsleben zu offenbaren“; Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm. [Art.] „Schamhaftigkeit“. Deutsches Wörterbuch 8. Bearb. v. Moritz Heyne. Leipzig 1893. 2116– 2117, Sp. 2116. 79 Schleiermacher 1907, S. 72.



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lich zu seyn“.80 An anderer Stelle definiert er sie sogar als besondere „Stärke des weiblichen Geschlechts“ und eigentliche „Schönheit der Schönheit“.81 Feminine Schamhaftigkeit wirke auf den Mann einerseits reizend und somit die Anziehung verstärkend,82 andererseits heißt es aber, dass diese die „Begierden bezähme“83 – ihr kommt also die zentrale Aufgabe der charakterlichen Veredelung beider Geschlechter und der Sublimierung ‚roher‘ Triebe durch empfindsame Gefühle zu. Schamhaftigkeit als „eine der ersten Eigenschaften der Frauenzimmer“ hat sich auf zwei Ebenen zugleich zu äußern, als „Beobachtung der inneren und äußeren Wohlanständigkeit“.84 Während die äußere Schamhaftigkeit sich in der Wahl nicht aufreizender Kleidung, Gestik und Mimik zeigt, besteht die innere Schamhaftigkeit in einem persönlichen, individuell unterschiedlich ausgeprägten Gefühl für Anstand und Sitte.85 Frauen besitzen, so die These, ‚von Natur aus‘ ein stärker ausgeprägtes Schamempfinden und bedürfen dieses – als Selbstschutz, insbesondere ihrer körperlichen Integrität – auch in stärkerem Maße. Eine solche Geschlechterdichotomie findet sich bis weit ins 20. Jahrhundert, wenn etwa Psychologen oder Psychoanalytiker beobachten, dass Männer, die oft Scham empfinden und erröten, als feminisiert oder homosexuell wahrgenommen werden oder sich selbst demaskulinisiert fühlen.86 In der Folge aber wurde, wie dargestellt, die Scham nach und 80 Meister 1783, S. 131 u. 116. Zum Postulat der ‚Natürlichkeit‘ weiblicher Scham um 1800 vgl.: Ursula Geitner. „Passio hysterica – Die alltägliche Sorge um das Selbst. Zum Zusammenhang von Literatur, Pathologie und Weiblichkeit im 18. Jahrhundert.“ Frauen – Weiblichkeit – Schrift. Hg. v. Renate Berger u. a. Berlin 1985. 130–144, S. 136–139; Edith Saurer. „Über die Beziehungen von Schamhaftigkeit, Öffentlichkeit und Geschlecht. Einige Gedanken zur Genese des Konzepts von öffentlicher Schamhaftigkeit“. Macht, Geschlechter, Differenz. Beiträge zur Archäologie der Macht im Verhältnis der Geschlechter. Hg. v. Wolfgang Müller-Funk. Wien 1994. 63–90, S. 67–69. 81 Meister 1783, S. 121. 82 „Ueberhaupt ist eine bescheidene Eingezogenheit, oder eine gewisse Schamhaftigkeit, diejenige Eigenschaft Ihres Geschlechts, die Ihnen so leicht unsre Liebe und Zuneigung, oder doch wenigstens unsre Hochachtung und eine bescheidenes Betragen erwirbt.“; anonym. „Von der Eingezogenheit und Schamhaftigkeit“. Vortreffliches Hausbuch für Frauen und Mädchen in sechs Absätzen, welches entfaltet die vornehmsten Pflichten eines ledigen und verheuratheten Frauenzimmers, verschiedene Lehren für alle Auftritte des menschlichen Lebens [...]. Wien 1787. 147–152, S. 151. 83 Meister 1783, S. 126. 84 Anonym 1787, S. 147. 85 Vgl. ebd., S. 148. 86 Vgl. Levin 1967, S. 272.

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nach von der Sphäre des Sexuellen und der Zuordnung zur Weiblichkeit abgekoppelt und erhielt eine existentiellere und beide Geschlechter umfassende Bedeutung. Doch für die Literatur- und Kulturgeschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ist der Zusammenhang von weiblicher Schamhaftigkeit und ‚Unschuld‘ topisch – wobei unter letzterer fast ausschließlich die sexuelle Virginität verstanden wird.87 Die Paradoxien dieser Unschuld im Spannungsfeld des Tragischen – und der tragischen Schuld – auszuloten haben sich im 18. Jahrhundert besonders das Bürgerliche Trauerspiel und der Briefroman zur Aufgabe gemacht. Paradigmatisch etwa in Gotthold Ephraim Lessings Trauerspiel Emilia Galotti wird die Tugend als „Gespenst“88 erkennbar, als eine Eigenschaft, die sich einer begrifflichen Bestimmung beständig entzieht. Emilia wird von Lessing als äußerst schamhaft charakterisiert: Dass sie den Unbekannten, der ihr in der Kirche heimlich Liebesworte ins Ohr flüstert, nicht empört von sich weist, begründet sie mit Schamhaftigkeit und dem Wunsch, nicht im Mittelpunkt stehen zu wollen – ob es sich dabei aber tatsächlich um Schamhaftigkeit oder bloß um eine Rhetorik derselben handelt, bleibt ambivalent. Als sie erkennt, dass es der Prinz selbst ist, glaubt sie vor Scham „in die Erde zu sinken“89. Er verfolgt sie und ergreift ihre Hand: „Aus Scham mußt’ ich ihm standhalten; mich von ihm loszuwinden würde die Vorbeigehenden zu aufmerksam auf uns gemacht haben“90 – Emilia rekurriert hier deutlich auf die Angst vor schamkulturellen Sanktionen (kollektive Blicke).

87 Grundlegend zu dieser Fragestellung und zum Zusammenhang von Theater und ‚Keuschheit‘ vgl.: Christopher J. Wild. Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist. Würzburg 2003. Wild wählt aber, anders als in der vorliegenden Untersuchung, nicht die Begrifflichkeit von Scham und Schamhaftigkeit und hat insofern einen anderen  – einerseits engeren, andererseits mehr auf die körperliche ‚Unschuld‘ bezogenen – Fokus. Zur kulturübergreifenden Fetischisierung von Jungfräulichkeit und der diesbezüglich komplexen Relation beider Geschlechter zum Schamaffekt vgl.: Nancy Lindisfarne. „Gender, Shame, and Culture. An Anthropological Perspective“. Shame. Interpersonal Behavior, Psychopathology, and Culture. Hg. v. Paul Gilbert u. Bernice Andrews. New York u. Oxford 1998. 246–260. 88 Vgl. Inge Stephan. „,So ist die Tugend ein Gespenst‘. Frauenbild und Tugendbegriff bei Lessing und Schiller“. Inszenierte Weiblichkeit. Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Köln u. Weimar 2005. 13–38. 89 Gotthold Ephraim Lessing. „Emilia Galotti“. Werke und Briefe in zwölf Bänden 7. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt a. M. 2000. 291–371, Sz. II/6, S. 315. 90 Ebd., S. 316.



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Eine der berühmtesten Formeln des Textes, gesprochen im letzten Akt von der bürgerlichen Tochter, lautet: „Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut“91 – Emilia bereut keine konkrete Fehlhandlung (Schuld), sondern stellt sich selbst, ihre moralische Integrität vollständig in Frage (Scham). Sie empfindet ein Versagen gegenüber dem Ich-Ideal und damit eine Verletzung der Integrität (Selbstschädigung). Folgerichtig mündet dieses Gefühl in einem Suizidversuch, den aber der Vater vereitelt, um dann selbst seine Tochter, nach deren provozierender Aufforderung, zu erstechen.92 Odoardos Schuld, die er bereits im Augenblick der Tötung erkennt („Gott, was hab ich getan!“), wird von Emilia negiert, die im Sterben alles auf sich nehmen möchte und sogar noch vorschlägt, die Tötung als Suizid zu tarnen, was der Vater jedoch ablehnt („Gehe mit keiner Unwahrheit aus der Welt. Nicht du, meine Tochter! Dein Vater, dein unglücklicher Vater!“)93 – über ‚Schuld‘ wird in der Schlusssequenz des Dramas zwischen Tochter und Vater wie über ein Tauschobjekt verhandelt. Die Tugendhaftigkeit der Tochter, symbolisiert durch sexuelle Unschuld, als höchster, unbedingt zu verteidigender und nur durch innere und äußere Schamhaftigkeit zu erhaltender Wert94 – dieses Ideal wird von Lessing, aber auch von Schiller (in Kabale und Liebe), zugleich ausgestellt und kritisch hinterfragt. Entsprechend findet sich seit Anbeginn eine intensive Diskussion um die Schuld der Titelheldin Emilia, wobei die Positionen zwischen gänzlicher Unschuld (Tochter als Opfer) und parti91 Ebd., Sz. V/7, S. 369. 92 „Emilia Und da! (Im Begriffe, sich damit zu durchstoßen, reißt der Vater ihn ihr wieder aus der Hand) | Odoardo Sieh, wie rasch! – Nein, das ist nicht für Deine Hand. | Emilia Es ist wahr, mit einer Haarnadel soll ich – sie fährt mit der Hand nach dem Haare, eine zu suchen, und bekommt die Rose zu fassen: Du noch hier? – Herunter mit dir! Du gehörest nicht in das Haar Einer, – wie mein Vater will, daß ich werden soll! | Odoardo O, meine Tochter! – | Emilia Oh, mein Vater, wenn ich Sie erriete! – Doch nein; das wollen Sie auch nicht. Warum zauderten Sie sonst? – in einem bittern Tone, während daß sie die Rose zerpflückt: Ehedem wohl gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten den besten Stahl in das Herz senkte – ihr zum zweiten das Leben gab. Aber alle solche Taten sind von ehedem! Solcher Väter gibt es keinen mehr! | Odoardo Doch, meine Tochter, doch! indem er sie durchsticht: – Gott, was hab ich getan! sie will sinken, und er faßt sie in seine Arme | Emilia Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert. – Lassen Sie mich sie küssen, diese väterliche Hand.“ Ebd. 93 Ebd., Sz. V/8, S. 370. 94 Vgl. Stephan 2004, S. 23–28.

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eller Schuld (erotische Verführbarkeit) schwanken. Wenn Emilia davon spricht, sie habe „nur Eine Unschuld“95 zu verlieren, so ist damit ambivalent sowohl ihre sexuelle Jungfräulichkeit als auch ihre moralische Reinheit gemeint. Das Beispiel zeigt, wie eng Scham, Schamhaftigkeit, Schuld und Unschuld tragödienhistorisch und dramaturgisch zusammenhängen. Umso erstaunlicher ist es, dass sie bislang noch nicht kontextuell untersucht wurden. Bei der nachfolgenden Auseinandersetzung mit einigen Tragödien um 1800 ist die bislang eher einseitige Fokussierung der Forschung auf den Aspekt der tragischen Schuld daher zu revidieren, denn, wie schon erwähnt, ist es oftmals gerade die Scham, die eng mit dem für die Tragödie leitenden Konzept autonomer Subjektivität sowie dessen existenzieller Beschädigung verbunden wird. Der sophokleische Aias, der sich aufgrund eines tragischen Irrtums infolge von Raserei und des damit einhergehenden Gesichtsverlusts ins eigene Schwert stürzt – einsam und verzweifelt Suizid begeht –, befindet sich als Figur radikaler Selbstvernichtung am einen Ende einer solchen Skala.96 Die modernen kognitivistischen Theorieansätze, die von einem self-assessment ausgehen, einem aktiv steuerbarem Gefühls-Management, in dem psychische ‚Selbst- und ‚Fremdschädigungen‘ in Relation zu ihren Gegenteilen – Scham versus Hybris; Schuld versus Stolz – gesetzt werden, stehen hingegen am anderen Ende.

95 Lessing 2000, Bd. 7, Sz. V/7, S. 369. 96 Cairns hat zu keinem anderen Werk von Sophokles derartig viele Scham- bzw. aidōs-Belege angeführt, wie zur Aias-Tragödie; vgl. Douglas L. Cairns. Aidōs. The Psychology and Ethics of Honor and Shame in Ancient Greek Literature. Oxford 1993, Index.

III.  Tragödien um 1800 3.1  ‚Mittelalterliche‘ Affektkulturen I – Friedrich Schiller: Die Jungfrau von Orleans Tragödientheoretische Ambivalenzen Schillers 1801 publizierte, im frühen 15. Jahrhundert in Frankreich spielende „romantische Tragödie“ Die Jungfrau von Orleans weist eine unaufgehobene Spannung auf: zwischen dem Gewissen als innerpsychischer Instanz – Stichwort ‚Schuldkultur‘ – und dem fatalen Ausgesetztsein gegenüber dem öffentlichen Blick – Stichwort ‚Schamkultur‘. Dabei ist keine Abfolge beider Kulturmodelle zu erkennen, vielmehr greifen sie ineinander und lösen sich wechselseitig ab. Die Modelle werden jeweils durch entsprechende Szenengestaltungen und Figurenkonstellationen impliziert. So kommt die Frage der Schuld insbesondere in einem großen Monolog Johannas zum Tragen und wird somit theatral einer psychischen Struktur der Interiorität zugeordnet. Sie hält diesen Monolog allein im festlich ausgeschmückten Krönungssaal der Kathedrale zu Reims, der mit seinen von festons umwundenen Säulen griechisch-antikisiert – mithin ‚schuldkulturell‘ – wirkt und als Innenraum mit der sich selbst sanktionierenden Psyche korrespondiert. Die Thematik der Scham hingegen findet sich in diesem Werk insbesondere in Form einer kollektiven Beschämung der Heldin durch den gesamten französischen Hofstaat und die Vertreter der Kirche – eine Scham-Szene, die von den Anwesenden mit Ausnahme des strengen Vaters zwar nicht intendiert ist, sich aber gleichwohl ereignet. Die große Gruppe der Anwesenden, zu verstehen als polis, sowie der Ort der Beschämung – ein öffentlicher Platz unter freiem Himmel vor der mittelalterlichen Kathedrale – verbildlichen entsprechend die Sanktionierung durch eine externe Instanz. Dies korrespondiert nicht nur mit dem aidōsKonzept der archaischen Antike, sondern ebenso mit der mittelalterlichen Schamkultur. Insgesamt schwankt das im christlichen Spätmittelalter angesiedelte Theaterstück in seiner dramatischen Konzeption zwischen antik-tragischen Elementen und solchen, die eher moralisch-christlichen, das heißt mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Genres entstammen. Bekanntlich sind Schillers Stücke der Weimarer Zeit, die im Anschluss an seine Auseinandersetzung mit Kant und seine wichtigsten ästhetischen Schriften entstanden, keine künstlerischen Lösungen oder Exemplifizierungen der

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dort formulierten theoretischen Ansprüche; sie verdeutlichen vielmehr – ob intendiert oder nicht –, inwiefern deren Umsetzung in die dramatische Praxis Schwierigkeiten aufwirft. Gerade Die Jungfrau von Orleans ist diesbezüglich ambivalent, was unter anderem an der christlich grundierten Thematik liegt – vergleichbare Ambivalenzen weist aber auch die antikisierte Braut von Messina auf. Dabei stellt die Gattungsbezeichnung „romantische Tragödie“ nicht nur einen historischen, sondern auch einen ästhetischen Widerspruch dar. Zwar finden sich bei Schiller keine expliziten Belege für den seinerzeit vieldiskutierten Begriff des ‚Romantischen‘,1 neuere Ansätze gehen aber davon aus, dass damit unter anderem die Abgrenzung zur antiken Tragödie gemeint ist, ferner die legendenhaften Elemente – zum Beispiel das Auftauchen eines mysteriösen ‚schwarzen Ritters‘ – sowie die innerhalb der dramatischen Wirkungsökonomie eine psychologische Funktion einnehmenden christlich-wunderbaren Elemente wie etwa die prophetischen Träume und Visionen.2 Die Jungfrau von Orleans lässt sich, zumindest in einer oberflächlichen Lesart, eher der Untergattung des ‚Trauerspiels‘ als der der ‚Tragödie‘ zuordnen und weist durchaus einige Ähnlichkeiten mit dem barocken Märtyrerdrama auf.3 Hier wie dort ist der Untergang des Helden vorherbestimmt und daher nicht eigentlich tragisch, sondern aus der subjektiven Perspektive eine Erfüllung, ein Eingehen in Gott. Johanna d’Arc, Schillers Heldin, artikuliert entsprechend durch das ganze Stück hindurch ihr Jenseitsverlagen und wendet sich – der Vertikalität der barocken Szenographie entsprechend – fortwährend nach oben, richtet ihren Blick weg vom irdischen Dasein gen Himmel. Während der im Stück vollzogenen Wandlung der Heldin von einer keuschen Jungfrau mit politischreligiöser Sendung zur (unfreiwillig) liebenden jungen Frau und wieder zu einer (sekundären) Unberührtheit und Missioniertheit zurück, begeht sie nicht eigentlich einen Fehler im Sinne der aristotelischen Hamartia – die ja in dieser Zeit tragödientheoretisch wieder relevant wurde4 –, sondern 1 Vgl. Gerhard Sauder. „Die Jungfrau von Orleans“. Schillers Dramen. Interpretationen. Hg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1992. 336–384, S. 355. 2 Vgl. Peter-André Alt. Schiller. Leben – Werk – Zeit. Eine Biographie. 2. München 2000, S. 516; Marie-Christin Wilm. „Die ‚Jungfrau von Orleans‘, tragödientheoretisch gelesen“. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 47 (2003): 141–170, S. 146. 3 Schiller kannte auch die kurz zuvor entstandene Märtyrertragödie Leben und Tod der heiligen Genoveva von Ludwig Tieck; vgl. Wilm 2003, S. 168. 4 Vgl. John Simons. „Hamartia and Até in Schiller’s Drama“. Colloquia Germanica 19 (1986): 187–202, S. 287 f.; Wilm 2003, S. 154.



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„Grund des Untergangs“ ist eher, mit Walter Benjamin gesprochen und zugleich einen Leitgedanken der Forschung zu diesem Stück aufnehmend,5 „der Stand des kreatürlichen Menschen selber“6. Indirekt bezieht sich Schiller auch auf das zeitgleich entstehende Trauerspiel der mit ihm in Konkurrenz stehenden Romantiker, und damit auf eine „als Theater gesehene, zum Theater gewordene Tragödie [...], die sich ihrer Theatralität, ihres Spielcharakters bewusst geworden ist“ – wobei romantisch hier in erster Linie „ästhetisch“ meint.7 Schillers pathetischem Trauerspiel fehlt zwar die berühmte ‚romantische Ironie‘, dennoch beruht die ausgeprägte Theatralität der Jungfrau von Orleans auf bewussten Setzungen des Autors sowie dem extensiven Einsatz theatertechnischer Effekte. Dass das Stück eine starke Selbstreflexivität aufweist, hat Marie-Christin Wilm argumentativ entfaltet, indem sie dessen inhärente Tragödientheorie, die sich aus zahlreichen widersprüchlichen Elementen zusammensetzt, aufschlüsselt.8 Schiller reflektiert in seiner Jungfrau von Orleans nicht nur kritisch seine eigenen theoretischen Ansätze, sondern geht implizit auch auf die Tragödiendiskussion anderer Autoren, insbesondere auf Schellings kunstphilosophischen Ansatz ein. Im Zentrum steht die zeitgenössische Debatte um ‚Schuld‘ und ‚Notwendigkeit‘, die Schiller in diesem Stück auf eigentümliche Weise behandelt. Wie bereits ausgeführt, besteht Schellings Leitargument darin, dass der tragische Held keinen Fehler begeht, ihm aber trotzdem eine existentielle, unausweichliche Schuld zugeschrieben wird. In der Annahme dieser Schuld als „Nothwendigkeit“

5 Norbert Oellers. „,Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war?‘ Zu Schillers Tragödie ‚Die Jungfrau von Orleans‘“. Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs: Zugänge, Dichtung, Zeitgenossenschaft. Hg. v. Helmut Brandt. Berlin u. Weimar 1987. 299–310. 6 Walter Benjamin. Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg.  v. Rolf Tiedemann. 7. Aufl. Frankfurt a. M. 1996, S. 70; entsprechend verweist Johanna mehrfach auf alttestamentliche Bilder und Topoi, so etwa wenn sie von ihrer Jugend als Schäferin in Dom Remy als „Paradies“ (V. 2899) spricht, und betrachtet ihren verhängnisvollen Blick auf Lionel als persönlichen Sündenfall. Weitere Bibelreferenzen werden diskutiert von: Anna Gutmann. „Schillers ‚Jungfrau von Orleans‘. Das Wunderbare und die Schuldfrage“. Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1969): 560–583; Bernhard Greiner. „Negative Ästhetik: Schillers Tragisierung der Kunst und Romantisierung der Tragödie (‚Maria Stuart‘ und ‚Die Jungfrau von Orleans‘)“. [Themenheft] Schiller Text + Kritik (2005): 53–70, S. 64 f. 7 Bettine Menke u. Christoph Menke. „Einleitung. Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. Hg. v. dens. Berlin 2007. 6–15, S. 7. 8 Vgl. Wilm 2003.

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erweist sich die paradoxe „Freiheit“ der Figur.9 Es ist zu fragen, ob Schiller mit Johannas Annahme einer falsch attribuierten Schuld auf eben diesen Zusammenhang referiert. Das Charisma der Jungfrau: Selbstheroisierung als Hybris Als Kriegerin ist Johanna von Orleans, ähnlich wie die wenige Jahre danach von Kleist kreierte Amazonenkönigin Penthesilea, durch narzisstische und maskulinisierende Selbstüberhöhung gekennzeichnet. Beide Heroinen ziehen als Jungfrauen in den Kampf; beide geraten in der Begegnung mit einem männlichen Gegner in ein moralisches Dilemma; beiden stellt sich ein Konflikt zwischen Gebot und Neigung, sozialer Rolle und maßlosem Affekt. Das ‚entflammte‘ Begehren und die damit einhergehende Niederlage in der Schlacht werden als vernichtende Schande erlebt. Diese wird durch Akte der passiven, internalisierenden Schuldannahme einerseits (Johanna), des aktiven, aggressiven Schuldigwerdens andererseits (Penthesilea) abgewehrt. Es offenbart sich ein Spannungsverhältnis von Scham und Schuld, das die Dynamik beider Stücke beherrscht, die Autoren jedoch je unterschiedlich zu lösen suchen – im Kapitel 3.4 wird auf diesen Vergleich näher einzugehen sein. Es sind die androgyne Existenz und die paradigmatisch die ‚Unschuld‘ repräsentierende Jungfräulichkeit, die Schillers Johanna d’Arc eine Aura der Unberührbarkeit verleihen.10 Anett Kollmann hat nachgezeichnet, wie sich in den ersten Szenen des Stücks die Wandlung von der braven Hirtentochter zur heroischen Persönlichkeit mit politisch-historischem Auftrag vollzieht; dabei spielen zentrale Dingsymbole eine Rolle, die wie von ihr prophezeit tatsächlich auftauchen (z. B. das Schwert), ebenso wie mehrere, ihre Aussagen bestätigende Boten und schließlich der gesamte Habitus ihrer Selbstinszenierung.11 Ferner haben Albrecht Koschorke und Eva Horn Johannas souveränes Auftreten mit Max Webers Konzept charismatischer Herrschaft zu erklären versucht:12 Die Selbstbestimmtheit ihres 9 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Philosophie der Kunst. Darmstadt 1966, S. 340. 10 Vgl. dazu ausführlich: Christopher J. Wild. Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist. Würzburg 2003, S. 418 f. u. 426–433. 11 Vgl. Anett Kollmann. Gepanzerte Empfindsamkeit. Helden in Frauengestalt um 1800. Heidelberg 2004, S. 103–111. 12 Vgl. Albrecht Koschorke. „Schillers ‚Jungfrau von Orleans‘ und die Geschlechterpolitik der Französischen Revolution“. Friedrich Schiller und der Weg in die



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Führungsanspruchs hängt demzufolge unmittelbar mit der immer wieder von Neuem zu performierenden Fähigkeit ab, sich als ‚begnadetes‘ Subjekt zu behaupten. Johanna gelingt dies mittels ihrer äußeren Selbstrepräsentation, aber auch aufgrund der Erlösungsbereitschaft der niedergedrückten Franzosen, die sowohl die unerwarteten plötzlichen Erfolge bei den kriegerischen Handlungen als auch die „Kriegsgöttin“13 selbst als Wunder interpretieren. Aber nicht nur anderen, auch sich selbst gegenüber muss die ‚Jungfrau von Orleans‘ ihren „exzeptionellen Charakter“14 beständig beweisen. Psychoanalytisch gesprochen, muss sie ihr Ich-Ideal nicht nur eigenständig errichten (weil Eltern oder andere Bezugspersonen dafür nicht zur Verfügung stehen), sondern muss es in Situationen des Versagens und Scheiterns auch aus sich selbst heraus wieder neu generieren; beide Mechanismen erfolgen vorwiegend verbal, in Form der monologischen Selbstansprache. Als Johanna das erste Mal vor den Dauphin tritt, um sich vorzustellen und ihm ihren religiös-nationalen Auftrag zu erläutern, rekurriert sie auf eine Heilige, die, „ein Schwert | Und Fahne tragend, aber sonst wie ich | Als Schäferin gekleidet“ (V. 1075–1077), ihr mit den Worten, „[e]ine reine Jungfrau | Vollbringt jedwedes Herrliche auf Erden | Wenn sie der irdschen Liebe wiedersteht“ (V. 1987–89) erschienen sei. Diese Heilige ist, wie Karl Guthke richtig formuliert, nichts anderes als „ein ins Göttliche

Moderne. Hg. v. Walter Hinderer. Würzburg 2006. 243–259, S. 250; Eva Horn. „‚Mit ihrer Sichel wird die Jungfrau kommen‘. Krieg und Charisma in Schillers Jungfrau von Orleans“. Vortragsmanuskript 2006, S. 4. Beide rekurrieren auf: Max Weber. „Wirtschaft und Gesellschaft“. Schriften zur Soziologie. Hg. v. Michael Sukale. Stuttgart 1995, 79–312, S. 271–302 (Kap. „Charismatismus“, „Umbildung des Charisma“ u. „Charisma und Disziplin“); siehe diesbezüglich auch: Wolfgang Lipp. „Charisma – Schuld und Gnade. Soziale Konstruktion, Kulturdynamik, Handlungsdrama“. Charisma. Theorie – Politik – Religion. Hg. v. Winfried Gebhardt u. a. Berlin u. New York, 1993. 15–32. 13 „[S]ieh da stellte sich | Ein seltsam Wunder unsern Augen dar! | Denn aus der Tiefe des Gehölzes plötzlich | Trat eine Jungfrau, mit behelmtem Haupt | Wie eine Kriegsgöttin, schön zugleich | Und schrecklich anzusehn, um ihren Nacken | In dunklen Ringen fiel das Haar, ein Glanz | Vom Himmel schien die Hohe zu umleuchten | [...].“ (V. 952–959) – so ein beispielhafter Botenbericht. Zitiert wird mit Versangabe aus der Ausgabe: Friedrich Schiller. „Die Jungfrau von Orleans. Eine romantische Tragödie“. Sämtliche Werke 2: Dramen II. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. München 1981. 687–812. 14 Kollmann 2004, S. 121.

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überhöhtes Bild der Schäferin Johanna“15 – also eine narzisstische Projektion, die ‚Unschuld‘ mit ‚Macht‘ korreliert. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Dimensionen der (symbolischen) Erhöhung und Erniedrigung auf imagologischer Ebene im gesamten Drama eine zentrale Rolle spielen – ‚Hochgefühl‘ und ‚Staubsein‘ gehören, ähnlich wie auch in Kleists Penthesilea, zu den Leitvokabeln des Stücks. Dem skeptischen Vater Johannas etwa ist jene Ausstrahlung der ‚Höhe‘, die seine Tochter besitzt, schon zu Beginn des Stücks unheimlich und unverständlich, wie er ihrem Freier Raimond gegenüber offenbart, als er ihm von drei Träumen berichtet, in denen er sie auf dem Königsstuhl in Reims sitzen sah, und alle, selbst er und der König, sich vor ihr verneigten (V. 113–121): Wie kommt mir solcher Glanz in meine Hütte? O das bedeutet einen tiefen Fall! Sinnbildlich stellt mir dieser Warnungstraum Das eitle Trachten ihres Herzens dar. Sie schämt sich ihrer Niedrigkeit – weil Gott Mit reicher Schönheit ihren Leib geschmückt, Mit hohen Wundergaben sie gesegnet, Vor allen Hirtenmädchen dieses Tals, So nährt sie sündgen Hochmut in dem Herzen, Und Hochmut ists, wodurch die Engel fielen, Woran der Höllengeist den Menschen faßt. (V. 122–132)

Thibaut interpretiert Johannas vermeintlichen „Hochmut“ als Hybris und Sünde und nimmt mit dieser Einschätzung doch zugleich ihren späteren „Fall“ und dessen Selbstdeutung durch die Heldin vorweg. Denn diese ist tatsächlich, von jenem „Größenwahn und Auserwähltheitskomplex [betroffen], den Schiller seit den ‚Räubern‘ immer wieder an seinen scheinbar so idealistischen Helden kritisch diagnostiziert hat“16. Aufgrund der vielen Erfolge und der Bewunderung, die Johanna von allen Seiten erfährt, ist die nur durch sich selbst mögliche Hinterfragung ihrer singulären Position, die den tragischen Kern des Stücks ausmacht, umso gravierender.

15 Gerhard Kaiser. „Johannas Sendung. Eine These zu Schillers ‚Jungfrau von Orleans‘“. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 10 (1966): 205–236, S. 209. 16 Karl S. Guthke. „,Die Jungfrau von Orleans‘. Sendung und Witwenmachen“. Schiller heute. Hg. v. Hans-Jörg Knobloch u. Helmut Koopmann. Tübingen 1996. 115–130, S. 120.



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„Fremder Ketten Schmach“: beschädigte Kriegerehre und versehrte Genealogie Schillers Geschichtsdrama weicht besonders in vier Punkten von der historischen Überlieferung bezüglich des Lebens und der Legende der 1412 geborenen und 1431 hingerichteten Jeanne d’Arc ab.17 Alle vier Punkte, in denen Schiller die „poetische Wahrheit“ über die „historische Wahrheit“ stellt,18 hängen mit Scham, Schuld und Ehre zusammen, was das Interesse des Dichters an dieser Thematik belegt. Erstens dramatisiert Schiller den Verlust von Johannas Seherstimmen als Strafe für die Übertretung eines Gebots, das ihr zu Beginn auferlegt wurde: „Nicht Männerliebe darf dein Herz berühren | Mit sündgen Flammen eitler Erdenlust“ (V. 411 f.), so zitiert sie selbst die Worte des „Geistes“, der ihr erschienen war. In dem Augenblick, als sie im Zweikampf den (von Schiller als Figur frei erfundenen) englischen Heerführer Lionel ansieht und dann nicht zu töten vermag, bricht sie ihr Gelübde und wird zur Begehrenden. Zweitens tötet Schillers Johanna zahlreiche Feinde, während die historische Jeanne d’Arc gar nicht aktiv am Kriegsgeschehen teilnahm und vor Gericht bestritt, je einen Menschen getötet zu haben. Als dritter Punkt, in dem Schiller von der Historie abweicht, ist die Einführung der Instanz des Vaters zu nennen, als demjenigen, der moralisch über Johanna richtet und dadurch Initiator ihrer Verbannung durch den König ist. Viertens wird Johanna bei Schiller nicht als exkommunizierte Ketzerin verbrannt, sondern stirbt einen Heldentod samt Apotheose im Schlachtfeld, nachdem sie ihre Ehre und Anerkennung durch den König und die Kirche wiedererlangt hat. Schon zu Beginn des Stücks wird eine krisenhafte Situation nationaler Beschämung beschrieben: Den Franzosen ist der Kampfgeist gänzlich abhanden gekommen, das Königreich ist durch den langen Krieg und die vielen Niederlagen bankrott und der ungekrönte Thronfolger, Karl der Siebente, zieht es vor, sich durch Gaukelspiel, Troubadors und seine Geliebte Agnes Sorel abzulenken, anstatt sich heldenhaft dem Feind entgegen zu stellen und Strategien zu entwickeln, wie die drohende Eroberung der belagerten Stadt Orleans abzuwenden sei. Johannas Sendung 17 Vgl. Inge Stephan. „Hexe oder Heilige? Zur Geschichte der Jeanne d’Arc und ihrer literarischen Verarbeitung“. Argument-Sonderband (1996): 35–6; Gerd Krumeich. Jeanne d’Arc in der Geschichte. Historiographie – Politik – Kultur. Sigmaringen 1989; Maria Warner. Joan of Arc. The Image of Female Heroism. Berkeley u. Los Angeles 2000. 18 Friedrich Schiller: „Über die tragische Kunst“. Sämtliche Werke 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 9. Aufl. München 1993. 372–393, S. 390.

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fungiert als Kompensation dieser bedrohlichen „Männlichkeits- und Heroismuskrise“19. Drei besonders beschämende Ereignisse werden im ersten Akt durch den Offizier La Hire übermittelt. So berichtet er davon, dass der mit den Engländern verbündete Herzog von Burgund die Auslieferung des Grafen Du Chatel fordert, der seinen Vater tötete. Karl bezeichnet dies als „Schmachbedingung“ (V. 683) und weist das Anliegen empört zurück. Des Weiteren muss La Hire mitteilen, dass er Burgund den Handschuh Karls umsonst hingeworfen habe. Denn Burgund habe die Forderung des Dauphin nicht angenommen – „nimmer täts ihm not“, gibt La Hire seine Worte wieder, „[u]m das zu fechten, was er schon besitze“ (V. 691 f.) und „damit kehrt’ er lachend mir den Rücken“ (V. 696). Burgund erklärt durch diese Reaktion den Dauphin als nicht satisfaktionsfähig – angesichts des Standesunterschieds eine infame Beleidigung. Das dritte Ereignis, von dem La Hire berichtet, bezieht sich auf die Einsetzung des kleinen Jungen Harry Lancaster als König durch das Pariser Parlament. La Hire ist sogar Zeuge, wie der Prinz von Isabeau, der ebenfalls auf Seiten der Engländer stehenden Mutter Karls, auf den französischen Thron gesetzt wird: Da trat die alte Königin, deine Mutter, Hinzu, und – mich entrüstet es zu sagen! [...] In die Arme faßte sie den Knaben Und setzt’ ihn selbst auf deines Vaters Stuhl. [...] Selbst die wütenden Burgundier, die mordgewohnten Banden, Erglüheten vor Scham bei diesem Anblick. Sie nahm es wahr und an das Volk gewendet Rief sie mit lauter Stimm: ‚Dankt mirs, Franzosen, Daß ich den kranken Stamm mit reinem Zweig Veredle, euch bewahre vor dem mißGebornen Sohn des hirnverrückten Vaters! (V. 726–737)

Wie empörend Isabeaus Handlung ist wird daran deutlich, dass dem Bericht zufolge sogar die zu den Engländern übergetretenen „Burgundier“ vor Scham erröten, mithin moralisch reagieren. Dadurch werden erstens ihre ‚wahren‘ Gefühle für Frankreich unwillkürlich offenbart und zweitens die ‚Widernatur‘ der den eigenen Sohn verleugnenden Königin. Die Krise Frankreichs ist auch und vor allem eine Krise der patrilinearen Erbschaftsfolge.20 Isabeau selbst nimmt indirekt auf die antike Tragödientheorie und 19 Kollmann 2004, S. 109. 20 Vgl. Wild 2003, S. 421.



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den Gedanken der Erbschuld Bezug, indem sie Karl als „kranken Stamm“ bezeichnet, dessen vermeintlich „hirnverrückte[]“ Genealogie zu unterbrechen sei. Ein solches Anzitieren von Tragödientheorien unterschiedlichster Provenienz hat, wie erwähnt, in diesem Stück durchaus Methode. Im vorliegenden Zitat dient es nicht nur der Verdeutlichung der Dramatik dieser Krise der Souveränität, sondern auch der demonstrativen und symbolischen Beschämung Karls, der sich bei La Hires Worten auch sofort „verhüllt“, wie es in der Regieanweisung heißt – im Unterschied zu den anderen anwesenden Figuren, die gestisch „ihren Abscheu, ihr Entsetzen aus[drücken]“ (nach V. 738). In allen drei durch La Hire geschilderten Szenarien ist es besonders schmachvoll, dass die Zurückweisung und Missachtung durch ein Mitglied des eigenen Volkes, im letzten Fall gar der eigenen Familie, geschieht. Die Situation Karls und seiner Verbündeten hat also nicht nur militärisch, sondern auch psychologisch einen Tiefpunkt erreicht, aus dem sie nur noch ein Wunder erretten könnte. Dieses Wunder geschieht, als in der nächsten Schlacht unvermittelt Johanna erscheint, „mit behelmtem Haupt | Wie eine Kriegsgöttin, schön zugleich | Und schrecklich anzusehn“ (V. 955–957). Mit einem Kampfschrei reißt die amazonenhafte Jungfrau die Kriegsfahne an sich und führt die Franzosen, die nicht recht wissen, wie ihnen geschieht, mit sich in die Schlacht. Das Resultat dieser Überwältigung wird von einem wie Johanna aus Lothringen stammenden Ritter geschildert: „Ein Schlachten wars, nicht eine Schlacht zu nennen! | Zweitausend Feinde decken das Gefild, | Die nicht gerechnet, die der Fluß verschlang, | Und von den Unsern ward kein Mann vermißt“ (V. 981–984) – ein unglaubliches Ergebnis, das von den Franzosen als göttliche Fügung und Wunder interpretiert wird. Als Johanna vor den Dauphin geführt wird, gibt sie explizit an, in ihren Gebeten die Jungfrau Maria angefleht zu haben, „fremder Ketten Schmach“ (V. 1060) von ihren Landsleuten abzuwenden. Bereits mit der ersten Kriegshandlung scheint ihr dieses Ziel der ‚Ent-Schämung‘ nachdrücklich gelungen zu sein, wie der Blick ins englische Lager zeigt, wo der Anführer Lionel klagt: – O Orleans! Orleans! Grab unsers Ruhms! Auf deinen Feldern liegt die Ehre Englands. Beschimpfend lächerliche Niederlage! Wer wird es glauben in der künftgen Zeit! Die Sieger von Poitiers, Crequi Und Azincourt gejagt von einem Weibe! (V. 1239–1244)

Die besondere Schande der Engländer besteht in der durch eine Frau verursachten Niederlage. So formuliert auch der Feldherr Talbot entsetzt „Ein

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Weib entriß mir allen Siegesruhm?“ (V. 1548) und bezeichnet Johanna als ein „Phantom des Schreckens“, das „unsre Völker blendet und entmannt“ (V. 1478 f.). Die Wortwahl verdeutlicht, dass die unerwartete Niederlage von den Engländern als symbolische Kastration erlebt wird. Einzige Möglichkeit der Ehrrettung und mithin der symbolischen Wiederherstellung körperlicher Integrität wäre der Sieg über die Feindin im Zweikampf, wie Talbot vorschlägt. Lionel repliziert: So sei’s! Und mir, mein Feldherr, überlasset Dies leichte Kampfspiel, wo kein Blut soll fließen. Denn lebend denk ich das Gespenst zu fangen, Und vor des Bastards Augen, ihres Buhlen, Trag ich auf diesen Armen sie herüber Zur Lust des Heers, in das britannsche Lager. (V. 1486–1491)

Lionels Vorschlag des Zweikampfs mit Johanna – zu ihrer Überwindung und einer anschließenden kollektiven Schändung durch das englische Heer – macht deutlich, dass er in ihr zwei Feinde zugleich besiegen will. Einerseits möchte er mit ihr als gleichberechtigtem Gegner kämpfen, quasi ‚von Mann zu Mann‘, um seine Ehre wiederzuerlangen. Andererseits möchte er ihre Ehre mittels jener geschlechtsspezifischen Sanktion zerstören, die in Kriegen systematisch Frauen und Mädchen erleiden müssen. Schon zu Beginn des Stücks heißt es ganz explizit über die Engländer: „In frechem Mute haben sie geschworen, | Der Schmach zu weihen alle Jungfrauen“ (V. 252 f.). Es ist mithin eine Symbolpolitik der aktiven Beschämung am Werk, die die Körper beider Geschlechter als versehrbar versteht, da Schande und Machtverluste gewaltsam in sie einschreibbar sind. Der Blick als delophiles und theatophiles Ereignis In dem dann tatsächlich stattfindenden Gefecht zwischen Lionel und Johanna ereilt sie aber eine ganz andere Form der Schande, als von dem englischen Anführer oder ihrem Vater prophezeit: weder ein schmachvolles kriegerisches Versagen, noch ein demütigender sexueller Übergriff. Zunächst scheint sie ihn zu besiegen, denn sie schlägt ihm das Schwert aus der Hand, beide ringen miteinander und Johanna „ergreift ihn von hinten zu am Helmbusch und reißt ihm den Helm gewaltsam herunter, daß sein Gesicht entblößt wird, zugleich zuckt sie das Schwert mit der Rechten“ (nach V. 2464). Doch als sie ihn mit dem Ausruf „Die heilge Jungfrau opfert dich durch mich“ (V. 2465 f.) töten will, sieht sie ihm ins Gesicht, „sein Anblick ergreift sie, sie bleibt unbeweglich stehen und läßt dann langsam den



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Arm sinken“ (nach V. 2465). Lionel fleht sie an, „[n]imm mir das Leben auch, du nahmst den Ruhm“ (V. 2467), doch sie gibt ihm ein Zeichen zu entfliehen. Beide bitten sich nun gegenseitig um den Tod – ein paradoxes wechselseitiges Gefühl der Vernichtung, das aber unterschiedliche Ursachen hat: Der Heerführer sieht sich als Krieger entehrt, die Jungfrau fühlt sich nichtswürdig, da sie ihr Gebot übertreten hat. Als Folge verbirgt sie ihr Gesicht vor seinen Blicken, wie Schiller mehrfach betont (V. 2471 u. 2476). Diese Gebärde wird im 18. Jahrhundert als Bühnenzeichen für Scham vorgeschlagen; so heißt es zum Beispiel in Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik: Der Beschämte weiß, wie sichtlich und unverkennbar sich in den Gesichtsminen überhaupt und vorzüglich im Auge das eigene Bewußtsein ausdruckt; er mögte das seinige so äußerst ungern verrathen: und so muß er Gesicht und Auge vor jedem Blick des Andren zu verwahren, muß seine eigenen Blicke, deren anziehende Kraft er fühlt, so viel möglich zurückzuhalten suchen.21

Engel zufolge sucht der Beschämte einen ‚Entzug der Darstellung‘ zu erwirken, indem er seinen Blick und sein Gesicht der Sichtbarkeit enthebt. Der Blick aber wird nach Engel auch aus einem zweiten Grund niedergeschlagen, der für die vorliegende Szene wichtig ist: weil die Gefahr besteht, dass er delophil wirkt und das Gegenüber, willentlich oder nicht, bezaubert. Der gesenkte Blick und die darin aufscheinende weibliche „Schaamhaftigkeit“22 Johannas affizieren Lionel wider Willen. Er sagt ihr, dass er sie schützen und mit sich nehmen möchte, was sie entsetzt von sich weist. Trotzdem entflieht ihr der Ausruf, „[i]ch sterbe, wenn du fällst von ihren Händen!“ (V. 2502) – dieser Satz ist Liebesgeständnis und Ausdruck ihres Selbstverlusts zugleich. Mit dem der Schamreaktion vorangehenden wechselseitigen Blick der Jungfrau und ihres Feindes theatralisiert Schiller einen Augenblick theatophiler Verschmelzung, bei der die seltene Situation eintritt, dass beide Beteiligten kurzzeitig gemeinsam eine passivierende, zugleich aber lust21 Johann Jakob Engel. Ideen zu einer Mimik 1. Darmstadt 1968, S. 283. 22 Wie bereits dargelegt, wurde zeitgenössisch zwischen ‚Scham‘ und ‚Schamhaftigkeit‘ differenziert, wobei letztere sich u. a. auf die hier dargestellte furchtsame Vermeidung von allem Erotischen bezieht und daher insbesondere für das weibliche Geschlecht als Tugend galt. Im Unterschied zum als angeboren und physiologischreflexhaft geltenden Schamaffekt, der auf Bloßstellung oder Abwertung reagiert, wurde Schamhaftigkeit als Verhaltenseigenschaft verstanden, die kulturell erworben wurde; vgl. Friedrich Schleiermacher. „Versuch über die Schaamhaftigkeit“. Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde. Jena u. Leipzig 1907. 50–74, S. 53 [Erstdr. 1800].

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volle Faszination füreinander erleben. Es ist kein Blick-Kampf, in dem einer von beiden die Oberhand gewinnt und der andere dadurch beschämt wird, wie etwa Wurmser deren Dynamik deutet, sondern ein kurzer Moment ‚schamfreier‘23, gänzlich ungeschützter reziproker Wahrnehmung: Das Tabu des „mutual looking“24 wird durch ein kontingentes Geschehen plötzlich gebrochen. Diese unerwartete, intime Erfahrung des coup de foudre wird von Lionel problemlos in sein unverrückbares Männlichkeitsschema überführt, indem er die nun in ihren Reizen erkannte, vormals zur Schändung vorgesehene Feindin zur Frau begehrt und so den jüngst erlebten, intensiven Moment zu perpetuieren sucht. Dass sie nur ihn nicht zu töten vermag, führt zu einer rauschhaften narzisstisch-sentimentalen Aufwertung seines Selbst: „Du rührst mich, du hast Großmut ausgeübt | An mir allein, ich fühle, daß mein Haß | Verschwindet, ich muß Anteil an dir nehmen!“ (V. 2485–2487). Johanna hingegen ist zu einer solchen Selbstbespiegelung im Anderen nicht fähig, da sie ihr weibliches Selbst und dessen humane Bedürfnisse grundlegend negiert, sondern stattdessen im Auftrag einer dritten, göttlichen Instanz agiert, und diese durch ihre ‚menschliche‘ Schwäche maßlos beschämt zu haben glaubt: Sie beklagt „unwürdig“ (V. 2493) zu sein, ihre Waffen weiter zu führen, lässt sich von Lionel ihr – höchst symbolisches, auch sexuell aufgeladenes – Schwert entreißen und fällt, als La Hire und Dunois sie nach Lionels Abgang allein vorfinden, sofort in Ohnmacht, was zwar durch eine leichte Verwundung äußerlich legitimiert, psychologisch aber als temporäre Flucht vor sich selbst zu deuten ist. Durch die hier ausführlich analysierte Scham-Szene wird, auffallend ähnlich der Paradies-Narration der biblischen Genesis,25 die Selbstreflexivität der Heldin erst initiiert: „Wenn Johanna Lionel den Helm abreißt und ihn erkennt, erblickt sie gleichzeitig sich selbst. Ihr Bewußtsein, in der Szene mit dem schwarzen Ritter noch als fremdes erfahren, wird eigenes

23 „Schamfreiheit bezeichnet einen Zustand, der sich jenseits jeder Vorstellung von Scham und individuellen wie gesellschaftlichen Schamgrenzen befindet, er ist ‚vor‘ jeder Scham. Im Gegensatz hierzu setzt Schamlosigkeit bereits eine bestimmte Vorstellung von Scham und schamhaftem Verhalten innerhalb einer Kultur voraus. [...] Schamfreiheit stellt das primäre, ursprüngliche Phänomen dar, auf das hin erst später sich Scham herausbildet.“ Anja Lietzmann. Theorie der Scham. Eine anthropologische Perspektive auf ein menschliches Charakteristikum. Hamburg 2007, S. 66 f. 24 Silvan Tomkins. Shame and its Sisters. A Silvan Tomkins Reader. Hg. v. Eve Kosofsky Sedgwick u. Adam Frank. Durham u. London 1995, S. 144. 25 Zur Sündenfall-Korrespondenz der Szene vgl. Wild 2003, S. 451–453.



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Bewußtsein [...].“26 Mit Seidler gesprochen führt Johannas Reaktion der Abwendung vom Gesicht Lionels zu einer ‚Blickwendung nach Innen‘, die Schiller zeitversetzt in zwei unterschiedlichen Szenen gestaltet. Als eine von einer göttlich-patriotischen Mission Geleitete spricht Johanna bis zur Begegnung mit Lionel oft in der dritten Person von sich selbst (z. B. „Mit ihrer Sichel wird die Jungfrau kommen“; V. 306) oder formuliert im Futur die durch sie als Medium zu erwirkenden kriegerischen Ziele. Erst im Anschluss an das Blick-Ereignis und die Erfahrung der eigenen Person als Wahrgenommene – ihr persönlicher ‚Sündenfall – kann Johanna sich als ‚Selbst‘ verstehen: als Subjekt, das fähig ist, zu sich selbst eine Distanz einzunehmen. Die Anagnorisis ist hier Selbsterkenntnis. Dem Ent- und Verbergen des Gesichts kommt in dieser Sequenz des Dramas eine exzeptionelle Bedeutung zu. Es hat den Anschein (wenngleich dies in keiner Regieanweisung benannt wird), dass nicht nur Lionel seinen Helm verliert, den ihm Johanna in einer gewaltsamen Gebärde vom Kopfe reißt, sondern dass auch sie keinen Helm trägt, das Visier – während fortgesetzter Kampfhandlungen höchst unüblich – hochgeschoben hat oder aber eine Helmform, die das Gesicht ohnehin nicht bedeckt (wie dies die antike Minerva-Figur tut, die dem Erstdruck des Stücks als Titelkupfer beigefügt war27). Denn Lionels Reaktion, als er sie „mit Teilnahme [betrachtet]“ (nach V. 2482), bezeugt die Sichtbarkeit ihres Gesichts 26 Kaiser 1966, S. 226. Ähnlich hat auch Wild diesen Vorgang interpretiert, wenn er bezüglich des in Schillers Bühnenanweisung verwendeten Begriffs ‚Anblick‘ bemerkt: „Zunächst meint dieser Ausdruck natürlich die visuelle Erscheinung Lionels: der Anblick seines Gesichts; dann aber wörtlicher sowohl den Blick Johannas auf Lionel wie auch Lionels auf Johanna. Sie wird in diesem ‚Augenblick‘ gewahr, dass Lionel sie sieht; technischer ausgedrückt, daß der präexistente Blick, der sich in Lionels ‚Anblick‘ konkretisiert, immer schon auf ihr geruht hat und daß nur ihre Blindheit sie davor bewahrt hat, diesen als solchen wahrzunehmen. [...] Was Johanna [...] sieht, ist nicht bloß sein Gesicht einschließlich seiner Augen, sondern das Sehen selbst.“ Wild 2003, S. 452. 27 Vgl. die Reproduktion der Abbildung in: Ariane Martin. „Johannas ‚männlich Herz‘ im Zwiespalt. Geschlechterdifferenz als tragischer Konflikt in Schillers ‚Jungfrau von Orleans‘“. Der Deutschunterricht 6 (2004): 75–85, S. 79. „Das Titelkupfer stellt einen Minervakopf dar, den Heinrich Meier nach einer antiken Kamee in Goethes Sammlung gezeichnet und Bolt gestochen hatte. Schiller hatte diesen Kopf als Titelkupfer selbst vorgeschlagen, da er ihn für die ‚schönste[n] Antike, die man von dieser Göttin hat‘ (Brief Schillers an [Johann Friedrich Gottlieb] Unger vom 28.11.1800. In: Schiller: Werke. Nationalausgabe, Bd. 30, S. 217.) hielt und als Vorbild für die Jungfrau aufgefasst wissen wollte.“ Kommentar zu: Friedrich Schiller. Schillers Werke. Nationalausgabe 9. Hg. v. Benno v. Wiese u. Lieselotte Blumenthal, Weimar 1948, S. 405.

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zweifellos: „Mich jammert deine Jugend, deine Schönheit! | Dein Anblick dringt mir an das Herz“ (V. 2488 f.). Gegenüber der wechselseitigen Sichtbarkeit der Gesichter als loci der Scham und des Begehrens in dieser Szene steht die vollständige körperliche Verhüllung jener allegorischen Figur in der Szene zuvor, die Schiller im Personenverzeichnis als „Erscheinung eines schwarzen Ritters“ einführt und die schließlich mit „Nacht, Blitz und Donnerschlag“ von der Bühne wieder „versinkt“.28 Diese Figur wurde in der Forschung als moralischer Warner Johannas interpretiert, der die (nachfolgend eintretende) Peripetie ankündigt, aber auch als Personifikation der Furcht, „Sinnbild der aufsteigenden Skepsis“29 oder „Phantom des Vatergeistes“30. In der Szenenanweisung heißt es: „Ein Ritter in ganz schwarzer Rüstung, mit geschlossnem Visier“31 – die Absenz seines Gesichts zeugt nicht nur von Unbeschämbarkeit, sondern auch von Unmenschlichkeit, gehört der mysteriöse schwarze Ritter doch seiner Selbstaussage zufolge nicht zu den ‚Sterblichen‘ (vgl. V. 2445). Stattdessen fungiert er als Über-Ich-Instanz: als eine Personifikation und Antizipation des Gewissens, das Johanna kurze Zeit später so stark zusetzen wird.32 Er steht für diese Instanz, weil er machtvoll agiert, obskur bleibt und primär als Stimme in Erscheinung tritt, ferner weil mit ihm die akustische Dimension des Donners verbunden ist, die Schiller nachfolgend als dramaturgischen Effekt der Gewissensprüfung Johannas einsetzt.

28 Schiller 1981, S. 688 u. 769. 29 Alt 2000, Bd. 2, S. 522. 30 Wild 2003, S. 436; summarisch zu den kontroversen Deutungen dieser Figur siehe auch Kaiser 1966; Wilm 2003, S. 158; Edward T. Larkin. „Reading Schiller’s ‚Die Jungfrau von Orleans‘ with Lacan: In the ,Name-of-the-Father‘ and of the Daughter“. Monatshefte für Deutschsprachige Literatur und Kultur 96.2 (2004): 199–219, S. 205 f. 31 Schiller 1981, S. 768. 32 Die Kennzeichnung des Ritters als ‚Über-Ich‘ („superego“) übernehme ich von Larkin 2004, S. 205. Die nachfolgende These von Idris Chouk ist insofern inkorrekt, als der Ritter eine Antizipation des nachfolgend erst entstehenden ‚Gewissens‘ ist: „Von einem schlechten Gewissen kann bei Johanna keine Rede sein, denn sie wähnt zu Recht, gemäß ihrer gerechten und göttlichen Berufung zu handeln. Wie könnte sie auch ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie in Übereinstimmung mit dem göttlichen Auftrag handelt.“ Idris Chouk. Größe und sittliche Verantwortung in den Dramen Friedrich Schillers. München 2007, S. 253 f.



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Der innere Gerichtshof des Gewissens Im Anschluss an die Lionel-Szene folgt die feierliche Krönung des Dauphin. Der Akt beginnt mit einem langen, mittels vielfältiger Versformen und Kadenzen differenziert gestalteten lyrischen Monolog Johannas, den diese im leeren Krönungssaal der Kathedrale zu Reims hält, als alle anderen sich draußen auf die Krönungsfeier vorbereiten. Schillers Unterlegung dieser Szene durch „Flöten und Hoboen“, später durch eine „schmelzende Melodie“,33 dient der Emotionalisierung der Protagonistin mit dem Ziel, „den Widerstand Johannas gegen ihr Gefühl zu brechen“34; auch beim Zuschauer soll sich die viel beschworene ‚Rührung‘ einstellen.35 Außerdem wird die Szene durch ihre erhöhte Literarizität, die Redeweise in Stanzen und die Musikbegleitung vom übrigen Drama deutlich abgehoben, um den „Seelenkampf“36 Johannas herauszustellen. In Johannas Monolog sowie dem daran anschließenden Gespräch mit Agnes Sorel offenbart Schiller das psychische Innenleben seiner Protagonistin – genauer gesagt, zeigt er dessen Genese, die durch die Alteritätserfahrung erst ausgelöst wird. War sie zuvor sämtlichen Beteiligten wie auch den Zuschauern eine höchst enigmatische Erscheinung, die nicht von sich selbst, sondern nur von der durch sie als Medium zu vollziehenden Sendung sprach – und dies zumeist in Befehlsform –, kehrt sie nun ihre seelische Befindlichkeit nach außen, sucht die innere Zerrissenheit zu verstehen und zu verarbeiten. Die Zuschauer sind Zeugen dieses intimen Prozesses der psychischen Selbstoffenbarung und Selbstbefragung. 33 Schiller 1981, S. 773 f. 34 Volker Nölle. „Eine ‚gegenklassische‘ Verfahrensweise. Kleists ‚Penthesilea‘ und Schillers ‚Jungfrau von Orleans‘“. Beiträge zur Kleist-Forschung 13 (1999): 158– 174, S. 162. 35 Über die Jungfrau von Orleans bemerkt Schiller: „Poetisch ist der Stoff in vorzüglichem Grade, so nämlich, wie ich mir ihn ausgedacht habe, und in hohem Grade rührend.“ Brief Schillers an Christian Gottfried Körner vom 28.7.1800. Friedrich Schiller. Schillers Werke. Nationalausgabe 30. Hg. v. Lieselotte Blumenthal. Weimar 1961, S. 181. Rührung als ästhetische Kategorie wird wie folgt definiert: „Rührung, in seiner strengen Bedeutung, bezeichnet die gemischte Empfindung des Leidens und der Lust an dem Leiden. [...] Rührung enthält eben so, wie das Gefühl des Erhabenen, zwey Bestandtheile, Schmerz und Vergnügen; also hier wie dort liegt der Zweckmäßigkeit eine Zweckwidrigkeit zum Grunde.“ Friedrich Schiller: „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen“. Sämtliche Werke 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 9. Aufl. München 1993. 358–372, S. 363. 36 Franziska Ehinger. Kritik und Reflexion. Pathos in der deutschen Tragödie. Würzburg 2009, S. 89.

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Nölle bewertet den Monolog Johannas als „Prototyp des Monologischen schlechthin“, was er wie folgt begründet: „Die grenzenlose Disponibilität ihres eigenen Tuns und Denkens sowie die Spaltung ihrer Person in Subjekt und Objekt bzw. die Selbstdivision in Richterin und Angeklagte: Das sind die Voraussetzungen für die schonungslose Selbstanalyse und Selbstanklage sowie für die rigorose Selbstverurteilung und Selbstverdammung.“37 Anknüpfend an Peter von Matts Thesen zur Monolog-Situation im Drama bemerkt er allgemein, dass sie eine „riskante Zäsur“ erzeuge, indem die „mehr oder weniger stillgelegten Beziehungen zur Mitwelt [...] zur Gegenwelt des Ich, des monologisierenden Universums [werden]“.38 Riskant ist die Separation der Protagonistin Johanna von der Gemeinschaft insbesondere, weil sich ihre Schuld- und Unwertgefühle durch die Selbstbefragung verstärken, geradezu verabsolutieren, und ihr ein Anknüpfen an zuvor zumindest rudimentär vorhandene soziale Bindungen nicht mehr möglich ist. Nach Nölle ist ihr Monolog geradezu ‚prototypisch‘ für das „Monologische‘ an sich, insofern er „ihre Verbannung oder Selbstexkommunikation aus der menschlichen Gesellschaft vollzieht“39 – eigentlich aber ‚vollzieht‘ er diese noch nicht, sondern antizipiert sie bloß. Von Interesse für die Thematik von Scham und Schuld ist besonders die monologisch-dialogische Struktur von Johannas Selbstaussprache,40 die Schiller – mit Seidler formuliert – als ein Diskurs des ‚Ich‘ mit dem ‚Selbst‘ gestaltet: Sollt ich ihn töten? Konnt ichs, da ich ihm Ins Auge sah? Ihn töten? Eher hätt ich Den Mordstrahl auf die eigne Brust gezückt! Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war? Ist Mitleid Sünde? – Mitleid! Hörtest du Des Mitleids Stimme und der Menschlichkeit Auch bei den anderen, die dein Schwert geopfert? Warum verstummte sie, als der Walliser dich, Der zarte Jüngling, um sein Leben flehte? Arglistig Herz! Du lügst dem ewgen Licht, Dich trieb des Mitleids fromme Stimme nicht! (V. 2564–2574) 37 Nölle 1999, S. 164. 38 Ebd., S. 161; siehe auch Peter von Matt. „Der Monolog“. Beiträge zur Poetik des Dramas. Hg. v. Werner Keller. Darmstadt 1976. 71–90. 39 Nölle 1999, S. 166. 40 Zur Dialogisierung von Monologen vgl. Manfred Pfister. Das Drama. 9.  Aufl. München 1997, S. 184.



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In den ersten viereinhalb Zeilen dieser als Strophe gestalteten Verse spricht Johanna in der ersten Person singular (Ich1) und sucht sich zu rechtfertigen. Lionel nicht zu töten interpretiert sie als Menschlichkeit, die durch den Blick in seine Augen offenbar wurde, was dazu führt, dass sie die vorherige Emotionslosigkeit beim Töten verliert. „Mitleid“, so das Argument, könne doch keine „Sünde“ sein – das sprechende Ich rekurriert an dieser Stelle nicht zufällig auf jene Kategorie, die von Lessing zur Leittugend des Bürgerlichen Trauerspiels wie auch des aufgeklärten, sozial verantwortlichen Bürgers erklärt wurde, um das Gefühl zu nobilitieren und zugleich die eigentlichen Beweggründe zu camouflieren. Hier aber schaltet sich, im fünften Vers, eine andere Stimme (Ich2) ein, die anscheinend der ersten sehr genau zugehört hat und das Ich1 ‚objektiv‘ prüft – der Monolog wird intern dialogisiert, indem das Ich1 in der grammatikalischen Form der zweiten Person singular angeredet wird. Ihm wird vom Ich2 die gewissenlose Ermordung des Wallisers Montgomery, der inständig um sein Leben flehte, vorgehalten, um den Nachweis zu erbringen, dass der Nichttötung Lionels andere, deutlich weniger „fromme“ Motive zugrunde lagen und dass das Ich1 daher lügt, wenn es von ‚Mitleid‘ spricht. Das Gewissen wird hier wesentlich akustisch – als Selbstansprache – aufgefasst, wenn von der „Stimme“ des Mitleids die Rede ist, die „verstummte“, als „der zarte Jüngling“ Montgomery „um sein Leben flehte“. Das angeklagte Ich1 antwortet in der nachfolgenden Strophe auf diese Beschuldigungen und Vorwürfe nicht, sondern beginnt über den begangenen Fehler – Lionel als Person nicht negiert, ihm stattdessen sogar tief in die Augen geblickt zu haben – zu klagen. Zugleich wandelt sich der (auf der perzeptiven Dimension des Hörens aufbauende) Diskurs des Gewissens in eine (auf der perzeptivten Dimension des Sehens aufbauende) Reflexion über Scham: Warum mußt ich ihm in die Augen sehn! Die Züge schaun des edeln Angesichts! Mit deinem Blick fing dein Verbrechen an, Unglückliche! Ein blindes Werkzeug fodert Gott, Mit blinden Augen mußtest dus vollbringen! Sobald du sahst, verließ dich Gottes Schild, Ergriffen dich der Hölle Schlingen! (V. 2575–81)

Die Nichttötung Lionels und der begehrliche Blick auf den zu hassenden Feind werden von dem nun die Position des Über-Ich vertretenden Ich2, das ab der dritten Zeile wieder spricht, mit dem drastischen Attribut „Verbrechen“ (V. 2577) belegt, wodurch die vom Ich1 in der Strophe zuvor angeführte religiöse Kategorie der ‚Sünde‘ in ein weltliches Register, und zwar

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das der juristischen Schuld, überführt wird. Möglicherweise nimmt Schiller mit diesem Begriff auf eine berühmte tragödientheoretische Formulierung Schellings Bezug, demzufolge der tragische Held „nothwendig eines Verbrechens schuldig“ würde und ein dramatisches Werk desto tragischer sei, je schwerer diese Schuld wiegt.41 Dass das Ich2 das Ich1 sodann als „Unglückliche“ anspricht, kennzeichnet sein Schicksal als tragisch ebenfalls im Sinne der faktizistischen Schuldordnung und der Tragödientheorie Schellings: Johanna wird (ihrer Selbstdeutung zufolge) ‚unschuldig schuldig‘ an einem „Verbrechen“ – dies aber, wie Ich2 sogleich weiter argumentiert, sehr wohl aufgrund des individuell zurechenbaren Versagens, Gott nicht ‚blind‘ gehorcht zu haben.42 Mit der dialogischen Spaltung des Ich in zwei Stimmen rekurriert Schiller auf Kants Modell des Gewissens als einem im Bewusstsein situierten inneren Gerichtshof. Ein Teil des Selbst klagt den anderen an43 – Schiller gestaltet dies als dramatische Gerichtsrede mit verteilten Rollen. Dabei ist es kein Zufall, dass dieser ‚Prozess‘ im doppelten Wortsinn anhand einer Figur dargestellt wird, die unter göttlicher Anweisung handelt. Denn wie bereits ausgeführt, ist nach Kant allein Gott – beziehungsweise das ‚Prinzip Gottes‘ – als eine solche unparteiische, ‚idealische Person‘ eines inneren Richters vorstellbar. Es ist diese performative Macht des inneren Richtspruchs – „die sich selbst richtende moralische Urteilskraft“44 eines „Bewußtseins, das für sich

41 Schelling 1966, S. 339. 42 Ähnlich hat dies Friedrich Wilhelm Kaufman interpretiert, der zwar pauschal – nicht zuletzt aufgrund von Schillers Ästhetischen Schriften – einen Vorrang der moralischen vor einer existentiellen Schuldkonzeption annimmt – wobei erstere mit der hier als voluntaristisch bezeichneten Schuldauffassung konvergiert, letztere mit der faktizistischen –, zugleich aber darauf hinweist, dass sich die „Schuldfrage“ in der Jungfrau von Orleans durchaus „ins Existentielle verschiebt“. Friedrich Wilhelm Kaufman. „Schuldverwicklung in Schillers Dramen“. Schiller 1759/1959. Commemorative American Studies. Hg. v. John R. Frey. Urbana, 1959. 76–103, S.  77 u. 96. Andere Forscher greifen diese Einschätzung auf, so etwa Bernhard Greiner, wenn er bemerkt, dass die „Tragik der Hauptfigur in der antiken griechischen Tradition [anhand] eines Sich-Durchdringens von Gebundenheit und Freiheit des Handelns zu erkennen“ sei. Greiner 2005b, S. 62. 43 Vgl. Immanuel Kant. „Die Metaphysik der Sitten“. Werke in sechs Bänden 6: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983. 303–634, S. 573 f. 44 Immanuel Kant. „Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft“. Werke in sechs Bänden 6: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983. 645–879, S. 860.



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selbst Pflicht ist“45 –, die in Johannas Monolog zum Tragen kommt, indem Klage und Selbstmitleid beständig von bohrenden Fragen des Gewissens unterbrochen werden. Die in der Monologszene so zentrale innere Gewissensinstanz drückt – die apodiktische Formulierung Hegels hier erneut aufgreifend – „die absolute Berechtigung des subjectiven Selbstbewußtseins aus, [...] in sich und aus sich heraus selbst zu wissen, was Recht und Pflicht ist“46. Für das abschließende Urteil der ‚inneren Richterin‘ ist es daher nahezu irrelevant, dass die ‚Angeklagte‘ erstens Reue über ihre Mission insgesamt zeigt („Frommer [Hirten-]Stab! O hätt ich nimmer | Mit dem Schwerte dich vertauscht!“; V. 2582 f.) und zweitens, sich verteidigend, ‚ent-schuldigend‘ auf ihren vormaligen Zustand der „Hirtenunschuld“47 hinweist, den sie, so ihre Selbstdeutung, nicht willentlich aufgegeben habe: „Schuldlos trieb ich meine Lämmer | Auf des stillen Berges Höh. | Doch du rissest mich ins Leben, | In den stolzen Fürstensaal, | Mich der Schuld dahinzugeben, | Ach! es war nicht meine Wahl!“ (V. 2607–2613). Gerhard Kaiser hat die These aufgestellt, dass sich Johanna im vierten Akt in der „Hölle der Schuld“ befindet und zwar aufgrund des Umstands, dass durch die Schonung eines Mannes „alle ihre bisherigen Tötungen zur Willkür, zum Mord geworden“48 sind, sie also auch diese moralisch zu verantworten habe. Anknüpfend daran bemerkt auch Guthke, dass für Johanna die Schuld gar nicht im Abweichen von ihrer Sendung bestehe, sondern sie starke „Selbstzweifel an der patriotischen Brutalität“49 spüre, so dass sie ihr Handeln an sich, und die damit einhergehende narzisstische Überhöhung ihrer Person, nunmehr als schuldhaft empfinde. Ihm zufolge ist die Klage Johannas über den Abfall von ihrer Sendung letztlich nur eine Selbsttäuschung, weil sie erstens selbst die Verantwortung dafür trage, ‚Gott‘ und die ‚heilige Jungfrau‘ für sich in Anspruch genommen zu haben, und zweitens ihre Mission durch die Befreiung Frankreichs und die Krönung des Königs ohnehin ihr Ziel erreicht habe, so dass nunmehr

45 Ebd., S. 859. 46 Georg Wilhelm Friedrich Hegel. „Grundlinien der Philosophie des Rechts“. Gesammelte Werke 14.1. Hg. v. Klaus Grotsch u. Elisabeth Weisser-Lohmann. Düsseldorf 2009, S. 119. 47 Friedrich Schiller. „Über naive und sentimentalische Dichtung“. Sämtliche Werke 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 9. Aufl. München 1993. 694–780, S. 750. Schiller kennzeichnet mit dieser Formulierung einen nicht hintergehbaren, verlorenen Zustand der Idylle. 48 Kaiser 1966, S. 226. 49 Vgl. Guthke 1996, S. 126–128.

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keine Selbstmotivation mehr nötig sei.50 Überzeugend am Text belegt werden diese Argumente zwar nicht, dennoch halte ich die Hinweise auf die Erkenntnis über die Schuldhaftigkeit auch ihrer mit der Sendung verbundenen Taten für berechtigt – wenngleich ich nicht von ‚Selbsttäuschung‘ sprechen würde, da das Leiden Johannas zu offensichtlich und von Schiller als authentisch dargestellt wird. Ebenso vielfältig wie die göttlichen Instanzen, auf die sich Johanna im Verlauf ihrer religiös-politischen Mission beruft, sind auch die Dimensionen der Schuld und der Scham, die von Schiller zur Motivierung der Peripetie aufgerufen werden. Denn bemerkenswert ist, dass sich neben dem hier erörterten und in der Forschung thematisierten Schulddiskurs in dieser Szene sowie im nachfolgenden Dialog mit Agnes Sorel auch ein Schamdiskurs Johannas findet. Der Verstoß gegen das Gebot der jungfräulichen Sendung führt zur Feminisierung der Heldin: Sie entdeckt ihre Emotionalität, ihr Begehren, ihren Körper und erfährt sich schockartig als gendered subject. Der entstehende Rollenkonflikt führt zu einem Gefühl existenziellen Unwerts, wie sich bereits zu Beginn des Monologs andeutet: „Des höchsten Gottes Kriegerin, | Für meines Landes Feind entbrennen! | Darf ichs der keuschen Sonne nennen, | Und mich vernichtet nicht die Scham!“ (V. 2547–2550) – hier ist nicht die Rede von ‚Schuld‘, sondern von ‚Scham‘, da Johanna sich in ihrer Existenz als unwert erachtet.51 Sie verurteilt keine konkrete Fehlhandlung (den Blick auf Lionel, das Faktum seiner Nichttötung), sondern sieht ihr Selbst als wertlos an, was durch die Metapher der als mächtiges Gegenüber imaginierten Sonne verdeutlicht wird, deren als allsehendes Auge interpretiertes Licht sie nunmehr scheut. Mehrfach artikuliert Johanna im Kontext des aktuellen Geschehens überdies einen Suizidwunsch (V. 2476; 2517; 2667 f.). Ihre Gefühle der Größe und Auserwähltheit kollabieren, als ihr durch die Begegnung mit einem individuierten Feind schockhaft deutlich wird, dass ihre „illusionistische Selbstschöpfung als ‚die Jungfrau‘ [...] menschliche Hybris und geborgte Autorität“52 ist. Kurz bevor sich das Gefühl vernichtender Scham einstellt, bezeichnet sie ihre Gefühle für Lionel noch als ‚Schuld‘ („Und aus der Freude Kreis muß ich mich stehlen, | Die schwere Schuld des Busens zu verhehlen“; V. 2540 f.). Diese Diskrepanz der Gefühle, das Schwanken zwischen beiden, lässt sich 50 Vgl. Karls S. Guthke. „Die Jungfrau von Orleans“. Schiller-Handbuch. Hg. v. Helmut Koopmann. Stuttgart 1998. 442–465, S. 460 f. 51 Das Wort ‚Scham‘ wird besonders betont, da es das letzte Wort der Strophe ist und als einziges ohne Reim auftaucht; vgl. Ehinger 2009, S. 90. 52 Kollmann 2004, S. 116.



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folgendermaßen erklären: Sie empfindet bezüglich sich selbst – dem unbedingten Gehorsam der sich auferlegten Sendung gegenüber, in deren Zentrum das Keuschheitsgebot steht – eher Schuld, bezüglich ihrer von anderen wahrgenommenen Person – ihrem glorreichen image als des „höchsten Gottes Kriegerin“ – hingegen eher Scham. Entsprechend ist im nachfolgenden Dialog mit Agnes Sorel von Scham, nicht von Schuld die Rede: weil Johanna hier erstmalig nach ihrem ‚Sündenfall‘ mit einem Gegenüber konfrontiert ist, noch dazu mit einer Frau, die sie genau beobachtet, hinter ihre Kriegerinnen-Fassade zu blicken sucht und sie überreden möchte, künftig dem Kampf zu entsagen und ihre Weiblichkeit zu leben. Johanna reagiert auf diese Vorschläge, zu Agnes’ Unverständnis, mit der Bemerkung, „o möchte siebenfaches Erz | Vor euren Festen, vor mir selbst mich schützen!“ (V. 2646 f.) und als die Mätresse der Jungfrau zu schmeicheln sucht – „Dir huldigt, dich preist ein glücklich Volk, | Von allen Zungen überströmend fließt | Dein Lob, du bist die Göttin dieses Festes, | Der König selbst mit seiner Krone strahlt | Nicht herrlicher als du“ (V. 2663–2667) – entgegnet diese: „O könnt ich mich | Verbergen in den tiefsten Schoß der Erde!“ (V. 2667 f.). Doch in der Art und Weise, wie Johanna indirekt auf die Thematik der Männerliebe reagiert, als Agnes Sorel ihr ihre „Schwäche“ gesteht, dass ihr Ruhm, Vaterland, Siegestaumel letztlich gleichgültig sind, weil für sie nur ihr privates Glück mit Karl zählt,53 wird offenbar, dass Agnes sich in der Jungfrau getäuscht hat: „Ja, ich verkannte dich, du kennst die Liebe, | Und was ich fühle, sprichst du mächtig aus“ (V. 2698 f.) – und fällt ihr als Freundin um den Hals. Johanna aber „entreißt sich mit Heftigkeit ihren Armen“ (nach V. 2701) und fordert Agnes auf: Verlaß mich. Wende dich von mir! Beflecke Dich nicht mit meiner pesterfüllten Nähe! Sei glücklich, geh, mich laß in tiefster Nacht Mein Unglück, meine Schande, mein Entsetzen Verbergen [...] Sähst du mein Innerstes, du stießest schaudernd Die Feindin von dir, die Verräterin! (V. 2702–2713) 53 Agnes Sorel hält Johanna also einen Spiegel vor, wenn sie ihr offenbart: „Denn soll ich meine ganze Schwäche dir | Gestehen? – Nicht der Ruhm des Vaterlandes, | Nicht der erneute Glanz des Thrones, nicht | Der Völker Hochgefühl und Siegesfreude | Beschäftigt dieses schwache Herz. Es ist | Nur einer, der es ganz erfüllt, es hat | Nur Raum für dieses einzige Gefühl: | Er ist der Angebetete, ihm jauchzt das Volk, | Ihn segnet es, ihm streut es diese Blumen, | Er ist der Meine, der Geliebte ists.“ (V. 2675– 2684).

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Obgleich Johanna in dieser Szene mit ihrer drastischen, ans Paranoide grenzenden Scham-Reaktion indirekt alles preisgibt, hat dies keinerlei Folgen für den Handlungsverlauf, weil Agnes Sorel im weiteren Dramentext nicht mehr als sprechende Figur erscheint und jegliche Hinweise darauf, dass sie über das hier Erfahrene jemals mit einer anderen Person spricht, fehlen. Ihre dramaturgische Funktion besteht also allein darin, Katalysator für Johannas Affektausdruck zu sein, damit den Zuschauern offenbar wird, was in der Heldin vorgeht. Sie fungiert als eine in sich ruhende, das Paradigma der Empfindsamkeit repräsentierende weibliche Kontrastfigur, deren naive ‚Unschuld‘ und Zufriedenheit Johannas Scham ins Unermessliche steigert. Zugleich kommt der Begegnung die Funktion einer zweiten Peripetie zu, weil Agnes eigentlich auftritt, um Johanna zu ermuntern, aber das Gegenteil erreicht.54 Tribunal der zentripetalen Blicke In der hier sich offenbarenden Befindlichkeit, dem brennenden Wunsch, im Erdboden zu versinken, trifft Johanna auf ihren Vater. Diese Begegnung löst eine Art öffentliches Schuldtribunal aus: Die zuvor monologisch gestaltete innere Anklageszene wird durch eine äußere dupliziert und dadurch in die Sphäre des Realen überführt. Der die Krönungszeremonie einleitende große Festzug wird von Schiller als „grandioses Gemeinschaftserlebnis“55 inszeniert, aus dem nur Johanna emotional ausgeschlossen ist, wenngleich sie im Zug an prominenter Stelle – nach der hohen Geistlichkeit und direkt vor dem König – schreitet. Als eine „geknickte Allegorie des Sieges“56 trägt sie die einst glorifizierte Fahne nun mit „gesenktem Haupt und ungewissen Schritten“57 – nur die Zuschauer bemerken zunächst diese Wandlung. Der nunmehr endlich gekrönte König Karl VII. betont in seiner Rede, er verdanke sein Glück allein der Jungfrau und fordert sie auf: „[L] aß dich sehn in deiner Lichtgestalt, | Wie dich der Himmel sieht, daß wir anbetend | Im Staube dich verehren“ (V. 2967–2969). Karl wendet sich mit diesen pathetischen Worten an ihre einstige heroische Größe, was in harschem Kontrast zu ihrem akuten Selbstgefühl steht. Auf seinen Appell folgt „[e]in allgemeines Stillschweigen, jedes Auge ist auf die Jungfrau gerich54 Vgl. Aristoteles. Poetik. Griechisch u. deutsch. Übs. u. hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 35. 55 Juliane Vogel. Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der ‚großen Szene‘ in der Tragödie des 19. Jahrhunderts. Freiburg 2002, S. 120. 56 Ebd., S. 121. 57 Regieanweisung vor Sz. IV/6; Schiller 1981, S. 782.



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tet“ (in V. 2969) und in diesem ‚Augenblick‘ tritt Thibaut „aus der Menge und steht Johanna gerade gegenüber“ (vor V. 2970). In einer Regieanweisung erfährt man, dass der Vater schwarz gekleidet auftritt58 – eine signifikante Angabe, da Schillers Informationsvergabe über die Kleidung, insbesondere bei den Figuren niedrigen Standes, nur spärlich ist. Johannas Vater wird so deutlich mit der Figur des Schwarzen Ritters in Korrespondenz gebracht.59 Ferner wird Thibaut von ihr selbst mit Gott gleichgesetzt, wenn sie in dem Moment, als sie ihn in der Menge erblickt, aufschreit „Gott! Mein Vater“ (V. 2969). Die Bedeutung dieses Aufschreis wird durch die vorangegangenen Dialoge mit den Schwestern Johannas verstärkt, in denen der Signifikant ‚Vater‘ die herausragende Rolle spielt.60 Insgesamt zeigt sich ab dem vierten Akt eine ausgeprägte Furcht Johannas vor dem Urteil männlicher Autoritäten, die als Konglomerat aus leiblichem Vater, schwarzem Ritter und ‚Gottvater‘ eine vage, aber gleichwohl machtvolle patriarchale Instanz darstellt, wie sie Freud später als Über-Ich bestimmt und als unbewusste Struktur ins Innere der Psyche verlegt. Diese emotionale Interdependenz Johannas steht im krassen Widerspruch zum eigenen, zuvor demonstrativ vorgetragenen Autonomieanspruch. Thibaut – der als einziger sofort erkannt hat, dass mit seiner Tochter etwas nicht stimmt, als er sie beim Herausstürzen aus der Kirche beobachtet hat (vgl. Szene IV/8) –, stellt seine Tochter zur Rede. Er hinterfragt ihre Gottgesandtheit, unterstellt ihr „dreist[e] Lüge[n]“ und „Gaukelspiel“ (V. 2982) und fordert sie auf: „Antworte mir im Namen der Dreieinen, | Gehörst du zu den Heiligen und Reinen?“ (V. 2984 f.). Es folgt die vielsagende, präzisierende Bühnenanweisung: „Allgemeine Stille, alle Blicke sind auf sie gespannt, sie steht unbeweglich“ (nach V. 2985). Die ‚Gespanntheit‘ der von allen Seiten penetrierenden Blicke, die im Sinne der Schmitzschen Gefühlstheorie als ‚aggressive Vektoren‘ fungieren, ist für die Schamszene konstitutiv. Johanna verharrt in dieser Erstarrung. Den Nachfragen der Granden, die ihr helfen wollen, begegnet sie mit Stillschweigen. La Hire etwa fleht sie an, sie möge sich „[i]n edlem Zorn“ 58 Ebd., S. 784. 59 Auf die derart etablierte Korrespondenz zwischen Thibaut und dem schwarzen Ritter hat bereits Larkin hingewiesen; vgl. Larkin 2004, S. 205. 60 Vgl. ebd., S. 209 f. Stephanie Hammer bezeichnet Johannas Verhältnis zu ihrem Vater zu Recht als traumatisch und bemerkt, dass „the annihilating language of Thibaut d’Arc towards his daughter in the opening scene of The Maid of Orleans [...] suggests that she is leaving home to escape him as much as to fulfill her holy mission.“ Stephanie Hammer. Schiller’s Wound. The Theatre of Trauma from Crisis to Commodity. Detroit 2001, S. 17.

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(V. 3013) gegen diese „Verleumdung“ (V. 3012) erheben; „blick auf“, sagt er, „[b]eschäme, strafe den unwürdgen Zweifel, | Der deine heilge Tugend schmäht“ (V.  3013–3015) – und mit der Aufforderung, den (personifizierten) Zweifel zu ‚beschämen‘ oder zu ‚bestrafen‘ wählt er unwillkürlich genau das richtige Vokabular. Schließlich fragt der Erzbischoff sie explizit: „Schweigst du | Aus dem Gefühl der Unschuld oder Schuld? | Wenn dieses Donners Stimme für dich zeugt | So fasse dieses Kreuz und gib ein Zeichen!“ (V. 3026–3029). Ihre ausbleibenden Regungen, ihr Schweigen und der die Szene dramatisch untermalende Donner werden, obgleich keine eindeutigen Zeichen,61 als Erweis ihrer Schuld aufgefasst. Sie wird vom König verbannt. Er gewährt ihr aber die Gnade, die Stadt „ungekränkt“ (V. 3043) zu verlassen. Psychodynamisch ist die Annahme der falschen Anklage nicht nur als ‚tragische‘ Annahme von Schuld als einer ‚Notwendigkeit‘, sondern mehr noch als aktive, wenngleich sich nicht bewusst abspielende Transformation von Scham in Schuld zu deuten. Die unerträgliche Scham-Szene, der sich Johanna vor der Kathedrale ausgesetzt sieht, wird durch ihre nonverbale Zustimmung zum Schuldparadigma in Handlungskontexte überführt und so affektiv aufgelöst – wobei die Verbannung auch als eine aus Johannas Scham resultierende ‚Wunscherfüllung‘ lesbar ist, insofern sie sie aus der Gemeinschaft und den sie umzingelnden Blicken entfernt. Dabei ist bemerkenswert (wie schon näher ausgeführt), dass Verbannung oder Verstoßung, insbesondere, wenn sie nicht bloß temporär sind, kulturgeschichtlich und kulturtheoretisch eher als Schamsanktion denn als Schuldsanktion eingesetzt werden. Man kann dieses Faktum so deuten, dass die Anwesenden die für Johanna existenzielle Schamsituation unbewusst durchaus als solche perzipieren, weswegen es trotz öffentlicher verbaler Beschuldigung eben nicht zur Strafe oder Sühne einer Schuld, sondern unwillkürlich zu einer Schamsanktion kommt. De facto trifft die Schuldattribution den Kern ihres Gefühls ohnehin nur sehr peripher. Ihr Vater klagt nicht ihr erotisches Begehren an – von dem er ebenso wenig weiß, wie von ihren Schuldgefühlen aufgrund der Tötung zahlreicher Menschen –, sondern unterstellt ihr narzisstischen Größenwahn und behauptet, ihre Sendung sei bösen Ursprungs.62 Der Schulddiskurs, den die Autoritäten Vater, König und Erzbischof führen, 61 Vgl. Nikolas Immer. Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008, S. 398. 62 Er will, wie Anna Gutmann bemerkt, ihre Größe zerstören, um ihre Seele zu retten („Lebt ihre Seele nur, ihr Leib mag sterben“; V. 2845); vgl. Gutmann 1969, S. 579.



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trifft das Innere des Schuldgefühls Johannas nicht. Sie nimmt eine Schuld auf sich, die sie nicht hat. Diese tragische „Verwirrung“ (V. 3182), die nur auf der Ebene des Tragödienpersonals besteht, nicht aber auf der der (aufmerksamen und psychologisch geschulten) Zuschauer, wird bis zum Ende des Stücks nicht aufgelöst. Selbstbeschuldigung und Fremdbeschuldigung divergieren auf fatale Weise, was die ohnehin bestehende psychische Isolation der Protagonistin noch verstärkt. Sie wird ihre subjektive, für sie aber faktische ‚Sünde‘ im Verlauf des Stücks niemandem gestehen, auch nicht dem Vertrauten Raimond, der ihre Unschuld zu erkennen glaubt und mit dem sie in der Verbannung ein intimes Zwiegespräch führt. Diese ‚tragische‘ Diskrepanz hat die bisherige Schiller-Forschung übersehen; denn vor Dunois sagt Raimond nicht die ganze Wahrheit, wenn es über das Gespräch im Ardennerwald heißt: „Mir hat sie dort ihr Innerstes gebeichtet. | In Martern will ich sterben [...] | Wenn sie nicht rein ist, Herr, von aller Schuld!“ (V. 3304 f., 3307). Das, wovon Johanna am Ende freigesprochen wird, ist eben nicht der Treuebruch ihrer eigenen Sendung gegenüber, sondern die Anklage, eine Hexe und Zauberin zu sein. Schiller wählt in dieser Sequenz eine Fülle von Motivierungen und theatertechnischen Mitteln – nicht um die Zuschauer oder die Dramenfiguren zu verwirren, sondern um einen möglichst starken emotionalen Effekt zu erzielen. Dies verdeutlicht ein Selbstkommentar, in dem er nicht ohne Ironie formuliert: „Der Schluß des vorletzten Acts ist sehr theatralisch und der donnernde Deus ex machina wird seine Wirkung nicht verfehlen.“63 Die öffentliche Anklage seiner Protagonistin, begleitet von dramatisch ansteigendem Theaterdonner, spricht aufgrund der audiovisuellen Gewalt ihre Scham- und ihre Schuldgefühle zugleich an. Schiller kommt damit seiner eigenen Forderung an den „tragischen Künstler“ nach, der „gleichsam seinem Helden oder seinem Leser die ganze volle Ladung des Leidens geben [muß], weil es sonst immer problematisch bleibt, ob sein Widerstand gegen dasselbe eine Gemütshandlung, etwas Positives, und nicht vielmehr bloß etwas Negatives und ein Mangel ist.“64 Mit der Wahl der das Verhörgeschehen begleitenden Donnerschläge (als deus ex machina) greift Schiller auf ein tradiertes Gewissenssymbol

63 Brief Schillers an Johann Wolfgang v. Goethe vom 3.4.1801. Friedrich Schiller. Schillers Werke. Nationalausgabe 31. Hg. v. Stefan Ormanns. Weimar 1985, S. 27. 64 Friedrich Schiller: „Über das Pathetische“. Sämtliche Werke 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 9. Aufl. München 1993. 512–537, S. 513.

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zurück.65 Das Gewissen wird externalisiert, auf eine Naturgewalt projiziert und mit dem strafenden, alttestamentarischen Gott assoziiert. Es vollzieht sich so eine weitere, diesmal metaphysisch überhöhende Transformation: Die Gewissensanklage erfolgt nunmehr, nach der individuellen und der sozialen, auch auf einer dritten, einer göttlichen (und hierarchisch vertikalen) Ebene. Der Bedeutungszusammenhang von Donner und dem sich extern ‚artikulierenden‘ Gewissen wird dadurch verstärkt, dass Johanna bereits vor dem tatsächlich eintretenden Donner diesen wahrzunehmen meint: und zwar im Gotteshaus, das sie fluchtartig im Zustand der Paranoia verlässt – „Ich kann nicht bleiben – Geister jagen mich | Wie Donner schallen mir der Orgel Töne, | Des Doms Gewölbe stürzen auf mich ein, | Des freien Himmels Weite muß ich suchen!“ (V. 2854–2857). Es ist bezeichnend, dass sie aus dem Innenraum der Kathedrale flieht, weil dieser nicht nur für die Macht und Gebote Gottes steht, sondern auch für psychische Interiorität und ihr Gewissen. Johannas Vater, der sie (hier noch unerkannt) heimlich beobachtet, kommentiert die Szene entsprechend mit den drohenden Worten, „[b]leich stürzt sie aus der Kirche, | Es treibt die Angst sie aus dem Heiligtum, | Das ist das göttliche Gericht, das sich | An ihr verkündiget!“ (V. 2846–2849). Dass nicht nur Thibaut, sondern auch Johannas Freunde „mittelalterlich denken“66, wie Anna Gutmann treffend formuliert, und eben keine aufgeklärten Bürger sind, die grollenden Donner nicht als ein Gotteszeichen, sondern als bloßes Naturereignis, verstehen würden, wird der Heldin zum Verhängnis. Es zeigt sich an dieser Stelle einmal mehr, dass Schiller das Mittelalter als Austragungsort seiner ‚romantischen Tragödie‘ wählt, weil in diese Epoche eine Radikalität, Mythologie und Unhinterfragtheit der Affekte projiziert werden kann, wie sie in seiner eigenen Zeit nicht mehr glaubhaft darstellbar wäre. Verhüllung in Fahnen: Allegorisierung der Unschuld Schillers Tragödientheorie gemäß zeigt sich die „moralische Selbständigkeit im Leiden“ erst in der Erhebung über dasselbe: „[N]ur dann erweist sich die ganze Macht des Sittengesetzes, wenn es mit allen übrigen Naturkräften im Streit gezeigt wird und alle neben ihm ihre Gewalt über ein menschliches Herz verlieren. […] Je furchtbarer die Gegner, desto glorreicher der Sieg;

65 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner. Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a. M. 1991, S. 31–93. 66 Gutmann 1969, S. 580.



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der Widerstand allein kann die Kraft sichtbar machen.“67 Schiller orientiert sich an Kants juristischem Vokabular, um den finalen Triumph der Vernunft zu markieren. Diese hat die „höchste[] Gesetzgebung“ inne und muss daher in einem möglichst dramatischen inneren Kampf die Sinnlichkeit schließlich beherrschen.68 Dass der psychodynamische Prozess und seine Ästhetisierung letztlich doch komplexer sind, als Schillers eigene Theorie nahelegt, hat diese Analyse zu zeigen versucht. Johanna überwindet ihre moralische Schuld nach innerer Läuterung und Reue in den Ardennen. Der Vorgang ihrer inneren Wandlung wird jedoch nicht szenisch gestaltet, sondern bildet eine merkwürdige dramaturgische Leerstelle.69 Schiller würde diesen Umstand vermutlich mit seinem ästhetischen Theorem des „Erhabenen der Handlung“ begründen, wonach dieser innere Prozess nicht vermittelbar ist, sondern sich „bloß denken“ lässt, weil er auf „Succession“ beruhe und der Verstand nötig sei „das Leiden von einem freien Entschluss abzuleiten“70 oder weil die „moralische Kraft im Menschen“ streng genommen „keiner Darstellung fähig ist, da das Übersinnliche nie versinnlicht werden kann. Aber mittelbar kann sie durch sinnliche Zeichen dem Verstande vorgestellt werden“71. Völlig überzeugend sind diese (hypothetischen) Argumente aber nicht, vielmehr ist anzunehmen, dass die Leerstelle auf eine konzeptuelle Schwäche des

67 Schiller 1993, S. 364. 68 Ebd. 69 Keineswegs ist Franziska Ehinger zuzustimmen, die behauptet, „die Ausparung des erhabenen Umschwungs adelt Johannas Gefühl“, dies aber nicht zureichend begründet. Ehinger 2009, S. 89. 70 Friedrich Schiller. „Über das Pathetische“. Sämtliche Werke 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 9. Aufl. München 1993. 512–537, S. 527. 71 Friedrich Schiller: „Über Anmut und Würde“. Sämtliche Werke 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 9. Aufl. München 1993. 433-488. S. 475. „Gegen das Objekt, das ihn leiden macht, kann sich der Mensch mit Hülfe seines Verstandes und seiner Muskelkräfte wehren; gegen das Leiden selbst hat er keine andren Waffen als Ideen der Vernunft. | Diese müssen also in der Darstellung vorkommen oder durch sie erweckt werden, wo Pathos stattfinden soll. Nun sind aber Ideen im eigentlichen Sinn und positiv nicht darzustellen, weil ihnen nichts in der Anschauung entsprechen kann. Aber negativ und indirekt sind sie allerdings darzustellen, wenn in der Anschauung etwas gegeben wird, wozu wir die Bedingungen in der Natur vergebens aufsuchen. Jede Erscheinung, deren letzter Grund aus der Sinnenwelt nicht kann abgeleitet werden, ist eine indirekte Darstellung des Übersinnlichen.“ Schiller 1993, S. 518.

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Stücks hinweist, die in der mangelnden Motivation von Johannas Wandel besteht. In den Ardennen gerät Johanna in Gefangenschaft der Engländer und trifft erneut auf Lionel, was sie als „Prüfung“ (V. 3151) bezeichnet. Sie widersteht seinem Antrag, seine Frau zu werden. Ihre Antwort offenbart die idealistische Transformation, die sie durchlaufen hat, aber anscheinend eben nur ‚nachträglich‘ darstellbar ist: „Nicht lieben kann ich dich, doch wenn dein Herz | Sich zu mir neigt, so laß es Segen bringen | Für unsre Völker“ (V. 3351–3353) – im Klartext: er möge seine Truppen abziehen und den Krieg beenden. Johanna transzendiert den schuldbesetzten Eros im Dienste der Nation und damit auch ihre Verhaftung im Leiblichen (respektive: im Weiblichen). Aus eigener Kraft – nunmehr ohne göttlichen Beistand72 – sprengt sie ihre Ketten und wird, im Schlachtfeld für das Vaterland sterbend, zur Verkörperung des ‚ästhetisch Erhabenen‘.73 Im Schlussbild des Trauerspiels liegt die Jungfrau tödlich verwundet in den Armen des Herzogs von Burgund und des Königs. In einer momentanen Bezwingung des Todes richtet sie sich auf und bittet um ihre Fahne. Die Bühnenanweisung lautet: „Man reicht sie ihr. Sie steht ganz frei aufgerichtet, die Fahne in der Hand – Der Himmel ist von einem rosigten Schein beleuchtet“ (nach V. 3535). Ihr Abschiedsmonolog schließt mit den berühmten pathetischen Worten: „Wie wird mir – Leichte Wolken heben mich – | Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide. | Hinauf – hinauf – die Erde flieht zurück – | Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!“ (V. 3541–3544). Das Stück endet aber nicht mit diesen schönen Versen, sondern mit einem stummen Tableau: „Die Fahne entfällt ihr, sie sinkt tot darauf nieder – Alle stehen lange in sprachloser Rührung – Auf einen leisen Wink des Königs werden alle Fahnen sanft auf sie niedergelassen, daß sie ganz davon bedeckt wird“ (nach V. 3544). 72 „Gott! Gott! So sehr wirst du mich nicht verlassen!“ (V. 3449). Diese Eigenständigkeit ist für die Autonomie des Subjekts Schillers Auffassung des Erhabenen entsprechend zentral; durch das Zitat wird aber auch eine Christusmimesis evoziert, siehe dazu etwa Bernhard Greiner. „Das Theater als Ort der Präsentation ‚ganzer‘ Natur (‚Die Kraniche des Ibycus‘, ‚Die Jungfrau von Orleans‘)“. Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hg. v. Georg Braungart. Hamburg 2005. 191–205, S. 202. 73 Schiller kommentiert die sich im fünften Akt vollziehende Wandlung: „Weil meine Heldin darinn auf sich allein steht, und im Unglück, von den Göttern desertiert ist, so zeigt sich ihre Selbstständigkeit und ihr CharacterAnspruch auf die Prophetenrolle deutlicher.“ Brief Schillers an Johann Wolfgang v. Goethe vom 3.4.1801. Friedrich Schiller. Schillers Werke. Nationalausgabe 31. Hg. v. Stefan Ormanns. Weimar 1985, S. 27.



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Die Apotheose der Johanna von Orleans bewirkt zugleich eine Wiederaufnahme in die Gemeinschaft und eine symbolische Abtrennung von ihr für immer: Beide Vollzüge werden durch das Schlussbild dargestellt. Schwer verwundet, gehalten von den beiden Fürsten, figuriert sie als Opfer und als Allegorie der Versöhnung zweier verfeindeter ‚Brüder‘.74 Im Aufstehen, den Blick gen Himmel gerichtet, erhebt sich Johanna symbolisch noch über die Fürsten und steht allein. Die Szene korrespondiert ikonografisch mit einer Beschreibung Johannas durch Raimond zu Beginn des Stücks, in der sie ebenfalls als ‚herausragend‘, hier selbst aber einen göttlichem Blickpunkt einnehmend, beschrieben wird: „Oft seh ich ihr aus tiefem Tal mit stillem | Erstaunen zu, wenn sie auf hoher Trift | In Mitte ihrer Herde ragend steht, | Mit edlem Leibe, und den ernsten Blick | Herabsenkt auf der Erde kleine Länder“ (V. 73–77). Anfang und Ende des Stücks sind, wie sich auch an diesem Detail zeigt, komplementär.75 Der klassischen, an Schillers ästhetische Reflexionen anknüpfenden Deutung zufolge symbolisieren sie den von Johanna exemplarisch vollzogenen Weg des Menschen von ‚Arkadien‘ nach ‚Elysium‘.76 Die Bedeckung der ‚schönen Leiche‘ durch die Fahnen im Schlusstableau der Jungfrau von Orleans bezeichnet ihr Eingehen in den Nationalkörper: Eine naheliegende Lesart besagt, dass sie „buchstäblich vom Ruhm bedeckt“77 wird und ihre Fahne mit denen aller französischen Fürstentümer verschmilzt – eine „Versöhnung von Religion und Patriotismus“78, die die Einheit (und Reinheit) der Nation wieder herstellt und der Jung74 Der Erzbischoff bemerkt zu Karl und Burgund, dass alle Kriegstoten „Opfer“ (V. 1999) beziehungsweise „Früchte“ ihres „Bruderzwists“ (V. 2005) seien. Im Personenverzeichnis des Stücks wird aber auf kein Verwandtschaftsverhältnis hingewiesen; es handelt sich also um eine symbolische Überhöhung. 75 „Von meinem letzten Akt auguriere ich viel Gutes, er erklärt den ersten, und so beißt sich die Schlange in den Schwanz. Weil meine Heldin darin auf sich allein steht und im Unglück von den Göttern desertiert ist, so zeigt sich ihre Selbstständigkeit und ihr Charakteranspruch auf die Prophetenrolle deutlicher.“ Brief Schillers an Johann Wolfgang v. Goethe vom 3.4.1801. Friedrich Schiller. Schillers Werke. Nationalausgabe 31. Hg. v. Stefan Ormanns. Weimar 1985, S. 27. 76 Vgl. Gerhard Kaiser. Von Arkadien nach Elysium. Schiller-Studien. Göttingen 1978. Kaiser bezieht sich hier auf eine berühmte Formulierung Schillers zum Theorem der Idylle, die die Versöhnung von Ideal und Wirklichkeit zu leisten habe, indem sie den Menschen, „der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurückkann, bis nach Elysium führt.“ Schiller 1993, S. 750. 77 Sauder 1992, S. 372. 78 Peter-André Alt. Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers. München 2008, S. 105.

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frau ein Ehrenbegräbnis zusichert. Darüber hinaus aber wird durch diese Umhüllung des Körpers jener Entzug von Sichtbarkeit gestaltet, den sich Johanna während und nach der Begegnung mit Lionel so flehentlich gewünscht hat. Im Tod ruht sie in der Mitte der Ihrigen, ist aber den von allen Seiten ‚auf sie gespannten‘ Blicken nicht länger ausgesetzt. Die Verhüllung bezeichnet ihre finale Unbeschämbarkeit – die mit dem Tod erkauft wird. Denn Schiller verbirgt mit diesem heroischen Bild den Preis, den die Unterwerfung unter das kantische Sittengesetz erfordert.



Heinrich von Kleist: Die Familie Schroffenstein

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3.2  ‚Mittelalterliche‘ Affektkulturen II – Heinrich von Kleist: Die Familie Schroffenstein Schicksalsdrama, Zufallstragödie – oder Parodie? In Heinrich von Kleists erstem literarischen Werk, dem 1803 anonym publizierten „Trauerspiel in fünf Aufzügen“ Die Familie Schroffenstein steht kein individueller Held im Zentrum, sondern, wie bereits der Dramentitel impliziert, eine familiäre Konstellation.1 Doch ist im Titel schon das Kernproblem des Werkes zu erkennen: Zwar ist von einer Familie die Rede, faktisch geht es aber um zwei Familien, die zwar verwandt, aber trotzdem bis aufs Blut verfeindet sind. Archaische Scham- und Rachekonflikte männlicher Figuren stehen im Zentrum dieses im Mittelalter in Schwaben spielenden Stücks, in dem eine historische und lokale Präzisierung vermieden wird und dessen Thematik, Handlung und Personal auf Kleists Erfindung zurückgehen. Beide Familien dieser „erdichteten Feudalgesellschaft“2 wohnen auf Burgen; die Frauen sind häuslich, die Männer thematisieren beständig ihre ‚Ritterehre‘, das Volk ist höchst abergläubisch und wie die Familienoberhäupter zu Aggressionen jederzeit bereit. Einen Gegenpol zu dieser mittelalterlichen Typenwelt bilden die sensibel und modern wirkenden Kinder der beiden Häuser, die sich vergeblich aus diesem Szenarium wechselseitiger Beschämung und Aggression zu emanzipieren suchen. Kleists Trauerspiel wurde in der Forschung unter die verschiedensten tragischen Untergattungen rubriziert: Die Rede ist etwa von einer „Zufallstragödie“3, einer „Tragödie des Misstrauens, Tragödie der Erkenntnisnot“4, einer „Familientragödie“, die zugleich auch „Liebestragödie“ ist,5 oder von einem „Schicksalsdrama neuer Art“, dem nicht länger so etwas wie „das Walten

1 Eine frühere und weniger ausführliche Fassung dieser Analyse ist: Claudia Benthien. „Gesichtsverlust und Gewaltsamkeit. Zur Psychodynamik von Scham und Schuld in Kleists ‚Familie Schroffenstein‘“. Kleist-Jahrbuch (1999): 128–143. 2 Anthony Stephens. „Kleists Familienmodelle“. Kleist-Jahrbuch (1988/89): 222–237, S. 230. 3 Gerhard Fricke. Gefühl und Schicksal bei Heinrich von Kleist. Studien über den inneren Vorgang im Leben und Schaffen des Dichters. Berlin 1929, S. 55. 4 Gerhard Kluge. „Der Wandel der dramatischen Konzeption von der ‚Familie Ghonorez‘ zur ‚Familie Schroffenstein‘“. Kleists Dramen. Neue Interpretationen. Hg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1981. 52–72, S. 52. 5 Beda Allemann. Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell. Aus d. Nachlass hg. v. Eckhart Oehlenschläger. Bielefeld 2005, S. 58.

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eines Fatums im Sinne der antiken Tragödie supponier[t]“6 werden kann. Andererseits wurde betont, dass der „fatalistische Zug“ des Stücks eigentlich zu „vordergründig“ sei, um es überhaupt noch als Schicksalstragödie bezeichnen zu können.7 Dann wieder wurde es als „[t]ragische Variante der Teleologie“ interpretiert, als „Versuchsanordnung“, die mit theatralen Mitteln der Frage nachgeht, ob es möglich ist, sich einem System der Vorannahmen und einer Dynamik der Kausalität zu entziehen.8 Erwähnenswerte Korrespondenzen finden sich zum Drama des Sturm und Drang (dem auch für Die Braut von Messina wichtigen Schema der verfeindeten Brüder), zum Bürgerlichen Trauerspiel (Familienthematik, tragische Tötung des eigenen Kindes) sowie zur Tragödienform Shakespeares, insbesondere zu Romeo and Juliett und King Lear (häufige Schauplatzwechsel, Vermischung tragischer und komischer Elemente). Von Kleists Dramen weist Die Familie Schroffenstein überdies neben der Penthesilea die meisten intertextuellen Bezüge zu den Dramen Schillers (Don Carlos, Wallenstein) auf.9 Eine einheitliche gattungsspezifische Klassifizierung des Trauerspiels Die Familie Schroffenstein aber findet sich bis heute nicht. Und auch über die Frage, ob es sich überhaupt um ein ‚tragisches‘ Werk handelt oder nicht doch um eine Parodie desselben („an imitation of fashionable melodrama which drifts towards self-parody“10), wird bis heute in der Forschung kontrovers diskutiert.11 Als 6 Peter Michelsen. „Die Betrogenen des Rechtsgefühls. Zu Kleists ‚Die Familie Schroffenstein‘“. Kleist-Jahrbuch (1992): 64–80, S. 77. 7 Hinrich C. Seeba. „Der Sündenfall des Verdachts. Identitätskrise und Sprachskepsis in Kleists ‚Familie Schroffenstein‘“. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4.1 (1970): 64–100, S. 98. 8 Bernhard Greiner. Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum ‚Fall‘ der Kunst. Basel u. Tübingen 2000, S. 54 f. 9 Vgl. Werner Psaar. Schicksalsbegriff und Tragik bei Schiller und Kleist. Berlin 1940, S. 27; Donald H. Crosby. „The Creative Kinship of Schiller and Kleist“. Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 53 (1961): 255–264, S.  256; Hartmut Reinhardt. „Rechtsverwirrung und Verdachtspsychologie. Spuren der Schiller-Rezeption bei Heinrich von Kleist“. Kleist-Jahrbuch (1988/89): 198–218, S. 204–211; Helmut Koopmann. „Schiller und Kleist“. Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 50 (1990): 127–143, S. 136 f.; Johannes Endres. Das ‚depotenzierte‘ Subjekt. Zu Geschichte und Funktion des Komischen bei Heinrich von Kleist. Würzburg 1996, S. 107 u. 109 sowie, die Forschungspositionen resümierend: Claudia Benthien. [Art.] „Schiller“. Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Ingo Breuer. Stuttgart u. Weimar 2009. 219–227, S. 222. 10 Anthony Stephens. Heinrich von Kleist. The Dramas and Stories. Oxford/Prov. 1994, S. 9. 11 Für eine Parodie plädieren, insbesondere mit Blick auf die Konventionen der Affektdarstellung: Yixu Lü u. Anthony Stephens. „‚Gewaltig die Natur im Menschen‘.



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parodistisch wird insbesondere die ‚Lösung‘ des tragischen Konflikts im fünften Akt angesehen, die darin besteht, dass die verfeindeten Väter im blinden Rachewahn unerkannt ihre eigenen Kinder töten. Diesbezüglich wird oft auf eine Anekdote rekurriert, wonach Kleist das Stück im Kreise einiger Freunde vorlas und „im letzten Akt das allseitige Gelächter der Zuhörerschaft, wie auch des Dichters, so stürmisch und endlos [ward], daß bis zu seiner letzten Mordszene zu gelangen Unmöglichkeit wurde.“12 Zwar ist es unbestreitbar, dass Kleists Erstling einige groteske Merkwürdigkeiten aufweist – zum Beispiel einen abgeschnittenen Kinderfinger, der am Schluss, nachdem er bereits in einem Kessel gekocht wurde, auf die Bühne geworfen wird –, gleichwohl finden sich eine Reihe von Handlungssegmenten, Figurencharakteristika und Leitmotiven, die eine Untersuchung im Kontext von Scham- und Schuldtheorien äußerst lohnend erscheinen lassen. Es sind gerade diese Elemente, die – ob nun gewollt oder nicht – tragödientheoretische Topoi aufweisen. Kollision historischer Ehrkonzepte: Blutrache, Fehde, Duell Die Ehre einer Person lässt sich nach Schmitz als ein Seinszustand potentieller „Beschämbarkeit“, aber aktueller „Unbeschämtheit“ beschreiben: Richtig muß Ehre meiner Auffassung nach als Beschämbarkeit, verbunden mit Unbeschämtheit, verstanden werden, wobei aber die folgenden näheren Bestimmungen im Auge zu halten sind: Beschämung ist hier nicht als Ergriffenheit von Scham gemeint – auch der Schamlose, Schamunfähige kann ehrlos sein –, sondern als die Eigenschaft, Verdichtungsbereich einer Scham zu sein [...]. Auch ist nicht jeder ehrlos, der sich schämt, denn Ehre ist ein sozialer, auf eine Rechtskultur bezogener Zustand, und es kommt darauf an, welche Schamtypen darin als für Ehre relevant anerkannt sind. Ferner kann die Ehre, gleichfalls nach Maßgabe der jeweils in Betracht gezogenen Rechtskultur, je nach dem Überschreiten von Intensitätsschwellen der Scham mehr oder weniger in Mitleidenschaft gezogen sein; ebenso können sich Sonderehren bestimmter Personenkreise herausbilden.13

Insofern die gesellschaftlichen Kategorien von Recht und Moral wesentlich auf der „Autorität von Gefühlen“ beruhen, ist ein Ehrverlust Schmitz’ phänomenologischer Beschreibung zufolge, „Aussetzung an Scham als Affekte und Reflexivität der Sprache in Kleists vollendeten Trauerspielen“. KleistJahrbuch (2008/09): 214–231, S. 220. 12 Helmut Semdner (Hg.). Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Bremen 1957, Nr. 66. 13 Hermann Schmitz. Der unerschöpfliche Gegenstand. 2. Aufl. Bonn 1995, S. 343.

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durchbohrende Atmosphäre“.14 Dieser passivierende Zustand kann „durch Vertauschung der Scham mit Zorn und der von diesem vorgezeichneten Rache“ abgewendet werden, so ein gängiges Affektschema insbesondere personaler Konflikte: „Vielfach wird die Abwendung der Scham durch die vom Zorn vorgezeichnete Reaktion zum rituellen Zweikampf auf Leben und Tod hochstilisiert.“15 Es sind derartige Versuche der Wiederherstellung verletzter Ehre mittels Fehde und Blutrache, die den Handlungsgang der Familie Schroffenstein leiten. Der recht frei gestaltete mittelalterliche, germanisch-heidnische Ehrbegriff, mit dem Kleist in seinem Stück operiert, ist psychodynamisch eng an die Problematik der Scham und des symbolischen Gesichtsverlusts geknüpft. Eine Scham-Schuld-Zyklizität aufweisend führt entehrende Beschämung zu physischer Gewalt, die ihrerseits wiederum Scham auslöst. Die so entstehende Wechselseitigkeit der beiden Affekte Scham (als Reaktion auf Ehrverlust, Selbstschädigung) und Schuld (als Reaktion auf eigene Aggression, Schädigung des Anderen) lässt sich in Bezug zur parallelen Architektonik des Stücks setzen, zur symmetrischen Regularität von Figurenkonstellation und Handlungschronologie dieses ‚Familienduells‘. Denn genau wie die beiden Affekte sich mehrfach ablösen, wechseln auch die Schicksalsschläge zwischen den Schroffensteinern zu Rossitz und denen zu Warwand. In beiden Familien ist zu Beginn ein kleiner Sohn verstorben, ein zweites Kind starb in beiden Häusern schon zuvor. Der Tod wird jeweils der anderen Seite angelastet, sei es als Mordanschlag mit Waffen, als versuchter Giftmord oder als heimliche Erdrosselung. In der einen wie der anderen Familie werden im Laufe des Stücks zudem Ritter beim Überbringen einer Nachricht der Gegenseite brutal vom Volk gelyncht, das ‚Heroldsrecht‘ und damit die Ehre der Grafen missachtend. Beide Väter planen unabhängig voneinander schließlich den Mord an dem jeweils letzten Erben des Gegners. Das Prinzip des ‚Zahn um Zahn‘, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, ist in einem derart blind aufeinander bezogenen, polaren System problematisch, insbesondere wenn, wie es hier der Fall ist, der mythische Anfang, die alles initiierende Tat nicht definiert werden kann. So wird – ganz ähnlich wie in Schillers Die Braut von Messina – der „Haß, der die zwei Stämme trennt,“ von dem Dramenpersonal selbst als 14 Ebd, S. 341. 15 Ebd; die sich steigernde Dynamik des Zorns und der Rache hat Schmitz in seiner Phänomenologie des Rechts sogar explizit anhand von Kleists Familie Schroffenstein erläutert; vgl. Hermann Schmitz. System der Philosophie III.3: Der Rechtsraum. Bonn 1973, S. 26, Anm. 86.



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eigentlich „grundlos“ angesehen, insofern er nicht auf Tatsachen, sondern nur auf „Mißtraun“ beruht (V. 1647–165016). Äußere Ursache der Feindschaft zwischen den Häusern ist ein Erbvertrag, den der Kirchenvogt zu Rossitz in der Exposition leitmotivisch mit dem Apfel des Paradieses analogisiert17 – er allein habe den ‚Sündenfall des Verdachts‘ ausgelöst. Der Volksmund glaubt, es sei die Verführbarkeit durch eine mögliche Erweiterung des eigenen Grundbesitzes, welche Zweifel, Missgunst und konstante Verdächtigungen initiiert habe. Und auch viele Mitglieder der beiden Familien sind dieser Ansicht. In Anbetracht der gigantischen affektiven Energie jedoch, mit der die Familien einander bekämpfen, erscheint das Motiv des Erbvertrags, welcher zivilrechtlich gesehen eigentlich „wenig Merkwürdiges“ aufweist und „juristisch unauffällig[]“18 ist, eher als Rationalisierungsversuch der aggressiven Triebkräfte. Der Vertrag, „[k]raft dessen nach dem gänzlichen Aussterben | Des einen Stamms, der gänzliche Besitztum | Desselben an den anderen fallen sollte“ (V. 180–182), basiert lediglich auf der rechtmäßigen Erbfolge: Die Grafen Rupert und Sylvester von Schroffenstein sind „Vettern“19 – beim 16 Zitiert wird mit Versangabe aus der Ausgabe: Heinrich von Kleist. „Die Familie Schroffenstein. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen“. Sämtliche Werke und Briefe 1. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. München 1987. 49–152. 17 „Ei, Herr, der Erbvertrag gehört zur Sache. | Denn das ist just als sagtest du, der Apfel | Gehöre nicht zum Sündenfall“ (V. 184–186). 18 Joachim Bohnert. „Positivität des Rechts und Konflikt bei Kleist“. Kleist-Jahrbuch (1985): 39–55, S. 43. Bohnert befasst sich als Jurist mit Kleist und argumentiert in seinem Beitrag, dass die Bedeutung des Erbvertrags für das Drama „oft übertrieben“ wurde; ebd. 19 Sylvester bezeichnet Rupert als seinen ‚Vetter‘ (V. 634), ebenso bezeichnet Rupert Sylvester (V. 1707). Der Begriff umfasst allerdings in Kleists Zeit noch ein weiteres Spektrum an Verwandtschaftsbeziehungen als heute, wo er nur für den Sohn eines Onkels oder einer Tante gebräuchlich ist, war er doch seinerzeit auf sämtliche männlichen Verwandten übertragbar; vgl. Anke Vogel. ‚Un‘ordentliche Familien. Über einige Dramen Kleists. Heilbronn 1996, S. 43, Anm. 21. Doch auch Jeronimus wird als „Vetter“ (V. 2035) Ruperts bezeichnet. Insofern ist die verwandtschaftliche Relation zwischen Rupert, Sylvester und Jeronimus keineswegs so eindeutig, wie es zunächst scheint; auch das Personenverzeichnis gibt diesbezüglich keine Auskünfte. Louis Gerrekens hat dieser Umstand dazu bewogen, Rupert und Sylvester als „Halbbrüder“ zu bezeichnen und die recht fragwürdige, da nicht durch den Text gestützte Hypothese zu entwickeln, Sylvius, der Vater Sylvesters, sei aufgrund eines Inzest mit seiner Schwester sowohl Vater als auch Onkel Ruperts; vgl. Louis Gerrekens. Nun bist du ein verschloßner Brief. Wörtlichkeit und Bildlichkeit in Heinrich von Kleists ‚Käthchen von Heilbronn‘ und ‚Familie Schroffenstein‘. Frankfurt a. M. u. a. 1988, S. 146. Ingeborg Harms nennt die beiden Grafen gar „Brüder“, ohne dies aber am

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Aussterben der einen Familie würde der Besitz der anderen ohnehin zufallen.20 Der von Wolf Kittler und Anke Vogel formulierten Auffassung, wonach mit ‚Stamm‘ nur ein männlicher Nachfolger gemeint ist und somit der Erbvertrag die männliche Deszendenz privilegiert, wie es das zur Zeit Kleists gültige, 1794 erlassene Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (I 18 § 390) festlegt,21 stimme ich nicht zu, denn ‚Stamm‘ steht an der zitierten Stelle eindeutig für ‚Geschlecht‘ bzw. ‚Familie‘. Sollte die benannte zeitgenössische Rechtsauffassung von Kleist impliziert sein, wäre der Erbvertrag bereits zu Beginn des Stücks überhaupt kein Streitgrund mehr, insofern Sylvester ja nur noch eine Tochter hat und somit der Besitz der Grafschaft Warwand automatisch nach seinem Tod und dem seiner Gattin an die Grafschaft Rossitz überginge (sofern beide nicht noch einen Sohn zeugten, was aber aufgrund von Eustaches Alter, wie nahegelegt wird, nicht möglich ist). Ein solcher Automatismus des künftigen Übergehens der Warwandschen Güter an das Haus Rossitz aufgrund des bestehenden Erbvertrags wird aber weder im Text benannt noch anhand der affektiven Reaktionen der Eltern auf die der dargestellten Handlung unmittelbar vorangegangenen Tode der Söhne Peter (aus Rossitz) und Philipp (aus Warwand) verdeutlicht. Demnach ist die These der im Erbvertrag festgelegten Privilegierung männlicher Deszendenz unzutreffend. Es ist also nicht der Vertrag selbst, welcher Anlass für Mord und Totschlag unter den Schroffensteinern bietet, sondern er dient nur als Projektionsfläche für die archaische Angst vor dem Ende der eigenen Genealogie – oder, mit Georges Bataille gesprochen, vor dem finalen Verbleiben in Diskontinuität.22

Text zu belegen; Ingeborg Harms. Zwei Spiele um Trauer und Lust. ‚Die Familie Schroffenstein‘ und ‚Der zerbrochene Krug‘. München 1990, S. 42. Anke Vogel, die sich intensiv mit der Familienstruktur des Dramas befasst hat, hält Gerrekens These vom Inzest in der Großelterngeneration ebenfalls für „kaum tragfähig[]“. Vogel 1996, S. 43, Anm. 21. 20 Vgl. Bohnert 1985, S. 43. Eben dieses ‚natürliche‘ Erbschema wird zum Beispiel in der Penthesilea explizit benannt, wo es über den (allerdings ausschließlich aus Frauen bestehenden) Amazonenstaat heißt, „denn ohne Erben | War, wenn sie starb, der Thron und eines andern | Ehrgeizgen Nebenstammes Augenmerk –“ (V. 2134–2136). 21 Wolf Kittler. Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege. Freiburg 1987, S. 40 u. 44; Vogel 1996, S. 43, 45, 50 u. 72. 22 Vgl. Georges Bataille. Der heilige Eros. Hg. u. übs. v. Max Hölzer. Neuwied u. Berlin 1963, S. 13.



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Das Drama wird mit einem blasphemischen Racheschwur der Rossitzer eröffnet, mit dem diese beim Abendmahl die Vernichtung des „Mörderhaus[es] Sylvester[]“ (V. 34) auf die Hostie schwören – und somit das christliche ‚Fest der Liebe‘ in ein brachiales ‚Ritual des Hasses‘ transformieren.23 Sylvester wird beschuldigt, die Ermordung von Ruperts kleinem Sohn Peter veranlasst zu haben, als dieser unbeaufsichtigt im Gebirge spielte. Rupert selbst traf die Warwander Ritter bei dem Leichnam an, tötete den einen sofort und schleifte den anderen auf die Folter. Im Getümmel des aufgebrachten Volkes bleibt auf dem Rossitzer Marktplatz vom „Brüllen“ (V. 230) des angeblich geständigen, dann aber zu Tode gemarterten Ritters nur ein Wort hängen: „Sylvester“. Dieses „eine Wort“24 (V. 232) ist Rupert Anlass genug, den Warwandern die Fehde antragen zu lassen, durch die Sylvester überbrachte Ankündigung, ihm „dürste | Nach sein und seines Kindes Blute“ (V. 93 f.). Es handelt sich hierbei um die förmliche ‚Verklarung‘ der Fehde, die eine Rachetötung ankündigt.25 In der Familie Schroffenstein fehlt nicht nur ein Gesetzgeber oder eine gesetzlich geregelte Ordnung, es fehlt auch jede übergeordnete, richtende Instanz, die in den Konflikt der zwei Häuser eingreifen könnte, wie Kleist sie in anderen Texten, etwa in Das Käthchen von Heilbronn oder Der Zweikampf, sehr wohl einsetzt. Der Kaiser wird nur an einer Stelle erwähnt (vgl. V. 1678) und tritt weder als Figur im Hintergrund noch als agierender Machthaber in Erscheinung. „Keine Regelung von außen schränkt die Macht der beiden Väter ein, so daß nichts einer Verabsolutierung des Verdachts und der Aggression im Wege steht.“26 Strukturell muss man die Forderung Ruperts an Sylvester daher – auch wenn dies der historischen Situierung des Stücks zufolge, wie oft bei Kleist, anachronistisch anmutet und die Figuren explizit und wiederholt den Begriff „Fehde“ verwenden (z. B. V. 82, 102, 741, 1137, 1374) – eher dem säkularen Duell, als einem

23 Vgl. Ingeborg Harms. „‚Wie fliegender Sommer‘. Eine Untersuchung der ‚Höhlenszene‘ in Heinrich von Kleists ‚Familie Schroffenstein‘“. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft (1984): 270–314, S. 276. 24 Zur Problematik des ‚einen Wortes‘ bei Kleist vgl.: Walter Müller-Seidel. Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist. Köln und Wien 1971. 58–61. 25 Vgl. Eberhard Schmidt. Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. 3. Aufl. Göttingen 1965, S. 23 f. 26 Anthony Stephens. „Verzerrungen im Spiegel. Das Narziß-Motiv bei Heinrich von Kleist“. Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall. Hg. v. Gerhard Neumann. Freiburg 1994. 249–97, S. 271.

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privat ausgetragenen, nicht sozial überwachten Ehrenhandel zuordnen.27 Aber auch diese neuzeitliche Rechtspraxis wird nur anzitiert, insofern die Kontrahenten selbst kein einziges Mal gegeneinander in einem Zweikampf antreten, ja erst im letzten Akt überhaupt aufeinander treffen. Das für das Stück zentrale Handlungselement der Fehde war im hohen Mittelalter ein zwar praktiziertes aber dennoch problematisches Mittel zur aggressiven Durchsetzung von Rechtsansprüchen, bis hin zur Blutrache (Rache für ein Tötungsdelikt).28 Diese prekäre Form gewaltsamer Selbstjustiz von Einzelpersonen, Familien oder Sippen wurde in den Landfrieden des 12. und 13. Jahrhunderts nur als subsidiäres Rechtsmittel anerkannt – es bleibt aber unklar, ob Kleists Stück nicht in einem noch früheren Jahrhundert spielt. Im „archaischen Sinn“ ist die rächende Fehde Wiedervergeltung und „Rechtsgewähr“, denn „nach archaischer Auffassung darf, ja muß der Verletzte Rache üben“.29 Die auf eine Tötung reagierende Blutrache bezweckt zuförderst eine „Demütigung des Gegners und seiner Sippe“30. In der Familie Schroffenstein wird an keiner Stelle darauf hingewiesen, dass Rupert zunächst Alternativen zu seiner Fehdeerklärung sucht. Daher handelt es sich um ein selbst nach mittelalterlichen Maßstäben unrechtmäßiges Vorgehen. Ähnlich wie in Michael Kohlhaas wird von Kleist zwar auch hier ein ganzes „Arsenal[] von fehderechtlichen Vorstellungen“31 aufgefahren, aber trotzdem keine gültige Fehde durchexerziert. Nicht nur ist das Verhalten der Fehdegegner selbst in einigen Situationen durchaus fragwürdig, sondern auch das des ihnen zugehörigen Volkes, da etwa die kollektive Tötung der beiden ‚Herolde‘ dem Kodex der Fehde zutiefst widerspricht. In der Familie Schroffenstein werden unterschiedliche Formen der Ehre und des Ehrverlustes thematisiert, und dies auf allen Standesebenen. So 27 Vgl. Dietrich Schwanitz. „Das Duell als Drama. Zur Codierung der Ehre zwischen literarischer Verklärung der Noblesse und sozialer Selbststilisierung der Stände“. Ehre. Archaische Momente in der Moderne. Hg. v. Ludgera Vogt u. Arnold Zingerle. Frankfurt a. M. 1994. 270–90, S. 272. Zu den „Anachronismen und Schiefheiten“ bei Kleist, was Fragen des Duells und des Zweikampfs, aber auch des MittelalterBildes insgesamt angeht, vgl.: Jan-Dirk Müller. „Kleists Mittelalter-Phantasma. Zur Erzählung ‚Der Zweikampf‘“. Kleist-Jahrbuch (1998): 2–21, S. 5. 28 Vgl. Tilo Renz. Von Leib und Leben. Wissen von Geschlecht, Körper und Recht im Nibelungenlied. Dissertationsmanuskript. Berlin 2009, S. 147. 29 Bohnert 1985, S. 52. 30 Schmidt 1965, S. 24. 31 Hartmut Boockmann. „Mittelalterliches Recht bei Kleist. Ein Beitrag zum Verständnis des ‚Michael Kohlhaas‘. Kleist-Jahrbuch (1985): 84–108, S. 100..



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spricht der mit beiden Grafenhäusern verwandte Jeronimus von Schroffenstein zu Wyk davon, dass ihm seine „Ritterehre“ (V. 124) mehr wert sei, als seine Liebe zur jungen Agnes von Schroffenstein zu Warwand, die er zu dem Zeitpunkt noch zu heiraten beabsichtigt, ja, dass ihm eher „die Henkershand das Wappen [zerbräche]“ (V. 380), als dass er „je mit Mördern [s]ich verschwägre“ (V. 379). Die Existenz eines – nicht präzise bestimmbaren – ritterlichen Ehrenkodex‘ wird auch deutlich, wenn Sylvester bereit ist, Rupert „jede | Genugtuung“ (V. 1777 f.) für den Lynchmord an dem Rossitzer Herold zu geben, sollte dieser sie einfordern. Anstatt aber sich auf den (anachronistischen, da frühneuzeitlichen) Ehrenkodex des Duells zu beziehen, auf den der Begriff der ‚Genugtuung‘ ja rekurriert und wonach Rupert gegen Sylvester zu einem face-to-face-Zweikampf anzutreten hätte, wird der als Überbringer einer Nachricht Sylvesters deklarierte Bote von Ruperts Untergebenen auf dessen heimliche Anweisung hin hinterrücks ermordet (vgl. V. 1784–1819). Deutlich wird anhand dieser Beispiele, inwieweit das, was die männlichen Protagonisten als ihre ‚Ehre‘ bezeichnen, ein zerbrechliches Gut ist: keine selbstverständliche, ständische Eigenschaft, sondern eher ein personales Attribut, das somit zum einen ständig thematisiert werden muss und zum anderen verloren gehen kann. Auch dies ist ein Anachronismus, denn eine solcherart an das Individuum gebundene Form der Ehre findet sich in der Ständegesellschaft des Mittelalters noch nicht, sondern erst in den neuzeitlichen Gesellschaftstypen. Eine damit im Zusammenhang stehende weitere Konfrontation mittelalterlicher und neuzeitlicher Mentalitäten besteht in der Unterscheidung zwischen einer Feindschaft der Clans, wie sie Rupert einfordert (vgl. V.  32–34), und einer Auseinandersetzung zwischen Individuen, wie es dem Verständnis Sylvesters und auch seiner Tochter Agnes (vgl. V. 1367– 1371) entspricht.32 Hier ist ein in Kapitel 2.1 ausgeführter Gegensatz von Scham- und Schuldkulturen in Erinnerung zu rufen, wonach der Sozialtypus und auch das Selbstkonzept in Schamkulturen als kontextuell und interdependent, das heißt auf die Familie oder den Clan bezogen, gefasst werden, in Schuldkulturen hingegen als independent und primär auf das Individuum selbst bezogen. Ersteres lässt sich auf das eher ‚mittelalterliche‘ Haus Ruperts übertragen, letzteres auf das eher ‚neuzeitliche‘ Haus Sylvesters. Wie Vogel zu Recht bemerkt hat, umfasst Ruperts Familie die gesamte Hausgemeinschaft – das Rossitzer „Kollektiv“ wird von Kleist

32 Vgl. Vogel 1996, S. 65, Anm. 38.

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als ‚ganzes Haus‘33 vorgestellt, „sowohl hinsichtlich der personalen Ausstattung als auch der herausragenden Position des Familienoberhaupts“ –; Sylvesters Familie hingegen wird „als Addition einzelner, sich in Zuneigung zugetaner Individuen“ eingeführt, als eine Art Präfiguration der bürgerlichen Kleinfamilie.34 Auch dieser Unterschied der auf den ersten Blick so symmetrisch konstruierten Familien ist signifikant, weil er mit je unterschiedlichen Gesellschaftstypen und Affektkulturen korrespondiert. Dem Konzept der (äußerlichen) Ehre kommt in Schamkulturen besonders hohe Bedeutung zu, während Schuldkulturen eher auf das Innere des Individuums und dessen Selbstachtung ausgerichtet sind – was, wie sich noch zeigen wird, auf die Antagonisten ebenfalls zutrifft. Kleists Trauerspiel setzt also den Gegensatz von Scham- und Schuldkultur als clash of cultures, personifiziert durch zwei mittelalterliche Grafen, in Szene. Die Evidenz des ‚Rechtgefühls‘ Kleists Protagonisten berufen sich vielfach auf ein ihr Verhalten leitendes ‚Rechtgefühl‘ – und dies nicht nur in der Erzählung Michael Kohlhaas, über deren Titelfigur es in einer berühmten Formulierung heißt, „[d]as Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder“35. Bereits in Kleists erstem Werk, Die Familie Schroffenstein, gibt es viele Verweise auf dieses intuitive – und darin auch höchst subjektive – Bewusstsein von Recht und Unrecht, Schuld und Unschuld. Auf das ‚Rechtgefühl‘, was von Kleist ohne Genitiv-‚s‘ geschrieben wird, und somit nicht nur auf ‚das Recht‘, sondern auch auf das Adjektiv ‚recht‘, ‚richtig‘ verweist, berufen sich insbesondere jene Figuren, die im Verlauf des Stücks tatsächlich das richtige Gefühl für Schuld und Unschuld entwickeln, nämlich Jeronimus und Eustache. Kleist selbst erachtet das subjektiv gefühlte ‚Recht‘ an sich als problematisch, auch wenn es in seinen Werken meistens die positiven Figuren sind, die sich darauf berufen. So heißt es in einer diesbezüglich einschlä33 Dieser Begriff war um 1800 für die erweitere aristokratische Familie üblich, zu der neben den eigentlichen Familienmitgliedern auch Haushalt und Betrieb zählten; vgl. Stephens 1994c, S. 15, Stellenkommentar zu: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe 1: Dramen 1802–1807. Unter Mitw. v. Hand Rudolf Barth hg. v. Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba. Frankfurt a. M. 1991, S. 604; Otto Brunner. „Das ‚ganze Haus‘ und die alteuropäische ‚Ökonomik‘“. Neue Wege der Verfassungsund Sozialgeschichte. 2. verm. Aufl. Göttingen 1968. 103–27. 34 Vogel 1996, S. 65; vgl. auch S. 66 u. 69. 35 Heinrich von Kleist. „Michael Kohlhaas“. Sämtliche Werke und Briefe 2. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. München 1987. 9–103, S. 9.



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gigen Briefstelle des Autors: „Man sage nicht, daß eine Stimme im Innern uns heimlich und deutlich anvertraue, was recht sei. Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinem Feinde zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten, und mit Andacht ißt er ihn auf – Wenn die Überzeugung solche Taten rechtfertigen kann, darf man ihr trauen?“36 Dass es Kleist bei dieser Bemerkung insbesondere um eine Infragestellung der Superiorität christlicher Moral geht, wird anhand eines zweiten Zitats deutlich, in dem er, ähnlich wie zuvor argumentierend, die „Gebräuche der Religion“ und die damit verbundenen emotionalen Dispositionen zu relativieren sucht: „Denn mit demselben Gefühle, mit welchem Du bei dem Abendmahle das Brot nimmst aus der Hand des Priesters, mit demselben Gefühle, sage ich, erwürgt der Mexikaner vor dem Altere seinen Götzen.“37 Diese kulturkritischen Bemerkungen stellen die vermeintlich sublime christliche Religion – die ja auf dem archaischen Brauch des ‚Gott-Essens‘ beruht – und den archaischen ‚Götzenkult‘ auf provozierende Weise gleich. Sie legen nahe, dass auch dem moralischen Gefühl des Christen nicht immer zu vertrauen ist, und zwar insbesondere, wenn er sich bei seinen Handlungen auf die Religion bezieht. In Kleists Dramen findet sich gleichwohl eine „Unbedingtheit des Rechtgefühls“, wie Walter Müller-Seidel bemerkt, und der betont, „daß damit weit mehr gemeint ist als das bloß Juristische im Sinne der Rechtsmittel und Gesetze“; vielmehr gehe es „offenbar um eine letzte, unveräußerliche Substanz des Einzelnen, um das Recht, so zu leben, wie es Menschenrecht und Menschenwürde zukommt“.38 Anders sieht dies Ingeborg Harms, die recht pauschal bemerkt: „Die Dramengestalten berufen sich mehrfach auf ihr Rechtsgefühl, das sie ebenso oft täuscht. Ihre Meinung, im Gefühl einen unfehlbaren Wahrheitsinstinkt zu besitzen, erweist sich im Verlauf der Dramenhandlung als Ideologie und das Rechtsgefühl als eine abgeleitete Regung.“39 Eine differenziertere Haltung nimmt Peter Michelsen ein, der unter Berufung auf ein Zitat aus einem Entwurf der früheren Stückfassung – Antonio (der spätere Jeronimus) bemerkt in Die 36 Brief Kleists an Wilhelmine von Zenge vom 15.8.1801. Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe 2. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. München 1987, S. 683. 37 Beilage vom 16.9.1800 zu Kleists Brief an Wilhelmine von Zenge v. 13.–18.9.1800. Ebd., S. 316 f. (in dieser Ausgabe unter ‚Kleine Schriften zur Kunst- und Weltbetrachtung‘ rubiziert und trotz des Fragment-Charaktes des Aufsatzes mit der Überschrift „Über die Aufklärung des Weibes“ betitelt). 38 Müller-Seidel 1967, S. 70. 39 Harms 1984, S. 275, Anm. 39.

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Familie Ghonorez, sein Eifer sei „[n]ur der Betrogene des Rechtgefühls“40 gewesen – die These entwickelt, alle Hauptpersonen des Trauerspiels Die Familie Schroffenstein seien solche ‚Betrogenen‘.41 Michelsen bemerkt weiterhin, dass der Begriff im Verlauf des Stücks eine Bedeutungsverlagerung zu einer nur „noch im Burg des Inneren eingeschlossenen Größe“42 hin durchmache (was allerdings nicht am Text belegt wird) und leitet daraus das Fazit ab, auf ein ‚inneres Gefühl‘ könne sich nun mal kein „objektives oder inter-subjektiv geltendes ‚Recht‘“43 gründen lassen. Trotz dieser Einwände ist es unzutreffend, das ‚Rechtgefühl‘ in Kleists Trauerspiel durchweg als trügerisch anzusehen und davon auszugehen, dass alle Figuren, die sich darauf berufen, bloßer Selbsttäuschung und Hybris unterliegen. Denn es ergeben sich durchaus Differenzierungen. Jeronimus ist zu Beginn des Stücks, bevor er vom Kirchenvogt die jüngsten Geschehnisse um den Tod von Ruperts Sohn Peter im Detail erfährt, zunächst von Sylvesters Unschuld überzeugt und will sich für dessen ungescholtenen Ruf sogar kriegerisch einsetzen: „Ich spreng auf alle Schlösser im Gebirg, | Empöre jedes Herz, bewaffne, wo | Ichs finde, das Gefühl des Rechts, den frech | Verleumdeten zu rächen“ (V. 139–142). Beeinflusst vom Bericht des Rossitzer Kirchenvogts, den Einstellungen von Ruperts Sohn Ottokar – der ebenfalls auf sein „Rechtgefühl“ verweist (V. 147 f.) – und dem Hass Ruperts zweifelt er an Sylvesters Unschuld, hält ihn nun doch für den Mörder an dem kleinen Peter. Er reitet nach Warwand und sagt Sylvester die schmählichen Worte ins Gesicht: „Schurke! | Ich will dich meiden [...]. | Denn hier in deiner Nähe stinkt es, wie | Bei Mördern“ (V. 680–683) ins Gesicht. Daraufhin fällt Sylvester in Ohnmacht. Ohnmachten sind in Kleists Werken wichtige nonverbale Gebärden; sie werden als „physische Reaktion auf eine äußerste Unbegreiflichkeit“44 eingesetzt und signalisieren das Aussetzen des Bewußtseins, das einen existenziellen Widerspruch – in diesem Fall: zwischen dem Wissen der Unschuld und der Tatsache der Beschuldigung – nicht aushalten kann. Sie sind Zeichen von Schwäche und Stärke zugleich: „of a strength through weakness“45. 40 Heinrich von Kleist. „Die Familie Ghonorez“. Sämtliche Werke und Briefe 1. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. München 1987. 723–834, S. 829; das Zitat stammt aus den „im Manuskript gestrichenen Vorstufen“. 41 Vgl. Michelsen 1992, S. 69. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 71. 44 Stellenkommentar zu: Kleist 1991, Bd. 1, S. 619. 45 Helmut J. Schneider. „Standing and Falling in Heinrich von Kleist“. Modern Language Notes 115.3 (2000): 502–518, S. 512.



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Als Sylvester wieder erwacht, sich langsam besinnt und Jeronimus noch vor ihm steht, will er, anstatt auf die in Form einer schmählichen Beleidigung vorgebrachte Forderung adäquat zu reagieren, den Vetter lediglich wegschicken. Jeronimus geht, nicht ohne aber ein Bekenntnis seines erneuten Sinneswandels zu geben und damit auch die vorherige Forderung performativ zurückzuziehen: „Ich gehe, | Nur so viel sag ich dir, ich gehe nicht | Nach Rossitz, hörst du? Und noch eins. Wenn du | Mich brauchen kannst, so sags, ich laß mein Leben | Für dich, hörst du, mein Leben“ (V. 981–985). Deutlich wird hier, wie tief beeindruckt Jeronimus von der Ohnmacht Sylvesters ist. Er interpretiert die unwillkürliche Gebärde des Bewusstseinsverlusts als Authentizitätsbeweis von dessen Unschuld. Jeronimus reitet dann aber, entgegen seiner Aussage, doch sofort nach Rossitz und teilt Eustache von Schroffenstein, Ruperts Frau, mit, dass er fortan die Sache der Warwander vertrete, „denn sehr würdig wies | Die Schuld er von sich, die man auf ihn bürdet“ (V. 1608 f.). Jeronimus bezieht sich auf die mittelalterliche Strafpraxis, wenn er, um seiner Überzeugung Nachdruck zu verleihen, mit den drastischen Worten fortfährt: „Haut mir | Die Hand ab, wenn ich sie meineidig hebe; | Unschuldig ist Sylvester!“ (V.  1610– 1612). Eustache aber lässt sich von dieser Rede nicht beeindrucken, denn auch ihr sagt ein – sich nur leider als falsch erweisendes – „innerstes Gefühl“ (V. 1618), das ihr Urteil lenke und auf welches sie mehr vertraue als auf „jedwedes Geständnis“ (V. 1617), dass Sylvester schuldig sein muss. Das ‚Rechtgefühl‘, so zeigt sich, ist in dieser Sequenz tatsächlich fehlbar. Es bedarf also der zusätzlichen Unterstützung durch ein als authentisch geltendes Zeichen wie Sylvesters Ohnmacht, um ein tragfähiges Urteil über Schuld und Unschuld bilden zu können. Gewalt als Schamabwehr Jeronimus trägt Rupert Sylvesters Wunsch nach einem Gespräch unter vier Augen vor, was dieser sich scheinbar freundlich anhört. Doch schwingt in vielen seiner Bemerkungen ein von Jeronismus nicht wahrgenommener bedrohlicher Unterton oder eine unheimliche Doppeldeutigkeit mit, die sich erst im Nachhinein entschlüsselt. Denn als Jeronimus seinen Auftrag erfüllt sieht und nach Warwand zurückkehren will, wird er im Rossitzer Schlosshof vom Volk durch eine kollektive Steinigung getötet. Obwohl Eustache, die das grausame Geschehen vom Fenster aus sieht und es ihrem Mann in Form der Teichoskopie berichtet (vgl. V. 1785–1797), Rupert anfleht, die Tötung zu verhindern, bleibt er ungerührt sitzen und lässt sie geschehen. Erst als kurz darauf der Vasall Santing auftritt und sich mit

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den Worten „’s ist abgetan, Herr“ (V. 1805) an Rupert wendet, erkennt Eustache, dass die wie ein Lynchmord erscheinende Tötung in Wahrheit ein von ihrem Mann initiierter Mord war: [...] Abgetan? Wie sagst Du, Santing – Rupert, abgetan? O jetzt Ists klar. – Ich Törin, die ich dich zur Rettung Berief! – O pfui! Das ist kein schönes Werk, Das ist so häßlich, so verächtlich, daß Selbst ich, dein unterdrücktes Weib, es kühn Und laut verachte. Pfui! O pfui! Wie du Jetzt vor mir sitzest und es leiden mußt, Daß ich in meiner Unschuld hoch mich brüste. Denn über alles siegt das Rechtgefühl, Auch über jede Furcht und jede Liebe, Und nicht der Herr, der Gatte nicht, der Vater Nicht meiner Kinder ist so heilig mir, Daß ich den Richterspruch verleugnen sollte, Du bist ein Mörder. (V. 1805–1819)

Diese beschämende Anklage durch die eigene Frau in Anwesenheit Santings kann Rupert nur abwehren, indem er laut Bühnenanweisung aufsteht, sich also zunächst symbolisch erhöht, und dann verkündet: „Wer zuerst ihn tödlich | Getroffen hat, der ist des Todes!“ (V. 1819 f.). Santing, der dadurch wiederum in seiner Ritterehre verletzt wird, kommentiert den Befehl mit den Worten: „’s ist ein Faustschlag | Mir ins Gesicht“ (V. 1821 f.). Um Ruperts eigenes Gesicht vor der Gemahlin zu wahren, soll der unschuldige Santing die Veranlassung der Tötung „[a]uf [s]eine Kappe“ (V. 1844) nehmen und zur Strafe für zwei Wochen im Schlossturm eingesperrt werden, um anschließend, wie Rupert mit ihm heimlich aushandelt, ein „schöne[s] Gebirgslehn“ (V. 1845 f.) als Entschädigung für diese unverdiente Schmach zu erhalten. Doch diese komplexe Inszenierung von vorgeblicher Schuld misslingt, denn die Verlobte des willkürlich zu köpfenden Dieners, der (in Ruperts Formulierung) „[z]uerst den Herold angetastet“ (V. 1854), sagt dem Schlossherrn in Anwesenheit von Eustache auf den Kopf zu, dass sie und zwei weitere Zeugen deutlich gehört hätten, wie er selbst, „blind vor Wut“ (V. 1898), Santing angewiesen habe, das Volk gegen Jeronimus aufzuhetzen. Dass Rupert den getöteten Jeronimus vor seiner Frau und seinen Untertanen als ‚Herold‘ bezeichnet, stellt überdies eine bewusste Degradierung des ihm gleichrangigen adeligen Verwandten zu einem den ihm angetragenen Dienst erfüllenden



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Boten und auch eine indirekte Selbstlegitimierung dar, so dass seine Tat im Sinne des alttestamentarischen ‚Zahn um Zahn‘ zu begründbar wäre (wenngleich Boten in der mittelalterlichen Fehdeordnung, wie schon erläutert, eigentlich als unantastbar gelten, was von den Schroffensteinern aber ignoriert wird). Denn Jeronimus hat Rupert gegenüber ausdrücklich betont, dass sein Besuch, im Unterschied zu dem von Rupert nach Warwand geschickten und dort vom Volk getötete Rossitzschen Vasall Aldöbern, nicht als Herold erfolge, sondern als „Gast“ (V. 1712) und „Freund des Hauses“ (V. 1715) Rossitz.46 Kleist zeigt in dieser Szene einen hierarchischen Stufenaufbau von Beschämungen und Beschämungsabwehr durch Schuldattribution an Niedrigerstehende. Erst als mit der Dienerschaft die unterste soziale Stufe erreicht ist, fällt die Tat schließlich zirkulär auf den hierarchisch Höchsten zurück. Rupert, der nur heimlich, nicht aber offen tyrannisch agiert, bleibt unter dem Blick seiner Frau und seiner Untergebenen keine andere Wahl, als dem zu unrecht verurteilten Diener das Leben zu schenken. Eustache missinterpretiert diesen Begnadigungsakt, welcher faktisch nur der Reetablierung seiner Integrität und Macht dient, als Schuldgefühl: Rupert. Laß mich allein, Eustache. Eustache. O laß mich bleiben. – O dies menschlich schöne Gefühl, das dich bewegt, löscht jeden Fleck, Denn Reue ist die Unschuld der Gefallnen. An ihrem Glanze weiden will ich mich, Denn herrlicher bist du mir nie erschienen, Als jetzt. Rupert. Ein Elender bin ich. – Eustache. Du glaubst Es. – Ah! Der Augenblick nach dem Verbrechen Ist oft der schönste in dem Menschenleben, Du weißts nicht – ach, du weißt es nicht und grade Das macht dich herrlich. Denn nie besser ist Der Mensch, als wenn er es recht innig fühlt, Wie schlecht er ist. (V. 1905–1917)

46 Wie grundlegend dieser Unterschied für das ‚mittelalterliche‘ Rechtsverständnis ist, wird auch daran deutlich, dass Sylvester später mit ganz ähnlichen Worten auf ihn hinweist: „Den Edelen, der nicht einmal als Herold | Gekommen, der als Freund nur das Geschäft | Betrieb des Friedens, preiszugeben – ihn | Um sich an mir zu rächen, preiszugeben | Dem Volke“ (V. 2040–2044).

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Der Mensch, welcher nie besser ist, als in dem Moment, in dem er seine Schlechtigkeit fühlt, kann in der aufrichtigen Reue Gottes Gnade erfahren. Denn, so setzt Eustache ihre „negative moral-sense-Theorie“47 fort, „[d]en soll | Kein Mensch verdammen, der sein Urteil selbst | Sich spricht“ (V.  1918–1920). Rupert aber, der bereits zuvor Santing gegenüber von der „Reue ekelhaft Gefühl“ (V. 1842) gesprochen hatte, kann mit diesem protestantischen Gedankengut einer Introjektion göttlichen Richtens und des Glaubens an ein individuelles Schuld- und Sündenbewusstsein nichts anfangen. Stur bleibt er seinem alttestamentarischen Rachegedanken verhaftet, wenn er auf Eustaches Gewissensappell mit der indirekten Frage reagiert, „[u]nd wer hat mich so häßlich | Gemacht? O hassen will ich ihn.“ (V. 1922 f.). Ersichtlich wird an dieser Stelle nicht nur ein charakterlicher Unterschied zwischen der egozentrischen Amoralität des Ehemanns und der aufgeklärten Moral der Ehefrau, sondern angespielt wird zugleich auf einen Gegensatz zweier religiöser Mentalitäten: einerseits der archaische, mit dem Alten Testament verbundene Rache- und Vergeltungsgedanke, andererseits das christliche Konzept der Gnade und des verinnerlichten Gewissens. Das Beharren auf dieser Opposition zeichnet nicht nur die Ehepartner von Rossitz aus, sondern ist zudem konstitutiv für die Gegenspieler Rupert und Sylvester. Denn mehrfach wird angedeutet, dass Sylvester bereit wäre, Rupert sogar den Mord an seinem einzigen Sohn zu vergeben.48 In Kleists Stück liegt somit ein „komplexes und paradoxes Wechselspiel zwischen Altem und Neuem Testament“49 vor. Doch die Unvereinbarkeit der alttestamentarischen Auffassung von Scham und Blutrache auf der einen Seite und dem neutestamentarischen Konzept von Schuld und Buße auf der anderen, ist hochgradig konfliktträchtig. Dass es sich hierbei um den ethischen Grundkonflikt des Dramas handelt, verdeutlichen die kontrafaktischen Strophen des Chors, mit denen das Stück eröffnet wird: In diesen wird einerseits ein alttestamentarischer Rachegott beschworen („Dessen Thron die weiten Räume decken, | Dessen Reich die Sterne Grenzen stecken, | Dessen Willen wollen wir vollstrecken, | Rache! Rache! Rache! schwören wir“, lautet der Refrain der Jünglinge; V. 7–10), 47 Matthias Luserke-Jaqui. „Über Heinrich von Kleists ‚Familie Schroffenstein‘“. Ders. Über Literatur und Literaturwissenschaft. Anagrammatische Lektüren. Tübingen u. Basel 2003. 179–190, S. 184. 48 Z.  B. betont Jeronimus gegenüber Rupert, Sylvester sei „der einzge | In seinem Warwand fast, der euch entschuldigt“ (V. 1646), womit ein ‚Absprechen von Schuld‘ gemeint ist. 49 Harms 1984, S. 276.



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andererseits aber die Gnade Christi erfleht („Nun im Sarge, | Ausgelitten, | Faltet blutige Händlein er, | Gnade betend | Seinem Feinde“, singen die Mädchen in einer ihrer Strophen über den verstorbenen Jungen, V. 17–21). Beide kontradiktorische Sprechhandlungen erfolgen, paradoxer Weise, im gleichen Chorgesang. Nach Jeronimus’ Ermordung bittet Eustache ihren Mann, zumindest dem Toten die ihm gebührende Ehre zu erweisen, als einem Verwandten und Freund, dessen Gastrecht und Vertrauensschutz er so schändlich missachtet hat. Doch Rupert wird mit seiner „ursprüngliche[n] Affektsicherheit“50 weiterhin vom Wunsch nach Vergeltung beherrscht. Als Eustache entsetzt fragt: „Rupert! | Du könntest noch an Rache denken?“ (V. 1923 f.), antwortet er bezeichnenderweise: „Ob | Ich an die Rache denke? – Frage doch, | Ob ich noch lebe?“ (V. 1924–1926). Hier wird deutlich, dass Rupert – auch wenn er das Gegenteil zu performieren sucht –, die vor den Mitgliedern seines Hauses erlittene schmachvolle charakterliche Entblößung als symbolischen Tod erlebt und also kein souveräner Herrscher ist. Wenn diese Replik zwar einerseits paraphrasierbar ist als ‚solange ich lebe, werde ich nur Rache fühlen‘, so sagt sie gleichzeitig aus, dass neben der Hyperaktivität des angekündigten nächsten Vergeltungsschlages nur das Gefühl der Inexistenz bestehen bliebe. Hier zeigt Kleist deutlich die bereits mehrfach angesprochene Wechseldynamik von Scham und Schuld: eine Figur wird aufgrund eines Gefühls der Erniedrigung, des eigenen ‚Unwerts‘ schuldig, indem sie aggressive Gewalthandlungen vollzieht. Ob dies hier allerdings, wie die Psychoanalytiker Piers, Bastian und Hilgers nahelegen, im Sinne der Zyklizität beider Affekte zu erneuter Scham – über die eigene Schuld – führen wird, ist fraglich. Die „Unschuld der Gefallnen“: Schuldreflexionen bei Kleist Die Thematik der Schuld kommt in Kleists Werk besonders hinsichtlich drei Dimensionen zum Tragen, die oft miteinander verschränkt sind: im Kontext der Tragödie und der Theorie des Tragischen, hinsichtlich des biblischen Motivs der Erbschuld und mit Blick auf juridische Diskurse. Vielfach treten in Kleists Stücken Rechtspersonen und -instanzen als Figuren auf.51 In anderen Werken bleiben sie hingegen abwesend; gleichwohl 50 Raimar Zons. „Der Tod des Menschen. Von Kleists ‚Familie Schroffenstein‘ zu Grabbes ‚Gothland‘“. Grabbe und die Dramatiker seiner Zeit. Hg. v. Detlev Kopp u. Michael Vogt. Tübingen 1990. 75–102, S. 80. 51 So etwa der Dorfrichter Adam im Zerbrochenen Krug (1811), der Basler Gerichtshof im Zweikampf oder der Richter des Vehmgerichts in Käthchen von Heilbronn.

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werden Rechtsinhalte vielfach thematisiert.52 In Familie Schroffenstein tritt keine personale Rechtsinstanz auf oder wird auch nur erwähnt, ebenso wie Fragen juristischer und moralischer Schuld eher implizit behandelt werden. Erst im 19. Jahrhundert löst der ‚normative‘ Schuldbegriff den ‚moralischen‘ sukzessiv ab und erst im 20. Jahrhundert entstand die Vorgabe, auch den Vorsatz eines Täters als Teil eines strafrechtlichen Tatbestandes zu prüfen.53 Trotzdem spielen auch in Kleists um 1800 entstandenen und in historische Kulturen zurückverlegten Texten Fragen der Vorsätzlichkeit von Rechtsverletzungen schon eine Rolle, wie etwa die unfreiwillige Aufdeckung von Ruperts Befehl zur Ermordung Jeronimus’ zeigt: Die vorsätzliche Handlung eines einzelnen sollte als im Affekt ausgeführter Lynchmord des Volkes camoufliert werden. Die schwere juristische Schuld des dolus, das bewusste und aktive Begehen einer rechtswidrigen Handlung, das Rupert von seinen als Zeugen fungierenden Untertanen ‚nachgewiesen‘ wird, soll dann aber, so der Vorschlag seiner Ehefrau, nicht im Sinne einer juristischen Strafe, sondern durch Reue, also einer christlich-moralischen Form der Schuldverarbeitung, gesühnt werden. Das Beispiel zeigt, inwiefern juristische, moralische und religiöse Schuldkonzepte in diesem Stück auf konfligierende Art und Weise ineinander greifen. Dass Rupert, im Unterschied zu anderen Tätern ‚um 1800‘ – zum Beispiel Schillers Figur des Verbrechers aus verlorenere Ehre (1792) – durch den moralischen Beistand nicht durch Hass motivierter Personen, wie etwa seiner Frau, nicht deterministisch ‚böse‘ handeln muss, sondern es ihm immer möglich wäre, auch anders zu agieren, macht ihn im Kontext des in der Aufklärung entwickelten Konzepts individueller, persönlicher Freiheit moralisch äußerst zwiespältig. Eine weitere Dimension der Schuldreflexion in Kleists Werk stellt die biblische Anthropologie dar. Besonders die in der Paradies-Erzählung beschriebene Genese von Scham und Schuld als den ‚Uraffekten‘ des ersten Menschenpaars ist hier zu nennen. Mehrere Forschungsbeiträge haben den Topos vom ‚Sündenfall‘ in den Titel aufgenommen und damit dessen Programmatik für Kleist herausgestellt.54 Dabei wird nicht zuletzt die Ambivalenz des Wortes ‚Fall‘ ausgespielt, die bei Kleist sowohl theologisch als auch juristisch gemeint ist und überdies eine Kontingenz-Dimension (‚Zufall‘) aufweist. Kleist nimmt vielfach auf die Genesis-Erzählung Be52 Vgl. Bohnert 1985, S. 45. 53 Vgl. ebd., S. 44 f. 54 Z. B. Seeba 1970; Gerhard Neumann (Hg.). Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall. Freiburg i. Br. 1994; Greiner 2000.



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zug, zentral etwa in seinem um den Topos des Verlustes der kinetischen Unschuld kreisenden Aufsatz Über das Marionettentheater.55 Der „Mythos vom Sündenfall und seiner Überwindung“ liegt, so die pauschale Behauptung von Doris Claudia Borelbach, „nahezu allen Kleistschen Werken zugrunde[]“56. In der Familie Schroffenstein, in Penthesilea und im Erdbeben von Chili finden sich jeweils Sequenzen oder Handlungsabläufe in einer von der sündhaften und moralisch korrupten Gesellschaft abgewandten idyllischen Natur, in der die jungen Liebenden eine unschuldige Nähe zueinander entwickeln, die als rückwärtsgewandte Utopie an das ‚verlorene Paradies‘ erinnert.57 In der Forschung wurde auch die den Liebesszenen zwischen Agnes und Ottokar inhärente Paradies-Imagologie herausgearbeitet und die These formuliert, sie stünde für die Utopie, die Liebe der Kinder könnte dazu beitragen, den ‚Sündenfall‘ der Eltern zu überwinden. Hierbei wird weniger auf die einschlägige Wendung Eustaches von Reue als der ‚Unschuld der Gefallenen‘ verwiesen, als vielmehr auf einen Topos’ aus dem Marionettentheater-Aufsatz, in dem Kleist perspektivisch fragt, ob eine zweite Erkenntnistat („wieder vom Baum der Erkenntnis essen“) es vielleicht ermögliche, „in den Stand der Unschuld zurückzufallen“.58 Dass in der Todesszene der Liebenden mehrfach das Verbum ‚fallen‘ Verwendung findet, verweist, so Harms, auf den paradoxen Vorgang, dass beide „nicht in Sünde [fallen], sondern die Sünde von ihnen ab[fällt]“59. Eine solche Invertierung und Revision des Sündenfalls – die nur ex negativo, nämlich im Sterben, ‚realisiert‘ wird – lässt sich als Gegenfiguration zur anwachsenden Verschuldung der Elterngeneration lesen. Dass Agnes und Ottokar überdies, wie Louis Gerrrekens detailliert nachweist, von Kleist als „dop55 Vgl. Heinrich von Kleist. „Über das Marionettentheater“. Sämtliche Werke und Briefe 2. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. München 1987. 338–345, S. 342 u. 345. 56 Doris Claudia Borelbach. Mythos-Rezeption in Heinrich von Kleists Dramen. Würzburg 1998, S. 14. Das darin „ausgedrückte Philosophem, daß der Mensch seine ursprüngliche Einheit auf dem Weg des Bewußtseins wiedererlangen kann“ war in Kleists Zeit durch Kants Über den Mutmaßlichen Anfang des Menschengeschlechts und Schillers Über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde bekannt. Vgl. Stellenkommentar zu Kleist 1991, Bd. 1, S. 608. 57 Ausführlicher zu den kulturellen Topoi der Unschuld und Reinheit, die in der europäischen Kultur mit dem biblischen Paradies assoziiert werden, vgl.: Claudia Benthien u. Manuela Gerlof. „Topografien der Sehnsucht. Zur Einführung“. Paradies. Topographien der Sehnsucht. Hg. v. dens. Köln u. a. 2010. 7–27, S. 15–20. 58 Kleist 1987a, Bd. 2, S. 345; vgl. Harms 1984, S. 295. 59 Harms 1984, S. 304.

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pelte Erlöser-Figur[en]“60 konzipiert wurden, Ottokar mehrfach als ‚Jesus‘, Agnes hingegen als ‚Maria‘ (sowie als ‚Neuer Messias‘) apostrophiert wird und Ottokars letzte Worte („Es ist – | Gelungen“; V. 2557 f.) sogar diejenigen Christi am Kreuz nachahmen, verdeutlicht den engen imagologischen Bezug der Schroffenstein-Kinder auch zur Heilsgeschichte des Neuen Testaments.61 Die Liebestragödie von Agnes und Ottokar bildet also eine neu- wie auch alttestamentarische religiöse Gegensemantik zur Mentalität der Elterngeneration; sie bleibt jedoch zu schwach, um sich gegen die ‚gefallene‘ Welt zu behaupten. Nur in der Höhlenszene, als Welt des Scheins und der Distanz zu allen sozialen Bindungen, gelingt es Agnes und Ottokar für einen Moment, „die Schuld der Welt [abzustreifen] mitsamt den Attitüden ihrer Eitelkeit“62. Die Schroffenstein-Kinder „entdecken unter den Verkleidungen den paradiesischen Stand“ – und entsprechend schämen sie sich voreinander auch nicht „in ihrer Blöße“.63 Auch hier findet sich, ähnlich wie in der Jungfrau von Orleans ein Moment wechselseitiger Erkenntnis und Annahme jenseits der Scham und der aufoktroyierten Feindschaft. Die hier nur skizzierten verschiedenen Versatzstücke einer christlichen Imagologie in den Szenen zwischen den sich liebenden Kindern bilden einen wichtigen, wenngleich bisweilen durchaus kitschigen Kontrast zur ‚heillosen‘ Welt der Väter und Mütter. Dass ihr aber keine Wirklichkeit generierende Kraft zukommt, ist mehr noch der fatalistischen Weltauffassung des Autors geschuldet, als den tragischen Gattungskonventionen. Agnes und Ottokar erwartet keine romantische Wiedervereinigung im Jenseits, wie dies etwa im Freitod Romeos am Leichnam Julias bei Shakespeare evoziert wird.64 Entzug von Darstellung: Gesichtsverlust, Schleier, Vorhang In seinem erstem Stück macht Kleist noch nicht, wie später etwa in Das Käthchen von Heilbronn, in Penthesilea oder in Prinz Friedrich von 60 61 62 63 64

Gerrekens 1988, S. 141. Vgl. ebd., S. 149–158 u. 175–178. Harms 1990, S. 77. Ebd. Nach Doris Claudia Borelbach stellt Kleists Drama „die ausgleichende Qualität einer Tragödienkonzeption in Frage, die der Weimarer Klassizismus auch geschichtsphilosophisch beglaubigte. Der Mangel an transzendierender Kraft beraubt es der entscheidenden Dimension des Tragischen.“ Das Finale der Familie Schroffenstein erscheint so „als bloße Reminiszenz an das überlieferte Tragödienschema.“ Borelbach 1998, S. 46 f.



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Homburg, Gebrauch von der Gebärde des Errötens (bzw. des Erblassens) als körpersprachliches Zeichen der Scham, aber auch der Wut und des Zorns.65 In keiner einzigen Bühnenanweisung der Familie Schroffenstein wird eine Veränderung der Gesichtsfarbe einer Figur erwähnt. Lediglich in der Figurenrede selbst wird dies thematisiert: Agnes Schroffenstein errötet möglicherweise einmal, als die Rede im Kreis der Familie auf ihr nun heiratsfähiges Alter kommt (vgl. V. 428–436) und ein zweites Mal, als Ottokar in der Höhlenszene ihre gemeinsame Zukunft imaginiert. Bezeichnenderweise wird das Erröten in beiden Szenen nicht visuell, sondern haptisch wahrgenommen (im ersten Fall sucht der blinde Sylvius, es mit der Hand zu erfühlen, im zweiten sagt Ottokar, „ich sehs | Mit meiner Wange, daß du glühst“; V. 2438 f.). Es geht also nicht um Scham als Ausgesetztsein gegenüber den Blicken der anderen, wie dies in anderen zeitgenössischen Stücken – prominent in Die Jungfrau von Orleans und Penthesilea – der Fall ist. Jeronimus antwortet nach dem vermeintlichen Mordanschlag auf Agnes auf Gertrudes Frage, ob der Täter nicht aus Rossitz sei: „Frage nicht, du machst mich schamrot, – ja“ (V. 1069). Hier wird bloß diskursiv benannt, was später Kleists markantestes Darstellungsmittel des Inneren und des ‚irrationalen‘ Gefühls werden wird. In seiner ersten Tragödie findet sich stattdessen eine andere Leitgebärde: das Bedecken oder Abwenden des eigenen Gesichts. Nach dem Vorbild antiker Statuen wurde diese Geste in Schauspieltraktaten des 18.  Jahrhunderts als Bühnenzeichen der Scham vorgeschlagen.66 Kleist setzt die Gebärde des Verhüllens des eigenen Gesichts in Situationen extremer Affekte ein. Signifikant für den vorliegenden Kontext ist, dass sie zwei verschiedene Emotionen kodiert: nicht nur Scham, sondern auch Trauer.67 So heißt es etwa, als Jeronimus Agnes in Gegenwart ihrer Eltern berichtet, er habe ihren Schleier in Ottokars Händen gesehen: „Agnes ver65 Vgl. zur Bedeutung der Körpersprache im zeitgenössischen Drama: Alexander Košenina. Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ‚eloquentia corporis‘ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995, bes. den Exkurs zu Kleist, S. 284–294. 66 Vgl. Hans-Thies Lehmann. „Das Welttheater der Scham. Dreißig Annäherungen an den Entzug der Darstellung“. Merkur 45.9/10 (1991): 824–838, S. 829. So spricht zum Beispiel Johann Jakob Engel davon, wie schon zitiert, dass der „Beschämte“ Sorge dafür tragen muss, „Gesicht und Auge vor jedem Blick des Andren zu verwahren“. Johann Jakob Engel. Ideen zu einer Mimik 1. Nachdr. d. Ausg. Berlin 1785. Darmstadt 1968, S. 283. 67 Bereits Ottokar Fischer geht kurz auf die Gebärde der Gesichtsverhüllung als Zeichen der Trauer, der Scham, aber auch der Verzweiflung ein. Er bezieht sich aber nur auf Szenen, in denen das Gesicht mit den Händen bedeckt wird und nicht auf solche, in denen es abgewendet wird; Ottokar Fischer. „Mimische Studien zu Hein-

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birgt ihr Haupt an die Brust ihrer Mutter“ (nach V. 1109). In einer anderen Situation, als die Rede von Philipp, dem „vor wenig Monden“ (V. 636) verstorbenen kleinen Bruder ist, heißt es ebenfalls „Agnes verbirgt ihr Gesicht an die Brust ihrer Mutter“ (nach V. 512): Hier geht es weniger (wie bei der ersten Bühnenanweisung hinsichtlich des Schleiers) um Scham als vielmehr um Trauer. Gertrude tritt nach der Ermordung Jeronimus’ mit „verdecktem Gesicht“ (vor V. 2015) auf; ebenso steht in der Bühnenanweisung über Rupert, nachdem er seinen Racheschwur am Sarg seines Sohne beendet hat, „[e]r bedeckt sich das Gesicht; ab, mit Gefolge“ (nach V. 95). Es bleibt in diesen Situationen, die auffälliger Weise oft mit dem Beginn und dem Ende einer Szene korrelieren, uneindeutig, ob das Gesicht aus Scham oder Trauer verborgen wird oder ob es sich nicht um Mischformen beider Affekte handelt. In der ‚Höhlenszene‘ am Ende des Dramas, als Sylvester und Rupert erkennen müssen, dass sie jeweils ihre eigenen Kinder erstochen haben, weil sie ihre Identität durch den Kleidertauch unkenntlich gemacht hatten, kehrt die gemischte Gebärde wieder: Über Sylvester wird zuerst bemerkt, er „bedeckt sich das Gesicht“ (nach V. 2665) – als er realisiert, dass er nicht den Sohn des Feindes, sondern seine Tochter Agnes erstach. Rupert muss nicht nur hinnehmen, dass er seinen Sohn Ottokar von eigener Hand tötete, sondern auch, dass sein vermeintlich ermordeter anderer Sohn Peter gar nicht umgebracht wurde, vielmehr durch ein Unglück ertrank. Die vorschnelle Schuldzuweisung an Sylvester war also unbegründet. Sofort nach dieser Enthüllung lautet die Bühnenanweisung: „Rupert bedeckt sich das Gesicht“ (nach V. 2703). Mit verdecktem Antlitz wendet er sich an Sylvester und bittet ihn um Vergebung. Über die Leichen der Kinder hinweg reicht Sylvester Rupert schließlich „mit abgewandtem Gesicht“ seine Hand (nach V. 2716). Das Tableau der verhüllten Väter (und der sich umarmenden Frauen) beendet das Trauerspiel. Scham wird von Kleist als Gesichtsverlust inszeniert. Dass es auch am Ende des Stücks um die Problematik maskuliner Ehre und Scham geht, wird deutlich, insofern sich ungewöhnlicher Weise die beiden Männer die Gesichter verhüllen, nicht aber die Frauen. Es handelt sich daher nicht um jene im 18. Jahrhundert konventionell werdende, und auch bei Kleist bisweilen eingesetzte „Semiotik der Schamhaftigkeit“68; vielmehr geht es rich von Kleist“. Euphorion 15 (1908): 488–510 u. 716–25; 16 (1909): 62–92, 412–25 u. 747–72, 86 f. 68 Sigrid Weigel. „Der Körper am Kreuzungspunkt von Liebesgeschichte und Rassendiskurs in Heinrich von Kleists Erzählung ‚Die Verlobung in St. Domingo‘“.



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um eine andere, existentiellere Form der Scham, die nicht (weibliche) Empfindsamkeit kodiert, sondern die symbolische Vernichtung sozialer Identität. In der Forschung wurde der versöhnende, die Romeo und JuliaThematik komplettierende Handschlag der nun kinderlosen Grafen mit je abgewandtem Antlitz als letztlich erkannte Sinnlosigkeit der Fixierung auf das spiegelbildliche Gegenüber gedeutet – und das Stück somit als Tragödie des Verkennens.69 Dies ist richtig, insofern die Figur der ‚Blindheit‘ eine zentrale Rolle spielt und dementsprechend der Ort der (platonischen) Höhle als Gleichnis der Scheinhaftigkeit des Erkennens gewählt wurde. Doch wird die archaische Gewalt der gegenseitigen Beschämung, wie sie in diesem Stück dargestellt wird, durch die Reduktion auf die Motive des Verkennens und des Irrtums zugleich verharmlost. Lehmann spricht, wie zuvor erläutert, von Scham als ‚Ausdruckshemmung‘ und ‚Entzug der Darstellung‘. Diese Repräsentationsproblematik ist mit einem Topos der klassischen Rhetorik kontextualisierbar, der ‚Darstellbarkeit des Undarstellbaren‘. Ralf Konersmann zufolge wird diesbezüglich oft auf das antike Beispiel des Malers Timanthes von Kythnos verwiesen, der sich die Opferung der Iphigenie als Motiv wählte.70 Der Legende nach stellt der Maler die intensiven Emotionen in den Gesichtern der umstehenden Personen dar, erkennt dann aber, dass ihm die Mittel versagen müssten, würde er versuchen, auch die Trauer des Vaters Agamemnon abzubilden. Denn neben dem Schmerz über den Verlust der Tochter hatte sich der Vater dem Mythos zufolge auch die Schuld an ihrem Tod zuzurechnen, da er sie auf der Fahrt nach Troja opferte, um den von Artemis gesandten Gegenwind zu stoppen. Timanthes setzt bei der Darstellung Agamemnons daher einen Kunstgriff ein: Er verhüllt das Gesicht des Vaters mit einem Schleier. Das Sichtbare wird so nicht abbildhaft, sondern als verweisendes Zeichen verstanden, als „uneigentliche DarstelKleist-Jahrbuch (1991): 202–217, S. 212. 69 Vgl. Seeba 1970, S. 75; Stephens 1994b, S. 273; Louis Gerrekens. „Die Familie Schroffenstein“. Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Ingo Breuer. Stuttgart u. Weimar 2009. 27–33, S. 29. Fast schon als Allgemeinplatz der KleistForschung zählt es, diese Thematik der Unzulänglichkeit menschlicher Erkenntnis als Resultat der so genannten Kant-Krise zu begreifen, die Kleist vor dem Verfassen seines ersten Trauerspiels durchlebte. vgl. ebd., S. 29; Tim Mehigan. „Kleist, Kant und die Aufklärung“. Heinrich von Kleist und die Aufklärung. Hg. v. dems. Rochester 2000. 3–21; Bernhard Greiner. „Kant“. Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Ingo Breuer. Stuttgart u. Weimar 2009. 206–208. 70 Vgl. Ralf Konersmann. Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik. Frankfurt a. M. 1994, S. 13.

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lung des eigentlich Undarstellbaren“71. Auch Kleist gestaltet diese Undarstellbarkeit extremer und widersprüchlicher Affekte, indem er die Protagonisten der Familie Schroffenstein ihr Gesicht verhüllen oder abwenden lässt. „Ein übermächtiges Ergriffensein soll vor der Außenwelt verborgen bleiben, aber mehr noch, das Subjekt selbst soll sich des gesamten Inhalts seines Inneren nicht bewußt werden“72, wie Ottokar Fischer bemerkt. Die Gesichtsverhüllung, nicht zuletzt zum Schutz der eigenen Integrität, steht im direkten Zusammenhang mit dem von Schmitz konstatierten zentripetalen Charakter der Scham. Agnes’ Schleier ist unter dieser Perspektive vielleicht nicht zufällig das wichtigste Requisit des Stücks: sowohl Tauschobjekt zwischen den jungen Männern als auch Fetisch der ersehnten Gunst – Johann, der „natürliche Sohn“ Ruperts, bezeichnet ihn als „heilige[] Reliquie“ (V. 259). Er dient nicht nur der Anagnorisis bislang verborgenen Wissens um verwandtschaftliche Zusammenhänge und dem Indizienbeweis von Identitäten,73 sondern ist zentrale ‚Figur‘ der Verhandlung von Undarstellbarkeit. Hinsichtlich dieser Meta-Funktion des Schleiers ist hervorzuheben, dass Kleist jeden der fünf Akte mit der Anweisung „Der Vorhang fällt“ beendet. In keinem seiner anderen Bühnenwerke findet sich der wiederholte Verweis auf diese Theaterkonvention; auch im zeitgenössischen Drama ist diese Anweisung unüblich (weil selbstverständlich).74 Vorhänge als „Sichtblenden und -grenzen“75 umschließen und beschränken den Raum des sinnlich Wahrnehmbaren. Auf einer paratextuellen Ebene wird so auf die zentralen Problematiken des Stücks verwiesen: Die des Verkennens zum einen und die des Gesichtsverlusts zum anderen. Dass der Szenenwechsel oft mit dem Tableau einer Figur, die ihr Gesicht abwendet, einhergeht, steht also in direkter Korrelation zur Regieanweisung zum Fallen des Vorhangs. Beides zeigt an, dass etwas der Sichtbarkeit entzogen, gleichwohl aber uneigentlich weiterhin präsent ist.

71 Ebd. 72 Fischer 1909, S. 87. 73 Dies ist ein bei Kleist häufiges dramaturgisches Mittel der Wahrheitsfindung durch einen „Indizienbeweis“, der „Identifizierung eines Requisits“; vgl. Stellenkommentar zu: Kleist 1991, Bd. 1, S. 610 u. S. 627 (zum Schleier als Objekt der Anagnorisis). 74 Darauf weist auch der Stellenkommentar hin, wo es ferner heißt, dass durch die Anweisung „Vorhang“ „noch einmal die dramatische Fiktionalität des Geschehens, d. h. seine Künstlichkeit als Bühnenstück hervorgehoben“ werde; ebd., S. 658. 75 Konersmann 1994, S. 12.



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In dem für die Bühnendarstellung im 18. Jahrhundert einflussreichen Traktat Dissertatione de actione scenica von Franciscus Lang wird unter Bezugnahme auf die antike Rhetorik für die Trauer folgende klassische Gebärde vorgeschlagen: „Oft faltet man dabei mit verschränkten Fingern die Hände, und sie werden gewöhnlich entweder in die Höhe erhoben oder unter die Hüften gesenkt“.76 Ergänzend heißt es für besonders heftigen Schmerz oder Trauer, „es verdient sogar Lob und erweckt Wohlgefallen, wenn man, entweder mit beiden vorgeschlagenen Händen oder indem der Kopf in den Armen verborgen wird, gelegentlich das ganze Gesicht eine Zeitlang völlig verdeckt und sich dabei an eine Kulisse lehnt“77. Lang bricht hier die Grundregel aller Schauspieltraktate, auch seines eigenen, wonach das Gesicht der Schauspieler sichtbar bleiben soll und den Zuschauern offen darzubieten ist. Die in Kleists Familie Schroffenstein eingesetzte Mischgebärde der Gesichtsverhüllung als Scham- und Trauerzeichen entzieht dem Zuschauer mit dem Antlitz das primäre Darstellungsmedium der Emotionen und weist so auf einen Zustand zentripetaler Innerlichkeit, der ‚unvermittelt‘ nicht theatralisierbar ist. In der Affektlehre werden Scham und Trauer als gegensätzlich verstanden; so klassifiziert etwa Engel sie in seinen Ideen zu einer Mimik zwar beide als „unangenehme Affekte des Anschauens“, Scham jedoch als eine affektive Reaktion „über sich selbst“, Trauer hingegen – ähnlich wie Schuld – „über andere“.78 Die Unvereinbarkeit der widersprüchlichen Gefühle der beiden Familienoberhäupter in Kleists tragischem Finale ist mimisch nicht darstellbar, weshalb die Gesichter verhüllt gezeigt werden. Zu bedenken ist in diesem Kontext ferner, dass sichtbare Trauerverkörperung überhaupt in der westlichen Kultur mehr und mehr Frauen zugeschrieben wird und sich männliche Trauer wesentlich der Repräsentation entzieht.79 Auf eine derartige Gender-Differenzierung verweist auch Kleist in dem das Drama eröffnenden „Chor von Jünglingen und Mädchen“: Die Mädchenstrophen beklagen mit variierenden schmerzlichen Worten den Tod des Kindes, während die Jünglingstrophen als sich wiederholender Refrain einen dreimaligen Racheschwur performieren (vgl. V. 1–23). 76 Franciscus Lang. Dissertatione de actione scenica. Hg. u. übs. v. Alexander Rudin. Nachdr. d. Ausg. München 1727. Bern u. München 1975, S. 198; Abb. S. 51. 77 Ebd, S. 199. 78 Vgl. Engel 1968, Bd. 1, S. 283; Erika Fischer-Lichte. Semiotik des Theaters 2. 2. Aufl. Tübingen 1989, S. 165. 79 Vgl. Gisela Ecker. „Trauer zeigen: Inszenierung und die Sorge um den Anderen“. Trauer tragen – Trauer zeigen. Inszenierungen der Geschlechter. Hg. v. ders. München 1999. 9–25, S. 13.

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Und auch Rupert betont seiner Frau gegenüber ebendiese ‚Arbeitsteilung‘: „Ich weiß, Eustache, Männer sind die Rächer – | Ihr seid die Klageweiber der Natur“ (40  f.). Rupert und Sylvester werden im Verlust ihrer Kinder der weiblichen Trauer einer Niobe angeglichen, als deren Gebärde im 18. Jahrhundert (im Gegensatz zur Antike) ebenfalls die Hand vor dem Gesicht figuriert.80 Diese ‚Feminisierung‘ durch Trauer um ein totes Kind wird am Schluss besonders an dem zuvor so virilen, rachsüchtigen Rupert aufgezeigt, der sich nun gemäß Bühnenanweisung sogar „mit den Händen in seinen Haaren [fährt]“ (V. 2678), also explizit die einschlägige antike Pathosformel weiblicher Trauerklage vollzieht. Auslöschung der Genealogie Abschließend sei auf die Beschämbarkeit Ruperts und Sylvesters zurückzukommen, auf die Frage danach, warum ihnen überhaupt durch die Tötungen und Tode ihrer Angehörigen narzisstische Wunden zugefügt werden können, welche dann in Form des Schuldigwerdens abgewehrt werden, bis dieser Mechanismus schließlich an eine finale Grenze gerät. Denn wie sich zeigt, geht dieser Mechanismus deutlich über die schamkulturelle Praktik der Beschämung von ‚Clans‘ hinaus – die Familienmitglieder werden auch als Individuen beschädigt. Wie dargelegt, befinden sich die verfeindeten Väter zwar in einem spiegelbildlichen Zuschreibungsverhältnis aufeinander bezogen, ein Anfang dieser Konstellation ist aber nicht auszumachen. So ist zum einen die Rede davon, dass der Erbvertrag das Verhältnis bereits seit Generationen belaste. Zum anderen wird gesagt, dass Gertrude ihrer Stiefschwester Eustache vor 18 Jahren bei der Geburt ihres ersten Kindes beistand (V. 538 f.) – sie standen also vor noch nicht allzu langer Zeit in einem freundschaftlichen, auf Vertrauen basierendem Verhältnis. Rupert spricht in seiner Anfangsreplik davon, dass erst durch den Tod des kleinen Peter „das Band, | Das heilige, der Blutsverwandtschaft riß“ (V. 47 f.). Schon in der antiken Literatur – etwa im von Euripides gestalteten Mythos von Medea und Jason oder in der von Ovid erzählten Geschichte

80 So etwa die Niobe-Figur der entsprechenden Attitüde Lady Hamiltons, die als Kupferstich überliefert wurde; vgl. den Reprint bei: Dagmar von Hoff. Dramen des Weiblichen. Deutsche Dramatikerinnen um 1800. Opladen 1989, S. 193. Antike Plastiken der Niobe-Gruppe (etwa die in den Uffizien in Florenz) zeigen Niobe zwar mit einer erhobenen Hand, diese ist jedoch nach vorn gestreckt und nimmt somit eher einen abwehrenden als einen verhüllenden Gestus ein.



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über Philomele, Prokne und Tereus81 – beruht der Akt der Kindestötung auf dem „Prinzip der Stellvertretung eines Menschen durch einen anderen [...] in seiner grausamsten Form“82. Der Tod des Kindes, welches dem Konflikt geopfert wird, ist ultimative Bestrafung und Beschämung der überlebenden Eltern, die einerseits in Form ihrer eigenen Zukunft mitgetötet werden, die andererseits aber auch schuldig sind, insofern sie ihrer Schutz- und Sorgepflicht nicht angemessen nachgekommen sind. So ist im Hinblick auf Kleists Trauerspiel etwa zu fragen, warum der 9-jährige Peter überhaupt unbeaufsichtigt im Gebirge spielen konnte und auch die 14-jährige Agnes trotz Gertrudes Vorsatz, sie vor allen Gefahren zu schützen, immer wieder allein dorthin entschwinden kann. Im Vergleich Ruperts und Sylvesters fällt auf, dass ersterer moralisch zweifach stigmatisiert wird: Er hat einen unehelichen Sohn, Johann, in die Welt gesetzt und er hat, wie wir durch Eustache erfahren, mit ihr bereits – gegen ihren Willen – in der Nacht vor der Eheschließung sexuell verkehrt, was sie als immer noch unverarbeitetes Schuldgefühl mit sich trägt (vgl. V. 1980 f.).83 Möglicherweise versteht sie sogar die Totgeburt des ersten Sohnes als göttliche Strafe dieser außerehelichen Nacht. Ruperts legitime Söhne Peter und Ottokar sind, wie an ihren Leichen sichtbar wird, beide physisch stigmatisiert: Ottokar trägt die Narbe eines Skorpionbisses am Leib (vgl. V. 2649); dem geschändeten Peter fehlen beide kleinen Finger (V. 1479–1482).84 Als einer der Finger ins Spiel kommt, wird er anhand einer „Blatternarbe“ (V. 2688) als authentisch identifiziert; er trägt also ebenfalls ein Mal. Auf dramaturgischer Ebene als Identitätsindiz eingesetzt – ähnlich wie Kleist bei weiblichen Figuren Muttermale funktionalisiert85 81 Euripides. Medea. Übs. v. Johann Jacob Christian Donner. Stuttgart 1962; Ovid. Metamorphosen. Übs. u. hg. v. Erich Rösch. München u. Zürich 1990, VI, V. 424– 674. 82 René Girard. Das Heilige und die Gewalt. Übs. v. Elisabeth Mainberger-Ruh. Frankfurt a. M. 1992, S. 21 f. 83 Auf den Status jeglicher Liebe vor der Hochzeitsnacht als „Sünde“ wird sogar direkt hingewiesen, so heißt es in Ottokars Vision einer gemeinsamen Zukunft: „Ach, Agnes! | Wenn erst das Wort gesprochen ist, das dein | Gefühl, jetzt eine Sünde, heiligt –“ (V. 2439–2441). 84 In der Bibel sind Skorpione ein Bild für die Strafe Gottes; vgl. Manfred Lurker. Wörterbuch der Symbole. Stuttgart 1991, S. 684. Rupert bezeichnet sein Spiegelbild, mit dem er über eine Quelle gebeugt konfrontiert wird, als „Skorpion von einem Menschen“ (V. 2231) und als eines „Teufels Antlitz“ (V. 2229). 85 Vgl. Heinrich von Kleist. „Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe. Ein großes historisches Ritterschauspiel“. Sämtliche Werke und Briefe 1. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. München 1987. 429–531, S. 471; ders. „Michael Kohlhaas“.

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– sind diese Stigmata gleichwohl als Manifestation jener Brandmarkung zu verstehen, von der in diesem Stück so oft die Rede ist.86 Über Sylvester heißt es in Rossitz: „Sooft | Ein Junker unserm Herrn geboren ward, | Soll er, spricht man, erblaßt sein“ (V. 201–203). Denn Sylvester hat, im Gegensatz zu Ruperts vier Söhnen, neben zwei Töchtern nur einen einzigen männlichen Nachkommen gezeugt. Dass dies als Manko zu verstehen ist, wird im Zursprachekommen der Differenz deutlich: Gertrude erinnert sich, wie übereilig sich die Rossitzer bei der Krankheit ihrer Tochter erkundigt haben: [...] Die Nachricht bloß Der Krankheit konnte kaum in Rossitz sein, Da flog ein Bote schon herüber, fragte Mit wild verstörter Hast im Hause, ob Der Junker krank sei? (V. 474–478)

Der hier antizipierte, später tatsächlich eintretende Tod des kleinen Philipp von Schroffenstein versetzt Sylvester in die unglückliche Lage, mit Agnes nur noch eine Tochter zu haben, die den Familiennamen nicht fortführen wird – es sei denn, sie heiratet Jeronimus. Doch dieser wird im Zuge der Fehdehandlung ebenfalls getötet. Dass Sylvester keinen männlichen Stammhalter mehr aufzuweisen hat, was zum Erlöschen der genealogischen Linie führen wird, ist seine symbolische Schwäche. Indem Kleist den Geschlechterunterschied der Nachkommen beider ‚Vettern‘ herausstellt,87 wird ihr Konkurrenzverhältnis unmittelbar auf die Frage der Genealogie als bedeutender „Ordnungskategorie mittelalterlicher Gesellschaft“88 bezogen. Rupert bezeichnet Sylvester und sich sogar als „Kinder eines Vaters“ (V. 49) und überhöht ihr Verwandtschaftsverhältnis zu einem realen Bruderkonflikt – einer Rivalitätskonstellation, in der das Kainsmal Neid, Missgunst und Schuld ist. Er legt so die im Text allenthalben präsente biblische Lesart nahe, wonach es die Erbsünde ist, die zum Bruderhass führt.89

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Sämtliche Werke und Briefe 2. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. Mün­chen 1987. 9–103, S. 96. Rupert spricht z. B. davon, dass er „boshaft, im voraus“ als Mörder „[g]ebrandmarkt“ wurde (V. 2249); Gertrude bezeichnet den Erbvertrag als „bösen Flecken noch am Leibe“ (V. 481). Für den Erbvertrag hingegen spielt der Geschlechterunterschied, wie dargelegt, keine entscheidende Rolle. Müller 1998, S. 9. Vgl. Seeba 1970, S. 94.



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Allerdings ist zu bemerken, dass das Stück trotz seiner religiösen Semantik nicht mit einer (aus mittelalterlicher Sicht) zukunftsgerichteten Transformation in das Modell der neutestamentarisch-protestantischen ‚Schuldkultur‘ endet. Denn auch nach Sylvesters Tat – der vermeintlichen Tötung des ‚Sohnes‘ seines Vetters Rupert als Reaktion auf die Ermordung seiner ‚Tochter‘ – bleibt dessen „Rückfall in die Rachsucht“ vorherrschend und anstelle der eigentlich im Drama dieser Zeit erwartbaren Affektökonomie von Läuterung und Katharsis bestehen.90 Ruperts moralische Wandlung erfolgt erst, als er erkennt, dass er es war, der sein Kind tötete, auf ihm also eine schwere Schuld lastet. In Lessings bürgerlichem Trauerspiel Emilia Galotti – in dem die Tötung des Kindes durch den Vater nicht dem Paradigma der archaischen Rache, sondern dem der sublimen Tugend dient – unterwirft sich der Vater Odoardo im Anschluss an seine Tat der weltlichen Gerichtsbarkeit (und dem Urteil Gottes).91 Dies aber ist in der archaischen Welt der Schroffensteiner nicht vorgesehen. Gestraft sind beide Familien aber gleichwohl: Die Frauen Eustache und Gertrude haben, so scheint es, das gebärfähige Alter bereits überschritten, daher werden beide Häuser nun ohne Nachkommen bleiben. Sylvester spricht am Ende des Stücks davon, dass er sich jetzt wohl „von fremden Müttern | Ein fremdes Kind zum Almos [...] erflehen“ (V. 2593 f.) müsse; Rupert bezeichnet sich ebenfalls beschämt als „Kinderloser“ (V.  2714). Der Untergang der eigenen Familie wird von beiden Vätern als symbolische Impotenz erlebt. Im Unterschied zum Mythos des Agamemnon, der Trauer und Schuld zugleich empfindet (da er selbst den Befehl zur 90 So spricht er zu seinem Vasall Theistiner, als dieser ihn zu weiteren Handlungen auffordert, die eingangs durch Ruperts Fehdeerklärung geprägte Formel vom ‚Blutdurst‘ aufgreifend: „Ja, du hast recht! es bleibt die ganze Zukunft | Der Trauer, dieser Augenblick gehört | Der Rache. Einmal doch in meinem Leben | Dürst ich nach Blut, und kostbar ist die Stimmung.“ (V. 2596–2599); vgl. Lü u. Stephens 2008/09, S. 218 f. 91 Odoardo wendet sich höhnisch an den Prinzen von Guastalla, nach der Tötung seiner Tochter Emilia durch die eigene Hand: „Nun da, Prinz! Gefällt sie ihnen noch? Reizt sie noch ihre Lüste? Noch, in diesem Blute, das wider Sie um Rache schreit? (Nach einer Pause.) Aber Sie erwarten, wo das alles hinaus soll? Sie erwarten vielleicht, daß ich den Strahl gegen mich selbst kehren werde, um meine Tat wie eine schale Tragödie zu beschließen? – Sie irren sich. Hier! (Indem er ihm den Dolch vor die Füße wirft.) Hier liegt er, der blutige Zeugen meines Verbrechens! Ich gehe und liefere mich selbst in das Gefängnis. Ich gehe und erwarte Sie als Richter – Und dann dort – erwarte ich Sie vor dem Richter unser aller!“ Gotthold Ephraim Lessing. „Emilia Galotti.“. Werke und Briefe 7. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt a. M. 2000, 291–371, Sz. V/7, S. 371.

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Opferung seiner Tochter gab), geht es bei Kleists Vätern um Trauer und Scham: Der Tod der Kinder ist kein aktives Schuldigwerden ihrerseits, sondern ein tragisch-groteskes „Versehen“ (V. 2705); ihm liegt keine bewusste Handlung, sondern kontingente Selbsttäuschung zugrunde. Insofern ist auch Stephens’ Kontextualisierung der beiden Kindsmorde mit der biblischen Mythe der Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham eher irreführend,92 denn es handelt sich nicht um bewusst durchgeführte Opferhandlungen, die einem höheren Befehl zu gehorchen suchen, sondern um ein undurchschaubares Geschehen, deren ‚Opfer‘ schließlich die eigentlichen Täter werden. Der Tod als „Vollendung tragischer Schuld“93 wird von Kleist, in deutlichem Unterschied zu den Dramen Schillers, bereits in seinem ersten Werk verabschiedet. Die Rhetorik und Kodierung ritterlicher Ehre, um die es in der Familie Schroffenstein nur vordergründig geht, erweist sich auf einer metatextuellen Ebene selbst als Verhüllung der Archaik der Scham. Doch Kleist, als jener Dichter, „der mit den Mitteln der Sprache in Gebärden dichtet“94, zeigt schon in seinem ersten Bühnenwerk, inwieweit der Figurenrede notwendigerweise ein körpersprachlicher Subtext zu unterlegen ist, der die diskursive Selbstermächtigung der Protagonisten fortwährend unterminiert.

92 Vgl. Anthony Stephens. „Der Opfergedanke bei Heinrich von Kleist“. Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall. Hg. v. Gerhard Neumann. Freiburg 1994. 193–248, S. 207. 93 Borelbach 1998, S. 47. 94 Max Kommerell. „Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist“. Ders. Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe – Kleist – Hölderlin. Frankfurt a. M. 1940. 243–317, S. 306.



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3.3  ‚Antike‘ Affektkulturen I – Friedrich Schiller: Die Braut von Messina Ein fatalistisches „Trauerspiel mit Chören“ Mit der ‚romantischen Tragödie‘ Die Jungfrau von Orleans hat Schiller versucht, einen neuen Tragödientypus zu entwickeln, der einerseits die tradierte Gattung des Geschichtsdramas wieder aufgreift, wie sie in der Frühen Neuzeit populär war, andererseits aber auch – korrespondierend mit dem romantischen Drama der Zeit – mittelalterliche‚ insbesondere christlich-wunderbare Elemente integriert. Mit seinem nachfolgenden Werk, dem 1803 erschienenen „Trauerspiel mit Chören“ Die Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder, versucht sich Schiller an einem anderen tragischen Genre, das starke Anleihen an der antiken Tragödie nimmt. Er greift hier keinen historischen (oder mythischen) Stoff auf, sondern Handlung und Personal sind frei erfunden. Als Schauplatz wurde Sizilien gewählt, zeitlich spielt das Stück, wie die anderen beiden bereits behandelten, im Mittelalter. Schiller ist mit der Geschichte Siziliens vertraut und situiert die Handlung aus mehreren Gründen auf dieser Mittelmeerinsel: wegen ihrer ausgeprägten antiken Geschichte und ihrer archäologischen Stätten, aufgrund der Möglichkeit, den vulkanischen Ursprung und die Präsenz des Ätna als Sinnbild der unberechenbaren und gefährlichen Affekte der Figuren einzusetzen und schließlich, weil Sizilien im Mittelalter unter ständiger Fremdherrschaft litt, was zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerung und Ursupatoren sowie zu kulturellem und auch religiösem Synkretismus führte.1 Antik-heidnische, christliche und islamische Motive werden verknüpft;2 des Weiteren finden sich zahlreiche Bezugnahmen auf die griechische Tragödie, so dass in dem Werk mit der Antike, dem Mittelalter und der Zeit um 1800 nicht nur zwei, sondern gleich drei Epochen vermengt werden und überdies in einem höchst heterogenen Kulturraum angesiedelt ist, wie Schiller in der Vorrede darlegt: „Ich habe die christliche Religion und die griechische Götterlehre vermischt angewendet, ja, selbst an den maurischen 1 Vgl. Claudia Albert. „Sizilien als historischer Schauplatz in Schillers Drama ‚Die Braut von Messina‘“. Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 226 (1989): 265–276. 2 In Messina, so Schiller, sind sich „Christentum, Griechische Mythology und Mahomedanismus wirklich begegnet“. Brief Schillers an Christian Gottfried Körner vom 10.3.1803. Friedrich Schiller. Schillers Werke. Nationalausgabe 32. Hg. v. Axel Gellhaus. Weimar 1984, S. 20.

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Aberglauben erinnert. Aber der Schauplatz der Handlung ist Messina, wo diese drei Religionen teils lebendig, teils in Denkmälern fortwirkten und zu den Sinnen sprachen.“3 Trotz antiker Thematik und Dramaturgie finden sich im Detail auch viele christliche Elemente etwa religiöse Orte (Kloster, Kapelle), Handlungen (heilige Messe, Hochamt) oder moralische Grundkonzepte (Sünde, Buße, Gnade).4 Aber auch dafür hat Schiller eine Erläuterung zur Hand: Das Christentum war zwar die Basis und die herrschende Religion, aber das Griechische Fabelwesen wirkte noch in der Sprache, in den alten Denkmälern, in dem Anblick der Städte selbst, welche von Griechen gegründet waren, lebendig fort; und der Mährchenglaube so wie das Zauberwesen schloß sich an die Maurische Religion an. Die Vermischung dieser drey Mythologien, die sonst den Charakter aufheben würden, wird also hier selbst zum Charakter. Auch sie ist vorzüglich in den Chor gelegt, welcher einheimisch und ein lebendiges Gefäß der Tradition ist.5

Schiller erhofft sich also mit dem sizilianischen Schauplatz „ästhetisch eine Schnittstelle zwischen Antike und Moderne ausmachen zu können“6, wobei das aus unterschiedlichen Kulturkreisen entstammende Personal, bestehend aus einheimischem Volk (Chor, Diener, Älteste von Messina) und fremder, ursupatorischer Herrscherfamilie, ein vom Autor intendiertes Konfliktpotential birgt. Eine präzise Zuordnung der „drey Mythologien“ und Kulturformen zu den einzelnen Figuren vorzunehmen, ist zwar nicht an jeder Stelle möglich, es ist aber zumindest erkennbar, dass die Herrscherfamilie, besonders die weibliche Linie, eher christlich geprägt ist. Die Braut von Messina sucht sich gleichwohl eng an den Schicksalsbegriff der attischen Tragödie anzulehnen und ist von Schillers Dramen

3 Friedrich Schiller: „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“. Sämtliche Werke 2: Dramen II. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. München 1981. 815–823, S. 823. 4 Vgl. Joachim Müller. „Choreographische Strategie. Zur Funktion der Chöre in Schillers Tragödie ‚Die Braut von Messina‘“. Friedrich Schiller – Angebot und Diskurs. Zugänge, Dichtung, Zeitgenossenschaft. Hg. v. Helmut Brandt. Berlin u. Weimar 1987. 431–448, S. 434. 5 Brief Schillers an Christian Gottfried Körner vom 10.3.1803. Friedrich Schiller. Schillers Werke. Nationalausgabe 32. Hg. v. Axel Gellhaus. Weimar 1984, S. 20. 6 Günter Oesterle. „Friedrich Schiller: ,Die Braut von Messina‘. Radikaler Formrückgriff angesichts eines modernen kulturellen Synkretismus oder fatale Folgen kleiner Geheimnisse“. Schiller und die Antike. Hg. v. Paolo Chiarini u. Walter Hinderer. Würzburg 2008. 167–175, S. 168.



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das einzige, das sich der Antike auch formal zu nähern sucht.7 In Briefen an seine Zeitgenossen spricht Schiller von einem „Versuch einer Tragödie in strenger Form“ – es ist seines Wissens sogar „das erste [Werk], das in neueren Sprachen nach der Strenge der alten Tragödie verfaßt ist“ –, er rekurriert auf Sophokles und Aischylos als Vorbilder und spricht sogar von einem „kleinen Wettstreit mit den alten Tragikern.“8 Vorbildhaft war insbesondere König Ödipus mit seiner analytischen Technik, die Schiller in Sophokles’ Drama überhaupt als erster entdeckte und benannte.9 So bemerkt er in einem berühmten Brief an Goethe über das antike Werk: „Der Ödipus ist gleichsam nur eine tragische Analysis. Alles ist schon da und es wird nur herausgewickelt.“10 Schillers umstrittenster Bühnentext versucht auf prekäre Weise das Thema des antiken Geschlechterfluchs und einer Art „Urschuld“11 mit der christlichen Vorstellung von Schuld und Sühne und dem aufgeklärten Freiheitsbegriff zu korrelieren. Entscheidend für die Wirkungsintention der Braut von Messina ist die Wiedereinführung des Chors, als einem formalen Mittel, das Schiller weniger vom ‚Reyen‘ des barocken Trauerspiels übernimmt, als von der antiken Tragödie, wie er in der nachträglich verfassten Vorrede Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie ausführt. (Die Wahl dieses Titels verdeutlicht, dass Schiller der terminologischen Unterscheidung von ‚Trauerspiel‘ und ‚Tragödie‘ hier keine Relevanz zumisst, wenn er den einen Begriff zur Kennzeichnung des Werks, den anderen im Titel der Vorrede 7 Zu Schillers ‚Antikenperiode‘ gehört neben der Braut von Messina insbesondere die Balladendichtung mit antiken Sujets. Zur Übernahme antiker Formelemente und Motive im Einzelnen vgl. Joachim Latacz. „Schiller und die griechische Tragödie“. Tragödie. Idee und Transformation. Hg. v. Hellmut Flashar. Stuttgart u. Leipzig 1997. 235–257, S. 251–253. 8 Briefe Schillers an Christoph Friedrich Cotta (d. J.) vom 11.2.1803, Wilhelm von Humboldt vom 17.2.1803, und August Wilhelm Iffland vom 22.4.1803. Friedrich Schiller. Schillers Werke. Nationalausgabe 32. Hg. v. Axel Gellhaus. Weimar 1984, S. 10, 11 u. 15. 9 Vgl. Friedrich Sengle. „Die Braut von Messina“. Der Deutschunterricht 12 (1960): 72–89, S. 80; zu den intertextuellen Bezügen siehe auch: Hermann Weigand: „‚Oedipus Tyrannus‘ und ‚Die Braut von Messina‘“. Schiller 1759 / 1959. Commemorative American Studies. Hg. v. John R. Frey. Urbana 1959. 171–202. 10 Brief Schillers an Johann Wolfgang v. Goethe vom 2.10.1797. Friedrich Schiller. Schillers Werke. Nationalausgabe 29. Hg. v. Norbert Oellers u. Frithjof Stock. Weimar 1977, S. 141. 11 Friedrich Wilhelm Kaufmann. „Schuldverwicklung in Schillers Dramen“. Schiller 1759/1959. Commemorative American Studies. Hg. v. John R. Frey. Urbana 1959. 76–103, S. 96.

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wählt.12) Schiller versteht den Chor als formales Element, das eine Distanzierung des Rezipienten ermöglichen soll – eine Episierung und Stilisierung des Dramas, mittels der dem „Naturalism in der Kunst offen und ehrlich de[r] Krieg [erklärt]“13 werden soll. Schiller bemerkt diesbezüglich, eine interessante, auf Körperscham bezogene Metaphorik wählend: „Der Chor reinigt also das tragische Gedicht, indem er die Reflexion von der Handlung absondert und eben durch diese Absonderung sich selbst mit poetischer Kraft ausrüstet; ebenso, wie der bildende Künstler die gemeine Notdurft der Bekleidung durch eine reiche Draperie in einen Reiz und in eine Schönheit verwandelt.“14 Das Zitat benennt als intendierte Leitfunktion des Chors die Trennung der beiden Ebenen Handlung und Reflexion, wie es Schiller auch in einer zweiten Passage der Vorrede formuliert, in der er darlegt, welche Stellung dem Chor gegenüber der dramatis personae zukommt: Die Gegenwart des Chors, der als ein richtender Zeuge sie vernimmt und die ersten Ausbrüche ihrer Leidenschaft durch seine Dazwischenkunft bändigt, motiviert die Besonnenheit, mit der sie handeln, und die Würde, mit der sie reden. Sie stehen gewissermaßen schon auf einem natürlichen Theater, weil sie vor Zuschauern sprechen und handeln, und werden eben deswegen desto tauglicher, von dem Kunsttheater zu einem Publikum zu reden.15

Schiller weist dem Chor die Aufgabe zu, die Affekte der Protagonisten durch „Dazwischenkunft“ zu bändigen und so reflexive Distanz herzustellen. Insofern der Chor „zwischen die Passionen mit seiner beruhigenden Betrachtung tritt, gibt er unsre Freiheit zurück, die im Sturm der Affekte verloren gehen würde“ – was gleichermaßen auch für die „tragischen Personen selbst“ gilt, die ebenfalls „dieses Anhalts, dieser Ruhe [bedürfen], 12 Vgl. Georg-Michael Schulz. „Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder“. Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Stuttgart 2005. 195–214, S. 196. 13 Schiller 1981, S. 819. Mit diesem Angriff auf den ‚Naturalism‘ in der Kunst „trifft Schiller nicht zuletzt Lessing, der im 59. Stück der Hamburgischen Dramaturgie den Chor für unzeitgemäß erklärt hatte, weil er nach seiner Ansicht die wirklichkeitsnahe Färbung des Dialogs störte“; vgl. Peter-André Alt. Schiller. Leben – Werk – Zeit. Eine Biographie 2. München 2000, S. 544. 14 Schiller 1981, S. 821. Zur Allusion an die aristotelische Katharsis im Begriff des ‚Reinigens‘ vgl.: Marie-Christin Wilm. „Ultima Katharsis. Zur Transformation des Aristotelischen Tragödiensatzes nach 1800“. Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose. Hg. v. Daniel Fulda u. Thorsten Valk. Berlin u. New York 2010. 85–105, S. 100. 15 Schiller 1981, S. 822 f.



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um sich zu sammeln“.16 Wie verschiedentlich bemerkt wurde,17 gelingt dem Chor eine distanzierte Haltung faktisch aber nur an manchen Stellen, an anderen hingegen greift er selbst ins Geschehen ein oder die beiden Teilchöre, die jeweils den verfeindeten Brüdern zugeordnet sind, rivalisieren miteinander, reagieren aggressiv, an einer Stelle sogar explizit neidisch auf den Fürsten, dem sie dienen sollen.18 Dieser Widerspruch zwischen Distanz und Parteinahme wurde mit Hilfe einer Selbstaussage Schillers aufzulösen versucht, der von zwei unterschiedlichen Eigenschaften des Chors spricht: „In der ersten Qualität ist er gleichsam außer dem Stück und bezieht sich also mehr auf den Zuschauer. [...] In der zweiten Qualität, als selbsthandelnde Person, soll er die ganze Blindheit, Beschränktheit, dumpfe Leidenschaftlichkeit der Masse darstellen, und so hilft er die Hauptfiguren herauszuheben.“19 Während hinsichtlich der letztgenannten Eigenschaft in der Forschung Übereinstimmung besteht, ist es insbesondere die erstgenannte Eigenschaft des Chors als distanziert-reflektierende „ideale Person“20, die Schiller durch die Wahl des grammatischen Singulars zwar zu festigen sucht, die aber an vielen Stellen als kollektive Sprecherposition, die dem seinerseits ‚idealen‘ Zuschauer nahe steht, gerade nicht überzeugt, sondern eher irritiert. Neuere Ansätze deuten diese Mehrdeutigkeit und Gegenrede des Chors aber nicht als Manko, sondern als Ausweis der Modernität eines literarischen Textes, der sich „gegen die idealisierenden Vorgaben des Theoretikers Schiller“ eigensinnig behauptet.21 Der als ‚richtender Zeuge‘ bezeichnete Chor – „ein die Polisgemeinschaft

16 Ebd., S. 822. 17 Vgl. etwa John Guthrie. Schiller the Dramatist. A Study of Gesture in the Plays. Rochester 2009, S. 170 f.; Peter-André Alt. Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers. München 2008, S. 192. 18 „Dieses beneid ich ihm unter allem, | Daß er heimführt die Blume der Frauen, | Die das Entzücken ist aller Augen, | Daß er sie eigen besitzt“ (1244–1247). Zitiert wird mit Versangabe aus der Ausgabe: Friedrich Schiller. „Die Braut von Messina. Ein Trauerspiel mit Chören“. Sämtliche Werke 2: Dramen II. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. München 1981. 826–912. Es handelt sich bei den hier angeführten Versen nur um einen Auszug aus einer längeren Sequenz, in der der Chor seinen Neid gegenüber dem Herrscher – hier: Don Cesar – artikuliert. Ob es sich um den Gesamtchor oder den Don Cesar beigesellten Teilchor handelt, bleibt unklar. 19 Brief Schillers an Christian Gottfried Körner vom 10.3.1803. Friedrich Schiller. Schillers Werke. Nationalausgabe 32. Hg. v. Axel Gellhaus. Weimar 1984, S. 19 f. 20 Schiller 1981, S. 823. 21 Vgl. Alt 2000, Bd. 2, S. 547.

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vertretendes Symbol“22 – ist mithin eine paradoxe Instanz, die dem Begriff nach sowohl Zeugnis der Teilhabe ablegt als auch ein objektiv-distanziertes Urteil zu fällen vermag. Der Chor steht mit diesen Funktionen in enger Korrespondenz zum Publikum, da er dieses als eine Art „intradiegetischer Zuschauer“ spiegelt; er „vertritt gewissermaßen den Zuschauer vor der Bühne auf der Bühne“.23 Bettine Menke geht in ihrer Deutung des Chors noch einen Schritt weiter, wenn sie formuliert, dass der Chor in seiner zweifachen Funktion „den Zuschauer als in sich entzweiten und (ihn) entzweiend“24 ‚re-präsentiere‘. Mit der Braut von Messina initiiert Schiller auch eine neue Tendenz der Tragödienentwicklung um 1800: die sogenannte Schicksalstragödie, deren antikes Modell Sophokles’ König Ödipus darstellt und als dessen frühneuzeitliches Pendant – und möglicher Intertext zu Schiller – Calderón de la Barcas Drama La devoción de la cruz zu nennen ist.25 Kennzeichnend für das Schicksalsdrama ist ein Familien- oder Geschlechterfluch, wie er in Schillers Braut von Messina für die moderne Tragödie vorgezeichnet und unter anderem auch in Kleists im gleichen Jahr publizierten Trauerspiel Die Familie Schroffenstein durchgespielt wird (sofern man den Erbvertrag als Substitut eines solchen ‚Fluchs‘ betrachtet). Der maßgebliche Topos ist der eines unausweichlichen fatums, das auf dem Glauben an übergeordnete Mächte und vom Individuum nicht zu beeinflussende Kräfte be-

22 Kristina Wiethaup. „Ein fünfter Chor für die ‚wahre‘ Kunst. Die Chöre in Schillers ,Die Braut von Messina‘ und die Geburt einer neuen Tragödiengattung“. Wirkendes Wort 56.3 (2006): 357–385, S. 360. 23 Christopher J. Wild. Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist. Würzburg 2003, S. 414; siehe zu dieser Doppelfunktion des Chors auch Michael Böhler. „Die Zuschauerrolle in Schillers Dramaturgie. Zwischen Außendruck und Innenlenkung. Der Chor der ‚Braut von Messina‘ und die Darstellungsform des Erhabenen“. Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Hg. v. Wolfgang Wittkowksi. Tübingen 1982. 273–293. 24 Bettine Menke. „Wozu Schiller den Chor braucht“. Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. Hg. v. ders. u. Christoph Menke. Berlin 2007. 72–103, S. 87. 25 Vgl. Henry W. Sullivan. „The Motifs of Incest and Fratricide in Friedrich Schiller’s ,The Bride of Messina‘ and Their Possible Calderonian Sources“. The Lion and the Eagle. Interdisciplinary Essays on German-Spanish Relations over the Centuries. Hg. v. Conrad Kent u. a. New York u. Oxford 2000. 133–151; zur Braut von Messina als Schicksalsdrama vgl. auch: Saskia Schottelius. Fatum, Fluch und Ironie. Frankfurt a. M. 1995. 97–132.



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ruht.26 Trotz ihrer Popularität und Wirkmacht bleibt die Untergattung der Schicksalstragödie nicht unumstritten: „Absurde Zwangsmotivationen von Träumen über wahrsagende Zigeunerinnen und Prophezeiungen bis zu fatalen Requisiten und gespensterhaftem Spuk verdarben, bei manchem poet[ischen] Zug im einzelnen, eine ganze Gattung“27. Ob die Rekurse in der Braut von Messina auf Schicksalsbegriff und Familienfluch gelungen oder misslungen sind, wird in der Forschung bis heute diskutiert. So bemerkt etwa Rolf-Peter Janz positiv, dass Schiller den „Schicksalszusammenhang als Gewaltzusammenhang [entmystifiziert]“28, indem er den Glauben an negative Orakel und das damit einhergehende ‚Verhängnis‘ zwar als kausale Folge vorführt, sich aber zugleich davon distanziert; Günther Oesterle hingegen spricht höchst abwertend von der „fatalistischen Klamottenkiste des Geschlechterfluchs“29. Ob Schiller also intentional das mit dem antiken fatums-Konzept einhergehende Weltbild zu bestätigen oder dieses zu hinterfragen sucht, ist eine der zentralen an das Stück zu richtenden Fragen. Familienfluch und negative Prophetie Im Zentrum des Trauerspiels steht das Fürstenhaus von Messina im 11. oder 12. Jahrhundert, seinerzeit Herrschersitz des sizilianischen Kleinstaats und unter staufischer Herrschaft.30 Durch einen mythischen ‚Frauenraub‘ wurden Zwietracht und damit einhergehende „Greueltaten“ (V. 967) ausgelöst. Es lässt sich ein Generationen übergreifender Scham-Schuld-Zyklus erkennen, denn Feindschaft, Hass und unkontrollierte Affekte werden durch den Fluch des Großvaters initiiert. Dieser wurde durch seinen Sohn in seiner Männlichkeit beschämt, weil der ihm die Braut wegnahm und ihn so in höchstem Maße depotenzierte – drastischer formuliert: der ihn mit dieser Handlung symbolisch kastrierte. Folge ist der Familienfluch, 26 Vgl. Gérard Schneilin. [Art.] „Tragödie“. Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. 3. Aufl. Reinbek 1992. 1061–1064, S. 835. 27 Horst Günther. [Art.] „Trauerspiel“. Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 4. Hg. v. Klaus Kanzog u. Achim Masser. Berlin u. New York 1984. 546–62, S. 559; siehe auch Jacques Le Rider. Freud – von der Akropolis zum Sinai. Die Rückwendung zur Antike in der Wiener Moderne. Übs. v. Christian Winterhalter. Wien 2002, S. 180–182. 28 Rolf-Peter Janz. „Antike und Moderne in Schillers ‚Die Braut von Messina‘“. Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hg. v. Wilfried Barner u. a. Stuttgart 1984. 329–349, S. 332. 29 Oesterle 2008, S. 172. 30 Vgl. Alt 2000, Bd. 2, S. 533.

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der wiederum zur Schuld des Enkels führen wird, wie der Chor, Don Manuel adressierend, ausführt: [E]in Raub wars, wie wir alle wissen, Der des alten Fürsten ehliches Gemahl In ein frevelnd Ehebett gerissen, Denn sie war des Vaters Wahl. Und der Ahnherr schüttete im Zorne Grauenvoller Flüche schrecklichen Samen Auf das sündige Ehebett aus. Greueltaten ohne Namen, Schwarze Verbrechen verbirgt dies Haus. (V. 960–968)

Das im Ödipus-Mythos nur latent angelegte Motiv der Beraubung patriarchaler Vormachtstellung und sexueller Depotenzierung des Vaters durch den Sohn aufgrund der Rivalität um eine dem Älteren zugehörige Frau, ist bei Schiller die faktische ‚Urschuld‘ des Sohnes – die Vater-SohnKonstellation aus Don Carlos also umkehrend. Folge ist ein vom Vater ausgesprochener Familienfluch, der zur Erbschuld der Nachfahren, insbesondere der beiden Enkel, den Protagonisten des Stücks, führt. Schon die zahlreichen Mythen der Antike, in denen der Fluch eines Vaters furchtbare Folgen hatte, können als Problematisierung von dessen Vormachtstellung interpretiert werden, die bereits zur Zeit der großen Tragiker nicht mehr unangefochten war.31 Auch in Schillers Stück ist diese Infragestellung patriarchaler Herrschaft leitmotivisch. Dies zeigt sich nicht nur daran, dass der Fürst zu Beginn bereits verstorben ist, sondern auch an der Unsicherheit, mit der dessen Söhne als dynastische Nachfolger sich dem Volk, ihrer Mutter und auch ihrer Verlobten gegenüber verhalten. So bleibt nicht zufällig den ganzen Stückverlauf über unklar, ob Don Manuel als ältester Sohn nun Herrscher von Messina ist, oder ob diese Rolle nicht doch seiner Mutter Isabella, der Witwe des verstorbenen Fürsten, zukommt.32

31 Vgl. Erec Robertson Dodds. Die Griechen und das Irrationale. Übs. v. HermannJosef Dirksen. Darmstadt 1970, S. 33. 32 Anders sieht dies Jennifer Colosimo, die Isabellas Eingangsmonolog deutet, sie sei „prepared to assume the leadership of Messina“ und sie wenig später sogar als „ruler of Messina after her husband’s death“ bezeichnet. Jennifer Driscoll Colosimo. „The Rhetoric of Passivity and the Challenge of Modernity in Schiller’s ,Die Braut von Messina‘“. German Studies Review 30.3 (2007): 611–631, S. 612 u. 616. Dem steht allerdings gegenüber, dass Don Manuel sich Beatrice gegenüber folgendermaßen identifiziert. „Don Manuel heiß ich – doch ich bin der Höchste, | Der



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Das Geschehen setzt in dem Moment ein, als der alte Fürst soeben beerdigt wurde, seine seit ihrer frühen Kindheit verfeindeten Söhne, Don Manuel und Don Cesar, ihren „Bruderhaß“ (V. 25) begraben wollen und der ersehnte Friede in Sicht ist. Dem Volksglauben zufolge wird ihr gegenseitiger Hass dem Fluch des Großvaters zugeschrieben, wie der Chor bemerkt: „Es ist kein Zufall und blindes Los, | Daß die Brüder sich wütend selbst zerstören, | Denn verflucht ward der Mutter Schoß, | Sie sollte den Haß und den Streit gebären“ (V. 973–76). Wie bei Sophokles ist es der weibliche Körper, der mit einem Fluch besetzt wurde und daher ‚unrein‘ ist. Im Unterschied zur Exposition des etwa zeitgleich verfassten Trauerspiels Die Familie Schroffenstein, in dessen Zentrum ebenfalls ein Begräbnis steht, wirkt der Tod des Familienmitglieds hier zunächst deeskalierend: Es wird die Chance erkennbar, einen schon lange schwelenden Zwist nach kurzzeitigem Auflodern vielleicht für immer beenden zu können. Der Unterschied liegt nicht zuletzt darin begründet, dass bei Kleist ein unschuldiges Kind dem Anschein nach ermordet wurde, was den Rachewunsch der Hinterbliebenen auslöst, bei Schiller hingegen ein charakterlich ambivalenter älterer Mann einem natürlichen Tode erlag. Sein negativer Charakter wird nicht nur daran deutlich, dass er seinem Vater die Frau raubte und seine kleine Tochter aus Selbstschutz töten lassen wollte, sondern auch daran, dass er beide Söhne aufgrund ihres Streits sogar aus dem Palast verbannte (vgl. V. 39 f.). Nach Jahrzehnten des Streits und der Zwietracht ist der von Volk und Fürstin gleichermaßen ersehnte Familienfrieden in Messina nunmehr in Sicht. In einer an die Rührung des Zuschauers appellierenden Szene sucht Fürstin Isabella die Prinzen zu versöhnen, wobei auffällig ist, dass sie um Schuld und Vergebung kreisende christliche Argumente wählt, um so einen Weg zu weisen, der den antikisierten „Dämon“ vielleicht außer Kraft zu setzen imstande ist: O meine Söhne! Kommt, entschließet euch, Die Rechnung gegenseitig zu vertilgen, Denn gleich auf beiden Seiten ist das Unrecht. Seid edel, und großherzig schenkt einander Die unabtragbar ungeheure Schuld. Der Siege göttlichster ist das Vergeben! In eures Vaters Gruft werft ihn hinab Den alten Haß der frühen Kinderzeit! (V. 423–430) diesen Namen führt in dieser Stadt, | Ich bin Don Manuel, Fürst von Messina.“ (V. 1821–1823).

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Als dieser Appell nicht zu fruchten scheint – die Bühnenanweisung lautet: „Beide blicken zur Erde, ohne einander anzusehen“ (nach V. 432) – und auch der mit Nachdruck in gleicher Argumentation fortfahrende Chor nichts zu erreichen vermag, verzweifelt die Fürstin und wirft den Prinzen entgegen: [...] Gehorcht Dem Dämon, der euch sinnlos wütend treibt, Ehrt nicht des Hausgotts heiligen Altar, Laßt diese Halle selbst, die euch geboren, Den Schauplatz werden eures Wechselmords. Vor eurer Mutter Augen zerstört euch Mit euren eignen, nicht durch fremde Hände. Leib gegen Leib, wie das thebanische Paar [...]. (V. 443–450)

Explizit rekurriert Isabella hier auf die Söhne des Thebaners Ödipus, die sich dem Mythos zufolge aufgrund einer durch den antiken Geschlechterfluch auf ihnen lastenden Rivalität gegenseitig im Zweikampf ermordeten, und wählt so ein der Antike entnommenes negatives Paradigma fehlender Aufklärung und Rationalität. Dies schließlich scheint zu fruchten, denn Don Manuel und Don Cesar beginnen tatsächlich aufeinander zuzugehen. In einer diffizilen Auseinandersetzung darüber, wer wem ohne „Schande“ (V. 467) weichen darf, stellen beide sich als schuldlos am Bruderzwist dar. Vielmehr versuchen sie den Dienern „alle Schuld“ (V. 489) zuschreiben. Schließlich jedoch reichen sie einander die Hände und am Ende der Szene fallen sie sich sogar in die Arme. Wenig später offenbart Don Manuel seinem hier die Rolle des Vertrauten der tragédie classique einnehmenden Teilchor, dass er eine junge Frau liebt, die derzeit im Kloster lebt. Er möchte sie heiraten, hat sie bereits heimlich entführt und in einen Garten nahe bei Messina gebracht. Diese fatal an seinen verstorbenen Vater erinnernde illegale Handlung wird von dem von „ahnungsvolle[n] Träume[n]“ (V. 952) bedrängten Chor als „verwegne Tat“ (V. 957) verurteilt. Dieser wirft Don Manuel sogar direkt vor: „Raub hast du an dem Göttlichen begangen, | Des Himmels Braut berührt mit sündigem Verlangen, | Denn furchtbar heilig ist des Klosters Pflicht“ (V. 719–721). Don Manuel gibt keine direkte Antwort darauf, etwas später aber bemerkt er, seine Handlung moralisch legitimierend: „Nicht Raub am Himmel war mein Glück, denn noch | Durch kein Gelübde war das Herz gefesselt, | Das sich auf ewig mir zu eigen gab“ (V. 736–738) – die junge Frau könne, so sein Argument, sehr wohl seine Braut sein, weil sie das Nonnengelübte noch nicht abgelegt hat.



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Beatrice, die in der Generationenfolge zweite ‚gestohlene Braut‘ – und, korrespondierend mit dem antiken Ödipus aufgrund der frühen traumatischen Verstoßung durch die Eltern „[s]ich selber ein Geheimnis“, in Unkenntnis ihres „Geschlecht[s]“ und „Vaterland[s]“ (V. 746 f.) – wird von Furcht, Vorahnungen und Reue geplagt. Diese selbstanklagenden Regungen sind nicht nur dadurch motiviert, dass sie sich vorschnell ihren Gefühlen zu Don Manuel hingegeben hat, als dieser „[s]chön wie ein Gott und männlich wie ein Held“ (V. 1031) an der Klosterpforte stand, sondern auch darin, dass sie der feierlichen Beerdigung des Fürsten beiwohnte, obwohl Manuel ihr dies untersagt hatte (vgl. V. 1897). Dabei ereignete sich ihrem Selbsturteil zufolge eine sündhafte erotische Transgression, als sie in der Menge des Zuschauer stehend von einem fremden jungen Mann durchdringend angestarrt wurde und diesen Blick sogar erwiderte: Dort bei jenes Festes Feier, Da der Fürst begraben ward, Mein Erkühnen büßt ich teuer, Nur ein Gott hat mich bewahrt – Da der Jüngling mir, der fremde, Nahte mit dem Flammenauge, Und mit Blicken, die mich schreckten, Mir das Innerste durchzuckten, In das tiefste Herz mir schaute – Noch durchschauert kaltes Grauen, Da ichs denke, mir die Brust! Nimmer, nimmer, kann ich schauen In die Augen des Geliebten, Dieser stillen Schuld bewußt! (V. 1088–1101)

Bei dem unbekannten ‚flammenäugigen Jüngling‘ handelt es sich um niemand anderen als um Don Cesar, den jüngeren Bruder ihres Verlobten. (Merkwürdig natürlich ist, dass dieser Fürstensohn auf der offiziellen Beerdigungszeremonie für seinen Vater nicht deutlich als solcher erkennbar ist, sondern Beatrice als Unbekannter erscheint.) Das an Die Jungfrau von Orleans erinnernde Motiv des beiderseitigen erotischen Blicks wird von Schiller hier zwar wieder aufgenommen, ihm kommt jedoch nicht die gleiche Bedeutung zu, weil sich Beatrice zwar schuldig fühlt, insofern sie den Blick erwidert hat, aber keine emotionale Bindung mit dem Fremden entsteht, die ein selbst geschaffenes moralisches Gebot in Frage stellt. Der Blick wird auch nicht als wechselseitiges Begehren verstanden, wie in der Jungfrau von Orleans, und er wird nicht szenisch gestaltet, sondern

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bloß retrospektiv berichtet, so dass ihm hier auch nicht die Funktion der Peripetie zukommt. Viel eher lässt er sich noch als latente Anagnorisis interpretieren, mithin als narzisstisches Motiv: eine Spiegelung des Selbst im Anderen, wie sie sich in der Braut von Messina an vielen Stellen findet, insbesondere wenn die Familienmitglieder – bewusst oder unbewusst – gegenseitige Ähnlichkeiten erkennen, was, wie auch im obigen Zitat, jeweils ‚heimlich-unheimliche‘33 Gefühle auslöst (so entdecken die Söhne Züge ihrer Mutter Isabella im Gesicht von Beatrice; Beatrice hingegen stellt Ähnlichkeiten zwischen Manuel und Cesar fest, als sie noch nicht weiß, dass sie Brüder sind34). In ihrem ersten Bühnenauftritt geht Beatrice in einem langen Monolog (V. 981–1108) mit sich ins Gericht; ähnlich wie Johanna artikuliert sie darin Schuldgefühle und Reue.35 Der Monolog ist inhaltlich dem Johannas nachgebildet, ohne aber dessen Konflikthöhe zu erreichen. Als vollzöge sich eine Externalisierung von Beatrices schlechtem Gewissens tritt plötzlich Don Cesar, der primäre Auslöser ihrer Schuldgefühle, auf. Nach einem durchaus poetischen Liebesgeständnis („Dich hab ich | Gesucht, nach dir geforschet, wachend, träumend | Warst du des Herzens einziges Gefühl, | Seit ich [...] | Wie eines Engels Lichterscheinung dich | Zum erstenmal erblickte“; V. 1115–1120) macht er ihr in seiner ungestümen Art einen Heiratsantrag und gibt sofort, anders als der Bruder, seine Identität preis: „Ich bin Don Cesar und in dieser Stadt | Messina ist kein Größrer über mir“ (V. 1160 f.). Diese Aussage offenbart seine Hybris, ist er durch das Erstgeburtsrecht doch seinem älteren Bruder nachgeordnet.36 Verschreckt antwortet Beatrice auf diese Erklärung nicht, was er als Scham missdeutet („Dein Staunen lob ich und dein sittsam 33 Vgl. Takashi Sakamoto. „Das ‚Ungeheure‘ in Schillers ,Die Braut von Messina‘“. Goethe-Jahrbuch Japan 46 (2004): 117–134, S. 122 f. u. 128–131. 34 Vgl. z. B. V. 501–504, 710–713, 1528 f. u. 1539. Siehe diesbezüglich auch Lothar Pikulik. Der Dramatiker als Psychologe. Figur und Zuschauer in Schillers Dramen und Dramentheorie. Paderborn 2004, S. 280–283. 35 Dies ist der einzige wirkliche Monolog des ganzen Stücks; neben ihm gibt es nur die lange monologische Rede Donna Isabellas an die Ältesten von Messina, mit der das Stück eröffnet wird (V. 1–100), ferner den schon erwähnten ‚Monolog‘ des Chors, in dem dieser sich – in Anwesenheit Beatrices – quasi selbst seine ambivalenten Gefühle gegenüber dem Herrscher offenbart (V. 1230–1259); bei beiden handelt es sich nicht um klassische Monologe im Sinne der intimen Selbstaussprache eines Individuums. 36 Wie er an anderer Stelle auch unumwunden selbst zugibt, wenn er zu Don Manuel sagt: „Du bist der ältere Bruder, rede du! | Dem Erstgebornen weich ich ohne Schande.“ (V. 466 f.).



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Schweigen, | Schamhafte Demut ist der Reize Krone“; V. 1162 f.). Den Chor fordert er kurzerhand auf, Beatrice als seine Braut zu betrachten und zu bewachen, bis er zurückkehrt; ihre Einwilligung wartet er nicht ab. Als Beatrice mit dem Chor zurückbleibt, erkennt sie schlagartig die genealogischen Zusammenhänge. Ihre antikisierte Klage („Wehe mir! In welche Hand | hat das Unglück mich ergeben!“; V. 1211 f.) macht auch deutlich, wie zwiespältig die zerstrittene Fürstenfamilie von ihrem Volk wahrgenommen wird: Jetzt versteh ich das Entsetzen, Das geheimnisvolle Grauen, Das mich schaudernd stets gefaßt, Wenn man mir den Namen nannte Dieses furchbaren Geschlechtes, Das sich selbst vertilgend haßt, Gegen seine eignen Glieder Wütend mit Erbittrung rast! Schaudernd hört ich oft und wieder Von dem Schlangenhaß der Brüder, Und jetzt reißt mein Schreckensschicksal Mich, die Arme, Rettungslose, In den Strudel dieses Hasses, Dieses Unglücks mich hinein! (V. 1216–1229)

Beatrice sieht sich in einen ‚Schicksalsstrudel‘ hineingezogen, aus dem sie sich aus eigenen Stücken anscheinend nicht befreien kann. Ihre Klage, die vom anwesenden Chor, der ausschließlich mit seinen eigenen Gefühlen (dem Neid auf den Herrscher) beschäftigt ist, unkommentiert stehen bleibt, kommt dramaturgisch eine antizipierende Funktion zu: Alles nachfolgende Unglück, das über die Fürstenfamilie hereinbrechen wird, wird hier bereits prophezeit. Dieser Frauenfigur wird von Schiller aber keine autonome Handlungsweise zugebilligt, sie ist vielmehr passiver Gegenpart der aggressiv um sie werbenden Prinzen. Bei der nachfolgenden Begegnung von Donna Isabella und ihren Söhnen gibt die Mutter ihr Geheimnis preis: Die beiden haben eine jüngere Schwester, die aufgrund einer bösen Prophezeihung getötet werden sollte, von ihr aber heimlich „an verborgner Stätte“ (V. 1360) durch „fremde Hand“ (V. 1362) aufgezogen wurde. Wie in der antiken Tragödie versuchen die Handelnden dem auf ihnen lastenden Fluch zu entgehen und die Tragik besteht genau darin, dass sie dadurch den Untergang des Königs-

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hauses evozieren.37 Sowohl Donna Isabella als auch Don Cesar verfluchen im Verlauf der Handlung im Affekt erneut ihre Familie oder ein Mitglied derselben, dem sie zugleich Schuld zuschreiben.38 Das deutlich auf König Ödipus referierende Motiv des trotz negativer Prophezeihung nicht getöteten, sondern durch die heimliche Intervention der Mutter verbannten Kindes wird durch zwei Träume motiviert, von denen Isabella den Prinzen berichtet. Schiller ersetzt die antike Vorgabe des Orakels durch diesen Doppeltraum und damit objektives ‚Wissen‘ durch subjektive, notwendig der Deutung zu unterziehende ‚Wahrheit‘. Ein arabischer Gelehrter hatte den Traum des Vaters so interpretiert: „[W]enn mein Schoß von einer Tochter | Entbunden würde, töten würde sie ihm | Die beiden Söhne und sein ganzer Stamm | Durch sie vergehn“ (V. 1321–1324). Ein Traum der Mutter wurde von einem christlichen Mönch hingegen dahingehend ausgelegt, dass die Tochter Versöhnung bringen würde: „Genesen würd ich einer Tochter, | Die mir der Söhne streitende Gemüter | In heißer Liebesglut vereinen würde“ (V. 1349–1351). Donna Isabella, „[d]em Gott der Wahrheit mehr als dem der Lüge | Vertrauend“ (1353 f.), wie sie den Prinzen gegenüber ausführt, rettet die Tochter heimlich und lässt sie im Verborgenen aufwachsen. Hier wird ein das Fürstenhaus latent prägender Religionskonflikt der Elterngeneration deutlich, hat sich doch der verstorbene Fürst auf einen islamischen, die Mutter hingegen auf einen christlichen Ratgeber verlassen. Isabella richtet nach ihrem Geständnis die rhetorische – und psychoanalytisch gelesen durchaus sexuell konnotierte – Frage an ihre Söhne: „Konnt ich die Schwester zwischen eure wild | Entblößten Schwerter stellen?“ (V. 1376 f.). Bei Sophokles wie Schiller versuchen die Figuren mit allen Mitteln der prophezeiten genealogischen Selbstauslöschung zu entrinnen; die tragische Ironie besteht darin, dass sie diese gerade dadurch evozieren, wie Peter Szondi bemerkt: „[N]icht im Untergang des Helden vollzieht sich die Tragik, sondern darin, daß der Mensch auf dem Weg un-

37 Vgl. Wolfgang Schadewaldt. „Antikes und Modernes in Schillers ‚Die Braut von Messina‘“. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 13 (1969), 286–307, S. 298. 38 Isabella verflucht am Leichnam ihres älteren Sohns – unwissentlich – den jüngeren, sich selbst und schließlich die gesamte Herrscherfamilie: „O Fluch der Hand, die diese Wunde grub! | Fluch ihr, die den Verderblichen geboren, | Der mir den Sohn erschlug! Fluch seinem ganzen | Geschlecht!“ (V. 2322–2325); Don Cesar hingegen verflucht – wissentlich – seine Mutter: „So sei der Tag verflucht, der mich geboren! | [...] Verflucht der Schoß, der mich | Getragen! – Und verflucht sei deine Heimlichkeit, | Die all dies Gräßliche verschuldet!“ (V. 2470–2473).



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tergeht, den er eingeschlagen hat, um dem Untergang zu entgehen.“39 Da in dem Stück das Mittel tragischer Ironie exzessiv eingesetzt wird, erweisen sich beide nur auf den ersten Blick kontradiktorischen Traumdeutungen als wahr. Denn die im Verborgenen aufgewachsene Tochter ist niemand anderes, als die von beiden Prinzen begehrte Beatrice, die ihrerseits den älteren, Don Manuel, liebt. Erst wird Cesar seinen Bruder erstechen, als er Beatrice in dessen Armen sieht. Im Finale des Stücks tötet er sich dann selbst – um den Göttern ein Opfer darzubringen und seine Schuld abzubüßen. „Schlangenhaß der Brüder“ und (Auto-)Aggression des Helden Interessant für eine Analyse der Affektdynamik von Scham und Schuld ist besonders Don Cesar, den Schiller als eine Art modernen Ödipus konzipiert. Peter-André Alt hat den konzeptionellen Unterschied auf folgende treffende Formel gebracht: „Die moderne Perspektive der Tragödie besteht darin, daß sie die im Medium der attischen Dramenform entfaltete Konfliktlage nicht auf metaphysische, sondern auf subjektive Antriebskräfte zurückführt.“40 Don Cesars Handeln ist durch Neid, Eifersucht und Missgunst motiviert, was in deutlichem Kontrast zu seiner heroisch-idealistischen Konzeption steht. Manche Interpreten haben diese negativen Charakterzüge daher als Eigenschaften verstanden, die Schiller so ausgeprägt zeigt, um die Transformation und Läuterung des Helden zu betonen.41 Andere weisen darauf hin, dass sich die von starken Affekten geprägten Reaktionen Don Cesars bis zum Schluss finden, ja geradezu über seinen Tod hinaus, was eher auf die Ambivalenz seines Charakters verweist.42 Die letztgenannte Deutung 39 Peter Szondi. „Versuch über das Tragische“. Schriften 1. Frankfurt a.  M. 1978. 149–260, S. 213; zur diesbezüglichen Deutung der Braut von Messina siehe auch Schadewaldt 1969, S. 298; John Simons. „Hamartia and Até in Schiller’s Drama“. Colloquia Germanica 19 (1986): 187–202, S. 191. 40 Alt 2000, Bd. 2, S. 541. 41 Vgl. etwa Wolfgang Albrecht. „,Der freie Tod nur bricht die Kette des Geschicks‘. ‚Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder‘“. Schiller. Das dramatische Werk in Einzelinterpretationen. Hg. v. Hans-Dietrich Dahnke u. Bernd Leistner. Leipzig 1982. 218–247, S. 238 f. u. 247; Simons 1986, S. 192; Monika Ritzer. „Not und Schuld. Zur Funktion des ‚antiken‘ Schicksalsbegriffs in Schillers ‚Braut von Messina‘“. Schiller heute. Hg. v. Hans-Jörg Knobloch u. Helmut Koopmann. Tübingen 1996. 131–150. 42 Vgl. etwa Horst S. Daemmrich. „The Incest Motif in Lessing’s ‚Nathan der Weise‘ and Schiller’s ‚Braut von Messina‘“. The Germanic Review 42 (1967): 184–196, S. 195; Janz 1984, S. 342–345; Karl S. Guthke. „Die Braut von Messina“. SchillerHandbuch. Hg. v. Helmut Koopmann. Stuttgart 1998. 466–485, S. 478–484.

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erscheint schlüssiger, weil keine stringente Wandlung erkennbar ist – Don Cesar bleibt widersprüchlich: teils altruistisch, teils selbstbezogen – und weil sie für die Psychodynamik der Handlung plausibler erscheint. Als ihn beherrschende Affektlogik zeigt sich Don Cesars Bruderrivalität gleich zu Beginn: Von seiner Liebe zu der (weder namentlich noch genealogisch identifizierten) Beatrice und dem Wunsch, sie zu seiner Braut zu machen, erzählt er nur, weil Don Manuel seine Heiratspläne offenbart und die Mutter mit äußerster Freude reagiert: Verschwende, Mutter, deines Segens Fülle Nicht an den einen erstgebornen Sohn! Wenn Liebe Segen gibt, so bring auch ich Dir eine Tochter, solcher Mutter wert, Die mich der Liebe neu Gefühl gelehrt. (V. 1410–1414)

Aufgrund der durchschaubaren Motivation seines Heiratsplans dekonstruiert sich Cesars Liebe in gewisser Hinsicht selbst. In seiner Abhandlung Über das Pathetische bemerkt Schiller, dass sich der tragische Held erst als solcher zu beglaubigen habe, bevor er durch das „Vermögen des Wiederstandes“ als „Darstellung der moralischen Freiheit“ fungieren kann; er „muß sich erst als empfindendes Wesen bei uns legitimiert haben, ehe wir ihm als Vernunftwesen huldigen und an seine Seelenstärke glauben“43 – eben diese positive Konstitution Don Cesars erfolgt an keiner Stelle. Unmittelbar nach dem Mord behauptet er nicht nur, dass dieser gerecht war, sondern auch, dass ihm göttliche Legitimation zukam („Ein furchtbar gräßlich Ansehn hat die Tat, | Doch der gerechte Himmel hat gerichtet.“; V. 1915 f.) – eine Anmaßung der Hybris. Noch nachdem er seinen Bruder im Affekt erstochen hat, überfallen ihn trotz tiefer Schuldgefühle, Zerknirschung und Reue immer wieder Neid und Missgunst auf den Toten. In der an die Anagnorisis von Mutter und Tochter und die Erkenntnis seiner doppelten Schuld anschließenden Szene etwa fleht Cesar Beatrice an, sie möge sich ihm nicht wie die Mutter entsagen: Nicht den Geliebten habe ich dir getötet! Den Bruder hab ich Dir und hab ich mir Gemordet – dir gehört der Abgeschiedne jetzt Nicht näher an als ich, der Lebende, Und ich bin mitleidswürdiger als er, Denn er schied rein hinweg und ich bin schuldig. (V. 2514–2519) 43 Schiller 1993, S. 513.



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Das Wissen um seine Schuld unterscheidet ihn von Don Manuel, der in Unkenntnis des Geschwisterverhältnisses zu seiner Verlobten starb. Don Cesar bittet aufgrund der Last seiner Schuld um ihr besonderes Mitgefühl. Gleichzeitig sucht er, den Status Don Manuels vom Geliebten zum Bruder umzukodieren und somit die Trauer Beatrices der seinen anzugleichen (so dass man hier auch eine unterschwellige Rivalität mit der Schwester finden kann). Auch als sie laut Regieanweisung „in heftige Tränen aus[bricht]“ (nach V. 2519), argumentiert er weiter – in glasklarer Rationalität über exzessive Gefühle. Seine Rede will einen Registerwechsel der Liebe erzwingen, den nicht nur Beatrice, sondern auch er selbst zu vollziehen hat. Einzig möglicher Trost für ihn wäre ein exakt gleiches Maß ihrer Liebe. Die fortwährenden Tränen um Don Manuel hingegen erträgt er nicht: Weine um den Bruder, ich will mit dir weinen, Und mehr noch – rächen will ich ihn! Doch nicht Um den Geliebten weine! Diesen Vorzug, Den du dem Toten gibst, ertrag ich nicht. Den einzgen Trost, den letzten, laß mich schöpfen Aus unsers Jammers bodenloser Tiefe, Daß er dir näher nicht gehört als ich – Denn unser furchtbar aufgelöstes Schicksal Macht unsere Rechte gleich, wie unser Unglück. In einen Fall verstrickt, drei liebende Geschwister, gehen wir vereinigt unter, Und teilen gleich der Tränen traurig Recht. Doch wenn ich denken muß, daß deine Trauer Mehr dem Geliebten als dem Bruder gilt, Dann mischt sich Wut und Neid in meinen Schmerz, Und mich verläßt der Wehmut letzter Trost. (V. 2520–2535)

Ganz ähnlich, mit geradezu infantil anmutender Eifersucht, beklagt Cesar die fehlende Mutterliebe, nachdem deutlich wird, dass Isabella, entgegen ihrer früheren Behauptung,44 seinen Bruder privilegiert hat, was Cesars das Drama durchziehende „almost paranoid fear“45 vor Benachteiligung nur bestätigt. Isabellas Präferenz des älteren Sohnes lässt sich als Narzissmus deuten, sieht doch Don Manuel ihr selbst sehr ähnlich, Don Cesar hingegen dem charakterlich ambivalenten Vater (vgl. V. 502–505). Isabellas im 44 „An diesen Brüsten nährt ich beide gleich, | Gleich unter sie verteil ich Lieb und Sorge, Und beide weiß ich kindlich mir geneigt. | In diesem einzgen Triebe sind sie eins, | In allem andern trennt sie blutger Streit.“ (V. 29–33). 45 Daemmrich 1967, S. 191.

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Affekt erfolgte Aussage am Leichnam Manuels, mit der sie sich von Cesar lossagt („Ermordet liegt mir der geliebte Sohn, | Und von dem lebenden scheid ich mich selbst. | Er ist mein Sohn nicht – Einen Basilisken | Hab ich erzeugt, genährt an meiner Brust, | Der mir den bessern Sohn zu Tode stach.“; V. 2496–2500), nimmt er als tiefe Wahrheit, wenn er klagt: „Sie hat mich nie geliebt! [...] | Sie nannt ihn ihren bessern Sohn!“ (V. 2554– 2556). Don Cesar selbst hatte zuvor die (fast inzestuöse) Abhängigkeit von seiner Mutter betont, eine Bindung, aus der ihn erst die Liebe zu Beatrice befreien konnte: „Gleichgültig war und nichtsbedeutend mir | Der Frauen leer geschwätziges Geschlecht, | Denn eine zweite sah ich nicht, wie dich, | Die ich gleich wie ein Götterbild verehre.“ (V. 1483–1486). Auffällig ist, wie unverhüllt Cesar derartige Gefühle äußert, so als gäbe es kein psychisches Vermögen, zwischen dem Affekt und seiner Verbalisierung zu trennen. Im Unterschied zu seinen früheren Werken wählt Schiller hier nicht das tradierte Mittel des Monologs, um die innere Zerrissenheit seiner Hauptfigur zu zeigen. Die Affekte werden schonungslos im Angesicht des familialen Gegenübers artikuliert. Psychoanalytisch verweist diese Redeweise auf eine primärnarzisstische Störung, also auf eine frühe Phase in der Kindheitsentwicklung, in der die ‚objektale Getrenntheit‘ von Selbst und Anderem noch nicht vollzogen ist.46 Auf den ersten Blick wirkt diese gänzlich ungeschönte Artikulation geradezu ‚schamlos‘. Meine These aber ist, dass es sich, im Gegenteil, um einen Ausdruck existenzieller Schamhaftigkeit handelt. Die Verbalisierung negativer Gefühle erweist sich dann als paradoxer Ausdruck eines archaischen Schamkonflikts, indem nämlich die Figur ihre eigene Nichtigkeit, ihren ‚Liebesunwert‘47, fortwährend selbst herstellt. Das schonungslose Aussprechen der 46 Seidler hält diesbezüglich verschiedene Phasen der Kindheitsentwicklung fest, die mit einer je unterschiedlich gerichteten Form der Aggressivität verbunden sind: „Die zur objektalen Getrenntheit führende Aggressivität wird zunächst projektiv dem Anderen zugeschrieben. Im Sinne eines zweiten Schrittes wird sie wieder angeeignet und vernichtend gegen das eigene Selbst gewendet. Die daraus resultierenden Selbstentwertungen haben häufig entweder Vorwurfs- oder Opfer-Qualität: ‚Wenn ich tot bin, bist Du die Last und den Ärger mit mir los‘.“ Günter H. Seidler. Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham. 2. verb. u. erweit. Aufl. Stuttgart 2001, S. 267; zur allgemeinen Definition des primären Narzissmus als Phase, in der das Kind noch keine äußeren Liebesobjekte wählt, sondern auf sich selbst bezogen ist, vgl. Jean Laplanche u. Jean-Bernard Pontalis. [Art.] „Narzißmus, primärer, sekundärer“. Das Vokabular der Psychoanalyse. Übs. v. Emma Moersch. 12. Aufl. Frankfurt a. M. 1994. 320–323. 47 „Ist, allgemein ausgedrückt, Scham dann, in ihrer tiefsten Schicht, die stets sich vertiefende Überzeugung des eigenen Liebesunwertes – für einen Mann wegen des Aus-



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gegen sich selbst gerichteten Gefühle ist weniger als Anklage (Schuld), denn als negative Selbsteinschätzung (Scham), mithin als autoaggressive Handlung zu deuten. Diese wird nicht erst durch ein Wissen um die tabuisierte Schwesterliebe ausgelöst, sondern schon durch die Rivalität mit dem älteren und bei den Frauen erfolgreicheren Bruder. Auch nach dem Wissen um ihr Geschwisterverhältnis liebt Don Cesar Beatrice weiter – eine fundamentale Tabuverletzung. Der in der Braut von Messina ausgetragene Bruderkonflikt – um die Liebe der Mutter, um die Herrschaft in Messina, um die Braut und Schwester – ist dem von Bastian und Hilgers analysierten biblischen Paradigma von Kain und Abel nicht unähnlich. Auch bei Schiller vernichtet der Beschämte in einer Dreieckssituation den Rivalen, dem aus kontingent erscheinenden Gründen der Vorzug gegeben wird (wobei in dieser Analogie Beatrice die göttliche Position einnimmt, was der Idealisierung ihrer Person aber durchaus entspricht). Beatrice muss so miterleben, dass Don Cesar sich im Affekt tatsächlich zu jener Machtinstanz erhebt, als die er sich bei ihrer ersten Begegnung bereits eingeführt hatte, wenn er davon sprach, in dieser Stadt sei ‚kein Größerer‘ als er. Er wälzt seine Scham der unerwiderten Liebe und der wiederholten Niederlage gegenüber seinem Bruder auf Beatrice ab, die diese Ohnmachtserfahrung auch sofort physisch vollzieht, indem sie das Bewusstsein verliert, als Don Cesar Don Manuel ersticht (nach V. 1904). Entgegen dieser Befunde ist in dem Stück aber nie von ‚Scham‘ die Rede, sondern durchgehend von ‚Schuld‘. Dies stellt auch einen deutlichen Unterschied zu anderen Schiller-Dramen her, die um ähnliche Affektdispositionen kreisen und in denen auch ‚Scham‘, ‚Schmach‘ und ‚Schande‘ artikuliert werden, etwa in Die Jungfrau von Orleans oder Maria Stuart (dass es sich dabei um Stücke mit weiblichen Helden handelt, lässt Rückschlüsse über die gender-spezifische Kodierung dieser Affekte bei Schiller zu48). In der Braut von Messina ist die faktische Schuld des Brudermords geliefertseins an die alles durchdringende Kastrationsangst, für eine Frau wegen des Gefühls des genitalen Defekts?“; Léon Wurmser. Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Übs. v. Ursula Dallmeyer. 2. erw. Aufl. Berlin u. a. 1993, S. 157. 48 Diese Kodierung kann auf zeitgenössische Kontexte und Wahrnehmungen rekurrieren; vgl. Edith Saurer. „Scham- und Schuldbewußtsein. Überlegungen zu einer möglichen Geschichte moralischer Gefühle unter besonderer Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte“. „Das Weib existiert nicht für sich“. Geschlechterbeziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft. Hg. v. Heide Dienst u. ders. Wien 1990. 21–40.

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einerseits Resultat und ‚Lösung‘ des skizzierten Schamkonflikts des Protagonisten, die seine Passivität affektdynamisch in Aktivität zu transformieren sucht. Seine fortwährende Diskursivierung von Schuld ist andererseits aber auch ein – beständig misslingender – Versuch der Schamabwehr. Von einem „Mangel an psychologisch-pragmatischer Motivierung“49, den Monika Ritzer dem Stück attribuiert, kann also bezüglich der Hauptfigur eigentlich keine Rede sein. Don Cesars Schuld und Sühne? Don Cesars Suizid am Ende des Trauerspiels ist mehrdeutig und in der Forschung umstritten. Meiner Auffassung nach handelt es sich um eine finale Wendung des Helden gegen sich selbst. Der Freitod sühnt die aus der Tötung des Bruders und dem anhaltenden Begehren der leiblichen Schwester resultierende Schuld, aber er drückt auch die fortwährende Scham über die vernichtende Niederlage und die darin enthaltene narzisstische Krise aus.50 Eben diese zweifache (und darin verschleiernde) Funktion des Suizids – als archaische Selbstvernichtung aufgrund von Scham und als gerechte Bestrafung einer tiefen, unhintergehbaren Schuld – wird in den Sentenzen deutlich, die Cesar vor seiner Tat dem Chor vorhält: Nicht auf der Welt lebt, wer mich richtend strafen kann, Drum muß ich selber an mir selber es vollziehn. Bußfertge Sühne, weiß ich, nimmt der Himmel an, Doch nur mit Blute büßt sich ab der blutge Mord. (V. 2634–2637)

Die Verse beschreiben verschiedene kulturelle Formen des Umgangs mit Schuld, die unhierarchisiert nebeneinander stehen bleiben: Der erste Vers besagt, dass keiner weltlichen Instanz das Richteramt zukomme, sondern allein Gott. Im zweiten Vers hingegen behauptet Don Cesar, er selbst müsse das Urteil vollstrecken – wobei die ‚Perversion‘ dieser Selbstjustiz durch die sprachlich und rhythmisch unbeholfene Formel „ich selber an mir selber“ verstärkt wird. Der dritte Vers verweist auf das (schuldkultu49 Ritzer 1996, S. 132. 50 Vgl. Heinz Henseler. Narzißtische Krisen. Zur Psychodynamik des Selbstmords. Reinbek 1974; Benigna Gerisch. „‚Sie war der einzige Mensch, den ich für mich vorbereitete‘. Psychoanalytische Überlegungen zum Suizid in Dostojewskis Erzählung ‚Die Sanfte‘“ Jahrbuch der Deutschen Dostojewski-Gesellschaft (2008): 97–112. Eine systematische psychoanalytische Untersuchung zum Zusammenhang von Scham und Suizid existiert bislang nicht.



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relle) neutestamentarische Konzept von Buße und Sühne. Der vierte Vers hingegen entspricht dem (schamkulturellen) alttestamentarischen Rachegedanken.51 Don Cesar vollzieht mit seiner Entscheidung zum Suizid eine Rückkehr in die Schamkultur.52 Für ihn ist die Tötung des Bruders im Affekt demnach keine schuldhafte Handlung, für die er reumütig büßen könnte, sondern sie tangiert den Kern seiner Existenz und stellt diese fundamental in Frage. Der Chor missbilligt den Vorsatz der Selbsttötung, worauf Cesar antwortet: „Den alten Fluch des Hauses lös ich sterbend auf, | Der freie Tod nur bricht die Kette des Geschicks“ (V. 2640 f.). Don Cesar will also sterben, um so „das ‚Schicksal‘ zum Tode zu verurteilen“53, wie Takashi Sakamoto es – tragödientheoretisch gewendet – pointiert formuliert. Die viel zitierten Verse Cesars vom Auflösen des ‚alten Fluchs‘ durch den Freitod behaupten den finalen Austritt aus der faktizistischen Schuldordnung. Der Protagonist selbst legt somit eine Dynamik nahe, die nicht rückwärtsgewandt in Richtung einer Schamkultur, sondern vorwärts gewandt in Richtung einer voluntaristischen Schuldkultur orientiert ist. Einer derart postulierten Freiheit und Autonomie des Subjekts steht jedoch ein fortwährendes Unterworfensein unter die Bruderrivalität gegenüber,54 schließlich beendet Don Cesar sein Leben mit dem an den Toten gerichteten Satz: „Die Tränen sah ich, die auch mir geflossen, | Befriedigt ist mein Herz, ich folge dir“ (V. 2833 f.). Daran schließt eine (erneut sexuell durchaus ambivalente) Regieanweisung an: „Er durchsticht sich mit einem Dolch und gleitet sterbend an seiner Schwester nieder, die sich der Mutter in die Arme wirft“ (nach V. 2834). Es liegt nicht zuletzt aufgrund dieser exaltierten Selbsttötung nahe, in Cesars Suizid eher eine „Imitation von morali51 Vgl. Janz 1984, S. 334. 52 Dies ähnlich einschätzend spricht Alt von Cesars Suizid als „Konsequenz einer Kränkungserfahrung“, die „kein Akt der Autonomie [ist], sondern im Bann des Bruderkonflikts [erfolgt]“ und Buschmeier davon, dass „die archaische Rechtsordnung einmal mehr bestätigt [werde]“. Alt 2000, Bd. 2. S. 540; Matthias Buschmeier. „Familien-Ordnung am Ende der Weimarer Klassik. Zum Verhältnis von Genealogie, Politik und Poetik in Schillers ‚Die Braut von Messina‘ und Goethes ‚Die natürliche Tochter‘“. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 82.1 (2008): 26–57, S. 31. 53 Sakamoto 2004, S. 131. 54 „Zu fragen steht dabei, ob sein Selbstmord ein Akt der erhabenen Selbstbehauptung ist, durch den der Held nach dem Muster von Schillers Tragödientheorie seine persönliche Freiheit rettet.“ Alt 2000, Bd. 2, S. 540; „Der theatrale Effekt – in der Art von ‚Der tote Bruder ruft aus dem Sarg‘ – nimmt dem Selbstmord vollends den Charakter einer wirklich freien Handlung.“ Schulz 2005, S. 211.

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scher Autonomie“55 als eine tatsächliche Überwindung des narzisstischen Konflikts zu sehen. Faktisch führt er den Bruderkonflikt „bis ins Jenseits“56 fort. Georg-Michael Schulz bemerkt zu Recht, dass Cesars Berufung auf Gott als den „allgerechte[n] Lenker unsrer Tage“ (V. 2831) unmittelbar vor seinem Tod „geradezu aberwitzig“ sei: „Selbstmord zu begehen, den Blick in eine Kirche gerichtet, und sich dabei auf den christlichen Gott zu berufen, ist religiös ganz unmöglich. Aber es ist auch logisch unsinnig, auf einen allgerechten Lenker zu verweisen und dennoch Selbstjustiz zu üben.“57 In seinen theoretischen Schriften hat Schiller den aus christlicher Perspektive verwerflichen Suizid unter bestimmten Umständen durchaus legitimiert: Ob der Tugendhafte sein Leben freiwillig dahingibt, um dem Sittengesetz gemäß zu handeln – oder ob der Verbrecher unter dem Zwange des Gewissens sein Leben mit eigner Hand zerstört, um die Übertretung jenes Gesetzes an sich zu bestrafen, so steigt unsre Achtung für das Sittengesetz zu einem gleich hohen Grad empor [...]. Reue und Verzweiflung über ein begangenes Verbrechen zeigen uns die Macht des Sittengesetzes nur später, nicht schwächer [...]. Ein Mensch, der wegen einer verletzten moralischen Pflicht verzweifelt, tritt eben dadurch zum Gehorsam gegen dieselbe zurück, und je furchtbarer seine Selbstverdammung sich äußert, desto mächtiger sehen wir das Sittengesetz ihm gebieten.58

Schiller hält den Freitod als ultimative „Selbstverdammung“ aber nur dann für „zweckmäßig“, wenn die „Aufopferung des Lebens in moralischer Hinsicht [erfolgt], denn das Leben ist nie für sich selbst, nie als Zweck, nur als Mittel zur Sittlichkeit wichtig“.59 Glorifiziert wird also nicht der Suizid an sich, sondern ausschließlich die „heroische Selbstpreisgabe in einer schicksalhaften Notsituation“60. Das in solchen Situationen sich offenbarende Erhabene als „gemischtes Gefühl“ beweise, so Schiller, „unsere moralische Selbständigkeit“; es mache ein „selbständiges Principium in uns“ erkennbar, „welches von allen sinnlichen Rührungen unabhängig ist“.61 Das hier 55 56 57 58

Alt 2000, Bd. 2, S. 541. Alt 2008, S. 195. Schulz 2005, S. 211. Friedrich Schiller. „Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen“. Sämtliche Werke 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 9. Aufl. München 1993. 358–372, S. 367. 59 Ebd., S. 366. 60 Schulz 2005, S. 210. 61 Friedrich Schiller. „Über das Erhabene“. Sämtliche Werke 5: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 9. Aufl. München 1993. 792–808, S. 796.



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benannte Kriterium der Unabhängigkeit von ‚sinnlichen Rührungen‘ aber ist es, die Don Cesar zweifelsohne fehlt; ferner ist auch keine ‚Notsituation‘ vorhanden. Sein Suizid kann also nicht als ‚erhaben‘ bezeichnet werden, insofern er nicht Resultat eines Konflikts ist, „in den er aufgrund der sittlichen Dignität seines Tuns geriet“62. Das Trauerspiel endet nicht, wie Die Jungfrau von Orleans, in einem befriedeten allegorischen Tableau, sondern mit den Worten des Chors, nach einem von Schiller in der Regieanweisung angeordneten, „tiefen Schweigen“: Erschüttert steh ich, weiß nicht, ob ich ihn Bejammern oder preisen soll sein Los. Dies eine fühl ich und erkenn es klar, Das Leben ist der Güter höchstes nicht, Der Übel größtes aber ist die Schuld. (V. 2835–2839)

Ob es Don Cesar tatsächlich gelingt, mit seinem Freitod der ‚Übel größtes‘ – die Schuld des vollzogenen Brudermords und des ersehnten Schwesterinzests – zu transzendieren, bleibt fraglich.63 Orientiert man sich an der zeitgenössischen Tragödientheorie (allerdings nicht an derjenigen, die Schiller selbst verfasst hat), ist diese Deutungsoffenheit nicht als Manko des Werks zu interpretieren, sondern geradezu als dessen Vollendung. So schreibt Schelling in der Philosophie der Kunst (wie bereits in Kapitel II.3 zitiert): „Das Wesentliche der Tragödie ist also ein wirklicher Streit der Freiheit im Subjekt und der Nothwendigkeit als objektiver, welcher Streit sich nicht damit endet, daß der eine oder andere unterliegt, sondern daß beide siegend und besiegt zugleich in der vollkommenen Indifferenz erscheinen.“64 Es ist eben diese „Indifferenz“ zwischen Freiheit und Unterworfensein, die den Freitod Don Cesars kennzeichnet. In meiner Lesart hängt sie eng mit der dargelegten Affektdynamik von Scham und Schuld zusammen. In der Forschung wurde der dem Stück zugrunde liegende Schuldbegriff verschiedentlich problematisiert. So hebt etwa Hermann Weigand den Kontrast „between an a priori tragic guilt, not caused by any indivi-

62 Alt 2008, S. 195. 63 Mit dem Vers „Der Übel größtes aber ist die Schuld“ zitiert Schiller Cicero; vgl. Schulz 2005, S. 211; Hubertus Kudla. [Art] „Nec esse ullum magnum malum praeter culpam“. Lexikon der lateinischen Zitate. Berlin 2007. 381. 64 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Philosophie der Kunst. Darmstadt 1966, S. 337; in Kapitel II.3 wurde dieses Zitat bereits erörtert.

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dual action, and a moral guilt, arising from an individual’s transgression”65 hervor – was mit der hier verwendeten Unterscheidung von faktizistischer und voluntaristischer Schuld korrespondiert. Lothar Pikulik bemerkt ähnlich, ebenfalls auf die faktizistische Schuldkonzeption bezogen, „von Schuld kann aus psychologischer Sicht nur bedingt die Rede sein, wenn Figuren vom Schicksal getrieben werden“, unterscheidet dann aber (eher ahistorisch) zwischen „objektive[r] Schuld“ und „subjektive[m] Schuldgefühl“ – erstere, „beruhend auf den Verletzungen einer moralischen Norm“, sei „ein moralischer Tatbestand“, letzteres sei „seelische Erfahrung“ und mithin „ein psychologisches Faktum“.66 Diese Differenzierung ist mit Blick auf den Helden der Braut von Messina wenig relevant, insofern, im Unterschied etwa zu Johanna von Orleans, subjektives Schuldgefühl und objektive – moralische, aber auch juristische – Schuld bei ihm durchaus konvergieren. Die Problematik besteht eher in der leitenden Dynamik Don Cesars wie auch der anderen Figuren, voluntaristische Schuld als faktizistische zu ‚ent-schuldigen‘, ein Mechanismus, den Schiller in diesem Stück strategisch zu entlarven sucht: „So beharrlich die Protagonisten für alles, was geschieht, das Schicksal haftbar machen, so nachdrücklich insistiert das Drama auf der Identifikation individueller Schuld“67. Daher ist Die Braut von Messina auch „mit Hinweisen auf personale Verschuldung durchsetzt“68. Trotz des wiederholten Rekurses auf das antike fatum und den Rückgriff auf Formelemente und Konzepte der attischen Tragödie bedient dieses vermeintlich „graekoide Drama“69 letztlich eine christlich-neuzeitliche Schuldvorstellung. Dies hat bereits Florian Prader in seiner Studie über Schiller und Sophokles bemerkt, wenn er argumentiert, „dass Schicksal und Schuld nicht vereinbar sind“70. Anders als etwa in Sophokles’ König Ödipus geht es auch nicht um ein latentes Spannungsverhältnis von ‚Schicksal‘ (faktizistisch) und ‚Schuld‘ (voluntaristisch), sondern beide Vorstellungen bleiben unverbunden nebeneinander bestehen. Dies wird unter anderem daran deutlich, dass Don Cesar, im Gegensatz zu Ödipus, sein Verbrechen ja durchaus wissentlich begeht: „Er weiss, dass er den Bruder mordet; bewusst befleckt er sich mit Schuld“ – da also das Verbrechen hätte ver65 66 67 68 69 70

Daemmrich 1967, S. 190. Pikulik 2004, S. 291. Janz 1984, S. 330. Ritzer 1996, S. 146. Schadewaldt 1969, S. 306. Florian Prader. Schiller und Sophokles. Zürich 1954, S. 78.



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mieden werde können, „sprechen wir Don Cesar die volle Verantwortung zu.“71 Obgleich im Stück beständig von der „im antiken Geist gefassten Vorstellung des unausweichlichen Schicksals“72 die Rede ist, verweist der Chor auch auf die christliche Vorstellung der Erbschuld: Denn gebüßt wird unter der Sonnen Jede Tat der verblendeten Wut. Es ist kein Zufall und blindes Los, Daß die Brüder sich wütend selbst zerstören, Denn verflucht ward der Mutter Schoß, Sie sollte den Haß und den Streit gebären. (V. 971–976)

Während in den ersten beiden Versen also ein christliches Verständnis von (individueller) Schuld und Sühne artikuliert wird, beharren die bereits zitierten nachfolgenden vier Verse auf dem antiken Familienfluch und der transpersonalen Schuld. Der das fatalistische Geschehen zum Höhepunkt bringende „nicht antike Sühnetod Don Cesars“73 bildet dabei nur den Kulminationspunkt einer zutiefst widersprüchlichen moralischen Welt. Männliche Schuld und Inzesttabu Das Trauerspiel ist auf die Perspektive der männlichen Figuren fokussiert – wie sich etwa Beatrice als früh vom Vater mit dem Leben bedrohte, von den Eltern verstoßene und schließlich von beiden Brüdern aggressiv begehrte Tochter fühlt, erfahren wir nicht.74 Als zweifach reklamierte ‚Braut von Messina‘ wird ihr Subjektivität, trotz des einzigen echten Monologs des Stücks, nicht zuteil. Auch Donna Isabella, die im Verlauf des Geschehens beide Söhne verlierende Mutter, die ebenfalls als junge Frau Opfer aggressiv begehrender Männer war, bleibt eine Randfigur.75 Eine Betonung des weiblichen Körpers und femininen Begehrens als locus oder movens des Inzests, wie etwa in König Ödipus oder Phèdre, findet sich nicht. ‚Tatort‘ des Konflikts über brüderliche Rivalität und Inzest ist vielmehr das subjektive Gewissen und die sich vermeintlich wandelnde Moral des 71 72 73 74

Ebd. Ebd., S. 77. Ebd., S. 64. Vgl. Stephanie Hammer. Schiller’s Wound. The Theatre of Trauma from Crisis to Commodity. Detroit 2001, S. 17. 75 Anders sieht dies Albrecht, der Donna Isabella als – primär negative – Handlungsfigur versteht: vgl. Albrecht 1982, bes. S. 235 f.

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Helden. Das ‚Drama‘ der sexuellen Transgression wird durch das Medium des Theaters potenziert; denn die Zuschauer wissen schon früh von der Verwandtschaft zwischen Beatrice und ihren Brüdern (oder ahnen diese zumindest), Protagonisten und Chor aber nicht. Die Figuren gehen ‚blind‘ in ihr Verhängnis, während die Zuschauer ‚sehen‘. Als spezifisches Tragödienthema verweist der Inzest nicht nur auf die theatrale, sondern auch auf die tragische Struktur des Begehrens: Die ‚Tragödie der Liebe‘ besteht eben darin, zu begehren, wo nicht geliebt werden darf.76 Nach Freud eigne dem Menschen eine starke Neigung zum Inzest; da dieses Begehren jedoch gesellschaftliche und familiäre Grundstrukturen bedrohe, müsse es unterbunden werden.77 Als Meidungsgebote seien kulturelle Tabus wie die „Inzestscheu“78 so stark verinnerlicht, dass eine Überschreitung nahezu undenkbar sei. Im Unbewussten aber bestehe der Wunsch nach einer Verletzung des Tabus fort, weswegen er unter Aufbietung hoher psychischer Energie daran gehindert werden müsse, an die Oberfläche zu treten.79 Freud führt seine These eines „vom Inzestverlangen beherrschte[n] Verhältnis[ses] zu den Eltern“80 bekanntlich anhand des männlichen Kindes und des von ihm ‚entdeckten‘ Ödipuskomplexes aus. In Otto Ranks darauf aufbauender psychoanalytischer Studie Das Inzest-Motiv in Sage und Dichtung wird die Leitthese formuliert, die InzestThematik werde in der longue durée aufgrund einer stärkeren kulturellen Verdrängung immer abgeschwächter dargestellt: Während etwa König Ödipus noch den unwissentlich vollzogenen Inzest zwischen Sohn und Mutter, aus dem vier gemeinsame Kinder entstehen, behandelt, thematisieren spätere Werke, zum Beispiel Shakespeares Hamlet, Racines Phèdre oder Schillers Don Carlos nur noch ein lediglich angedeutetes inzestuöses 76 Dies als ein Leitmotiv, das mit der Inzestthematik verbunden werden kann – so z. B. in dem Drama La devoción de la cruz von Calderón de la Barca –, das aber auch bei der dramaturgischen Vorgabe schlicht verfeindeter Familien funktioniert, wie etwa in William Shakespeares Romeo and Juliett; vgl. zur ersten Referenz Sullivan 2000, zur zweiten John Guthrie, der bezüglich der Braut von Messina sogar übergreifend von einer „synthesis of Greek and Shakespearean elements“ spricht; Guthrie 2009, S. 166. 77 Vgl. Claudia Benthien. „,Inzestscheu‘ und Tragödie (Sophokles, Racine, Schiller)“. Tabu. Interkulturalität und Gender. Hg. v. ders. u. Ortrud Gutjahr. München 2008. 73–100. 78 Sigmund Freud. „Totem und Tabu“. Gesammelte Werke 9. Hg. v. Anna Freud u. a. 5. Aufl. Frankfurt a. M. 1973. 1–194, S. 5–25. 79 Vgl. Jörg Klein. Inzest. Kulturelles Verbot und natürliche Scheu, Opladen 1991, S. 38. 80 Freud 1973, S. 24.



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Begehren zwischen Sohn und Mutter (oder gar Stiefmutter). In Schillers Braut von Messina sei eine weitere Abschwächung der Thematik zu beobachten, insofern dieses Stück nicht den Mutter-Sohn-Inzest, sondern den als weniger gravierend angesehenen Geschwisterinzest behandele.81 Unter dieser Perspektive ist die latente Erotisierung des Verhältnisses von Don Cesar und seiner Mutter Isabella, bevor er Beatrice kennenlernt, durchaus signifikant. Die in der Vorgeschichte liegende Schuld – ausgelöst durch sexuelle Transgression einer im Stück nicht mehr präsenten Vaterfigur – führt in Die Braut von Messina zum Unheil der Gegenwart. Mit der Rivalität zwischen Vätern, Söhnen und Brüdern wird, wie schon erwähnt, von Schiller die männliche Perspektive fokussiert. Die feministische Forschung hat den Inzest somit nicht zu unrecht als ein „spezifisches Dispositiv von Sexualität und Macht“ beschrieben, „mit dem Geschlechterverhältnisse festgeschrieben werden.“82 Bei Schiller liegt die durch inzestuöses Begehren entstehende Schuld jedenfalls eindeutig bei den Männerfiguren. Aspekte der Dramaturgie von Scham und Schuld Die Jungfrau von Orleans kreist mehr um das Thema der Scham, während in der Braut von Messina, zumindest diskursiv, eher Schuld im Zentrum steht. Dies spiegelt sich auch in der unterschiedlichen theatralen Gestaltung wieder: In der Jungfrau von Orleans sind es primär Blickkonstellationen, die den Affekt auslösen und verstärken – sowohl der Blick Lionels auf Johanna als auch die zentripetal von allen Seiten gespannten Blicke im ‚Tribunal‘ vor der Kathedrale. Demgegenüber finden sich in der Braut von Messina eher auditive Situationen und ein Primat von Geboten, Verboten, Urteilen – für die paradigmatisch die Instanz des Chors steht, den Schiller, wie zitiert, als ‚richtenden Zeugen‘ bezeichnet. Dieser Begriff amalgamiert streng genommen scham- und schuldkulturelle Parameter, insofern Zeugenschaft (nach Williams) mit Visualität und mithin Scham zusammenhängt, die richtende Funktion hingegen eindeutig mit Schuld. Der Chor 81 Vgl. Otto Rank. Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie des dichterischen Schaffens. 2. verm. und verb. Aufl. Leipzig u. Wien 1926, S. 76–138, 151–162 u. 459–475; zur Inzestthematik in Die Braut von Messina im Kontext der zeitgenössischen Literatur siehe auch: Hartmut Nonnenmacher. Natur und Fatum. Inzest als Motiv und Thema in der französischen und deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2002. 362–371. 82 Jutta Eming. „Zur Theorie des Inzests“. Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hg. v. Ingrid Bennewitz u. Ingrid Kasten, Münster 2002. 29–48, S. 29 f.

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fungiert an manchen Stellen auch als Gewissensinstanz – explizit etwa in einer Szene, in der er Don Manuel vorwirft, mit dem „Klosterraub“ seiner Braut eine „verwegne Tat“ begangen zu haben und die „lichtscheu krummen Liebespfade“ rügt, die der Fürstensohn mit dieser „Ehe segenlose[m] Bund“ anstrebe (V. 955–957). Mehrfach wird die Bedeutung akustischer Zeichen („Ich höre | Der Totenklage fürchterlichen Ton | Das Haus durchdringen“; V. 2264–2266) und Stimmen (die „Stimme Gottes“, V. 1902; oder die „Stimme der Natur“, V. 1662) betont. Solche Verweise auf die auditive Dimension sind insbesondere dann signifikant, wenn die wahrgenommene Stimme mit einem ‚Ruf des Gewissens‘ gleichgesetzt werden kann, so etwa wenn Don Cesar die „Stimme“ Don Manuels „aus dem Sarg“ hört, die „mächtger dringend“ ruft „als der Mutter Tränen | Und mächtger als der Liebe Flehn“ (V. 2823–2825) – und die ihn dann tatsächlich zum Selbstmord treibt. Die Schamthematik betont die Ebene des Visuellen, die Schuldthematik die Ebene des Akustischen. Dies zeigt sich auch am unterschiedlichen Umgang mit Regieanweisungen: Während in der Jungfrau von Orleans, wie in früheren Werken Schillers, die psychologisch motivierten gestischen und mimischen Anweisungen vorherrschen, ist der körpersprachliche Ausdruck im späteren Werk auf ein Minimum reduziert. Affekte finden sich hier eher sprachlich ausgedrückt als physiologisch manifestiert. Dafür legt Schiller in diesem Werk größeren Wert auf akustische Elemente, etwa auf Klanglichkeit und Musikalität der Sprache. Auch die differenzierte Versifikation, die wechselnden Kadenzen und der Variantenreichtum der verwendeten metrischen Formen,83 dient diesem Ziel. Für die Affektdynamik von Scham und Schuld ist weiterhin das Tragödienpersonal von Bedeutung. In der Jungfrau von Orleans finden sich variierende Figurenkonstellationen – vom Monolog bis zur großen Szene. Beherrscht aber ist das Stück vom öffentlichen Raum, in den Johanna gerät, sobald sie Domremy verlässt, und daher von der Konfrontation mit tendenziell Fremden. Dieser Öffentlichkeit steht der private Raum familiärer Intimität in der Braut von Messina gegenüber. Lediglich in der ersten Szene treten mit den „Ältesten von Messina“ überhaupt Repräsentanten 83 Während die Figuren der fürstlichen Familie in Blankversen sprechen, sind die Chorlieder in freien metrischen Formen gestaltet, oft im Knittelvers: „Chorpartien, welche an die Standlieder (Stasima) der antiken Tragödie angelehnt sind, wechseln mit dramatischen Teilstücken, den Epeisodia der griechischen Werke“; Gert Vonhoff. „Der Geschichte eine Form. Schillers ‚Braut von Messina‘“. Interpretationen zur neueren deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Thomas Althaus u. Stefan Matuschek. Münster 1994. 71–99, S. 82.



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des Volkes auf, denen aber nur die Funktion zukommt, schweigend dem Expositionsmonolog Donna Isabellas zuzuhören; dann verschwinden sie und tauchen nicht wieder auf. Der Schauplatz wechselt in diesem Stück nur vier mal, wodurch es eine (wie im antiken Drama) nicht explizit gemachte Fünfaktigkeit sowie eine pyramidale Struktur erhält: I. Säulenhalle (V. 1–980), II. Garten (V. 981–1259), III. Zimmer im Innern des Palastes (V. 1260–1704), IV. Garten (V. 1705–2027), V. Säulenhalle (2028–2839). Alle drei Schauplätze werden von den Figuren als private Räume wahrgenommen, denn die Art und Weise ihrer Kommunikation lässt keinerlei Unterschiede zwischen den jeweiligen Schauplätzen erkennen und die fürstliche Familie bleibt unter sich, rechnet man die Diener diesem ‚Hause‘ hinzu. In diesem kammerspielartigen Setting äußern sich die Protagonisten, insbesondere Don Cesar, unverstellt (‚schamlos‘) und ‚a-sozial‘. Vergleicht man die tragischen Helden beider Stücke im Hinblick auf die Scham, so zeigt sich bei Johanna ein Schamgefühl über das Begehren, während bei Don Cesar die Scham über das Nicht-Begehrtwerden überwiegt. Vergleicht man beide im Hinblick auf die Schuld, so herrscht bei Johanna ein subjektives Schuldgefühl vor, wohingegen Don Cesar eine objektive, faktische Schuld auf sich lädt. In beiden Fällen löst eine Schamsituation das Schuldigwerden aus. Johanna wehrt die Scham durch die Aufsichnahme einer falschen Anklage ab; Don Cesar tötet im Affekt seinen Bruder, übernimmt im Verlauf selbst die Rolle des Richters und vollstreckt schließlich das Urteil an sich. In beiden Dramen aber bleibt die Scham als nichtdiskursives Anderes der affektive Grund und die Motivation für die (attribuierte) Schuld.

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3.4  ‚Antike‘ Affektkulturen II – Heinrich von Kleist: Penthesilea Archaisierung der Antike und Kontrafaktur der Jungfrau von Orleans Heinrich von Kleist wurde verschiedentlich attestiert, er sei der ‚archaischen‘ Antike und der griechischen Tragödie mit seinem 1808 veröffentlichten Trauerspiel Penthesilea näher gekommen, als irgendein anderer Autor seiner Epoche – die Rede ist sowohl von einem ‚Erreichen‘ als auch von einer ‚Überbietung‘ des antiken Modells. Schon Georg Lukács spricht davon, dass Kleists Dramen Penthesilea und Amphitryon die Antike „modernisieren“ und zugleich „enthumanisieren“, indem sie „die Gefühlsanarchie einer entstehenden neuen Barbarei in die Antike hinein[tragen]“.1 Für Werner Frick kommt von Kleists Dramen Penthesilea der „affektiven Dynamik der antiken Tragödie am nächsten“ und der Autor erscheint ihm unter den zeitgenössischen Dramatikern als der Einzige, „der einen zureichenden Begriff von der Fremdheit [...] der griechischen Tragödie besitzt, oder richtiger: als der einzige, der in diesem Befremdlichen ‚etwas Vortreffliches‘ erkennt und sich seinem Unruhe- und Verstörungspotential stellt“.2 Im Unterschied etwa zu Schiller setze Kleist „auf die Wiedergewinnung der affektiven Überwältigungspotentiale der antiken Tragödie als eines Theaters der anthropologischen Extreme, der Grausamkeit, der Passionen, der dionysisch-orgiastischen Grenzüberschreitungen“3. Auch Beda Allemann diagnostiziert für Penthesilea einen bis dahin in der deutschsprachigen Literatur „in solcher Vehemenz unbekannte[n] Durchbruch in die Dimension des Archaischen“; Kleist ginge es bei diesem Trauerspiel „um den Versuch, mit seiner eigenen, unter neuzeitlichen Bedingungen stehenden Dramaturgie, mit antikem Stoff, aber fern jeder ängstlichen Nachah-

1 Georg Lukács. „Die Tragödie Heinrich von Kleists“. Ders. Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts. Berlin 1951. 19–48, S. 33. 2 Werner Frick. „,Ein echter Vorfechter für die Nachwelt‘: Kleists agonale Modernität – im Spiegel der Antike“. Kleist-Jahrbuch (1995): 44–96, S. 63 u. 80. Jochen Schmidt schränkt diesen Befund (ohne Bezugnahme auf Frick) ein, wenn er pauschalisierend bemerkt, dass die „Extremqualitäten der griechischen Tragödie“ zwar nicht überboten, aber von Kleist gleichwohl „revitalisiert“ werden konnten. Jochen Schmidt. Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche. Darmstadt 2003, S. 108. 3 Werner Frick. „‚La querelle des anciens et des anciens‘. Tragödienexperimente in der Ära der Weimarer Klassik“. Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur. Hg. v. dems. Göttingen 2003. 218–251, S. 244.



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mung der Antike, die volle Wucht der attischen Tragödie zu erreichen.“4 Auffällig ist in diesen Zitaten, dass trotz der Wahl des Attributs ‚archaisch‘ (oder ähnlicher Begriffe) durchweg die attische Tragödie als Maßstab gesetzt wird, obgleich die in Kleists Trauerspiel geschilderte Welt historisch doch wesentlich früher angesiedelt ist und auf bereits im 8. vorchristlichen Jahrhundert entstandene Literatur rekurriert. Kleists Wahl eines Stoffes aus der archaischen Zeit Homers ist zu betonen, weil Penthesilea nicht nur das einzige der hier behandelten Werke ist, das tatsächlich in der Antike situiert ist, sondern eben auch in dieser von Altphilologen dezidiert als Schamkultur bezeichneten Epoche. Wie in Kapitel 2.1 dargestellt, kommen personale und kollektive Ehrkonzepte und, damit einhergehend, die Sanktion durch öffentliche Beschämung (aidōs), in der kriegerischen Welt vor Troja eine überaus wichtige Rolle zu. Denn die „Homerische Ehrkultur“ zeichnet sich dadurch aus, dass „Geringschätzung und Schmähung einer Person“ deren Status sowie persönlichen Wert herabsetzen, sie müssen daher „emotional mit Zorn beantwortet werden, um die Ehre wiederherzustellen“.5 Eines der bildmächtigsten Mytheme der Ilias, der Rache-Sieg des Griechen Achill über den Trojaner Hektor, erhält in Kleists Trauerspiel geradezu leitsymbolische Bedeutung. Hektor hatte Patroklos, den vertrauten Freund Achills, getötet; er wird daraufhin von Achill gefordert, verliert den Zweikampf und wird ebenfalls getötet. Achill aber bindet seinen Leichnam sodann an seinen Wagen und lässt ihn, wie es bei Kleist heißt, „häuptlings“ (V. 17986), „die Scheitel, | Die blutigen, auf nackter Erde“ (V. 2197 f.) um die Burg von Troja schleifen7 – 4 5 6

7

Beda Allemann. Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell. Aus d. Nachlass hg. v. Eckhart Oehlenschläger. Bielefeld 2005, S. 185 u. 188. Eva-Maria Engelen. „Eine kurze Geschichte von ‚Zorn‘ und ‚Scham‘“. Archiv für Begriffsgeschichte 50 (2008): 41–73, S. 49. Zitiert wird mit Versangabe aus der Ausgabe: Heinrich von Kleist. „Penthesilea. Ein Trauerspiel“. Sämtliche Werke und Briefe 1. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. München 1987. 321-428. „Sprach es, und dem göttlichen Hektor sann er schmachvolle Dinge: | An beiden Füßen hinten durchbohrte er ihm die Sehnen | Von der Ferse bis zum Knöchel und knüpfte rindslederne Riemen daran, | Band ihn an seinen Wagen und ließ das Haupt nachschleifen. | Und er stieg auf seinen Wagen und hob hinauf die berühmten Waffen, | Schwang die Geißel und trieb, und die flogen nicht unwillig dahin. | Da war um den Geschleiften ein Schwall von Staub; seine blauschwarzen Haare | Fielen auseinander, und das Haupt lag ganz im Staube, Das einst so liebliche: damals aber hatte es Zeus seinen Feinden | Gegeben zu schänden in der eigenen väterlichen Erde.“ Homer. Ilias. Übs. v. Wolfgang Schadewaldt. Frankfurt a. M. 1975, 22. Gesang, V. 395–404.

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eine schmähliche „Verunehrung“8 des Körpers, die in der Verweigerung Achills mündet, den toten Königssohn zur Bestattung durch sein Volk freizugeben. Einem Leichnam die Beerdigung zu verweigern, bedeutet in der Antike, ihn der Schande auszusetzen.9 Erst als der Trojanerkönig Priamus Achill im griechischen Lager aufsucht und damit nicht nur ein hohes Risiko seiner Person eingeht, sondern auch eine unermessliche Entwürdigung und Demütigung auf sich nimmt, indem er Achill um die Freigabe des Leichnams seines Sohnes anfleht, erhalten die Trojaner diesen schließlich zurück. Es ist ebendieses image Achills als gnadenloser Rächer und „Bezwinger Hektors“10, der aber auch Mitgefühl mit einem leidenden Vater zeigen kann, das seinen Ruhm und exzeptionellen Status innerhalb des Griechenheers begründet. Für Kleists Amazonenkönigin Penthesilea ist das brutale Verhalten des griechischen Heros Teil des Phantasmas der Größe, das sie mit ihm verbindet und das sie selbst zu erreichen – gar zu übertrumpfen – sucht. Das Trauerspiel Penthesilea lässt sich nicht nur als „Anti-Iphigenie“11 lesen und weist Motivübernahmen aus Goethes Die natürliche Tochter auf, sondern steht auch in unmittelbarer Korrespondenz mit den in der Jungfrau von Orleans analysierten Handlungsmotiven. Kleists Werk lässt sich als Gegenentwurf zu Schillers idealistischer Lösung des Konflikts von Scham und Schuld lesen. Befindet sich im Zentrum von Schillers Werk die Scham der Protagonistin über ihre Sinnlichkeit und deren Überwindung im Dienst des Sittengesetzes, so arbeitet Kleist demgegenüber die Scham seiner Protagonistin über die ‚Widernatürlichkeit‘ des Gesetzes der Amazonen heraus. Auch die Abweichung von der je als ‚natürlich‘ geltenden Geschlechterordnung ist komplementär: Bei Schiller erfolgt sie im Sinne des Ideals – als Entsexualisierung und Unterdrückung –, bei Kleist erfolgt sie im Sinne der Destruktion – als Hypersexualisierung und Exzess. Sein 8 Bettine Menke. „‚Penthesilea‘ – das Bild des Körpers und seine Zerfällung“. Erotik und Sexualität im Werk Heinrich von Kleists. Hg. v. Günther Emig. Heilbronn 2000. 117–136, S. 117. 9 „To be refused burial betokens a state of shame. The Iliad culminates in the vengeful desecration of Hector’s corpse by Achilles and then the securing of Hector’s body for burial by Priam.” Melvin R. Lansky. „Shame and Suicide in Sophocles’ Ajax“. Psychoanalytic Quarterly 65 (1996): 761–786, S. 782. 10 Anett Kollmann. Gepanzerte Empfindsamkeit. Helden in Frauengestalt um 1800. Heidelberg 2004, S. 126. 11 Vgl. Helga Gallas „Antikenrezeption bei Goethe und Kleist: Penthesilea, eine Anti-Iphigenie?“ Momentum dramaticum. Hg. v. Linda Dietrick. Waterloo 1990. 209–220; Frick 1995, S. 74.



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Werk erscheint als Kontrafaktur des früheren, als dialogische Teilhabe und tropische Überbietung zugleich.12 Ähnlich wie Schiller die Historie der Jean d’Arc für seine poetischen Zwecke abgewandelt hat, ändert auch Kleist gegenüber der mythischen Überlieferung Entscheidendes. Die bedeutendste Abweichung gegenüber dem Mythos besteht darin, dass nicht Achilles Penthesilea tötet,13 wie die antiken Quellen berichten (etwa die in im Umfeld der Ilias verfasste Aithiopis14), sondern umgekehrt sie ihn besiegt. Diese Variante findet in Benjamin Hederichs Gründliche[m] mythologische[n] Lexikon eine kurze Erwähnung – als eine der wichtigsten Quellen Kleists, der er auch zahlreiche Details über die Mythen von Achilles, Penthesilea und den Amazonen

12 Terminologisch widerspricht diese These der bereits in der Einleitung zitierten Auffassung von Walter Hinderer, derzufolge sich die Jungfrau „als Vorläuferin der ‚Penthesilea‘ verstehen [lasse], allerdings mehr als Widerspruch denn als Kontrafaktur, so positiv Kleist auch ansonsten auf die dramatische Produktion Schillers reagiert hat“; Walter Hinderer. „,Vom giftigsten der Pfeile Amors sei, / heißt es, ihr jugendliches Herz getroffen‘. Schillers ,Jungfrau von Orleans‘ und Kleists ,Penthesilea‘“. Beiträge zur Kleist-Forschung (2003): 45–68, S. 46. Zu den Korrespondenzen zwischen den beiden Stücken im Einzelnen siehe ferner, neben den schon in der Einleitung zitierten Beiträgen: Kollmann 2004, S. 145; Peter-André Alt. Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers. München 2008, S. 102 f. sowie, die Forschungspositionen resümierend: Claudia Benthien. [Art.] „Schiller“. KleistHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Ingo Breuer. Stuttgart u. Weimar 2009. 219–227, S. 222 f. 13 Achill verliebt sich in die sterbende Penthesilea dem Mythos zufolge übrigens in dem Augenblick, als er ihr die Rüstung abnimmt – ganz ähnlich also wie Johanna in Schillers Darstellung in Lionel; vgl. Michael Grant u. John Hazel. Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. Übs. v. Holger Fließbach. 7. Aufl. München 1990, S. 328 f. 14 „[D]och obwohl [Penthesilea] das Feld beherrscht, fällt sie Achilleus zum Opfer und wird dann von den Trojanern begraben.“ Homer. Ilias. Übs. v. Raoul Schrott. Komm. v. Peter Mauritsch. München 2008, S. 521–523, S. 521. Das Zitat entstammt einer Inhaltsangabe der Arktinos von Milet zugeschriebenen, nicht erhaltenen Aithiopis, einem epischen Gedicht des so genannten Zyklus, das die von Homer in der Ilias nicht behandelten Ereignisse am Ende des Trojanischen Kriegs darstellt und in der vorliegenden Ilias-Ausgabe als Anhang angeführt wird. Während die meisten Namen der in Kleists Penthesilea auftretenden Personen dem trojanischen Sagenkreis entnommen und schon bei Homer belegt sind, treten Penthesilea und die Amazonen erst in der der Ilias zeitlich nachgeordneten Aithiopis auf. Vgl. Stellenkommentar zu: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe  2: Dramen 1808–1811. Unter Mitw. v. Hans Rudolf Barth hg. v. Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba. Frankfurt a. M. 1987, S. 781.

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entnimmt.15 Von Kleist erfunden sind die Endgültigkeit von Penthesileas Sieg über den Griechen und auch die grausame Zerfleischung Achilles’ bei lebendigem Leib durch die Amazonenkönigin und ihre Hunde. Bei der Gestaltung dieser Szene nimmt Kleist, neben der schon erwähnten Schleifung des Hektor aus der Ilias, zwei antike Prätexte zur Grundlage: die Zerstückelung des Pentheus, wie sie in Euripides’ Bakchen geschildert wird, und die Zerreißung des Actaeon, die in Ovids Metamorphosen erzählt wird. In beiden Mythen werden die männlichen Figuren von weiblichen transgressiv ‚bestraft‘ (und vernichtet), weil sie ein Gebot übertreten haben und in von Frauen gehütete Arkana eingedrungen sind.16 Dass es sich bei dem einen um einen griechisch-klassischen, bei dem anderen hingegen um einen römisch-nachklassischen Mythos handelt, ist für Kleists recht hybride Antikenvorstellung durchaus typisch und spiegelt sich auch in seiner abwechselnd griechischen und römischen Benennung der mythologischen Figuren (z. B. ‚Diana‘/‚Artemis‘) wider. Die entscheidenden Umgestaltungen des Mythos’ durch den Dichter, insbesondere die blutige Tötung des Heros’ Achilles durch eine ‚rasende‘ Frau, dienen, wie gezeigt werden soll, der deutlichen Akzentuierung der Thematik von Scham und Schuld. In der Exposition des Trauerspiels wird dargestellt, wie sich die jungfräuliche Königin und ihr Heer der Amazonen in die Schlacht um Troja einmischen und dass es für die Griechen lange unklar bleibt, auf wessen 15 „Doch andere geben vor, [Achilles] sey von obgedachter Penthesilea erleget worden, habe aber durch seiner Mutter Vorbitte erhalten, daß er wieder aus der Hölle empor kommen, und sich an der Penthesilea rächen können, die er dann auch hingerichtet.“ Benjamin Hederich. [Art.] „Achilles“. Gründliches mythologisches Lexikon [...]. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1770. Darmstadt 1996. 32–41, Sp. 37. Die 2. Auflage des Lexikons von 1770 hat Kleist vielfach konsultiert; vgl. Helmut Sembdner. „Anmerkungen. Penthesilea (S. 321–428)“. Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe 1. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. München 1987, S. 933. Er übernahm aus diesem Lexikon auch die eher unübliche Schreibweise des griechischen Namens Achilleus. Als eine weitere wichtige Quelle Kleists über den Amazonenmythos wurde benannt: Claude Marie Guyon. Geschichte der Amazonen. Übs. v. Johann Georg Krünitz. Berlin u. a. 1763; vgl. Doris Claudia Borelbach. Mythos-Rezeption in Heinrich von Kleists Dramen. Würzburg 1998, S. 53 f. 16 In den Bakchen ist Pentheus verbotener Weise Zeuge des Zuges der Mänaden; in den Metamorphosen dringt Aktaeon eine Waldlichtung vor und sieht die Göttin Diana, wie sie sich nackt zum Bade entblößt. Die Zerreißung des Pentheus’ durch die Mänaden und des Aktaeon durch seine eigenen Hunde sind somit als Strafen für den Regelverstoß, das Eindringen in den Bereich des Sakralen erkennbar. Vgl. Euripides. Die Bakchen. Übs. v. Oskar Werner. Stuttgart 1968; Ovid. Metamorphosen. Übs. u. hg. v. Erich Rösch. München, Zürich 1990, S.138–252, III, V. 138–252.



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Seite sie kämpfen. Faktisch ist für Kleists Amazonen der Krieg der Trojaner und Griechen gänzlich irrelevant. Ziel ihres Feldzugs ist allein, eine ausreichende Anzahl von Männern gefangen zu nehmen, um sie mit in ihre Heimat, die an der Südküste des Schwarzen Meeres gelegene Hauptstadt Themiskyra, zu nehmen. Dort sollen sie beim „Rosenfes[t]“ (V. 628), einem kollektiven Liebesritual, für die Nachkommenschaft des Frauenstaates sorgen und im Anschluss wieder die Freiheit erhalten. Penthesileas Mutter, die Königin Otrere, prophezeite an ihrem Sterbebett, dass es der griechische Heros Achilles sein wäre, den sie sich „bekränzen“ (V. 2138), das heißt zum Partner für die rituelle Begattungszeremonie und mithin als Vater ihres Kindes wählen werde. Allemann spricht hier von dem für die Dramaturgie des Stücks leitenden „Antizipations-Schema“17, das durch die Protagonistin selbst eine fundamentale Mythisierung erfährt. Durchaus den Eindruck erweckend, sie hätte „die Ilias avant la lettre gelesen“18, sucht Penthesilea den von ihr idealisierten und libidinös besetzten griechischen Helden vor Troja zu finden und im Kampf zu besiegen. Dies jedoch widerspricht dem für die Amazonen verbindlichen mythischen ‚Gesetz der Tanaïs‘, wie ihr wohl bewusst ist: „Es schickt sich nicht, daß eine Tochter Mars’ | Sich ihren Gegner sucht, den soll sie wählen, | Den ihr der Gott im Kampf erscheinen läßt“ (V. 2145–2147). Penthesilea übergeht wissentlich dieses für die Staatsgründung so wesentliche Gebot und sucht mit allen Mitteln, Achilles im Zweikampf zu überwinden. Ob es sich dabei tatsächlich um ein rigides „Stammesgesetz“19 handelt oder nicht bloß um eine ‚Sitte‘ oder ein ‚Gebot‘, bleibt allerdings offen. Denn nicht nur die Königin selbst verwendet mit ihrer obigen Formulierung ‚es schickt sich nicht‘ eine Begrifflichkeit, die eher der Sphäre bürgerlicher Etikette als der rechtsgültiger Gesetze entstammt,20 auch die Oberpriesterin wählt eine solche, wenn sie sich an Penthesilea mit der rhetorischen Frage wendet: „– Ziemts einer Tochter Ares’, Königin, | Im Kampf auf einen Namen sich 17 Allemann 2005, S. 194. „Antizipation“ und „Fixierung“ stellen für Allemann die leitenden dramaturgischen Elemente des Stücks – wie auch der Dramaturgie Kleists insgesamt – dar; vgl. ebd., S. 12–19, 27–35, 167–169, 174–176 u. 191–194. 18 Bernhard Greiner. Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum ‚Fall‘ der Kunst. Basel u. Tübingen 2000, S. 160 [Kursivierung von C. B.]. 19 Stephan K. Schindler. „Die blutende Brust der Amazone: bedrohliche weibliche Sexualität in Kleists ‚Penthesilea‘“. Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien. Hg. v. Paul Michael Lützeler u. David Pan. Würzburg 2001.191–202, S. 193. 20 Und sie wählt diese ambivalente Begrifflichkeit sogar als Antwort auf die explizite Frage Achilles’ nach einem gesetzlich vorgegebenen Verbot: „Warum? Weshalb? Verbeut dies das Gesetz?“ (V. 2144).

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zu stellen?“ (V. 1045 f.). Dass es also in der Schwebe bleibt, ob das ‚Amazonengesetz‘ überhaupt ein solches oder nicht bloß eine habitualisierte Sitte ist, ist ebenso signifikant wie der von Kleist durch diese Wortwahl vorgenommene Anachronismus. Das „Vermächtnis der Mutter“21 kann als eine Variante der genealogischen Erbschuld interpretiert werden: Penthesilea hat demnach nicht die Option, zwischen Pflicht und Neigung zu wählen, sondern nur zwischen zwei sich widersprechenden Pflichten: dem Gehorsam gegenüber dem mütterlichen Wunsch einerseits, gegenüber dem Gesetz (oder der Sitte) des Frauenstaats andererseits. „In grimmiger Beschämung“: Affektdynamik von Scham und Zorn Die entscheidenden Kampfszenen werden nicht auf der Bühne gezeigt, sondern mittels Teichoskopie berichtet. Im Fokus der ersten Schlachtenberichte steht die Körpersprache der beiden Helden. Als Leitgebärden fungieren hier, anders als in Familie Schroffenstein und ähnlich wie in Schillers Jungfrau von Orleans, das Erröten und Erblassen. Kleist setzt sie als körpersprachliche Zeichen der Scham, aber auch der Wut und des Zorns ein.22 Ihre Ambivalenz wird besonders anhand der Affektdisposition Penthesileas deutlich. So erzählt der Grieche Odysseus von ihrer ersten Begegnung mit Achilles (in den nachfolgenden Zitaten wird dieser mit seinen genealogischen Beinamen als ‚Pelide‘ und ‚Äginer‘ bezeichnet): Hier diese flache Hand, versichr’ ich dich, Ist ausdrucksvoller als ihr Angesicht: Bis jetzt ihr Aug auf den Peliden trifft: Und Glut ihr plötzlich, bis zum Hals hinab, Das Antlitz färbt, als schlüge rings um ihr Die Welt in helle Flammenlohe auf. (V. 66–71)

Es folgt eine längere Passage, in der Odysseus berichtet, Penthesilea gefragt zu haben, ob sie sich mit den Griechen im Kampf verbünden möchte, diese aber zunächst nur nonverbal reagiert: Sie ruht, sie selbst, mit trunknem Blick schon wieder Auf des Äginers schimmernde Gestalt: Bis jen’ ihr schüchtern naht, und sie erinnert, Daß sie mir noch die Antwort schuldig sei. 21 Greiner 2000, S. 149. 22 Vgl. Dietmar Skrotzi. Die Gebärde des Errötens im Werk Heinrich von Kleists. München 1971, S. 88–107.



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Drauf mit der Wangen Rot, wars Wut, wars Scham, Die Rüstung wieder bis zum Gurt sich färbend, Verwirrt und stolz und wild zugleich: sie sei Penthesilea, kehrt sie sich zu mir, Der Amazonen Königin, und werde Aus Köchern mir die Antwort übersenden! (V. 93–102)

In dieser Beschreibung wird deutlich, wie untrennbar Penthesileas ‚Scham‘ und ‚Wut‘ miteinander verknüpft sind – ihre äußere Wahrnehmung und Unterscheidung ist jedenfalls Außenstehenden nicht möglich. Ähnlich wie in Racines Phädra setzt Kleist das Erröten seiner Heldin leitmotivisch (und deren Verhalten motivierend) ein.23 Das Erröten gilt, gerade in seiner Uneindeutigkeit, als herausragendes „Pathos-Signal“24 des Trauerspiels. Penthesileas Scham und Wut wechseln sich im Verlauf des Stücks dann tatsächlich ab, wobei die Wut zu Akten der Gewalt führt, die psychodynamisch als Schamabwehr erkennbar werden. Anknüpfend an die Ausführungen zur Komplementarität von Scham als zentripetalem und Zorn als zentrifugalem Gefühl in Kapitel 2.4 werden beide hier deutlich als Gegenpole erkennbar. Während die „Weise des Betroffenseins von intensiver, durchbohrender Scham“ nach Schmitz eine „völlige Passivierung“ bedeutet,25 findet sich im ‚Betroffensein‘ von Zorn eine Höchstform der Aktivität. Dazu ist zu bemerken, dass das Wortfeld der dem Schamgefühl gegenüber gestellten, aggressiven Affekte in der Penthesilea variabel ist; so ist bezüglich der Gestimmtheit der Amazonenkönigin den Griechen gegenüber sowohl von „Wut“ als auch von „Zorn“ und „Hass“ die Rede.26 In der Formulierung „grimmige[] Beschämung“, die Odysseus wählt, um die Situation der Griechen den Trojanern gegenüber zu charakterisieren, als diese in der ersten Schlacht von den Amazonen besiegt wurden („In 23 Zu den Korrespondenzen zwischen diesen beiden ‚Tragödien der Scham‘ vgl. Francoise Derré. „De ‚Phèdre’ à ‚Penthesilea‘. Une filation possible“. Recherches germaniques 13 (1983): 3–19; Klaus Kanzog. „Im Geiste der Tragédie de l’âge classique. Die Rhetorik in Racines ‚Phèdre‘ und Heinrich von Kleists ‚Penthesilea‘“. Beiträge zur Kleist-Forschung 17 (2003): 211–232. 24 Ulrich Port. „,In unbegriffner Leidenschaft empört‘? Zur Diskursivierung der (tragischen) Affekte in Kleists ‚Penthesilea‘“. Kleist-Jahrbuch (2002): 94–108, S. 103. 25 Hermann Schmitz. System der Philosophie III.3: Der Rechtsraum. Bonn 1973, S. 41. 26 Z. B. spricht Odysseus von Penthesileas „Zorn“ (V. 113) und Diomedes von ihrer „Wut“ (V. 159) und ihrem „Haß“ (V. 161) gegen Achilles. Streng genommen unterscheiden sich natürlich ‚Zorn‘ und ‚Wut‘ in phänomenologischer Hinsicht, insbesondere anhand ihrer Gerichtetheit (Zorn) bzw. Ungerichtetheit (Wut), was Kleist hier aber ignoriert; vgl. Schmitz 1973, S. 33.

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grimmiger Beschämung gehn wir heim, | Und sehn die Teukrischen [Trojaner], die unsre Schmach | Von fern her, die hohnlächelnden, erraten, | Wie im Triumph sich sammeln.“; V. 107–110), ist das Wechselspiel von passivierender Scham und aktivierender Wut gut erkennbar.27 Odysseus’ Formulierung verdeutlicht auch, dass die Dynamik von Beschämung und Aggression für dieses Stück nicht nur auf der Ebene personaler Identität relevant ist, sondern ebenso, der Sozialform des Krieges entsprechend, auf der Ebene kollektiver, kontextueller Identität. Das ‚Hohnlächeln‘ des oder der Überlegenen ist dabei eine – im Stück mehrfach wiederkehrende – Gebärde des Triumphes über den schmachvoll überwundenen Gegner. Nach der ersten Begegnung zwischen Amazone und Grieche, die Kleist ähnlich wie Schiller als theatrales Blickereignis inszeniert (hier aber nicht szenisch gezeigt, sondern teichoskopisch berichtet), sind Penthesilea und Achilles von kontradiktorischen Affekten beherrscht – von Faszination und Aggression, von Begehren und der Verleugnung desselben. Wortgewaltig verkünden sie, wie sie den Gegner überwinden und demütigen wollen. Achilles brüstet sich gegenüber seinen Kameraden: „Kämpft ihr, wie die Verschnittnen, wenn ihr wollt; | Mich einen Mann fühl ich, und diesen Weibern, | Wenn keiner sonst im Heere, will ich stehn!“ (V. 587–589) – und fügt hinzu: Im Leben keiner Schönen war ich spröd; Seit mir der Bart gekeimt, ihr lieben Freunde, Ihr wißts, zu willen jeder war ich gern: Und wenn ich dieser mich gesperrt bis heute, Beim Zeus, des Donners Gott, geschahs, weil ich Das Plätzchen unter Büschen noch nicht fand, Sie ungestört, ganz wie ihr Herz es wünscht, Auf Küssen heiß von Erz im Arm zu nehmen. [...] | Nicht ehr zu meinen Freunden will ich lenken, Ich schwörs, und Pergamos nicht wiedersehn, Als bis ich sie zu meiner Braut gemacht, Und sie, die Stirn bekränzt mit Todeswunden, Kann durch die Straßen häuptlings mit mir schleifen. (V. 599–615)

Wie der englische Feldherr Lionel performiert auch der griechische Krieger Achilles jene ungebrochene Virilität, die seine peers von ihm erwarten. Faszination und Ergriffenheit sucht er durch eine Rhetorik des Krieges 27 Trotz ihres Gegensatzes können sich beide auch bestärken, wie Schmitz anhand ebendieser Kleist-Formulierung darlegt. Vgl. Hermann Schmitz. Der unerschöpfliche Gegenstand. 2. Aufl. Bonn 1995, S. 340.



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und der sexuellen Eroberung zu camouflieren. Seine Tötungsphantasie der Amzonenkönigin nimmt dabei deutlich Bezug auf die Schändung, die er dem Leichnam des stolzen Trojaners Hektor zufügte, nachdem er diesen überwand. Achilles wiederholt diese Gewaltphantasie später auch Prothoe gegenüber, während Penthesilea, vom Kampf bewusstlos, vor ihm am Boden liegt: „Mein Will ist, ihr zu tun, muß ich dir sagen, | Wie ich dem stolzen Sohn des Priam tat“ (V. 1513 f.).28 Es ist diese mehrfach ausformulierte Vision einer Zerreißung, mit der Achilles unwissentlich seine eigene Tötung durch Penthesilea antizipiert.29 Ebenso aggressiv, und doch mit signifikanten Unterschieden, verkündet Penthesilea den Amazonen ihr Ziel: Ich will zu meiner Füße Staub ihn sehen, Den Übermütigen, der mir an diesem Glorwürdgen Schlachtentag, wie keiner noch, Das kriegerische Hochgefühl verwirrt. [...] | Fühl ich, mit aller Götter Fluch Beladne, Da rings das Heer der Griechen vor mir flieht, Bei dieses einzgen Helden Anblick mich Gelähmt nicht, in dem Innersten getroffen, Mich, mich die Überwundene, Besiegte? Wo ist der Sitz mir, der kein Busen ward, Auch des Gefühls, das mich zu Boden wirft? Ins Schlachtgetümmel stürzen will ich mich, Wo der Hohnlächelnde mein harrt, und ihn Mir überwinden, oder leben nicht! (V. 638–655)

Auf den ersten Blick erscheinen die Gewaltphantasien, die jeweils vor dem Kollektiv der Kriegspartner performativ deklariert werden, reziprok: Beide wollen den Gegner nicht nur überwinden, sondern ihn auch symbolisch degradieren und schänden. Doch genauer besehen ist Penthesileas imitatio maskuliner Kriegsrhetorik gebrochen. Sie spricht davon, dass Achilles ihr „kriegerische[s] Hochgefühl verwirr[e]“ und klagt weiterhin, von einem 28 Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des Textes – und konnte bislang auch noch nicht schlüssig gedeutet werden – das Achilles auf Prothoes entsetzte Frage „Du willst das Namenlos’ an ihr vollstrecken“ (V. 1516) einen plötzlichen Registerwechsel vornimmt, indem er antwortet „Sag ihr, daß ich sie liebe“ (V. 1520). 29 Dass Kleist hier ganz bewusst schon darauf anspielt, zeigt sich in der dem gleichen Bildfeld – sowie der Christus-Ikonografie – entstammenden Metaphorik in Penthesileas späterer Reaktion, als sie seinen (von ihr selbst) geschändeten Leichnam sieht: „Ach, diese blutgen Rosen! | Ach, dieser Kranz von Wunden um sein Haupt!“ (V. 2907 f.).

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Gefühl erfüllt zu sein, dass sie „in dem Innersten“ treffe und „zu Boden“ werfe. Der Kampf gegen den „Hohnlächelnde[n]“ erscheint als Abwehr dieses erniedrigenden Zustands.30 Bevor sich Penthesilea der kriegerischen Auseinandersetzung mit Achilles stellt, wird sie von einer merkwürdigen Schwermut ergriffen. Sie fürchtet, er sähe in ihr keine begehrenswerte Frau, sondern nur eine (beliebige) Gegnerin: Laßt ihn den Fuß gestählt, es ist mir recht, Auf diesen Nacken setzen. Wozu auch sollen Zwei Wangen länger, blühnd wie diese, sich Vom Kot, aus dem sie stammen, unterscheiden? Laßt ihn mit Pferden häuptlings heim mich schleifen, Und diesen Leib hier, frischen Lebens voll, Auf offnem Felde schmachvoll hingeworfen, Den Hunden mag er ihn zur Morgenspeise, Dem scheußlichen Geschlecht der Vögel, bieten. Staub lieber, als ein Weib sein, das nicht reizt. (V. 1244–1253)

Mit dem Ausruf „Weg ihr verdammten Flittern!“ (V. 1254) reißt sich die Königin dann ihren Halsschmuck ab. Sich mit dem Schicksal Hektors identifizierend und als ebenfalls von Achilles „schmachvoll“ geschändeten Leichnam imaginierend mündet ihre radikale Selbstverurteilung in der Formel „Staub lieber, als ein Weib sein, das nicht reizt“. Ersichtlich wird erneut ein ihr Verhalten und ihr Selbstgefühl prägendes double bind, das für den männlichen Helden nicht in gleichem Maße gilt: Erkennt Achilles sie als Kriegerin an, so muss er sie als Frau negieren – und umgekehrt. Die zweifach verwendete radikal hierarchische Metapher des Staubes – entweder selbst ‚Staub sein‘ wollen, wenn sie nicht begehrt wird, oder aber den 30 Zwei bedeutsame Motive sind in dem Zitat zu erkennen: Dass sie wünscht, Achill „zu [ihrer] Füße Staub“ zu sehen, und dass sie ihn als „[h]ohnlächelnd“ wahrnimmt. Das Motiv des Staubs als Bild für die vollständige Erniedrigung übernimmt Kleist eventuell von Schiller. Dieser verwendet es zweifach in seinem Gedicht Das Mädchen von Orleans: „Das edle Bild der Menschheit zu verhöhnen, | Im tiefsten Staube wälzte dich der Spott,“ und „Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen | Und das Erhabne in den Staub zu ziehn“; Friedrich Schiller: „Das Mädchen von Orleans“. Sämtliche Werke 1: Gedichte, Dramen I. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 8. durchges. Aufl. München 1987, S. 460. Und auch in Schillers Jungfrau von Orleans taucht das Staub-Motiv auf; so spricht der König zu Reims zu Johanna: „Laß dich sehn in deiner Lichtgestalt, | Wie dich der Himmel sieht, daß wir anbetend | Im Staube dich verehren.“; Friedrich Schiller. „Die Jungfrau von Orleans. Eine romantische Tragödie“. Sämtliche Werke 2: Dramen II. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. München 1981. 687–812, V. 2987 f.



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Feind ‚im Staub vor den eigenen Füßen liegen sehen‘ – verdeutlicht, wie zerstörerisch und schmählich beide Formen möglicher Niederlagen für sie sind, wie stark sie miteinander verknüpft sind und wie sehr sie in ihrem Ich-Ideal an den (symbolischen) Anderen gebunden ist. In der Gleichstellung von erotischer Attraktivität und kriegerischer Potenz zeigt sich, dass Penthesileas Selbstbewertung, mit Lewis gesprochen, ‚global‘ ist: Sie beurteilt nicht eine von ihr an anderen vollzogene konkrete Handlung (Bezugspunkt wäre dann Schuld), sondern sich selbst als ganze Person (Bezugspunkt ist also Scham). Als Gegenpol zu dieser negativen Selbsteinschätzung fungiert daher nicht ‚Stolz‘, sondern ‚Hybris‘, die ja tragödientheoretisch zu den Fehlern des Helden zählt. Ebendiese zeigt sich dann auch in ausgeprägtester Form – nicht allein darin, dass Penthesilea den Größten aller griechischen Helden für sich reklamiert, sondern auch, wenn sie in einem Moment ‚kriegerischen Hochgefühls‘ ankündigt, „[d]en Ida will ich auf den Ossa wälzen“ (V. 1375), sich selbst also, wie die Amazone Meroe „schüchtern“ (nach V. 1378) anmerkt, mit einem „Giganten“ (V. 1379) vergleicht. Achilles analogisiert sie gar mit dem Sonnengott Helios, und sucht sich in dessen in einem Fluss reflektierten Bild zu spiegeln (vgl. V. 1384–1387), wodurch überdeutlich auf den narzisstischen (und autodestruktiven) Charakter ihrer Vorstellungen hingewiesen wird: Mit den Worten „Da liegt er mir zu Füßen ja! Nimm mich –“ will sie „in den Fluß sinken“ (V. 1388) und wird nur in letzter Sekunde von Prothoe und Meroe davon abgehalten. Ihnen erscheint die ohnmächtig gewordene Königin in ihren Armen dann „leblos | Wie ein Gewand“ (V. 1389 f.). Im Unterscheid zu diesen höchst wechselhaften Phasen der Selbstheroisierung und Selbstverwerfung wird Achilles von ihr unhinterfragt und durchgängig idealisiert; der Grieche wird geradezu zum „Kultobjekt der Verehrung“ gemacht, obgleich Kleist ihn durchaus in unheroischer „Mittelmäßigkeit“ präsentiert.31 (Allemann hält gar die Frage für berechtigt, „ob der wahre, aus den hohen Liedern bekannte, der von Penthesilea antizipierte Achill überhaupt die Bühne betritt“32.) Der Verherrlichung von Achilles und sich selbst stehen Phasen der Labilität und der Autodestruktivität gegenüber, wie die bereits zitierten, oder auch der gegen sich selbst gerichtete Satz „Verflucht das Herz, das sich nicht mäßgen kann“ (V. 720). Stephens sieht die Antwort auf die Frage, „why self-destruction features so

31 Borelbach 1998, S. 68. 32 Allemann 2005, S. 179.

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prominently in her fantasies“33, zu Recht in Penthesileas intuitivem Wissen, die fundamentale Widersprüchlichkeit ihrer Wünsche nur durch den Tod lösen zu können. Täuschung und Verstoßung einer Königin Im anschließenden Kampf mit Achilles wird Penthesilea schwer verwundet und daraufhin ohnmächtig. Als sie in den Armen ihrer Freundin Prothoe erwacht, berichtet sie von einem „Traum entsetzensvoll“ (V. 1556): „Gefangen bin ich und mit Hohngelächter | Zu seinen Zelten werd ich abgeführt“ (V. 1571 f.). Doch bei dieser Manifestation ihrer zuvor artikulierten Ängste, zu denen neben der Niederlage im Kampf und der Zurückweisung als begehrenswerte Frau nun auch noch die Schande der Vergewaltigung hinzu kommt (denn was sonst soll in „seinen Zelten“ geschehen?34), handelt es sich, wie alle außer ihr wissen, nicht um einen Traum, sondern, was den Gefangenenstatus betrifft, um die schmerzliche Realität. Unwissentlich verflucht sie sich sodann, ähnlich wie Sophokles’ Ödipus, erneut selbst: „Fluch mir, wenn ich die Schmach erlebte, Freundin! | Fluch mir, empfing ich jemals einen Mann, | Den mir das Schwert nicht würdig zugeführt“ (V. 1579–1581). Eben dies aber geschieht dann unmittelbar im Anschluss, ohne dass Penthesilea darum weiß. Denn Prothoe bittet Achilles heimlich, die körperlich und psychisch labile Königin in der Illusion ihres Siegs zu lassen, worauf er (zögernd) eingeht. Achilles und Prothoe machen sich durch diese – zwar gut gemeinte, aber letztlich doch nicht altruistische – Inszenierung schuldig, insofern sie Verrat an dem ihnen von Penthesilea entgegengebrachten Vertrauen begehen. In der nun folgenden ‚Rosenszene‘, einer ins Kampfgeschehen inserierten Idylle – dramaturgisch handelt es sich um eine Katastase, als dem „scheinbaren Ruhepunkt vor

33 Anthony Stephens. Heinrich von Kleist. The Dramas and Stories. Oxford/Prov. 1994, S. 111. 34 Penthesilea bezieht sich hier auf die traumatische Geschichte des Amazonenstaates, der ja nur aufgrund von Notwehr gegen Massenvergewaltigungen durch die Äthiopier entstand, was in Penthesileas Wiedergabe des mythisierten Tathergangs zugleich identifizierend und euphemisiert geschildert wird: „Die Sieger bürgerten, barbarenartig, | In unsre Hütten frech sich ein, ernährten | Von unsrer reichen Felder Früchten sich, | Und voll der Schande Maß uns zuzumessen, | Ertrotzten sie der Liebe Gruß sich noch: | Sie rissen von den Gräbern ihrer Männer | Die Fraun zu ihren schnöden Betten hin.“ (V. 1925–1931).



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der weiteren katastrophalen Schürzung der Ereignisse“35 –, erzählt Penthesilea Achill den Mythos des Amazonenstaates und beide erklären einander ihre Liebe (vgl. V. 1749–2222). Diese für das Stück so wichtige Selbstoffenbarung der Heldin und die Preisgabe ihrer identitätsstiftenden Stammesgenealogie finden unter dem Vorzeichen der Täuschung statt. Erst ganz am Schluss der langen Sequenz, als die Amazonen bereits zur Befreiung Penthesileas anrücken, wird sie durch Achilles schließlich aufgeklärt: Doch nicht nach Themiscyra folg ich dir, Vielmehr du, nach der blühnden Phtia, mir: Denn dort, wenn meines Volkes Krieg beschlossen, Führ ich dich jauchzend hin, und setze dich, Ich Seliger, auf meiner Väter Thron. [...] | Zwar durch die Macht der Liebe bin ich dein, Doch durch der Waffen Glück gehörst du mir; Bist mir zu Füßen, Treffliche, gesunken, Als wir im Kampf uns trafen, nicht ich dir. (V. 2234–2248).

Achilles ist sich der psychischen Disposition Penthesileas nicht bewusst, obgleich Prothoe ihn deutlich darauf hinwies (vgl. V. 1491–1495 u. 1507–1512). In blumigen Worten stellt er die wahren Sachverhalte dar und verweist auf das anerkannte Kriegsrecht, dass Penthesilea „durch der Waffen Glück“ ihm gehöre, da sie ihm im Kampf „zu Füßen [...] gesunken“ sei. Penthesilea reagiert auf diese Erklärung mit dem Ausruf „Entsetzlicher!“ (V. 2249) und wendet sich mit einer antiken Pathosformel, „die Hände aufhebend“ an die Götter: „Ihr ewigen Himmelsmächt! Euch ruf ich auf!“ (V. 2259). Es folgt ein groteskes Ringen, in dem beide versuchen, den anderen mit Körperkraft und Worten buchstäblich in ihre Heimat zu zerren („Achilles [...]. Nach Phtia, Kön’gin. | Penthesilea. O! – Nach Themiscyra! | O! Freund!“; V. 2285 f.). Durch weitere Geschehnisse auf dem Schlachtfeld werden sie dann aber getrennt. Die Königin wird durch ihre Amazonen befreit, was sie als „schändliche[n] Triumph“ (V. 2298) bezeichnet und verflucht: Nach „jeder würdgen Rittersitte“ sei sie durch das „Glück der Schlacht“ Achilles „zugefallen“ (V. 2300 f.) und habe dieses Los auch angenommen: „Gibts ein Gesetz, frag ich, in solchem Kriege, | Das den Gefangenen, der sich ergeben, | Aus seines Siegers Banden lösen kann?“ (V. 2305–2307). Die sich durch den Gefangenenstatus auftuende Möglichkeit, „to abandon all 35 Ulrich Port. „Penthesilea“. Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Ingo Breuer. Stuttgart u. Weimar 2009. 50–61, S. 51.

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allegiance to the Amazon state and revert to a conventional female role als Achilles’ wife“36 erscheint der Königin intuitiv als – utopischer – Ausweg aus ihrer inneren Zerrissenheit. Dass sie, wie die Amazone Asteria formuliert, „zürnt, | Weil wir sie aus der Knechtschaft Schmach befreiten!“ (V. 2311 f.), ist aber aus Sicht der Amazonenordnung zutiefst empörend. Von der als Rechtsinstanz fungierenden Oberpriesterin wird sie für dieses „Schmähungswort“ (V. 2313) auch sofort in ihre Schranken gewiesen. Die Priesterin zählt die Fehltritte und Gesetzesbrüche der Königin auf: Nicht bloß, daß du, die Sitte wenig achtend, Den Gegner dir im Feld der Schlacht gesucht, Nicht bloß, daß du, statt ihn in Staub zu werfen, Ihm selbst im Kampf erliegst, nicht bloß, daß du Zum Lohn dafür ihn noch mit Rosen kränzest: Du zürnst auch deinem treuen Volke noch, Das deine Ketten bricht, du wendest dich, Und rufst den Überwinder dir zurück. (V. 2315–2322)

Mit unverhohlenem Sarkasmus bittet die Oberpriesterin dann die „große Tochter Tanaïs’“ (V. 2323) um Verzeihung für die Befreiung aus Achilles’ Händen – und verstößt sie, mit höhnischen Worten: „Frei, in des Volkes Namen, sprech ich dich; | Du kannst den Fuß jetzt wenden, wie du willst, | Kannst ihn mit flatterndem Gewand ereilen, | Der dich in Fesseln schlug“ (V. 2329–2332). Es ist die Übertretung eines Gebots, die Penthesilea, ganz ähnlich wie Schillers Johanna, zu sozialer Isolation, Verbannung und zur Zerstörung des Selbstbildes führt. Doch die Verstoßung einer Königin aus der Gemeinschaft ihres Volkes ist ein vergleichsweise radikalerer Akt, als dies bei einer ehemaligen Hirtin der Fall ist. Die Auswirkungen der öffentlichen Verbannung auf die Psyche der (ohnehin labilen) Heldin wurden in der Kleist-Forschung bislang unterschätzt.37 Es handelt sich nämlich aus der 36 Stephens 1994, S. 110. 37 Das Faktum selbst wird zwar verschiedentlich erwähnt, nicht jedoch in seiner Radikalität erfasst. Manfred Durzak etwa spricht davon, dass Penthesilea durch die Verstoßung „auf ihre Innerlichkeit zurückgeworfen“ werde, „um zugleich auch diesen Halt zu verlieren“; Manfred Durzak. „Das Gesetz der Athene und das Gesetz der Tanais. Zur Funktion des Mythischen in Kleist’s Penthesilea“. Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts (1973): 354–370, S. 367. Barbara Belhalfaoui formuliert, etwas unverständlich: „Von allen verlassen, ausgestossen aus der Gemeinschaft der Frauen, vom Freunde verletzt und verraten, sank Penthesilea vernichtet ans Herz der vernichtenden Gottheit, ihr Werkzeug, ihr Kind.“; Barbara Belhalfaoui.



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Perspektive Penthesileas nicht um eine (reversible) Schuld-Strafe, sondern um eine (irreversible) Scham-Sanktion. Wie dramatisch der dadurch evozierte Selbstverlust ist, wird an Penthesileas Ausruf, „[i]ch will in ewge Finsternis mich bergen!“ (V. 2351) deutlich, als sie erfahren muss, dass durch ihr Handeln alle von den Amazonen gefangenen Griechen („Die ganze junge Prachtschar, die wir fällten“; V. 2347) befreit wurden. Dieses Faktum ist umso gravierender, als dass sie selbst zuvor eine mögliche Gefährdung der „Jünglingsschar“ (V. 694) angeführt hatte – mit der Begründung, dass sich Achilles aus einem „tückschen Hinterhalt“ auf diese „stürzen“ würde (V. 698–702) –, nur um einen Legitimationsgrund zu haben, erneut gegen den Griechen zu kämpfen. Trotz dieser faktischen Schuld reagiert Penthesilea nicht mit einem Schuldgefühl, sondern mit der (verbalisierten) Schamgebärde des Sich-Verbergen-Wollens. Kleist hat in einer Szenenerläuterung zum 20. Auftritt im Phöbus-Fragment der Penthesilea die ‚Beschämung‘ und das ‚Zittern‘ der Königin vor der Oberpriesterin als „Gefühl gänzlicher Vernichtung“ bezeichnet: Penthesilea ist, in dem Augenblick, da sie von ihrer wahren Lage (nämlich, daß nicht Achill der ihrige, sondern sie die Gefangne Achills war) unterrichtet worden, von den Amazonen befreit und aus seinen Armen gerissen worden. Sie ruft ihn, in der ersten Regung des Schmerzes zurück; doch, von der Oberpriesterin bitter und schonungslos darüber gestraft, steht sie jetzt beschämt und zitternd, im Gefühl gänzlicher Vernichtung, vor ihrem Volke da, das noch obenein, in diesem Gefecht um ihre Freiheit, seine eigenen Gefangenen eingebüßt hat.38

„Kleists ‚Penthesilea‘ in heilsgeschichtlicher Sicht. Eine Interpretation“. Etudes Germaniques 40 (1985): 175–194, S. 190; was diese ‚vernichtende Gottheit‘ ist, wird leider nicht erläutert. Anke Vogel deutet die Verstoßung als Sanktion, die eigentlich gar keine Verstoßung impliziert: „Der Freispruch ist de facto ein Bannspruch und definiert Freiheit als Freiheit zur Unterwerfung unter eine gewählte Sozialordnung. Einen vor- oder außergesellschaftlichen Zustand gibt es aus Sicht der Oberpriesterin nicht und er wird auch von keiner anderen Dramenfigur entworfen.“; Anke Vogel. ‚Un‘ordentliche Familien. Über einige Dramen Kleists. Heilbronn 1996, S. 98; hier wird nicht beachtet, dass Penthesilea durch die Option eines Übertritts zu den Griechen und einer Ehe mit Achilles eine zwar ‚konventionelle‘, aber existente Handlungsalternative besitzt. 38 Heinrich von Kleist: „Organisches Fragment aus dem Trauerspiel Penthesilea [Phöbus-Fassung]“. Sämtliche Werke und Briefe 1. Hg. v. Helmut Sembdner. 7.  Aufl. München 1987. 856–59, S. 857 f. Diese Referenz hat erstmalig Schmitz angeführt, und zwar in seiner Erläuterung von Scham als ‚zentripetalem Gefühl‘, vgl. Schmitz 1973, S. 46, Anm. 155.

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Penthesileas Befindlichkeit in dieser Situation kreist also weniger um Schuld und Strafe, als um Scham und existenziellen Unwert. Die Schuld an der Einbuße der Gefangenen hat demgegenüber nur eine untergeordnete Bedeutung, denn die Bezugsgröße ihres Gefühls ist nicht diese konkrete Fehlhandlung, sondern ihr Ich-Ideal – eine ‚globale Selbstabwertung‘ (‚gänzliche Vernichtung‘) ist die Folge. Nölle hat betont, dass Kleist, im Unterschied zu Schiller, auf einen Monolog seiner Heldin verzichtet; Schillers Jungfrau dient ihm dabei als Folie einer normativen Dramaturgie. Er argumentiert, dass es sich im Falle Penthesileas um eine „Gemütsverfassung“ handele, „die nur bei Monologverzicht adäquat darstellbar ist“: sie sei, anders als Johanna, zu keinem „Konflikt-Monolog“ fähig, weil sie nicht in der Lage wäre, der „Spannung des Unvereinbaren standzuhalten“39 und diese mittels Sprache zu rationalisieren. Das charakteristische Fehlen einer ‚Innenperspektive‘ Penthesileas erhöht aber nicht nur die Rätselhaftigkeit ihres Charakters (aus der Sicht der Gegenspieler wie der Zuschauer), sondern dient auch der mentalitätsgeschichtlichen Situierung dieser Figur in einer Epoche deutlich vor der neuzeitlichen Gewissensinstanz und einem sich im ‚inneren Gerichtshof‘ der Psyche vollziehenden Selbst-Urteils. Die für Schuldkulturen kennzeichnende Internalisierung der urteilenden Autorität hat bei Penthesilea dezidiert nicht stattgefunden, was sich auch in der von Kleist gewählten Dramaturgie zeigt. Zerreißung als Strafe für Liebesverrat? Penthesileas zunächst gegen sich selbst gerichtete Aggression – empfunden als existenzielle ‚Selbstschädigung‘, sich in „ewge Finsternis“ bergen wollen – richtet sich dann jedoch (im deutlichen Unterschied zu Schillers Johanna) nach außen. Sie artikuliert sich in Form einer gravierenden ‚Fremdschädigung‘ und der extremen Verletzung verbindlicher Normen. Durch einen Herold erhält sie Achilles’ Forderung, sich ihm im Kampf „auf Tod und Leben“ (V. 2362) zu stellen; das Schwert möge entscheiden, „[w]er würdig sei, du oder er, von beiden, | Den Staub nach ihrem heiligen Beschluß, | Zu seines Gegners Füßen aufzulecken“ (2366–2368). Ungeachtet dieser brachialen Ansage hat Achilles de facto vor, sich Penthesilea zu unterwerfen, sich in ihre Gefangenschaft zu begeben. Er spielt also ge39 Volker Nölle. „Eine ‚gegenklassische‘ Verfahrensweise. Kleists ‚Penthesilea‘ und Schillers ‚Jungfrau von Orleans‘“. Beiträge zur Kleist-Forschung 13 (1999): 158–174, S. 159 u. 169.



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wissermaßen noch einmal die Rolle, die ihm Prothoe zuvor angewiesen hatte und die Penthesilea so gefallen zu haben schien. Dieser auf einer „narzißtisch-galanten Fehleinschätzung“40 beruhende Plan – Hybris und Hamartia des Helden –, soll es ermöglichen, ihr kriegerisches Ehrgefühl ins Recht zu rücken und seines zugleich zu erhalten, insofern er ja nur dem Scheine nach unterliegt und sich ohnehin als der Stärkere wähnt, da er die Königin zuvor bereits besiegt hat. Wie fragil diese galante Inszenierung aber gleichwohl ist und wie sehr sie Achilles’ Heldenstatus ins Wanken bringt, zeigt sich im Dialog mit den anderen Griechen, als diesen zu Ohren kommt, dass er sich der Amazonenkönigin „zum Gefangnen geben“ (V. 2488) will. Der ‚grämliche‘ „Sittenrichter“ (V. 2449) Odysseus reagiert besonders empört, als Diomedes, dem Achilles seinen Plan anvertraut hat, diesen schamlos offenbart. Achilles „schießt [das Blut] ins Gesicht“ und er erträgt es nicht, von Odysseus angeblickt zu werden: „Tu mir dein Gesicht weg, bitt ich dich!“ (V. 2489). Das augenblickliche Erröten des Helden deutet an, dass er sich der moralischen Fragwürdigkeit seines Handelns wohl bewusst ist und unwillkürlich auch um dessen Nähe zur effeminierten Lächerlichkeit weiß – „stumm sich, als ein Überwundener, | Zu ihren kleinen Füßen niederlegen“ (2493 f.), wie Diomedes spottet. Achilles gewinnt seine Fassung wieder, indem er den Griechen recht herrisch bedeutet, der „Helenenstreit“ (V. 2507) und der ganze Kampf um Troja seien ihm nunmehr gleichgültig. Psychoanalytisch könnte man seine Entsagung – seinen Verrat? – gegenüber dem Heldentum und der griechischen Kriegsgemeinschaft auch als (unbewussten) Ausdruck einer melancholischen Fügung in sein ‚Schicksal‘ deuten, als ein Selbstopfer, zu dem er bereit ist, weil auch seine vormalige independente Existenz zerstört ist. Diese Deutungsoption, wonach Achilles’ mentaler Zustand durchaus mit dem Penthesileas korrespondiert, wird aber nur latent angelegt, von Kleist nicht in gleichem Maße expliziert. Dass der Grieche aber sämtliche Zweifel in den Wind schlägt und selbst als er die (doch übertriebene) Nachricht hört, dass die Feindin mit Hunden, Elefanten und „einem ganzen wilden Reutertroß“ (V. 2538) anrückt, weiterhin von ihrer niedlichen Harmlosigkeit ausgeht, spricht nicht nur für einen tragischen Irrtum seinerseits oder eine fatale „Selbstüberschätzung“41, sondern auch für eine latente suizidale Disposition.

40 Frick 1995, S. 84. 41 Sigrid Scheifele. Projektionen des Weiblichen. Lebensentwürfe in Kleists ‚Penthesilea‘. Würzburg 1992, S. 15.

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Während Achilles also nur leicht bewaffnet auftritt und für sich von einem Scheingefecht ausgeht, erscheint Penthesilea hochgerüstet und mit einer Meute wilder Hunde. Sie erlegt ihn wie ein Tier mit einem Pfeil durch den Hals, dann stürzt sie sich mit den Hunden auf ihn und zerfleischt ihn mit den Zähnen. Es ist ein dionysischer Hassrausch, den sie ohne Bewusstsein, im Zustand der ‚Selbstfremdheit‘ durchlebt. (Der Begriff der antiken até kann ihrem Furor durchaus zugrunde gelegt werden, wenngleich eine konkrete Bestrafung durch die Götter als Motivation von Kleist hier nicht genannt wird.) In der Kleist-Forschung wurden immer neue Thesen aufgestellt, um diese maßlose Tat zu erklären. Meines Erachtens ist sie zugleich Ausdruck und Auslöschung der existenziellen Beschämung, die Penthesilea durch Achilles erleidet – oder besser: durch ihn zu erleiden glaubt. Es ist ein (äußeres) Schuldigwerden als Folge des eigenen Vernichtungsgefühls. „Staub lieber, als ein Weib sein, das nicht reizt“ ist die eine Seite dieses Gefühls, unter ‚Hohngelächter‘ als Kriegsgefangene abgeführt zu werden die andere. „Für Penthesilea ist die Kampfaufforderung eine Demütigung durch denjenigen, dessen Herz auch sie nicht mäßigen konnte und der sie zwingt, diese Niederlage gegen den Unerreichbaren noch einmal zu erleben und das Scheitern der heroischen Selbsterhöhung in einem wiederholten Unterliegen noch einmal zu vollziehen.“42 Penthesileas tragischer Irrtum ist also, dass sie Achilles’ Forderung als doppelte Schmähung versteht und in ihr nicht die zweifache Liebeserklärung erkennt, als die sie gemeint ist. Friedrich Ohly sieht im Verrat das der zerreißenden Tötung zugrunde liegende Leitmotiv. Der die Integrität des Leibes aufhebende Tod „antwortet auf die sträfliche Verletzung eines bindenden Vertrauens, aus dem das Einssein in der Liebe und im Glauben, in der sozialen und der sittlichen Gemeinschaft lebt.“43 In Kleists Dramen finden sich mehrfach solche drastischen – hier jedoch kollektiven – Zerreißungen, so die Tötung des Vasall Aldöbern durch das aufgebrachte Warwander Volk in der Familie Schroffenstein („als die Stücken | Des Herolds auf dem Hofe lagen“44) und die Tötung des geschändeten Mädchen Hally in der Hermannsschlacht 42 Kollmann 2004, S. 141. 43 Friedrich Ohly. „Die Zerreißung als Strafe für Liebesverrat in der Antike und im Alten Testament“. Sprache und Recht. Beiträge zur Kultur des Mittelalters 2. Hg. v. Karl Hauck. Berlin 1986. 554–624, S. 554. 44 Heinrich von Kleist. „Die Familie Schroffenstein. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen“. Sämtliche Werke und Briefe 1. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. München 1987. 49–152, V. 1536 f.



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(„Bringt sie ins Haus, zerlegt in Stücken sie!“45). Diesen Zerreißungen liegt der Impuls zugrunde, auf eine gemeinschaftliche Beschämung affektdynamisch mittels einer archaischen Gewalthandlung zu reagieren. Penthesileas solitär ausgeführte, kannibalistisch-zerreißende Tat deutet Ohly hingegen weniger als Scham- und Rachehandlung an dem ihr an „Gefühlsmacht“ unterlegenen Achilles, denn als eine „Wendung gegen sich“, mit der sie sich „für ihr Gefangensein in der amazonischen Orthodoxie“ bestrafe.46 Achilles’ Tötung wäre demnach als eine Art Spiegelstrafe zu verstehen, für die psychische Dissoziation, die sie selbst erfuhr. Beschämend ist die Aufhebung der vermeintlich etablierten Liebesutopie durch Achilles’ Aufforderung zum Kampf insbesondere, da Penthesilea zuvor ihre Gefühle ihm gegenüber so ungeschützt offenbart hat47 – durch das Zeigen ihrer Freude über seine Zuneigung, besonders aber durch ihr retrospektiv sich als Illusion erweisendes triumphales Siegesbewusstsein. (So bat sie ihn, sich „zu Füßen mir“ zu legen, fragte provozierend, ob er diejenige, die ihn „in Staub gelegt“, nun fürchte und forderte die Amazonen in seiner Präsenz sogar auf, den „Siegsgesang“ anzustimmen; V. 1750, 1753 u. 1733.) Ohlys These der Selbstbestrafung als Erweis der (erneuten) Unterordnung unter das Amazonengesetz ist jedoch unzutreffend, wurde Penthesilea, wie dargelegt, doch schon vor ihrer Rachehandlung von der Oberpriesterin verstoßen. Psychodynamisch hat die Tötung Achilles’ daher noch zwei weitere Funktionen: erstens, die Schmach dieser Verstoßung durch Aggression abzuwehren, zweitens, die Oberpriesterin als Personifikation des Amazonengesetzes zu beschämen. Die Zerfleischung des Geliebten wird zur perversen Übererfüllung der amazonisch-kriegerischen Pflicht und Unmenschlichkeit des Gesetzes durch eine inhumane Tat offenbar.48 Tragisch an dieser Affekthandlung ist, dass Penthesilea sich mit 45 Heinrich von Kleist. „Die Hermannsschlacht. Ein Drama“. Sämtliche Werke und Briefe 1. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. München 1987. 533–628, V. 1622. 46 Ebd. 47 Schmitz spricht diesbezüglich von Scham als „Rückschlag der Initiative“ und nennt als Beispiele unterschiedliche Situationen, in denen sich ein Mensch exponiert, seine Gefühle oder Wünsche offenbart und damit an anderen abprallt. Die Initiative kann sich dann nicht entfalten, sie wird ‚erstickt‘ und schlägt sodann in ihr Gegenteil, in Passivität und Scham um. Schmitz 1973, S. 35–38. 48 Gérard Raulet bemerkt diesbezüglich ähnlich, „daß die Treue zum Gesetz vor der Schuld nicht schützt, sondern diese geradezu bewirkt. [...] Die Greueltat ist keine Übertretung der Ordnung, sondern die Folge der konsequentesten Befolgung der Gesetzlichkeit.“; Gérard Raulet. „Der opake Punkt des Politischen“. Penthesileas Versprechen. Exemplarische Studien über die literarische Referenz. Hg. v. Rüdiger Campe. Freiburg i. Br. 2008. 343–374, S. 366.

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ihr zugleich im Innersten selbst trifft, sich in und durch die Vernichtung Achilles’ in ihrer Integrität auch selbst zerstört. Dass Kleist zur Darstellung dieser körperlichen Dissoziation ausgerechnet den größten aller griechischen Helden wählt, dessen Körper dem Mythos zufolge – bis auf eine einzige Stelle an der Ferse – unverwundbar ist,49 verdeutlicht das besondere Gewicht, das er dieser in jeder Hinsicht transgressiven Affekt-Handlung beimisst.50 Beschämung des Gesetzes Nach der Zerreißung des Achilles tragen die Amazonen den verhüllten Leichnam auf die Bühne und auch Penthesilea betritt, noch in vollständiger Umnachtung, den Schauplatz. Sie deutet durch Gesten an, die Amazonen mögen den Leichnam vor „der Dianapriestrin Füßen legen“ (V. 2725) – eine intuitiv erfolgende nonverbale Schuldzuweisung, die von dieser auch als solche erkannt und sofort verbal abgewehrt wird:51 Ich bin an dieser Greueltat nicht schuldig! [...] | Was soll die Leiche hier vor mir? Laß sie Gebirge decken, unzugängliche, Und den Gedanken deiner Tat dazu! War ichs, du – Mensch nicht mehr, wie nenn ich dich? Die diesen Mord dir schrecklich abgefordert? – (V. 2712–2732) 49 Vgl. Robert v. Ranke-Graves. Griechische Mythologie. Quellen und Deutung 1. Reinbek b. Hamburg 1960, S. 247; Grant u. Hazel 1990, S. 9. Dieses Faktum war Kleist sehr wohl bekannt; so heißt es über Michael Kohlhaas, er „jauchzte“ über die Macht, „seines Feindes Ferse, in dem Augenblick, da sie ihn in den Staub trat, tödlich zu verwunden“. Heinrich von Kleist. „Michael Kohlhaas“. Sämtliche Werke und Briefe 2. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. München 1987. 9–103, S. 97. Und entsprechend wird der „panzerhäutige“ Achill bei Homer auch durch einen Pfeil in seine Ferse schließlich getötet. Vgl. Claudia Benthien. Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse. Reinbek b. Hamburg 1999, S. 158. 50 Mit dem Adjektiv ‚transgressiv‘ ist hier nicht die von Piers implizierte „transgression“ als Ursache für Schuldgefühle gemeint, insofern Penthesilea ihre Tat ja gar nicht als solche wahrnimmt – dies wäre lediglich die Außenperspektive. Gerhart Piers. „Shame and Guilt. A Psychoanalytic Study“. Ders. u. Milton B. Singer. Shame and Guilt. A Psychoanalytic and a Cultural Study. Springfield 1953. 5–41, S. 11. 51 Ähnlich sehen dies Durzak 1973, S. 368; Sigrid Scheifele. Projektionen des Weiblichen. Lebensentwürfe in Kleists ‚Penthesilea‘. Würzburg 1992, S. 23; Schmidt 2003, S. 122.



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Die Wahl des Wortes ‚Mord‘ deutet an, dass die Priesterin die Tat ihrer Königin als jenseits aller Praktiken amazonischer Kriegsführung einstuft, wodurch sie sich auch der Gerichtsbarkeit entzieht.52 Sie weist Penthesilea an, sich zu entfernen, ihr nicht länger als stummer Vorwurf gegenüber zu stehen: „Hinweg, du Scheußliche! | Du Hadesbürgerin! Hinweg, sag ich! | Nehmt diesen Schleier, nehmt, und deckt sie zu“ (V. 2714–2716). Es folgt die Regieanweisung „Sie reißt sich den Schleier ab, und wirft ihn der Königin ins Gesicht“ (nach V. 2716) – eine drastische Geste, die zugleich als Beleidigung und als finale Aufforderung zur Scham zu verstehen ist.53 Die Gebärde erfüllt ihren Zweck jedoch nicht, denn der Schleier prallt an ihr ab und Penthesilea „blicket immer auf die Priestrin ein. | [...] Grad ihr ins Antlitz – [...] Fest und unverwandt | Als ob sie durch und durch sie blicken wollte“ (V. 2736–2738), wie die Amazonen entsetzt bemerken. Die Oberpriesterin fleht dann Prothoe an, Penthesilea ‚zu entfernen‘, denn sie könne diese „nicht mehr sehn“ (V. 2740), aber die zögert ebenfalls, sich der ‚bestialischen Mörderin‘ zu nähern. Bevor Penthesilea selbst ihren Mord zu realisieren beginnt, verhüllt ihr Prothoe mit den Schleiern aller Priesterinnen vollständig das Haupt.54 Sie wird so den Blicken entzogen, gleichwohl in der Gruppe belassen. Wie bereits im Kapitel 3.2 erwähnt, werfen die Cherusker in der Hermannsschlacht in einer ähnlichen kollektiven Gebärde ein großes Tuch über das Mädchen Hally, nachdem es von einer Horde Römer sexuell mißbraucht und mißhandelt wurde, so dass das Volk, und insbesondere ihr Vater, nicht mit dem Antlitz der Geschändeten konfrontiert wird.55 In beiden Fällen 52 Vgl. Borelbach 1998, S. 85. 53 Hinderer versteht die Geste hingegen als Ausdruck ihres Wunsches, „deren ‚Greueltat‘ zu bedecken“, wobei dann zu fragen wäre, warum gerade das Gesicht der Oberpriesterin Ziel des Angriffs ist. Hinderer 2003, S. 64. 54 Es heißt in der Figurenrede Prothoes: „Laßt uns ihr Haupt und Nacken ganz verhüllen!“ (V. 2840); der anschließende Nebentext lautet explizit „Sie verhüllt die Königin [...]“ (nach V. 2841). Äußerer Grund der Verhüllung ist eine Waschung, die Penthesilea an sich vorgenommen hat, sie dient also funktional dem Trocknen von Haar und Gesicht, ihre hier betonte symbolische Bedeutung bleibt aber unbenommen. 55 „Das Volk. O des elenden, schmachbedeckten Wesens! | Der fußzertretnen, kotgewälzten, | An Brust und Haupt zertrümmerten Gestalt. | Einige Stimmen. Wer ists? Ein Mann? Ein Weib? | Der Cherusker der die Person führt. Fragt nicht, ihr Leute, | Werft einen Schleier über die Person! | Er wirft ein großes Tuch über sie.“ Kleist 1987a, Bd. 1, V. 1545–1549. Hallys Schändung hat allerdings zur Folge, dass der Vater sie tötet, ihren Körper in 15 Teile zerschneidet und diese den „funfzeh[n] Stämmen der Germaner“ mit Boten zukommen lässt, um „Deutsch-

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handelt es sich um gemeinschaftliche Akte, in denen das Kollektiv die beschämte Person den Blicken entzieht, sie aber gleichwohl verhüllt innerhalb der Gruppe belässt. Es ist eine paradoxe Form der Ausgrenzung, die inmitten der Gemeinschaft erfolgt (wie sie ähnlich auch von den Franzosen am Leichnam der Johanna von Orleans vollzogen wird, wenngleich dieser sich ja nun nicht mehr ‚schämen‘ kann). Auch der Leichnam des Achilles’ liegt am Ende verhüllt auf der Bühne, der Regieanweisung zufolge „mit einem roten Teppich bedeckt“ (vor V.  2704). Die Farbe verweist metonymisch auf den darin befindlichen blutigen Körper, aber ebenso auf den Affekt der Scham und die im Erröten immanente Dialektik der Verhüllung. Die im Bühnenhintergrund liegende, noch verhüllte Leiche des Achilles’ ist also auch eine Allegorie der Scham. Die ‚Enthüllung‘ des Toten wird Penthesilea selbst vornehmen, nachdem sie, „sich lebhaft aufrichtend“ (V. 2869), von den Schleiern befreit wird. Kleist theatralisiert in dieser ‚Entschleierung‘ und der Aufdeckung des Leichnams durch die Heldin ihre sukzessive Anagnorisis und die Erkenntnis ihres tragischen Irrtums. Zunächst aber versuchen die Amazonen noch, „die Leiche, die aufgehoben wird, mit ihren Leibern zu verbergen“ (V. 2872), was Penthesilea – als Höhepunkt tragischer Ironie – missdeutet: Sie „hält ihre Hände freudig vors Gesicht“ (ebd.), weil sie im Glauben ist, Achilles, der „schon einmal hinterm Rücken mir [stand]“ (V. 2879), habe sich scherzhaft hinter den Frauen verborgen. Als sie dann aber erkennt, dass es kein stolzer Krieger, sondern der eingewickelte Tote ist, der ihrem Blick verborgen wurde, sie schließlich „den Teppich auf[hebt]“ (V. 2895) und den geschändeten Leichnam darin sieht, fragt sie zunächst, wer diese Gräueltat vollbracht hat. Sie erkennt sich noch immer nicht selbst als Täterin. Vielmehr kündigt sie an, diejenige Person ihrer ‚Rache‘ zu opfern, die „den Toten tötete“ (V. 2919), bis die Oberpriesterin ihr „schüchtern“ (vor V. 2943) mitteilt, dass sie selbst – erneut die sophokleische Anagnorisis anzitierend – diejenige ist, die sie sucht. Als Penthesilea dann ihre Tat tatsächlich ausspricht („Ich zerriß ihn.“; V. 2975) fordert die Priesterin sie auf, „Verberge dich! | Laß fürder ewge Mitternacht dich decken!“ (V. 2979 f.). land“ dem Vater zur „Rache“ anzuwerben (vgl. V. 1611–1616). Von den Beteiligten wird diese ‚Postsendung‘ so verstanden, wie sie gemeint ist: als drastische Kriegsaufforderung gegen die ursupatorischen Römer. Vgl. zur ‚Schändung‘ dieser Figur und ihrer Geschlechter- und Nationalpolitiken: Christine Künzel. „Gewaltsame Transformationen: Der versehrte weibliche Körper als Text und Zeichen in Kleists ‚Hermannsschlacht‘“. Kleist-Jahrbuch (2003): 165–183.



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Penthesilea wird, anders als Johanna oder Don Cesar, am Ende nicht ‚ent-schuldet‘: Ihre Tat ist vor keinem weltlichen Gesetz zu sühnen, ihr Zustand der Scham irreversibel. Selbst der Umstand, dass die Oberpriesterin sich schließlich bei ihr tatsächlich persönlich entschuldigt und sagt, die Göttin Diana sei zufrieden mit ihr, sie sei eine ebenso würdige Trägerin des Bogens, wie Tanaïs, die „große Stifterin des Frauenreiches“ (V.  2776),56 kann ihr weder Trost geben noch die Option eröffnen, sich in die Gemeinschaft der Frauen zu reintegrieren. Denn Penthesilea befindet sich jenseits einer wie auch immer gearteten Schuldordnung, auf die die Priesterin mit ihrer Entschuldigung noch rekurriert. Es ist hier zwischen Schuld und Schuldgefühl zu unterscheiden: Penthesilea hat unleugbar mit dem Mord an Achilles eine faktische Schuld auf sich geladen; sie hat ihre Tat sogar, juristisch gesehen, vorsätzlich ausgeführt, sich also eine ‚schwere Schuld‘(dolus) aufgeladen. Ein Schuldgefühl ihrerseits jedoch wird im Text nicht artikuliert – sofern man die eine große Träne, die sie „[u]m die Ruine ihrer Seele“ (V. 2789) weint, nicht als ein nonverbales ‚Schuldbekenntnis‘ ansieht. Ferner ist ihr die Schuld anzulasten, dass sämtliche Gefangenen aufgrund einer „persönlichen Fehde“57 zwischen ihr und Achilles verloren gingen, dass sie also das übergreifende Ziel des Amazonenkrieges durch ihr nicht der Herrscherrolle gemäßes Verhalten gefährdet hat. Wie dargelegt, löst aber beides bei Penthesilea eher Scham-Reaktionen aus. Daher sind auch die in der Forschung formulierten, zumeist recht pauschal ausfallenden Auseinandersetzungen mit der 56 Diese plötzliche, recht unmotiviert wirkende Wandlung der Operpriesterin erstaunt. In der Forschung wurde sie als Reaktion auf den Umstand gedeutet, dass Penthesilea zuvor den Bogen fallen lässt und dieser in eben der gleichen Formation ‚klirrend‘ auf dem Boden landet, wie in der mythischen Ursprungslegende der Tanaïs (vgl. V. 2767–2772), wodurch erkennbar werde, dass sie die Gründungshandlung des Amazonenstaates durch die Tötung des Achilles wiederholt habe; vgl. Vogel 1996, S. 98; Gerhard Neumann. „Erkennungsszene und Opferritual in Goethes ‚Iphigenie‘ und Kleists ‚Penthesilea‘“. Käthchen und seine Schwestern. Frauenfiguren im Drama um 1800. Internationales Kolloquium des Kleist-Archivs Sembdner. Hg. v. Günther Emig u. Anton P. Knittel. Heilbronn 2000. 38–80, S. 63 f. Doris Claudia Borelbach wendet dagegen – zu Recht – ein, dass es sich nicht um eine Wiederholung handele, „[d]enn im Unterschied zur Königin Tanaïs handelt Penthesilea gerade nicht als oberste Repräsentantin ihres Volkes, sondern als individuelle Person“; Borelbach 1998, S. 92. Außerdem wurde der Bogen in der Ursprungslegende nicht von der Königin (Tanaïs) fallen gelassen, sondern von der damaligen Oberpriesterin und fiel auch zu deren Füßen nieder (vgl. V. 1995–2001) – die Korrespondenz stimmt also im Detail nicht überein. 57 Kollmann 2004, S. 127.

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Schuldfrage der Protagonistin letztlich nicht zufriedenstellend, und dies nicht nur, weil sie deren Verschränkung mit Scham ausblenden.58 Eine besonders radikale Position diesbezüglich vertritt Lü, die das Argument stark zu machen sucht, dass die Amazonen über viele Generationen hinweg aufgrund der Tötungen sämtlicher männlicher Nachkommen direkt nach der Geburt und der „eigenmächtige[n] Heiligung alles Blutvergießens“ durch den Staat kontinuierlich Schuld auf sich lüden.59 „Blutschuld“ aber, so Lü, „verlangt Sühne“ und Penthesilea als „Trägerin der angesammelten Volksschuld“ müsse diese auf sich nehmen, indem sie zum einen eine besonders grausame Tötung an einem Mann vornimmt und sich dann, „das längst überfällige Sühneopfer an sich selbst vollbringen[d]“, tötet.60 Lü begründet diese These mit der „bedrückende[n] Präsenz der ‚Furien‘ im ganzen Text des Dramas“.61 Die antiken Rachegöttinnen sind aber keineswegs, wie sie behauptet, nur für die Amazonen von Bedeutung, 58 Nachfolgend werden die entsprechenden Belegstellen in der Forschungsliteratur angeführt, wobei die Chronologie der zitierten Positionen ein stetes Auf und Ab der Schuldattribution und -negation erkennen lässt: „Penthesilea stirbt [...] einzig und allein für sich selbst, um ihrer unerträglichen Verstrickung in Schuld und Widersprüche zu entkommen“; Stephens 1994, S. 216. „Schuld im moralischen Sinne ist Penthesilea nicht anzulasten“; Vogel 1996, S. 105. „Penthesilea verbindet nach beendeter Deutungsarbeit mit ihrer Untat keinerlei Schuldempfinden“; Volker Nölle. „Die Selbsttötung Penthesileas. Eine interpretatorische These im Prüfstand produktionsästhetischer und topologischer Fragen“. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 27.108 (1997): 151–161, S. 159. „Und mit einer fast unglaublichen Evidenz wird ihr die Explosion von Schuld und Reue zu dem Instrument der Selbsttötung, mit dem sie dem Geliebten in den Tod folgt.“; Eva S. Poluda. „Widersprüche geschlechtlicher Identität in Heinrich von Kleists ‚Penthesilea‘“. Widersprüche geschlechtlicher Identität. Hg. v. Joachim Cremerius. Würzburg 1998. 73–88, S. 82. Die „subjektive Schuld Penthesileas“ gehe aus dem „Widerspruch zwischen der Singularität des Ichs und dem Gesetz des Amazonen-Staates“ hervor; Gabriele Brandstetter. „,Eine Tragödie von der Brust heruntergehustet‘. Darstellung von Katharsis in Kleists ‚Penthesilea‘“. Heinrich von Kleist und die Aufklärung. Hg. v. Tim Mehigan. Rochester 2000. 186–210, S. 202. „So ist hier das Sich-Verschränken von Schuld und Unschuld gegeben, indem in der Tradition von Aristoteles das Wesen der Tragödie erkannt wird.“; Greiner 2000, S. 162. „Overcome with guilt and sorrow, Penthesilea forges from the depths of her deepest sorrow a dagger of grief and plunges it into her breast, killing herself.“; Grant Profant McAllister. Kleist’s Female Leading Characters and the Subversion of Idealist Discourse. Bern u. a. 2005, S. 129. 59 Yixu Lü. „Der Sinn des ‚Heiligen‘ in Kleists ‚Penthesilea‘“. Beiträge zur Kleist-Forschung 17 (2003): 143–163, S. 152. 60 Ebd., S. 158. 61 Ebd., S. 152.



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sondern werden auch von den Griechen thematisiert.62 Auch die postulierte Kollektivschuld wird auf der Ebene der Figuren von Kleist nicht verdeutlicht. Daher überzeugt diese Argumentation, die sich am antiken Tragödienkonzept und an aktuelle Opfertheorien anlehnt, letztlich nicht. Als polare Gegenposition zu der von Lü vertretenen Verabsolutierung der Schuld ist Beda Allemann zu nennen, der die Schuldthematik in Penthesilea bloß für „einen präzis ausgeworfenen Köder“ hält, durch den sich eine „konventionelle Interpretation“ fangen lasse, indem sie glaube, „hier die zentrale Konfliktsituation des Dramas zu fassen“.63 Kleist verweigere sich „der neuzeitlichen Übung“, „ein stringentes Schuld-Sühne-Schema“ in die Tragödie zu implementieren und führe deswegen die „Schuld-Thematik“ nur „ins Handlungssubstrat und die Argumentation des Gegenspiels“ ein.64 Und der Oberpriesterin als zentraler Figur des ‚Gegenspiels‘ komme ihm zufolge für das tragische Geschehen keine tragende Rolle zu, da Penthesileas Konflikt nicht aus äußerem Widerstand erwachse, sondern sie letztlich an sich selbst scheitere. Die vorliegende Analyse zeigt, dass dies nur teilweise richtig ist: Zwar tangieren die moralischen Appelle der Priesterin und ihre Schuld-Vorwürfe Penthesilea nur peripher, ihre Verstoßung der Königin aus der Gemeinschaft als äußerste Scham-Sanktion verfehlt ihre Wirkung jedoch nicht. Es sind also tatsächlich keine schuldkulturellen, sondern schamkulturelle Mechanismen, die die fatale Affektdynamik hier auslösen. „Vernichtendes Gefühl“ Anstatt sich, wie von der Oberpriesterin vorgeschlagen, für immer in Dunkelheit zu begeben (oder sich, wie König Ödipus, selbst in die Einöde zu verbannen), reagiert Penthesilea im Anschluss an ihre tragische Anagnorisis zunächst gegenteilig: ‚schamlos‘. Sie tritt in einen exaltierten Dialog mit dem Toten ein, umarmt und küsst ihn. Schließlich lässt sie sich von der 62 Siehe zum Beispiel eine interessante und spitzfindige Aussage des Griechen Antilochus über Achills Gespann, es sei schneller als jedes sich einstellende Schuldgefühl: „Bei den Erinnyen! Meiner Reue würd ich | Mit deinem flüchtigen Gespann entfliehn“ (V. 498 f.). Außerdem werden die Furien der Rache, wie Juliane Vogel anmerkt, von Penthesilea selbst „in einer barbarischen Parodie durch Hunde [ersetzt]“, wodurch sich das „Pantheon der Rachemächte [...] ins Bestialische“ verkehre; Juliane Vogel. Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der ‚großen Szene‘ in der Tragödie des 19. Jahrhunderts. Freiburg i. Br. 2002, S. 192. 63 Allemann 2005, S. 186. 64 Ebd.

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Leiche entfernen und von den Umstehenden „aufrichten“ (nach V. 3001). Ihr finales Stehen nimmt deutlich das Schlussbild der Jungfrau von Orleans auf und invertiert es. Zunächst gibt Penthesilea Prothoe den Auftrag, der „Tanaïs Asche“ (V. 3009) in die Luft zu streuen, was einer symbolischen Aufhebung des Amazonenstaates gleichkommt.65 Nach der Ankündigung, „[i]ch sage vom Gesetz der Fraun mich los, | Und folge diesem Jüngling hier“ (V. 3012–3013), tötet sich die Königin sodann selbst, durch einen Sprechakt: Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder, Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wir Erz, Mir ein vernichtendes Gefühl hervor. Dies Erz, dies läutr’ ich in der Glut des Jammers Hart mir zu Stahl; tränk es mit Gift sodann, Heißätzendem, der Reue, durch und durch; Trag es der Hoffnung ewgem Amboß zu, Und schärf und spitz es mir zu einem Dolch; Und diesem Dolch jetzt reich ich meine Brust: So! So! So! So! Und wieder! – Nun ists gut. (V. 3025–3034)

Es folgt die Regieanweisung, „[s]ie fällt und stirbt“ (nach V. 3034). Spricht Schillers Johanna davon, im Sterben leicht zu werden, ihren Körper zu transzendieren und verklärt in den Himmel zu schweben, so findet sich hier eine entgegengesetzte Gravitation: Kleists Heldin steigt in ihren „Busen nieder | Gleich einem Schacht“ – und fällt.66 Kathrin Pahl spricht diesbezüglich von einem „Schacht der Innerlichkeit“67, was hier aber eher physiologisch als psychologisch korrekt ist, ist doch Scham das Gegenteil von ‚Innerlichkeit‘.

65 Vgl. Stephens 1994c, S. 122. 66 Ähnlich hat Gerhart Pickeroth diesen Kontrast beschrieben: „Im Gegensatz zu Schiller, dessen kriegerische Jungfrau Johanna am Ende ‚heiter lächelnd‘ sich selbst entstofflicht fühlt und aureolengleich als Heilige die Erde zu verlassen meint, nachdem sie die ihr zudiktierte Mission erfüllt hat, bleibt Kleists Jungfrau noch im Tod ganz erdgebunden, weil sie sich keine höheren Weihen verdient hat.“; Gerhart Pickerodt. „Penthesilea und Kleist. Tragödie der Leidenschaft und Leidenschaft der Tragödie“. Germanisch-romanische Monatsschrift 68 (1987): 52–67, S. 65; zu dieser Korrespondenz siehe auch Helmut J. Schneider. „Standing and Falling in Heinrich von Kleist“. Modern Language Notes 115.3 (2000): 502–518, S. 507. 67 Kathrin Pahl. „Gefühle schmieden, Gefühle sehen. Kleists theatralische Theorie der geschichteten Emotionalität“. Kleist-Jahrbuch (2008/09): 151–165, S. 153.



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Wie Helmut Schneider dargelegt hat, ist für Kleists Dramaturgie das Motiv des Stehens und Fallens von herausragender Bedeutung; der Vertikalität und dem aufrechten Stand kommen auch innerhalb der anthropologischen Tradition wichtige Bedeutung zu. Ebenso wie der ‚Fall‘ und das ‚Fallen‘ sind sie biblisch konnotiert, aber natürlich auch moralisch – so etwa in der Tugend der constantia – und machtbezogen-hierarchisch (wie sich in Penthesilea insbesondere am Motiv des Staubes zeigt).68 In Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater wird den Gliederpuppen gegenüber menschlichen Körpern der entscheidende Vorteil eingeräumt, „antigrav“69 zu sein. Penthesileas ‚Hinabsteigen‘ in ihren eigenen ‚Busen‘ ist also eine paradoxe Todesform extremer emotionaler Gravität. Ausagiert wird eine unermessliche, zentripetale Scham, in der die Heldin gleichsam in sich hinein und in den Boden sinkt. Zwar entdeckt Prothoe am Hals der Königin eine starke Verwundung (vgl. V. 2821), doch ob dies die Todesursache ist oder zumindest zum Tod beiträgt, bleibt bewusst offen. Denn Prothoe selbst hat bereits zuvor die körperliche Verwundung und den seelischen Schmerz in ihrer Wirkmacht auf Penthesilea gleichgestellt.70 Ihr ohne sichtbare äußere Eingriffe erfolgtes Sterben kann physiologisch anhand des so genannten ‚Vagus-Tod‘ erklärt werden, als einem vollständigen Kollaborieren der Nerven einer verurteilten Person aufgrund von äußerster Scham und Schande.71 Penthesileas Suizid ist die Komplementärhandlung zur Zerreißung des Achilles’, ein Liebestod aus Scham. Sie begeht, wie Schmitz treffend formuliert hat, ein „mentales Harakiri“, indem sie „die lauernde Scham eigens ausgräbt und dieses Gefühl voll über sich kommen lässt“.72 Das 68 Vgl. Schneider 2000, S. 504. 69 Heinrich von Kleist. „Über das Marionettentheater“. Sämtliche Werke und Briefe 2. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. München 1987. 338–345, S. 342. 70 „Doch seis der Glieder, der verwundeten, | Seis der verletzten Seele Schmerz: sie konnte, | Daß sie im Kampf gesunken dir, nicht tragen“ (V.1482–1484) bemerkt Prothoe im 13. Auftritt zu Achilles, als beide im Glauben sind, Penthesilea sei tot. 71 „[D]ie öffentliche Zurschaustellung des Delinquenten, seine strafweise Exposition ohne einen erkennbaren Zufluchtsort bildete deshalb bei vielen Völkern einen Hauptteil der Rechtsprechung. Die öffentliche Ausstellung am Pranger konnte als so peinlich und aussichtslos erlebt werden, daß die Verurteilten nicht selten dabei vorzeitig einen Vagus-Tod starben.“; Eugen Drewermann. [Art.] „Schuld“. Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Hg. v. Hubert Cancic u. a. Stuttgart u. a. 2001. 46–53, S. 48. Der Begriff ‚Vagus‘-Tod rekurriert auf den sog. nervus vagus als den Hauptnerv des parasympathischen Systems (der Eingeweide). 72 Schmitz 1973, S. 46. Die Formel vom ‚mentalen Harakiri‘ erscheint mir so treffend, dass der damit einher gehende Anachronismus ebenso wie der ‚falsche‘ kultu-

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„vernichtende Gefühl“ in sich erzeugt Penthesilea mittels des tragischen Affekts des ‚Jammers‘ und des christlich-moralischen der ‚Reue‘.73 Nölle hat diesbezüglich eine aufschlussreiche Korrespondenz mit Schillers Schauspiel Die Räuber festgestellt, wo Franz Moor ebendiese Affekte als wirksame Tötungsmittel anruft, nachdem er zuvor eine Reihe anderer (Zorn, Sorge, Gram, Furcht und Schreck) als für diesen Zweck ungenügend abgetan hat:74 „O so komme du mir zur Hülfe Jammer und du Reue, höllische Eumenide, grabende Schlange, die ihren Fraß wiederkäut und ihren eigenen Kot wiederfrißt; ewige Zerstörerinnen und ewige Schöpferinnen eures Giftes [...]!“75 Franz wünscht, dass sein Vater eines ‚natürlichen‘ Todes an den schweren Schuldgefühlen über die ungerechte Verstoßung des Sohnes Karl (die Franz durch eine Intrige ausgelöst hat) stirbt. Er ruft – für ein in der Neuzeit spielendes Stück recht willkürlich – mit der „Eumenide“ dazu auch eine antike Rachegöttin an, was ein Grund für die häufige Anrufung oder Erwähnung der antiken Rachegöttinnen (Erinnyen, Eumeniden, Furien) auch in Kleists Trauerspiel sein mag. Neben „Jammer“ und „Reue“ erbittet Franz Moor dann noch die „heulende Selbstverklagung“, um das „zerbrechliche Leben“ seines Vaters zu zerstören – eine Affekt-Disposition, die Kleist in Penthesileas Suizid-Monolog weglässt beziehungsweise durch ‚Hoffnung‘ („der Hoffnung ewgem Amboß“) ersetzt, wobei der damit evozierte christliche Kontext aber unausgeführt bleibt.76 Was im Schillerschen Prätext nur mehr als Gedankenspiel durchgeführt wird – denn Vater Moor stirbt (noch) nicht an diesen selbstzerstörerischen Affekten –, setzt Kleist in Form einer Sprechhandlung metatheatral um. Penthesilea löscht sich selbst aus, um den Mord an Achilles zu kompensieren, der seinerseits durch ein „vernichtendes Gefühl“ geschah. Dennoch ist es unzutreffend ihren Suizid als Ausdruck einer „Souverärelle Kontext zu vernachlässigen sind. 73 Dass das ‚vernichtende Gefühl‘ „in Wahrheit der Jammer – und mit Vorbehalt – die Reue“ sei, wie Nölle annimmt, ist aber unzutreffend, insofern Kleist damit, wie zuvor anhand des Zitats aus dem Phöbus nachgewiesen, eher den Grundaffekt der Scham meint; Nölle 1997, S. 154, Anm. 7. 74 Vgl. ebd., S. 152. 75 Friedrich Schiller. „Die Räuber“. Sämtliche Werke 1: Gedichte, Dramen I. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 8. durchges. Aufl. München 1987. 491– 638, S. 522 f. 76 Anders gesagt: „Diese mit Ewigkeit konnotierte Hoffnung [...] ist nicht die christliche Auferstehung, sondern eher deren Umkehrung“; Justus Fetscher. „‚Ach dieser Kranz von Wunden um sein Haupt!‘ Zur erotisierten Christus-Imago der ‚Penthesilea‘“. Beiträge zur Kleist-Forschung 17 (2003): 89–111, S. 101.



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nität des Willens in der intentionalen Verfügung über die Affekte“ zu interpretieren, der „alles, was sich der Idealismus an Subjektautonomie erträumt hat, [übertrifft]“,77 denn Penthesileas Selbsttötung ist Akt der Verfügung über ihre Affekte und ein ihnen vollständiges Unterworfensein zugleich. Anders als bei Johanna, die im Zweikampf mit Lionel in einen Konflikt zwischen Pflicht und Neigung gerät und durch das Nichttöten des Feindes schuldig wird,78 ist Penthesileas Situation durch den Verlust von Optionen gekennzeichnet. Sie unterliegt Achilles im Kampf und wird dadurch zur Ohnmächtigen, zur Beschämten. („Schuldig wird man durch eine Entscheidung, die letztlich immer auch einen Ambivalenzkonflikt beinhaltet. Demgegenüber steht die Scham vor einem solchen Konflikt, der Konflikt folgt der Schamszene erst nach.“79) Ihre Schamsituation ist daher, im Unterschied zu Johannas Schuldsituation, alternativlos. Der Konflikt, in dem Penthesilea dann (aus moralischer und juristischer Perspektive) schuldig wird, folgt dieser Scham nach. Es ist die Suche nach einem Ausweg aus der erlittenen – wie dargestellt, gleich auf mehreren Ebenen sich ereignenden – beschämenden Passivierung. Penthesileas Tod offenbart die Widernatürlichkeit des Amazonengesetzes, das auf einer Vermännlichung der Frauen beruht, auf der Unterdrückung ihrer Gefühle und der Reduktion von Liebe auf eine kriegerisch gedeutete geschlechtliche Reproduktion. In Penthesileas metaphorischer Verwandlung der „Küsse“ in tödliche „Bisse“ (V. 2981) wird dieses Gesetz buchstäblich übersteigert, entlarvt und beschämt. Somit dekonstruiert Kleists anti-idealistischer Schluss implizit auch die Unterwerfung Johannas (oder Don Cesars) unter das kantische Sittengesetz. Kleist zeigt jene Katastrophe, der Schillers Heldin durch ihre demutsvolle Annahme von Schuld nur knapp entgeht. Eine solche Möglichkeit der Kompensation und Buße ist Penthesilea nicht möglich.80 Erstens fehlt ihr dazu die selbstreflexive 77 Port 2002, S. 103. 78 Vgl. Till Bastian u. Micha Hilgers. „Kain. Die Trennung von Scham und Schuld am Beispiel der Genesis“. Psyche 44 (1990): 1100–1112, S. 1105, die darauf hinweisen, dass dieser „Zwiespalt zwischen Pflicht und Neigung” in der deutschen Klassik häufig thematisiert wird und sich schon im antiken Mythos von Herakles am Scheideweg findet. 79 Ebd., S. 1105. 80 Ähnlich Donald Crosby, der bemerkt: „Schiller permits Johanna to suffer passively after her fall from grace. She is punished less by the humilitation of captivity than by the gnawing awareness of having failed in her mission. […] Unlike Johanna […] Penthesilea does not escape the consequences of her inevitable trespass. […]

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und moralische Kompetenz, wie Johanna sie an den Tag legt. Zweitens besteht ihre ‚Schuld‘ in der irreversiblen, unauslöschlichen Tötung des geliebten Feindes und eben nicht in der Unterlassung dieser Tötung. Drittens erfolgen Penthesileas Transgressionen – des Begehrens und des Tötens – in einem Zustand affektiver Entstellung, der als irreversible Beschämung zu deuten ist, die auch durch eine schwere Schuld nicht auszulöschen ist. Die bei Schiller vorherrschende Schuldkultur erweist sich damit als fragile Überwindung einer archaischeren Schamkultur, wie Kleist sie in seinem Bühnenwerk gestaltet.

She cannot ascend, like Johanna, to the eternal joy of an afterlife, but must rather descend into the depths of her being, there to forge the ‚dagger of the mind‘ with which she ends her life“. Donald H. Crosby. „The Creative Kinship of Schiller and Kleist“. Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 53 (1961): 255–264, S. 259.

IV.  Schlussbetrachtung Zu Schillers und Kleists Anthropologie „Der Mensch kann groß, ein Held, im Leiden sein, | Doch göttlich ist er, wenn er selig ist!“ (V. 1696 f.) – diese Sentenz formuliert Kleists Amazonenkönigin Penthesilea, bevor der tragische Konflikt zwischen ihr und dem Griechen Achilles eskaliert, der schließlich beiden das Leben kosten wird. Ihre metatheatrale Aussage wendet sich indirekt gegen das Leidenspathos der Tragödie, wie es um 1800 so prominent in Schillers Dramen zum Ausdruck kommt. Kleists Anthropologie weist, im Unterschied dazu, der tragischen Schuld keine zentrale Bedeutung zu. Im Gegenteil, auch im tiefsten Unglück finden sich immer noch utopische Momente des Glücks, die visionär aufgerufen werden und die für die Figuren viel eher identitätsbildend sind als ihr Leid. Und doch konnte auch in Kleists Tragödien eine Affektdynamik nachgewiesen werden, die von Scham ausgeht und auf Schuld hinausläuft. Während Schuld bei Schiller tatsächlich als Gefühl handlungsmotivierend ist, bleibt sie bei Kleist eher äußerlich: Seine Figuren gehen nicht aufgrund von Reue und Selbstzerknirschung zugrunde, sondern infolge anderer innerer Konflikte. Ihr Leid besteht weniger in einer wachsenden tragischen Selbsterkenntnis, wie bei Schiller – beziehungsweise wie von diesem postuliert –, sondern in einem Zerbrechen an inneren Widersprüchen oder einem affektgeleiteten Verkennen der Realität. Alle vier Trauerspiele, die im Zentrum dieser Untersuchung standen, finden ihre Sujets in antiken oder mittelalterlichen Stoffen und mithin in Gesellschaftsformen, die im Unterschied zur neuzeitlich-christlichen Welt gemeinhin als Schamkulturen gelten. Die Autoren stellen die Tragödie einer oder mehrerer Figuren in den Mittelpunkt, die archaische Ausmaße besitzt und deren affektive Wucht im zeitgenössischen Gewand als anachronistisch gegolten hätte. Auslöser des ‚vernichtenden Gefühls‘ der Scham ist entweder, auf der Ebene personaler Identität, ein erotisches Begehren, das – ob tatsächlich, ob nur vermeintlich– zurückgewiesen wird (Die Braut von Messina, Penthesilea) beziehungsweise mit einem persönlichen Gebot in krassem Widerspruch steht (Die Jungfrau von Orleans). Oder aber es ist, auf der Ebene kollektiver Identität, eine den Familienverbund verletzende öffentliche Ehrkränkung und Schmähung (Die Familie Schroffenstein). Scham tritt also sowohl in der intimen Selbstverurteilung auf als auch in Situationen öffentlicher Bloßstellung und Herabsetzung –

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Schlussbetrachtung

ein basales Kriterium der kulturanthropologischen Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen konnte in der konkreten Textanalyse demnach nicht bestätigt werden. Als ‚antike‘ Helden weisen Don Cesar und Penthesilea eine erhöhte Disposition zur Scham auf, die an eine ausgeprägte charakterliche und auch machtpolitisch bedingte Hybris gebunden ist. In beiden Stücken – Die Braut von Messina und Penthesilea – laden diese Figuren die schwere Schuld einer Tötung im Affekt auf sich, motiviert durch eine existenzielle Beschämung und narzisstische Kränkung infolge emotionaler Zurückweisung. In beiden Fällen wird versucht, Scham mittels aggressiver, später auch autoaggressiver Handlungen abzuwehren. Der Umgang mit der psychologischen Schuld, dem Schuldgefühl, ist jedoch höchst unterschiedlich. Der Fürstensohn Don Cesar ermordet, motiviert durch einen Rivalitätskonflikt, seinen Bruder und vollstreckt nachfolgend die finale Strafe an sich selbst, indem er sich tötet. Er sucht mit seinem Suizid faktizistische Schuld in voluntaristische zu transformieren, was aber, wie gezeigt wurde, misslingt. Die Königin Penthesilea bleibt, trotz ihres faktischen Schuldigwerdens, der Scham verhaftet und tötet sich aufgrund eines irreversiblen Identitätsverlusts. So erweist sich, dass Kleists historischer Rekurs auf die Zeit Homers und Schillers Rekurs auf das Mittelalter in Kombination mit dem sophokleischen Tragödienmodell zwar durchaus unterschiedliche Affektkulturen bedingen, diese aber auch von den ästhetischen und weltanschaulichen Auffassungen der Autoren geprägt sind. Auch in Die Jungfrau von Orleans und Die Familie Schroffenstein, als den beiden im Mittelalter spielenden Werken, suchen sich Schiller und Kleist an entsprechende Affektkulturen anzulehnen. Mediävale Affektkulturen unterscheiden sich von den antiken (oder antikisierten) unter anderem durch eine Thematisierung ständischer Ehre, wie sie sich etwa auf der Ebene der Schroffenstein-Fürsten und -Ritter, aber auch des französischen Dauphin und seines Hofstaats findet. Männliche Ehre und Unbeschämtheit ist in beiden Stücken an kriegerische Potenz gebunden, weibliche Ehre und Unbeschämtheit – besonders in der Jungfrau von Orleans – überdies an körperliche und ‚moralische‘ Unschuld. In der Familie Schroffenstein führen männliche Rivalität und wechselseitige Beschämungshandlungen letztlich zur Auslöschung familialer Genealogie, mit der Folge, dass die männliche Deszendenz nicht fortgesetzt werden kann. Ähnlich ist dies in der Braut von Messina zu beobachten, insofern hier beide Prinzen am Schluss tot sind und die Herrscherfamilie ohne Erben bleibt. Aber auch in Die Jungfrau von Orleans und Penthesilea, den beiden Trauerspielen, die nicht um Familien, sondern um heroische weibliche



Schlussbetrachtung

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Individuen kreisen, haben die jeweiligen Elternteile eine ähnlich negative Funktion wie in Die Familie Schroffenstein inne, weil sie die Zukunft der Kinder sichtlich gefährden. Thibaut d’Arc, der Vater Johannas, löst in der Tribunal-Szene vor der Kathedrale letztlich ihre Verbannung und damit ihren Untergang aus, weil er derjenige ist, der sie vor dem gesamten Hofstaat zur Rede stellt und sie durch die Entsagung des väterlichen Beistands gravierend beschämt. Und auch Otrere, die verstorbene Mutter Penthesileas, initiiert mit ihrer dem Amazonengesetz widerstreitenden Prophezeiung der ‚Bekränzung‘ Achilles’ den unlösbaren Schamkonflikt, in den ihre Tochter nachfolgend gerät. Die familialen Konstellationen, so unterschiedlich im Einzelnen sie auch sind, sind in jedem Fall schamauslösend. Indem sich die Figuren von diesen Prägungen zu emanzipieren suchen, werden sie nicht nur ‚unschuldig schuldig‘, sondern geraten auch in gravierende Schamkonflikte. Gender und Genealogie sind also, gerade in ihrem Zusammenhang, für die behandelten Affektkulturen von entscheidender Bedeutung. Tragische Scham? In allen vier Stücken wird versucht, Scham durch Akte des Schuldigwerdens abzuwehren – mit je unterschiedlichen Mitteln und wechselndem Erfolg, wie im Einzelnen dargelegt wurde. Im Handlungsverlauf der Dramen ereignen sich jeweils komplexe Selbst- und Fremdschädigungen – als Verletzung der eigenen Integrität einerseits sowie verbindlicher Normen andererseits. Diese treten in ganz unterschiedlichen Situationen und Konstellationen ein oder werden von den Protagonisten zumindest als solche wahrgenommen. Dabei wurde die in Kulturtheorien nahegelegte Interrelationalität von Scham und Schuld zwar vielfach evident, jedoch werden in der dramatischen Handlung eher selten fortgesetzte Scham-SchuldZyklen gestaltet, als vielmehr singuläre und einmalige Affektübergänge – von Scham in Schuld, nicht anders herum. Die von Bastian und Hilgers formulierte These einer aktiven Aufsichnahme von Schuld mit dem (unbewussten) Ziel der Schamabwehr konnte auf je eigentümliche Art und Weise in allen untersuchten Werken bestätigt werden. Die Schuld wurde entweder durch aggressive Handlungen, insbesondere Tötungen, als Faktum evident oder sie wurde durch Selbst-Attribution und Verbalisierung performativ hergestellt, um so Scham zwar nicht abzuwehren, aber vor den anderen (und sich selbst) zu camouflieren. Diese Mechanismen voluntaristischen Schuldigwerdens lassen generelle Rückschlüsse auf die Tragödie als Gattung um 1800 zu. Ein ‚tragi-

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scher Held‘ zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er sich in und mit seinen Schuldgefühlen von der Gemeinschaft separiert, und also seine Exzeptionalität und Auserwähltheit auch als Individuierung verstanden werden muss,1 die in der willentlichen Aufsichnahme personaler Verantwortung besteht. Die „eisige Einsamkeit des Selbst“2 aber, in die er sich begibt und die seinen Ruhm begründen wird, ist ein sekundärer Zustand, der zunächst den der Scham zur Voraussetzung hat, und den er zu überwinden sucht. Seit Aristoteles gilt die Tragödie bekanntlich als Gattung, die insbesondere der ‚Nachahmung von Handlung‘ dient. Auch aus diesem Grund wurde von Anbeginn an der Schuldaffekt privilegiert: Im Unterschied zum eher momenthaften und präsentischen Schamaffekt ist er leichter in Handlungsschemata einzubinden und überdies folgt er selbst einer narrativen Struktur. Denn Schuld geht ‚Unschuld‘ voraus und die persönliche Auseinandersetzung mit ihr erfolgt in der Regel retrospektiv – der Zeitigungsmodus von Schuld ist also temporal und in verschiedene Sequenzen zerlegbar. Mit Bezug auf Seidlers Theorie der Selbstreflexivität wurde Scham als Zustand verstanden, in dem das Individuum das „Bruchverhältnis“ zwischen unreflektiertem und reflektiertem Ich spürt und dadurch – positiv – eine „Fähigkeit zur Selbstobjektivierung“ gewinnt.3 Die Selbstobjektivierung ist die Wahrnehmung des Blicks des Anderen (beziehungsweise dessen Internalisierung), der in der Scham jedoch fast ausschließlich als negatives Urteil erfahren wird. Schuld demgegenüber wird kulturtheoretisch und in der Tragödie als eine originäre Auseinandersetzung des Individuums mit sich selbst verstanden, als Dialog mit dem eigenen Gewissen. Entsprechend gilt das schamkulturelle Selbstkonzept als gruppenorientiert und interdependent, das schuldkulturelle Selbstkonzept hingegen als individualisierend und independent. Der Held, der sich durch die Annahme von Schuld separiert, isoliert und emanzipiert sich zugleich. Tragische Schuld ist daher mit Verantwortlichkeit und Zurechenbarkeit gleichzusetzen;4 beides sind Kategorien jenseits der Scham(kultur). Es zeigte sich, dass die dargestellten Versuche der Schamabwehr durch Aufsichnahme von Schuld in keinem der Stücke vollständig gelingen. So 1 Vgl. Anett Kollmann. Gepanzerte Empfindsamkeit. Helden in Frauengestalt um 1800. Heidelberg 2004, S. 17–34. 2 Franz Rosenzweig. Der Stern der Erlösung. Frankfurt a. M. 1988, S. 84. 3 Günter H. Seidler. Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham. 2. Aufl. Stuttgart 2001, S. 55 u. 172. 4 Vgl. Manfred Fuhrmann. Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ‚Longin‘. Eine Einführung. 2. Aufl. Darmstadt 1992, S. 44.



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bleibt in Die Jungfrau von Orleans die Scham als nichtdiskursives Anderes der ausagierten und von der Protagonistin willentlich angenommenen Schuld zurück, was insbesondere im allegorischen Schlusstableau des verhüllten jungfräulichen Körpers verbildlicht wird, der nur als toter unbeschämbar ist. Die Scham selbst weist in diesem Stück eine gewisse Zyklizität auf: Sie entsteht zunächst interaktionell, in der Begegnung der Heldin mit Lionel, dann ist sie ein privater, mit sich selbst ausgetragener Affekt und wird schließlich in der öffentlichen Erniedrigung als vernichtende Atmosphäre zentripetaler Blicke erlebt. In Die Familie Schroffenstein hingegen wird ein veritabler Scham-Schuld-Zyklus gezeigt, dem letztlich beide Vaterfiguren, insbesondere aber Rupert von Schroffenstein, unterworfen sind: Zunächst fungieren die archaischen Rachehandlungen als Abwehr einer als beschämend wahrgenommenen Schädigung des eigenen Clans durch die angebliche Tötung eines Kindes. Die daraus eher unfreiwillig einhergehende Schuld der tatsächlichen (wenngleich ungewollten) Tötung des je eigenen Kindes führt aber als Konsequenz zu einer viel gravierenderen, da personalen, die eigene Integrität vollständig in Frage stellenden Form der Scham. Daher ist dieses Stück auch keine Parodie der Tragödie, sondern Kleists erster Versuch einer Tragödie der neuen Art. Schillers Trauerspiel Die Braut von Messina thematisiert auf der literalen Ebene keine Scham. Es konnte aber herausgearbeitet werden, dass die beständige Diskusivierung von Schuld, in der Versatzstücke aus der antiken Tragödie aufgegriffen und mit dem zeitgenössischen Schicksalsdrama amalgamiert werden, eine spezifische Form der Schamabwehr darstellt (die hier nicht nur der männliche Held, sondern auch der Autor vollzieht). Dies zeigt sich unter anderem daran, dass antike und moderne Schuldkonzeptionen letztlich nicht vereinbar sind und sich in ihrer Bedeutung gegenseitig in Frage stellen. Kleists Penthesilea ist durch das unerbittliche Beharren auf der Scham als Grundaffekt der Protagonistin wohl von den behandelten Werken am radikalsten: Die Heldin stirbt hier wortwörtlich an diesem ,vernichtenden Gefühl‘, das zugleich ihre extreme Subjektivität und Innerlichkeit anzeigt. Weder die Verbannung aus der Amazonengemeinschaft noch die Wiedereingliederung in dieselbe kann die letztlich nur mit sich selbst ausgetragene Tragödie der Scham unterbinden. Als Ergebnis ist also festzuhalten, dass die bisherige Fixierung der Tragödientheorie und der Literaturwissenschaft auf den Affekt der Schuld zu revidieren ist. Gerade die Dramen um 1800 zeigen, inwieweit die in dieser Zeit auch im theoretischen Feld interessant werdende Scham nicht nur für den weiblichen Tugenddiskurs (Schamhaftigkeit und sexuelle Unschuld) von Bedeutung ist, sondern auch als basaler Affekt mit der Subjektivität

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des Helden eng verknüpft ist und sein Handeln in nicht unbeträchtlicher Weise mit motiviert. Wenn in der Philosophie des Tragischen um 1800 die archaisch-faktizistische Schuldauffassung eine neue Aufwertung erfährt, so ist dies letztlich auch nur eine verdeckte Auseinandersetzung mit der Kategorie der Scham, die gleichermaßen das Subjekt in seiner Integrität, Autonomie und Handlungsmacht in Frage stellt. Eben diese tragende Bedeutung der Scham bereits für die antike Literatur und die attische Tragödie haben jüngere altphilologische Forschungen herausgearbeitet; diese Erkenntnisse wurden aber, soweit ich sehe, bislang noch nicht auf die Tragödiendiskussion im Idealismus übertragen. Scham, so eine eingangs formulierte Differenzierung, ist im Gegensatz zur Schuld schwerer erträglich, weil sie das Selbst als Ganzes betrifft und überdies nicht in Handlungskontexte einbindbar ist, was nicht nur für die beschämte Person selbst, sondern ebenso für deren Umwelt gilt. Auch dieser prekäre Status der Scham hat dazu beigetragen, sie aus dem Tragödiendiskurs bislang auszuschließen. Aber die in den Kulturwissenschaften insgesamt seit einiger Zeit zu beobachtende Tendenz, sich diesem Affekt auf der Grenze zwischen Natur und Kultur, Archaik und Sublimierung in detaillierten Studien und theoretischen Überlegungen nunmehr anzunähern – „[t]oday, shame (and shamelessness) has displaced guilt as a dominant emotional reference in the West as well“5 –, kann auch als Ausgangspunkt einer Neubetrachtung der Tragödie dienen. Dabei sind nicht nur individualpsychologische und soziale, sondern auch phänomenologische Aspekte zu berücksichtigen. Denn der ansteckende Charakter einer Atmosphäre der Scham hat vielleicht sogar wirkungsästhetische Konsequenzen – die über die im 18. Jahrhundert insbesondere von Lessing propagierte moralisch-didaktische Funktion des Mitleids deutlich hinausgehen:6 Weil auch die Zuschauer diesen Affekt gezwungenermaßen miterleben, wird der Versuch der Herauslösung durch Schuld eines Protagonisten nicht nur von den anderen Bühnenfiguren, sondern auch vom Publikum als entlastend erfahren und daher als dramaturgische Lösung nur zu gern angenommen. Die Grenzenlosigkeit des Schamgefühls mit der schmerzhaften Beteiligung aller Anwesenden ist der Grund für ein ebenso gemeinsames Interesse aller an 5 Ruth Leys. From Guilt to Shame. Auschwitz and After. Princeton 2007, S. 4. 6 „Lessing zieht [...] die Katharis in die Wirkungskategorie des Mitleids ein; eine echte Reinigung der tragischen Affekte muß nicht mehr stattfinden, weil diese Affekte selbst bereits jene moralische Funktion erfüllen, die nach herkömmlichem Verständnis erst durch die Katharsis freigesetzt werden sollte.“; Peter-André Alt. Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung. Tübingen u. Basel 1994, S. 180.



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der Beendigung der Schamszene, also der Verwandlung von Scham in Schuld. Die Wendung ins Aktive entlastet alle, sie verwandelt die diffus ansteckende Scham in konkrete, individuell zurechenbare, persönliche Schuld. [...] Wenn Kain als Mörder schuldig wird, nimmt er zugleich von uns allen eine Bürde. Die Auflösung der Spannung wird an ihn delegiert.7

Was Bastian und Hilgers hier mit Blick auf Situationen in physischer Kopräsenz beschreiben, trifft für eine theatral dargestellte soziale Welt gleichermaßen zu. Auf der Rezeptionsebene kann eine vergleichbare „Mit-Scham“8 entstehen, wenn sich die Scham der Bühnenfigur beim Zuschauer atmosphärisch und nicht bloß intellektuell überträgt, was von vielen Faktoren und dem je spezifischen Theaterkonzept abhängt, für die Zeit um 1800 aber definitiv der Fall ist. Diese Studie hat sich bewusst auf die dramatische Untergattung der Tragödie beschränkt, weil der Ausgangspunkt die tragische Schuld und ihre Verwicklung mit dem Konzept personaler Scham war. Die Affektdynamik von Scham und Schuld ist aber auch für die Komödie von Interesse.9 Denn in Komödien wird, im Unterschied zur Tragödie, nicht Scham, sondern Schamlosigkeit zum Thema. Komödienfiguren sind oft schamlos: gierig, obszön, selbstverliebt-narzisstisch – und eben ‚unverschämt‘.10 Das Lachen über diese von Fehlern und Makeln behafteten, oft skurillen, unangepassten und egozentrischen Figuren hat etwas Befreiendes, ebenso wie die Scham der schamhaften Tragödienfiguren etwas Beklemmendes und Ansteckendes hat.11 Psychoanalytischen Theorien zufolge ist Schamlosigkeit, verstanden als Grenzverletzung, in der Regel an Scham gekoppelt und wird insofern als ähnliche Gegenreaktion wie die aktive Aufsichnahme von 7 Till Bastian u. Micha Hilgers. „Kain. Die Trennung von Scham und Schuld am Beispiel der Genesis“. Psyche 44 (1990): 1100–1112, S. 1111. 8 Vgl. Hilge Landweer. Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls. Tübingen 1999, S. 124. 9 Vgl. exemplarisch Claudia Benthien. „Scham und Schulden. Die Ökonomie der Gefühle in Lessings ‚Minna von Barnhelm‘“. Schuld und Scham. Jahrbuch Literatur und Politik 3. Hg. v. Alexandra Pontzen u. Heinz-Peter Preußer. Heidelberg 2008. 107–121. 10 Vgl. exemplarisch Ingrid Hotz-Davis. „Falstaff and the Provocation of Shamelessness“. Vortragsmanuskript 2006; dies. „The Uses of Shamelessness in Renaissance Drama“. Vortragsmanuskript 2006. 11 Schamlosigkeit (respektive Unverschämtheit) wird in den meisten Schamtheorien aber nicht behandelt. Sie ist, soweit ich sehe – vielleicht mit Ausnahme der Kultur des europäischen Mittelalters – untertheoretisiert. Vgl. diesbezüglich: Katja Gvozdeva u. Hans Rudolf Velten (Hg.). Scham und Schamlosigkeit. Grenzverletzungen in Literatur und Kultur der Vormoderne. Berlin u. New York 2011 [im Druck].

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Schuld verstanden; beide Reaktionen gelten aufgrund der ihnen zugehörigen Aggressivität als Formen der Scham-Abwehr.12 Nach Wurmser handelt der Schamlose schamlos, „um den psychotischen oder fast psychotischen Terror des Zeigens seiner Gefühle zu verhindern, da jeder, der sie wahrnähme, Macht über ihn gewinnen würde. Gefühle zu zeigen würde vollständigen Selbstverlust bedeuten“13. Wurmser bemerkt weiterhin (mittels einer etwas irreführenden Referenz auf das Kapitel „Die Verbrecher aus Schuldbewußtsein“ aus Freuds Abhandlung Einige Charaktertypen der psychoanalytischen Arbeit14): Der Schamlose ist eine Variante des ‚Verbrechers aus Schuldgefühl‘, der ein Verbrechen begeht, um sich für eine bekannte und klar umrissene Missetat schuldig zu fühlen und sie zu sühnen, anstelle mit einer vagen, gestaltlosen inneren Schuld wegen unbewußter Wünsche belastet zu bleiben. Man könnte dies als ‚Reaktionsbildung gegen eine Reaktionsbildung‘ [...] ansehen – eine unverfrorene Verletzung eines Tabus, um Schuld abzuwehren, die ihrerseits wiederum als Abwehr gegen die Verletzung eines noch viel tieferen Tabus eingesetzt wurde. Analog dazu ist die Schamlosigkeit eine Reaktionsbildung gegen Scham, die ihrerseits eine Reaktionsbildung gegen delophile und theatophile Wünsche ist. Oberflächlich betrachtet, tritt sie einfach als Verschiebung von Scham in Erscheinung.15

Diese komplexe Dynamik – psychoanalytisch: Reaktionsbildung – zeigt sich in der Tat in vielen Tragödien, auch in den hier untersuchten Werken Die Braut von Messina und Penthesilea. Schamlosigkeit ist also mit Scham verbunden: eine relationale Kategorie. Als vollständige Abwesenheit von 12 So etwa bei Léon Wurmser. Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Übs. v. Ursula Dallmeyer. 2. erw. Aufl. Berlin u.  a. 1993, S. 396. 13 Ebd., S. 397. 14 Freud legt hier dar, inwiefern unbewusste Schuldgefühle kriminelle Taten motivieren könnten und diese Gefühle daher, so seine Pointe, nicht sekundär, sondern primär seien: „So paradox es klingen mag, ich muß behaupten, daß das Schuldbewußtsein früher da war als das Vergehen, daß es nicht aus diesem hervorging, sondern umgekehrt, das Vergehen aus dem Schuldbewußtsein.“ Sigmund Freud. „Einige Charaktertypen der psychoanalytischen Arbeit“. Gesammelte Werke 10. Hg. v. Anna Freud u. a. London 1949. 364–391, S. 390. Die Referenz ist irreführend, weil es Wurmser im Unterschied zu Freud ja nicht um Schuld, sondern um Scham geht. 15 Wurmser 1993, S. 394; ‚Reaktionsbildung gegen eine Reaktionsbildung‘ nimmt auf eine entsprechende englische Formulierung von Otto Fenichel Bezug (leider ohne Seitennachweis): Otto Fenichel. Problems of Psychoanalytic Technique. Übs. v. David Brunswick, Albany/NY 1941.



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Scham und Scheu („Schamfreiheit“16) ist sie hingegen nur als Phantasma eines verlorenen Ursprungs relevant. Schamlosigkeit im skizzierten Sinne ist hingegen oft eine Form von Schamabwehr und gleicht darin, auch wenn sie sich psychodynamisch und (körper-)sprachlich deutlich anders artikuliert, der Schuld. Kulturtheorien und Literatur Kulturtheorien und Literatur wurden, dem Anspruch dieses Buches folgend, als gleichwertige Wissensdiskurse herangezogen. Beide haben sich in ihrer Aufschlüsselung der Affektdynamik von Scham und Schuld gegenseitig erhellt, zum Teil aber auch dekonstruiert. Denn die in den Theorietexten formulierten Hypothesen zu diesen Affekten und die Ergebnisse der anhand der vier Tragödien durchgeführten Analysen waren nicht in jeder Hinsicht kongruent. Das hängt zum einen natürlich mit der historischen Diskrepanz zusammen: So ist deutlich geworden, dass Scham und Schuld um 1800 sowohl stärker auf religiöse als auch auf sexuelle Dimensionen bezogen wurden als heute. Zum anderen hängt die Inkongruenz aber auch mit den unterschiedlichen Wissensformen und Erkenntnisinteressen dieser Textsorten selbst zusammen. In allen modernen Theorieansätzen, gleich welcher Provenienz, werden Normen und Normalität als implizite Folie gesetzt. Scham- und Schuldgefühle als Emotionen des self-assessment stellen temporäre oder konstante Abweichungen dar, unter denen das Individuum beträchtlich leidet und die daher möglichst zu überwinden oder zu eliminieren sind, um wieder integriertes Mitglied einer Gemeinschaft zu werden. In der Tragödie hingegen gehören sie zum exzeptionellen Charakter des Helden hinzu, sie lassen ihn ebenfalls leiden, aber in der damit einhergehenden Isolation eben auch an Größe gewinnen. Das Medium Theater hat die Möglichkeit, Individuum und Gesellschaft wechselseitig in den Blick zu nehmen und in ihrer Relationalität anhand konkreter Interaktionen zu beleuchten. Auch Scham-Schuld-Konflikte, in die mehrere Personen eingebunden sind, können zum Thema werden. Durch variierende Personenkonstellationen und unterschiedlichste Sprechsituationen kann das Theater ferner Akte der Selbst- und Fremdbewertung sowie der kollektiv-externen oder der individuell-internen Sanktionierung besonders differenziert darstellen, ebenso wie das ihnen zugrundeliegende soziale, familiäre und kulturelle Umfeld. Als audiovisuelle Gattung ermög16 Anja Lietzmann. Theorie der Scham. Eine anthropologische Perspektive auf ein menschliches Charakteristikum. Hamburg 2007, S. 66.

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licht das Drama die szenische Gestaltung der verschiedenen Dimensionen und Intensitäten dieser Gefühle in Zeit und Raum (zum Beispiel die Verstärkung durch akustische Effekte: Donner als Gewissensymbol; oder durch visuelle Effekte: Entblößung einer beschämten Figur durch grelles Licht und räumliche Isolation auf der Bühne). Das Theater kann die Genese der Affekte sowie ihre (‚tragische‘) Überwindung, im Sinne einer Versuchsanordnung, exemplarisch zeigen. Die um 1800 verfassten Trauerspiele von Schiller und Kleist stellen einen herausragenden Gegenstandsbereich dar, um die Affektdynamik von Scham und Schuld, die sich in unterschiedlichen kulturellen Settings und personellen Konstellationen manifestiert, exemplarisch zu untersuchen. Grundiert sind diese Stücke, egal ob sie in der Antike oder im Mittelalter spielen, aber durch eine moderne, sich in dieser Zeit erst herausbildende Auffassung von Subjektivität, die eng mit den genannten Affekten zusammenhängt, insbesondere aber mit Scham als dem selbstreflexiven Affekt par excellence.

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Dirk Oschmann

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Obzwar die Werke Friedrich Schillers weithin zu den bekanntesten der deutschen Literatur gezählt werden, ist die Lektüre seiner Texte heute oftmals bloße Pflichtübung, erscheinen seine Sprache und sein Denken fern, fremd und unzugänglich. Diese Fremdheit, ja Künstlichkeit, die aus dem spezifischen Umgang Schillers mit Sprache erwächst, macht Dirk Oschmann zum Ausgangspunkt seines Dichterprofils. Nach Gattungen geordnet, werden die verschiedenen poetischen und theoretischen Felder erkundet, auf denen Schiller gearbeitet hat. Er wird so als Lyriker, Dramatiker und Epiker vorgestellt, aber auch als Mediziner, Historiker und Theoretiker von Rang. Das Buch bietet eine gleichermaßen kompakte wie umfassende Einführung in Schillers gesamtes Werk, legt jedoch einen Schwerpunkt auf seine poetischen Texte. Es ermöglicht Studierenden und literarisch Interessierten einen schnellen, am aktuellen Forschungsstand orientierten Überblick. Darüber hinaus lässt es erkennen, welche Relevanz die Werke Schillers in der Gegenwart noch beanspruchen können. 2009. 126 S. Br. 120 x 185 mm. € 9,90 [D] / € 10,20 [A] ISBN 978-3-8252-3029-6

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reiSeberichte deutSchSprachiger autorinnen im

Verena Ronge

iSt eS ein mann? iSt eS eine frau? die (de)KonStruKtion von geSchLechterbiLdern im werK

Ulrike Stamm

der orient der frauen

frühen 19. Jahrhundert

2010. 368 S. 1 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-20548-5

thomaS bernhardS

SE939

2009. 291 S. Br. ISBN 978-3-412-20325-2

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

Literatur – KuLtur – GeschLecht Studien zur Literaturund KuLturgeSchichte KLeine reihe

Band 23: Inge Stephan, Alexandra Tacke (Hg.) nachbiLder deS hoLocauSt 2007. 303 S. 46 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-22506-3

Band 24: Inge Stephan, Alexandra Tacke (Hg.)

Eine Auswahl.

nachbiLder der raF

Band 17:

Kerstin Gernig (Hg.)

nacKtheit ÄSthetiSche inSzenierungen im KuLturvergLeich

2002. 357 S. 24 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-17401-9

Band 19:

Waltraud Naumann-Beyer

anatomie der Sinne im SpiegeL von phiLoSophie, ÄSthetiK, Literatur 2003. XII, 378 S. Br. ISBN 978-3-412-09903-9

Band 20:

Inge Stephan

inSzenierte WeibLichKeit codierung der geSchLechter in der Literatur deS 18. JahrhundertS

2004. 279 S. 12 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-15204-8

Band 21: Claudia Benthien, Inge Stephan (Hg.) meiSterWerKe deutSchSprachige autorinnen im 20. Jahrhundert

2005. 414 S. 20 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-21305-3

Band 22:

Jost Hermand

FreundSchaFt zur geSchichte einer SoziaLen bindung

SF943

2006. VI, 218 S. 17 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-29705-3

2008. 328 S. 65 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-20077-0

Band 25: Inge Stephan, Alexandra Tacke (Hg.) nachbiLder der Wende 2008. 351 S. 59 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-20083-1

Band 26: Alexandra Tacke, Björn Weyand (Hg.) depreSSive dandyS SpieLFormen der deKadenz in der pop-moderne

2009. 247 S. 38 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-20279-8

Band 27: Claudia Benthien, Manuela Gerlof (Hg.) paradieS topograFien der SehnSucht

2010. 274 S. Mit 25 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-20290-3

Band 28: Kirsten Möller, Inge Stephan, Alexandra Tacke (Hg.) carmen ein mythoS in Literatur, FiLm und KunSt

2010. 227 S. Mit 55 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-20579-9

Band 29: Julia Freytag, Alexandra Tacke (Hg.) city girLS bubiKöpFe & bLauStrümpFe in den 1920er Jahren

2011. ca. 250 S. Mit ca. 70 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-20603-1

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar