Die Mathematik im Denken und Dichten von Novalis: Zum Verhältnis von Literatur und Wissen um 1800 9783050065311, 9783050063874

Mathematics plays an important part in Novalis’s work that has been underappreciated until now. This study reconstructs

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Die Mathematik im Denken und Dichten von Novalis: Zum Verhältnis von Literatur und Wissen um 1800
 9783050065311, 9783050063874

Table of contents :
I. Einleitung: Novalis und die Mathematik
I.1 Stand der Forschung und Fragestellung der Arbeit
I.2 Zur Gliederung der Arbeit
I.3 Methodische Überlegungen am Beispiel der chaostheoretischen Novalis-Forschung
I.3.1 Zur wissenschaftlichen Originalität von Novalis
I.3.2 Der Begriff des Chaos
I.3.3 Selbstähnlichkeit als Analogie von Mikro- und Makrokosmos und chemische Mischung
I.3.4 Der „Schmetterlingseffekt“ als Disproportion von Ursache und Wirkung
I.3.5 Methodische Folgerungen
II. Kontexte
II.1 Biografischer Kontext: Hardenbergs mathematische Ausbildung
II.1.1 Leipziger Studienzeit (1791–1793)
II.1.2 Selbstständige Zwischenstudien (1794–1796)
II.1.3 Freiberger Studienzeit (1797–1799)
II.2 Mathematikhistorischer Kontext: Die Infinitesimalrechnung
II.2.1 Die euklidische Mathematik
II.2.2 Vom geometrischen Infinitesimal zum epsilontischen Grenzwert
II.2.3 Die Ablösung der Geometrie als Leitdisziplin
II.3 Mathematikphilosophischer Kontext: Die Mathematik bei Leibniz und Kant
II.3.1 Die Mathematik in der Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’
II.3.2 Die Mathematik in der Philosophie Immanuel Kants
III. Mathematik und Enzyklopädistik im Allgemeinen Brouillon
III.1 Zur Systematik des Allgemeinen Brouillon
III.1.1 Der Stand der Forschung
III.1.2 Novalis’ „Anlage zur Ordnung“
III.2 Die Mathematik im Allgemeinen Brouillon
III.2.1 Die Mathematik als Wissenschaft und Kunst
III.2.2 Die epistemische Bedeutung der Mathematik
III.2.3 Die subjektphilosophische Begründung der Wechselrepräsentation
III.2.4 Die Wechselrepräsentation als enzyklopädistische Methode
III.3 Die Infinitesimalrechnung im Allgemeinen Brouillon
III.3.1 Mathematische Methode und Infinitesimalkalkül
III.3.2 Differentiation und Integration „nicht ganz in der gewöhnlichen Bedeutung“
III.4 Die Kombinatorische Analysis im Allgemeinen Brouillon
III.4.1 „Zeichenflächenform(figuren)bedeutungskunst“
III.4.2 Der Logarithmus und die systematische Einheit des Wissens
IV. Mathematik und Dichtung im Heinrich von Ofterdingen
IV.1 Einbildungskraft, Dichtung und Mathematik
IV.2 Die Kombinatorische Analysis als Modell einer poetischen Weltordnung
IV.2.1 Zum Antagonismus von Mathematik und Dichtung
IV.2.2 Die poetologische Bedeutung des Zufalls
IV.2.3 Die Kombinatorische Analysis im Klingsohr-Märchen
IV.3 Die Astronomie als Anschauung des Transzendenten
IV.3.1 Astronomie und Astrologie bei Novalis
IV.3.2 Vom heliozentrischen Weltsystem zur Vielfalt der Welten
IV.3.3 Das Klingsohr-Märchen als theatrum astronomicum
IV.3.4 Das Fernrohr als poetologische Metapher
V. Fazit
VI. Literaturverzeichnis
VI.1 Siglen
VI.2 Quellen
VI.2.1 Zitierte Schriften von Novalis
VI.2.2 Zitierte Schriften von Immanuel Kant
VI.2.3 Weitere Quellen
VI.3 Darstellungen

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Die Mathematik im Denken und Dichten von Novalis

Deutsche Literatur. Studien und Quellen Band 15 Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Franziska Bomski

Die Mathematik im Denken und Dichten von Novalis Zum Verhältnis von Literatur und Wissen um 1800

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

ISBN 978-3-05-006387-4 eISBN 978-3-05-006531-1 ISSN 2198-932X Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Unternehmen von De Gruyter Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung

Diese Arbeit wurde im Sommersemester 2011 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation im Fach Neuere Deutsche Literaturgeschichte angenommen. Für die Publikation habe ich sie leicht überarbeitet. Eine Qualifikationsschrift ist diese Studie für mich nicht nur in fachlich-theoretischer, sondern auch in wissenschaftspraktischer Hinsicht. Denn ihre Entstehung verdankt sich maßgeblich dem Austausch mit Personen, die mir gezeigt haben, dass Wissenschaft kein einsames Unterfangen ist, sondern ein vielstimmiges und fortdauerndes Gespräch. An erster Stelle danke ich Professor Dr. Rolf G. Renner und Professor Dr. Andrea Albrecht für ihre unermüdliche fachliche wie menschliche Unterstützung, ihren wertvollen Rat und ihre konstruktive Kritik. Mit ihrer Betreuung haben sie mich immer wieder zum Weiterfragen und Neudenken ermutigt. Möglichkeiten zum Gedankenaustausch in größerer Runde bot mir das Gießenener Graduiertenkolleg Klassizismus und Romantik im europäischen Kontext. Für anregende und horizonterweiternde Kolloquien danke ich den Mitgliedern, allen voran Professor em. Dr. Günter Oesterle und Professor Dr. Maximilian Bergengruen. Von unschätzbarem Wert war für mich die am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) angesiedelte Literature and Science Reading Group unter Leitung von Professor Dr. Andrea Albrecht, Dr. Olav Krämer und Dr. Stefan Höppner, die meinem Forschungsinteresse in Freiburg einen Ort gab. Ihr verdanke ich zentrale Einsichten in das Forschungsfeld und eine wohlwollende Atmosphäre, die es mir leicht gemacht hat, meine Thesen zur kritischen Überprüfung freizugeben. Ein besonderer Dank gilt dabei dem FRIAS-Fellow Professor Dr. Lutz Danneberg für seine ungemein bereichernde fachliche Beratung. Ein ebenso besonderer Dank gilt Alexandra Skowronski und Tilman Venzl, die als Mitglieder der Emmy Noether-Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Andrea Albrecht meine offenste, wichtigste und intensivste peer group waren – und sind. Hervorheben möchte ich die unerlässliche Unterstützung durch Experten in Wissensgebieten, die meine Fragestellung berührten, meine literaturwissenschaftliche Kernkompetenz jedoch überschritten. In diesem Sinne danke ich Professor em. Dr. Christian Thiel für seinen Rat in mathematikphilosophischen und -historischen Fragen, Professor em. Dr. Jürgen Stolzenberg für die kritische Lektüre der philosophiegeschichtlichen

VI

Danksagung

Passagen, Dr. Stefan Suhr und Dr. Christian Blohmann für ihre mathematischen Erläuterungen und Peter Suhr für seine geologischen Hinweise. Ganz besonders danke ich schließlich meinen Eltern Inge und Konrad Bomski und meinem Mann Stefan Suhr. Sie haben mich in allen Phasen dieser Arbeit bedingungslos unterstützt und an mich geglaubt. Die Drucklegung wurde durch die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften großzügig unterstützt. Die redaktionelle Einrichtung des Manuskripts hat Wilhelm Schernus übernommen und mir damit sehr geholfen. Weimar, Februar 2014

Inhalt

I.

II.

Einleitung: Novalis und die Mathematik ........................................................ I.1 Stand der Forschung und Fragestellung der Arbeit ........................... I.2 Zur Gliederung der Arbeit ................................................................. I.3 Methodische Überlegungen am Beispiel der chaostheoretischen Novalis-Forschung ............................................................................ I.3.1 Zur wissenschaftlichen Originalität von Novalis ................. I.3.2 Der Begriff des Chaos .......................................................... I.3.3 Selbstähnlichkeit als Analogie von Mikro- und Makrokosmos und chemische Mischung ............................. I.3.4 Der „Schmetterlingseffekt“ als Disproportion von Ursache und Wirkung .......................................................... I.3.5 Methodische Folgerungen ...................................................

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Kontexte ......................................................................................................... 31 II.1 Biografischer Kontext: Hardenbergs mathematische Ausbildung ... 31 II.1.1 Leipziger Studienzeit (1791–1793) ..................................... 32 II.1.2 Selbstständige Zwischenstudien (1794–1796) ..................... 35 II.1.3 Freiberger Studienzeit (1797–1799) ..................................... 37 II.2 Mathematikhistorischer Kontext: Die Infinitesimalrechnung ........... 40 II.2.1 Die euklidische Mathematik ................................................ 40 II.2.2 Vom geometrischen Infinitesimal zum epsilontischen Grenzwert ............................................................................ 42 II.2.3 Die Ablösung der Geometrie als Leitdisziplin ..................... 46 II.3 Mathematikphilosophischer Kontext: Die Mathematik bei Leibniz und Kant ................................ 49 II.3.1 Die Mathematik in der Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ ................................................. 50 II.3.2 Die Mathematik in der Philosophie Immanuel Kants ................................................................... 54

VIII

Inhalt

III.

Mathematik und Enzyklopädistik im Allgemeinen Brouillon ......................... 61 III.1 Zur Systematik des Allgemeinen Brouillon ....................................... 61 III.1.1 Der Stand der Forschung ..................................................... 63 III.1.2 Novalis’ „Anlage zur Ordnung“ .......................................... 74 III.2 Die Mathematik im Allgemeinen Brouillon ...................................... 81 III.2.1 Die Mathematik als Wissenschaft und Kunst ...................... 82 III.2.2 Die epistemische Bedeutung der Mathematik ..................... 86 III.2.3 Die subjektphilosophische Begründung der Wechselrepräsentation ......................................................... 89 III.2.4 Die Wechselrepräsentation als enzyklopädistische Methode ............................................................................... 97 III.3 Die Infinitesimalrechnung im Allgemeinen Brouillon ..................... 101 III.3.1 Mathematische Methode und Infinitesimalkalkül .............. 101 III.3.2 Differentiation und Integration „nicht ganz in der gewöhnlichen Bedeutung“ .................................................. 115 III.4 Die Kombinatorische Analysis im Allgemeinen Brouillon .............. 122 III.4.1 „Zeichenflächenform(figuren)bedeutungskunst“ ............... 122 III.4.2 Der Logarithmus und die systematische Einheit des Wissens ............................................................ 141

IV.

Mathematik und Dichtung im Heinrich von Ofterdingen .............................. 147 IV.1 Einbildungskraft, Dichtung und Mathematik ................................... 147 IV.2 Die Kombinatorische Analysis als Modell einer poetischen Weltordnung ................................................................... 156 IV.2.1 Zum Antagonismus von Mathematik und Dichtung ........... 156 IV.2.2 Die poetologische Bedeutung des Zufalls .......................... 161 IV.2.3 Die Kombinatorische Analysis im Klingsohr-Märchen ...... 169 IV.3 Die Astronomie als Anschauung des Transzendenten ..................... 176 IV.3.1 Astronomie und Astrologie bei Novalis ............................. 176 IV.3.2 Vom heliozentrischen Weltsystem zur Vielfalt der Welten .............................................................. 181 IV.3.3 Das Klingsohr-Märchen als theatrum astronomicum ......... 190 IV.3.4 Das Fernrohr als poetologische Metapher .......................... 202

V.

Fazit ............................................................................................................... 209

VI.

Literaturverzeichnis ....................................................................................... 215 VI.1 Siglen ................................................................................................ 215 VI.2 Quellen ............................................................................................. 216 VI.2.1 Zitierte Schriften von Novalis ............................................. 216 VI.2.2 Zitierte Schriften von Immanuel Kant ................................ 217 VI.2.3 Weitere Quellen .................................................................. 217 VI.3 Darstellungen ................................................................................... 220

I.

Einleitung: Novalis und die Mathematik

I.1

Stand der Forschung und Fragestellung der Arbeit

Novalis und die Mathematik – das schien bis zum Beginn des 20.Jahrhunderts ein Widerspruch in sich zu sein, passte die abstrakteste der Wissenschaften doch so gar nicht zum Inbegriff des romantischen Dichters als gefühlsbetontem, antirationalistischem Träumer, den man in Novalis verkörpert sah.1 So attestierte etwa Rudolf Haym dem „Propheten der Romantik“ eine „lyrisch-musikalische Natur“2 und charakterisierte ihn als den „mystischsten aller Poeten“: „Die Verfahrungsweise der Novalis’schen Phantasie bleibt sich eben überall gleich […]. Es ist keine schaffende und gestaltende, es ist eine schwärmende und grübelnde Phantasie. Liebe und Begeisterung blenden ihr die Augen und binden ihr die Hände.“3 Maßgeblich vorangetrieben wurde die Stilisierung des Dichters zum „Mystiker und Schwärmer“4 im 19. Jahrhundert durch die erste, von Friedrich Schlegel und Wilhelm Tieck posthum besorgte Ausgabe seiner Schriften,5 die sich unter anderem auszeichnete durch die „Nicht-Veröffentlichung rational-klingender, auf Verstand, Vernunft, Besonnenheit und Nüchternheit sich beziehender Äußerungen.“6 1

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Geprägt wurde dieses Bild vor allem durch die Hymnen an die Nacht, mit denen „die Forschung jahrzehntelang […] den ‚ganzen‘ Novalis zu haben glaubte“, Uerlings (1991): Friedrich von Hardenberg, S. 278. Haym (1870): Die romantische Schule, S. 324. Ebd., S. 341. Uerlings (1991): Friedrich von Hardenberg, S. 18. Novalis (1802–1846): Schriften. Uerlings (1991): Friedrich von Hardenberg, S. 18. Vgl. zur Edition der Ausgabe und ihrer nachhaltigen Prägung eines verzerrten Novalis-Bilds auch O’Brien (1992): „Mythos“. Teil dieses Mythos ist auch das Pseudonym ‚Novalis‘, das der gebürtige Friedrich von Hardenberg erstmals für die Publikation seiner Sammlung Blüthenstaub im Athenäum verwendet und unter dem auch seine posthum veröffentlichten Werkausgaben erscheinen. War der Künstlername lange bekannter als der

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Einleitung: Novalis und die Mathematik

Doch dieses Bild ist nicht unwidersprochen geblieben. Bereits 1873 bemühte sich die Nichte des Dichters, Sophie von Hardenberg, mit ihrer Nachlese aus den Quellen des Familienarchivs7 den „Nachweis“ anzutreten, „daß Novalis keineswegs der halb somnambule Phantast war“,8 als der er in der „Lebensbeschreibung des Onkels Karl“,9 also seines Bruders, erscheine.10 Die „Chance“ einer solchen „,anderen‘ Novalis-Rezeption“ hätte es, folgt man Herbert Uerlings,11 durchaus gegeben, lieferte doch Wilhelm Tiecks und Eduard von Bülows Ergänzungsband viele der in den ersten beiden Bänden aussortierten Äußerungen nach und porträtierte mit der dort abgedruckten, von August Coelestin Just verfassten Biographie Novalis als einen Menschen, der für „[d]rei Dinge […] entschiedene Vorliebe hatte: Consequenz im Denken und Handeln, ästhetische Schönheit und Wissenschaft.“12 Eine solide Basis für diese Charakterisierung lieferte jedoch erst rund hundert Jahre später die historisch-kritische Edition der Werke Friedrich von Hardenbergs, die im Gegensatz zu den vorherigen Ausgaben auch die naturwissenschaftlichen und mathematischen Notizen des Dichters in chronologischer Reihenfolge einschließt.13 Auf dieser Textgrundlage hat sich schließlich in der Forschung die Erkenntnis durchgesetzt, dass Novalis mit dem zeitgenössischen „Stand […] der Mathematik […] relativ gut

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Geburtsname des Dichters bzw. wurde mit diesem synonym verwendet, so haben O’Brien (1995): Novalis, S. 2–4, Stockinger (1999): „Die Stimme Friedrich von Hardenbergs“, und Uerlings (2001): „Nachwort“, S. 518–522, darauf hingewiesen, dass es gute Gründe gibt, zwischen dem Autor Friedrich von Hardenberg und der Autorimago ‚Novalis‘ zu unterscheiden. Letztere analysiert detailliert Löwe (2012): Idealstaat und Anthropologie, S. 304–307, und stellt heraus: „Die ‚Maske‘ romantischer Autor-Individualität lässt sich auch als Organisationsprinzip […] von Hardenbergs Fragmentsammlungen verstehen, aber nicht, weil sie deren Sinnkohärenz auf den Begriff bringt, sondern weil ‚Novalis‘ diejenige Instanz ist, die trotz der Widersprüche alle Aussagen der Fragmentsammlung verantwortet“ (S. 307). Da die vorliegende Arbeit, abgesehen vom biografischen Unterkapitel II.1, erstens in diesem Sinne das Textsubjekt als organisierende Instanz fokussiert, zweitens aber auch darauf zielt, der mit dem Pseudonym verbundenen Verklärung entgegenzuwirken, verwende ich im Folgenden ‚Novalis‘ und ‚Friedrich von Hardenberg‘ synonym. [Hardenberg, Sophie] (1873): Nachlese. Sophie von Hardenberg: Manuskript zur Nachlese, zitiert nach Rommel (2001): „Vom Familienarchiv zur historisch-kritischen Ausgabe“, S. 24. Sophie von Hardenberg: Manuskript zur Nachlese, zitiert nach Rommel (2001): „Vom Familienarchiv zur historisch-kritischen Ausgabe“, S. 24. Hardenberg, Karl (o. J.): [Lebensbeschreibung]. Uerlings (1991): Friedrich von Hardenberg, S. 21. Just (1846): „Ueber das Leben Friedrichs von Hardenberg“, S. 12. Nach O’Brien (1992): „Mythos“, S. 168, verfährt Eduard von Bülow dennoch insgesamt „noch willfähriger als Tieck und Schlegel“. Vgl. zur Editionsgeschichte insgesamt Rommel (2001): Das Werk und seine Editoren.

Stand der Forschung und Fragestellung der Arbeit

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vertraut war“ und „der neben Goethe naturwissenschaftlich kompetenteste Dichter jener Zeit genannt“ werden darf.14 Die Begründer der historisch-kritischen Ausgabe, Paul Kluckhohn und Richard Samuel, hatten bereits 1929 einen ersten Versuch eines philologisch angemessenen Umgangs mit Novalis’ Schriften, insbesondere des handschriftlichen Nachlasses, unternommen.15 Aber auch diese Ausgabe trägt noch Spuren „eines bewußten Kompositionsprinzips“ der Editoren – „so mußte Richard Samuel im Ergebnis der Revision […] kritisch rückblickend feststellen, daß darin wohl eine verfeinerte Chronologie angewendet wurde, jedoch zum Beispiel die naturwissenschaftlichen Studien völlig beiseite gelassen“ wurden.16 Dennoch ermöglichte diese Ausgabe, dass „die Zeit der Beschäftigung des Novalis mit der Mathematik ziemlich genau festgestellt werden konnte“17 und lieferte Käte Hamburger das Material für eine Studie, in der erstmals festgehalten wird, dass „die Fragmente zur Mathematik […] innerhalb der Gesamt-anschauung des Novalis […] außerordentlich aufschlußreich“ sind.18 Zu betonen ist dabei, dass der innovative Gehalt von Hamburgers Studie nicht im Nachweis liegt, dass Novalis sich mit der für ihn zeitgenössischen Mathematik beschäftigt hat. Dies war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der sich etablierenden Novalis-Forschung bekannt,19 jedoch nahm man die mathematischen Reflexionen des Dichters zumeist nicht als intellektuelle Leistung ernst, sondern integrierte die „größte Wertschätzung“ „für alle exakten Wissenschaften“ in sein vermeintlich rein schwärmerisch-poetisches Denken: „Wir bemerken, wie auch hier das Wesen der Mathematik vergeistigt und romantisiert wird, sie wird zu einer Sache des Enthusiasmus und der schöpferischen Tätigkeit“, heißt es etwa bei Egon Fridell.20 Hamburgers Studie wendet sich vor allem gegen die zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitete Einschätzung von Novalis als wissenschaftlichem Dilettanten, wie sie wirkungsmächtig auch Wilhelm Dilthey vertreten hatte. Dilthey wertete beispielsweise Novalis’ Beschäftigung mit dem Galvanismus als „leere[s], durch kein besonne-

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Uerlings (1997): „Novalis und die Wissenschaften“, S. 5. Novalis (1929): Schriften. Rommel (2001): „Vom Familienarchiv zur historisch-kritischen Ausgabe“, S. 31. Hamburger (1929): „Novalis und die Mathematik“, S. 116, Anm. 2. Ebd., S. 115. Der von Hamburger verwendete Begriff des Fragments zur Bezeichnung der Notizen, insbesondere zum Allgemeinen Brouillon, ist problematisch, entspricht aber dem zeitgenössischen Stand der Forschung, etwa bei Samuel und Kluckhohn. Vgl. Rommel (2001): „Vom Familienarchiv zur historisch-kritischen Ausgabe“, S. 31. Eine Kritik des Fragment-Begriffs nimmt später Mähl (1963): „Novalis und Plotin“, vor. Vgl. dazu III.1. Vgl. Albrecht (2014): „Käte Hamburgers Novalis-Deutung“, insbes. Abschnitt 4: „Zur Rezeption des Novalis-Aufsatzes“. Fridell (1904): Novalis als Philosoph, S. 44f. Ähnlich urteilt auch Ricarda Huch (1899): Blüthezeit der Romantik, S. 71: „Nicht nur, daß er mit Eifer Mathematik studirte, er poetisirte sie wie alles, womit er sich beschäftigte, durchdrang sie mit seiner lebendig warmen Seele […].“

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Einleitung: Novalis und die Mathematik

nes Studium gestützte[s] Spiel“21 und urteilte vernichtend: „Die Hymnen auf die Mathematik sind schließlich unfruchtbar.“22 Dieses Verdikt bezieht sich auf einen Beitrag von Novalis zum „festeren Bau einer Naturphilosophie“, die spezifisch poetische Bedeutung der mathematischen Reflexionen jedoch stellt Dilthey explizit heraus.23 Hamburger hält dem entgegen, dass Novalis, „obwohl keineswegs ein schöpferischer Mathematiker, gerade die theoretischen Grundlagen der Mathematik, wenn auch meist nur ahnend und intuitiv, aber oft mit einem geradezu erstaunlichen logischen Instinkt erfaßt hat“.24 Der Mathematik komme eine wichtige „symbolische[] Bedeutung für die Weltanschauung des Romantikers“ zu.25 Diese symbolische Bedeutung liege im schöpferischen Potenzial, das Novalis der Mathematik zuschreibe, wobei Novalis ‚Schöpfung‘ im Anschluss an Kant und den Neukantianismus als das synthetisierende Vermögen des Bewusstseins verstehe, aus dem die Realität geschaffen beziehungsweise als Korrelat zum sinnlich Gegebenen konstruiert werde. Novalis gelange über die Beschäftigung mit der Differentialrechnung und, eng damit zusammenhängend, den Begriffen der Funktion und des Kontinuitätsprinzips beziehungsweise der Stetigkeit als dessen mathematischem Ausdruck zu den Kant’schen respektive neukantianischen erkenntnistheoretischen Einsichten, die den Konzepten der modernen Mathematik zu Grunde lägen. So drücke sich für Novalis im Differential „[g]erade dieser Anspruch des Bewußtseins, Realität zu setzen“, objektiv aus.26 Angesichts der vom Differential erzeugten stetigen Funktion spüre Novalis, „daß das eigentliche ‚Sein‘ nicht durch den Substanzbegriff einer dogmatischen Ontologie, sondern vielmehr durch den Relationscharakter der Funktion charakterisiert werden muß“ und somit Realität eine intensive, graduelle Größe sei.27 Diese Einsichten, welche die Mathematik für Novalis zum Ausdruck bringe, stimmten mit Kants Erkenntnissen in der Kritik der reinen Vernunft überein, mit denen Kant „erkenntnistheoretisch, ohne es wörtlich auszusprechen, die Me21

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Dilthey (2005): „Novalis“, S. 196. Der Aufsatz erscheint erstmals in den Preußischen Jahrbüchern 15 (1865), S. 569–650, entfaltete seine Wirkung jedoch „erst durch seine Wiederveröffentlichung im häufig wiederaufgelegten Sammelband Das Erlebnis und die Dichtung (1905)“, die in die Zeit fällt, „in der eine ernsthafte Novalis-Philologie entsteht“, Uerlings (1991): Friedrich von Hardenberg, S. 82. Dilthey (2005): „Novalis“, S. 196. Die „Hymnen auf die Mathematik“ meinen die Mathematischen Fragmente in HKA III, S. 593f. Dilthey (2005): „Novalis“, S. 196. „Wo dagegen in die Tiefe dringende Bemerkungen auftreten: da gehören sie einer dichterischen Anschauung der Natur an. Zuweilen scheinen sie geradezu Stoff seiner poetischen Arbeiten zu sein, daher sie denn auch, mitten unter wissenschaftlichen Notizen, viele Mißverständnisse erregt haben. Überall aber durchdringt ein Geist dichterischer Gestaltung seine Theorien.“ Hamburger (1929): „Novalis und die Mathematik“, S. 118. Ebd., S. 119. Ebd., S. 146. Ebd., S. 135.

Stand der Forschung und Fragestellung der Arbeit

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thode der Infinitesimalrechnung, den Begriff des Differentials, den methodischen Gehalt der unendlich kleinen Größe“ begründe.28 Hamburgers Studie leitet in der Novalis-Forschung einen grundsätzlichen Wandel hin zu einer angemessenen Einbeziehung der mathematischen Notizen ein und liefert wichtige Hinweise zu ihrer Interpretation. Methodisch jedoch ist die Studie in mehrfacher Hinsicht problematisch, wie schon Martin Dyck eingewendet29 und später Howard Pollack in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Hamburgers Thesen herausgearbeitet hat: Zum einen unterscheide Hamburger weder ausreichend zwischen der Philosophie Kants und ihrer neukantianischen Auslegung noch zwischen Positionen innerhalb der Marburger Schule.30 Zum anderen werde die vereindeutigende, strikt neukantianische Lesart der Komplexität und Vieldeutigkeit von Novalis’ Überlegungen und Begriffen nicht gerecht. So verwende Novalis den Begriff der Funktion eben nicht nur in seiner mathematischen Bedeutung – die um 1800 übrigens auch keineswegs die gleiche ist wie um 1900 (vgl. II.2) –, sondern auch in seiner biologischen. Die konsequent transzendentale Deutung der Mathematik unterschlage den „religious flavor“ und damit die „mixture of contexts“, auf die Novalis’ Analogien angelegt seien.31

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Ebd., S. 145. Dyck (1960): Novalis and Mathematics, S. 16, würdigt Hamburgers Studie zwar als „first investigation devoted exclusively to Novalis’ relation to mathematics“, kritisiert aber ihre neukantianische Lesart von Novalis, die auf mathematische und mathematikhistorische Kontexte ebenso wie auf Bezüge der Mathematik zu anderen Formen des Wissens und zu den Künsten nicht oder nur unzureichend eingehe. Vgl. Pollack (1997): „Paradoxes“, S. 116f. Ebd. Aus philologischer Perspektive ist die dominante Rolle, die Kant in Hamburgers Deutung für Novalis spielt, zu relativieren: Mag es richtig sein, dass „gerade die Stellung des Novalis zur Mathematik […] bedingt [ist] durch die kritische Philosophie“, so scheint fraglich, dass „denn überhaupt die Quelle romantischer Philosophie Kant und erst in zweiter Linie Fichte gewesen ist“ (Hamburger [1929]: „Novalis und die Mathematik“, S. 120) – jedenfalls im Hinblick auf Novalis, dessen Fichte-Studien von einer sehr ausführlichen Beschäftigung mit dem Philosophen zeugen, die in späteren Reflexionen immer wieder nachwirkt. Vgl. III.2). Vgl. zu Hamburgers Studie ausführlich Albrecht (2014): „Käte Hamburgers Novalis-Deutung“, die herausarbeitet, dass die aus philologischer Perspektive geäußerte Kritik das „primär philosophische und nur sekundär literaturwissenschaftliche Forschungsinteresse“ Hamburgers verkennt. Mit Albrecht ist zudem Hamburgers Deutung von Novalis als „Exponent eines mathematikaffinen Denkens“ vor allem als Gegenentwurf zum in den 1930er Jahren virulenten „dichotomisch angelegte[n] Narrativ von aufklärerischem Rationalismus und romantischem Irrationalismus“ zu lesen, der mehreren Zielen diente: „Novalis vor der nationalistischen und völkischen Vereinnahmung zu bewahren“, ihn „in die Tradition der Wissenschaftsphilosophie der Moderne“ und „in die Tradition des aufklärerischen Rationalismus wie des transzendentalen Idealismus zu stellen und somit in die maßgeblich vom Neukantianismus, vor allem von Cohen und später auch Cassirer betriebene Tradierung einer wissenschaftsaffinen Moderne zu integrieren.“

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Einleitung: Novalis und die Mathematik

Der anachronistischen Deutung als Antizipation neukantianischer Konzepte stellt Pollack die Beobachtung gegenüber, dass Novalis’ Auseinandersetzung mit der Infinitesimalrechnung „firmly based in the mathematical and philosophical debates of his time“ sei.32 Sein Interesse habe mehr der „question of foundations of calculus, the choice of basic concepts and the justification of basic procedures, rather than its extraordinary results“33 gegolten. Die mathematischen Notizen des Allgemeinen Brouillon fokussierten dabei vor allem die „paradoxes involved in the very foundations of calculus“.34 Für Novalis liege die Bedeutung der Analysis daher nicht, wie Hamburger im Anschluss an Hermann Cohens und Ernst Cassirers mathematikphilosophische Reflexionen behauptet, im Kontinuitätsprinzip als Grundlage der Realitätskonstitution, sondern in „its ability to bridge the two models of unification“, nämlich des kontinuierlichen Übergangs durch unendlich kleine Größen im Differentialkalkül einerseits und dem diskreten Fortschreiten einer unendlichen Reihe auf ihren Grenzwert hin andererseits.35 Eine Synthese beider Modelle diene Novalis als Grundlage der im Allgemeinen Brouillon angestrebten Einheit der Wissenschaften.36 Kritisch anzumerken ist zu Pollacks Deutungsvorschlag, dass er unter den Begriff des Paradoxen Gedankenfiguren und Konzeptionen zusammenfasst, die bei Novalis zwar durchaus in Verbindung mit der Mathematik stehen, begrifflich aber dennoch zu trennen wären. Es handelt sich dabei erstens um die Verbindung zweier gegensätzlicher Verfahren oder auch Ansichten über einen Gegenstand, zweitens um den Prozess der unendlichen Annäherung an ein Ideal nach dem Vorbild der unendlichen Reihe. Drittens nennt Pollack das der Kant’schen Konzeption folgende Verständnis der Mathematik, wobei die Erläuterung der Mathematik als „isolated system“, welches gleichzeitig „in its very isolation […] all the more strongly linked to reality as a whole“ sei, wissenschaftstheoretisch unklar ist und wissenschaftshistorisch vage bleibt.37 Den Einfluss der Differential- und Integralrechnung hebt auch Theodor Haering in seinem Exkurs über „Novalis und die Mathematik“ hervor.38 Anders als Hamburger sieht Haering in Kants Philosophie zwar eine wichtige Anregung für Novalis, diesen selbst aber vor allem als Vorläufer der Hegel’schen Dialektik. Weniger auf die mathematische Bedeutung der entsprechenden Notizen konzentriert, stellt Haering die „Erhebung der Mathematik ins Philosophische“39 bei Novalis heraus und unterscheidet zwischen Novalis’ Polemisierung gegen die „rein-rational-verstandesmäßige Mathematik, 32 33 34 35 36 37 38 39

Pollack (1997): „Paradoxes“, S. 114. Ebd., S. 125. Ebd., S. 129. Ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 139. Ebd., S. 129. Haering (1954): Novalis als Philosoph, S. 541–552. Ebd., S. 545.

Stand der Forschung und Fragestellung der Arbeit

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als bloße Einseitigkeit,“ und einer „höhere[n], ins Dialektische erhobene[n] Mathematik […], welche für ihn in der Tat in mehrfacher Beziehung ein Vorbild aller solcher höheren, d.h. ins Dialektische erhobenen wahren Wissenschaft und Philosophie ist“.40 Dass Novalis’ Beschäftigung mit der Mathematik nicht nur seine wissenschafts- und erkenntnistheoretischen, sondern insbesondere auch seine kunsttheoretischen Überlegungen beeinflusst hat, weist schließlich Martin Dyck nach, der philologische und quellenkritische Pionierarbeit leistet: Seine Studie benennt umfassend die für Novalis wesentlichen mathematischen wie mathematikphilosophischen Quellen, klassifiziert dessen mathematische Notizen gemäß ihrer Bezugnahmen auf die Mathematik als idealer Wissenschaft auf Philosophie, Magie, Religion, Sprache, Literatur und Musik und legt damit den Grundstein für die in der heutigen Forschung unumstrittene Überzeugung von der Bedeutung der Mathematik für das Hardenberg’sche Denken.41 Während es Hegener nicht gelingt, in der Nachfolge Dycks über das Auflisten und den Kommentar mathematischer Notizen bei Novalis hinauszugehen,42 lenkt Ulrich Gaier den Blick erstmals von der theoretischen Spekulation der Mathematik auf ihren darstellungsästhetischen Aspekt bei Novalis. Gaier weist zunächst die Faszination Novalis’ von der Idee einer universalen Ursprache als Verbindung von Buchstaben und Zahlen, der pythagoreischen Zahlenmystik und der Kabbala nach. Im Anschluss daran legt er dar, dass Novalis’ Texte einer auf zahlenmystischen Spekulationen basierenden siebenstufigen Konstruktionsvorschrift, der „Krummen Regel“, folgen, die in einer Strukturierung der Handlung und Anordnung von Figuren und Ereignissen nach dem Muster der unendlichen Reihen und Gesetzen der Kombinatorik zum Ausdruck kommt.43 Die These von mathematisch inspirierten Formprinzipien und dem Einfluss der Kombinatorik wird schließlich von der nach wie vor einschlägigen Studie Symbolismus und symbolische Logik von John Neubauer etabliert. Neubauer rekonstruiert sowohl die mathematikphilosophischen (etwa Leibniz und Kant) als auch die mathematischnaturwissenschaftlichen (etwa Hindenburg und Gren) Quellen für Novalis’ ästhetische ars combinatoria umfassend und detailreich und zeigt auf, wie Novalis an diese ver40

41 42 43

Ebd., S. 542. Haering nimmt damit, so Albrecht (2014): „Käte Hamburgers Novalis-Deutung“, im Hinblick auf das Novalis-Bild in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine weltanschaulich motivierte Gegenposition zu Hamburger ein, denn er „instrumentalisiert […] den Dichter für die entgegengesetzte, mathematik- und rationalismuskritische Seite.“ Vgl. zu Haering während und nach der NS-Zeit: Gebhart (2008): Theodor Haering. Haering war unter anderem Mitglied im Kampfbund für deutsche Kultur (S. 23f.), trat 1937 in die NSDAP ein (S. 25) und beteiligte sich am „Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften“, der sogenannten „Aktion Ritterbusch“ (S. 32–35). Er gilt, so Gebhart, „als einer der prominenten Vertreter eines nationalsozialistischen Philosophierens“ (S. 45). Dyck (1960): Novalis and Mathematics. Hegener (1975): Poetisierung der Wissenschaften, S. 284–335. Gaier (1970): Krumme Regel.

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Einleitung: Novalis und die Mathematik

schiedenen Quellen anschließt. Neubauer stellt Novalis so in eine ins Barock zurückreichende kombinatorische Tradition, deren „Verarbeitung […] bei Novalis jene eigenartigen poetologischen Vorstellungen“ ergebe, „die den Symbolismus weitgehend vorwegnehmen“.44 Neben den poetologischen Notizen sieht Neubauer auch die literarischen Formen bei Novalis als kombinatorisch beeinflusst. Er weist nach, dass die Figurenreihen des Heinrich von Ofterdingen nicht allein von Goethes Wilhelm Meister angeregt sind, sondern dass ihnen gleichzeitig eine „Variationstechnik“ zugrunde liegt, die Novalis der „Hindenburgschen Kombinatorik“ entlehnt.45 Neben den inhaltlichen Ergebnissen setzt Neubauer auch in methodischer Hinsicht Maßstäbe für einen angemessenen Umgang mit naturwissenschaftlich-mathematischem Wissen in literarischen Texten – Maßstäbe, denen auch die vorliegende Arbeit verpflichtet ist: Enthält nun eine Dichtung oder eine Poetik eine Beziehung zu naturwissenschaftlichen Ideen, so stellt sich die Frage, inwiefern die dichterische Verarbeitung gelungen ist und ob sie durch herkömmliche Interpretationsmethoden erschließbar ist. Denn die literarische Verwendung einer Theorie mag den gedanklichen Inhalt für sprachliche Zwecke entstellen, ohne den dichterischen Wert dabei wesentlich zu gefährden: die Richtigkeit der Ideen bestimmt keinesfalls den Wert des Kunstwerkes. Die passendste Forschungsmethode wäre also diejenige, die der Eigenart sowohl der Literatur als auch der Naturwissenschaft Rechnung trägt.46

Neubauers Studie bildet, so lässt sich ohne Übertreibung sagen, sowohl inhaltlich als auch methodisch den vorläufigen Höhepunkt der Erforschung der Mathematik bei Novalis, die danach wiederum als vernachlässigt gelten kann.47 Entsprechend konstatiert Herbert Uerlings 1991 zutreffend, dass bis zu diesem Zeitpunkt „nur wenige Untersuchungen zu Hardenbergs Beschäftigung mit der Mathematik“ vorlagen.48 Daran hat sich auch in den vergangenen zwanzig Jahren kaum etwas geändert. Neben der bereits erwähnten Studie von Pollack sind in den 1990er Jahren die Arbeiten von Hans Nils Jahnke zur Kombinatorischen Analysis bei Novalis zu nennen, die sich jedoch vor allem auf die Rekonstruktion der mathematischen Bedeutung von Novalis’ diesbezüglichen Notizen konzentrieren und zudem unter mathematikhistorischem Blickwinkel problematisch sind (vgl. III.4.1). Tentativ lassen sich auf dem Forschungsfeld ansonsten zwei Tendenzen ausmachen: Ausgehend von einer positiv-affirmativen Einschätzung der Bedeutung der Mathematik in seinen Schriften, avanciert Novalis erstens zur Galionsfigur einer seit der sogenannten ‚kulturwissenschaftlichen Wende‘ der Literaturwissenschaften kultivierten Inter-, wenn nicht Transdisziplinarität. So stellt etwa Remigius Bunia fest: „Novalis geht es 44 45 46 47

48

Neubauer (1978): Symbolismus, S. 12f. Ebd., S. 143. Ebd., S. 13f. In breiterem Rahmen interessiert sich die Novalis-Forschung für die Mathematik bei Novalis lediglich in ihrer Funktion im Allgemeinen Brouillon. Vgl. III.1. Uerlings (1991): Friedrich von Hardenberg, S. 178.

Stand der Forschung und Fragestellung der Arbeit

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also keineswegs um eine Aufhebung der Differenz zwischen Kunst und Wissenschaft, sondern um die Schaffung einer höheren Synthesis“,49 die „die Erkenntnisvorzüge beider Verfahren vereint“,50 sie aber gleichwohl in ihrer jeweiligen Eigenheit bestehen lasse. Bunia belegt diese These durch den Vergleich zweier Notizen zur geometrischen Form des Kreises, die er als mathematisch „gänzlich korrekt“ und „dezidiert poetisch“ voneinander absetzt.51 Diese Bewertungen erscheinen insofern willkürlich, als sie beide aus der Vernachlässigung relevanter historischer Wissenskontexte resultieren. So lässt sich etwa Novalis’ Äußerung, dass „der Urtyp der Zirckelform das Quadrat sey“ und somit die Quadratur des Zirkels im „Problem der Reduktion aller Figuren aufs Quadrat“ (AB 447/329)52 bestehe, nicht allein mit der Infinitesimalrechnung in Zusammenhang bringen, sondern auch mit dem esprit systématique, den Novalis aus D’Alemberts Discours préliminaire kannte. Auf der anderen Seite steht auch Novalis’ vermeintlich rein poetische „Philosophie des Punkts“53 in einem konkreten mathematikhistorischen Kontext, denn sie nimmt Bezug auf Newtons Verständnis der gekrümmten Linie als Bewegung eines Punkts. Eine Interpretation, die diese Kontexte ausblendet, instrumentalisiert den Autor zu Zwecken „einer höheren Synthesis“,54 wird aber Novalis’ Texten nur teilweise gerecht.55 49 50 51 52

53 54

55

Bunia (2008): „Weltkontakt“, S. 26. Ebd., S. 29. Ebd., S. 26; 27. Häufig zitierte Schriften Novalis’ werden im Fließtext unter Angabe einer Sigle notiert, es handelt sich dabei um Das Allgemeine Brouillon (AB) und die Fichte-Studien (FS) unter Angabe von Eintragsnummer/Seitenzahl sowie den Heinrich von Ofterdingen (HvO). Alle Schriften Novalis’ werden nach der Historisch-Kritischen Ausgabe (HKA) zitiert. Des Weiteren werden die Schriften Immanuel Kants nach der Akademie-Ausgabe (AA) zitiert. Die Siglen einschließlich bibliographischer Nachweise finden sich im Literaturverzeichnis. Bunia (2008): „Literaturwissenschaft als kontrollierter Weltkontakt“, S. 28. Ebd., S. 29. Das gleiche Argument kommt in Bunia (2013): Romantischer Rationalismus, zum Tragen. Bunia folgert hier, dass die Mathematik nach Novalis letztlich „wenig […] für ein formales Denken geeignet ist, das epistemisch ‚universal‘ ist“ (S. 84f.). Der „Anflug von Resignation“, den Bunia bei Novalis im Hinblick auf die „Forderung nach einer höchsten Elementarwissenschaft und -kunst“ beobachtet (S. 85), verflüchtigt sich jedoch, wenn man den als Beleg angeführten Brouillon-Eintrag mit den für Novalis relevanten mathematischen Theorien in Zusammenhang bringt. Denn Novalis’ Charakterisierung der „höchste[n] Elementarwissenschaft“ als derjenigen, „die ein reines N. behandelt“ (AB 92/257), lässt sich dann als positiver Verweis auf die Infinitesimalrechnung deuten. Ebenso steht die in „Phil[osophie] des Puncts“ (AB 786/422) in philosophischen, mathematischen und mechanisch-physikalischen Denktraditionen, auf die Bunia nicht eingeht. Vgl. Holland (2009): „The Point of Romanticism“. Ein weiteres Beispiel für diese Tendenz ist Radbruch (2009): „Novalis und die Mathematik“, der das Mathematische bei Novalis zu einem Disziplinengrenzen überwindenden „Weg zu einer universellen Weltorientierung“ stilisiert (S. 28). Radbruch reproduziert bei der Wiedergabe von Novalis’ Mathematik-Bild seine Darstellung aus Radbruch (1997): Mathematische Spuren, S. 77–85,

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Einleitung: Novalis und die Mathematik

Zweitens lässt sich eine Art (Re-)Mythisierung von Novalis beobachten, die paradoxerweise im Zeichen der Mathematik steht. Ein Beispiel dafür liefert die Arbeit von Karin Schuff-Eppli, die über weite Strecken eine Reproduktion anderer Studien ist und in der spekulativen These gipfelt, Novalis habe seinen Texten mittels zahlenmystischer Verfahren zentrale Botschaften auf geheimnisvolle Weise eingeschrieben.56 Steht diese Deutung von Novalis als praktizierendem Zahlenmystiker weitgehend allein, so gehören die Versuche, Novalis zum Visionär komplexer mathematischer Theorien des 20. Jahrhunderts zu stilisieren, einer breiteren Tendenz innerhalb der Literature and Science Studies an – darauf werde ich gesondert zurückkommen. Aus dem Blick geraten zu sein scheint in beiden Fällen das genuin literaturwissenschaftliche Interesse an Novalis’ Beschäftigung mit der Mathematik. So ist es zwar erfreulich, über mathematische Gehalte und mathematikhistorische Kontexte zu Novalis’ Biographie und seinem Werk inzwischen adäquate Auskunft durch die Forschung zu erhalten. Völlig ungeklärt aber ist die Relation, in der das mathematisch faszinierte und gut informierte Denken von Novalis zu seinem Dichten steht. Handelt es sich bei seinen literarischen Texten schlicht um poetische ‚Umsetzungen‘ und Illustrationen mathematischer Einsichten? Wie verhalten sich mathematischer Gehalt und mathematische Form im Rahmen seiner poetischen Rede? Welche Rolle spielen die mathematisch inspirierten Gehalte und Formen für die ästhetische Formensprache? Im Hinblick auf die theoretischen Notizen wäre die Funktion des Mathematischen für das Denken Novalis’ dahingehend genauer zu klären, ob er die Mathematik lediglich als inspirierenden Ausgangspunkt und Auslöser für seine Spekulationen nutzt. Oder kommt den Analogiebeziehungen der Mathematik zu anderen Bereichen des Wissens, die Novalis immer wieder herausstellt, ein erkenntnistheoretischer oder ästhetischer Wert zu? Lässt sich überhaupt von ‚dem Mathematischen‘ als einheitlichem Konzept bei Novalis sprechen oder hebt er auf disparate, eventuell auch einander widersprechende Aspekte der Mathematik ab? In welchem Verhältnis stehen die theoretische Konzeptualisierung der Mathematik respektive einzelner Aspekte zur Schreibpraxis von Novalis? Realisiert er hier mathematische Muster? Unterscheiden sich diese in Form und Funktion im Enzyklopädistik-Projekt und den dezidiert poetischen Texten? In welchem Verhältnis stehen Poetizität und Mathematizität bei Novalis? Diesen Fragen möchte die vorliegende Arbeit nachgehen und damit einen Anstoß geben, die längst nicht erschöpfte Untersuchung der Mathematik bei Novali wieder aufzunehmen.

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einer motivgeschichtlichen Untersuchung, die heutigen ideengeschichtlichen, wissenschaftshistorischen und literaturwissenschaftlichen Standards nicht mehr genügt, gleichwohl aber für die vergleichende Betrachtung der Mathematik in der Literatur insgesamt anregend war. Schuff-Eppli (1998): Wortfiguren – Figurenworte.

Zur Gliederung der Arbeit

I.2

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Zur Gliederung der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich in drei Kapitel. Zunächst werden die für die Fragestellung relevanten Kontexte vorgestellt (II). Einem hermeneutischen Ansatz folgend, muss am Anfang einer Arbeit über ‚Novalis und die Mathematik‘ zunächst geklärt werden, was Novalis über diese Wissenschaft wusste oder wissen konnte. Genauer gilt es etwa die folgenden Fragen zu beantworten: Auf welche Weise und in welchen Kontexten hat Novalis’ Auseinandersetzung mit der Mathematik stattgefunden? In welchen Dokumenten schlägt sich diese Auseinandersetzung nieder und wie ist sie hinsichtlich ihrer Intensität und des ‚normalen‘ mathematischen Wissensstandes um 1800 zu bewerten? Antwort darauf gibt ein kurzer Überblick über Novalis’ Biographie (II.1), der den mathematischen Bildungsgang des Dichters fokussiert. Es wird sich zeigen, dass Novalis sich vor allem während seiner Freiberger Studienzeit solide mathematische Grundkenntnisse aneignete und sich mit zeitgenössisch wichtigen Theorien beschäftigte. Um insbesondere den letzten Punkt zu plausibilisieren, werde ich anschließend den Stand der Mathematik um 1800 am Beispiel der Infinitesimalrechnung, die für Novalis von großer Bedeutung war, skizzieren (II.2). Novalis’ eigenständige Beschäftigung mit der zeitgenössischen Mathematik ist weniger mathematischer, als – wie er selbst sagt – „philosophischer“ Natur. Es geht ihm in erster Linie darum, das epistemische und ästhetische Potenzial der Mathematik zu erkunden. Er schließt damit nicht nur an mathematisches Wissen an, sondern auch an mathematikphilosophische Reflexionen. Für Novalis wichtige Entwicklungen in diesem Wissenskontext werde ich daher abschließend umreißen, indem ich die wirkungsmächtigen erkenntnistheoretischen Konzeptionen der Mathematik bei Gottfried Wilhelm Leibniz und Immanuel Kant einander vergleichend gegenüberstelle (II.3). Alle drei Abschnitte dieses Kapitels sind rekonstruierender Natur und greifen auf vorhandene Forschung aus den Bereichen der Novalis-Biographik, der Mathematikgeschichte und der Mathematikphilosophie zurück. Sie dienen der Orientierung in den für diese Arbeit relevanten Aspekten der genannten Bereiche. Darüber hinaus ist auf den exemplarischen Charakter der mathematikhistorischen sowie der mathematikphilosophischen Kontextualisierung hinzuweisen. Die Entscheidung für eine punktuelle anstelle einer umfassenden Darstellung der wissensgeschichtlich relevanten Kontexte liegt zum einen in der letztlich literaturwissenschaftlichen Ausrichtung der Studie begründet, zum anderen in einem Spezifikum von Novalis’ intellektueller Haltung: Seine nachgelassenen Notizen zeugen von einem unerschöpflichen Wissensdurst, den Novalis durch ein immenses Lesepensum zu stillen versucht. Eine umfassende Rekonstruktion der mathematischen und mathematikphilosophischen Quellen würde nicht nur den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, sie liefe zudem, schon allein aufgrund der Quantität des Materials, Gefahr, zu einer rein kompilatorischen Darstellung ohne Aussagekraft zu geraten.

12

Einleitung: Novalis und die Mathematik

Diese methodische Entscheidung gegen eine erschöpfende Rekonstruktion zugunsten einer Konzentration auf ausgewählte Aspekte betrifft ebenso die beiden folgenden Großkapitel der Arbeit, die der Frage nachgehen, wie Novalis die Auseinandersetzung mit mathematischen und mathematikphilosophischen Quellen in sein Denken und Dichten integriert. Ich wende mich zunächst den theoretischen Notizen zu, in denen Novalis die Mathematik insgesamt oder einzelne mathematische Konzepte explizit zum Thema macht (III). Der Fokus liegt dabei auf den Notizen zu einer Enzyklopädistik, dem Allgemeinen Brouillon, da hier die erkenntnistheoretische und ästhetische Funktion, die Novalis der Mathematik zuschreibt, am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Das Allgemeine Brouillon ist ein Textkorpus, dessen angemessene literaturwissenschaftliche Würdigung insbesondere im Hinblick auf die Rolle der Mathematik erst mit seiner historisch-kritischen Edition möglich geworden ist. Eng verbunden mit der Mathematik im Allgemeinen Brouillon ist die Frage, ob den auf den ersten Blick disparat erscheinenden Notizen eine wie auch immer geartete Systematik zugrunde liegt. Ausgehend von der Forschungsdiskussion werde ich argumentieren, dass sich das Enzyklopädistik-Projekt sehr wohl durch ein systematisches Bestreben auszeichnet, dass es sich jedoch nicht als Entwurf, sondern vielmehr als Suche nach einem System des Wissens verstehen lässt. Bei dieser Suche befragt Novalis neben anderen Wissenschaften auch die Mathematik auf ihre Tauglichkeit als einheits- und erkenntnisstiftende enzyklopädistische Methode (III.1). Dieser Beschäftigung mit der Mathematik, das sei hervorgehoben, ließen sich Novalis’ Auseinandersetzungen mit anderen Wissenschaften, prominent etwa der Chemie, an die Seite stellen. Der Fokus auf der Mathematik liegt im Frageinteresse der vorliegenden Arbeit begründet und insinuiert nicht, dass diese Wissenschaft den ‚Königsweg‘ zum Verständnis des Allgemeinen Brouillon darstellt. Eine derartige Perspektive würde dem integrativen Denken Novalis’ nicht gerecht und wesentlichen erkenntnistheoretischen Grundannahmen seines Enzykoplädistik-Projekts zuwiderlaufen. Zu Letzteren gehört vor allem die Idee des ordo inversus, deren Wirkungsgeschichte bis in die Antike zurückreicht, die Novalis jedoch aus der idealistischen Subjektphilosophie Johann Gottlieb Fichtes bezieht. Mit dem ordo inversus reflektiert Novalis die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Erkenntnis: Diese zielt nach Novalis zwar stets auf das Absolute und Ganze, kann selbst aber nur relational und stückweise operieren. Im Zusammenschluss einer Bewegung des Ab- und Aufstiegs, des Zerlegens und Zusammensetzens, der Analyse und Synthese, des Aufzeigens von Beziehungen in ihrem Verhältnis zum Ganzen und vice versa klärt sich für Novalis der Zusammenhang eines grundlegenden epistemischen Verfahrens mit darstellungstheoretischen bzw. ästhetischen Konsequenzen. Als „Wechselrepräsentationslehre“ kommt dieses Verfahren im Allgemeinen Brouillon wissenschaftstheoretisch zum Tragen, insofern Novalis das erkenntnistheoretische Potenzial der einzelnen Wissenschaften hier dadurch erkundet, dass er sie zueinander in Analogie-Beziehungen setzt. Dabei sollen sich nach Novalis via Analogie die Leistungen und Erkenntnisse einer Wissenschaft auf alle anderen

Zur Gliederung der Arbeit

13

übertragen (II.2). In den formalen Verfahren der Mathematik sieht Novalis ‚Modelle‘ oder vorbildhafte ‚Muster‘ für weiter reichende, analog zu konstruierende erkenntnistheoretische Verfahren, wie der zweite Teil des Kapitels anhand ausgewählter Notizen vorführt (III.3). Ich greife hier wiederum exemplarisch vier mathematische Konzepte heraus und zeige durch ein wissenshistorisch kontextualisierendes close reading, wie Novalis sie zu epistemischen Verfahren umdeutet. Im Vordergrund steht dabei die exemplarische Ausdeutung seines Umgangs mit mathematischen Konzepten, nicht aber eine auf Systematik und Konsistenz zielende Rekonstruktion ‚der Mathematik‘ im Allgemeinen Brouillon, da ein solches Unterfangen Widersprüchlichkeiten in den tentativen mathematischen Spekulationen verdecken würde. In der Reihenfolge ihrer Untersuchung handelt es sich um die folgenden Konzepte aus den Bereichen der Infinitesimalrechnung (III.3) und der Kombinatorischen Analysis (III.4). Erstens entwirft Novalis einen eigenen, diverse Quellen miteinander zusammenführenden Begriff der ‚mathematische Methode‘ als ideale Verbindung von analytischem und synthetischem Schlussverfahren, als deren formalen Ausdruck er die zueinander inversen Prozesse der Differentiation und Integration betrachtet (III.3.1). Zweitens sieht er im Lösen von Differential-Gleichungen ein Modell für die Systematisierung der menschlichen Erkenntnis (III.3.2). Drittens entwickelt er, angeregt von der Kombinatorischen Analysis, die Idee einer praktischen Erfindungskunst, die Erkenntnis als Handlung fasst (III.4.1). Viertens schließlich sieht Novalis im Prozess des Logarithmierens das mathematische Analogon zum idealen systematischen Denken, das alle Wissensformen auf ein grundlegendes Prinzip zurückführen kann (III.4.2). Das letzte und wichtigste Kapitel (IV) widmet sich der Bedeutung der Mathematik für Novalis’ Poetik sowie für seine poetische Praxis. Textgrundlage bilden ausgewählte poetologische Notizen und das Romanfragment Heinrich von Ofterdingen, insbesondere das von Klingsohr im achten Kapitel des ersten Teils erzählte Binnenmärchen, das in der Forschung als „Klingsohr-Märchen“ firmiert. Anders als in den theoretischen Notizen werden mathematische Theorien in den poetischen Texten nicht explizit zum Thema gemacht. Die Annahme, dass es sich bei den aufzuzeigenden Bezügen tatsächlich um intendierte Verweise auf die Mathematik handelt, muss daher zunächst plausibilisiert werden. Begründen lässt sie sich durch Novalis’ vermögenspsychologische Deutung von Mathematik und Dichtung: Die Mathematik steht in dieser Deutung für den Verstand, der nach Novalis durch die dichtende Einbildungskraft in einer utopischen Einheit mit der Sinnlichkeit versöhnt werden soll (IV.1). Als integratives Medium muss somit die Dichtung auch die Mathematik einbeziehen. Wie Novalis diese Integration ästhetisch gestaltet, zeige ich wiederum exemplarisch anhand von zwei wichtigen Bezügen. Zum einen untersuche ich den Einfluss der bereits erwähnten Kombinatorischen Analysis (IV.2). Ausgangspunkt ist dabei die der Forschung entnommene Deutungshypothese, Novalis löse im Klingsohr-Märchen den Antagonismus von Poesie und Mathematik zugunsten der Ersteren und auf Kosten der Letzteren (IV.2.1) auf. Im Unter-

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Einleitung: Novalis und die Mathematik

schied dazu werde ich zeigen, dass erstens die von Novalis als praktische Erfindungskunst gedeutete Kombinatorische Analysis Modell für die Darstellung des Goldenen Zeitalters im Märchen ist. Zweitens konstruiert Novalis die Märchenhandlung als Verwirklichung des Goldenen Zeitalters nach dem Vorbild der kombinatorischen Ordnung der Zahlen zu unendlichen Reihen (IV.2.3). Dieser darstellungsästhetische Aspekt steht in engem Zusammenhang mit Novalis’ poetologischem, ebenfalls kombinatorisch inspiriertem Konzept des Zufalls, das daher zuvor erläutert wird (IV.2.2). Zum anderen beschäftige ich mich mit dem Verhältnis von Dichtung und Astronomie bei Novalis (IV.3). Letztere gehört im Verständnis des 18. Jahrhunderts nicht nur zu den mathematischen Wissenschaften, sie ist in deren Hierarchie der Mathematik auch vorgeordnet. Mathematische oder genauer: geometrische Erkenntnisse im engeren Sinne sind vor allem als Methoden zur Berechnung der Himmelsbewegungen von Bedeutung und stehen in der Wissenschaftsgeschichte für eine geradezu ideale Form der Wissenschaft. Im Heinrich von Ofterdingen finden sich diverse Bezugnahmen auf die Astronomie, die sich sowohl vermögenspsychologisch als auch poetologisch deuten lassen (IV.3.1). So nutzt Novalis, ausgehend von der Vorstellung einer Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos, im Klingsohr-Märchen die Astronomie, um seine vermögenspsychologische Utopie unter Verzicht auf diskursive Verhandlungen narrativ zu gestalten: Das ideale Gleichgewicht der geistigen Vermögen wird mit der im 18. Jahrhundert virulenten, von der kopernikanischen Revolution initiierten Vorstellung einer Vielfalt von Welten verbunden (IV.3.2). Darüber hinaus aktualisiert und narrativiert Novalis die Metapher des Theatrum astronomicum und schreibt dem Märchen damit eine selbstreflexive Dimension ein, die eine poetologische Lesart nahelegt (IV.3.3). Diese Verbindung von Poetik und Astronomie findet sich auch in einer BrouillonNotiz, deren Interpretation den Abschluss dieses Kapitels bildet (IV.3.4) und den Bogen zurückschlägt zum Verhältnis von Verstand und Einbildungskraft beziehungsweise Mathematik und Dichtung. Novalis vergleicht hier die erkenntnistheoretische Leistung der Dichtung mit dem Blick durch das Fernrohr, der zwar den Stern am Himmel sichtbar machen kann, jedoch eine reale Überwindung der Distanz nicht leistet. Ebenso kommt nach Novalis der Dichtung zwar ein bestimmtes epistemisches Potenzial zu. Sie kann jedoch, solange die utopische Harmonie der Vermögen nicht verwirklicht ist, die Mathematik, verstanden als Inbegriff der intellektuellen Aneignung eines Gegenstandes, nicht vollwertig ersetzen. Die Arbeit schließt mit einem resümierenden Fazit, das Antworten auf die eingangs gestellten Leitfragen formuliert (V).Bereits in der Evaluation der vorhandenen Forschung hat sich gezeigt, das eine in literaturwissenschaftlicher Hinsicht gewinnbringende Analyse der Relation von Literatur und Mathematik, wie ich sie in dieser Arbeit anstrebe, in methodisch reflektierter Weise mathematikhistorisches, wissenschaftshistorisches und ideengeschichtliches Kontext-Wissen einbeziehen muss, ohne dabei ihren disziplinären Fokus zu verlieren. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, komme ich im Folgenden, wie angekündigt, noch einmal auf die chaostheoretisch inspirierte Novalis-Forschung zurück. An dieser lassen

Methodische Überlegungen

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sich die Problemkomplexe bestimmter Interpretationsansätze innerhalb der Literature and Science Studies exemplarisch aufzeigen und zugleich in Abgrenzung davon die methodischen Prämissen für die vorliegende Arbeit entwickeln.

I.3

Methodische Überlegungen am Beispiel der chaostheoretischen Novalis-Forschung

Wie bereits erwähnt, sind in den 1990er Jahren unter anderem Studien entstanden, die Novalis’ Ideen in Verbindung zu später entwickelten, hochabstrakten naturwissenschaftlich-mathematischen Theorien, insbesondere der sogenannten Chaostheorie, bringen. Auf die Problematik dieser Ansätze soll an dieser Stelle etwas ausführlicher eingegangen werden. Sie stellen durchaus kein auf die Novalis-Forschung beschränktes Phänomen dar, sondern sind vielmehr einer allgemeinen literaturwissenschaftlichen Tendenz im Umfeld der Untersuchungen zum Verhältnis von Literatur und Wissen zuzuordnen, wie Andrea Albrecht unlängst herausgestellt hat.57 Für die Analyse des literaturwissenschaftlichen Werts eines anachronistischen In-Beziehung-Setzens von literarischen Texten mit naturwissenschaftlich-mathematischen Theorien kommt der Novalis-Forschung jedoch eine Schlüsselrolle zu. Die literaturwissenschaftlichen Studien greifen dabei zumeist weniger auf die Chaostheorie selbst als vielmehr auf eines ihrer images zurück. Im Unterschied zur wissenschaftsinternen Interpretation der Theorie meint das image „das, was eine Theorie jenseits der genuin wissenschaftlichen Sphäre bedeutet“, also zum Beispiel in den sogenannten pop(ular) science books mit der Chaostheorie verknüpfte Weltanschauungen oder die Deutung der Chaostheorie als Paradigma der postmodernen Wissenschaft.58

57

58

Albrecht (2011): „Chaos“. Vgl. dazu auch Carson (1995): „Postmodern Physics“, und Polvinen (2007): „The ends of metaphor“. Neben der Chaostheorie wird Novalis in der Forschung auch mit anderen nach seinen Lebzeiten entstandenen mathematischen Theorien in Verbindung gebracht. Nach Timmermans (2011) „La réforme des mathématiques“, S. 74, seien etwa bestimmte Entwicklungen in Geometrie und Gruppentheorie im 19. und 20. Jahrhundert inspiriert vom „projet de Novalis de réformer les mathématiques“. Albrecht (2011): „Chaos“. Diese Differenzierung schließt an Überlegungen von Yehuda Elkana, Leo Corry und Cathryn Carson an. Carson (1995): „Postmodern Physics“, unterscheidet zwischen der wissenschaftsinternen „interpretation“ und den „implications“, welche die Bedeutung einer Theorie in anderen (weltanschaulichen) Kontexten bezeichnen (S. 646, Anm. 11). Diese „etwas unglückliche[] Begriffswahl“ entspricht nach Albrecht (2011): „Chaos“, in etwa den „images of knowledge“ bei Elkana (1986): Anthropologie der Erkenntnis, und Corry (1989): „Linearity and Reflexivity“. Auf Diskrepanzen zwischen den kulturellen images der Theorien und ihrer wissenschaftlichen Interpretation weise ich an entsprechenden Stellen in den Anmerkungen hin.

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Einleitung: Novalis und die Mathematik

Die beiden in dieser Hinsicht wichtigsten Arbeiten stammen von Joyce Walker und Dennis F. Mahoney.59 Walker macht chaostheoretische Elemente als Motiv und als textuelles Strukturmerkmal in Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen aus und leitet daraus eine literarische Antizipation der wissenschaftlichen Theorie ab:60 Chaos in Novalis is a dynamic paradigm which challenges the very presuppositions of Enlightenment science and is a provocative anticipation of modernity. Indeed, it was not until a century and a half after the novel’s publication in 1802 that a corresponding trend emerged in science itself. Like Novalis, 20th-century chaos theorists overturned the Newtonian model of a predictable, orderly universe in their quest to describe the disorder apparent in nature.61

Dennis Mahoney übt in seiner Studie durchaus fundierte Kritik an Walkers Deutung. Er warnt davor, die Analogien zwischen chaostheoretischen Konzepten und Novalis’schem Gedankengut überzustrapazieren.62 Novalis’ Naturbild und seine ästhetischen Strategien werden zunächst textnah erarbeitet und im zeitgenössischen Kontext um 1800 verortet, um sie anschließend mit der Chaostheorie vergleichen zu können. Scheint es auf den ersten Blick, als vertrete Mahoney eine gemäßigtere Position als Walker, so geht er bei genauerem Hinsehen noch einen Schritt weiter, insofern bei ihm die Literatur den wissenschaftlichen Fortschritt nicht nur antizipiert, sondern sogar zu seinem Katalysator avanciert. Zu fragen ist hier, wie man sich denn Novalis’ Einfluss auf die Entwicklung der Chaostheorie vorzustellen hat, wenn doch, wie Mahoney selbst einräumt, die Wissenschaftler „seine Werke und Notizhefte schwerlich kennen werden“.63 Anders als etwa N. Katherine Hayles64 nimmt Mahoney nicht prinzipiell von 59 60

61

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Walker (1993): „Romantic Chaos“, und Mahoney (1997): „Hardenbergs Naturbegriff“. Walkers Studie gehört damit in der von Albrecht (2011): „Chaos“, vorgeschlagenen Typologie unter Punkt 1b. Albrecht unterscheidet insgesamt vier Typen der literaturwissenschaftlichen Bedeutung der Chaostheorie: Diese kann zum einen im literarischen Text selbst verortet werden, entweder aufgrund eines zeitgenössischen Wissenstransfers oder aber als „Symptom einer literarischen Antizipation“. Zum anderen kann die Chaostheorie in die literaturwissenschaftliche Beschreibungssprache eingehen, hier als „intendierte[r] Begriffs- oder Methodentransfer“ oder aber als Ausdruck eines „disziplinenübergreifenden Paradigmas der Postmoderne“. Letztere Annahme wurde vor allem durch Kathrin Hayles (1990): Chaos Bound, in die Literaturwissenschaft eingeführt. Walker (1993): „Romantic Chaos“, S. 43. Walker schließt in ihrem Verständnis der Chaostheorie an deren postmodernes image an, das von ihrem wissenschaftlichen Inhalt und ihrer gegenwärtigen Relevanz zu unterscheiden ist (vgl. Anm. 58). Ähnlich argumentiert auch Menges (1996): „Romantic Anti-Foundationalism“, der in Anlehnung an Foucaults in der Ordnung der Dinge vorgenommene Epochenbildung im romantischen Denken den Beginn der modernen episteme ansiedelt, der auch die Chaostheorie zuzuordnen sei: „In fact, what the Romantics discovered has since become one of the ‚hottest‘ interdisciplinary research efforts in terms of philosophical and scientific inquiry into the structure and relationship between order and disorder“ (ebd., S. 49). Vgl. Mahoney (1997): „Hardenbergs Naturbegriff“, S. 110. Ebd. S. 115.

Methodische Überlegungen

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Vorstellungen des Einflusses Abstand und bemüht sich um die Rekonstruktion einer entsprechenden Filiation. Er verweist auf Goethe als „verbindendes Mittelglied zwischen Novalis und den heutigen Chaosforschern“: Einerseits seien sich etwa Mitchell Feigenbaum und Albert Libchaber einig gewesen „in ihrer Bewunderung für Goethes naturwissenschaftliche Werke, die ihnen bei ihrer Suche nach neuen Paradigmen von großer Hilfe waren“.65 Und auf der anderen Seite seien die „Figurenkonstellationen im ‚Ofterdingen‘, die in der Tat eine verblüffende Ähnlichkeit mit den ‚fraktalen‘ Figuren der heutigen Chaostheorie besitzen, […] das Ergebnis von Hardenbergs ‚Wilhelm Meister‘-Studien, wo er auf deren morphologischen Grund gekommen ist“.66 Diese Argumentation bedarf für ihre Gültigkeit zweier Nachweise, die Mahoney jedoch nicht erbringt: Der über Goethe vermittelte Einfluss Novalis’ auf die modernen Chaosforscher müsste zum einen philologisch exakt durch entsprechende Belege der jeweiligen Rezeption plausibilisiert werden. Will man zum anderen eine kontinuierliche Linie von Novalis’ Naturverständnis zur Chaostheorie ziehen, so wäre weiterhin zu prüfen, ob und inwieweit die fraglichen Ideen in den im ersten Schritt ermittelten Belegstellen denn tatsächlich übereinstimmen, was nicht ohne Weiteres der Fall sein muss: Erstens unterscheiden sich Poetik und Naturbild Goethes und Hardenbergs im Allgemeinen in wesentlichen Punkten voneinander.67 Zweitens könnte die Berufung der Chaostheoretiker auf die Dichtung auf einem produktiven Missverständnis beruhen oder sogar wissenschaftsexternen Zwecken geschuldet sein, für die die inhaltliche Bedeutung der Äußerungen Goethes oder Novalis’ zweitrangig ist.68 Im Gegensatz zu Walker betont Mahoney zwar, dass „die Bedeutung des Naturbegriffs und der Naturdarstellung Friedrich von Hardenbergs“ nicht in der Vorwegnahme der Chaostheorie liege,69 hält aber dennoch an der Antizipationsthese fest. Auf diese Weise kann die Chaostheorie für Mahoney zum hermeneutischen Werkzeug werden, um „ein vertieftes Verständnis für die Weltentwürfe zu gewinnen, die im theoretischen und dichterischen Werk des Novalis zu finden sind“.70

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Hayles (1990): Chaos Bound, S. xi, geht davon aus, dass chaostheoretische Vorstellungen Teil einer allgemeinen kulturellen Matrix sind, an der Wissenschaftler ebenso wie Nicht-Wissenschaftler partizipieren. Mahoney (1997): „Hardenbergs Naturbegriff“, S. 115. Ebd. Vgl. etwa zum unterschiedlichen Verhältnis beider Dichter und zur Naturwissenschaft und dessen jeweiligem Einfluss auf ihr literarisches Schreiben Neubauer (1997): „Novalis und Goethe“, und Holland (2009): German Romanticism and Science. Vgl. dazu Skowronski (2011): „Heisenberg und Goethe“. Mahoney (1997): „Hardenbergs Naturbegriff“, S. 118. Ebd., S. 107f.

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Einleitung: Novalis und die Mathematik

Die ‚Gretchenfrage‘ müsste allerdings lauten:71 Ermöglicht der Vergleich von Elementen der Chaostheorie und Novalis’schem Gedankengut tatsächlich dieses vertiefte Verständnis? Das wäre, bei allen Vorbehalten gegen die Antizipationsthese, ein Verdienst, den man der chaostheoretischen Literaturinterpretation zurechnen könnte. Um dies zu klären, werde ich im Folgenden vier Aspekte der von Walker und Mahoney vorgeschlagenen Deutungen prüfen: Zunächst diskutiere ich die mit dem chaostheoretischen Ansatz verbundenen Grundannahmen über das Verhältnis von Literatur und Wissen. Anschließend greife ich exemplarisch drei zentrale Konzepte der chaostheoretischen Lesarten heraus und stelle ihnen Novalis-Deutungen gegenüber, die sich auf den zeitgenössischen Kontext um 1800 berufen: den Begriff des Chaos selbst, die Selbstähnlichkeit und den sogenannten Schmetterlingseffekt.

I.3.1

Zur wissenschaftlichen Originalität von Novalis

Sowohl Walkers als auch Mahoneys Studie vertreten die Antizipationsthese und somit (implizit) auch die Auffassung, dass Literatur wissenschaftliche Originalität beanspruchen kann. Dies scheint mir wenigstens im Falle von Novalis nicht zuzutreffen, denn sowohl seine poetischen als auch seine philosophischen Arbeiten speisen sich aus Anleihen bei den zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskursen. Dafür sprechen schon die zahlreichen Notizen, die das Hardenberg’sche Werk zum großen Teil ausmachen: Es handelt sich um Vorlesungsmitschriften, Exzerpte aus philosophischen Schriften, Lehrbüchern zur Mathematik, Chemie, Medizin etc., die Novalis reflektiert, kritisiert und miteinander in diverse Beziehungen setzt. In dieser ästhetischen ars combinatoria liegt Novalis’ innovatives Potenzial. Eine aus dem Denken Hardenbergs exemplarisch entwickelte Bestimmung des Verhältnisses von Literatur und Wissenschaft müsste die Literatur somit als eine Art (intentional verstandenes)72 Sammelbecken für jeweils zeitgenössische Ideen und Theorien fassen, in dem die diversen Versatzstücke des Wissens durch ästhetische Verfahren, durch Assoziationen, Analogien und metaphorische Extensionen vielfältig kombiniert werden. 71

72

Vgl. Albrecht (2011): „Chaos“. Albrecht stellt die ‚Gretchenfrage‘ in Anlehnung an Paul A. Harris in Bezug auf metaphorische Extensionen der Chaostheorie, das heißt, den Versuch, chaostheoretische Konzepte für die literaturwissenschaftliche Beschreibungssprache fruchtbar zu machen. Gemeint ist hier die Auseinandersetzung Novalis’ mit philosophischen und/oder wissenschaftlichen Quellen bzw. ihr philologisch plausibel zu machender Einfluss auf den Dichter im Sinne einer intentionalistischen Konzeption der Beziehung zwischen Literatur und Wissen(schaft), wie in Abschnitt I.3.5 genauer erläutert wird. Nicht gemeint sind die Ansätze, die diese Beziehung in der von Krämer, O. (2010): „Intention, Korrelation, Zirkulation“, vorgeschlagenen Terminologie als ‚Zirkulation‘ auffassen und der Literatur etwa die Fähigkeiten zuschreiben, „das ‚Ungesagte‘ einer Wissensordnung oder das ‚Unbewusste‘ des wissenschaftlichen Wissens sichtbar werden zu lassen“ (ebd., S. 101).

Methodische Überlegungen

19

Dass es eine Linie von den Ideen des 18. zu wissenschaftlichen Theorien des 20. Jahrhunderts gibt, ist damit keineswegs ausgeschlossen, jedoch möchte ich am Beispiel der Mathematik beziehungsweise der vermeintlichen Vorwegnahme der Chaostheorie durch Novalis zeigen, dass eine andere Perspektive auf dieses Phänomen als die einer Antizipation dem Gegenstand angemessener ist. Das bloße „In-Parallele-Setzen“ von Hardenberg’schen Begriffen und Konzepten mit denen der Chaostheorie trifft im besten Fall die Bedeutung der Ersteren nur teilweise, im schlimmsten Fall verstellt und missversteht es diese. Im Gegensatz dazu kann eine quellenkritische und zeitgenössische Kontextualisierung von Novalis’ Texten seine spezifische ästhetische Position innerhalb der Wissensgeschichte markieren. Eine solche dezidiert historisch-literaturwissenschaftliche Behandlung der Novalis’schen Ideen zieht eine klare Trennlinie zwischen dem Aufgabenbereich der Literatur und dem der (gegenwärtigen) Mathematik und Naturwissenschaft, so dass sie sich vor Letzteren nicht verstecken muss, wie dies beispielsweise in der Studie von Dietrich Grohnert insinuiert wird.73 Grohnert vergleicht die Bedeutung des Chaos in Herwig Kippings Film Novalis – Die blaue Blume (1995) mit derjenigen bei Novalis selbst. Er konzentriert sich dabei auf die antike und christliche Tradition des Begriffs, die in Novalis’ triadisches Geschichtsmodell und seine Poetologie des Märchens einfließen. In einer Randbemerkung verweist der Autor darauf, dass sich „der landläufige Begriff des ‚Chaos‘ als des UrsprünglichUngeordneten […] durch die Auffassungen einer modernen Chaostheorie wissenschaftlich relativiert findet“.74 Grohnert formuliert hier eine Variante der whig history of science,75 in der philosophisch-theologische Konzepte durch wissenschaftliche Modelle korrigiert werden, und relativiert damit in einer Art Demutsgeste auch seine eigene, begriffsgeschichtliche Untersuchung gegenüber der ‚richtigeren‘ Konzeptualisierung des Chaos in der modernen Naturwissenschaft und Mathematik. Dies ist eine unbefriedigende, dem Eigenwert des Literarischen nicht angemessene Haltung, die im Rahmen dieser Arbeit revidiert werden soll.

73 74 75

Grohnert (2001): „Chaos und Goldenes Zeitalter“. Ebd., S. 68. Die Bezeichnung geht zurück auf Herbert Butterfields Schrift The Whig interpretation of history (1931), in der er eine bestimmte Art der Geschichtsschreibung kritisiert. Zentrale Aspekte dieser methodischen Überlegungen sind nach Jardine (2003): „Whigs and stories“, S. 134f., bis heute gültig und liefern Maßstäbe für die Wissenschaftsgeschichte: „With Butterfield we surely should reject the hagiographical elevation of past ‚friends of progress‘, the structuring of historical narratives as fated convergences onto present beliefs and institutions, and the uncritical projection of present values onto the past.“

20

Einleitung: Novalis und die Mathematik

I.3.2

Der Begriff des Chaos

Der Begriff des Chaos steht bei Novalis in der antik-philosophischen Tradition (Platon, Ovid, Augustinus) einer „ursprüngliche[n]“, „anfängliche[n] Unordnung der unbestimmten, formlosen Materie“76 beziehungsweise der christlich-religiösen Bedeutung der creatio ex nihilo, die Novalis mit der idealistischen Subjektphilosophie zusammenführt. Walker jedoch setzt den Novalis’schen Begriff des Chaos mit dem von James Gleick beförderten modernen image der Chaostheorie gleich.77 Die klassische Physik, so Walker, „does violence to the earth“,78 wohingegen die Chaostheorie eine angemessenere Beschreibung der Natur liefere. Ebenso liege auch für Novalis der Schlüssel zum Goldenen Zeitalter als harmonisches Verhältnis zwischen Mensch und Natur in einem Konzept von Chaos, das im Sinne des modernen „dynamic paradigm“ zu verstehen sei, insofern es „the agent of both synthesis and dissolution“ sei. Als Beleg für diese These führt Walker einen Blüthenstaub-Auszug an:79 Vor der Abstrakzion ist alles eins, aber eins wie das Chaos; nach der Abstrakzion ist alles wieder vereinigt, aber diese Vereinigung ist eine freye Verbündung selbstständiger, selbstbestimmter Wesen – Aus einem Haufen ist eine Gesellschaft geworden – das Chaos ist in eine mannichfache Welt verwandelt.80

Problematisch an Walkers Interpretation sind zwei Punkte, die schon Mahoney herausstellt: Erstens setze Walker den Begriff des Chaos bei Novalis zu unbekümmert mit seiner modernen mathematisch-naturwissenschaftlichen Konzeptualisierung ineins, „während Chaos hier durchaus dasjenige undifferenzierte Einerlei bezeichnet, das man von seiner begriffsgeschichtlichen Herkunft bei Hesiod und der biblischen Schöpfungsgeschichte her erwarten würde“.81 Zweitens verkenne Walker, dass „nicht das Chaos das verwandelnde Element“ sei, „sondern die Abstraktion“.82 Der Stoßrichtung dieses zweiten Kritikpunkts ist zuzustimmen. Novalis bezeichnet mit Chaos die erste von drei Stationen in seinem umfassend erforschten triadischen Geschichtsmodell, das nicht zuletzt in engem Zusammenhang mit seiner Poetologie des Märchens steht83 und im obigen Zitat auf die Geschichte 76 77

78 79 80 81 82 83

Kurdzialek (1971), „Chaos“, S. 981. Das Buch des Wissenschaftsjournalisten James Gleick (1988): Chaos, hat maßgeblich zur Popularisierung der Chaostheorie beigetragen und ist außerhalb von Mathematik und Naturwissenschaften eine der am häufigsten zitierten populärwissenschaftlichen Darstellungen chaostheoretischer Konzepte. Walker (1993): „Romantic Chaos“, S. 46. Ebd., S. 43, 44. HKA II, S. 455f. (Blüthenstaub Nr. 95). Mahoney (1997): „Hardenbergs Naturbegriff“, S. 111. Ebd. Vgl. AB 234/280f. und dazu nach wie vor einschlägig Mähl (1965): Die Idee des Goldenen Zeitalters.

Methodische Überlegungen

21

der menschliche Gesellschaft bezogen wird: Von einem chaotischen „Haufen“ wandelt sie sich über die „Abstrakzion“ zu einer „Gesellschaft“. Ebenso vollzieht sich nach Novalis auch die Naturgeschichte als „Verwandlung des Chaos in harmonischen Himmel und Erde“ (AB 50/246). Walker verwechselt konsequent das Chaos als Ausgangspunkt dieser utopischen Entwicklung mit deren Motor. Letzterer besteht allerdings auch nicht, wie Mahoney meint, in der Abstraktion, mit der Novalis vielmehr die mittlere Station der triadischen Entwicklung zu bezeichnen scheint: Das Chaos liegt „[v]or der Abstrakzion“, „nach der Abstrakzion ist alles wieder vereinigt“. Dieses mittlere Stadium des Verhältnisses des Ich zur Welt bezeichnet Novalis an anderer Stelle als „polare Tätigkeit“ (AB 214/277). Gemeint ist damit also eine prozessual gedachte, geistige Ordnung der ursprünglichen, chaotischen Einheit der Natur,84 die deren Elemente voneinander isoliert und einander gegenüberstellt, etwa durch die wissenschaftliche Behandlung einzelner Bereiche der Natur. Abgelöst werden soll dieses abstraktanalytische Denken aber schließlich durch die „synthetische Thätigkeit“ (AB 214/277), welche die isolierten Bestandteile wieder zu einer Einheit zusammenfügt – genau dies strebt Novalis mit seinem Enzyklopädistik-Projekt an (vgl. III.2.2 zur Wechselrepräsentationslehre). Die verbindende Kraft ist dabei die Einbildungskraft, wie in IV.1 gezeigt werden soll. Utopisches Ziel ist schließlich das „Vernünftige Chaos – das Chaos, das sich selbst durchdrang“ (AB 234/281) und somit etwa einer idealistischen Gedankenfigur, der ebenfalls utopischen Einholung der Einheit aller Gegensätze durch unendlich wiederholte Reflexion, sehr viel näher steht als dem modernen mathematischen Begriff.85

84

85

Eine analoge Gedankenfigur liegt auch der in den Fichte-Studien entwickelten (utopischen) Selbsterkenntnis nach dem Muster des ordo inversus zugrunde. Vgl. III.2. Das stellt Mahoney (1997): „Hardenbergs Naturbegriff“, S. 113, heraus. Auch Menges (1996): „Romantic Anti-Foundationalism“, verweist auf die Bedeutung des Chaos-Begriffs in der romantischen Identitätsphilosophie, die er jedoch gerade deswegen mit der Chaostheorie engführen zu können glaubt. Dies gelingt ihm, indem er philosophische und wissenschaftliche Theorie auf zwei gemeinsame, allzu simple Grundannahmen reduziert: „(1) There is always order within disorder; and (2) order always arises out of chaos“ (S. 49). Ein ähnlicher Kurzschluss findet sich bei Seyhan (1996): „Fractal contours“, S. 144: „Like Romantic poetics or the imaginary numbers, modern chaos theory, in effect, is or attempts to be a representation of unrepresentability […].“ Nun meint aber die Undarstellbarkeit etwa bei Novalis, dass sich das Selbstgefühl nicht begrifflich fassen lässt, vgl. III.2.2 und III.2.3. Im Gegensatz dazu sind sowohl die imaginären Zahlen als auch die Objekte der fraktalen Geometrie formal eindeutig definierte Begriffe, deren Visualisierungen sich zudem bestenfalls graduell von denen anderer mathematischer Objekte unterscheiden. Denn auch eine natürliche Zahl oder ein dreidimensionales Objekt lassen sich nicht unmittelbar grafisch repräsentieren.

22

Einleitung: Novalis und die Mathematik

I.3.3

Selbstähnlichkeit als Analogie von Mikro- und Makrokosmos und chemische Mischung

Sowohl Walker als auch Mahoney vergleichen die Figurenreihen des Heinrich von Ofterdingen mit einer Iteration, die ein Fraktal erzeugt, und beschreiben das Verhältnis der Binnenmärchen und -gedichte zum gesamten Roman als Selbstähnlichkeit.86 Mathematisch bedeutet Selbstähnlichkeit (oder auch Skaleninvarianz), dass sich etwa bei einem geometrischen Muster in jedem (noch so kleinen) Teil die Struktur des Ganzen in ähnlicher Form wiederfindet. Einige dieser geometrischen Gebilde, etwa die Koch’sche Schneeflocke, werden durch Iterationen erzeugt, das heißt durch rekursive Zahlenreihen, bei denen das jeweils nächste Glied nach einer Rechenvorschrift aus dem vorherigen ermittelt wird. Die metaphorische Extension dieser chaostheoretischen Konzepte, die Walker und Mahoney vornehmen, trifft nun durchaus zentrale Strukturmerkmale des Heinrich von Ofterdingen, nur ließen sich diese eben auch ohne dieses Vokabular, etwa als wechselseitige beziehungsweise sich potenzierende Spiegelungen und Analogien beschreiben, wie es in der Forschung ja auch getan wurde.87 Darüber hinaus können diese Strukturmerkmale mit für Novalis zeitgenössischen Konzepten in Verbindung gebracht werden, was, anders als ihre bloße Benennung, tatsächlich etwas zum Verständnis des Romans beitragen kann. Exemplarisch verwiesen sei hier zum einen auf die philosophische Tradition einer Entsprechung von Makro- und Mikrokosmos, zum anderen auf Bezüge zur Chemie und Mineralogie um 1800. Die Idee einer wechselseitigen Entsprechung von Kosmos und Individuum findet sich in der Frühromantik sowohl in der Philosophie, etwa bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, als auch in der Naturforschung, beispielsweise bei Henrich Steffens und Lorenz Oken.88 Und auch Novalis bezieht seine Überlegungen in einer Brouillon-Notiz explizit auf die Vorstellungen von Makro- und Mikrokosmos: Die Betrachtung des Großen und die Betrachtung des Kleinen müssen immer zugleich wachsen – jene mannichfacher, diese einfacher werden. Zusammengesetzte Data sowohl des Weltgebäudes, als auch des Individuellsten Theils desselben (Macrocosm und Microcosm.) vergrößern

86

87

88

Walker (1993): „Romantic chaos“, S. 51: „Analogies and metaphors in Heinrich von Ofterdingen may be viewed as fractals which have relationships of scale to one another.“ Mahoney (1997): „Hardenbergs Naturbegriff“, erscheint angesichts des „eminent visuellen Charakter[s] der Träume und Märchen im ‚Ofterdingen‘“ Walkers Deutung als „Präfiguration der Computergraphik moderner Chaostheoretiker“ plausibel (S. 110) und er sieht bei den „Figurenkonstellationen […] eine verblüffende Ähnlichkeit mit den ‚fraktalen‘ Figuren der heutigen Chaostheorie“ (S. 115). Vgl. den Forschungsüberblick zur Form des Romans in: Uerlings (1991): Friedrich von Hardenberg, S. 419–431. Vgl. Conger (1922): Macrocosms and Microcosms, S. 79–85. Vgl. zur mittelalterlichen Tradition dieser Vorstellung Sollbach (1995): Mikrokosmos und Makrokosmos.

Methodische Überlegungen

23

sich allmälich durch gegenseitiges Analogisiren – So klärt das Ganze den Theil und der Theil das Ganze auf.89

Die Idee, dass sich die Strukturen des Ganzen in seinen Bestandteilen erhalten, wird darüber hinaus im 18. Jahrhundert auch im Kontext der chemischen Mischung im Unterschied zur organischen Komposition formuliert. So unterteilt Abraham Gottlob Werner in seiner Schrift Von den äußerlichen Kennzeichen der Foßilien die „natürlichen Körper“ der Art ihrer Zusammensetzung entsprechend in zwei „Hauptarten“, erstens die Tiere und Pflanzen, zweitens die Fossilien und die Körper des „meteorischen Reichs“. Erstere sind aus voneinander verschiedenen Organen zusammengesetzt, Letztere aus „einerley Theilen“, so dass man sie nach Belieben zerteilen kann, ohne ihre spezifische Struktur zu zerstören: 90 Ein Foßile […] mag ich, zertheilen wie ich will, ein jeder, ja der kleinste Theil desselben, der nur durch eine mechanische Theilung zu erhalten möglich ist, wird immer noch dasselbe Foßile seyn, denn ein jeder einzelner Theil desselben, und wenn es auch der kleinste ist, hat noch dasselbe Verhältniß, welches alle Theile in ihrer Zusammensetzung hatten.91

Diese Mischung ist charakteristisch für ein Fossil, daher muss die oryktognostische Ordnung nach den äußeren Anzeichen durch die chemische Klassifikation ergänzt werden.92 In Letzterer lassen sich die Mineralien/Fossilien gemäß den „Abänderungen (varietates)“93 in ihren Mischungsverhältnissen entsprechend zu chemischen Verwandtschaftsreihen ordnen. Wie Peter Kapitza herausarbeitet, überträgt Novalis diesen „mineralogischen Verwandtschaftsbegriff[] […] auf die zahlreichen Übergänge und Annäherungsmöglichkeiten im Geistigen“.94 Als einen solchen vom chemisch-mineralogischen Begriff inspirierten „Übergang kann man Novalis’ Mischung von Roman und Märchen im Heinrich von Ofterdingen interpretieren. Die Mischung romanhaftrealistischer und märchenhaft-poetischer Züge soll sich allmählich ganz dem Märchenhaften zuneigen“.95 Diese Lesart ließe sich auf die Figurenreihen des Romanfragments ausdehnen und erfasst das virulente Motiv der kontinuierlichen Übergänge differenzierter als Walkers Hinweis, dass „the fact that so many of the novel’s images are analogies of transition is reminiscent of Feigenbaum’s discovery that all phase transitions follow the same rules – that a certain order emerges from chaos“.96 89 90

91 92 93 94 95 96

HKA III, S. 59 (Großes physikalisches Studienheft). Werner (1785): Von den äußerlichen Kennzeichen, S. 18f., Anm. Werners Schrift erschien erstmals bereits 1774, zitiert wird hier der von Novalis verwendete Nachdruck. Vgl. HKA V, S. 928 (Kommentierte Register). Ebd., S. 20., Anm. Vgl. ebd., S. 22f., Anm. Ebd., S. 24., Anm. Ebd., S. 58. Ebd., S. 93. Walker (1993): „Romantic Chaos“, S. 50.

24

Einleitung: Novalis und die Mathematik

I.3.4

Der „Schmetterlingseffekt“ als Disproportion von Ursache und Wirkung

Das dritte Konzept, auf das ich etwas ausführlicher eingehen möchte, ist die sensitive Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen, der sogenannte Schmetterlingseffekt, der sich etwas allgemeiner fassen lässt als die Disproportion zwischen (kleiner) Ursache und (großer) Wirkung. Diese wird in der Literatur- und Kulturwissenschaft oft interpretiert als Absage an ein deterministisch-mechanistisches Weltbild beziehungsweise an die Kontrollierbarkeit der Natur durch eine instrumentelle Vernunft, die durch eine Art Ehrfurcht vor dem Zufall ersetzt wird. So assoziiert Walker die Sensibilität dynamischer Systeme hinsichtlich einer Änderung der Anfangsbedingungen mit Novalis’ Konzept des Zufalls. Als „expression of the transcendent“ weise dieser eine bemerkenswerte Parallele auf „to the new scientific understanding of chaos as a deterministic system which generates randomness“.97 Allerdings ist die Disproportion von Ursache und Wirkung eine Idee, die nicht erst mit der Chaostheorie aufkommt, sondern bereits zur Zeit Novalis’ explizit formuliert wird, und zwar nicht nur in poetischer Form. Ein Beispiel liefert Jean Le Rond D’Alembert in seiner Abhandlung über Dynamik, einem Text also, den Novalis durchaus gekannt haben könnte. D’Alembert konstatiert hier, dass das Prinzip der Proportionalität von Ursache und Wirkung „für die Mechanik ohne jeden Nutzen und daher aus ihr auszuschliessen ist“.98 Ebenso zieht Novalis an anderer Stelle eine „Umstoßung der Gr[und]gesetze d[er] Mechanik“ (AB 649/387) in Betracht. Das Vorbild dafür ist jedoch kein physikalischmathematisches Konzept, sondern ein medizinisches. Novalis verweist nämlich auf die Erregungslehre des schottischen Arztes John Brown (AB 24/243). Ursache und Wirkung tauchen hier als Reiz und Reaktion des Körpers auf und sind in dieser Theorie nicht notwendig proportional, wie Novalis im Allgemeinen Brouillon notiert: Phys[iologie] (Erreg[ungs]Theor[ie]). Wie ein langanhaltender geringer Reitz doch eine starke Incitation am Ende bewirckt, so auch ein langanhaltender geringer Nichtreitz – Erreggungsruhe – eine starke Schwäche (AB 494/349).

Tatsächlich avanciert diese Disproportion von Ursache und Wirkung bei Novalis zu einem zentralen Charakteristikum der angestrebten Romantisierung der Welt durch den Künstler. Dessen kreatives Potenzial beschreibt Novalis wiederum im Vokabular der 97

98

Walker (1993): „Romantic Chaos“, S. 49. Die von der Chaostheorie betrachteten dynamischen Systeme sind streng deterministisch. Die Dynamik eines deterministischen Systems kann asymptotisch (also über große Zeiträume) den Eindruck von Zufälligkeit erzeugen. Dieser Zufall, der sich aus der Sensibilität gegenüber den Anfangsbedingungen ergibt, erscheint jedoch nur als solcher, weil es nicht möglich ist, die relevanten Faktoren für die Entwicklung eines Systems in ausreichender Exaktheit wahrzunehmen. D’Alembert (1899): Abhandlung über Dynamik, S. 11.

Methodische Überlegungen

25

Erregungstheorie und stellt ihm den mechanisch funktionierenden Geist des „Nichtkünstlers“ gegenüber: Der Hauptunterschied ist der; der Künstler hat den Keim des selbstbildenden Lebens in seinen Organen belebt – die Reitzbarkeit derselben für den Geist erhöht und ist mithin im Stande Ideen nach Belieben – ohne äußre Sollicitation – durch sie heraus zu strömen – Sie, als Werckzeuge, zu beliebigen Modificationen der wircklichen Welt zu gebrauchen – dahingegen sie beym Nichtkünstler nur durch Hinzutritt einer äußren Sollicitation ansprechen und der Geist, wie die träge Materie, unter den Grundgesetzen der Mechanik, daß alle Veränderungen eine äußre Ursache voraussetzen und Wirckung und Gegenwirkung einander jederzeit gleich seyn müssen, zu 99 stehn, oder sich diesem Zwang zu unterwerfen scheint.

Der (ideale) Künstler ist nach Novalis mithin in der Lage, die materiale, „wirckliche[]“ Welt durch seinen Geist zu beeinflussen. Dies ist insofern etwas anderes als die chaostheoretische Sensibilität gegenüber den Anfangsbedingungen, als nicht eine kleine physische Ursache eine große physische Wirkung erzielt, sondern vielmehr die Ursache selbst nicht mehr im materialen Bereich der Mechanik liegt. Physikalisch gesehen müsste man also sogar von einer Wirkung ohne Ursache sprechen – ein Phänomen, das Kant als „Wunder“ bezeichnet.100 Interessant ist, dass sich hier tatsächlich eine Beziehung zum Begriff des Chaos ergibt, verstanden allerdings im christlich-religiösen Sinne der creatio ex nihilo. Diese Schöpfungen aus dem Nichts verweisen für Novalis auf den Bereich des Transzendenten. Als Beispiel führt er mathematische Objekte an: Alles aus Nichts erschaffne Reale, wie z.B. die Zahlen und die abstracten Ausdrücke – hat eine wunderbare Verwandtschaft mit Dingen einer andern Welt – mit unendlichen Reihen sonderbarer Combinationen und Verhältnissen – gleichsam mit einer mathem[atischen] und abstracten Welt an sich – mit einer poëtischen mathem[atischen] und abstracten Welt. (AB 898/440f.)

Neben dem recht allgemeinen mathematischen Gegenstand der Zahlen bezieht sich Novalis hier auf zeitgenössische mathematische Konzepte, mit denen er sich auch an anderer Stelle intensiv auseinandersetzt: die unendlichen Reihen, die im Zentrum der Kombinatorischen Analysis stehen und ein strukturelles Vorbild für Novalis’ poetische ars combinatoria (vgl. III.2.1) wie für die utopische Universalisierung der schöpferischen Einbildungskraft (vgl. IV.1) darstellen.

99 100

HKA II, S. 574 (Anekdoten). Vgl. AA XVIII, S. 320–322 (Metaphysik Zweiter Theil): „Wären Wunder im Raume möglich, so wäre es möglich, daß Erscheinungen geschehen, bei denen nicht Wirkung und Gegenwirkung gleich groß sind“ (S. 320). „Eine Erscheinung in der Zeit ist […] ein Wunder, wenn die Ursache derselben nicht in der Zeit gegeben werden kann, nicht unter den Bedingungen derselben steht“ (S. 321). „Wunder ist eine Begebenheit, deren Grund nicht in der Natur zu finden ist“ (S. 321). Vgl. zur Rolle sogenannter Wunder in der Naturforschung vom Mittelalter bis zur Aufklärung Daston, Park (2002): Wunder.

26

I.3.5

Einleitung: Novalis und die Mathematik

Methodische Folgerungen

In den vorangegangen Abschnitten habe ich exemplarisch vorgeführt, aus welchen Gründen mir bestimmte Modellierungen des Verhältnisses von Literatur und Wissen sowie bestimmte (anachronistische) Zugriffe auf mathematische Theorien im Fall von Novalis problematisch erscheinen. Diese Kritik lässt sich wie folgt positiv reformulieren: Um die aufgezeigten Fehlschlüsse zu vermeiden und stattdessen die Bedeutung der Mathematik für das Denken und Dichten von Novalis literaturwissenschaftlich angemessen nachzuzeichnen, gehe ich erstens von einem hermeneutischen Interpretationsansatz aus. Die Bezugnahmen der Hardenberg’schen Texte auf die Mathematik respektive die Mathematikphilosophie suche ich dementsprechend als eine gezielte Strategie zu rekonstruieren – ein Vorgehen, das Novalis als Wissenschaftler und als Dichter ernst nimmt. Das Verhältnis von poetischem Text und mathematischer Theorie analysiere und interpretiere ich zweitens, indem ich die Texte einem close reading unterziehe und sie im zeitgenössischen Wissenskontext verorte. Die Darstellung dieser Kontexte orientiert sich drittens an den Ergebnissen und Methoden der History of Science. Diese drei methodischen Richtlinien der vorliegenden Studie seien im Folgenden erläutert. Meine Konzeption des Verhältnisses von Literatur und Wissen(schaft) lässt sich gemäß der von Olav Krämer vorgeschlagenen Systematik in Abgrenzung von den Modellen der ‚Korrelation‘ und ‚Zirkulation‘ als intentionalistischer Ansatz und damit als eine Form hermeneutischer Auslegung beschreiben.101 Das heißt, ich bemühe mich, die Beziehungen der Hardenberg’schen Texte auf mathematisches Wissen „durch den Rekurs auf die Kenntnisse und die angenommenen Intentionen des Autors“102 zu erklären. Folglich geht es mir ausschließlich um mathematische Konzepte und Entwicklungen, von denen „nachzuweisen oder zumindest plausibel zu machen“103 ist, dass Novalis sie gekannt hat. Solche Bezugnahmen auf die Mathematik und die Mathematikphilosophie finden sich bei Novalis je nach Textart vor allem in zwei Varianten: In den theoretischen Notizen etwa des Allgemeinen Brouillon, in denen Novalis erkenntnistheoretische oder poetologische Fragestellungen reflektiert, werden mathematische und mathematikphilosophische Begriffe, Methoden oder Theorien explizit zum Thema gemacht. In der poe101

Krämer, O. (2011): „Intention, Korrelation, Zirkulation“. Einen Versuch, das Feld zu ordnen, legt auch Pethes (2004): „Poetik/Wissen“, vor. Vgl. zum Verhältnis von Literatur und Wissen in systematischer Perspektive Danneberg, Spoerhase (2011): „Wissen in Literatur“, sowie speziell für die Zeit nach der Aufklärung: Klinkert (2010): Fiktionen. 102 Krämer, O. (2011): „Intention, Korrelation, Zirkulation“, S. 80. Vgl. zur kritischen Rekonstruktion des hypothetischen Intentionalismus: Spoerhase (2007): „Intentionalismus“. Gemäß der von Spoerhase vorgeschlagenen Systematik nehme ich in der vorliegenden Studie hermeneutisch wahrscheinliche Intentionszuschreibungen vor, indem ich ausgehend von einer realistischen Position faktische Intentionen, die historisch tatsächlich realisiert wurden, nachzeichne. 103 Krämer, O. (2011): „Intention, Korrelation, Zirkulation“, S. 81.

Methodische Überlegungen

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tischen Praxis hingegen, etwa im Klingsohr-Märchen, entwirft Novalis „Teile der fiktionalen Welt“ in Anlehnung an mathematische Theorien, ohne dass diese selbst „innerhalb des literarischen Textes zum Thema gemacht würden“.104 Dem intentionalistischen Ansatz entsprechend, sind das Aufzeigen und die Analyse von Quellen sowie die Rekonstruktion von Wissenskontexten, auf die Novalis sich bezieht, wichtige Leistungen der vorliegenden Arbeit. Jedoch erschöpft sich die Studie nicht im Nachzeichnen zeitgenössischer mathematischer und mathematikphilosophischer Einflüsse. Vielmehr werde ich die „Frage danach, was der Autor kannte und benutzte“, mit der Frage verknüpfen, „wie und wozu der Autor die ihm bekannten Theorien, Konzepte oder Verfahrensweisen in seinen literarischen Werken gebrauchte“:105 Nicht Novalis als Mathematiker oder Mathematikphilosoph, sondern sein spezifisch ästhetischer Umgang mit diesen Gebieten steht im Zentrum meines Forschungsinteresses. Entsprechend werde ich zwar darauf hinweisen, wenn Novalis sich von seinen Quellen entfernt. Jedoch bewerte ich seine Texte nicht danach, ob sie etwa mathematisch richtig oder falsch sind, sondern auf welche Weise Novalis die Quellen verarbeitet, umdeutet und für seine Poetik und Poesie fruchtbar macht. Die Besonderheiten dieses ästhetischen Umgangs erschließen sich nur durch den genauen, literaturwissenschaftlich geschulten Blick auf die Texte selbst, der zugleich mathematikhistorisch informiert ist. Die Darstellung und Analyse der für Novalis relevanten, zeitgenössischen mathematischen und mathematikphilosophischen Kontexte ist den Prinzipien der Neutralität (impartiality) und Symmetrie (symmetry) verpflichtet, die David Bloor als Maßstab für eine Soziologie der Wissenschaften gefordert hat:106 Ein angemessener Umgang mit einer Wissenschaft und ihrer Geschichte ist demnach erstens „impartial with respect to truth and falsity, rationality or irrationality, success or failure. Both sides of these dichotomies require explanation.“107 Zweitens ist er „symmetrical in its style of explanation. The same types of cause would explain, say, true and false beliefs“.108 Dies gilt

104

Ebd., S. 82. Ebd., S. 83. 106 Bloor (1991): Knowledge and Social Imagery, S. 7, nennt insgesamt vier grundlegende Prinzipien einer Soziologie der Wissenschaften. Neben Objektivität und Symmetrie sind dies Kausalität (causality) und Reflexivität (reflexivity). 107 Ebd. 108 Ebd. Initiiert wurde diese „historiographische Revolution in der Untersuchung der Wissenschaft“ nicht zuletzt durch Thomas Kuhns Arbeit The Structure of Scientific Revolutions (1962), in der er im Hinblick auf ein angemessenes methodisches Vorgehen der Wissenschaftshistoriker festhält: „Anstatt die beständigen, heute noch wertvollen Beiträge einer älteren Wissenschaft zu suchen, bemühen sie sich, die Ausgewogenheit jener Wissenschaft in ihrem eigenen Zeitalter darzulegen.“ Kuhn (2003): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 17. 105

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Einleitung: Novalis und die Mathematik

natürlich umso mehr für den kulturwissenschaftlichen Umgang mit der Wissenschaftsgeschichte.109 Praktisch heißt das, dass ich mich in den mathematikhistorischen Passagen um die Rekonstruktion der jeweils zeitgenössischen mathematischen Perspektive bemühe und auf retrospektive Zuschreibungen und Wertungen weitgehend verzichte. So präsentiere ich etwa die Kombinatorische Analysis nicht als ‚Irrweg‘, weil sie sich letztlich als mathematische Universalmethodik nicht behaupten konnte, sondern als im 18. Jahrhundert hochaktuelle Theorie. Mitunter werde ich zwar auf die weitere Entwicklung der behandelten mathematischen Konzepte verweisen oder mathematische Begriffe aus dem 18. Jahrhundert in die Terminologie der Gegenwart – soweit dies überhaupt möglich ist – ‚übersetzen‘. Dies dient aber lediglich der Information und dem leichteren Verständnis des mathematischen Gegenstandsbereichs, der für die vorliegende Arbeit grundlegend ist, aber nicht zum gängigen literaturwissenschaftlichen Wissensrepertoire gehört. Folgt man der von Lorraine Daston zugespitzten Unterscheidung zwischen den Science Studies und der History of Science, so schließe ich mit dem Bestreben, „to understand the science of the past in its own terms“, an Letztere an.110 Ebenso denkbar wäre eine diskurshistorische Hinführung, doch da die von Novalis aufgegriffenen mathematischen und mathematikphilosophischen Konzepte klar umrissen sind und sich ihre 109

Im Hinblick auf die Mathematik geht es in etwas abgeschwächter Form eher um die neutrale und symmetrische Beschreibung von aktuellen und nicht aktuellen Theorien, denn mit Corry (1989): „Linearity and Reflexivity“, S. 419, ist festzuhalten: „A new mathematical theory may lead to the abandonment of an older by making it appear uninteresting or perhaps superfluous, but never wrong.“ Zur Frage, ob der Mathematik daher auch aus wissenschaftssoziologischer Sicht ein Sonderstatus zukommt, gibt es unterschiedliche Positionen. So argumentiert etwa Bloor (1991): Knowledge and Social Imagery, S. 84: „[T]here is nothing obvious, natural or compelling about seeing mathematics as a special case which forever defy the scrutiny of the social scientist.“ Im Unterschied dazu argumentiert Heintz (2000), Innenwelt der Mathematik, S. 27: „Anstatt die Mathematikgeschichte mühsam nach Hinweisen auf ‚alternative‘ Mathematiken zu durchforsten, würde es sich jedoch empfehlen, die Universalität der Mathematik zur Kenntnis zu nehmen und nach Mechanismen zu suchen, die dafür verantwortlich sind.“ Vgl. einschlägig zur Frage nach der Universalität der mathematischen Wahrheiten und der Möglichkeit mathematischer ‚Revolutionen‘ Crowe (1975): „Patterns of Change in the History of Mathematics“, ders. (1988): „Ten Misconceptions“, Mehrtens (1976): „Kuhn’s Theories and Mathematics“, sowie den Sammelband von Gillies (1995): Revolutions in Mathematics. 110 Daston (2009): „Science Studies“, S. 802. Nach Daston zeichnen sich die Science Studies durch einen ideologiekritischen Zugang zur Wissenschaft und eine eklektische Methodenvielfalt aus, wohingegen die History of Science ein historisches Interesse verfolge und sich methodisch an der Geschichtswissenschaft orientiere. Wenngleich Dastons Klassifizierungen teilweise etwas überspitzt erscheinen und ihre Zuordnungen nicht immer zu überzeugen vermögen, ist die Differenzierung doch als analytisches Instrumentarium hilfreich. Vgl. alternativ zu einer integrativeren Sichtweise auf das Forschungsfeld Biagioli (2009): „Postdisciplinary Liaisons“.

Methodische Überlegungen

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Herkunft, verfügt man über das mathematikhistorische Kontextwissen, unschwer identifizieren lässt, liefert ein ideengeschichtlicher Zugang bereits eine geeignete Grundlage. Wollte man die Untersuchung über Novalis hinaus ausdehnen und etwa einen Vergleich zu anderen, zeitgenössischen Relationierungen von Mathematik und Dichtung vornehmen, ließe sich der Ansatz sicherlich gewinnbringend diskursanalytisch erweitern. Diese Studie aber versteht sich als Fallstudie, die den Umgang eines einzelnen Autors mit einem bestimmten Wissensgebiet wissenshistorisch rekonstruiert und literaturwissenschaftlich deutet, ohne daraus schon eine generelle These über das Verhältnis von Literatur und Wissen um 1800 insgesamt abzuleiten. Für derartige Bemühungen kann die vorliegende Arbeit gleichwohl als ein Baustein dienen, der aber durch weitere Einzelstudien zu ergänzen und mit ihnen zu kontrastieren wäre.

II.

Kontexte

II.1 Biografischer Kontext: Hardenbergs mathematische Ausbildung Novalis’ mathematische Reflexionen wurden in der Forschung lange als Dilettantismus ohne wesentliche Bedeutung für das dichterische und philosophische Werk abgetan. Eingehendere Studien sowie die kritische und umfassende Edition von Novalis’ Schriften haben, so wurde in Kapitel I.1 dargelegt, zur Revision dieser Einschätzung geführt. Entsprechend attestieren maßgebliche Einführungen in Leben und Werk Novalis fundierte Kenntnisse in der zeitgenössischen Mathematik und betonen ihren Einfluss auf seine theoretischen und dichterischen Schriften.1 Eine bedauerliche Ausnahme bilden die beiden jüngsten Biographien von Gerhard Schulz und Wolfgang Hädecke aus dem Jahr 2011, in denen Novalis’ Beschäftigung mit der Mathematik lediglich beiläufig erwähnt, ihre Bedeutung für sein Denken gar nicht expliziert wird.2 Diese Vernachläs1

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Vgl. Uerlings (1991): Friedrich von Hardenberg, S. 178f.: „Die Mathematik hat Hardenberg von seiner Leipziger Zeit an bis zu seinem Tode beschäftigt, mit einer Kontinuität also, wie sonst nur noch die Philosophie. […] In der Forschung ist heute unstrittig, daß mathematische oder aus der Mathematik entwickelte Denkmodelle für die Struktur von Hardenbergs Denken und Schreiben eine entscheidende Rolle spielen. Ferner steht […] fest, daß Hardenbergs mathematisches Wissen etwa auf der Höhe dessen war, was man am Ende des 18. Jahrhunderts wissen konnte.“ Vgl. ebenso Uerlings (1998): Novalis, S. 59. Auch Wanning (1996): Novalis, S. 145, konstatiert, „daß Novalis mit zu seiner Zeit modernen mathematischen Methoden durch sein Studium vertraut war“ und verweist auf deren „modellbildende Funktion in erkenntnistheoretischer, aber auch in ästhetischer Hinsicht.“ Ähnlich nennt auch Mahoney (2001): Hardenberg, S. 57, die Mathematik als explizites Studieninteresse Hardenbergs während seiner Freiberger Zeit und charakterisiert sie als „integralen Bestandteil seines ästhetischen Programms“ (S. 81). Im Gegensatz zur stiefmütterlichen Behandlung der Mathematik gehen Hädecke und Schulz auf Novalis’ naturwissenschaftliche Kenntnisse und Reflexionen durchaus ein, schließen dabei jedoch in der Tendenz an die in Kapitel I vorgestellte Stilisierung Novalis’ zum wissenschaftlichen Vor-

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Kontexte

sigung ist bei Schulz umso erstaunlicher, als mit seinen vorangehenden Arbeiten maßgebliche Rekonstruktionen von Hardenbergs Ausbildung vorliegen,3 die zwar während der Freiberger Zeit vor allem dessen geologische Studien in den Blick nehmen, die Mathematik aber durchaus als „Wissensstoff“ benennen, den Hardenberg in Vorlesungen kennengelernt und mit dem er sich insbesondere auch im Hinblick auf „die methodische und ideelle Vertiefung seines Enzyklopädieplanes“ auseinandergesetzt hat.4 Diese Hinweise sind in der Forschung weiterverfolgt worden, so dass Novalis’ mathematische Bildung insgesamt mittlerweile gut aufgearbeitet ist. Sie soll daher hier in Anlehnung an die einschlägigen Studien von Richard Samuel, Gerhard Schulz und Martin Dyck nur skizziert, dabei zugleich aber für die Fragestellungen dieser Arbeit präzisiert werden.5 Das Kapitel stellt Novalis’ Beschäftigung mit den mathematischen Gebieten vor, die für die folgenden Kapitel der vorliegenden Arbeit von Bedeutung sind, und erläutert den biographischen Kontext ihrer Entstehung. Darüber hinaus soll die für Novalis zeitgenössische institutionelle Verankerung der Mathematik umrissen werden, da sie sich deutlich von der heutigen Situation unterscheidet. Novalis’ Beschäftigung mit der akademischen Mathematik jenseits des Schulniveaus erfolgt in drei Phasen. Erstmals kommt er wohl während seiner Leipziger Studienzeit von 1791 bis 1793 mit der Mathematik, insbesondere der Kombinatorischen Analysis, in Berührung (II.1.1). Zweitens ist die philosophische Auseinandersetzung mit der Mathematik ein Bestandteil seiner eigenständigen Studien zu Fichte, Kant und Hemsterhuis in den Jahren 1795 und 1796 (II.1.2). Schließlich folgt die Studienzeit an der Freiberger Bergakademie als intensivste Phase in Novalis’ Aneignung mathematischer Inhalte. Hierher gehört vor allem auch die Beschäftigung mit der Infinitesimalrechnung (II.1.3).

II.1.1 Leipziger Studienzeit (1791–1793) Novalis, der mit Geburtsnamen Friedrich von Hardenberg heißt,6 immatrikuliert sich erstmals im Oktober 1790 an der Universität Jena für Philosophie und Geschichte. Glaubt man Friedrich Schlegel, so hat Hardenberg hier „die schönen Geister und Philosophen wohl gekannt“, ist jedoch „in Jena auch ganz Student gewesen und hat sich wie

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denker an: Nach Hädecke (2011): Novalis, S. 174, hat Novalis den „Sieg“ der „meßbaren Naturwissenschaften“ über „Naturphilosophie und Naturgeschichte […] vorausgeahnt“. Nach Schulz (2011): Novalis, S. 128, war Novalis „nicht nur Naturwissenschaftler auf der Höhe seiner Zeit, sondern manchen ihrer Erkenntnisse oft voraus“. Schulz (1963): „Berufslaufbahn“, und Schulz (1983): „Einleitung“ Schulz (1963): „Berufslaufbahn“, S. 269, 274. Vgl. Samuel (1929): „Werdegang“, und Schulz (1963): „Berufslaufbahn“. Vgl. dazu Anm. 6 in der Einleitung.

Biografischer Kontext

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ich höre oft geschlagen.“7 Nach einem Jahr wechselt Hardenberg an die Universität Leipzig. Wie er in einem Brief an Reinhold schreibt, will er nach einer gänzlich veränderten Lebensordnung dort zu leben anfangen. Jurisprudenz, Mathematik und Philosophie sollen die 3 Wissenschaften seyn, denen ich diesen Winter mich mit Leib und Seele ergeben will und im strengsten Sinne ergeben. Ich muß mehr Festigkeit, mehr Bestimmtheit, mehr Plan, mehr Zweck mir zu erringen suchen und dis kann ich am leichtesten durch ein strenges Studium dieser 3 Wissenschaften erlangen. Seelenfasten in Absicht der schönen Wissenschaften und gewissenhafte Enthaltsamkeit von allem zweckwidrigen hab ich mir zum strengsten Gesetz gemacht.8

Auffällig ist zunächst, dass Novalis eine Verbindung zwischen dem Inhalt seiner Studien und seiner Lebensweise herstellt. Die Beschäftigung mit Recht, Mathematik und Philosophie wird gleichgesetzt mit einem disziplinierten und zielgerichteten Alltag, der sich von der Zeit in Jena deutlich unterscheiden soll. Die Zusammenstellung dieser Wissenschaften scheint dadurch motiviert, dass ihre jeweiligen Argumentationen formal strengen Regeln genügen:9 die Gesetzestexte in der Jurisprudenz, die logischen Schemata in der Philosophie und die eindeutige Schlussweise in der Mathematik. Die juristischen, philosophisch-scholastischen und mathematischen Begriffe lassen keinen Raum für Phantasie und Spekulation, Novalis sieht das geplante Studium dementsprechend als ein „Seelenfasten“, somit bewusst als einen Gegenentwurf zur Hingabe an die „schönen Wissenschaften“, die wohl auch die Literatur einschließen. Dieser Gedankengang zeugt vom Gefühl einer – um im Bild zu bleiben – ‚Übersättigung‘ durch schöngeistige Inhalte. Allerdings hat Hardenberg seine strikte ‚Diät‘ nicht eingehalten und ist im Verlauf seiner Studien auch der Mathematik überdrüssig geworden.10 Wie bei den schönen Wissenschaften und der Literatur bleibt dieser Überdruss aber stets ein temporärer. Auffällig an Hardenbergs Zusammenstellung seiner Studienfächer an der Leipziger Universität ist darüber hinaus, dass er die Mathematik eigens und explizit erwähnt. Denn diese stand im 18. Jahrhundert an der Universität nicht gleichberechtigt neben anderen Fächern; sie zählte vielmehr zu den sieben freien Künsten, die vorbereitendes Allgemeinwissen vermittelten. Die Mathematik war in diesem Zusammenhang in erster Linie eine Methode der Berechnung und geometrischen Modellierung und wurde nicht 7

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HKA IV, S. 572 (Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel, Januar 1972, S. 571f.). Vgl. zum Einfluss der Jenaer Zeit auf Novalis’ Weltanschauung Schweigard (2003): „Jenaer Studienzeit“. HKA IV, S. 97 (Hardenberg an Karl Leonhard Reinhold, 05. Oktober 1791, S.91–98). Vgl. HKA II, S. 393 (Kant und Eschenmayer-Studien): „Rechtslehre und reine Mathematik haben keine besondre Methodenlehre nöthig – weil beyde, an sich schon streng bestimmend sind […].“ So schreibt Hardenberg etwa: „Ich bin froh, daß ich durch diese Spitzberge der reinen Vernunft durch bin […].“ Zwar seien „Uebung des Scharfsinns und der Reflexion […] unentbehrlich“, aber „Mathematik allein wird keinen Soldaten und Mechaniker, Philosophie allein keinen Menschen machen.“ HKA IV, S. 321 (Novalis an den Kreisamtmann Just in Tennstedt, Februar 1800, S. 321– 323).

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Kontexte

als eigenständige und vollwertige Wissenschaft gelehrt. Ein Hauptfachstudium war damals noch nicht möglich. Traditionell wurden als eigentliche Studienfächer Jurisprudenz, Theologie, Medizin und später auch Philosophie angeboten, für welche die Mathematik allenfalls eine propädeutische Rolle spielte.11 Aktuelle naturwissenschaftlichtechnische und mathematische Forschung hatte ihren Ort nicht an der Universität,12 sondern vor allem an den Akademien. Die zeitgenössisch wichtigen Mathematiker waren eher dort tätig als an den Universitäten. So überstieg die universitäre Lehre der Mathematik nur selten ein elementares Niveau. Als Hardenberg im Jahr 1791 an die Universität Leipzig kam, entsprach die Situation dort auf den ersten Blick der allgemeinen Lage. Die Mathematik zählte hier seit Gründung der Universität im Jahre 1409 zum Fächerkanon, zunächst jedoch als der philosophischen Fakultät untergeordnetes Ordinariat. Sie wurde vor allem in Verbindung mit der Astronomie gelehrt, also auch hier im Wesentlichen als Kunst der Berechnung. Einen eigens spezialisierten Dozenten gab es nicht, vielmehr musste jeder Magister turnusmäßig alle sieben freien Künste lehren: „Die Verteilung der Lehraufgaben im Lehrkörper wechselte […] von Semester zu Semester und es war mehr dem Zufall überlassen, wer gerade die Mathematik zu behandeln hatte […].“13 Jedoch traten einerseits zum Ende des 18. Jahrhunderts einige Änderungen ein. Im Zuge einer zunehmenden Wertschätzung von Naturwissenschaften und Mathematik löste sich Letztere, wenn nicht aus ihrer Unterordnung unter die Philosophie, so doch aus ihrer engen Verbindung mit der Astronomie: „Seit etwa 1780 konnte sich der Mathematiker ausschließlich auf sein eigentliches Fach konzentrieren […].“14 Hardenberg hatte darüber hinaus das Glück, dass während seiner Leipziger Studienzeit Carl Friedrich Hindenburg für die mathematischen Vorlesungen zuständig war. Hindenburg verfügte über einen weiten Bildungshintergrund; insbesondere war er aber selbst in der mathematischen Forschung aktiv. Er gilt als Begründer der Kombinatorischen Analysis, zu der er mehrere Lehrbücher veröffentlichte. Ab 1795 gab er außerdem die Zeitschrift Archiv der reinen und angewandten Mathematik heraus (vgl. dazu ausführlich III.4.1).15 Er partizipierte also aktiv an der aktuellen zeitgenössischen Forschung und wird, so steht zu vermuten, entsprechend in seinen Vorlesungen auch Ergebnisse und Methoden seiner eigenen mathematischen Arbeit vermittelt haben. Mit Martin Dyck ist anzunehmen, dass Hardenberg Hindenburgs Vorlesungen besucht hat.16 Dies lässt sich zwar nicht zweifelsfrei belegen, erscheint aber plausibel aufgrund Hardenbergs expliziter Absicht, sich in Leipzig mit der Mathematik zu be11

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Vgl. zur disziplinären Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften Stichweh (1984): Entstehung, sowie speziell zur Mathematik in systemtheoretischer Perspektive Maaß (1988): Soziales System. Vgl. Krause, K. (2003): Universität Leipzig, S. 97: „Die Beschäftigung mit technischem Wissen vollzog sich so außerhalb der Mauern der Universität.“ Ebd., S. 155. Ebd. Ebd., S. 98f. Vgl. zur Entstehung dieser Zeitschrift im Kontext einer zunehmenden disziplinären Eigenständigkeit der Mathematik Bullynck (2008): „German mathematical Journal“. Dyck (1960): Novalis and Mathematics, S. 27.

Biografischer Kontext

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schäftigen. Unabhängig von einer persönlichen Bekanntschaft war Hardenberg im Besitz wesentlicher Werke der von Hindenburg begründeten Kombinatorischen Schule.17 Dass er diese auch rezipiert hat bzw. mit dem Inhalt vertraut war, belegen Exzerpte daraus und Verweise auf die Kombinatorische Analysis, die in Kapitel III.4 der vorliegenden Arbeit behandelt werden.

II.1.2 Selbstständige Zwischenstudien (1794–1796) Nach Abschluss seines Studiums im Jahr 1794 folgt für Hardenberg eine Phase der praktischen beruflichen Tätigkeit. Er beginnt zunächst eine Ausbildung zum Verwaltungskaufmann, um in den preußischen Staatsdienst einzutreten. Auf einer Dienstreise lernt er die zwölfjährige Sophie von Kühn kennen und verlobt sich mit ihr. Um sie heiraten zu können, ändert er seine beruflichen Pläne. Nach einem Schnellkurs in Chemie und Salzwerkskunde tritt er 1796, vermittelt durch seinen Vater, eine Anstellung bei der kursächsischen Salinendirektion an. Während dieser Zeit beschäftigt sich Hardenberg privat unter anderem mit den Philosophien von Johann Gottlieb Fichte, Immanuel Kant und Frans Hemsterhuis. Auch hier spielt die Mathematik eine Rolle. In seinen Exzerpten aus den Schriften der genannten Philosophen finden sich immer wieder Kommentare zur Mathematik, sowohl zu ihrer Bedeutung für die Wissenschaft allgemein als auch zu speziellen Inhalten. So hat sich Hardenberg zum Beispiel mit der Kant’schen Zuordnung der Mathematik zur reinen Anschauung auseinandergesetzt18 und exzerpiert bereits zu diesem Zeitpunkt eine Definition der Infinitesimalrechnung,19 einer der zentralen Theorien für seine spätere These von der grundlegenden erkenntnistheoretischen Funktion der Mathematik, deren Kenntnis er in Freiberg schließlich systematisch vertiefen wird. Wesentlich ist, dass Hardenberg auch in dieser Phase kein ausschließlich inhaltliches Interesses an Mathematik respektive Metamathematik20 hat, sondern die Auseinandersetzung mit ihr wiederum eine lebenspraktische Funktion für ihn übernimmt. So schreibt er im Februar 1797 an seinen schon damals sehr kranken Bruder Erasmus und ermuntert ihn:

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Vgl. dazu Eintrag 126 und 131 der Bücherliste II, HKA IV, S. 699. Vgl. etwa HKA II, S. 390 (Kant- und Eschenmayer-Studien): „Nach Kant bezieht sich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft auf die Formen der äußern Sinnlichkeit […].“ Vgl. etwa das Exzerpt aus J.S.T. Gehlers Physikalischem Wörterbuch (1790) in HKA II (Hemsterhuis-Studien), S. 360: „Die Rechnung des Unendlichen findet aus der Vergleichung zwischen veränderlichen Größen die Vergleichung zwischen den Geschwindigkeiten, mit denen sie sich ändern /Different[ial]rechn[ung]/ oder umgek[ehrt] aus dieser Vergleichung jene /Integr[al]Rechn[ung]./“ Ich verwende den Terminus ‚Metamathematik‘ als generisches Analogon zum Begriff der Metaphysik, das das philosophische Nachdenken über die Mathematik meint und nicht die formale Begründung der Mathematik mit ihren eigenen Mitteln im Sinne David Hilberts.

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Kontexte Dein Entschluß Algebra zu studiren, ist gewiß sehr heilsam. Die Wissenschaften haben wunderbare Heilkräfte – wenigstens stillen Sie, wie Opiate, die Schmerzen und erheben uns in Sfären, die ein ewiger Sonnenschein umgiebt.21

Dass auch für Hardenberg selbst die Mathematik in Zeiten großer psychischer Belastung zu einer mentalen Stütze wird, belegen Kalendereintragungen vom Januar 1797, also knapp zwei Monate vor dem Tod seiner geliebten Verlobten Sophie von Kühn. Ihr Gesundheitszustand hat sich in dieser Zeit schon sehr verschlechtert,22 hinzu kommen ebenso berechtigte Sorgen um den Gesundheitszustand des Bruders Erasmus sowie eine schmerzhafte Handverletzung, kurz: „Die Verdrießlichkeiten haben nicht abgerissen […].“23 Die wohl aufgrund eines verletzten Fingers24 sehr spärlichen, stichwortartigen Eintragungen zu eigenen Studien, beruflichen Erledigungen und Korrespondenzen nennen an erster Stelle immer wieder „Math[ematik]“.25 Die Beschäftigung mit ihr scheint Hardenberg zumindest zeitweise von seinen Sorgen abgelenkt zu haben; entsprechend fährt er im Brief an den Bruder fort: Ohne diesen Trost wollt ich und könnt ich nicht leben. Wie hätt ich ohne Sie [die Wissenschaften, F.B.] seit 1½ Jahren so gelassen S[ophiens] Kranckheit zusehn, und außerdem so manchen Verdrießlichkeiten ausgesezt seyn können. Es mag mir begegnen, was will; die Wissenschaften bleiben mir – mit Ihnen hoff ich alles Ungemach des Lebens zu bestehn.26

Der Hinweis auf die lebenspraktische Funktion der Wissenschaften, insbesondere der Mathematik, sollte aber den Blick auf die Tatsache nicht verstellen, dass Novalis in dieser Zeit der selbstständigen Studien durchaus ernst zu nehmende geistige Arbeit leistet und hier den Grundstein für seine später entwickelte Enzyklopädistik und Synthese aller Wissenschaft legt. Ebenso ernst nimmt Hardenberg seine praktische Arbeit, auch nach dem Tode Sophies hält er an seiner Laufbahn als Salinenbeauftragter fest. Da dafür ein fundierteres Wissen notwendig war, als es der Schnellkurs vermitteln konnte, schrieb er sich 1797 an der Bergakademie Freiberg ein, wo er „seine Kenntniße in der Mathematic und Chemie […] weiter fortzusetzen wünscht“.27 In der Freiberger Zeit fand denn auch der systematischste und gründlichste Teil der mathematischen Ausbil21 22

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HKA IV, S. 202f. (Novalis an den Bruder Erasmus in Zillbach, 26. Februar 1797, S. 202–204). Vgl. etwa HKA IV, S. 197 (Novalis an Caroline Just in Tennstedt, 20. Januar 1797, S. 197f.): „Mit Söffchen gieng es rückwärts […].“ Ebd. „Früh den Finger gebrochen“, notiert Hardenberg am 4. Januar 1797 in seinen Kalender (HKA IV, S. 26), eine Verletzung, die ihm das Schreiben einige Zeit erschwert, vgl. HKA IV, S. 197 (Novalis an Caroline Just in Tennstedt, 20. Januar 1797, S. 197f.): „Meine Hand thut mir nur noch weh, wenn ich sie länger anstrenge […] sonst schriebe ich Ihnen mehr.“ HKA IV, S. 26f. (Kalenderereintragungen). HKA IV, 202f. (Novalis an den Bruder Erasmus in Zillbach, 26. Februar 1797, S. 202–204). HKA IV, S. 611 (Heinrich Ulrich Erasmus von Hardenberg an den Kurfürsten Friedrich August III. in Dresden, 31. Oktober 1797, S. 611).

Biografischer Kontext

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dung von Hardenberg statt. Uerlings sieht in der Freiberger Bergakademie aber auch zu Recht „die Geburtsstätte des Romantikers Novalis“.28 Dies liegt natürlich einerseits in den Erfahrungen und im Talent des Dichters begründet, die hier ihre Wirkung entfalten, zum anderen aber auch in der besonderen Atmosphäre der Bergakademie.

II.1.3 Freiberger Studienzeit (1797–1799) Die Freiberger Bergakademie wurde 1765 mit dem Ziel einer systematischen Ausbildung kursächsischer Bergleute gegründet. Diese Aufgabe konnten die damals existierenden Universitäten nicht erfüllen, da hier, wie schon erwähnt, vor allem Theologie, Philosophie, Philologie und Jura gelehrt wurden.29 Die Gründung einer Institution, die sich ausschließlich einer konkreten technisch-naturwissenschaftlichen Ausbildung widmete, war etwas vollkommen Neues; die Bergakademie Freiberg ist denn auch eine der ersten technischen Hochschulen der Welt.30 Hervorzuheben ist, dass dort Forschung und Lehre gleichermaßen betrieben wurden, was im 18. Jahrhundert keineswegs selbstverständlich war. Die Ausgangssituation für die Gründung der Bergakademie begünstigte diese Zusammenarbeit, insofern es gerade darum ging, langjährige, konkrete Erfahrungen im Bergbau einerseits als empirische Grundlage für eine methodische und umfassende Erforschung zu nutzen, andererseits den angehenden Bergleuten dieses Wissen systematisch und anschaulich zu vermitteln. Wesentlich für das offene und progressive wissenschaftliche Klima in Freiberg waren darüber hinaus renommierte Lehrende wie Abraham Gottlob Werner und Johann Friedrich Wilhelm von Charpentier sowie die Tatsache, dass die Akademie nicht stur an ihren Gründungsbedingungen festhielt. Sie öffnete sich stattdessen auch für Studenten, die keine Anwärter auf den sächsischen Bergmannsberuf waren, sondern sich, wie Hardenberg, aus anderen Gründen für die Montanwissenschaften interessierten. Diese mussten, anders als die kursächsischen Stipendiaten, für die besuchten Lehrveranstaltungen bezahlen und waren nicht an einen festen Studienplan gebunden.31 Diese akademische Freiheit nutzte auch Hardenberg, der hier von Dezember 1797 bis April 1799 immatrikuliert war. Begründet durch die montanwissenschaftliche Ausrichtung ist zu Hardenbergs Zeit ein Fachstudium der Mathematik in Freiberg nicht möglich; auch hier ist die Mathematik eine Hilfswissenschaft, die, da sie zum Beispiel für die Vermessung und Kartographie von Bedeutung ist, jedoch inhaltlich systematischer als etwa in Leipzig in den Studienplan integriert war. Explizit sieht dieser unter anderem „allgemeine[n] Unterricht“ in den zur „Beybringung Bergmännischer Kenntnis […] eine systematische Anleitung gebenden Hülfs-Wissenschaften“ vor. Daher werden „über die reine Mathema28 29 30 31

Uerlings (1998): Novalis, S. 44. Vgl. Hoffmann (1959): Bergakademie, S. 33f. Vgl. ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 51.

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Kontexte

tic, als Rechen-Kunst, Meßkunst und Winckel-Meßkunst […] öffentliche Vorlesungen gehalten“, ferner steht die „Anweisung zur Fertigung geometrischer und perspectivischer Zeichnungen“ auf dem Lehrplan.32 Hardenberg war, wie herausgestellt wurde, als er an die Bergakademie kam, durchaus schon vertraut mit mathematischen Themen. Neu war in Freiberg die intensive und systematische Einführung in die Mathematik. Zu Beginn erlebte Hardenberg zwar die Frustration eines Studienanfängers, schrieb er doch im Februar 1798 an August Wilhelm Schlegel, er sei „wahrhaft entschlossen die Mathematick künftig sehr verächtlich zu behandeln, weil sie mich, wie einen AbcSchützen, behandelt“.33 Jedoch gab Hardenberg angesichts der anfänglichen Schwierigkeiten nicht auf, sondern nahm zusätzlich zu den regulären Mathematikvorlesungen Stunden bei einem französischen Bergstudenten, Jean-François d’Aubuisson de Voisins – eine sowohl zeitliche als auch finanzielle Investition, die dazu führte, dass die Frustration einem gewissen Ehrgeiz und Wissensdurst auf dem Gebiet der Mathematik Platz machte. Dass Hardenberg Fortschritte in der Mathematik machte, ist neben seinen eigenen Anstrengungen vor allem auch den pädagogischen Fähigkeiten seines Nachhilfelehrers und weniger Johann Friedrich Lempe, dem Professor für Mathematik und Physik, zu verdanken. So schreibt Hardenberg am 1. September 1789 an seinen Vater: „Von ihm [d’Aubuisson; F. B.] lern ich eigentlich Mathem[atik] – und das Geld an Lempe ist weggeworfen. Ich lerne nichts bey ihm. Er giebt sich nicht die mindeste Mühe seine Zuhörer wircklich weiter zu bringen […].“34 Über die günstigeren Umstände einer Einzelunterweisung hinaus scheint D’Aubuisson in seinen Unterricht sehr genau auf Hardenbergs Interessen eingegangen zu sein, indem er die Verbindung zwischen Chemie und Mathematik herausstellte. Von Ersterer ist Hardenberg auch zu Beginn seiner Freiberger Studienzeit schon sehr fasziniert; im Anschluss an die Versicherung, er werde sich von der Mathematik nicht vereinnahmen lassen, fügt er im oben erwähnten Brief hinzu: „Mit der Chymie ist die Gefahr größer […].“35 An diese Faszination schließt „D’Aubuissons chemische Erläuterung der Buchstabenrechnung“ an,36 die eine Verbindung zwischen der (stychiometrischen) Formelsprache der Chemie und der Herleitung allgemeingültiger algebraischer Formeln herstellt. Diese Verbindung entspricht einerseits Novalis’ Idee einer „Wechselrepräsentationslehre“ (vgl. III.2), der gemäß alle Wissenschaften in Analogie zueinander stehen und sich dadurch gegenseitig repräsentieren können. Andererseits lenkt der Vergleich mit chemischen Formeln den Blick auf den besonderen Charakter der mathematischen Buchstabenkombinationen: „Diese Zeichen schließen nicht wie Zahlen in ein32

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Dies kündigte am 27. April 1767 das Avertissement an; zitiert nach ebd., S. 43. Eine Übersicht über das konkrete Vorlesungsangebot und die Lehrenden während Hardenbergs Freiberger Studienzeit findet sich in Schulz (1963): „Berufslaufbahn“, S. 269. HKA IV, S. 251 (Novalis an August Wilhelm Schlegel in Jena, 24. Februar 1798, S. 251–253). HKA IV, S. 259f. (Novalis an den Vater in Weißenfels, 01. September 1798, S. 258–260). HKA IV, S. 251. (Novalis an August Wilhelm Schlegel in Jena, 24. Februar 1798, S. 251–253). Vgl. zu Novalis’ praktischem Interesse an Chemie und Salinenwesen Walter (2003): „Hütten- und Salinenwesen“. HKA II, S. 563 (Logologische Fragmente [II]).

Biografischer Kontext

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ander, sondern man sieht noch in jeder Composition die Elemente, ihre Verhältnisse und die Methode der Composition […].“37 Neben den privaten Nachhilfestunden verkehrt Hardenberg außerdem im Hause von Johann Friedrich Wilhelm Toussaint von Charpentier,38 der Professor für Mathematik und Zeichenkunst an der Bergakademie und somit ein zusätzlicher Ansprechpartner für fachliche Fragen war. Dyck hält es für wahrscheinlich, dass entsprechende Diskussionen stattgefunden haben39 – eine sehr plausible These, die sich in die allgemeine Charakterisierung von Hardenberg als einem sehr wissbegierigen jungen Mann mit einer schnellen Auffassungsgabe einfügt. Für ein weit über das Pflichtprogramm hinausgehendes Interesse an der Mathematik spricht schließlich, dass Hardenberg seine Studien selbstständig außerhalb des akademischen Umfelds von Freiberg weiterführte. Während seines vierwöchigen Kuraufenthalts im Sommer 1798 entstehen – vielleicht wiederum auch, um sich von körperlicher Schwäche und entsprechenden Sorgen abzulenken – die Teplitzer Fragmente, die einen deutlichen Fortschritt auf mathematischem Gebiet zeigen, da hier, anders als in den zuvor in Freiberg entstandenen Notizen neben den Grundrechenarten auch Algebra und die Infinitesimalrechnung behandelt werden.40 Insgesamt lassen sich die speziellen mathematischen Gebiete und Theorien, mit denen sich Hardenberg von 1797 bis 1799 auseinandergesetzt hat, aus dem Vorlesungsplan, den in dieser Zeit entstandenen Exzerpten und Mitschriften, den Notizen zum Allgemeinen Brouillon und den im Nachlass vorhandenen Lehrbüchern erschließen.41 Lempe liest während dieser Zeit über Arithmetik, Geometrie, ebene und sphärische Trigonometrie sowie angewandte Mathematik.42 An diesem Stoff wird sich auch der Nachhilfeunterricht bei D’Aubuisson orientiert haben. Die Freiberger wissenschaftlichen Studien und die Teplitzer Fragmente zeugen, wie bereits erwähnt, von einer Beschäftigung mit der Infinitesimalrechnung, der auch im Allgemeinen Broullion eine wesentliche Rolle zukommt. Schließlich finden sich Notizen aus Pierre-Simon Laplaces Darstellung des Weltsystems43 und damit zusammenhängend auch vereinzelte Hinweise auf eine Kenntnisnahme der frühen Wahrscheinlichkeitsrechnung (vgl. AB 798/426).

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Ebd. Vgl. etwa Schulz (1963): „Berufslaufbahn“, S. 278. Dyck (1960): Novalis and Mathematics, S. 36. Vgl. Schulz (1983): „Einleitung“, S. 16. Eine Liste von Novalis’ wichtigsten mathematischen Quellen findet sich bei Dyck (1960): Novalis and Mathematics, S. 46 Schulz (1983): „Einleitung,“ S. 4. Vgl. HKA III, S. 69–72 (Gravitationslehre).

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Kontexte

II.2 Mathematikhistorischer Kontext: Die Infinitesimalrechnung Am Beispiel der Infinitesimalrechnung, die als wichtige Station auf dem Weg zur heutigen Analysis gilt, lässt sich exemplarisch eine für Novalis relevante Entwicklung nachzeichnen.44 Mit der Entstehung der Infinitesimalrechnung gehen methodische Veränderungen einher, welche die Mathematik insgesamt entscheidend prägen und auch in den mathematischen Überlegungen Novalis’ thematisiert werden: Die Algebraisierung mathematischer Verfahren (II.2.2) und, damit verknüpft, die Ablösung der Geometrie als Leitdisziplin der Mathematik durch die Algebra (II.2.3). Um die Bedeutung dieses Wandels verständlich zu machen, werde ich zunächst kursorisch auf die euklidische Mathematik eingehen (II.2.1), da diese die bis ins 17. Jahrhundert dominante methodische Bedeutung der Geometrie begründet und zudem einen wichtigen Hintergrund für Novalis’ Überlegungen zur ‚mathematischen Methode‘ bildet (vgl. III.3.1).

II.2.1 Die euklidische Mathematik Euklids Elemente gelten noch heute als „greatest mathematical text-book of all time“45 und als der „am meisten verbreitete[], fast kanonische[] Text der mathematischen Literatur“.46 Betrachtet man Entstehung und Motivation der Elemente eingehender, so zeigt sich, dass statt der Erfindung neuer mathematischer Inhalte die Ordnung des vorhandenen Wissens im Vordergrund steht. Denn das sich in den Elementen abbildende Ziel Euklids ist es, den zeitgenössischen Bestand systematisch zu begründen, um „dem Gesamtgebäude der Mathematik eine sichere Grundlage zu geben“.47 Zwar beinhalten die Elemente auch eigene inhaltliche Beiträge Euklids, ein Großteil der vorgetragenen Sätze beruht jedoch auf kompilatorischer Arbeit, da Euklid auf vorangehenden Gesamtdarstellungen aufbaut und viele schon bekannte Sätze integriert.48 Die wesentliche Neuerung, die sich mathematikhistorisch mit Euklid verbindet, ist vor allem die deduktive Beweismethode sowie ihre konsequente und systematische Explikation. Die Sätze werden in den Elementen nicht nur formuliert, sondern aus ei44

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Vgl. für einen kursorischen Überblick über die mathematischen Entwicklungen um 1800: Grabiner (2012): „Mathematik um 1800“. Heath (1981): Greek Mathematics, S. 358. Schönbeck (2003): Euklid, S. 1. Euklid [300 v. Chr.]: Elemente, S. 416 (Anm. d. Hg.). Zu den Elementen vorangehenden Gesamtdarstellungen vgl. die Anmerkungen von Clemens Thaer in Euklid [300 v. Chr.]: Elemente, S. 416. Einzelne Sätze, die Euklid zum Teil auch einschließlich der Beweise aufnimmt, sind z.B. der Satz von Thales, der Satz von Pythagoras und der Basiswinkelsatz von Thales, vgl. Schönbeck (2005): Euklid, S. 31f., 40f.

Mathematikhistorischer Kontext

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nem Grundbestand von Axiomen, Postulaten und Definitionen hergeleitet. Im Gegensatz dazu ist nach Jürgen Schönbeck anzunehmen, dass zum Beispiel die ‚Sätze des Thales‘ „durch Anschauen und Sehen“ konkreter geometrischer Figuren mit bestimmten Symmetrieeigenschaften gewonnen wurden und als „phänomenologisch-anschauliche Vorformen späterer logischer Beweise“ vorzustellen sind.49 Ähnlich beruhen auch die arithmetischen Sätze der Pythagoräer auf der Anschauung von Rechensteinen, die in bestimmten Mustern ausgelegt wurden. Für Schönbeck stellt dieses „eidetischintuitiv[e]“ Verfahren die früheste Periode der griechischen Mathematik dar, auf welche zunächst die durch Platon repräsentierte „apodiktisch-diskursiv[e]“ folge, die schließlich mit Archimedes und Euklid von der „systematisch-deduktive[n]“ Periode abgelöst werde.50 Dieses Narrativ insinuiert eine historische Entwicklung der Mathematik von einer anschaulich-konkreten Technik zu einem abstrakten System von formal hergeleiteten Sätzen.51 Jedoch wird die aus diesem Narrativ abgeleitete, gängige Konzeptualisierung der Mathematik als „reinste Form propositionalen, wissenschaftlichen Wissens“ dem mathematischen Wissen nicht gerecht:52 Dieses lässt sich, auch nach der eidetisch-intuitiven Periode, nicht auf propositionales Satzwissen reduzieren, sondern ist zugleich mit praktisch-prozeduralem Wissen verbunden – ein Aspekt, der für Novalis’ Idee von der menschlichen Erkenntnis und insbesondere für sein Mathematikverständnis von großer Wichtigkeit ist (vgl. III.4.1). So konstatiert er im Allgemeinen Brouillon einen ehemals engen Zusammenhang von Handeln und Erkennen, den es wieder herzustellen gilt: „Ursprünglich ist Wissen und Thun vermischt […] und am Ziel sollen sie wieder vereinigt, und cooperirend, harmonisch […] seyn“ (AB 49/246). Die Mathematik nun ist für Novalis eben darum bereits „ächte Wissenschaft – weil sie gemachte Kenntnisse enthält“ (AB 1126/473). Diese auf die Mathematik als geistige Praxis und Schöpfung abzielende Beschreibung schließt an Kants philosophische Bestimmung der Mathematik an, für die ihrerseits Euklid ein wichtiger Bezugspunkt ist, wie das folgende Kapitel II.3 erläutert. Das Verständnis der Mathematik als Tätigkeit lässt sie für Novalis zum Modell für eine praktische Kunst der Erfindung werden, die er als „Zeichenflächenform(figuren)bedeutungskunst“ im Allgemeinen Brouillon (AB 648/387) zu realisieren bemüht ist (vgl. III.4.1). Doch zunächst zurück zu Euklid, dessen Elemente im neuzeitlichen Denken etwa ab der Mitte des 16. Jahrhunderts nicht nur innerhalb der Mathematik als maßgebliche Methodenschrift gelesen werden.53 Hinsichtlich des propositional-deklarativen mathe49 50 51 52 53

Schönbeck (2005): Euklid, S. 31. Ebd., S. 27. Vgl. zu anderen Forschungspositionen dieser Art Krämer, S. (1991): Vernunft, S. 44. Albrecht (2011): „Menon“, S. 144. Vgl. zu Rezeption und Wirkungsgeschichte der mathematischen Methodologie der Antike vom 16. bis ins 18. Jahrhundert in verschiedenen Disziplinen: Engfer (1982): Philosophie als Analysis, S. 68–102; speziell zur lateinischen Übersetzungs- und Überlieferungsgeschichte Euklids sowie seiner sich nach dem Mittelalter verstärkenden Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit Schönbeck (2003): Euklid, S. 220–238, der resümiert: „Die historische Dimension der griechischen Mathematik wurde erst in der Zeit der Renaissance erkannt“ (ebd., S. 225).

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Kontexte

matischen Wissens wird seine deduktive, ‚geometrische‘ Methode zum verbindlichen Beweisverfahren.54 In den Elementen finden sich auch zahlentheoretische, also arithmetische Sätze, jedoch wird die Geometrie am ausführlichsten behandelt. Daher ist mit der paradigmatischen Bedeutung des Euklid’schen Textes lange eine Sonderstellung der Geometrie als ‚Fundamentaldisziplin‘ verbunden.55 So sieht etwa Kant, der sich allerdings damit nicht auf der Höhe des mathematischen Wissens seiner Zeit befindet, in der euklidischen Beweismethode für geometrische Sätze den Prototyp mathematischer Erkenntnis (vgl. III.3.1). In engem Zusammenhang mit der Wichtigkeit der Geometrie steht ihre Anwendung als ‚Himmelsgeometrie‘ in Astronomie und Astrologie, zwei Disziplinen, die ihrerseits in der Hierarchie der mathematischen Wissenschaften der Mathematik im engeren Sinne bis ins 18. Jahrhundert vorgeordnet sind (vgl. II.1 und IV.3.1). Innerhalb der Mathematik im engeren Sinne wird die Geometrie als mathematische Leitdisziplin im Zuge der Entwicklung der Infinitesimalrechnung von Letzterer abgelöst.

II.2.2 Vom geometrischen Infinitesimal zum epsilontischen Grenzwert Die Infinitesimalrechnung ist mathematikhistorisch vor allem mit zwei Namen assoziiert: Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Isaac Newton (1643–1727), die unabhängig voneinander ein Kalkül für die Analysis des Unendlichen entwickelten.56 Niccolò Guicciardini weist darauf hin, dass es aus zwei Gründen „problematisch“ ist, „zu sagen, daß ‚Newton und Leibniz den Kalkül erfunden haben‘. Zum einen entwickelten sie zwei verschiedene Versionen des Kalküls […]. Die zweite Frage ist, was wir in diesem Kontext mit ‚Erfindung des Kalküls‘ meinen […].“57 Die Bezeichnung ‚Erfindung‘ ist also erstens aus begriffsgeschichtlichen Gründen irreführend. Die heutige Differential- und Integralrechnung operiert mit Begriffen, die erst später, im Zuge einer weiteren Formalisierung der Kalküle entstanden sind. So wird zum Beispiel der Begriff der Funktion, auf den die Theorie, wie sie heute noch gelehrt wird, zurückgreift, erst 1797 von Joseph-Louis Lagrange entwickelt. Bei Leibniz und Newton geht es – im anschaulichen Sinne – um gekrümmte Linien, die sich „in einem Zug“ zeichnen lassen.58 Diese begrifflichen Differenzen sollen hier nicht verdeckt wer54 55

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Vgl. zum Begriff der geometrischen und mathematischen Methode ausführlich III.3.1 Vgl. zur Frage einer „Fundamentaldisziplin der Mathematik“: Thiel (1995): Philosophie und Mathematik, S. 303–314. Die Frage, ob Leibniz oder Newton die Priorität für die Entwicklung dieses Kalküls beanspruchen dürfe, ist zeitgenössisch nicht zuletzt von ihnen beiden selbst kontrovers und erhitzt diskutiert worden, vgl. dazu Fleckenstein (1956): Prioritätsstreit, und Bertoloni-Meli (1993): Newton versus Leibniz. Guicciardini (1999): „Methode und Kalkül“, S. 89. Vgl. ebd., S. 90. Vgl. zur Entstehung des Funktionenbegriffs auch Jahnke (1999): „Algebraische Analysis“. In heutiger Nomenklatur handelt es sich um differenzierbare und somit stetige Funktionen auf dem Körper der reellen Zahlen.

Mathematikhistorischer Kontext

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den. Wenn im Folgenden von der Differential- und Integralrechnung die Rede ist, so beziehe ich mich, wo nicht anders ausgewiesen, auf ihre Konzeptualisierung als Infinitesimalrechnung im 17. und 18. Jahrhundert. Wenn es einem grundlegenden Verständnis der mathematikhistorischen Kontexte, wie es für die vorliegende Arbeit ausreicht, zuträglich ist, werde ich jedoch aus pragmatischen Gründen die heutigen Begriffe, so zum Beispiel den der Funktion, verwenden. Der zweite Grund für die Problematik des Begriffs ‚Erfindung‘ liegt nach Guiccardini darin, dass sich im 17. Jahrhundert zahlreiche andere Forscher erfolgreich mit verwandten Problemen beschäftigten, an deren Erkenntnisse Leibniz und Newton anschlossen.59 Ihr Beitrag zur Geschichte der Analysis lässt sich angemessener folgendermaßen charakterisieren: Leibniz und Newton fassen zahlreiche Fragestellungen zur Berechnung bestimmter Eigenschaften und Größen von geometrischen Figuren als Sonderfälle von zwei allgemeinen und grundlegenden Problemen zusammen, nämlich der Berechnung von Tangenten und dem Flächeninhalt einer Kurve. Sie setzen die Lösungen dieser Grundprobleme als inverse Verfahren zueinander in Beziehung. Diese Beziehung wird – in heutiger Nomenklatur – im Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus entwickelten Leibniz und Newton Algorithmen zur systematischen Behandlung dieser Grundprobleme.60 Diese Algorithmen sind „‚mathematisch äquivalente‘ Symbolismen“,61 das heißt, ihre jeweiligen Sätze und Ergebnisse lassen sich ineinander ‚übersetzen‘. Bezüglich ihrer Grundlagen hebt die wissenschaftsgeschichtliche „standard depiction“ auf charakteristische Unterschiede ab, die jüngere Forschung hingegen betont die „great similarity in the foundations of Newton’s and Leibniz’s approaches to the calculus“.62 Der zentrale Begriff dieser Grundlegung ist die ‚infinitesimale‘ Größe, unter der sowohl Leibniz als auch Newton eine unendlich kleine Größe verstehen.63 Beide benötigen dieses Konzept für die jeweiligen Lösungsalgorithmen, zum Beispiel zur Berechnung der (wiederum in heutiger Formulierung) Ableitung einer gegebenen Funktion in einem festen Punkt. Wie erwähnt, unterscheiden sich Symbolik und Notation dieses Problems. Newton berechnet die „Fluxion“ und versteht darunter die momentane Geschwindigkeit einer „Fluente“, also eines sich entlang einer (gekrümmten oder geraden) Linie bewegenden Punktes. Leibniz hingegen berechnet das Verhältnis zweier variabler Größen x und y sowie ihrer Differenzen dx und dy und verwendet dabei eine sehr prak-

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Eine pointierte Zusammenstellung der wesentlichen Vorläufer findet sich bei Struik (1961): Abriss, S. 107–118, für eine ausführlichere Darstellung vgl. Maanen (1999): „Vorläufer“. Exemplarisch sei hier nur erwähnt, dass Bonaventura Cavalieri mit seiner Geometria Indivisibilibus Continuorum bereits 1635 einen Grundstein zur heutigen Differential- und Integralrechung legt. Vgl. Guicciardini (1999): „Methode und Kalkül“, S. 89. Ebd., S. 124. Arthur (2008): „Leery Bedfellows“, S. 9. Die Darstellung folgt: Guicciardini (1999): „Methode und Kalkül“.

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Kontexte

tische Schreibweise, welche die Symbolsprache der heutigen Mathematik mitbestimmt hat.64 Setzten sich beide Kalküle zwar in der praktischen Anwendung erfolgreich durch, so wurde ihre Grundlegung durch den Infinitesimalbegriff kritisch als Abkehr von der bis dahin als verbindlich geltenden euklidischen Methodik gesehen, wie Lagrange im Jahr 1798 rückblickend resümiert: „Diese Methoden lassen für die Allgemeinheit und Einfachheit nichts mehr zu wünschen übrig, aber diejenigen, die mit Recht die Evidenz und die Strenge der alten Demonstrationen bewundern, bedauren, daß sie diese Vorzüge nicht in den Principien dieser neuen Methoden finden.“65 Der monierte Bruch mit der euklidischen Strenge bezog sich auf den konkreten Umgang mit den infinitesimalen Größen o (Newton) bzw. dx und dy (Leibniz). Diese wurden in den Berechnungen und Beweisen zunächst wie algebraische Größen, wie eine feste Zahl oder Variable also, gehandhabt. Jedoch waren ihnen keine eindeutigen Operationsregeln zugeordnet. Je nach Bedarf wurden sie als unendlich klein, aber von Null verschieden behandelt (zum Beispiel dividiert Newton eine Gleichung durch o) oder mit Null gleichgesetzt (wenn Newton alle Ausdrücke, die eine infinitesimale Größe als Faktor beinhalten, streicht).66 Leibniz und Newton teilen die Annahme, dass die strittigen infinitesimalen Größen lediglich abkürzend einen Grenzwertprozess symbolisieren, der sich durchaus in euklidischer Strenge formulieren ließe. Wesentlich bleibt aber, dass Infinitesimalkalkül und Fluxionsrechnung ohne diese formale Grundlegung erfolgreich mit den Infinitesimalen als „nützliche Fiktionen“ operieren.67

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Vgl. Guicciardini (1999): „Methode und Kalkül“, S. 96–102 (Newton) u. 112–116 (Leibniz). Die grundlegende mathematische Idee beider Konzepte ist ähnlich: Beide gehen davon aus, dass sich die Fluente oder Kurve wie eine Gerade verhält, wenn man lediglich einen infinitesimalen Abschnitt betrachtet. Die Änderung oder Geschwindigkeit dieser Gerade, und damit der Kurve respektive Fluente, erhält man, wenn man der Kurve respektive dem Geradensegment das entsprechende Steigungsdreieck einbeschreibt und das Verhältnis der – ebenfalls unendlich kleinen – Katheten berechnet. Lagrange (1798): Theorie der analytischen Funktionen, Theil II, S. 2. Die formal nicht eindeutige Grundlegung des Infinitesimals stellt die „zum Topos geronnene Attribuierung mathematischen Wissens als sicheres und daher unstrittiges Wissen“ in Frage, zu deren Vorgeschichte neben dem antiken Kontext insbesondere die umfassend erforschte frühneuzeitliche Quaestio de certitudine Mathematicorum zählt; Albrecht (2011): „Images der Mathematik“. Vgl. dazu einschlägig Mancosu (1992): „Aristotelian Logic“, sowie ders. (1996): Philosophy of Mathematics. Vgl. Guicciardini (1999): „Methode und Kalkül“, S. 100. Vgl. Guicciardini (1999): „Methode und Kalkül“, S. 124. Der Leibniz’sche Begriff des Infinitesimals als ‚nützliche Fiktion‘ ist in der Mathematikphilosophie umfassend erforscht. Vgl. Ishiguro (1989): Leibniz’s Philosophy, S. 79–100, sowie den Sammelband von Goldenbaum, Jesseph (2008): Infinitesimal Differences, darin insbesondere die Beiträge von Jesseph (2008): „Truth in Fiction“, Levey (2008): „On Leibniz’s Fictionalism“, Arthur (2008): „Leery Bedfellows“, und Rutherford (2008): „Leibniz on the Infinitesimals“.

Mathematikhistorischer Kontext

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Die weitere mathematische Behandlung der Infinitesimale lässt sich als Bemühung charakterisieren, die Analysis des Unendlichen auf eine Grundlage zu stellen, die wieder den methodischen Maßstäben der „alten Demonstrationen“ genügte. Wesentliche Stationen bilden dabei die Ansätze von Leonhard Euler (1707–1783) und dem bereits erwähnte Joseph Louis Lagrange (1736–1813), mit denen sich auch Novalis beschäftigt hat.68 Euler kritisiert in seiner Vollständigen Anleitung zur Differenzial-Rechnung, dass die „Vernachläßigung dieser unendlich kleinen Größen mit Recht verdächtig“ ist und sich „alsdann die Differenzial-Rechnung von der geometrischen Schärfe entferne“.69 Entsprechend fordert er, „weil sie gar keine Größe haben, […] daß man sich dabey immer etwas gedenken muß, was = 0 oder nichts ist“.70 Euler hält also an den unendlich kleinen Größen fest, ordnet ihnen aber eindeutig den Zahlenwert Null zu. Dass dann beim Quotienten der „Differenzialien“ oder „Incremente“71 eine nicht zulässige Null als Divisor erscheint, rechtfertigt Euler einerseits mit einer prozessualen Interpretation. Man könne zunächst mit endlichen Größen beginnen, um „dann dieselben immer kleiner und kleiner werden zu lassen; wo man finden wird, daß sich ihr Verhältniß immer mehr und mehr einer gewissen Grenze nähere, die es aber nicht eher als bey der Verschwindung der Incremente erreicht“.72 Andererseits unterscheidet Euler in der konkreten Berechnung dieses Verhältnisses Nullen verschiedenen Grades. Diese seien zwar im arithmetischen Sinne gleich (das heißt, ihre Differenz ist Null), nicht aber im geometrischen, so dass sich durchaus ein Quotient berechnen lasse, der trotz einer Null im Nenner definiert ist.73 Dieser Quotient, nicht die ihn konstituierenden infinitesimalen Größen, stehen bei Euler im Zentrum der Berechnung.74 In Eulers Erklärung der Infinitesimalen als prozessuale Größen deutet sich eine Ablösung vom Verständnis der Infinitesimalen als algebraisches Objekt an. Auch der Ansatz, zwischen arithmetischer und geometrischer Identität zu unterscheiden, bewegt sich fort von den infinitesimalen Größen und den mit ihnen verbundenen Ungenauigkeiten, da es letztlich nicht um die Berechnung der Differentiale, sondern ihres Verhältnisses gehe – einer Beziehung zwischen zwei abhängigen Größen, die Euler als ‚Funktion‘

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Hardenberg besaß Lagranges Theorie der analytischen Funktionen, vgl. Dyck (1960): Novalis and Mathematics, S. 46. Ein expliziter Hinweis auf eine Beschäftigung mit Euler in diesem Kontext findet sich in seinen Aufzeichnungen nicht, diese plausibilisieren nach Dyck (1960): Novalis and Mathematics, S. 50, jedoch eine zumindest vermittelte Kenntnis von Eulers Institutiones Calculi Differentiales, vermutlich in ihrer deutschen Übersetzung: Euler (1790): Anleitung. Euler (1790): Anleitung, S. LXIV („Vorrede des Verfassers“). Ebd., S. LIX. Ebd. Ebd., S. LXX. Ebd., S. 80. Vgl. zu Eulers Definition der Ableitung genauer Edwards (2007): „Euler’s Definition“, S. 579, der betont, dass Euler „is not making an unsuccessful attempt to define the derivative as a limit in the modern way. Instead he is applying the methods he has developed“.

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Kontexte

bezeichnet.75 Lagrange setzt diesen Gedankengang fort und entwickelt eine Theorie der analytischen Funktionen, in welcher die Grundsätze der Differentialrechnung vorgetragen werden, unabhängig von der Betrachtung der unendlich kleinen oder verschwindenden Größen der Grenzen oder Fluxionen. Auch bei Lagrange steht die Eliminierung der Infinitesimalen im Zeichen von „Evidenz und […] Strenge der alten Demonstrationen“.76 Er arbeitet damit jedoch auf ein neues, wesentlich abstrakteres Konzept der mathematischen Strenge hin.77 Im Zuge dieses – hier verkürzt dargestellten – Formalisierungs-Prozesses werden schließlich die unendlich kleinen Größen von einem anderen Konzept abgelöst. Es handelt sich dabei um den Grenzwert, der (auch hier mit den oben genannten Einschränkungen bezüglich der ‚Erfindung‘) von Karl Theodor Wilhelm Weierstraß (1815–1897) mit einer neuartigen ‚epsilontischen‘ Strenge begründet wird.78 An die Stelle einer infinitesimalen Größe tritt, stark vereinfacht gesagt, der Grenzwert Null einer Zahlenfolge, das heißt, zu jeder noch so kleinen, aber von Null verschiedenen, positiven Zahl ε – daher die Bezeichnung der epsilontischen Strenge – gibt es ein Schrankenglied in der Folge, so dass alle späteren Folgenglieder kleiner als die vorgegebene Zahl ε sind. Der wesentliche Unterschied zwischen den Konzepten des Grenzwerts und der infinitesimalen Größen besteht in der begrifflichen Präzision. Das ε ist eine kleine, aber feste gegebene positive Zahl, das zugehörige Schrankenglied lässt sich ebenfalls konkret angeben. Die Unbestimmtheit des unendlich Kleinen ist somit aufgehoben in der Allgemeinheit des Verfahrens, das eben nicht nur für ein bestimmtes, sondern für jedes ε gültig sein muss.

II.2.3 Die Ablösung der Geometrie als Leitdisziplin Der Übergang von infinitesimalen Größen zu Nullen verschiedenen Grades und schließlich den Konzepten von Grenzwert und Funktion ist Teil einer innermathematischen Entwicklung seit dem 17. Jahrhundert, in deren Verlauf die Geometrie als Leitdisziplin abgelöst wird.79 War zwar die Fragestellung, von der Leibniz und Newton 75

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Euler (1790): Anleitung, S. XLIX („Vorrede des Verfassers“): „Wenn also x eine veränderliche Größe bedeutet, so heißen alle Größen, welche auf irgend eine Art von x abhängen, oder dadurch bestimmt werden, Funktionen von x.“ Wiederum ist darauf hinzuweisen, dass sich Eulers Funktionenbegriff vom heute in der Mathematik verwendeten unterscheidet. Vgl. Edwards (2007): „Euler’s Definition“, S. 576. Lagrange (1798): Theorie der analytischen Funktionen, T.II, S. 2. Vgl. zu „Lagranges algebraischer Begründung der Analysis“ Jahnke (1999): „Algebraische Analysis“, S. 163–168. Vgl. Lützen (1999): „Grundlagen“, S. 236f. Weierstraß wurde wegen seines „epsilontischen Stils berühmt“. Ähnliche Verfahren benutzt auch Cauchy in seinen „komplizierteren Beweisen […], doch Weierstraß wandte diese Technik in allen Beweisen und Definitionen an“ (ebd., S. 236). Vgl. Engfer (1982): Philosophie als Analysis, S. 103.

Mathematikhistorischer Kontext

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ausgingen, nämlich eine Tangente oder eine Fläche unter einer Kurve zu berechnen, eine geometrische, so verschieben sich die Modellierungs- und Lösungsmethoden allmählich zum Algebraischen.80 Eine wichtige Station in dieser Entwicklung ist zunächst die von René Descartes (1596–1650) in der Schrift La Géometrie (1637) entwickelte analytische Geometrie, wobei auch hier Vorsicht geboten ist, Descartes als deren ‚Erfinder‘ zu titulieren.81 Descartes’ Beitrag zur Mathematik besteht darin, dass er die bislang getrennten Gebiete vom Algebra und Geometrie methodisch zusammenführt und somit die Mathematik insgesamt wiederum vereinheitlicht:82 „[E]iner der Grundgedanken der Géométrie ist es, die Algebra als Methode zur Lösung geometrischer Konstruktionsprobleme einzusetzen […].“83 Dafür wird das geometrische Problem in eine oder mehrere Gleichungen ‚übersetzt‘, die nach ihrer Lösung wiederum in den geometrischen Kontext zurück übertragen werden.84 Wesentlich ist dabei, dass die eigentliche Bearbeitung des Problems auf algebraischem Gebiet erfolgt, also durch die regelgeleitete Operation mit Zahlen und Buchstaben, nicht mehr innerhalb der geometrischen Formensprache. Ebenso wichtig ist aber, dass sich an die Bearbeitung die ‚Rückübersetzung‘ in den geometrischen Kontext anschließt, der damit noch präsent bleibt.85 Novalis schließt, so wird in Kapitel III.3.2 dargestellt, an dieses Verfahren an und sieht in ihm ein Modell für die regelgeleitete Erzeugung neuer Erkenntnisse. Diese Verbindung von Algebra und Geometrie spielt eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Infinitesimalrechnung durch Leibniz und Newton, da auch ihre Algorithmen eine analytische Sprache für geometrische Probleme bereitstellen. Die Berechnung von krummlinig begrenzten Flächen erfolgt durch Summation infinitesimaler Größen – ein Prozess, der rechnerisch in der Sprache der Zahlen und Buchstaben-Formeln durchgeführt wird. Jedoch erfolgte, so Guicciardini, „[e]ine vollständige Algebraisierung des Kalküls […] erst am Ende des 18. Jahrhunderts“,86 wohingegen bei Leibniz und Newton der Bezug auf die Geometrie noch wesentlich bleibt. 80

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Vgl. zur Frage, ob es sich dabei um eine ‚Revolution‘ in der Mathematikgeschichte handelt, Mancosu (1992): „Descartes’s Géométrie“, Grosholz (1992): „Leibniz“, sowie Giorello (1992): „Mathematical revolutions“. So sind zwar viele Konzepte aus der analytischen Geometrie, wie sie heute gelehrt wird, aus der Anwendung und Weiterentwicklung von Ideen und Methoden Descartes’ entstanden, finden sich aber in der Géometrie selbst nicht. Dazu gehören zum Beispiel – trotz des Namens – das kartesische Koordinatensystem oder die allgemeine Gleichung für eine Gerade, die heute zum elementaren Instrumentarium zählen. Vgl. Struik (1961): Abriss, S. 108f. Weiterhin ist Descartes nur ein Vertreter der Neuen Analysis, zu der unter anderen auch John Wallis (1616–1703) und François Viète (1540–1603) entscheidende Beiträge liefern. Struik (1961): Abriss, S. 108. Maanen (1999): „Vorläufer“, S. 45. Ebd., S. 45. Ebd. Vgl. zur Beziehung von Kalkül und Geometrie bei Leibniz und Newton Guicciardini (1999): „Methode und Kalkül“, S. 129f. Ebd., S. 130.

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Kontexte

In Bezug auf die Rückbindung der Infinitesimalrechnung an die Geometrie vertreten Leibniz und Newton zwei unterschiedliche Positionen. Zwar ist bei beiden Algorithmen ein Rückbezug zum geometrischen Modell jederzeit gegeben. Jedoch betrachtet Newton die Rückbindung an die (antike) Geometrie und ihre Methoden als notwendige Legitimation, die sich deutlich in Begriffen und Notation zeigt: Seine Variante der Infinitesimalrechnung nennt er Fluxionsrechnung (lat. fluere = fließen), da für ihn eine Kurve anschaulich durch die Bewegung, das ‚Fließen‘ eben, eines Punktes und eine Fläche durch das Fließen einer Kurve entsteht.87 Im Gegensatz dazu ist für Leibniz die Möglichkeit der geometrischen Reinterpretation eine Tatsache von geringerer Bedeutung. Für ihn steht statt der inhaltlichen Beziehung zur Geometrie die formale Ausarbeitung des Algorithmus zu einer effizienten Symbolsprache mit klaren Operationsregeln im Vordergrund.88 Diese unterschiedliche Priorität von der „Geometrie der Alten“ bei Newton und den „abstracten Combinationen“ bei Leibniz betont auch Pierre-Simon Laplace in seiner Darstellung des Weltsystems89 und regt damit Novalis vermutlich zu einer Brouillon-Notiz an,90 in der er die Kalküle Leibniz’ und Newtons als polare, miteinander zu vereinigende Grundzüge der Mathematik sieht: „[D]ie Verschiedenheit der Leibnitzischen und Neutonschen Vorstellungsart“, „[d]ie Fluxion und das Differential sind die entgegen[ge]sezten Anschauungen des mathematischen Elements – beyde zusammen machen die mathematische Substanz aus“ (AB 645/386). Die allmähliche Algebraisierung der Infinitesimalrechnung lässt sich in Anlehnung an Jahnke in drei Phasen unterteilen:91 Ist die Infinitesimalrechnung von Leibniz und Newton bis in die 30er Jahre des 18. Jahrhunderts eine Methode aus dem Bereich der Geometrie, so lässt sich bei Euler bereits eine „implizit algebraische“92 Auffassung ausmachen. Für ihn sind „die ersten Principien der Differenzial-Rechnung aus der Geometrie hergenommen“,93 jedoch seien die geometrischen Anwendungen der Differentialrechnung bereits erschöpfend behandelt und würden daher aus seiner Arbeit ausgeschlossen. In ihrem Zentrum steht, wie oben schon erwähnt, das Verhältnis zwischen graduell verschiedenen Nullen – und das ist letztlich eine Zahl, ein Zeichen, welches das Verhältnis zwischen zwei abstrakten Größen beschreibt.

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Vgl. Guicciardini (1999): „Methode und Kalkül“, S. 96f. Vgl. ebd., S. 129f. Laplace (1797): Darstellung des Weltsystems, T. II, S. 314, 316. Vgl. HKA III, S. 949 (Kommentar zu AB 645/386). Jahnke (1999): „Algebraische Analysis“, S. 133. Jahnkes Periodisierung bezieht sich auf das 18.Jahrhundert und nennt als Vertreter der geometrischen Phase zusätzlich Johann Bernoulli. Ebd. Euler (1790): Anleitung, S. LXXVf. („Vorrede des Verfassers“).

Mathematikphilosophischer Kontext

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In Lagranges Beitrag schließlich manifestiert sich, folgt man Jahnke, die „explizit algebraische“94 Auffassung, welche „die Grundsätze der Differentialrechnung […] auf die algebraische Analysis“95 zurückführt, indem sie Erstere mit dem „Calcül der Funktionen“96 identifiziert. Dass sich eine algebraische Zuordnung und Begründung der Differential- und Integralrechnung zu Novalis’ Zeit etabliert, ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass sie auch in zeitgenössischen Standard-Lehrbüchern vorgenommen wird. So betont zum Beispiel Abel Bürja in seinem Selbstlernenden Algebristen (1786), der sich auch in Novalis’ Nachlass findet,97 er habe „die Differenzial- und IntegralRechnung […] ganz von der Geometrie abgesondert und als reine algebraische Theorie vorgetragen“.98 Begründet wird diese Darstellung damit, dass die „höhere oder hohe Rechenkunst“ eine „allgemeine Theorie der Größen“ einschließt und daher „unter den mathematischen Wissenschaften den ersten Platz behaupten“ müsse.99

II.3 Mathematikphilosophischer Kontext: Die Mathematik bei Leibniz und Kant Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Immanuel Kant (1724–1804) haben wirkungsmächtige philosophische Konzepte der Mathematik entwickelt, die sich indessen in zentralen Punkten, etwa der Beziehung von Mathematik und Metaphysik, signifikant voneinander unterscheiden.100 Beide Positionen spielen in Novalis’ Reflexionen zur Mathematik eine entscheidende Rolle. Sie eignen sich daher für einen exemplarischen Aufriss der mathematikphilosophischen Kontexte, auf die ich in den durchführenden Teilen der vorliegenden Arbeit immer wieder explizit oder implizit zurückgreifen werde. Den folgenden Ausführungen geht es also vornehmlich um eine Aufbereitung eines für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Novalis notwendige, aber

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Jahnke (1999): „Algebraische Analysis“, S. 133. Vgl. den vollständigen Titel der Schrift in der deutschen Übersetzung: Lagrange’s Theorie der analytischen Funktionen, in welcher die Grundsätze der Differentialrechnung vorgetragen werden, unabhängig von Betrachtung der unendlich kleinen oder verschwindenden Größen der Grenzen oder Fluxionen, und zurückgeführt auf die algebraische Analysis (1798). 96 Lagrange (1798): Theorie der analytischen Funktionen, T. I, S. 10. Wie Lagrange selbst herausstellt (ebd., S. 7), verfolgt und veröffentlicht er diesen Gedanken bereits 1772, also unter anderem auch vor dem Erscheinen von Bürjas Selbstlernendem Algebristen (1786). 97 Vgl. dazu die Bücherliste II in HKA IV, S. 695–699. 98 Bürja (1786): Algebrist, T. I, S. XIV. 99 Ebd., S. IV. 100 Vgl. zur philosophiegeschichtlichen Verbindung von Leibniz und Kant insgesamt: Mittelstraß (2011): Leibniz und Kant. 95

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Kontexte

selten angemessen zur Kenntnis genommene Facette der philosophischen Diskussion, die um Mathematisches geführt wurde.101

II.3.1 Die Mathematik in der Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theologie und Mathematik, Metaphysik und Logik sind für Leibniz auf das Engste miteinander verbunden – eine Verbindung, die auch seine mathematische Praxis beeinflusst. „Leibniz’s approach to geometry proceeded from a completely metaphysical perspective“, konstatiert Ursula Goldenbaum.102 Diese umfassend erforschten Zusammenhänge sollen hier nicht im Detail wiedergegeben werden,103 stattdessen geht es um eine knappe und allgemein gehaltene Rekonstruktion der Leibniz’schen Philosophie der Mathematik entlang der vorhandenen Studien zu diesem Thema und unter Konzentration auf die für Novalis relevanten Aspekte. Um das Verhältnis von Mathematik und Erkenntnis bei Leibniz exemplarisch zu charakterisieren, bietet sich ein Blick auf seine populäre These an, dass die bestehende Welt die beste aller möglichen Welten sei. Diese These formuliert und begründet Leibniz in der Theodizee (1710), einer Schrift, „die Novalis mit Sicherheit gelesen hat“.104 In dieser Schrift beschäftigt sich Leibniz mit der Frage „Woher kommt das Übel? […], Si Deus est, unde malum?, si non est, unde bonum?“105 Diese Problemstellung schließt an antike und mittelalterliche Denktraditionen an, die sich darum bemühen, die „Faktizität des Bösen“ in Einklang zu bringen „mit apriorischen Annahmen wie jenen von einer vollkommenen Kosmosordnung, einem guten Sein, im christlichen Kontext auch mit der Vorstellung einer unwiderruflich guten Schöpfung“.106 Leibniz unterscheidet sich nach Geyer von der „vorausgegangenen konfessionellen Apologetik“, insofern sein „apologetisches Interesse […] ein Vernunftinteresse“ ist.107 Seine Behandlung der Theodizee zu Beginn des 18. Jahrhunderts ist somit „ein außerordentlich widersprüchliches Unterfangen, das in eine philosophische Epoche gehört, in der man an die autonome Vernunft und an Gott zugleich meinte glauben zu können.“108 Zentral ist

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Als grundlegende und instruktive Einführungen für Leserinnen und Leser ohne spezifisch philosophisches und philosophiegeschichtliches Fachwissen empfehlen sich Poser (2005): Leibniz, und Höffe (2004): Kant. 102 Goldenbaum (2008): „Indivisibilia Vera“, S. 58. 103 Vgl. dazu etwa den Sammelband von Goldenbaum, Jesseph (2008): Infinitesimal Differences. 104 HKA III, S. 949 (Kommentar zu AB 645/386). 105 Leibniz [1710]: Theodizee, S. 239. 106 Geyer (1990): „Theodizeeproblem“, S. 12. Vgl. zum neuzeitlichen Begriff der ‚Theodizee‘ allgemein auch Lorenz (1997): De Mundo Optimo. S. 25–28, 107 Ebd., S. 17. 108 Koslowski (1990): „Der leidende Gott“, S. 34. Für Koslowski liegt die Theodizee in der von Leibniz geprägten Tradition entsprechend „zwischen Theologie und Philosophie“ (ebd. S. 33). Ähnlich

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dabei die Annahme einer von Gott gestifteten „Weltenharmonie“, in der „[p]hysische und moralische Welt korrelieren“.109 In diesem Zusammenhang ist im Hinblick auf Novalis ein astronomischer Bezug der Theodizee erwähnenswert: Leibniz rekurriert in seiner Argumentation unter anderem auf die kopernikanische Wandlung der Weltvorstellung, derzufolge die Erde nicht mehr Mittelpunkt, sondern Stern unter Sternen ist:110 „Die Erde ist nur ein Planet, […] ja nur ein Anhängsel einer dieser Sonnen. […] Was bedeutet dagegen unser Erdball und seine Bewohner? Ist er nicht etwas unvergleichlich Geringeres als ein physischer Punkt, da unsere Erde im Vergleich zur Entfernung einiger Fixsterne nur ein Punkt ist?“111 Leibniz’ Deklaration der aktualen als der besten aller möglichen Welten lässt sich vor diesem Hintergrund als Versicherung lesen, dass die Heilsgewissheit auch für den ‚dezentrierten‘ Menschen erhalten bleibt. Im Unterschied dazu, so werde ich in Kapitel IV.3 zeigen, stellt für Novalis die Ablösung des geozentrischen Weltbilds das Pendant zu einer utopischen Ermächtigung des Subjekts dar. Er schließt damit an eine Denktradition an, die der verbreiteten Deutung einer kränkenden Dezentrierung des Menschen durch den Kopernikanismus entgegensteht. Doch zunächst zurück zu Leibniz. Innerhalb des theologischen Diskurses argumentiert Leibniz gegen die Position Pierre Bayles, die „fiedistische Bestreitung der Möglichkeit, Vernunft und Glauben miteinander in Einklang zu bringen“, die im „Problem des Übels und der Sünde“ ein Hauptargument gegen die „Erweislichkeit der Weisheit, Güte und Macht Gottes“ sieht.112 In inhaltlichem wie formalem Gegensatz dazu steht Leibniz’ Begründung dafür, dass die bestehende Welt als von Gott geschaffene auch die beste aller möglichen Welten sei: Nun hat aber diese höchste Weisheit [d.i. Gott] in Verbindung mit einer Güte, die nichts unendlich ist als sie, nur das Beste wählen können. Denn da ein geringeres Übel eine Art Gut ist, ist ebenso ein geringeres Gut eine Art Übel, wenn es einem größeren Gut hinderlich ist, und es würde an den Handlungen Gottes etwas zu rügen sein, wenn es ein Mittel gab, es besser zu machen. Und wie in der Mathematik, wenn es kein Maximum und kein Minimum, kurzum, nichts Bestimmtes gibt, alles gleichmäßig geschieht oder, wenn das nicht möglich ist, gar nichts geschieht, so kann man auch bezüglich der Weisheit, die nicht minder geregelt ist als die Mathematik, behaupten, daß, wenn es keine beste (optimum) unter allen möglichen Welten gäbe, Gott gar keine geschaffen haben würde. […] [S]o bleibt es doch allemal wahr, […] daß es unendlich viele mögliche Welten gibt, von denen Gott die beste gewählt haben muß, da er nichts tut, ohne der höchsten Vernunft gemäß zu handeln.113

verortet sie auch Lorenz (1997): De Mundo Optimo, S. 25, „im Spannungsfeld zwischen Religion und Wissenschaft“. 109 Geyer (1990): „Theodizeeproblem“, S. 15. 110 Vgl. dazu ausführlich IV.3.1. 111 Leibniz [1710]: Theodizee, S. 239. 112 Lorenz (1997): De Mundo Optimo, S. 74. 113 Leibniz [1710]: Theodizee, S. 219, 221.

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Leibniz’ Argument folgt formal der logischen Figur der reductio ad absurdum.114 Inhaltlich fallen zudem die Bezüge auf die Mathematik auf, die nicht nur eine illustrierende, sondern auch eine argumentative Funktion haben: Die „Weisheit“ Gottes ist „nicht minder geregelt […] als die Mathematik“, und daher lassen sich mathematische Argumente (die Folgen, die sich aus dem Fehlen von Extrema einer Kurve ergeben) auch auf theologische Fragen (die Folgen, die sich aus der qualitativen Gleichartigkeit der möglichen Welten ergeben) anwenden. Dass dies nach Leibniz möglich ist, hat zwei zusammenhängende Gründe. Erstens gehört nach Leibniz die Mathematik zur Logik. Insbesondere die reine Mathematik versteht er als „Anwendung“ der Logik „auf Größe, Zahl, Maß oder Gewicht“.115 In Zusammenhang mit dieser Zuordnung steht eine Forderung an das Axiomensystem der Mathematik, die wiederum für Novalis von Interesse ist. Leibniz lässt als „Ausgangssätze deduktiver Systeme“ nur „formale Identitäten“ (A=A) oder Definitionen gelten.116 Da nicht alle Axiome und Postulate der Euklidischen Geometrie diese Bedingung erfüllen, müssen diese, so erläutert Hans-Jürgen Engfer, wie auch alle anderen Sätze der Mathematik „durch Rückführung […] auf identische Sätze als unmittelbar unter dem Satz der Identität stehend“ erwiesen werden.117 Diese Auffassung von der Mathematik findet sich auch in anderen von Novalis rezipierten Quellen, und sie spielt, so werde ich in Kap. III.3.1 darlegen, eine wichtige Rolle für seine Konzeption der ‚mathematischen‘ Methode als allgemeine Erkenntnismethode. Zweitens lässt sich, so hat die Forschung herausgearbeitet, „Leibniz’ philosophischmetaphysisches System“ als „Panlogismus“ charakterisieren,118 das heißt, für Leibniz ist das „Universum […] durch und durch als Inkarnation der Logik verstanden“, es lässt sich „jede logische Struktur ins Ontologische und umgekehrt jede ontologische ins Logische übersetzen“.119 Leibniz fasst „Gott als die Ratio schlechthin“, sein logisch-

114

Die logische Struktur der Argumentation ließe sich etwa wie folgt reformulieren: Nimmt man an, dass sich unter allen möglichen Welten keine qualitativ vor allen anderen auszeichnet, so hat Gott keinen (zureichenden) Grund, sich für eine Welt zu entscheiden und diese zu schaffen. Also würde er keine Welt schaffen. Offensichtlich steht das aber im Widerspruch zur Wirklichkeit. Daher war die Ausgangsannahme falsch und die beste aller möglichen Welten existiert – und ist zugleich die aktual existierende. Leibniz ist nicht der einzige, der theologische Fragen mittels mathematischlogischer Argumente zu beantworten sucht. Ein weiteres prominentes Beispiel ist die Pascal’sche Wette auf Glückseligkeit, in der Blaise Pascal ein gottesfürchtiges Leben wahrscheinlichkeitstheoretisch als beste Option für den Menschen ‚erweist‘. Vgl. Pascal [1670]: Gedanken über die Religion und einige andere Themen, S. 224-231. 115 Peckhaus (1997): Logik, S. 38. 116 Ebd., S. 40. 117 Engfer (1996): Empirismus versus Rationalismus, S. 170. 118 Peckhaus (1997): Logik, S. 60. 119 Gurwitsch (1974): Leibniz, S. 4. Vgl. zur Diskussion dieser Zuschreibung in der Leibniz-Forschung Peckhaus (1997): Logik, S. 60–63.

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mathematischer, göttliche Verstand ist sowohl Seins- wie auch Erkenntnisgrund der Welt:120 „Cum Deus calculat et cogitationem exercet fit mundus.“121 Neben dieser ontologischen Beschreibung der Welt durch ein „rational durchsichtiges Strukturmodell“122 lässt sich an Leibniz’ Argument für die aktuale als beste aller möglichen Welten auch seine epistemologische Position exemplarisch deutlich machen.123 Denn wie erwähnt, tritt Leibniz mit seiner Antwort auf die Frage der Theodizee auch gegen die theologische Meinung an, dass Weisheit, Güte und Macht Gottes Glaubenswahrheiten seien, die sich nicht beweisen lassen. Im Gegensatz dazu steht die formal-logische Struktur von Leibniz’ Argument, die dieses in Leibniz’scher Terminologie als ‚Vernunftwahrheit‘ ausweist. „Die Vernunftwahrheiten“, so erläutert Engfer, „zeichnen sich dadurch aus, daß wir nachweisen können, daß sie unter dem Satz der Identität oder des Widerspruchs stehen und insofern einen zureichenden Grund haben“.124 Ihre Erkenntnis ist dem Menschen a priori, das heißt unabhängig von der Erfahrung, durch logische Analyse, möglich. Das „Paradebeispiel solcher auch für uns beweisbarer Vernunftwahrheiten sind die Sätze der Mathematik“.125 Von ihnen unterscheidet Leibniz die kontingenten ‚Tatsachenwahrheiten‘, die der Mensch nur a posteriori, also mittels der Erfahrung, als solche erkennen kann, jedoch ohne sie zureichend begründen zu können. Sie unterstehen ebenfalls dem Prinzip des zureichenden Grundes, nach dem alle wahren Aussagen sowie alle Tatsachen und Ereignisse einen zureichenden Grund haben, aus dem sie existieren und so sind, wie sie sind.126 Jedoch ist dieser Grund nur Gott, nicht aber dem Menschen einsichtig. Die Unterscheidung zwischen notwendigen Vernunft- und kontingenten Tatsachenwahrheiten ist also eine epistemische Unterscheidung; sie bildet einen wichtigen begriffsgeschichtlichen Hintergrund für Novalis’ poetologisches Konzept der Wahrscheinlichkeit, das in Kapitel IV.2.2 behandelt wird. Der letzte wichtige Punkt, der im Hinblick auf Novalis aus der Leibniz’schen Philosophie herausgegriffen werden soll, ist das Konzept einer symbolischen Erkenntnis nach dem Vorbild der Mathematik.127 Leibniz war der Überzeugung, dass Denken sich nur durch die Verwendung von Zeichen, wie zum Beispiel Worte oder auch Zahlen, vollziehen könne.128 Dieser Gedanke mündet in sein Projekt einer characteristica uni120

Holze (1991): Gott als Grund der Welt, S. 61. Zur Verbindung von Seinsgrund (ratio existendi) und Erkenntnisgrund (ratio cognoscendi) bei Leibniz vgl. ebd., S. 59–62. 121 Leibniz (1677): „Dialogus“, S. 22, An. 122 Engfer (1996): Empirismus versus Rationalismus, S. 166. 123 Vgl. zum Verhältnis von Ontologie und Epistemologie bei Leibniz: Schneiders (1971): „Standpunkt“. 124 Engfer (1996): Empirismus versus Rationalismus, S. 169. 125 Ebd., S. 170. 126 Vgl. zu den unterschiedlichen Formulierungen des Prinzips bei Leibniz und ihren Deutungen Blank (2001): Leibniz’ Metaphysik, S. 118–124. 127 Vgl. dazu Krämer, S. (1992): „Symbolische Erkenntnis“. 128 Vgl. zum Verhältnis von Denken/Logik und Sprache bei Leibniz: Ishiguro (1989): Leibniz’s Philosophy.

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versalis, einer idealen Zeichensprache, welche die logische Struktur aller Ideen wiedergibt und es, so Volker Peckhaus, ermöglicht, „Denkstrukturen auf ein Zeichensystem abzubilden und Denkprozesse durch Veränderungen der Zeichen zu versinnbildlichen“.129 Das Erzeugen neuer Erkenntnisse würde sich dann als regelgeleitete Kombination der Zeichen ähnlich kalkülhaft vollziehen wie das Rechnen in der Mathematik. Auf dieses Projekt einer ars combinatoria für die menschlichen Ideen werde ich in Kapitel III.4.1 genauer eingehen. Herausgestellt sei hier vor allem Leibniz’ von der Mathematik angeregte, epistemische Bewertung der symbolischen Erkenntnis, die ideengeschichtlich mit Novalis’ Konzept der ‚Darstellung des Undarstellbaren‘ (vgl. III.2) und ihrer Analogisierung mit der mathematischen Behandlung des Unendlichen verbunden ist. Novalis konstatiert: „Höhere Mathematik und Philosophie / oder Theorie der Ideen, des Unendlichen etc./ haben sehr viel Analogie. / Curven – Reihen.“130 Ein verwandter Gedanke findet sich bei Leibniz, nach dem ein „gut gewähltes Zeichensystem“ wie die „Zeichen der Infinitesimalrechnung“ zum „Instrument“ der Erkenntnis taugt.131 Dabei kann die zeichenbasierte symbolische Erkenntnis zwar die intuitiv-unmittelbare göttliche Anschauung nicht ersetzen, jedoch „garantieren die Zeichen in Verbindung mit dem Kalkül bedingungslos Zuverlässigkeit hinsichtlich der Schlußfolgerungsprozedur und der durch Zeichenoperationen aufgefundenen Ergebnisse“132. Darüber hinaus wird die „technische Herstellbarkeit von Zeichenausdrücken im Kalkül […] zum Kriterium der Referenz und damit der möglichen Existenz der Gegenstände des Erkennens“.133 Deutlich wird das auch im Argument der Theodizee, das dem Menschen keinen aktualen Überblick über alle möglichen Welten, wie Gott ihn hat, verschafft. In Form eines Sprachzeichens beziehungsweise einer logischen Prämisse kann der göttliche Überblick aber dennoch in den Beweisgang einbezogen werden. Mathematik und Metaphysik bilden den gemeinsamen Rahmen, in dem der Mensch Einsichten generieren und formulieren kann. Die dabei vorausgesetzte Korrelation von mathematischlogischer und metaphysischer Erkenntnis wird im Laufe des 18. Jahrhunderts immer zweifelhafter, um schließlich von Immanuel Kant außer Kraft gesetzt zu werden.

II.3.2 Die Mathematik in der Philosophie Immanuel Kants Will man die mathematikphilosophischen Positionen von Leibniz und Kant miteinander vergleichen, so ist zunächst ein wesentlich verschiedener Zugriff auf die Mathematik festzuhalten. Wie in den vorangehenden beiden Kapiteln deutlich geworden ist, war Leibniz praktizierender Mathematiker, und sein mathematisches und philosophisches Schaffen sind eng miteinander verwoben. Im Unterschied dazu, so hebt Darius Koriako 129

Peckhaus (1997): Logik, S. 31. HKA II, S. 593 (Anekdoten). 131 Heinekamp (1992): „Leibniz“, S. 322. 132 Schiewer (1998): „Zeichentheoretische Konzepte“, S. 459f. 133 Krämer, S. (1992): „Symbolische Erkenntnis“, S. 234. 130

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hervor, war Kant „kein Mathematiker und hat die Entwicklung der zeitgenössischen Mathematik sicher nur am Rande verfolgt. Seine Einstellung zu dieser Wissenschaft war eine genuin philosophische.“134 Diese externe Perspektive auf die Mathematik nimmt auch Novalis an einigen Stellen ein, wenn er etwa die „philosophische Betrachtung der bisher blos mathematischen Begriffe und Operationen“ als „[v]orzüglich interressant“ erachtet (AB 111/260). Novalis hat sich, so belegen seine nachgelassenen Exzerpte,135 intensiv mit Kants Kritik der reinen Vernunft auseinandergesetzt, insbesondere auch mit Kants transzendentaler Bestimmung der Mathematik als Wissenschaft von den reinen Anschauungsformen.136 Die Kritik der reinen Vernunft, so stellt Novalis fest, ist „Philosophie der Philosophie“.137 Er bezieht sich damit auf den metaphilosophischen, ‚kritischen‘ Ansatz der Schrift, in der es nicht primär um metaphysische Fragen geht, sondern um die „Beförderung einer gründlichen Metaphysik als Wissenschaft“.138 Die Leitfrage lautet daher: „Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?“139 Der Mathematik kommt eine wesentliche Funktion für die Antwort auf diese Frage zu. Sie liefert einen formalen Beleg für die Möglichkeit der Metaphysik als wissenschaftliche Erkenntnis, da metaphysischapodiktische und gleichzeitig nicht triviale Wahrheiten in der Klassifizierung Kants zur gleichen Art von Urteilen gehören wie mathematische Aussagen. Drei Aspekte dieser mathematikphilosophischen Position sind im Hinblick auf Novalis von Interesse und sollen daher im Folgenden, wiederum im Rückgriff auf entsprechende Forschung, rekonstruiert werden: Der konstruktive Charakter mathematischen Schließens, die Zuordnung der Mathematik zur reinen Anschauung und die Frage nach der Anwendbarkeit der mathematischen Erkenntnismethode auf Philosophie und Metaphysik. Den Ausgangspunkt der Kritik der reinen Vernunft bildet die allgemein bekannte zweifache Klassifizierung von Erkenntnissen: Erstens sind Erkenntnisse entweder a priori (das heißt: unabhängig von den Sinnen) oder a posteriori (das heißt: durch die Erfahrung vermittelt) gültig. Zweitens sind Urteile, also die Formulierung von Erkenntnissen in Form einer Subjekt-Prädikat-Zuordnung, entweder synthetisch oder analytisch. Dabei ergibt sich ein analytisches Urteil, wenn das Prädikat bereits im Begriff des Subjekts enthalten ist und diese Relation durch das Urteil lediglich expliziert wird. Im Gegensatz dazu ordnet das synthetische Urteil einem Subjekt ein nicht schon in seinem Begriffsumfang enthaltenes Prädikat zu und erweitert somit die Kenntnisse über das

134

Koriako (1999): Philosophie der Mathematik, S. 3. HKA II, S. 385–394 (Kant-und Eschenmayer-Studien). Novalis liest die 2. Auflage von 1787. 136 Vgl. etwa HKA II; S. 390 (Kant-und Eschenmayer-Studien): „Nach Kant bezieht sich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft […] auf die Formen der äußern Sinnlichkeit – Welche Wissenschaft bezieht sich denn auf die Formen der innern Sinnlichkeit? […] Die mathem[atischen] Ansch[auungen] sind die sichtbaren Regeln der Ordnung des Mannichfaltigen Raums […].“ 137 HKA II, S. 387 (Kant-und Eschenmayer-Studien). 138 AA III, S. 21 (Kritik der reinen Vernunft). S. 21. 139 Ebd., S. 41. 135

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Subjekt.140 Gemäß dieser Klassifizierung sind die Leibniz’schen Tatsachenwahrheiten a posteriori gültige, synthetische, weil nicht rein logisch begründete Urteile, die Vernunftwahrheiten a priori gültige, analytische Urteile. Aus Kants vierfacher Unterscheidung ergibt sich in Absetzung von der Tradition einer „als vollständig gedachte[n] Zweiteilung aller Erkenntnisse“141 aber eine weitere Urteilsform,142 welche die Form der metaphysischen Erkenntnis bestimmt: Nach Kant gilt, dass die Metaphysik als Wissenschaft „aus lauter synthetischen Sätzen a priori“ besteht,143 denn nur diese liefern neue Erkenntnisse und sind gleichzeitig notwendig wahr. Zunächst ist die Möglichkeit solcher Sätze nicht selbstverständlich, denn die synthetischen Aussagen a priori stellen als apodiktische Erkenntnis jenseits der Erfahrung die problematischste Urteilsform dar: Bei ihnen ergibt sich die Verknüpfung von Subjekt und Prädikat weder analytisch aus den jeweiligen Begriffsumfängen noch a posteriori aus der Erfahrung. Daher besteht, so Kant, „die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft“ in der Beantwortung der Frage: „Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?“144 Diese Möglichkeit – und damit die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft – wird nun, so Kants These, durch die Mathematik bestätigt, die „das glänzendste Beispiel einer sich ohne Beihülfe der Erfahrung von selbst glücklich erweiternden reinen Vernunft“145 darstellt. Denn anders als bei Leibniz ist für Kant Mathematik keine angewandte Logik und somit auch nicht den analytischen Vernunftwahrheiten zugehörig: „Mathematische Urtheile sind insgesammt synthetisch“,146 das heißt, sie schaffen neue apodiktisch gültige Wahrheiten. In seiner vorkritischen Preisschrift, der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral von 1763 hatte Kant noch scharf zwischen (synthetischer) Mathematik auf der einen, (analytischer) Philosophie und Metaphysik auf der anderen Seite unterschieden.147 In den kritischen Schriften aber wird die Urteilsform wissenschaftlicher Erkenntnis einheitlich disziplinenübergreifend begründet. Novalis schließt an Kants Bestimmung der mathematischen Schöpfung neuer Wahrheiten als Beleg für die Möglichkeit einer Erweiterung der reinen Vernunft aus sich selbst heraus an, wenn er notiert: „Das mathematische Denken vervielfältigt sich selbst“148 und: „Die Mathematik ist ächte Wissenschaft 140

Vgl. ebd., S. 27f., 33–36. Engfer (1996): Empirismus versus Rationalismus, S. 372. In die Tradition dieser bis Kant vorherrschenden Klassifizierung gehört neben Leibniz etwa auch David Hume. 142 Die vierte Möglichkeit, die sich aus der Kombination der Merkmale ergeben würde, nämlich die a posteriori geltenden, analytischen Urteile, entfällt, da analytische Urteile stets a priori gültig sind. 143 AA III, S. 39 (Kritik der reinen Vernunft). 144 Ebd. Nach Kant hat „[d]ie Metaphysik […] zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ (ebd, S. 260, Anm.). Entsprechend stellt er die Frage, ob es sich bei den Sätzen der traditionellen Metaphysik von der Existenz Gottes, der Freiheit des Willens und der Unsterblichkeit der Seele tatsächlich um synthetische Urteile a priori handelt. 145 Ebd., S. 468. 146 Ebd., S. 36. 147 AA II, S. 273–301, hier S. 276–278. 148 HKA II, S. 386 (Kant-und Eschenmayer-Studien). 141

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– weil sie gemachte Kenntnisse enthält – Produkte geistiger Selbstthätigkeit – weil sie methodisch genialisiert“ (AB 1126/473). Neben ihrer synthetischen Form gilt nach Kant außerdem, „daß eigentliche mathematische Sätze jederzeit Urtheile a priori und nicht empirisch sind, weil sie Nothwendigkeit bei sich führen, welche aus Erfahrung nicht abgenommen werden kann“.149 Als die objektive Wahrheit garantierendes Bindeglied zwischen Subjekt und Prädikat der mathematischen Aussagen fungiert anstelle der Erfahrung die reine Anschauung, die transzendentale Bedingung der sinnlichen Wahrnehmung also.150 Diese Zuordnung der Mathematik zur reinen Anschauung anstatt zum diskursiven Erkenntnisvermögen des Verstandes ist (nicht nur) im Vergleich zu Leibniz ebenfalls eine entscheidende Neubestimmung der Mathematik bei Kant. Aus ihr resultiert der spezifische Unterschied zwischen mathematischem und philosophischem Erkenntnisverfahren: Die philosophische Erkenntniß ist Vernunfterkenntniß aus Begriffen, die mathematische aus der Conctruction der Begriffe. Einen Begriff aber construiren, heißt: die ihm correspondirende Anschauung a priori darstellen.151

Die „Construction der Begriffe“ oder auch „Erzeugung von Gestalten“152 findet dabei als „successive[] Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren Anschauung […] durch productive Einbildungskraft“ statt.153 Kant orientiert sich hier am euklidischen Beweisverfahren, das er als Prototyp der geometrischen bzw. mathematischen Erkenntnismethode versteht.154 Wie in Kapitel II.2 erläutert wurde, entspricht dies im 18. Jahrhundert nicht mehr uneingeschränkt der mathematikinternen Sichtweise bzw. der zunehmend algebraisierten mathematischen Praxis. Kant selbst schließt weniger an den deduktiv-axiomatischen Aufbau der Elemente an, der ihren Vorbildcharakter in der Mathematik vor allem begründete, als vielmehr an den ersten Schritt des insgesamt fünf- oder sechsstufigen, speziell geometrischen Beweisverfahrens bei Euklid, in dem eine allgemeine Behauptung auf eine konkrete geometrische Figur übertragen wird. Vor dem Hintergrund dieses Verfahrens lässt sich Kants Charakterisierung der mathematischen Schlussweise als Betrachtung allgemeiner Begriffe in concreto deuten.155 Novalis bezeichnet dieses Verfahren anschaulich als „Plastisirungsmethode“: Der Mathematiker „plastisiert die Begr[iffe] um sie zu fixieren und dadurch einen fest bezeichneten, sichren Gang und Rückgang nehmen zu können.“ Novalis räsonniert weiter: „Man soll nicht blos in Einer Welt – in beyden zugleich soll man zugleich thätig sein – nicht denken, ohne zu sinnen, nicht

149

AA III, S. 36f. (Kritik der reinen Vernunft). Vgl. ebd., S. 472. 151 Ebd., S. 469. 152 Ebd, S. 150. 153 AA III, S. 121f., Anm. (Kritik der reinen Vernunft). 154 Vgl. Hintikka (1992): „Mathematical Method“, S. 28f. 155 Ebd., S. 29f. 150

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sinnen, ohne zu denken“.156 Hier sind nun zwei Lesarten möglich: Denkbar ist zum einen, dass Novalis an Kants These anschließt, dass Erkenntnis nur möglich ist durch die Zusammenwirkung der „zwei Grundquellen des Gemüths“:157 Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. [...] Der Verstand vermag nichts anzuschauen und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntniß entspringen.158

Zum anderen legt der Verweis auf Kants Absetzung von philosophischem und mathematischem Erkennen, der sich unmittelbar vor der Beschreibung der „Plastisirungsmethode“ findet, nahe, dass Novalis hier Kants Konzeptualisierung des Verhältnisses von Metaphysik oder Philosophie und Mathematik widerspricht: „Auch hier ist das Verfahren d[es] Mathem[atikers] wie mich dünkt, nicht individuell. […] Warum soll dies der Phil[osoph] nicht auch thun – oder überhaupt jeder einzelne wissenschaftliche Meister.“159 Novalis formuliert hier den Gedanken einer universellen Anwendbarkeit des mathematischen Verfahrens auf jede andere Wissenschaft, insbesondere auch auf die Philosophie. Ausgehend von der gemeinsamen Form der Urteile, beschäftigt sich auch Kant mit der Frage, ob sich die Erkenntnismethode der Mathematik auf die Metaphysik übertragen lässt.160 Anders als etwa Christian Wolff und andere Philosophen des 18. Jahrhunderts, insbesondere auch anders als Novalis, verneint er dies jedoch und begründet seine Antwort durch die aus den unterschiedlichen Erkenntnisgebieten resultierenden, unvereinbaren methodischen Differenzen in beiden Wissenschaften. Das in der Geometrie besonders deutlich hervortretende mathematische Beweisverfahren, allgemeine Eigenschaften der reinen Anschauungsformen an konkreten Repräsentanten und Konstruktionen zu demonstrieren, versagt in der Philosophie, deren Methode gerade in entgegengesetzter Richtung im Abstrakten ansetzt: „Die philosophische Erkenntniß betrachtet also das Besondere nur im Allgemeinen, die mathematische das Allgemeine im Besonderen.“161 Die Philosophie operiert, im Gegensatz zur Mathematik, mit dem Erkenntnisvermögen des Verstandes und verfährt daher rein diskursiv. Zu einem allgemeingültigen synthetischen Urteil über einen Begriff kann sie so nicht durch die Dar156

HKA III, S. 123 (Mathematische Studien zu Bossut und Murhard). Novalis notiert diese Überlegungen direkt im Anschluss an eine Paraphrasierung der Kant’schen Unterscheidung von diskursivem philosophischem und konstruktivem mathematischem Verfahren (ebd., S. 122). Vgl. zur „Plastisirungsmethode“ und ihrem Zusammenhang mit dem frühromantischen Begriff des Experiments Henderson (1997): „Romantische Naturphilosophie“. 157 AA III, S. 74 (Kritik der reinen Vernunft). 158 Ebd., S. 75. 159 HKA III, S. 123 (Mathematische Studien zu Bossut und Murhard). 160 Dies ist eine im 18. Jahrhundert intensiv diskutierte Frage, vgl. dazu Albrecht (2011): „Images der Mathematik“. 161 AA III, S. 469 (Kritik der reinen Vernunft).

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stellung der „ihm correspondirende[n] Anschauung a priori“ gelangen.162 Daher kann sie auch die Mathematik nicht nachahmen, deren Demonstrationen auch Sachverhalte erweisen, die sich begrifflich nicht einsehen lassen.163 Daher, so Kant, ist es nothwendig, noch gleichsam den letzten Anker einer phantasiereichen Hoffnung wegzunehmen und zu zeigen, daß die Befolgung der mathematischen Methode in dieser Art der Erkenntniß [der diskursiven] nicht den mindesten Vortheil schaffen könne.164

Anders als bei Leibniz besteht also zwischen Philosophie und Mathematik bei Kant weder eine methodische noch eine inhaltliche Ähnlichkeitsbeziehung. Auf inhaltlicher Ebene wird sie dadurch ausgeschlossen, dass die Mathematik dem Erkenntnisgebiet der reinen Anschauung angehört, die Metaphysik hingegen dem der reinen Vernunft. Die Verwandtschaft beschränkt sich auf die Urteilsform. Novalis schließt hier zwar insofern eher an Leibniz an, als er Überlegungen anstellt, die Mathematik zu einer allgemeinen Erkenntnismethode auszubauen und entsprechend fordert: „Alle Wissenschaften sollen Mathematik werden.“165 Jedoch reflektiert Novalis durchaus auch den rein formalen Vorbildcharakter der Mathematik, wie er sich bei Kant findet, etwa wenn er notiert: „Jedes wahre System muß dem Zahlenssystem ähnlich geformt sein“ (AB 682/396). Es deutet sich hier bereits an, was im folgenden Kapitel ausgeführt wird: Novalis’ eigene „philosophische Betrachtung“ der Mathematik lässt sich nicht auf eine der zeitgenössischen mathematikphilosophischen Positionen reduzieren, vielmehr muss bei jeder Notiz im Einzelnen hermeneutisch und wissenschaftsgeschichtlich untersucht werden, an welche Traditionen der Mathematikphilosophie Novalis anschließt und wie er sie jeweils in modifizierter Form in sein Denken integriert. Es sollte allerdings der – in der philosophiegeschichtlichen Forschung lange etablierte – Sachverhalt deutlich geworden sein, dass das Mathematische in der Philosophie des 18. Jahrhunderts keine randständige Rolle gespielt hat, sondern sowohl in der Leibniz’schen als auch in der Kant’schen Variante aufs Engste mit metaphysischen und erkenntnistheoretischen Auffassungen verknüpft war. Novalis, den diese analytischen und spekulativen Reflexionen faszinier162

Ebd. Kant nennt in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenshaft wird auftreten können (1783) als Beispiel unter anderem „zwei sphärische Triangel von beiden Hemisphären, die einen Bogen des Äquators zur gemeinschaftlichen Basis haben“ (AA IV, S. 285). 164 AA III, S. 476 (Kritik der reinen Vernunft). Kant betont, dass die methodische Unvereinbarkeit in beide Richtungen gilt: Versucht man, die Erkenntnisse der Mathematik philosophisch zu begründen, indem man sie von der reinen Anschauung abschneidet, so entstehen „nichts als Kartengebäude“, die in sich zusammenfallen, sobald sie rein begrifflich auf ihre Gültigkeit und ihren Inhalt untersucht werden. Andererseits muss aber auch jeder Versuch scheitern, die Mathematik diskursiv anzugehen, da der Philosoph mit diskursiven Begriffen „nur ein Geschwätz erregen könne“, das über den eigentlichen Gegenstand, nämlich die reinen Anschauungsformen und ihre Eigenschaften, nicht das Geringste aussagt (ebd., S. 477). 165 HKA III, S. 50 (Mathematischer Heft). 163

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ten und der zudem über eine ausreichende mathematische Bildung verfügte, um das Potenzial der mathematischen Theorie und Praxis dazu in Beziehung zu setzen, schlägt nun die Brücke von der Mathematikphilosophie zur Ästhetik und – übergreifend – zur Enzyklopädistik.

III. Mathematik und Enzyklopädistik im Allgemeinen Brouillon

III.1

Zur Systematik des Allgemeinen Brouillon

Wer addiren könnte und wollte nichts thun, als aufs Gerathewohl herum addiren, der gliche jenem, der denken könnte, und nun aufs Gerathewohl herumdächte. (wie ich z.B.). Beyde thäten wohl, wenn sie sich Regeln ihres Verfahrens erfänden […]. (AB 718/406)

In diesem Eintrag des Allgemeinen Brouillon werden drei Aspekte deutlich, die Novalis’ Enzyklopädistik-Projekt1 wesentlich auszeichnen. Die Notiz vergleicht erstens die Fähigkeit, die mathematische Operation des Addierens durchzuführen, mit der Fähigkeit des Denkens allgemein. Implizit werden damit auch die Produkte beider Tätigkeiten, die Ergebnisse einer Rechnung und neue Denk-Erkenntnisse, in Analogie zueinander gesetzt. Dadurch spricht die Notiz einerseits der mathematischen Operation einen erkenntnistheoretischen Wert zu, andererseits wird das Erdenken von Wahrheiten als regelgeleitete geistige Operation gekennzeichnet. Zweitens charakterisiert Novalis seine eigene geistige Tätigkeit in ironischer Selbsterkenntnis zunächst als ziel- und regelloses Herumdenken „aufs Gerathewohl“. Diesem stellt er drittens die Forderung nach einem regelgeleiteten Verfahren gegenüber, das sich rechnender wie denkender Kopf erfinden sollen. Dies scheint zunächst eine redundante Forderung, denn das Addieren folgt doch bereits klaren Regeln, und für Novalis unterliegt, wie gerade erläutert, auch das Denken offenbar ähnlichen Vorschriften. Allerdings, und das ist die Pointe der Notiz, besteht ein Unterschied darin, ob man diese Regeln zufällig, „aufs Gerathewohl“, oder zielgerichtet anwendet, ob man somit neue Ergebnisse, sei es in der Ma1

Bewusst verwende ich hier nicht die Bezeichnung „Enzyklopädie-Projekt“, wie sie häufig zu lesen ist. Denn diese fällt meines Erachtens hinter wesentliche Ergebnisse der Novalis-Forschung zurück und fängt nur einen kleinen Teil dessen ein, was Novalis mit dem Allgemeinen Brouillon intendiert. Genauer erläutert wird dies in Abschnitt III.1.1 dieses Kapitels.

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Mathematik und Enzyklopädistik im Allgemeinen Brouillon

thematik oder in der Metaphysik, zufällig oder gezielt erzeugt. Letzteres erfordert eine zusätzliche Reflexion der jeweiligen Methode des Erfindens, die fragt, wie das praktische Wissen, die Kunst und Technik des Denkens und Rechnens, expliziert und systematisch angewendet werden kann. Die Forderung, „Regeln ihres Verfahrens“ zu erfinden, zielt somit auf die Metaebene einer Erfindungskunst. Es geht zunächst nicht darum, neue Inhalte oder Wahrheiten zu (er-)finden, sondern vielmehr um das Verständnis oder Erfinden der Regeln für die Erfindungskunst selbst. Mittels eines solchen Regelsystems ließe sich dann jegliches potenziell mögliche Wissen generieren, man erhielte gewissermaßen einen Erzeugungsalgorithmus für geistige Schöpfungen. Im Zentrum des folgenden Kapitels steht der erste Aspekt, die Analogie von Denken und mathematischen Operationen, die Novalis im Allgemeinen Brouillon anhand verschiedener mathematischer Konzepte spielerisch-experimentell erprobt und erkenntnistheoretisch fruchtbar zu machen versucht. Jedoch lässt sich dieser Aspekt nicht isoliert betrachten, sondern steht in engem Zusammenhang mit den beiden anderen. So ist zunächst zu fragen, welchen Stellenwert die mathematisch angeregten Reflexionen im Allgemeinen Brouillon insgesamt einnehmen. Sie sind, so meine These, Bestandteil von Novalis’ Suche nach einer systematischen Einheit des Wissens und Erkennens. Im Zuge dieser Suche befragt Novalis verschiedene Wissenschaften daraufhin, ob sie sich als methodische Leitdisziplin eignen – eine von ihnen ist die Mathematik. Die Befragung selbst vollzieht sich dabei in einem nicht widerspruchsfreien, aber kreativen, assoziativanalogischen ‚Herumdenken‘ „aufs Gerathewohl“. Dieses zielt nicht in erster Linie auf Konsistenz, sondern entfaltet sich vor allem als ein Experimentierfeld und eine Methoden- und Ideensammlung für das angestrebte System der Wissensordnungen beziehungsweise für die angestrebte einheitliche Ordnung des Wissens. Gerichtet ist die Suche nicht primär auf das System selbst, sondern auf Erzeugungsprinzipien und regelhafte Verfahren, mit denen Systeme hervorgebracht werden können. Diese Thesen gilt es zu belegen, bevor ich mich dem Kernanliegen dieser Studie, der poetischen Appropriation mathematischen Wissens, zuwende. Aus systematischen Gründen ist es sinnvoll, zunächst den Stellenwert der mathematischen Notizen im Allgemeinen Brouillon zu ergründen, weil dies ins Zentrum der Problematik führt, wie das Enzyklopädistik-Projekt von Novalis insgesamt zu bewerten ist – etwa als lose, bewusst fragmentarische und unzusammenhängende Sammlung von Notizen oder aber als Vorbereitung für eine durchaus systematische Darstellung der Einheit der Wissenschaften, in der denn auch die Poesie ihren Platz erhält. Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über die relevanten Studien zu diesem Problemkreis (III.1.1) und situiert die Einschätzung von Novalis’ Enzyklopädistik-Projekt, wie sie meiner Interpretation zugrunde liegt, in Bezug auf die bisher in der Forschung vertretenen Beurteilungen (III.1.2).

Zur Systematik des Allgemeinen Brouillon

III.1.1

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Der Stand der Forschung

Das Allgemeine Brouillon beinhaltet 1151 nummerierte Aufzeichnungen von Novalis, die während seiner Freiberger Studienzeit entstanden sind.2 Form und Umfang der einzelnen Einträge variieren von Stichworten und Aufzählungen über einzelne Sätze bis hin zu längeren, ausformulierten Passagen. Jeder Eintrag ist mit einer Überschrift versehen, etwa „Philosophie“, „Mathematik“, „Romantik“ oder am häufigsten: „Encyclopaedistik“.3 Die Aufzeichnungen weisen vielfältige Bezüge zu den größtenteils zeitgleich entstehenden Freiberger naturwissenschaftlichen Studien auf, unterscheiden sich von ihnen aber dadurch, dass sie einen „in sich geschlossenen Komplex“4 bilden und ihnen ein spezifisches Interesse zugrunde liegt: Die Auseinandersetzung mit zeitgenössisch relevanten wissenschaftlichen, ästhetischen und erkenntnistheoretischen Konzepten zielt auf die Erstellung einer Enzyklopädistik, einer Lehre der Enzyklopädie also, die sowohl enzyklopädische Methoden als auch die Bedingungen und die Frage nach der Einheit des Wissens zum Thema hat. Bezeichnung und Bestimmung des Projekts werden in der Forschung meist durch einschlägige Brouillon-Aufzeichnungen wie die folgenden belegt, in denen Novalis seine Pläne und sein Vorgehen beschreibt: