Gesetzesauslegung im Strafrecht: Eine Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung [1 ed.] 9783428516926, 9783428116928

Gegen die richterliche Praxis der Gesetzesauslegung wird nicht selten der Vorwurf der Beliebigkeit erhoben, i. d. R. ohn

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Gesetzesauslegung im Strafrecht: Eine Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung [1 ed.]
 9783428516926, 9783428116928

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 161

Gesetzesauslegung im Strafrecht Eine Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung

Von

Eric Simon

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ERIC SIMON

Gesetzesauslegung im Strafrecht

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 161

Gesetzesauslegung im Strafrecht Eine Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung

Von

Eric Simon

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Michael Hettinger, Mainz Der Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat diese Arbeit im Jahre 2004 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-11692-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2004 von der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommen. Später ergangene Rechtsprechung konnte bis Oktober 2004 berücksichtigt werden. Herzlich danken möchte ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Michael Hettinger, der mir bei meiner Reise ins Ungewisse großes Vertrauen schenkte und viel Geduld bewies. Er hat die Arbeit durch zahlreiche Gespräche und fachlichen Rat gefördert, mir aber auch durch freundlichen Zuspruch über manch schwierige Phase hinweggeholfen. An die langjährige Tätigkeit als Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl in Mainz werde ich nur mit Wehmut zurückdenken können. Dank schulde ich außerdem Herrn Prof. Dr. Jan Zopfs, der die Mühe der Zweitkorrektur schnell und während des Vorlesungsbetriebes bewältigte, was ich angesichts des Umfanges der Arbeit nicht erwarten konnte. Weiterhin danke ich den Herren Prof. Dr. Ernst-Walter Hanack und Prof. Dr. Justus Krümpelmann für die vielen unterstützenden Worte, der Lang-Hinrichsen-Stiftung für den großzügigen Druckkostenzuschuß und schließlich Herrn Prof. Dr. FriedrichChristian Schroeder für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Strafrechtliche Abhandlungen“. Mainz, im Oktober 2004

Eric Simon

Inhaltsverzeichnis I.

Einleitung/Auswahl des Materials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gang der Darstellung/Orientierung am „Auslegungskanon“ . . . . . . . . . . . 3. Auswahl des Materials/Eingrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Formale Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 16 18 22

II.

Methodologische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kanon als Grundlage/Auslegungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rangordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auslegung/Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Nachbarwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Syllogismus/Subsumtion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Vorverständnis/Apokryphe Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Forensischer Begründungsstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Methodensynkretismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23 23 24 26 27 29 31 35 39

III. Wortlaut und Wortsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorüberlegungen/Terminologisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Dichotomie Wortlaut/Wortsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Bedeutungsfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetzliche Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eindeutigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Weitere Auslegung trotz Eindeutigkeit? (sens-clair-doctrine) . . . . . . . . d) „Schon der Wortlaut“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Heranziehung von Wörterbüchern/Lexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Heranziehung von Syntax und Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Hilfsmittel: „Der Gesetzgeber formuliert sonst so/hätte sonst wie folgt formuliert.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Zusammenspiel von speziellen mit allgemeinen Normen . . . . . . . . . . . i) Heranziehung des Gesetzeszwecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Was ist entscheidend: Alltagssprache oder Fachsprache? . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vorstellungen des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorstellungen des Gesetzgebers über den Sprachgebrauch . . . . . . . . . . b) Aufzählung von Anwendungsbeispielen in den Gesetzesmaterialien 6. Zusammenfassung zu III. 1.–5. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41 41 43 45 45 47 57 60 64 69 73 77 80 82 82 84 92 93 96 98

10

Inhaltsverzeichnis 7. An der Wortlautgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ist der Wortlaut (mögliche Wortsinn) Grenze der Auslegung? . . . . . . b) Alltagssprache/(juristische) Fachsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) „Lehnstuhlmethode“/Sprachgefühl/linguistische Erhebungen . . . . . . . d) Porosität und (primäre/sekundäre) Redaktionsfehler . . . . . . . . . . . . . . . e) Bedeutungswandel/zeitlicher Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Kontext/Systematik/Zusammenspiel von Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Der „Schmerz der Grenze“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Fallgruppe 1: Klare Wortlautüberschreitungen, vom BGH als solche erkannt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Fallgruppe 2: Problemfälle, BGH lehnt Subsumtion ab . . . . . . . . . dd) Fallgruppe 3: Problemfälle, BGH subsumiert und begründet . . . . ee) Fallgruppe 4: Problemfälle, BGH subsumiert, aber mit schwacher Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Fallgruppe 5: Mangelndes Problembewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Fallgruppe 6: Umgehungsmechanismen, sonstiges . . . . . . . . . . . . . hh) Verbleibende, im Schrifttum genannte Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Fazit, Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Wortlautunterschreitungen/Reduktion tätergünstiger Normen . . . . . . . i) Gleichsetzung/Gleichstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Zusammenfassung zu III. 7. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IV.

Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorüberlegungen/Terminologisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Historische, genetische, evolutionäre Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Objektive versus subjektive Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Wille des Gesetzgebers/Wille des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) „Objektivierter“ Wille des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ist die Entstehungsgeschichte überhaupt als Erkenntnismittel heranzuziehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die „Andeutungstheorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Inhalt und Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Praktische Umsetzung: Wille ist zum Ausdruck gekommen . . . . . . . . e) Praktische Umsetzung: Wille ist nicht zum Ausdruck gekommen . . . f) Außerachtlassen der Andeutungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die genetische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines, Regeln, Paktentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einzeläußerungen versus Kollektivwille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

100 100 111 121 124 127 134 140 140 144 150 154 160 167 172 179 182 190 197 201 204 204 204 208 209 215 218 226 232 232 233 237 244 247 253 255 258 258 265

Inhaltsverzeichnis

5.

6.

7.

8.

9. V.

c) Konkrete Vorstellung versus abstrakte Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Interpretationshilfe Verwaltungsvorschrift/ministerielle Äußerungen e) Nachträgliche Äußerungen der Gesetzesverfasser . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Der nationalsozialistische Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beschränkung der Auslegung auf Fälle, an die der Gesetzgeber gedacht hat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenbilanz zu a) und b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Veränderung der rechtlichen Verhältnisse und Anschauungen . . . . . . . Entwürfe, Änderungen im Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Informative Heranziehung zulässig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Änderungen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . d) Ausdrückliche Bezugnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Klarstellung oder Änderung der Rechtslage bei verändertem Wortlaut c) Änderung oder Bestätigung der Rechtslage ohne Änderung der einschlägigen Norm? (Fernwirkung systematischer Auslegung) . . . . . . . . d) Folgerungen aus der lex ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Folgerungen aus der Übernahme/Wiedereinführung von (ähnlichen) Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Folgerungen aus der Streichung von Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . g) „Klugheit“ des (schweigenden) Gesetzgebers: formuliert sonst so/ könnte leicht klarstellen/in Kenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Gesetzgeber „wollte nur klarstellen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Vertrauensschutz des Gesetzgebers?/Änderungen in anderen Rechtsgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Delegation an Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irrtümer und Versehen der Gesetzesverfasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Redaktionsversehen (Erklärungsirrtum) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Inhaltsirrtümer der Gesetzesverfasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Motivirrtümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sonstige Versehen (Übersehen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Nachträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 272 274 276 279 280 282 289 299 301 317 317 318 321 325 327 328 328 329 332 337 340 342 345 350 351 355 356 357 357 360 366 369 373 377 381 382

Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

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Inhaltsverzeichnis 2. Stellung der Norm im Abschnitt/gesetzliche Überschriften . . . . . . . . . . . . 3. „Logisch“-systematische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erst-recht-Schluß (a fortiori), Größenschlüsse (a minore/a maiore) . . b) Umkehrschluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausnahmevorschriften (singularia non sunt extendenda) . . . . . . . . . . . . . . a) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wann liegt eine Ausnahmevorschrift vor?/Unterausnahmen . . . . . . . . c) Einsatzgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Handhabung (demonstriert an Regelungen der StPO), Fazit . . . . . . . . 5. Verfassungskonforme Auslegung und verfassungskonforme Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Sonstiger Einfluß von Grundrechten auf die Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . 7. Bestimmtheitsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfahrensweise des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Insbesondere zum Kriterium der Vorhersehbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Von der Prüfung der Norm zur Prüfung ihrer Auslegung . . . . . . . . . . . e) Irrungen und Wirrungen/Verhältnis zum Analogieverbot . . . . . . . . . . . f) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Einheit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Relativität der Rechtsbegriffe, Begriffsspaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verstoß gegen Art. 3 I GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VI.

Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorüberlegungen/Terminologisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausweitungs- und Vereinfachungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der wertungsbezogene Fallvergleich und der Grundsatz der Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sinnwidriges Ergebnis/argumentum ad absurdum/Untragbarkeitsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der indirekte Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Sinnwidrigkeit des Ergebnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Argumentationsmuster im einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit . . . . . a) Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Was versteht die Praxis unter kriminalpolitischen Argumenten? . . . . . c) Anerkannte Grenzen kriminalpolitischer Argumentation . . . . . . . . . . . d) Kriminalpolitische Ergebniskontrolle/Strafbarkeitslücken . . . . . . . . . . . e) Strafwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

388 391 392 397 401 401 403 406 408 414 422 430 430 433 438 440 444 451 452 453 462 465 471 471 477 482 488 488 488 490 491 501 502 502 505 514 515 525 526

Inhaltsverzeichnis

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Höhe des Strafrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Grundsatz „wirkungsmächtiger Auslegung“/Gefahr der Aushöhlung Gesetzesumgehungen/Schutzbehauptungen/Beweisschwierigkeiten . . . . . Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtssicherheit, Rechtsklarheit, Trennschärfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gerechtigkeit, Gleichbehandlungsgrundsatz, „Gerechtigkeitsempfinden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Normen im direkten Spannungsfeld der Rechtsidee . . . . . . . . . . . . . . . . d) Billigkeit/Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Zufall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Praktikabilität/Bedürfnisse der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Argumentation aus dem „Wesen“/sonstige Floskeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Argumentation aus dem „Wesen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sonstige Floskeln („allgemeine Grundsätze des Strafrechts“) . . . . . . . 12. Folgenberücksichtigung/Ergebniskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

527 534 538 541 542

VII. Übergreifende Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Methodologische Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aussagen aus dem Bereich der canones . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Reihenfolge der Auslegungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bindungswirkung/Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsprechungsänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zum Verhältnis von Gesetzgeber und Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Betonung der Gesetzesbindung (Art. 20 III, 97 I GG) . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsprechung als Reparaturbetrieb der Gesetzgebung?/Gesetzeskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unendliche Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

577 577 577 583 585 588 599 599

6. 7. 8. 9.

548 553 555 559 560 561 567 567 571 572

605 610

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 Entscheidungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Gesetzesverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 670

I. Einleitung/Auswahl des Materials 1. Ziel der Untersuchung Das Verfahren der Praxis bei der Anwendung des Gesetzes genießt kein hohes Ansehen. Aus der Wissenschaft wird der Vorwurf der Beliebigkeit erhoben oder sogar das Scheitern der Methodenlehre selbst konstatiert. Aber auch in der Öffentlichkeit wird seit jeher der Umgang der Juristen mit dem Gesetz argwöhnisch betrachtet und der Verdacht gehegt, daß Juristen ihr methodisches Instrumentarium zur Begründung jedes nur erwünschten Ergebnisses nutzen können.1 Vorliegende Untersuchung geht davon aus, daß die kritische Beurteilung der Praxis zunächst einer ausreichenden und repräsentativen Beschreibung der tatsächlichen Verfahrensweise bedarf und der Vorwurf des Scheiterns häufig ohne genügende Grundlage erfolgt.2 Jedenfalls für das Gebiet des Strafrechts soll hier Abhilfe geschaffen werden, indem die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in Strafsachen auf methodologische Fragestellungen hin geprüft und das umfangreiche Material unter diesem Gesichtspunkt systematisch zu einer Art Dogmatik der Auslegungspraxis aufbereitet wird. Bei einer Untersuchung der Rechtsprechung ist ein realistischer Maßstab zugrunde zu legen. Von ihr kann nicht erwartet werden, daß sie eine selbst ausgearbeitete und widerspruchsfreie „Theorie der Praxis“ vorweist. Freilich ist sie „Anwendungsinstanz wissenschaftlich produzierter Methoden“3 und bedient sich der in der Methodenlehre geläufigen Argumente. Deshalb muß die Praxis, auch wenn sie sich selbst nicht als „angewandte Methodenlehre“ versteht,4 sich 1 Aus der Diskussion in der Tagespresse siehe z. B. Bohl, F.A.Z. 13.2.1999, S. 13: „Richter im Niemandsland. Zur Methode der Juristen“; H. Weber, F.A.Z. 29.6.2000, S. 10 (Leserbrief): „Rechtswissenschaft ist durchdrungen von Methodik, allerdings von der eher zweifelhaften Art“; Johannes, F.A.Z. 14.11.2000, S. 12 (Leserbrief): „Jede Auslegungsmethode in der Gefahr der Willkür“. 2 Allgemein zum Mißverhältnis zwischen Beschreibung und Erklärung im Wissenschaftsbetrieb Klein, F.A.Z. 17.9.2003, S. N 3. 3 Grimm, in: FS für Coing, S. 471. 4 Was schon in den spärlichen Nachweisen aus dem Schrifttum zur Methodenlehre zum Ausdruck kommt: Lediglich vier Entscheidungen der amtlichen Sammlung (BGHSt GS 30, 105; 34, 71; 39, 112; GS 40, 138) nehmen überhaupt Anleihe bei Büchern zur Methodenlehre. Engischs „Einführung in das juristische Denken“ wird dort insgesamt acht Mal zitiert, Larenz’ „Methodenlehre“ nur zweimal, Zippelius’ „Einführung in die juristische Methodenlehre“ einmal, die großen Lehrbücher von Bydlinski („Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff“) und Pawlowski („Methodenlehre für Juristen“) gar nicht! Entsprechendes gilt offenbar für die Rechtsprechung

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I. Einleitung/Auswahl des Materials

an grundlegenden Einsichten der Methodenlehre, soweit diese ihrerseits den Praxisbezug nicht aus den Augen verliert, messen und kritisieren lassen: Auf Stimmigkeit und Rationalität, auf Nachvollziehbarkeit der Entscheidungsbegründungen, auf Übereinstimmung der abstrakten Prämissen mit der tatsächlichen Umsetzung, auf methodologische Widersprüche, auf Methodenehrlichkeit. Es darf erwartet werden, daß die Rechtsprechung zumindest das gesicherte Wissen der Methodenlehre zur Kenntnis nimmt5 und umgekehrt nicht ihrerseits unhaltbare, widersprüchliche oder nicht durchhaltbare Theoreme aufstellt. In Rechnung gestellt werden müssen freilich – ohne vorab nach Rechtfertigungsgründen für zweifelhafte Vorgehensweisen zu suchen – vielfältige Eigenheiten der Praxis wie der Entscheidungszwang, die personellen Besonderheiten eines Kollegialgerichts und der spezifische Duktus revisionsgerichtlicher Urteile.6 Zu bedenken ist auch, welch weitreichende Vergleiche die oberen Gerichte in zeitlicher Hinsicht aushalten müssen: Niemand äußert Bedenken, wenn etwa eine aktuelle Entscheidung zur Frage, wie der fehlerhafte Ausschluß der Öffentlichkeit im Strafprozeß revisionsrechtlich zu behandeln ist, mit den einschlägigen, aber 50 Jahre zurückliegenden Entscheidungen zur gleichen Frage verglichen wird.7 Wäre es bei diesen Maßstäben um die Literatur besser bestellt?8 Und schließlich ist zu berücksichtigen, daß der Praxis das sonst zum Ausgleich divergierender Ansichten heranzuziehende Instrumentarium der §§ 121 II, 132 II GVG zur Klärung von Methodenfragen nicht zur Verfügung steht.9

2. Gang der Darstellung/Orientierung am „Auslegungskanon“ Die Untersuchung nutzt den traditionellen „Kanon“ der Auslegungskriterien als Grundlage der Darstellung. Mit Hilfe detaillierter Urteilsanalysen soll der in der Rechtsprechung erreichte Stand in Methodenfragen aufgezeigt und an den (einigermaßen gesicherten) Erkenntnissen der gängigen Methodenlehre gemessen werden. In methodologischen Vorbemerkungen (unten Kapitel II) werden zunächst rechtstheoretische Grundlagen erörtert, welche die Untersuchung ständer Zivilsenate, siehe Seiler, Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht, S. 17. 5 Larenz, Methodenlehre, S. 234; krit. zur Reflexionsbereitschaft der Gerichte in Methodenfragen Gern, VA 1989, 415 (422). 6 Zu weiteren Besonderheiten bei der Analyse von Gerichtsentscheidungen (der Begriff „Urteil“ wird in vorliegender Arbeit entgegen dem strafprozessualen Sprachgebrauch in einem weiteren Sinn verstanden, synonym zu „Entscheidung“) siehe auch unten II 7. 7 Siehe BGHSt 1, 334; 2, 56; 4, 279; 45, 117 = unten Fall 356. 8 Zum Umgang der BGB-Lehrbücher mit dem Gesetz siehe Hofer, JuS 1999, 112. 9 Das liegt daran, daß es im Divergenzverfahren nur um die Klärung des Rechtsproblems selbst geht, nicht um den methodischen Weg, der zu den unterschiedlichen Ansichten geführt hat; näher unten VII 1 c.

2. Gang der Darstellung/Orientierung am „Auslegungskanon‘‘

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dig begleiten, sowie Möglichkeiten und Grenzen von Urteilsanalysen dargestellt. Sodann wird die strafgerichtliche Rechtsprechung anhand der üblichen Auslegungskriterien – Wortlaut (III), Entstehungsgeschichte (IV), Systematik (V), Sinn und Zweck (VI) – aufbereitet. Entsprechend dieser Aufgliederung sind zahlreiche der untersuchten Entscheidungen an verschiedenen Stellen der Arbeit unter je anderen Gesichtspunkten erneut zu beleuchten. Auf die vielfach bestehenden Verschränkungen der einzelnen Auslegungskriterien ist im jeweiligen Zusammenhang hingewiesen. Schwerpunkte der Darstellung bilden die Kapitel zur grammatikalischen (III) und zur historischen (IV) Auslegung, da dort zugleich zentrale Aspekte einer möglichen Rangfolge der Auslegungsfaktoren (Grenze der Auslegung, Bindung an den gesetzgeberischen Willen) mit einfließen. In einem Schlußkapitel (VII) werden übergreifende Gesichtspunkte behandelt (ausdrückliche methodologische Äußerungen, Rechtsprechungsänderungen, Verhältnis zwischen Rechtsprechung und Gesetzgeber), die gleichfalls Schlußfolgerungen auf eine von der Rechtsprechung bevorzugte Rangfolge zulassen. Daß mit der Orientierung am klassischen Auslegungskanon vom Standpunkt einer „alternativen Rechtstheorie“ – in welcher Spielart auch immer10 – die neuralgischen Punkte nicht getroffen werden, liegt auf der Hand und wird in Kauf genommen. Denn bei allen Zerfallserscheinungen11, die der traditionellen Methode der Rechtsanwendung attestiert werden: Wer will bestreiten, daß die Begründungen der veröffentlichten Revisionsentscheidungen sehr wohl als Basis der Diskussion von (dogmatischen) Sachproblemen geeignet sind. Wie sonst könnte ein Publikationsbetrieb – vor allem die zahlreichen Anmerkungen – sinnvoll stattfinden, ohne daß Praxis und Theorie bezuglos aneinander vorbeiredeten? Mit der Anlehnung an die bekannten Kriterien des Auslegungskanons gewinnt vorliegende Arbeit zuweilen mehr den Charakter eines Kompendiums als den einer durchgängig lesbaren und von einem einheitlichen Grundgedanken getragenen Schrift. Nach übergreifenden Zusammenhängen und wiederkehrenden Argumentationsmustern wird natürlich geforscht, aber das Sammelsurium an Einzelfragen, die mit der Normkonkretisierung verbunden sind, setzt dem zwangsläufig Grenzen. Für den Leser hat das den Vorteil, die zahlreichen und zum Teil ausführlichen Urteilsanalysen zu einzelnen Aspekten nach seinem jeweiligen Interesse überspringen zu können.

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Näher dazu und zu weiteren Grundfragen der Methodenlehre im 2. Kapitel. Luhmann (Recht der Gesellschaft, S. 318 f.) führt die Zerfallserscheinungen auf die Verbindung von Entscheidungszwang mit einer immer komplexer werdenden Gesellschaft zurück. 11

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I. Einleitung/Auswahl des Materials

3. Auswahl des Materials/Eingrenzungen Ausgewertet wurde fast ausschließlich die amtliche Sammlung in Strafsachen (BGHSt), diese jedoch komplett. Die Materialfülle mag den Leser skeptisch stimmen, denn im weiteren Sinn haben natürlich die meisten Entscheidungen in irgendeiner Hinsicht mit Methodik zu tun. Berücksichtigt sind deshalb vor allem drei Arten von Entscheidungen: Erstens diejenigen, die ausdrücklich zu Fragen der Methodenlehre Stellung beziehen12, zweitens jene, aus denen sich implizit Präferenzregeln des Gerichts ergeben und drittens solche, die sich intensiv mit Einzelfragen des Kanons beschäftigen. Neben der amtlichen Sammlung des BGH werden vereinzelt anderweitig veröffentlichte BGH-Urteile herangezogen. Seltener wird auf Entscheidungen anderer Gerichte zurückgegriffen, obgleich sich natürlich auch dort Lehrstücke der Methodenlehre finden13; dabei handelt es sich vor allem um Äußerungen, die in späteren Verfahren beim BGH eine Rolle spielen und dort entweder bestätigt oder verworfen werden14. Des öfteren zu Wort kommt das BVerfG, zum einen weil der BGH häufig auf rechtstheoretische Äußerungen des BVerfG rekurriert, zum anderen weil in Art. 103 II GG verfassungsrechtliche und methodische Aspekte unmittelbar verschmelzen, Strafrecht somit wie sonst kein anderes „einfaches“ Rechtsgebiet verfassungsrechtlich und -gerichtlich beeinflußt ist. Gerade wegen der (nicht nur) aus Art. 103 II GG folgenden Strenge, welche die Gerichte etwa bei der Frage Auslegung/Analogie zu schärferer Abgrenzung zwingt, eignet sich das Strafrecht besonders als Prüfstein für die Leistungsfähigkeit einer konventionellen Methodenlehre. Umgekehrt formuliert: Wenn der Kanon selbst hier nichts gewährleisten kann, wie soll es dann erst bei Rechtsgebieten mit höherem Abstraktionsniveau wie z. B. dem Verfassungsrecht aussehen? Die Analyse beschränkt sich nicht auf Fragen des StGB, sondern erfaßt das Strafrecht einschließlich seiner Nebengebiete. Unter methodologischen Aspekten wäre etwa ein Verzicht auf die insofern oft instruktiven Entscheidungen zum Nebenstrafrecht kaum vertretbar. Nicht gerechtfertigt wäre es unter diesem Blickwinkel auch, die Untersuchung auf Fragen des geltenden Rechts zu beschränken, denn die erörterten Methodenfragen sind vielfach zeitlos. Ausgeschlossen werden mußten hingegen Aspekte der Rechtsgewinnung, die sich allzu sehr vom Kanon der Auslegungskriterien entfernen. Dazu zählt etwa die Frage, nach welchen Standards die Unter- und Mittelgerichte bei der Norminterpretation verfahren15, ob es sozusagen eine Arbeitsteilung mit einer Konzentra12 Z. B. BGHSt 6, 394 (396): „Aber durch den Wortlaut ist die Auslegung der Bestimmung nicht begrenzt; es kommt vielmehr auf den Sinn und Zweck an, den der Gesetzgeber – nach ihrer Stellung im Gesetz – erkennbar verfolgt hat.“ 13 Unbedingt lesenswert z. B. OGHSt 3, 44; DOG NJW 1950, 652; RGSt 12, 371. 14 Gerade Rechtsprechungsabweichungen ermöglichen eine genauere Sicht auf die Leistungsfähigkeit der gängigen Auslegungsmethoden; vgl. unten VII 2.

3. Auswahl des Materials/Eingrenzungen

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tion der Rechtsfragen bei den Revisionsgerichten gibt.16 Ferner gehört dazu das schwierige Verhältnis der Normexegese zu den Präjudizien, denen mit dem „Altern der großen Kodifikationen“17 zunehmendes Gewicht zukommt und die Rechtsanwendung in Richtung „case law“ treibt18. Besonders drastisch kommt diese Entwicklung bei Normen zum Ausdruck, die zum Urbestand des StGB gehören und schon damals in ihrer Fassung verunglückt waren. Finden (fanden je) die klassischen Auslegungskriterien z. B. auf § 263 I StGB Anwendung oder mußten nicht erst Theorie und Praxis einen adäquaten und handhabbaren Tatbestand konstruieren? So nimmt es nicht Wunder, daß keine der zahlreichen zu § 263 I StGB ergangenen Entscheidungen des BGH für vorliegende Arbeit von besonderem Interesse ist. Auch weitere, grundlegende Vorschriften des StGB wecken Zweifel, ob die Normkonkretisierung stets durch „Auslegung“ erfolgt, etwa bei den §§ 185, 193, welche die Praxis aufgrund verfassungsrechtlicher Implikationen eher einem Verfahren der „Abwägung“ unterzieht.19 Damit soll nicht der Wertlosigkeit des methodologischen Instrumentariums das Wort geredet, sondern auf Konstellationen hingewiesen werden, die unter Umständen nach anderen, gesondert zu untersuchenden Regeln zu behandeln sind.

Eine weitere Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes, die nicht beabsichtigt war, zeichnete sich im Lauf der Untersuchung immer deutlicher ab: Ganz überwiegend wird es um die Auslegung von Vorschriften gehen, deren Abstraktionsgrad im wesentlichen von geringerer Art ist. D.h., daß die Normen des StGB-BT, des Nebenstrafrechts, des Strafverfahrensrechts und diejenigen Vorschriften des StGB-AT, deren Regelungsgehalt im Gesetz sehr konkret ausformuliert ist (Einziehung, Entziehung der Fahrerlaubnis u. ä.), häufiger Gegenstand der Betrachtung sein werden als die „ganz allgemeinen“ Normen des StGB-AT.20 Bei diesen ganz allgemeinen Fragen wie z. B. den Voraussetzungen des fahrlässigen Delikts und des Unterlassungsdelikts, der Kausalität, von Täterschaft und Teilnahme, der Irrtumslehre, möglicherweise sogar dem Deliktsaufbau insgesamt tritt die Tätigkeit der Normexegese mit ihren hermeneutischen Verstrickungen zugunsten einer allgemeinen Strafrechtslehre, wenn man so will, 15

Diese und weitere Fragestellungen bei Marxen, GA 1987, 42 (43). Z. B.: Prüfen die Amtsgerichte die Entstehungsgeschichte neu erlassener Gesetze? Und wenn ja, wie intensiv? Näher zur Handhabung der Methodenlehre im erstinstanzlichen Verfahren P. Albrecht, in: ratio legis, S. 69 ff. 17 Formulierung bei Kübler, JZ 1969, 645, aufgegriffen von BVerfGE 34, 269 (288). 18 Vgl. Raisch, Vom Nutzen, S. 65 ff.; siehe auch Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 365, der den Unterschied zwischen kontinentaleuropäischer und angelsächsischer Rechtsanwendung geringer veranschlagt, als dies gemeinhin angenommen werde. 19 Für eine Rückkehr in diesem Bereich zur herkömmlichen Methode der Auslegung Merz, Strafrechtlicher Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, S. 79 ff. 20 Ähnlich Savigny, in: Juristische Dogmatik, S. 66, der schließlich aber überrascht ist, wie viele Konflikte zwischen Wortlaut und Billigkeitserwägungen in der BGHRechtsprechung zum AT doch zu finden sind. 16

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I. Einleitung/Auswahl des Materials

hinter einer „Arbeit am System“21 zurück. Das schließt nicht aus, daß auch in diesen Fragen einmal Norminterpretation im klassischen Sinn betrieben werden kann22, daß etwa bei der Anwendung von § 25 II StGB23 oder von §§ 16, 17 StGB24 die Entstehungsgeschichte der Norm befragt wird. Aber im ganzen gesehen sind diese Fälle marginal, und es ist kein Zufall, wenn in diesem Bereich (z. B. bei § 13 StGB) Fragen der juristischen Logik und Auslegungslehre nur eine geringe Rolle spielen25, aber statt dessen das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot an Bedeutung gewinnt. Von einer statistischen Auswertung der amtlichen Sammlung wurde nur zurückhaltend Gebrauch gemacht. Sicher kommt in der tatsächlichen Verwendung bestimmter Auslegungskriterien eine gewisse Wertschätzung des Gerichts gegenüber dem jeweiligen Kriterium zum Ausdruck.26 Doch kann daraus ohne eine qualitative Urteilsanalyse nichts Grundsätzliches, etwa zum Rang des Kriteriums innerhalb des Kanons, geschlossen werden. Daß z. B. der Argumentation aus der Entstehungsgeschichte bei jüngeren Gesetzen größere Bedeutung zukommt, ist keine überraschende Einsicht und erklärt zudem den normativen Rang dieser Methode im Kanon noch nicht.27 Viel interessanter ist in diesem Zusammenhang, ob der BGH sich in der Lage sieht, auch bei einem aktuellen Gesetz den in den Materialien zum Ausdruck gekommenen „Willen des Gesetzgebers“ beiseite zu schieben (und wie er das bewerkstelligen würde). Wenn ja, könnte das für die These von Naucke sprechen, wonach die Praxis die subjektive Auslegung nur nutzt, wenn sie das zuvor bereits gefundene (richtige) Ergebnis am besten „formulierbar macht“.28 Eine statistische Auswertung29 würde auch an Phänomenen wie BGHSt 18, 156 (159) vorübergehen, wo der BGH dem Argument Entstehungsgeschichte generell und apodiktisch jeden Wert abspricht, dann aber seitenweise Ausführungen zu dieser (irrelevanten?!) Frage folgen läßt. Einzelheiten sollen hier aber nicht vorweggenommen werden.

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Besonders deutlich in der Irrtumslehre. Sehr skeptisch für den Bereich der allgemeinen Lehren Hruschka, JZ 1985, 1 (8, r. Sp.), der allerdings der juristischen Auslegung schlechthin ein vernichtendes Zeugnis ausstellt. 23 Siehe z. B. BGHSt 38, 315 (317). 24 Vgl. aber Loos, in: FS für Wassermann, S. 125 ff., der an §§ 16, 17 StGB demonstriert wie ein selbstbewußter „Objektivist“ (Schmidhäuser) den gesetzgeberischen Willen beiseite schieben kann. 25 Tiedemann, Anfängerübung, S. 84. 26 Darauf basiert die Untersuchung von Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht. Ihr Gebrauch und ihre Wertschätzung im Wandel unseres Jahrhunderts, 1982. 27 Eingehend unten IV 1 a (dort insbesondere Fn. 16 und der dazugehörige Text). 28 Naucke, in: FS für Engisch, S. 279; siehe auch Wassermann, DRiZ 1986, 201 (204): „Im Zweifelsfall entscheidet oft, welcher Urteilsinhalt sich am leichtesten begründen läßt.“ 29 Siehe z. B. Raisch, Vom Nutzen, S. 39–41 und 88–92 (m. E. wenig aussagekräftig). 22

3. Auswahl des Materials/Eingrenzungen

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Erwähnt sei, daß auf die CD-ROM-Version von „BGHSt“ (Band 1–44) zurückgegriffen wurde, aber nicht um ernsthaft Statistik im o. g. Sinn zu betreiben. So wird es kaum hilfreich sein, dort nach Stichworten wie „Auslegung“ (2064 Mal), „Entstehungsgeschichte“ (451 Mal, gleichmäßig über die amtliche Sammlung verteilt) oder „Sinn und Zweck“ (409 Mal) zu suchen. Gleichwohl soll der Wert solcher Recherchen nicht ganz in Abrede gestellt werden.30 So könnte aus der Tatsache, daß der Ausdruck „Wesen“ in den Bänden 1–22 der amtlichen Sammlung 279 Mal auftaucht, während das in den Bänden 23–44 nur 85 Mal der Fall ist, natürlich Hypothesen gefolgert werden. Durchaus weiterführend ist diese Art der Auswertung vor allem bei selten verwendeten Argumentationsmustern, bei denen Zweifel bestehen, ob es sich dabei um Unikate handeln könnte, z. B. der Auslegungsgrundsatz, wonach Vorschriften zur Unterbrechung der Verjährung „loyal zu handhaben sind“31.

Als relevant für vorliegende Arbeit erwiesen sich ca. 500 Entscheidungen, wovon etwa 100 methodologisch besonders interessant sind. Noch geringer ist der Anteil der „Lehrstücke“ zur Methodenlehre oder derjenigen Entscheidungen, in denen der BGH sich explizit zu Methodenaussagen hinreißen läßt. Nur ein hinreichend großes, qualitativ ausgewertetes Datenmaterial läßt vom hier vertretenen Standpunkt aus generalisierende Betrachtungen zu einer „Methode der Praxis“ zu. Wer aus der Analyse nur weniger Entscheidungen den Vorwurf der Beliebigkeit, Methodenwillkür und Irrationalität erheben will32, muß sich die Frage gefallen lassen, ob die Praxis in der ganz überwiegenden Zahl von Fällen nicht doch zu methodisch einwandfrei begründeten Lösungen gelangt.33 Zu Wort kommen hier nicht nur die Strafsenate des BGH, sondern auch die zahlreichen Verfasser von Entscheidungsanmerkungen. Nicht interessieren soll, ob diese Autoren gegenüber dem BGH die besseren Fallösungen anbieten können, sondern ob sie überhaupt die methodologischen Gesichtspunkte aufgreifen und dem Gericht in dieser Hinsicht handwerkliche Mängel nachweisen können. Vorweggenommen sei die wenig überraschende Feststellung, daß die Bereitschaft, Fragen der Methodik zu reflektieren, stark von den persönlichen Neigungen des jeweiligen Autors abhängt: Wer besonderes Interesse an der Rechtstheorie hat, wird etwa die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen zur „Rechtsfolgenlösung“ bei § 211 StGB (BGHSt GS 30, 105) eben unter diesen Aspekten erörtern34, wem mehr an rein dogmatischen Fragen oder an den Folgen der Entscheidung für die weitere Praxis liegt, wird dazu Stellung nehmen35. 30 Wohl zu optimistisch hinsichtlich der Möglichkeiten, der Datenbank „juris“ Maßgebliches zu entlocken, Hilgendorf, NJW 1993, 716. 31 BGHSt 11, 335 (337); 12, 335 (337); 16, 193 (196). 32 Als Beispiele seien genannt: Venzlaff, Über die Schlüsselstellung des Rechtsgefühls bei der Gesetzesanwendung und – fast ausschließlich auf BGHSt 1, 1 rekurrierend – Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewinnung. 33 Eine Verzerrung liegt freilich bereits in der Beschränkung auf Entscheidungen der Revisionsgerichte. 34 Z. B. Bruns, JR 1981, 358; Köhler, JuS 1984, 762. 35 Lackner, NStZ 1981, 348; kriminalpolitisch-soziologisch Frommel, StV 1982, 533.

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I. Einleitung/Auswahl des Materials

Nichts anderes wird für die Strafsenate des BGH gelten, in denen die Sensibilität für Methodenfragen nicht zuletzt von der Zusammensetzung des Senats36, von den Fähigkeiten oder Interessen des Berichterstatters, von Persönlichkeit und Einfluß des Vorsitzenden abhängen dürfte. Die Untersuchung spiegelt in gewisser Hinsicht eine Art Auslegungsgeschichte der letzten 50 Jahre wider, ohne den schwerlich erfüllbaren Anspruch zu verfolgen, genau abgrenzbare Epochen herauszuarbeiten.37 Allenfalls in einzelnen Aspekten wird man verläßliche Entwicklungslinien aufzeigen können, wie etwa in der Frage, ob der Wortlaut stets als Grenze der Auslegung anerkannt wurde oder wie sich die Rechtsprechung explizit über den Wert historischer Auslegung äußert.38 Die Erörterung von Entscheidungen zu nicht mehr aktuellen Rechtsfragen ermöglicht es darüber hinaus, Schlüsse über das Kooperationsverhältnis von Rechtsprechung und Gesetzgeber zu ziehen, insbesondere zu prüfen, ob der Gesetzgeber seiner „Produktbeobachtungspflicht“39 genügt, indem er den Umgang der Praxis mit dem Gesetz verfolgt und entsprechende Konsequenzen daraus zieht. Deshalb werden gesetzgeberische Reaktionen auf Auslegungsprobleme des öfteren dokumentiert. In ihnen zeigt sich nicht nur kriminalpolitischer Aktionismus (Schließung von „Strafbarkeitslücken“), sondern auch der Wille und die – nach wohl schon herrschender Auffassung: nachlassende – Fähigkeit zur Pflege der strafrechtlichen Kodifikationen.

4. Formale Aspekte In formaler Hinsicht ist auf folgendes hinzuweisen: Die einschlägigen, z. T. älteren Gesetzestexte sind mitgeteilt, soweit es zum Verständnis der jeweiligen Entscheidungen notwendig ist. Hervorhebungen in Kursivschrift stammen vom Verfasser der vorliegenden Arbeit, wenn nicht gesondert auf Gegenteiliges hingewiesen wird („Hervorhebung i. O.“). Kommentare oder dem Verständnis dienliche Zusätze erfolgen in runden oder – bei Zitaten – in eckigen Klammerzusätzen.

36 Eine zwischen den Senaten und Sachgebieten differenzierende Untersuchung nimmt Seiler vor (Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht, S. 55 ff.). 37 Golo Mann, Deutsche Geschichte, S. 104: „die Epochen fließen ineinander – es gibt sie klar begrenzt ja nur in unserem Geist“. 38 Siehe unten III 7 a und IV 2. Nur schwer durchführbar dürfte der Vorschlag von Loos (in: FS für Wassermann, S. 123) sein, eine Geschichte der Auslegungszielbestimmung zu schreiben; vgl. insoweit allerdings Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat, S. 158 ff. 39 W. Meyer, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 3, Art. 97, Rn. 23.

II. Methodologische Vorbemerkungen Vorliegende Arbeit stellt der Rechtsprechung kein eigenes Modell der Rechtsanwendung entgegen, sondern versucht, sie an den gängigen Lehren zu messen. Die folgenden Vorbemerkungen sollen einige begriffliche und inhaltliche Klarstellungen auf dem sehr umstrittenen Gebiet der Methodenlehre erreichen, um der weiteren Darstellung einen Rahmen zu geben und sie von rechtstheoretischen Grundfragen zu entlasten. Darüber hinaus dient der Vorspann1 dazu, Möglichkeiten und Grenzen einer Argumentationsanalyse aufzuzeigen.

1. Kanon als Grundlage/Auslegungsziel Grundlage der Methodenlehre ist nach wie vor trotz seines „ehrwürdigen Alters“2 der allerdings viel gescholtene „Kanon“ mit seinen Kriterien der grammatikalischen (semantischen), entstehungsgeschichtlichen (historischen), systematischen (logisch-juristischen) und teleologischen Auslegung. Zusammen dienen diese Kriterien einerseits – stellt man eine abstrakte Normexegese in den Vordergrund – dazu, Sinn und Bedeutung der Vorschrift zu erfassen, also die Rechtstexte zu verstehen.3 Gerät dagegen die Fallanwendung in den Blickpunkt, ist es Ziel der Interpretation, die Anwendung der Norm durch eine Konkretisierung ihres Inhalts vorzubereiten4, bis eine Übereinstimmung mit oder eine Differenz zu dem ermittelten Sachverhalt festgestellt werden kann. In diesem Ge-

1 Vgl. auch Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, S. 1–21; Seiler, Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht, S. 17–26. Mangels gesicherter Grundlagen kommen auch dogmatische Arbeiten oftmals nicht ohne ausführliche methodologische Darlegungen aus, siehe z. B. Charalambakis, Der Unterschlagungstatbestand, S. 41–83 (u. a. zu den Auslegungsmethoden und zum Analogieverbot), Ferber, Strafvereitelung, S. 122 ff., 187 ff. und Gillen, Das Verhältnis von Ehren- und Privatsphärenschutz im Strafrecht, S. 77 ff. (zum Thema objektive/subjektive Auslegungstheorie und zur „Paktentheorie“). 2 Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 105, der dem Inhalt des Kanons eine „zwingende Vernünftigkeit“ zuspricht. 3 Koller, Theorie des Rechts, S. 204; Coing, Methodenlehre, S. 28; Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil, S. 198: „Ziel der Auslegung ist die Klarstellung des maßgebenden Sinnes eines Rechtssatzes“. 4 Coing, Methodenlehre, S. 37: Auslegung des Gesetzes dient seiner Anwendung. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 335: „Aufgabe des Auslegens ist die Konkretisierung des Gesetzes im jeweiligen Fall.“ Bezeichnend der Titel der Schrift „Auslegung als Normkonkretisierung“ von C. Seiler.

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II. Methodologische Vorbemerkungen

genüber von abstrakter Regelung und konkretem Lebenssachverhalt liegen die Probleme jeder Rechtsanwendung begründet.5 Man kann unter Berücksichtigung der Praxis den Vorgang der Rechtsgewinnung auch plastisch als Entscheidung eines „Bedeutungskonfliktes“ über die möglichen „Lesarten“ eines Normtextes betrachten und als „semantischen Kampf“ bezeichnen.6 Für die Normkonkretisierung ist damit freilich nicht viel gewonnen, denn auch dieser „Akt der Sprachnormierung“ muß die herkömmlichen Auslegungsmittel heranziehen.7

Der skizzierte Katalog der Kriterien wird von einem Streit überlagert8, der unter der Bezeichnung „subjektive“ oder „objektive“ Theorie geläufig ist. Kurz gesagt geht es dabei um die Frage, ob es bei der Ermittlung der Normbedeutung auf den „Willen des Gesetzgebers“ (subjektive Theorie) oder auf einen objektiv zu ermittelnden „Willen des Gesetzes“ (objektive Theorie) ankommen soll.9 Die Streitfrage steht nicht nur im Hintergrund des gesamten Auslegungsvorgangs, sondern wird bei jedem einzelnen Kriterium des Kanons virulent.10 So kann die semantische Auslegung zur Fragestellung führen, ob es auf den Sprachgebrauch des Gesetzgebers – stark vereinfacht wäre das der Standpunkt eines Intentionalismus – oder auf das Verständnis des Textes innerhalb der Sprachgemeinschaft – Konventionalismus – ankommen soll. Weiter kann die Auslegung auf eine Divergenz zwischen Gesetzgeber und „objektiven“ Rechtsanwender im Verständnis der Gesetzessystematik11 oder des Gesetzeszwecks stoßen. Hauptschauplatz des Streits bleibt natürlich die historische Auslegung, wenn man nicht der (wohl kaum noch vertretenen) Auffassung folgt, wonach die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes gar keine Berücksichtigung bei der Auslegung finden darf. Auf die vielen Zweifelsfragen dieses Themas kommt vorliegende Arbeit bei den jeweiligen Einzelaspekten zurück und hofft, bei der Darstellung des Standpunkts der Rechtsprechung ein wenig zur Klärung beizutragen.

2. Rangordnung Als weitere ungeklärte Frage der Gesetzesanwendung stellt sich die nach der Rangordnung der Kriterien innerhalb des Kanons. Dieser Aspekt ist mit dem 5 Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 124: „Kluft“ zwischen Fall und Norm muß überwunden werden. 6 Christensen/Kudlich, JuS 2002, 144 f. und Theorie richterlichen Begründens, S. 151 ff., 228 ff., 359 ff. 7 Bei Christensen/Kudlich (Theorie richterlichen Begründens, S. 361 ff.) dienen die Kanones der Auslegung der „Erschließung von Kontexten“. 8 So die Formulierung von Busse, in: Untersuchungen zur Rechtslinguistik, S. 97. 9 Auch insofern ist häufig vom „Auslegungsziel“ die Rede, obwohl dies nicht ganz präzise ist; näher unten IV 1 c. 10 Wank, Auslegung, S. 33, 42, 63, 73, 79; Engisch, Einführung, S. 123. 11 Z. B. bei der Frage, in welchem Verhältnis §§ 211, 212 StGB zueinander stehen.

2. Rangordnung

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zuvor behandelten eng verwoben und vielleicht gar nicht davon zu unterscheiden.12 Die Anhänger einer (strengen) subjektiven Theorie werden ohne viel Argumentationsaufwand zu stimmigen Lösungen gelangen,13 während Vertreter von gemäßigten Varianten beider Theorien Erhebliches leisten müssen. Hierzu ergangene Äußerungen der Rechtsprechung kommen eingehend zu Wort. Das Problem der Rangfolge ist selbstverständlich zentraler Gesichtspunkt jeder Methodenlehre und gerade hier zeigt sich, wie Rechtstheorie in Kontakt mit dem Verfassungsrecht gerät. Zentrale Frage ist insofern, ob die methodenrechtlich relevanten Normen des Grundgesetzes (Art. 20 III, 97 I, 103 II, u. U. Art. 3) gewisse Vorrangregeln vorgeben.14 Bereits hier sei auf die Schwierigkeiten und Grenzen hingewiesen, aus der Verfassung, deren Normen ihrerseits der Auslegung mit allen damit verbundenen Fragen unterliegen, methodologisch Bindendes herzuleiten.15 Was wäre etwa, wenn es in den Gesetzesmaterialien zu Art. 20 III GG hieße, die Bindung an das Gesetz umfasse zugleich eine Bindung an den sich aus den Materialien ergebenden Gesetzesinhalt bzw. an den historischen Willen des Gesetzgebers?16 Die Rechtsprechung würde dieses Paradox wahrscheinlich ganz kühl mit der sogenannten Andeutungstheorie17 beiseite schieben – die Auffassung des Parlamentarischen Rates hätte insoweit keinen Ausdruck im Gesetzestext gefunden! –, doch würde die genannte Konstellation gerade die Frage nach der Zulässigkeit der „Andeutungstheorie“ aufwerfen. – Oder als weiteres Beispiel: Muß aus der Fassung des Art. 97 I GG (Bindung an das „Gesetz“ statt an den „Willen des Gesetzgebers“) nicht der Gegenschluß gezogen werden, daß außerhalb liegende Faktoren wie die 12 Konsequent läßt Bydlinski (Methodenlehre, S. 436) die Frage „objektive/subjektive“ Theorie im Rangfolgenproblem aufgehen. 13 Siehe z. B. Loos, in: AK-StPO, Einleitung III, Rn. 19; nach Hassemer (in: AKStGB, § 1, Rn. 117 und 121) ist die subjektiv-historische Auslegung im Strafrecht zwar grundsätzlich zu begrüßen, doch tauge sie aufgrund eigener Friktionen nicht als „Meta-Theorie“. 14 Näher Hoerster, JuS 1985, 665 (667 f.); Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 812; Koch/ Rüßmann, Begründungslehre, S. 8: Die Rangfolgeproblematik sei eine staatstheoretische Frage. 15 Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 303: Bindung des Gesetzes wird selbst Gegenstand richterlicher Interpretation; Stern, NJW 1958, 695 (r. Sp.): Ohne petitio principii ist aus dem positiven Recht hierfür nichts zu gewinnen; Bydlinski, in: Festgabe 50 Jahre BGH, Bd. I, S. 5: „fruchtlose Gewohnheit“; anders z. B. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung, S. 219 ff. und Hoerster, JuS 1985, 665 (667 f.): Der Inhalt von Art. 97 I GG sei ohne Regreß bestimmbar und bestehe in der Maßgeblichkeit des Gesagten statt des Gewollten. Zur Paradoxie bei der Auslegung von gesetzlichen Auslegungsregeln siehe Engisch, Einführung, S. 117. 16 Wäre z. B. die Aussage in BVerfGE 1, 299 (312) – „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung.“ – damit zu vereinbaren? 17 Vgl. die soeben zitierte Passage aus BVerfGE 1, 299 (312).

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II. Methodologische Vorbemerkungen

Materialien eben keine Berücksichtigung finden dürfen?18 Und sind die Materialien überhaupt außerhalb des „Gesetzes“ liegende Gesichtspunkte?

Gleichwohl soll der Einfluß des Verfassungsrechts auf die juristische Methodenlehre hier keineswegs negiert werden. Gerade aus den Gesichtspunkten der Gewaltenteilung und der Gesetzesbindung der Judikative sollten auch für eine (strafrechtliche) Methodenlehre einige Konsequenzen folgen, nämlich in erster Linie, daß im Mittelpunkt der Rechtsanwendung der Nachvollzug einer gesetzgeberischen (fremden!) Wertung oder – hermeneutisch formuliert19 – die Suche nach den Antworten stehen muß, die der Gesetzgeber einer rechtspolitischen Frage beigelegt hat. Damit ist hier noch keine Vorentscheidung für eine „subjektive Theorie“ der Auslegung gefallen, die sich erst an problematischen und später erörterten Konstellationen bewähren muß, sondern nur vorsichtig eine erste Vorrangregel angedeutet: Die feststellbare20 Wertung des Gesetzgebers darf nicht durch eine andere (richterliche!) ersetzt werden.

3. Auslegung/Rechtsfortbildung Unmittelbar verfassungsrechtliche Bezüge weist auch die Thematik „Auslegung“ und „Rechtsfortbildung“ auf. Dabei soll die Grundfrage, ob zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung überhaupt oder jedenfalls mit einem „Analogieverbot“ sinnvoll differenziert werden kann21, mangels Praxisbezugs nicht zur Debatte stehen22. Daß fast jeder Auslegung (secundum legem) wie jedem Textverstehen ein kreativer Anteil innewohnt,23 wird kein methodenorientierter Jurist bestreiten. Daraus kann jedoch kaum die Unmöglichkeit gefolgert werden, zwischen Gesetzesauslegung und Rechtsschöpfung nach näher zu bestimmenden, normativen Maßstäben zu unterscheiden.24 Die Begriffe „Rechtsfortbil18 Näherer Begründung bedürfte deshalb z. B. die Formulierung von Raisch (Vom Nutzen, S. 32): „Die verfassungsrechtliche Bindung an das Gesetz läßt die Heranziehung von Materialien als legitim erscheinen.“ 19 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 375 ff.; Marquard, in: Abschied vom Prinzipiellen, S. 118. 20 Kriterien hierfür bedürfen ebenfalls einer näheren Betrachtung. 21 Dagegen z. B. Hassemer, in: Strafen im Rechtsstaat, S. 29 und AK-StGB, § 1, Rn. 95 m. w. N., der Art. 103 II GG auf andere Weise Geltung verschaffen will, und Kaufmann, zuletzt in „Verfahren der Rechtsgewinnung“, S. 8 f. und passim. 22 Schon gar nicht die Lehren, die dem Normtext jede Bindungskraft absprechen, z. B. Grasnick, GA 2000, 153 (156 f.): Gesetze seien lediglich „Topoi“ im Rahmen juristischer Argumentation. 23 Aus sprachwissenschaftlicher Sicht als eher „eher oberflächliche Einsicht“ bezeichnet von Busse, Juristische Semantik, S. 97. 24 Aufschlußreiche Fragen bei Busse, in: Untersuchungen zur Rechtslinguistik, S. 146: „Läßt sich juristische Tätigkeit überhaupt mit hermeneutischen Kriterien messen? Daraus folgt die Frage, ob der Begriff der Analogie in sprachwissenschaftlichem Sinne mit derselben Bedeutung verwendet wird, wie der Begriff der Analogie im

4. Nachbarwissenschaften

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dung“ oder „Rechtsschöpfung“ werden in vorliegender Untersuchung in einem engeren, technischen Sinn, also in Abgrenzung zum Begriff „Auslegung“ gebraucht. Als Oberbegriffe dienen die Ausdrücke „Rechtsanwendung“ oder „Rechtsfindung“.25 Das (Straf-)Recht unterliegt zwar in einem weiteren, wenn man so will „evolutionären“ Sinn auch einer „Rechtsfortbildung“ im Weg der Auslegung, doch ist dieses Begriffsverständnis, das etwa § 132 IV GVG zugrunde liegt26, auslegungstheoretisch von geringerem Interesse. Erörtert wird die Frage, welchen Kriterien der BGH bei der Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung folgt, wobei die Frage im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG zumindest theoretisch als geklärt gelten kann. Freilich ist der BGH erst nach einigem (zwischenzeitlichen) Zögern auf die Linie des „möglichen Wortsinns“ als Auslegungsschranke eingeschwenkt.27 Nähere Betrachtung gebührt der zentralen Frage nach der Handhabung dieses Abgrenzungskriteriums durch den BGH. Daß hier einiges im argen liegt, ist vielfach konstatiert und weckt Zweifel an der Leistungsfähigkeit des Modells. Doch solange Verbesserungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft sind, wäre eine resignative Einstellung bei fehlender Alternative nicht angebracht. Außer Betracht bleiben mußten die Methoden der Rechtsfortbildung selbst, womit der Rahmen der Darstellung gesprengt worden wäre. Behandelt ist allerdings der Bereich der Gesetzesberichtigung (unten IV 8), der mit der Rechtsergänzung immerhin eng verknüpft ist.

4. Nachbarwissenschaften Schon die Bezeichnungen der Einzelkriterien machen deutlich, daß der Kanon vielfältige Bezüge zu Nachbarwissenschaften eröffnet. Sprachwissenschaften, Geschichtswissenschaften, Soziologie, Logik, Hermeneutik, Wissenschaftstheorie, sogar Philosophie im allgemeinen weisen zahlreiche analoge Fragestellungen auf, denen sich auch Juristen nicht vollständig zu entziehen vermögen. Und weitergehend haben verschiedene Strömungen entweder von außen oder durch ihre Rezipienten innerhalb der Jurisprudenz die traditionelle juristische Methodenlehre z. T. grundsätzlich in Frage gestellt. Ungeachtet dessen hat sich vor allem die juristische Praxis demgegenüber als hinreichend resistent erwiesen28 und an Bewährtem festgehalten. Die Praxis tut gut daran, auf diesem kon(strafrechtlichen) Analogie-Verbot. Juristische Auslegung steht in einem anderen Verhältnis zur Wirklichkeit als ,normales‘, nur der Verständigung dienendes Bedeutungsverstehen.“ 25 Der Ausdruck „Rechtsfindung“ wird hingegen auch i. S. von Rechtsfortbildung verstanden, z. B. Mayer, Strafrecht, S. 121; BGHSt GS 2, 194 (203); anders als hier auch Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 12. 26 Siehe Franke, in: LR-StPO25, § 132 GVG, Rn. 36. 27 Vgl. das Zitat in Kap. I, Fn. 12!

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II. Methodologische Vorbemerkungen

servativen Standpunkt zu verharren, bis „alternative“ Theorien zur Rechtsgewinnung ihre Überlegenheit unter Beweis gestellt haben29; die Beweislast „tragen die Veränderer“30. Es ist nicht ersichtlich, daß dieser Beweis bisher – etwa durch ein ausformuliertes Konzept für die Praxis mitsamt hinreichend illustriertem Material – erbracht wäre. Auf lange Sicht wird es mithin dabei bleiben, daß „Avantgardisten“ ihren Abgesang auf die traditionelle Methodenlehre fortsetzen31, während Apolegeten letzterer die Außenseiter kurz abtun und ihnen „methodologischen Eskapismus“ (Picker32) vorwerfen werden. Insgesamt ein unerfreulicher Zustand, denn auch ein konservativer Standpunkt schließt natürlich nicht aus, daß Verbesserungen im Detail durch Erkenntnisse benachbarter Wissenschaften möglich sein können, z. B. Einsichten der Sprachwissenschaften (Semantik/Pragmatik) im Rahmen der grammatikalischen Auslegung (oder gar im Streit zwischen „subjektiver“ und „objektiver“ Theorie) Klärung bringen können33. Freilich ist Vorsicht angebracht, soll die Rechtswissenschaft – selbst von zahllosen Streitfragen geplagt – nicht von Kontroversen innerhalb anderer Wissenschaften gelähmt werden.34

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Gast, Rhetorik, Rn. 35. Luhmann, ZfR 2000, 3 (45): „Man wird nur hoffen können, daß das System sich als hinreichend robust erweist und zumindest die übliche Dauer einer Theoriemode zunächst einmal abwartet, bevor es sie einarbeitet.“ Aufschlußreich für die Geschichtswissenschaft Wehler (Historisches Denken am Ende des 20. Jahrhunderts, S. 65 f.), der darlegt, weshalb Einsichten der modernen Sprachphilosophie („linguistische Wende“) einer bereits hermeneutisch geschulten Wissenschaft wenig Neues zu bieten hatten. 30 Marquard, in: Abschied vom Prinzipiellen, S. 123, unter Berufung auf Kriele; merkwürdig, daß gerade ein methodologischer Avantgardist wie Grasnick auf diesen Satz rekurriert, vgl. JR 1998, 179 (181) – offenbar hält Grasnick den Beweis für die Überlegenheit und Durchführbarkeit eines neuen Konzepts für erbracht. 31 Wer die neuen Autoritäten der Methodenlehre sind, kann nachgelesen werden bei Grasnick, JR 1998, 179 (180). 32 Picker, JZ 1988, 62 (72). Siehe auch die Formulierung Kramers (Methodenlehre, S. 48, Fn. 84) hinsichtlich der methodologischen Vorstellungen von Lüderssen: „surrealistische Interpretationstheorie“! 33 So Rüthers (Rechtstheorie, Rn. 158) für die Hermeneutik. Daß Juristen den Rekurs auf sprachwissenschaftliche Erkenntnisse scheuen, wird nach Lektüre des entsprechenden Kapitels bei Koch/Rüßmann (Begründungslehre, § 16) verständlich; die Autoren erbitten sich selbst vom geneigten Leser Durchhaltevermögen! (Vgl. a. a. O., S. 133.) Keinen für die Jurisprudenz verwertbaren Zustand der Sprachphilosophie, insbesondere der Pragmatik sieht Hilgendorf, Argumentation, S. 55. 34 Interessant für das wechselseitige Verhältnis von Linguistik und Jurisprudenz (beschäftigen Juristen sich mit der Linguistik oder Linguisten mit der Juristerei?) Busse, Juristische Semantik, S. 14 ff. Wegen der Eigenheiten der Rechtswissenschaft skeptisch zum Nutzen linguistischer Erkenntnisse Wank, Begriffsbildung, S. 10 ff. Zum problematischen Rekurs der juristischen Methodik auf Wittgenstein siehe Ladeur, ARSP 1991, 176 (187); zum Ganzen Bydlinski, Methodenlehre, S. 303, Fn. 241. 29

5. Syllogismus/Subsumtion

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5. Syllogismus/Subsumtion Das Interesse vorliegender Studie gilt der Frage, wie die Rechtsprechung die als relevant erkannten Normtexte zubereitet, bis der „Subsumtionsschluß“ gelingt oder scheitert. Keiner Betrachtung unterzogen werden Probleme, die mit dem Auffinden des maßgeblichen Rechtssatzes verbunden sind35, zumal das überschaubare Rechtsgebiet des Strafrechts in dieser Hinsicht zu vergleichsweise geringen Schwierigkeiten führt36. Nicht untersucht wird auch die nähere Struktur des formal-logischen Syllogismus („modus barbara“) und sein Verhältnis zur „Subsumtion“ im engeren Sinn. Gegner eines „positivistischen“ Rechtsgewinnungsverfahrens verzerren noch heute den „Justizsyllogismus“ karikaturhaft, indem sie der traditionellen Lehre den Anspruch andichten, sie könne die maßgeblichen Obersätze in einem logisch-deduktiven Verfahren gewinnen, das zu einer einzig vertretbaren (zwingenden) Lösung führe. Ob ein solches Modell überhaupt je propagiert wurde37, kann der rechtshistorischen Forschung überlassen bleiben; jedenfalls wird man es heute nirgends finden. Die „Gegner“ führen insofern ein Scheingefecht gegen ein selbst konstruiertes, „positivistisches“ Phantom38 – der alte Trick, eine Sache schlecht oder falsch darzustellen, um ihre Leistungsfähigkeit zu bestreiten39 und um die eigene Auffassung von einem unvorteilhaft gezeichneten „Feindbild“ abzugrenzen. Allenfalls ein perfektes „begriffsjuristisches“ System könnte dem gezeichneten Bild entsprechen und selbst dann müßte man außer acht lassen, daß die logische Ableitung aus Begriffen deren Konstruktion notwendig voraussetzt.40 In vorliegender Arbeit wird 35 Nach Luhmann (Recht der Gesellschaft, S. 339) liegt darin ein zentrales Moment fachlichen Könnens, und auch Engisch (Einführung, S. 73, Fn. 3) sieht in der Auswahl der zu gewinnenden Rechtssätze ein Problem; anders offenbar Bydlinski, Methodenlehre, S. 392 ff. 36 Als Gegenbeispiel kann die Entscheidung BGHSt GS 42, 113 genannt werden, in welcher der Große Strafsenat überraschenderweise (vgl. die Anm. von Kirsch, wistra 1996, 267 f.) dem Einigungsvertrag eine Regelung entnimmt, die den Vorinstanzen und dem vorlegenden Senat entgangen war. 37 Zweifelnd, ob ein solches Leitbild tatsächlich im 19. Jahrhundert herrschend war, Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat, S. 8; aufschlußreich auch zur Frage, ob das Bild des „logisch-mechanisch“ operierenden Richters zutreffend dem „Positivismus“ zugeordnet werden kann (vgl. a. a. O., S. 5); speziell zur verfehlten Zuschreibung eines mechanisch verfahrenden Richters bei Montesquieu siehe Ogorek, in: FS für Lüderssen, S. 127 ff. Zum sehr unterschiedlich gebrauchten Begriff des Positivismus siehe auch Grimm, in: FS für Coing, S. 471. 38 Vgl. Neumann, GA 2000, 41 (42): „in allen Lagern der juristischen Methodenlehre . . . überholt“; Engisch, ZStW 1978, 658 ff. (666): „Zerrbild“; beide in Rezensionen zu F. Müllers „Juristischer Methodenlehre“; klarstellend aus Sicht der „Strukturierenden Rechtslehre“ Laudenklos, KritJ 1997, 142 (144, Fn. 9). Ein völlig schiefes Bild der gängigen Methodenlehre zeichnet Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewinnung, u. a. S. 12, 13, 29. Zu unhaltbaren Zuschreibungen von Meinungen in diesem Bereich siehe auch Hilgendorf, Argumentation, S. 56 ff. 39 Vgl. (in einem anderen Zusammenhang) Scheuerle, AcP 1972, 396 (443).

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II. Methodologische Vorbemerkungen

der Syllogismus als logisches Gerüst des Rechtsanwendungsvorgangs (der Falllösung) verstanden41, während die eigentlich problematische (juristische) Tätigkeit in der Herstellung oder Aufbereitung von Ober- und Untersatz besteht42. Im schwierigen Einzelfall kann die Interpretation durchaus zu unterschiedlichen, aber gleichermaßen vertretbaren Ergebnissen führen, unter denen der Richter wählen muß.43 Der BGH verwendet den Begriff „Subsumtion“ erst seit dem 25. Band44, allerdings nicht durchgängig im hier skizzierten Sinn als wertfreie, logische Operation. Wenn er z. B. von „wertender Subsumtion“ des Sachverhalts unter einen Tatbestand (BGHSt 40, 272 [279]) oder von einer „ins einzelne gehenden Subsumtion“ (S. 280) spricht, so deutet das auf ein weiteres, den Auslegungsvorgang einschließendes Begriffsverständnis hin. Eine unzutreffende Verneinung eines Mordmerkmals durch den Tatrichter wird als bloßer (es kam im Fall nicht darauf an!) „Subsumtionsfehler“ bezeichnet (BGHSt 41, 57 [63]). Genauer klingt die Formulierung, die Subsumtion des Verhaltens unter die Norm halte sich „noch in den äußersten Grenzen möglicher Auslegung“ (BGHSt 41, 247 [266]), und ganz zutreffend ist die zwischen Auslegung und Subsumtion unterscheidende Aussage in BGH NJW 2002, 765, auch bei weitem Verständnis sei der Fall nicht mehr subsumierbar. Im allgemeinen meint der BGH jedoch schlicht die Unterordnung des Lebenssachverhalts unter die Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes.

Keine Einigkeit herrscht in der Literatur allerdings hinsichtlich des Verhältnisses des Begriffs „Subsumtion“ zum „Syllogismus“ (= „Subsumtionsschluß“). Einerseits wird die Subsumtion als die den Syllogismus abschließende logische Operation ohne juristische Wertung aufgefaßt45, andererseits als durchaus problemgeladener Teil des Untersatzes46. Die Problematik spielt für vorliegende 40

Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat, S. 6. Auch dort können dem Rechtsanwender Fehler unterlaufen; eingehend zu diesem Aspekt Schneider, Logik, S. 195 ff. und Gast, Rhetorik, Rn. 275 ff. 42 Bydlinski, Methodenlehre, S. 396; Engisch, Einführung, S. 72; Zöllner, in: Tübingen-FS, S. 140. Ein anderes Konzept verfolgen Koch/Rüßmann (Begründungslehre, S. 4 ff.), indem sie die deduktive Struktur der Entscheidungsbegründung mit Hilfe moderner Logik zu einem „Hauptschema“ ausbauen, während die eigentlich konfliktreiche Interpretationstätigkeit in ein „Nebenschema“ verlagert wird. Trotz des Hinweises, die „Nebenschemata“ nicht als unwichtigen Anteil zu verstehen (S. 6), ist diese Begrifflichkeit in Anbetracht der tatsächlichen Schwerpunkte der Rechtsanwendung unglücklich gewählt. Die Konzeption der Autoren vermag allerdings einige Mißverständnisse über den „Justizsyllogismus“, insbesondere die Verwechslung oder unzulässige Kombination mit dem Gesetzesbindungspostulat aufzudecken (vgl. a. a. O., S. 69, 112). 43 Dazu, daß der Richter sein Urteil stilistisch dennoch anders präsentieren muß, vgl. unten II 7. 44 Zwischen BGHSt 25, 24 (28) und 43, 195 (198), taucht der Begriff in verschiedenen Variationen (Subsumierung, subsumiert, subsumieren, Subsumtionsfehler) ca. 25 Mal auf. Zuvor wird die Formulierung lediglich aus einer Gesetzesbegründung aufgegriffen, BGHSt 11, 365 (372); 12, 353 (356). 45 Bydlinski, Methodenlehre, S. 396 f. 46 Engisch, Einführung, S. 56, Fn. 17. 41

6. Vorverständnis/Apokryphe Gründe

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Untersuchung jedoch keine große Rolle47; vorrangig dürfte es dabei um terminologische Fragen gehen, denn daß an irgendeinem Ort im Syllogismus Wertungen einfließen, ist nicht zu bestreiten.

6. Vorverständnis/Apokryphe Gründe Eher von Bedeutung ist, ob der Kanon überhaupt als Methode der „Rechtsfindung“ angesehen werden kann oder ob er – ein seit der Freirechtsschule immer wieder erhobener Vorwurf – von der Praxis lediglich herangezogen wird, um einem auf anderem Weg (Rechtsgefühl, Vorverständnis, Vorurteil etc.) gefundenen Ergebnis nur nachträglich den Anschein der Gesetzesübereinstimmung zu geben. Der Gegensatz zwischen Rechtsfindung und Rechtfertigung48 der Entscheidung entspricht der ebenfalls geläufigen Differenzierung zwischen den Ebenen der Herstellung und der Darstellung49 eines Urteils. Andere sprechen insoweit vom Widerstreit zwischen kausalem und finalem Denken50 in der Jurisprudenz, von „offiziellen“ und „apokryphen“ Gründen51. Wäre der Kanon nicht in der Lage, die „wahren Gründe“ einer rationalen Entscheidungsfindung abzubilden, wäre das Unternehmen einer Urteilsanalyse in der Tat in Frage gestellt. Doch so weit muß selbst ein skeptischer Ansatz nicht führen. Daß die Ebene der Herstellung von derjenigen der Darstellung zu unterscheiden ist, wird hier vorausgesetzt. Ein erfahrener Praktiker wird nicht bei jeder Rechtsanwendung das gesamte Arsenal der Methodenlehre heranziehen müssen, sondern auf sein geschultes und in der Praxis erweitertes Vorwissen52 zurückgreifen. Ein Widerspruch zum Postulat rationaler Rechtserkenntnis besteht insoweit nicht, wenn dem Richter bewußt ist, daß er sein vorgefundenes Ergebnis im Zweifelsfall auf die Übereinstimmung mit dem Gesetz prüfen, eventuell revidieren und die Übereinstimmung in der Darstellungsphase auch argumentativ begründen muß.53 Spätestens hier wird er sich unter dem Druck revisionsrichterlicher Prüfung oder wissenschaftlicher Diskussion der überkommenen Techniken der Me47

Vgl. allerdings unten III 7 i. Näher Schlink, Der Staat 1980, 73 (87). 49 Hassemer, Einführung, S. 116 ff.; Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 5. 50 Scheuerle, AcP 1967, 305 ff.; krit. zu dieser Terminologie Esser, Vorverständnis, S. 65 ff. 51 Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH, S. 261. 52 Komplexer ist der Begriff des Vorverständnisses bei Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 133 ff. (137). Nicht verwunderlich, daß Esser später zu Klarstellungen gezwungen war (JZ 1975, 555: „Vorurteil im schlechten Sinne und Vorverständnis bleiben zweierlei.“); siehe auch Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 222 und Looschelders/Roth, Methodik, S. 71 ff. 53 Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 223; Zippelius, JZ 1999, 112 (114, r. Sp.); Zöllner, in: Tübingen-FS, S. 145 ff. Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 57: Vorverständnis und Rechtsgefühl müssen offen sein für nötige Korrekturen. 48

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II. Methodologische Vorbemerkungen

thodenlehre bedienen. Das so verstandene (juristisch professionalisierte) Rechtsgefühl oder Judiz als Ausdruck ökonomischen Arbeitens ist abzugrenzen von irgendwie gearteten Vorurteilen (sachfremden Erwägungen), denen durch die einzuhaltenden Standards einer Entscheidungsbegründung aber doch (wohl) wirksame Barrieren entgegenstehen. Zwischen diesen beiden Konstellationen – Judiz als Abkürzung oder Vorwegnahme der Rechtsgewinnung54 sowie persönliches Vorurteil des Richters – kann eine dritte Gruppe angesiedelt werden, die durch eine unter Umständen nur schwer erkennbare Diskrepanz zwischen Herstellung und Darstellung gekennzeichnet ist. Es handelt sich dabei um die Frage nach Scheinbegründungen55, also Situationen, in denen der Richter das dogmatisch vorgegebene (aus dem Gesetz resultierende) Ergebnis aus unterschiedlichen Motiven – z. B. wegen Besonderheiten des zu entscheidenden Falls – umgehen will. Diese Motive müssen nicht „unredlich“ oder für den Betroffenen belastend sein (eher liegt es umgekehrt!), sondern können aus Gründen der „Gerechtigkeit“ oder der Vernunft56 die scheinbar adäquate Lösung des Falls beinhalten, die auf breiten Konsens hoffen darf. Da auch dieser Rechtsanwender zumindest verbal keinen Zweifel an der Übereinstimmung seiner Lösung mit dem Gesetz aufkommen lassen wird, gehen solche Konstellationen meist mit einer Spannung zwischen Herstellung und Darstellung einher. Vorliegende Arbeit vertritt jedoch den optimistischen Standpunkt, daß die Methodenlehre in gewissem Rahmen dazu geeignet ist, solche „finalen“ und zu mißbilligenden57 Subsumtionen zu entlarven, weil sie das methodische Instrumentarium häufig so sehr strapazieren, daß es zu Unstimmigkeiten in der Entscheidungsbegründung kommt. Insofern übt die Darstellungsebene (Begründungspflicht) eine nicht zu unterschätzende Kontrollfunktion aus:58 Der Rechtsanwender wird in aller Regel nur eine Textinterpretation wählen oder eine Rechtsfortbildung vornehmen, die sich in der Kommunikation argumentativ vertreten läßt59, die den Anforderungen einer zu präzisierenden „Begründungskultur“60 standhält. Selbst ein Me54 Mayer, Strafrecht, S. 117: „Es ist eine jedem Juristen geläufige Erscheinung, daß man die richtige Entscheidung oft schneller findet, als die richtige Begründung.“ S. 118: „Einen Instinkt ohne Verstand gibt es nicht.“ 55 Siehe Engisch, Einführung, S. 54, Fn. 16; Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 5. Anders (m. E. aber zweifelhaft) Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, S. 16, der keine Gefahr von „Scheinargumenten“ sieht, weil mit diesen „kein Eindruck hinterlassen werden kann“, und folglich auch skeptisch gegenüber der Unterscheidung von „wirklichen“ und anderen Gründen ist (S. 17, Fn. 62). 56 Davon zu trennen ist die Frage, ob Vernunft, Gerechtigkeit u. ä. als „Hyperkriterien“ im Kanon, etwa als abschließende Korrekturinstanzen zu integrieren sind; vgl. dazu z. B. Bydlinski, Methodenlehre, S. 561 ff. 57 Treffend Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 1: „Bedenkliche Motive machen gute Gründe nicht zu schlechten, billigenswerte Motive machen schlechte Gründe nicht zu guten.“ 58 In der Sache ebenso Schlink, Der Staat 1980, 73 (91), der im Anschluß an den kritischen Rationalismus die Methoden der Auslegung als Kriterien der Falsifikation juristische Hypothesen auffaßt; ähnlich auch Loos, in: AK-StPO, Einl. III, Rn. 2.

6. Vorverständnis/Apokryphe Gründe

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thodenkritiker wie Esser sieht den Erfolg der üblichen Auslegungskriterien darin begründet, daß die in ihnen „verdichteten Argumente wirklich wichtige sind“.61 Die mit Sicherheit bestehenden Probleme der „verdeckten Gründe“ liefern nach allem keine entscheidenden Einwände dagegen, die Untersuchung auf die Ebene der Darstellung und damit auf den Text der Entscheidungsbegründung zu beschränken. Das schließt nicht aus, bei methodologisch zweifelhaften Urteilen über die „wahren“ Motive der Verfasser zu spekulieren.62 Demgegenüber kann auf Probleme des Herstellungsvorgangs, der stark von Phantasie und Kreativität beeinflußt ist63, hier nicht eingegangen werden, zumal er normativ bedeutungslos ist64. Damit soll nicht die Notwendigkeit bestritten werden, den Vorgang des Herstellens der in Betracht kommenden (rationalen!) Auslegungshypothesen strukturell genauer zu untersuchen, wie es z. T. unter dem Schlagwort „Abduktion“ geschieht.65 Jedoch kann eine Urteilsanalyse insofern keine Erkenntnisse zeitigen, erst recht nicht dann, wenn es um die Ermittlung „apokrypher“ Gründe, Vorurteile oder subjektiver Einstellungen der beteiligten Richter geht. Die von Loos66 aufgestellte Hypothese, die Wahl „subjektive“ oder objektive“ Theorie hänge von der Mentalität des entscheidenden Richters ab – der konservativ zurückhaltende Typ eher gesetzesnah: „subjektiv“, der progressiv selbstbewußte Typ 59 Vgl. Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 365. Auf dieser Grundlage propagiert Adomeit (JZ 1980, 343 ff.) eine alternative Methode, die den Wert dogmatischer Aussagen nach dem Grad ihrer Akzeptanz in einer (zufällig ausgewählten) Gruppe von Juristen bemißt („Zertitätstheorie“). Bei großer Akzeptanz wäre der nötige Begründungsaufwand (einer Entscheidung, einer Klageschrift, eines Plädoyers) entsprechend gering, bei zu erwartenden Zweifeln der Aufwand höher (S. 345). 60 Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 116. 61 Esser, JZ 1975, 555 (557, r. Sp.). Das Anliegen Essers bestand eben nicht darin, den „Gewißheitsverlusten“ Nahrung zu geben, sondern darin, „vagabundierende Billigkeitserwägungen“ der Rechtsanwender „einzufangen“ (so Köndgen, JZ 2001, 807 [810]). Zur Rezeption Essers siehe außerdem Picker, JZ 1988, 1 (4, Fn. 25) sowie bereits oben Fn. 52. 62 Bei den Revisionsgerichten liegt auf der Hand, daß Entscheidungen der Vorinstanzen, die im Ergebnis als zutreffend (gerecht) erachtet werden, nur ungern aus rein formalen Gründen (vgl. § 338 StPO) als rechtsfehlerhaft aufgehoben werden, zumal wenn die Vorinstanz umfangreiche Beweisaufnahmen anstellen mußte oder Zeugen im sensiblen Bereich des Sexualstrafrechts zu befragen waren; siehe z. B. BGHSt 45, 117 (unten Fall 356) und zum Ganzen Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH, S. 261 ff., mit dem Ausspruch eines ehemaligen Bundesrichters (S. 262): „Ein goldrichtiges Urteil wird man doch nicht aufheben.“ 63 Schlink, Der Staat 1980, 73 (89), der auch insofern Einsichten des Kritischen Rationalismus heranzieht. 64 Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, S. 13. 65 Vgl. Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 57 f. 66 Loos, in: FS für Wassermann, S. 131. Siehe auch schon Bruns, GA 1955, 120 f., in einer Anm. zu BGHSt 6, 398: Die Beantwortung zahlreicher konkreter Fragen hänge von der Grundeinstellung des Rechtsanwenders zu allgemeinen Problemen wie z. B. der Gesetzesauslegung ab.

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II. Methodologische Vorbemerkungen

eher gestaltend: „objektiv“ –, so faszinierend sie erscheint, kann anhand der Urteilstexte nicht überprüft werden. Entsprechende Studien mit anderen Fragestellungen und anderen Untersuchungsmethoden gehören in den Bereich der Richterpsychologie oder Richtersoziologie.67 Nur nebenbei sei erwähnt, daß gerade Richterbefragungen methodisch außerordentlich viele Verzerrungseffekte provozieren: Wie können Richter dazu bewegt werden, ihre „wahren“ Gründe offenzulegen, ohne daß die Tendenz der Befragung zu deutlich offenbar wird? Interessant sind in diesem Zusammenhang freiwillige Stellungnahmen von Richtern zu vergangenen Verfahren, wie das beeindruckende Bekenntnis des ehemaligen Richters am Reichsgericht Hartung zu einem höchst umstrittenen Fall (RGSt 74, 84) zeigt, in dem Dogmatik sehr zugunsten der Einzelfallgerechtigkeit zurücktreten mußte.68 Aber solche Äußerungen sind aufgrund des Beratungsgeheimnisses selten und wohl auch nicht zuverlässig genug, als daß sie generalisierbar wären.

Vorliegend kann nur untersucht werden, ob (aus Sicht der Rechtsprechung) Verfassungsrecht und juristische Methodenlehre einen so weiten Spielraum eröffnen, daß dermaßen persönlichkeitsabhängige Faktoren Einfluß gewinnen können. Die bisherigen Ausführungen lassen womöglich eine gewisse Nähe zu einer sich in bewußter Abgrenzung zur traditionellen Methodenlehre entwickelnden „Argumentationstheorie“ vermuten, die sich ebenfalls bemüht, Kriterien und Regeln einer rationalen Entscheidungsbegründung zu entwickeln, ohne das Postulat der Gesetzesbindung ganz aufzugeben.69 Vielleicht um selbst an Kontur zu gewinnen, zeichnen auch diese (oft weiterführenden) Ansätze teilweise ein verzerrtes Bild der gängigen Methodenlehre als „Subsumtionsideologie“, die einem strengen Gesetzesdeterminismus – das Gesetz gibt nur ein Ergebnis vor – das Wort rede.70 Insoweit kann auf bereits Gesagtes verwiesen werden. Aber davon abgesehen dürfte durch eine verstärkte Hinwendung zur Begründungsebene71 die Verbindung zur herkömmlichen Lehre nicht abgebrochen sein.72 67 Vgl. Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen. Eine empirische Untersuchung der Rechtspraxis, S. 261 ff. Unter rechtshistorischen Gesichtspunkten Loos (in: FS für Wassermann, S. 131) mit einigen Spekulationen zur Frage, ob aus der persönlichen Einstellung von Richtern zum Ziel der Auslegung auf die Haltung der jeweiligen Juristenklasse geschlossen werden kann. 68 Siehe Hartung, JZ 1954, 430, der das Ergebnis seines Senats freilich auch dogmatisch für zutreffend hielt. 69 Eingehend Neumann, Juristische Argumentationslehre, mit einer Bestandsaufnahme für die in Betracht kommenden (Rationalitäts-)Kriterien Logik, Sprachtheorie, Topik/Rhetorik und Diskurstheorie. 70 Siehe Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 3. 71 Busse, Juristische Semantik, S. 173 (Fn. 138). 72 Siehe Bydlinski, Methodenlehre, S. 21, Fn. 47, der eine weitgehende Identität von Argumentationstheorie und juristischer Methodenlehre konstatiert, und Larenz, Methodenlehre, S. 153: verschiedene Aspekte derselben Sache. Skeptisch zum Ertrag dieser Strömungen (in erster Linie allerdings bezogen auf Topik, Rhetorik, Dialektik und Hermeneutik) Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 348 f. und Krawietz, in: FS für Scupin, S. 358.

7. Forensischer Begründungsstil

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7. Forensischer Begründungsstil Ein Teil der Mißverständnisse gegenüber dem beinah zum Feindbild avancierten juristischen Syllogismus hat womöglich auch ein wenig mit den Besonderheiten des forensischen Begründungsstils zu tun. In der Tat vermitteln die Begründungen revisionsgerichtlicher Urteile häufig den Eindruck, als sei das „gefundene“ Ergebnis das einzig denkbare, obwohl das aufgeworfene Sachproblem in der Rechtswissenschaft seit langem und heftig umstritten sein kann. Selbst in den „unentscheidbaren Fällen“ („hard cases“), in denen die Rechtsdogmatik sich anders als der unter Entscheidungszwang stehende Richter73 zurückhalten darf, wird die Entscheidungsbegründung bestehenden Zweifel nicht den ihnen sachlich gebührenden Rang einräumen74. Die Begründung wird sogar die mit ebenso guten Argumenten vertretbare Gegenauffassung als „unrichtig“ oder – falls von der (irrenden) Vorinstanz befolgt – als „Verletzung des Gesetzes“ i. S. von § 337 StPO zurückweisen (müssen), während die gleichen Bundesrichter die von ihnen abgelehnte Meinung in einem Aufsatz, Gutachten oder als Prüfer in den juristischen Staatsprüfungen zumindest als „vertretbar“75 bezeichnen würden. Die besondere Schärfe bei der Zurückweisung der unterlegenen Meinung entspricht folglich nicht nur einer juristischen Logik, die für gleichmäßige Rechtsanwendung zu sorgen hat76, sondern einer (stilistischen) Forderung des Revisionsrechts77, vielleicht der Gerichtsorganisation generell, welche die Autorität eines Obergerichts fördern will78. Die Urteile sollen so gegen mögliche Einwände immunisiert werden79, wenngleich die Gerichte hin und wieder auch vorsichtiger formulieren: 73 Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 312: „Die an sich endlose Interpretation der Welt oder der Texte muß abgebrochen werden.“ 74 Teilweise wird ausdrücklich empfohlen, Gegengründe und Zweifel kurz abzutun, um das Urteil nicht selbst in Frage zu stellen, vgl. Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, S. 11, mit Nachweisen. Nach dem Motto „Ich liebe keine Gegenargumente. Sie sind manchmal so überzeugend“ (O. Wilde). Die Ambivalenz macht Eser in einer Anm. (JZ 1973, 171 [173]) deutlich: „Indes, ,forsches Abschmettern‘ gegenteiliger Standpunkte, das dem einen als hoheitsvoll-selbstherrliches Judizieren imponieren mag, kann dem anderen als Mangel von Gegengründen erscheinen.“ 75 Je nach verlangter oder bevorzugter Rhetorik, im Aufsatz evtl. scharf, in der Staatsprüfung großzügig. Mit der Bewertung der Gegenauffassung als „richtig“ werden die Richter sich freilich schwertun, und von der „Wahrheit“ werden sie in keinem Fall sprechen. Vgl. zu den Maßstäben Wahrheit, Richtigkeit und Vertretbarkeit Engisch, Wahrheit und Richtigkeit; Adomeit, JZ 1980, 343 ff. 76 Vgl. Zippelius, Methodenlehre, S. 104: Die Aufgabe der Obergerichte, Auslegungszweifel zu klären, spreche dafür, auch „vertretbare“ Ansichten der Untergerichte zu revidieren. 77 Eventuell kann so auch die von Kramer (Juristische Methodenlehre, S. 224, Fn. 813) kritisierte Äußerung des schweizerischen Bundesgerichts – „Richtig ist stets nur eine Auslegung“ – gerechtfertigt werden. 78 Zur Begünstigung des autoritativen Stils durch das Rechtssystem siehe Luhmann, ZfR 2000, 3 (44).

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II. Methodologische Vorbemerkungen

So z. B. BGHSt 11, 365 (371): „Der Bundesfinanzhof ist in seinem Gutachten vom 13. Februar 1955 (BFH 60, 220) zu dem Ergebnis gekommen, nach dem Wortlaut des Gesetzes sei es erlaubt, in Bayern obergäriges Bier zu vertreiben, das außerhalb des Landes unter Verwendung von Zucker hergestellt worden ist. Diese Auslegung ist möglich. Sie haftet jedoch nach Auffassung des erkennenden Senats zu sehr am Worte und berücksichtigt zu wenig Sinn und Zweck des Gesetzes . . .“. – Oder BGHSt 17, 267 (272): „Diese Betrachtungsweise [des vorlegenden OLG] entspricht zwar anerkannten Regeln der Auslegung; sie führt aber nur dann zu richtigen Ergebnissen, wenn der Zweck der auszulegenden Rechtsnorm in seiner Gesamtheit richtig erfaßt wird.“ Dem werde das OLG nicht gerecht.80

Im Einzelfall kann das Rechtsystem sogar einen anderen Maßstab festlegen, etwa bei der Frage der Gerichtszuständigkeit, wo nicht überzeugende, aber immerhin vertretbare Annahmen der Vorinstanz keiner Beanstandung unterliegen, vielmehr nur auf Willkürlichkeit oder grobe Fehler untersucht werden. So liegt es etwa bei den „fehlerhaften“, aber dennoch „wirksamen“ Verweisungen gemäß § 270 StPO.81 Instruktiv aber auch BGHSt 12, 227 (233 f.) zur Geschäftsverteilung beim LG (nach altem Recht): „Sonach hat den Beschluß ein Präsidium gefaßt, das nicht vorschriftsmäßig gebildet war. Dennoch ist er nicht null und nichtig. Eine solche Folge mag angenommen werden müssen, wenn der Gesetzesverstoß klar zutage liegt. So steht es hier nicht. Die Vorschrift des § 64 Abs. 3 GVG ist nicht eindeutig. Sie wird auch offenbar nicht einheitlich gehandhabt. Die Auslegung, die ihr das Präsidium des Landgerichts S. gegeben hat, ist rechtlich möglich und nicht ohne vernünftigen Sinn. Müßten jedoch in einem solchen Zweifelsfalle, wenn der Bundesgerichtshof die Rechtsauffassung des landgerichtlichen Präsidiums nicht billigt, dessen Beschlüsse als ungültig und die auf ihnen beruhende Besetzung der Kammern als gesetzwidrig angesehen werden, so könnte die geordnete Rechtspflege schwer gestört und die Rechtssicherheit erheblich beeinträchtigt werden.“

Einen weiteren Grund für die spezifische Rhetorik der Gerichtsentscheidungen ist psychologischer Art. Ein revisionsgerichtliches Urteil ist zum einen zwar wissenschaftlich orientiert und wird seinerseits als Diskussionsbeitrag in der Jurisprudenz zur Kenntnis genommen; zum anderen richtet es sich aber an einen Adressaten, dem gerade im Strafrecht unter Umständen schwerwiegende Konsequenzen auferlegt werden müssen. Es ist fraglich, ob dem Betroffenen ein zweifelnder, übermäßig reflektierender Urteilsstil zugemutet werden kann, der einer womöglich zum Freispruch führenden Gegenauffassung „Vertretbarkeit“ bescheinigt.82 Freilich wird in der Literatur auf eine insoweit bestehende 79 Weit stärker ist diese Tendenz in Urteilen französischer Gerichte, vgl. dazu und zu den rechtshistorischen Hintergründen Kötz, Über den Stil höchstrichterlicher Entscheidungen, S. 7 ff. 80 Siehe auch Amelung, NStZ 1993, 48 (Anm. zu BGHSt 38, 237): „Die Entscheidung hat – erfreulich offen eingestandene – Schwierigkeiten, ihr Ergebnis aus dem einfachen Gesetzesrecht abzuleiten . . .“. 81 Vgl. Engelhardt, in: KK-StPO, § 270, Rn. 26, 33 und zuletzt BGHSt 47, 16. Andere Maßstäbe gelten teilweise auch im Verhältnis von Verwaltungsbehörden zu Verwaltungsgerichten, vgl. Zippelius, Methodenlehre, S. 102 f.

7. Forensischer Begründungsstil

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Ambivalenz hingewiesen: Mit einer unzureichenden Berücksichtigung oder Verkürzung seiner Argumente wird sich der Betroffene ebensowenig abfinden können.83 Zum Stil der Entscheidungsbegründungen ist noch anzumerken, daß der BGH in Strafsachen das Bemühen um Kürze sehr aus den Augen verloren hat. Im Lauf der Zeit ist der Umfang der Urteile stark angestiegen. Kann bis zum 27. Band der amtlichen Sammlung von durchschnittlich etwa 90–95 Urteilen pro Band ausgegangen werden (siehe das Diagramm am Ende des Kapitels), ist die Anzahl seitdem in zwei Schüben stark gefallen und pendelt zur Zeit bei ca. 55 je Band.84 Das starke Abfallen ab dem 39. Band mag mit der Sondersituation der Wiedervereinigung mit den daraus folgenden schwierigen Grundsatzproblemen zu erklären sein85, doch gilt das z. B. für den 43. Band, in dem diese Themen seltener auftauchen und auch weniger intensiv behandelt werden, schon nicht mehr. Nicht ursächlich für diese Entwicklung sind technische Aspekte wie die Anzahl der Seiten je Band (ca. 400) oder der Drucksatz86. Über Gründe – mangelnde Disziplin in der Urteilstechnik87 (obiter dicta!), steigende Komplexität, fehlende Zeit zur Abfassung „schlanker“ Entscheidungen88, verstärkte Diskussion wissenschaftlicher Auffassungen89, überflüssige Nachweise90, anwachsendes Präjudizien-Material91, Verwendung von Textbausteinen etc. – kann des82 Gast, Rhetorik, Rn. 167: „Der Richter schuldet Rechtsgewißheit. Wenigstens schuldet er ihre Darstellung.“ 83 Neumann, in: Juristische Dogmatik, S. 51 f., der zudem auf die insofern gleichfalls ambivalente Thematik des „dissenting vote“ hinweist. Im Strafrecht wird man sich nur schwerlich mit der Einführung dieser Institution anfreunden können. Die Besonderheiten dieses Rechtsgebiets übersieht Lamprecht (S.Z. Nr. 154 vom 7./8. Juli 2001, S. I) in seinem Plädoyer für die Einführung der dissenting votes in allen Gerichtszweigen. 84 Der 45. Band enthält sogar nur noch 43 Entscheidungen! Statistische Auswertungen müßten diese Entwicklung berücksichtigen; vgl. in Kap. I den Text nach Fn. 30. 85 Im 39. Band nehmen allein fünf Entscheidungen zu diesem Thema (BGHSt 39, 1, 54, 168, 260, 353) zusammen mehr als 120 Seiten ein. Allerdings hatte die Nachkriegsrechtsprechung ebenfalls schwierige und grundlegende Fragen zu klären. Siehe auch Barton, StraFo 1998, 325 (329, Fn. 27), der eine allgemeine Tendenz zur Ausführlichkeit einiger weniger Entscheidungen feststellt. 86 Die Bände der amtlichen Sammlung enthalten recht konstant je Seite höchstens ca. 2.200 Zeichen (inkl. Leerzeichen). 87 Manche Entscheidungen verlieren zu sehr den Fallbezug, siehe z. B. BGHSt 45, 253, wo (ab S. 255) eine mustergültige, aber weitgehend nicht notwendige Normexegese zu §§ 177, 179 StGB vollführt wird. Ausschweifend auch BGHSt 8, 8–16 mit dem Selbsteingeständnis (S. 13): „Das alles sind freilich allgemeine Erwägungen, die nicht unmittelbar auf den hier vorliegenden Fall angewendet werden können.“ 88 Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung, S. 35. 89 Krit. zum „theoretisierenden Begründungsstil“ der Revisionsgerichte und zu den Folgen auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts Röhricht, ZGR 1999, 445 (459–462, 476 ff.). 90 Gegen „Belegexzesse“ wendet sich vor allem Schneider, Logik, S. 170 ff.

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II. Methodologische Vorbemerkungen

halb nur spekuliert werden. Häufig erwecken die Urteilsgründe den Eindruck der Umständlichkeit92, und keineswegs führt mehr Umfang zu größerer Klarheit in der Sachfrage93. Schon in den 1950er Jahren hat Jescheck in einem Vergleich zum (bestimmteren) Stil des RG darauf hingewiesen, daß der BGH das Für und Wider von Rechtsfragen breiter erörtere als unbedingt nötig und vielfach Entscheidungen „auf Vorrat“ treffe94, daß Entscheidungen zuweilen den Charakter von Dissertationen annähmen95. Eine häufig mißachtete Vorschrift ist § 13 I der Geschäftsordnung des BGH96, nach der die Entscheidungsgründe „klar und möglichst kurz abzufassen“ sind und sich „auf das Wesentliche und auf den Gegenstand“ zu beschränken haben. Wohl ohne Unterschied in der Sache, aber noch schärfer formulierte die Geschäftsordnung des Reichsgerichts (§ 18), die für die Abfassung der Entscheidungsgründe „bündige Kürze unter strenger Beschränkung auf den Gegenstand“ verlangte.97

Denkbar, aber wenig plausibel erscheint die Erklärung, die Strafsenate ließen sich lieber Weitschweifigkeit als mangelnde Reflexion vorwerfen. Es ist aber überhaupt unklar, inwieweit antizipierte Kritik der Wissenschaft die Abfassung des Urteils beeinflussen kann. Insgesamt wird man die Entwicklung nicht begrüßen können, und ein kulturpessimistischer Standpunkt mag darin sogar ein Symptom einer überdifferenzierten rechtswissenschaftlichen Spätzeit erkennen98.

91

Resignierend Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 336 f. und 343. Z. B. BGHSt 32, 104–115; 36, 192–199; 37, 147–152 (dazu die Anm. von Schoreit-Bartner, NStZ 1991, 90: kompliziert scheinende richterliche Deduktionen); 37, 266–287; 38, 144–165 (Anm. Otto, JR 1992, 210: arg umständlich und oft nur mühsam nachvollziehbar; Hassemer, JuS 1992, 703 [705]: Senat referiert Selbstverständlichkeiten); 42, 306–313 (Anm. Bringewat, JR 1998, 122 [123]: erheblicher Argumentationsaufwand für das unrichtige Ergebnis); 43, 252–261 (Anm. Fürstenau, StV 1998, 482 [483]: ausufernde und überflüssige obiter dicta sind mehr als nur Stil- oder Geschmacksfrage); 44, 233–243. Kurios knapp demgegenüber die Entscheidung BGHSt 21, 188, die mit lediglich drei Sätzen auskommt, zu der angesichts ihres problematischen Inhalts aber wenigstens fünf Anmerkungen erschienen sind (vgl. unten Fall 317). 93 Frappierend die Entscheidung BGHZ 154, 205–230 zur Sterbehilfe; dazu Verrel, NStZ 2003, 449: „sehr eigenwillige, bisweilen schwer verständliche . . . Begründung“ und Kutzer, ZRP 2003, 213 (215): „auch für einen Juristen nicht auf Anhieb . . . zu verstehen“, „alles andere als klar“. 94 Jescheck, GA 1954, 322 (323), der sich in seinem Überblick zu Band 1–5 der amtlichen Sammlung insgesamt allerdings wohlwollend gegenüber dem Stil des BGH äußert; vgl. auch GA 1956, 97. Esser (Juristisches Argumentieren im Wandel, S. 9) sieht eine Annäherung der Revisionsgerichte an die Praxis des BVerfG. 95 Jescheck, GA 1958, 1 (2): Gleichwohl sei die Sprache des BGH in Band 8 und 9 bestimmter, die Zitate seien seltener geworden. Zum Stil des RG siehe (allerdings arg pathetisch) Weinkauff, DRiZ 1954, 251 ff. 96 Bundesanzeiger Nr. 83, 1952, S. 9. 97 Reichszentralblatt 1880, S. 193; siehe auch Dölle, Vom Stil der Rechtssprache, S. 46. 98 Rieß, GA 2003, 500 (501). 92

8. Methodensynkretismus

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8. Methodensynkretismus Bei allen Besonderheiten der richterlichen Rechtsanwendung und bei aller Skepsis gegenüber dem gesicherten Ertrag der juristischen Methodenlehre verschreibt sich die Arbeit dem Ziel, ein wenig zum Thema Gesetzesbindung der Rechtsprechung und zur womöglich in gewissem Maß doch nicht ganz unlösbaren99 Rangfolgeproblematik beizutragen. Das recht heterogene Datenmaterial aus 50 Jahren Rechtsprechung kann natürlich leicht als Beleg eines „Methodensynkretismus“ oder „Methodenpluralismus“, verstanden als ungeregelte Heranziehung des gerade „passenden“ Auslegungskriteriums100, aufbereitet werden. Widersprüchliche und beliebige Verfahrensweisen in Methodenfragen sollen auch hier aufgezeigt werden, jedoch nicht um die Rechtsprechung bloßzustellen, sondern um Verbesserungen anzuregen. In Anbetracht des umfangreichen und sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Materials dürfen die dabei angelegten Maßstäbe nicht unrealistisch sein. Wenn nicht alles täuscht, läßt der BGH hinsichtlich methodologischer Grundaussagen heute größere Vorsicht walAnzahl Entscheidungen pro Band „BGHSt“ 120 110

Anzahl Entscheidungen

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4

7

10

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43

46

Band BGHSt

99 So Bydlinski, in: Festgabe 50 Jahre BGH, Bd. I, S. 38; für ein „Recht der Methode“ mit Vorschlag auch Gern, VA 1989, 415 (430 ff.); anders z. B. Esser, Vorverständnis, S. 124 und Grimm, in: FS für Coing, S. 469, dem zufolge alle Versuche, die Methode der Normanwendung ihrerseits zu normieren, gescheitert seien. 100 In einem anderen Sinn versteht das schweizerische Bundesgericht (BG) den „Methodenpluralismus“ als Ausdruck eines sachgerechten methodischen Vorgehens; vgl. BGE 125 II, 206 (209) und Biaggini, in: ratio legis, S. 67.

40

II. Methodologische Vorbemerkungen

ten als vor ca. 30 Jahren – vielleicht auch Ergebnis eines realistischeren Standpunkts hinsichtlich des eigenen Erkenntnisvermögens in diesen Dingen. Methodologische Widersprüche lassen sich im übrigen ebenso bei großen Stimmen der Wissenschaft nachweisen.101 Keineswegs gefolgt werden kann demgegenüber der Auffassung, der „Methodensynkretismus“ sei geradezu Ausdruck sachgerechten Vorgehens.102

101 Siehe Scheuerle, AcP 1967, 305 (347) und Zimmermann, NJW 1954, 1628 (1630, r. Sp.) gegenüber Eb. Schmidt; vgl. unten Fall 204. 102 Schneider, MDR 1963, 368: Der Richter müsse nach Bedarf die Methode wählen, die sich im Rechtsstreit am besten bewähre.

III. Wortlaut und Wortsinn 1. Vorüberlegungen/Terminologisches In der folgenden Darstellung der grammatikalischen Auslegung geht es vor allem darum, wie die Strafsenate Wortbedeutungen ermitteln, welche Hilfsmittel sie dazu heranziehen, welcher Sprachgebrauch (Alltags- oder Fachsprache) entscheidend ist und wie im Grenzbereich des Wortlauts argumentiert wird. Die bereits eingangs erwähnten Verschränkungen der Auslegungselemente werden gerade bei der grammatikalischen Auslegung sichtbar und im folgenden behandelt: Die Bedeutung von Wörtern oder Satzteilen erschließt sich oftmals erst nach Befragung der Systematik, z. B. durch den Vergleich des Wortgebrauchs in verschiedenen Absätzen einer Norm oder in unterschiedlichen Abschnitten desselben Gesetzes. Nicht minder bedeutsam ist der Einfluß der teleologischen Auslegung auf die Bedeutungsermittlung. Die Beziehung zur Interpretation aus der Entstehungsgeschichte kommt u. a. in der Problematik zum Ausdruck, ob der Sprachgebrauch des Gesetzgebers (der Gesetzesverfasser) oder derjenige der Sprachgemeinschaft generell maßgeblich sein soll, und zugleich ist damit eine Verbindung zum Thema objektive/subjektive Auslegung hergestellt. Mit der Wortlautgrenze ist darüber hinaus auch ein erster Kontakt zum Thema Rechtsfortbildung gegeben. Insofern soll geprüft werden, ob die Rechtsprechung des BGH seit jeher den „möglichen Wortsinn“ als Auslegungsgrenze betrachtet oder ob alternative Konzeptionen vertreten wurden und werden. Anschließend steht der tatsächliche Umgang der Senate mit der Wortlautgrenze ganz im Mittelpunkt der Untersuchung. Eingehende Begründungsanalysen sollen Mängel kategorisieren und damit Grundlage für Verbesserungsvorschläge sein. In terminologischer Hinsicht wird von folgendem ausgegangen: Die Bedeutung der juristischen Begriffe ist offen und wird im Auslegungsprozeß ermittelt, dessen Ergebnis in revidierbaren Definitionen festgehalten wird. Der Begriff der „Urkunde“ oder „Bande“ ist demnach wandelbar.1 Bei einigen Fragestellungen erweist sich die Unterscheidung zwischen Begriffsinhalt (Intension, Bedeutung) und Begriffsumfang (Extension, Erscheinungsformen) als hilfreich; die (eindeutigen) Anwendungsfälle oder Erscheinungsformen des Begriffs lassen auf des-

1 Der philosophische Streit um den „Begriff“ muß hier nicht aufgenommen werden, vgl. dazu Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 32; Engisch, Logische Studien, S. 24.

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III. Wortlaut und Wortsinn

sen Inhalt schließen.2 Verwendet werden weiterhin die Ausdrücke „Begriffskern“ und „Begriffshof“, eine auf Heck zurückgehende Klassifizierung semantischer Spielräume.3 Im Bereich unbestimmter (vager) Begriffe4 macht dieses Modell die Zuordnungsprobleme anschaulich. Zum Kern eines Begriffes gehören Fallgestaltungen, die ihm mit Sicherheit zugeordnet werden können, im Begriffshof ist die Zuordnung dagegen zweifelhaft, aber möglich. Außerhalb des Hofes stehen Kandidaten, die sicher nicht mehr dazugehören.5 Weniger metaphorisch können diese drei Bereiche auch mit der Unterscheidung positive/neutrale/negative Kandidaten gekennzeichnet werden, für die sich unter anderem sprachphilosophisch orientierte Methodiker einsetzen.6 Ob damit eine größere Genauigkeit erzielt werden kann, mag dahinstehen. Hier soll lediglich gezeigt werden, wie der BGH in den fraglichen Grenzbereichen verfährt. Die Senate verwenden zwar verbal die oben genannte Terminologie nicht, bewegen sich in der Sache aber gleichwohl innerhalb des „Drei-Bereiche-Modells“, insbesondere wenn sie von einer „klaren“ oder „eindeutigen“ Erfassung des Sachverhalts durch den Wortlaut sprechen.7 Die Einführung der Begrifflichkeit ist auch insoweit von Nutzen, als damit das Verhältnis von Auslegung zu Rechtsfortbildung sowie die Mechanismen der restriktiven und extensiven Interpretation klar bezeichnet werden können.8 Dagegen liefert die Klassifizierung natürlich keine inhaltlichen Kriterien für die Frage, wie die Wortlautgrenze zu ermitteln ist, wo sie im Einzelfall verläuft und wann sie überschritten ist.9 In all diesen Fragen herrschen erhebliche Unsicherheiten. Die theoretischen Schwierigkeiten, die mit sprachgebundener Kommunikation einhergehen, wer2 Näher zur Begrifflichkeit Busse, SuL 1998, 24 (29 f.) und Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 129 ff. 3 Heck, Gesetzesauslegung, S. 173. Zur Frage, wie sich Begriffshof/-kern und Begriffsinhalt/-umfang zueinander verhalten, siehe Busse, SuL 1998, 24 (30). 4 Ob nur „deskriptive“ Tatbestandsmerkmale vage sein können (vgl. Kramer, Methodenlehre, S. 44 ff.), führt nur auf die Fragwürdigkeit der Differenzierung zwischen normativen und deskriptiven Merkmalen zurück (z. B.: „Mensch“). 5 Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 166 ff.; Kramer, Methodenlehre, S. 45; Loos, in: AK-StPO, Einl. III, Rn. 12. 6 Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 195. Unverständlich allerdings die Ansicht der Autoren, das gängige Begriffskern/Begriffshof-Modell mit seinen zwei Bereichen könne die drei Klassen der Kandidaten nicht befriedigend erfassen (S. 200). Aber nur weil der Bereich außerhalb des Begriffshofs keinen „Namen“ hat, existiert er doch! Man könnte ihn (unschön) als „Begriffsumwelt“ oder schlicht „Rest der Welt“ (Schünemann, in: FS für Klug, S. 177) bezeichnen. Etwas klarer als Koch/Rüßmann, aber m. E. ebenfalls nicht überzeugend Wank, Begriffsbildung, S. 25. 7 Vorausgesetzt, daß der fragliche Begriff überhaupt vage ist bzw. „neutrale Kandidaten“ kennt. Um andere Fragen geht es auch, wenn der maßgebliche Sprachgebrauch (Alltags-/Fachsprache) ermittelt werden soll. 8 Siehe Kramer, Methodenlehre, S. 46. 9 Nach Wank (Begriffsbildung, S. 25) hilft insofern auch die Sprachphilosophie nicht weiter.

2. Zur Dichotomie Wortlaut/Wortsinn

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den zudem durch die Verknüpfung mit den nicht minder schwierigen Problemen des Rechts potenziert.10 Es ist deshalb nicht überraschend, wenn Juristen sich nicht mit der Verwertung linguistischer Erkenntnisse beschäftigen, sondern sich Spielraum verschaffen und ihrem Sprachgefühl freien Lauf lassen. Davon zeugen zahlreiche Grenzfälle der Rechtsprechung, aber auch in Urteilsanmerkungen sind detaillierte Sprachanalysen selten. Realistisch betrachtet wird man hier nur in begrenztem Umfang Verbesserungen erreichen können.

2. Zur Dichotomie Wortlaut/Wortsinn Von geringer sachlicher Bedeutung, aber von terminologischem Interesse ist zunächst die Frage, ob zwischen „Wortsinn“ und „Wortlaut“ zu unterscheiden ist. Der BGH spricht weitaus häufiger von „Wortlaut“11, verwendet beide Begriffe mal synonym, mal mit unterschiedlicher Bedeutung. Beliebig austauschbar sind die Wörter etwa, wenn das Gericht auf die gebräuchliche Argumentationsfigur „schon (bereits) der Wortlaut12 /schon dem Wortsinn13 nach“ zurückgreift, um auszudrücken, daß bereits die semantische Auslegung das vertretene Ergebnis (die Auslegungshypothese) nahelegt. Nichts anderes meinen die Formulierungen „schon sprachlich/begrifflich“14. Hin und wieder stiften die Senate Verwirrung, insbesondere wenn sie Tautologien produzieren wie „. . . bereits nach Wortlaut und Wortsinn . . .“ (BGHSt 37, 226 [229]) oder „. . . auch sprachlich und dem Wortsinn nach . . .“ (BGHSt 14, 185 [187]) oder „Nach Wortsinn, Sprachgebrauch und Verwendungszweck . . .“ (BGHSt 3, 180 [181]). Hier ist nichts Unterschiedliches, sondern allein die Stufe der sprachlichen Interpretation gemeint, so daß die Aneinanderreihung keinen Argumentationsgewinn bedeutet und überflüssig ist. Was unter „Wortsinn“ zu verstehen ist, macht der BGH zuweilen aber deutlich, z. B. in BGHSt 27, 120 (123): „. . . diese am Wortsinn nach dem alltäglichen Sprachgebrauch orientierte Auslegung . . .“. Daraus kann geschlossen werden, daß schon auf sprachlicher Ebene verschiedene Bedeutungen des Gesetzestextes in Betracht kommen, je nach Antwort auf die (vorrangige) Frage, welcher Sprachgebrauch (Alltags- oder Fachsprache) als maßgeblich anzusehen ist. Vom „möglichen Wortsinn“ wird in aller Regel nur dann die Rede sein, wenn es mangels speziellen Sprachgebrauchs auf die All10 Henkel, Rechtsphilosophie, S. 194: Die Verbindung der komplexen Gebilde Sprache und Recht führe zu einer „Fülle von Reibungsmöglichkeiten“. 11 In BGHSt 1–44 ist insgesamt 1466 Mal von Wortlaut und nur 82 Mal von Wortsinn die Rede. Die These von Wank (Begriffsbildung, S. 19), wonach man „früher“ von Wortlaut sprach, heute dagegen von Wortsinn, findet jedenfalls in der Rechtsprechung des BGH (in Strafsachen) keine Bestätigung. 12 Z. B. BGHSt 1, 209 (210); 24, 143 (148); 42, 294 (295). 13 Z. B. BGHSt 14, 38 (43); 28, 129 (132); 34, 218 (220). 14 Z. B. BGHSt 26, 176 (181); 32, 335 (338); 43, 366 (369).

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III. Wortlaut und Wortsinn

tagssprache ankommen muß, aber auch die Grenze einer „noch möglichen“ fachsprachlichen Bedeutung ist denkbar.15 Kommen sprachlich mehrere Alternativen im Rahmen des „Wortlauts“, der lediglich den (unveränderlichen) semantischen Rahmen abgibt16, in Betracht, muß der maßgebliche „Wortsinn“ mit Hilfe der übrigen Auslegungskriterien ermittelt werden17. Insofern unterscheidet der BGH selbstverständlich zwischen Wortsinn und Normsinn (Normzweck).18 Oft wird die Sprache die zutreffende Wortbedeutung vorgeben („dafür spricht schon der Wortlaut“), aber letztlich doch viele Zweifelsfragen offenlassen. Abschließend zur Illustration folgender Fall 1 (BGHSt 41, 285): Der Täter wollte ein Kind zum Telefonsex zwingen, indem er die Entführung eines Elternteils vorspiegelte. Fraglich war die Anwendung von § 176 V Nr. 2 StGB a. F., wonach die Bestrafung voraussetzte, daß das Kind die sexuellen Handlungen „vor“ dem Täter vornimmt. Der BGH stellt kriminalpolitische hinter sprachlichen Erwägungen zurück und verlangt eine visuelle Wahrnehmung der sexuellen Handlungen durch den Täter. Die Auslegung finde hier „ihre Grenze im Wortsinn, wie er sich aus dem Gesetzeswortlaut und aus dem Sinnzusammenhang des Gesetzes ergibt“ (a. a. O., S. 286). Zwar verbiete die Wortwahl in § 176 StGB a. F. die Subsumtion „noch nicht sicher“, doch spreche die Begriffsbestimmung in § 184c Nr. 2 StGB dagegen („sexuelle Handlungen vor einem anderen [sind] nur solche, die vor einem anderen vorgenommen werden, der den Vorgang wahrnimmt“). In die gleiche Richtung wiesen die Gesetzesmaterialien (S. 287).

Der BGH differenziert hier präzise zwischen Gesetzeswortlaut und Wortsinn und zieht darüber hinaus weitere Kriterien (Systematik und Entstehungsgeschichte) zur Bedeutungsfeststellung heran. Ob das systematische Argument überzeugt, spielt in diesem Zusammenhang dagegen keine Rolle.19

15

Näher unten III 7 b. Gast, Rhetorik, Rn. 14: „Der Wortsinn liegt nicht im Wort selbst . . .“. Kramer, Methodenlehre, S. 43: Wortsinn ist dem Wortlaut zu entnehmen. Nolte, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 103 II GG, Rn. 158: „Der Wortsinn ist in aller Regel enger als der isoliert betrachtete Wortlaut.“ 17 Dementsprechend kann als Ziel der Auslegung die Ermittlung des maßgeblichen Wortsinns bezeichnet werden, vgl. Engisch, Einführung, S. 93 (Fn. 31 a. E.): Wortlaut als „Gegenstand der Auslegung“ (Hinweis auf Rödig), Wortsinn als Ziel der Auslegung. Etwas anders aber Kramer, Methodenlehre, S. 43: Der Wortsinn ist das wichtigste „Indiz“ für den Normsinn. M.E. ist das Verhältnis wechselbezüglich: Auf der einen Seite gibt der Wortsinn Anhaltspunkte für Sinn und Zweck der Norm und umgekehrt dient die Ermittlung des Normsinns dazu, den letztlich entscheidenden Wortsinn festzustellen. 18 Z. B. BGHSt 2, 338 (340); 4, 6 (7); 15, 1 (5); 32, 80 (82); 41, 231 (235). 19 Der Rekurs auf die Formulierung in § 184c Nr. 2 StGB ist fragwürdig, sagt diese Bestimmung zur Problematik, ob auch die akustische Wahrnehmung genügt oder ob die körperliche Anwesenheit des Täters erforderlich ist, doch nicht mehr aus als § 176 V Nr. 2 StGB a. F. selbst. A.A. aber Th. Schmidt in seiner Anm. in JuS 1996, 654. 16

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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3. Zur Bedeutungsfeststellung a) Gesetzliche Definitionen Erstes Hilfsmittel zur Feststellung der Wortbedeutung ist das betreffende Gesetz selbst, namentlich die dort enthaltenen Legaldefinitionen.20 Viel zu erwarten ist insoweit freilich nicht, denn bei allen Perfektionsbestrebungen ist dem Dilemma, daß gesetzliche Definitionen weitere Definitionen provozieren21 und zudem zu einer unter Umständen unerwünschten Einengung richterlicher Entscheidungsfreiheit führen, nicht zu entkommen. Der Gesetzgeber des StGB hat jedenfalls vom Mittel der Legaldefinition nur zurückhaltend Gebrauch gemacht (vgl. insbesondere §§ 11, 12) und viele Fragen der Praxis überlassen. Weitergehende Tendenzen im E 1962 konnten sich nicht durchsetzen.22 Vielfach „hinkt“ der Gesetzgeber der Entwicklung stark hinterher, kodifiziert oftmals nur den erreichten Stand der Strafrechtswissenschaft und Rechtsprechung wie z. B. beim 1974 durch das EGStGB geregelten Amtsträgerbegriff.23 Gerade der Amtsträgerbegriff des § 11 I Nr. 2 StGB zeigt jedoch, daß Definitionen wenig nutzen, wenn sie lediglich den unstrittigen status quo wiedergeben, anstatt Problemfragen zu klären.24 Von einem rechtsevolutionären Standpunkt aus wird man diese Handhabung kaum akzeptieren und sich ein wenig mehr Initiative des Gesetzgebers wünschen; auch die Praxis übt vereinzelt Kritik an dieser gesetzgeberischen Untätigkeit.25 Für den Bereich des StGB-AT etwa ist nicht einzusehen, weshalb so grundlegende Rechtsfiguren wie der Erlaubnistatumstandsirrtum oder die actio libera in causa sowie die Voraussetzungen des Unterlassungsdelikts (Garantenstellung) nicht geregelt sind, zumal dafür nicht nur ästhetische Gründe (Kodifikationspflege), sondern auch konkret rechtsstaatliche Aspekte sprechen. Auf der anderen Seite wird hier nicht übersehen, daß neu eingeführte oder geänderte Definitionen ihrerseits in die Mühlen der Auslegung geraten und ihr Ziel nicht stets erreichen.26

20 Heranzuziehen sind natürlich auch Definitionen aus benachbarten oder sonstigen Gesetzen, die Aufschluß über die Begriffsbedeutung geben; siehe z. B. BGHSt 26, 12 (15), wo eine im Waffenrecht enthaltene Formulierung („Ausübung tatsächlicher Gewalt“) mit Hilfe des BGB erklärt wird. Zu Problemen, die aus dem Transfer des zivilrechtlichen Sachbegriffs ins Strafrecht entstehen können, siehe unten S. 114. 21 Krit. deshalb Noll, JZ 1963, 297 (299, r. Sp.): Jedes Definieren führt ins Unendliche. 22 Siehe die eingehende und krit. Erörterung von Stratenwerth, ZStW 1964, 669 ff. und außerdem Noll, JZ 1963, 297 (298 ff.). 23 Siehe BGHSt 38, 199 (201). 24 Immerhin hat der Gesetzgeber 1997 (Gesetz zur Bekämpfung der Korruption, BGBl. I, S. 2038) eine Zweifelsfrage geklärt; krit. Wolters, JuS 1998, 1100 (1104). 25 Z. B. in BGHSt 33, 252 (258): Gesetzgeber hätte Anlaß zu einer Definition gehabt!

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III. Wortlaut und Wortsinn

Beispielhaft kann in diesem Zusammenhang auf den Streit um den Begriff der „Gemeingefahr“ und der damit verbundenen Frage, ob dafür auch die Gefährdung einer bestimmten (ausgewählten) Person genügt, hingewiesen werden. Der Gesetzgeber hat zur Problemklärung einige Ansätze unternommen, es jedoch nicht „geschafft“, der Praxis eindeutige Vorgaben zu machen.27 Noch eindrucksvoller ist die durch das 2. StrRG eingeführte Legaldefinition der „Beteiligung“ in § 28 II StGB, die gerade dann nicht „paßt“ oder weiterhilft, wenn es auf sie ankäme, und deshalb zu vielen Auslegungskunststücken zwingt. Nach Ansicht von Schroeder gilt diese „irreführende“ Legaldefinition sogar in keinem Fall, in dem das StGB den Begriff der Beteiligten verwendet!28 Als widersprüchlich erscheint es z. B., wenn der Gesetzgeber des 6. StrRG in § 224 I Nr. 4 StGB formuliert „mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich“, und damit zwei Fachbegriffe der Beteiligungslehre (§§ 25 II, 28 II) in mißverständlicher Weise kombiniert.29

Es bleibt noch anzumerken, daß Schwierigkeiten nicht nur auftreten, wenn Definitionen von vornherein fehlen oder Auslegungsschwierigkeiten bereiten, vielmehr auch dann, wenn bislang existierende Begriffsbestimmungen beseitigt werden. Im günstigsten Fall – bei einem sorgfältig vorgehenden Gesetzgeber – kann die dann entstehende „Lücke“ durch den Rückgriff auf ein anderes (allgemeineres) Gesetz geschlossen werden.30 Völlig übersehen hat der Gesetzgeber des 6. StrRG (1998), daß die Streichung des in seiner Zielsetzung als überholt angesehenen § 217 StGB a. F. (Kindstötung) der Strafrechtsanwendung eine Definition entzogen hat. Die Grenzlinie zwischen „Mensch“ (§§ 211 ff., 222 StGB) und „Embryo“ (§ 218 StGB) – bislang zumindest mittelbar aus § 217 a. F. hergeleitet – bedarf nunmehr einer neuen Legitimation.31 Der Gesetzgeber hätte die Aufhebung der Norm en passant mit der Einfügung einer längst überfälligen Definition dieser existentiellen Frage verbinden sollen.

In anderen Konstellationen können Streichungen oder in den Gesetzesmaterialien dokumentierte Diskussionen um die Einführung gesetzlicher Definitionen es erforderlich machen, die Motive für dieses gesetzgeberische Verhalten zu ergründen.32 Damit verbundene Schwierigkeiten gehören jedoch zum Problemkreis „Entstehungsgeschichte“.

26 So will Haft (in: FS für Lenckner, S. 81 ff.) gerade anhand der gesetzlichen Definition des „Amtsträgers“ die Schwächen der herkömmlichen Methodik demonstrieren und für seine „Normalfallmethode“ werben. 27 Näher unten Fall 53. 28 Schroeder, JuS 2002, 139 (141), der viele der Auslegungskunststücke vorführt. 29 Eingehend dazu Küper, GA 2003, 363 (372 ff.). Zum Ausweg des BGH siehe BGHSt 47, 383. 30 So z. B. in BGHSt 17, 399 (402): Die Definition des Begriffs „Anhänger“ wird dem allgemeinen Verkehrsrecht entnommen, nachdem das Kraftfahrzeugsteuergesetz die bisherige Definition gestrichen hat. 31 Wie sie zu leisten ist, dazu eingehend Küper, GA 2001, 515 (529 ff.). 32 Z. B. BGHSt 12, 120 (125).

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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b) Eindeutigkeiten Bevor verschiedene Hilfsmittel zur Bedeutungsfeststellung erläutert werden, werden zunächst Fälle betrachtet, in denen der BGH die Lösung bereits auf semantischer Ebene für eindeutig oder klar hält, der Wortsinn demnach schon nach der grammatikalische Auslegung feststehen soll. Theoretisch kann es sich dabei sowohl um Situationen handeln, in denen der fragliche Begriff von vornherein keine „neutralen Kandidaten“ kennt (nicht vage ist), als auch um solche, in denen der BGH positive und negative Kandidaten eines vagen Begriffs eindeutig zuordnen zu können glaubt. Schwierig ist es, Kriterien zu finden, anhand derer die Aussagen der Senate überprüft werden könnten, zumal vom BGH naturgemäß keine nähere Begründung für s. E. Eindeutiges bzw. Unproblematisches zu erwarten ist.33 Immerhin dürfte sich auch der BGH zu einer solchen Aussage nur dann entschließen, wenn er sich der (hypothetischen) Zustimmung des juristischen Fachpublikums sicher ist.34 Das ist im Bereich der Wortauslegung nur dann der Fall, wenn das Evidenzerlebnis zügig eintritt, die Richtigkeit der behaupteten Lösung klar zutage liegt. Gewisses Indiz hierfür kann sein, ob die Entscheidung mit geringem Aufwand darstellbar ist und die anschließende Fallösung unmittelbar einleuchtet. Das soll hier anhand einiger Beispiele geprüft werden. In der Literatur geäußerte Bedenken sind unter dem Aspekt berücksichtigt, ob sie die Evidenzbehauptung des BGH zum sprachlichen Gehalt der Norm erschüttern können. Die Beispiele sind so ausgewählt, daß sie auslegungstheoretisch auch in anderer Beziehung bedeutsam sind und deshalb im Verlauf der weiteren Untersuchung noch von Interesse sein werden.35 Eine vollständige Erfassung aller BGH-Entscheidungen mit dieser Argumentationsfigur kann natürlich nicht erfolgen. Im Kapitel „Wortlautgrenze“ (unten III 7) werden ähnliche Konstellationen nochmals zu diskutieren sein, denn gerade in diesem sensiblen Bereich beläßt es der BGH seltsamerweise häufig bei der Evidenzbehauptung, eine Auslegung sei mit dem Wortlaut „ohne weiteres“ vereinbar. Zunächst sollen die „klarsten“ Fälle gezeigt werden: Fall 2 (BGHSt 3, 314): Nach § 243 I Nr. 4 StGB a. F. wurde wegen schweren Diebstahls bestraft, wer (auf einem öffentlichen Weg etc.) Sachen stiehlt, „die zum Reisegepäck oder zu anderen Gegenständen der Beförderung“ gehören. Nicht hiervon erfaßt ist nach Ansicht des BGH die Wegnahme der Beförderungsmittel selbst (z. B. Fahrzeug und Autoreifen), wie aus dem klaren Wortlaut folge (S. 315). Die 33 Vgl. BGHSt 7, 240 (244): „Daß damit die Grenzen vertretbarer Auslegung überschritten werden, bedarf keiner weiteren Begründung.“ 34 Vgl. nochmals die Konzeption Adomeits, oben Kap. II, Fn. 59. Seiler (Methode im Zivilrecht, S. 177) sieht in der Feststellung der Eindeutigkeit durch den BGH einen auf das erwünschte Ergebnis hinzielenden Akt der Dezision; damit wird das Phänomen der Evidenz m. E. nicht zureichend erfaßt. 35 Außerdem lesenswert: BGHSt 4, 316 (319); 6, 312 (314); 7, 198 (200); 10, 46 und 17, 21.

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III. Wortlaut und Wortsinn

Beförderungsmittel selbst sollen nicht befördert werden, sondern ihrerseits befördern. Anders liege es beim Zubehör wie etwa den Ersatzreifen. Fall 3 (BGHSt 4, 158): Gemäß § 42 GVG a. F. erfolgte die Wahl der Schöffen für die nächsten zwei Geschäftsjahre, die Vereidigung demgegenüber nur für das laufende Geschäftsjahr (§ 51 I GVG a. F.). Die unabgestimmte Regelung erscheint dem BGH zwar „auffällig“ und unzweckmäßig, doch der Wortlaut sei klar und lasse nur eine Deutung zu (S. 159). – Der Gesetzgeber hat diese Ungereimtheit im 3. StÄG vom 4.8.1953 (BGBl. I, S. 735) beseitigt. Fall 4 (BGHSt 11, 52): Für die Fälle der Staatsgefährdung und des Landesverrats bestimmte § 134 GVG a. F. die erstinstanzliche Zuständigkeit des BGH, die dieser gemäß § 134a III GVG a. F. allerdings an Gerichte der Länder delegieren konnte. § 153c StPO a. F. eröffnete dem BGH (nicht aber anderen Gerichten) zusammen mit der Bundesanwaltschaft auch für das Staatsschutzrecht die Möglichkeit, das Verfahren unter bestimmten Voraussetzungen einzustellen. Galt das auch für die Ländergerichte, an die nach § 134a GVG abgegeben wurde? „Schon nach dem Wortlaut“ des § 153c StPO (a. F.) sieht der BGH hierfür keinen Anhaltspunkt (S. 53). Schwierigkeiten in der praktischen Handhabung rechtfertigten keine Abweichung vom klaren Wortlaut und Zweck (S. 54). Die Ungereimtheit des Gesetzes meint Poppe überwinden zu können (NJW 1957, 1577 [1579]: „Es bleibt m. E. nichts anderes übrig . . .“), ohne allerdings eine Begründung für die Vereinbarkeit seiner Auslegung mit dem Gesetzeswortlaut zu geben. Fall 5 (BGHSt 14, 291): Der Täter hatte eine Kassette entwendet und sie außerhalb des Hauses gewaltsam öffnen lassen. Hat er dadurch „aus einem Gebäude . . . mittels Erbrechens von Behältnissen“ gestohlen? (§ 243 I Nr. 2 StGB a. F.) Nach Ansicht des BGH muß das Behältnis im Gebäude erbrochen werden (S. 292). Neben der Entstehungsgeschichte spreche dafür der eindeutige Wortlaut. Als zu eng wird diese Auffassung kritisiert von Jagusch (in: LK-StGB8, § 243, Anm. II f), der bei „ungezwungener Auslegung“ nach Wortlaut und Gesetzeszweck den Ort des Erbrechens für unerheblich hält. Ablehnend auch Kohlrausch/Lange (StGB41, S. 480): „Eines der bekanntesten Beispiele für die Ergebnisse wortgebundener Auslegung.“ Das RG hat in ständiger Rechtsprechung wie der BGH entschieden, in RGSt 75, 43 allerdings eine damals gemäß § 2 StGB (a. F.) zulässige Analogie bejaht. Fall 6 (BGHSt 15, 88): Nach § 332 I StGB a. F. war der Beamte wegen Bestechung (schwerer Bestechlichkeit) zu bestrafen, „welcher für eine Handlung, die eine Verletzung einer Amts- oder Dienstpflicht enthält, Geschenke oder andere Vorteile annimmt, fordert oder sich versprechen läßt“. Fällt darunter auch der Beamte, der zwar Vorteile annimmt, innerlich jedoch entschlossen ist, sich in der Freiheit seiner (Ermessens-)Entscheidung nicht beeinflussen zu lassen? Der BGH verneint das: Die Gesetzesfassung bringe klar zum Ausdruck, daß pflichtwidrige Handlung und Vorteilsgewährung aufeinander bezogen sein müssen (S. 91). Allein die Annahme des Vorteils mache die (spätere) Diensthandlung noch nicht zu einer pflichtwidrigen. Fall 7 (BGHSt 22, 375): Entscheidungserheblich war, ob „niedrige Beweggründe“ im Sinn von § 211 II StGB „besondere persönliche Merkmale“ gemäß § 50 II StGB a. F. (heute § 28 i. V. m. § 14 StGB) sind. Die Legaldefinition des § 50 II verstand darunter „besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände (besondere persönliche Merkmale)“. Der BGH zweifelt nicht: „Es entspricht nun dem

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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Sprachgebrauch und dem natürlichen Verständnis, niedrige Beweggründe des Mörders zu den besonderen persönlichen Umständen zu rechnen“ (S. 378). Der Gesetzestext sei klar und eindeutig (S. 379).36 Fall 8 (BGHSt 24, 3): Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren konnten gemäß § 23 II StGB a. F. zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn besondere Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit des Täters dafür sprachen (ebenso heute § 56 II StGB). Das LG hat besondere Umstände in der Tat als ausreichend angesehen, also ein Alternativverhältnis angenommen. Der BGH hält diese Auffassung für „unrichtig“, den Gesetzeswortlaut für eindeutig i. S. eines Kumulativverhältnisses (S. 4). Anderer Auffassung ist Schröder, der – ohne Begründung – ein Alternativverhältnis annimmt (Schönke/Schröder, StGB15, § 23, Anm. 28: „Entgegen dem Wortlaut muß es genügen . . .“). Fall 9 (BGHSt 33, 398): § 66 II StGB verlangt als Voraussetzung der Sicherungsverwahrung, daß der Angeklagte „zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren“ verurteilt wird. „Genügt“ hierzu eine lebenslange Freiheitsstrafe? Der GBA versucht, die eigentümliche Einschränkung durch das Wort „zeitig“ mit § 57a StGB zu überwinden, der die lebenslange Freiheitsstrafe wenigstens faktisch zu einer zeitigen umgestaltet habe (S. 399). Diese „beachtenswerte“ Argumentation kann nach Ansicht des BGH jedoch eine Abweichung vom eindeutigen Gesetzeswortlaut nicht rechtfertigen. Fall 10 (BGHSt 45, 131): Wegen schweren sexuellen Mißbrauchs von Kindern wird u. a. bestraft, wer dem Beischlaf ähnliche, sexuelle Handlungen an einem Kind vornimmt, „die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind“ (§ 176a I Nr. 1 StGB). Der BGH mußte entscheiden, ob diese Alternative erfüllt ist, wenn der Täter an einem Jungen den Oralverkehr ausübt. Vom Wortlaut sei sowohl das Eindringen in den Körper des Opfers als auch in den des Täters erfaßt (S. 133). Entstehungsgeschichte und Normzweck geböten keine Einschränkung dieses eindeutigen Wortlauts. Fall 11 (BGHSt 45, 211): Gemäß § 306b II Nr. 2 StGB wird wegen besonders schwerer Brandstiftung bestraft, wer „in der Absicht handelt, eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken“. Trifft diese Strafschärfung auch denjenigen, der – ohne die spezifischen Gefahren eines Brandes auszunutzen – die Tat begeht, um betrügerisch die Versicherungssumme zu erlangen? Der eindeutige Wortlaut spricht – so der BGH (S. 216) – für die Bejahung der Frage.

Man wird dem BGH hinsichtlich der grammatikalischen Auslegung überwiegend folgen können. „Gegenstände der Beförderung“ sind gewiß nicht die Gegenstände, die zum Beförderungsmittel selbst gehören (Fall 2), das „laufende Geschäftsjahr“ ist klar definiert (Fall 3), das GVG sah zwar eine Abgabe der Sache an die Ländergerichte vor, die StPO hingegen keine Übertragung der Zuständigkeit für die Verfahrenseinstellung (Fall 4), ein Diebstahl aus einem Gebäude „mittels Erbrechens von Behältnissen“ kann nicht im Mitnehmen des Behältnisses mit anschließender Öffnung erblickt werden (Fall 5), „für“ eine pflichtwidrige Handlung setzt eben eine solche voraus (Fall 6), niedrige Beweg36

Zur Gegenauffassung siehe unten Fall 224 (Fn. 507).

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III. Wortlaut und Wortsinn

gründe sind „persönliche Umstände“ (Fall 7), die Konjunktion „und“ bedingt ein Verhältnis der Kumulation, nicht der Alternation (Fall 8), unter eine „zeitige Freiheitsstrafe“ fällt nicht die lebenslange Strafe (Fall 9), das „Eindringen in den Körper“ sagt nicht, welcher Körper gemeint ist (Fall 10), und der Versicherungsbetrug ist sogar regelmäßig die Straftat, die durch eine Brandstiftung „ermöglicht“ werden soll (Fall 11). Daß die genannten Fälle dennoch in der amtlichen Sammlung erscheinen und der BGH sich recht eingehend mit ihnen auseinandersetzt, liegt oftmals an der unbefriedigenden Gesetzesfassung sowie unerwünschten Folgen, die Vorinstanzen und Literaturstimmen zu Gesetzeskorrekturen veranlassen. Besonders deutlich ist diese Tendenz bei § 243 StGB a. F., dessen kasuistische und veraltete Fassung zu einigen Ungereimtheiten geführt hatte (vgl. Fall 2 und Fall 5)37, und in Fall 3, wo der Gesetzgeber zwei Normen des GVG nicht aufeinander abgestimmt und dadurch absolute Revisionsgründe provoziert hatte; ebenso liegt es in Fall 9, in dem ein Schluß a minore ad maius – Wenn schon eine zeitige Freiheitsstrafe genügt, weshalb dann nicht auch eine lebenslange? – den GBA zu einer trickreichen Interpretation greifen ließ, und in Fall 7, in dem die Einordnung der niedrigen Beweggründe als „besondere persönliche Merkmale“ zu unbefriedigenden Folgen bei der Frage der Verjährung führte. Im Fall 11 geht es um eine geforderte Restriktion (Reduktion) eines angeblich zu weit geratenen Tatbestandes (§ 306b II Nr. 2 StGB), während der umfassende Wortlaut selbst keinen Anhaltspunkt für eine Einschränkung bietet. Schwieriger wird es in folgenden Beispielen, in denen die Evidenzbehauptung des BGH auf schwächeren Füßen steht: Fall 12 (BGHSt 6, 25): 1953 fügte der Gesetzgeber den §§ 49 StVO, 71 StVZO a. F. (damals Strafbestimmungen!) eine Subsidiaritätsklausel an, wonach diese Bestimmungen nur anzuwenden seien, „wenn die Tat nicht nach anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist“. Das BayObLG (DAR 1954, 49) erkennt unter Berufung auf die amtliche Begründung darin keine Rechtsänderung, sondern nur eine Klarstellung und beschränkt die Anwendbarkeit auf Fälle der Gesetzeseinheit. Anders der BGH: Wie schon der klare Wortlaut ergebe, umfasse der Zusatz auch Fälle der Tateinheit (S. 26). Fall 13 (BGHSt 6, 248): Kann wegen Beihilfe zum räuberischen Diebstahl bestraft werden, wer selbst nicht im Besitz der Beute ist? (§ 252 StGB: „. . . um sich im Besitz des gestohlenen Gutes zu erhalten . . .“) Nach Auffassung des BGH nicht, denn die Absicht, einem anderen den Besitz zu erhalten, falle nicht unter den klaren Wortlaut der Norm (S. 250). Anders Kohlrausch/Lange (StGB41, S. 496): Es sei eine sprachliche Konsequenz, keine Analogie, bei Beteiligung mehrerer das „sich“ sinngemäß auf alle zu beziehen. Fall 14 (BGHSt 42, 158): Kann der Täter noch vom versuchten Raub (§§ 249, 22 StGB) zurücktreten, wenn bereits die schwere Folge des qualifizierten Tatbestandes (Tod eines Menschen gemäß § 251 StGB) eingetreten ist? Der BGH bejaht das u. a. mit dem Hinweis auf den eindeutigen Wortlaut des § 24 I StGB (S. 160). Der Rück37

Von BGH NJW 2001, 3205 (zu § 244 I Nr. 3 StGB) noch einmal referiert.

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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tritt vom nur versuchten Grunddelikt sei jederzeit möglich und entziehe der Qualifikation den erforderlichen Anknüpfungspunkt.

Die Schwierigkeiten in den Fällen 12–14 resultieren daraus, daß die Interpretation des Gesetzestextes ohne Berücksichtigung dogmatischer Zusammenhänge „in der Luft hängt“. In § 252 StGB heißt es zwar „sich im Besitz der Beute zu erhalten“ (Fall 13), doch in einer Konstellation von Täterschaft und Teilnahme ist ohne Heranziehung der allgemeinen Vorschriften noch keine sinnvolle Aussage über den sprachlichen Gehalt der Regelung möglich.38 Die vollständige Textgrundlage ist allein durch die Vorschrift aus dem StGB-BT eben noch nicht hergestellt, so daß die Behauptung eines „klaren Wortlauts“ als voreilig erscheint. Ähnlich liegt es in Fall 14 (Rücktritt vom erfolgsqualifizierten Versuch), wo die Argumentation des BGH auf dogmatisch näher zu begründenden Voraussetzungen (Verhältnis von Grunddelikt zur Qualifikation) beruht. Gerade die Tatsache, daß der BGH seine Lösung näher erläutern muß, stellt das Eindeutigkeitsurteil in Frage. Aus dem allgemein gehaltenen Wortlaut des § 24 StGB folgt so leicht nichts Eindeutiges!39 Weniger Bedenken erweckt insofern Fall 12 (Subsidiaritätsklausel), aber auch nur bei Unterstellung eines Lesers, dem die strafrechtliche Konkurrenzlehre geläufig ist; nur dieser wird dem Tatbegriff ohne weiteres die Fälle der Tateinheit zurechnen.40 Aus den letztgenannten Beispielen wird nebenbei deutlich, daß die Feststellung der Eindeutigkeit nicht davon abhängt, ob der „natürliche“ oder aber der fachspezifische Sprachgebrauch maßgebend ist; in beiden Konstellationen hält der BGH sprachlich klare Ergebnisse für möglich. Im Bereich der Fachsprache wird zwar nur der kundige Leser die Eindeutigkeit nachvollziehen können, aber juristische („mittelbare“) Evidenz existiert eben nicht voraussetzungslos, sondern hängt von Erfahrung und Rechtsgefühl ab.41 Problematisch ist das folgende Beispiel (Fall 15), bei dem es um grundlegende Aspekte der gesetzlichen Regelungstechnik für Strafschärfungen geht: Fall 15 (BGHSt 5, 211): Jagdvergehen wurden gemäß § 292 II StGB a. F. „in besonders schweren Fällen“ verschärft bestraft, „insbesondere wenn die Tat zur Nachtzeit, in der Schonzeit, unter Anwendung von Schlingen oder . . . begangen wird“. 38 Ähnlich in BGHSt 27, 56: Setzt das „Beisichführen“ einer Waffe eigenhändiges Verhalten voraus oder genügt das Mitführen der Waffe durch einen Beteiligten? Laut BGH spricht „bereits der Wortlaut“ für das Erfordernis der Eigenhändigkeit (näher unten Fall 125). 39 Dazu, warum die Entscheidung gleichwohl (auch in sprachlicher Hinsicht) zutrifft, siehe unten Fall 104; nur auf Evidenz kann sie sich nicht berufen. Die Anmerkungen sind in diesem Punkt freilich überwiegend ablehnend (vgl. a. a. O.). 40 Womöglich kann man aber gerade umgekehrt sagen, daß nur der strafrechtlich vorgebildete Leser überhaupt zur feinsinnigen Differenzierung zwischen Gesetzeseinheit und Tateinheit gelangt, der Wortlaut somit vielleicht doch als „klar“ bezeichnet werden muß. 41 Näher – auch zur Differenzierung zwischen unmittelbarer/mittelbarer Evidenz – Mayer-Maly, in: FS für Verdroß, S. 266 f.

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III. Wortlaut und Wortsinn

Kann der Richter von der Anwendung dieser Strafschärfung absehen, obwohl der Täter Schlingen angewandt hat? Der BGH sieht in Anbetracht des „klaren und eindeutigen Wortlauts“ (S. 214) hierfür anders als das OLG Koblenz (JZ 1953, 278) keine Möglichkeit. – Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 292 II StGB a. F.: „In besonders schweren Fällen, insbesondere wenn die Tat zur Nachtzeit, in der Schonzeit, unter Anwendung von Schlingen oder . . . begangen wird, ist auf . . . zu erkennen.“ §§ 263 IV, 266 II StGB i. d. F. bis zum 3. StÄG 1953: „In besonders schweren Fällen tritt an die Stelle . . . Ein besonders schwerer Fall liegt insbesondere dann vor, wenn . . .“. § 243 I StGB g. F.: „In besonders schweren Fällen wird der Diebstahl mit . . . bestraft. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter . . .“.

Die isolierte Lektüre des § 292 II StGB a. F. legt die Charakterisierung der Norm als zwingend durchaus nahe, was auch das OLG Koblenz (JZ 1953, 278) eingesteht. Das gleiche Gericht bringt unmittelbar im Anschluß jedoch ein gewichtiges Gegenargument: Der Gesetzgeber wolle mit der beispielhaften Aufzählung die richterliche Bewertungsfreiheit nicht einschränken, sondern nur Anhaltspunkte für das Vorliegen eines schweren Falles formulieren; diese Regelungstechnik werde im Strafrecht allgemein so gedeutet. Ebenso habe das RG für die §§ 263 IV, 266 II StGB (a. F.) entschieden, deren Wortlaut (siehe oben) keine relevante Differenz gegenüber § 292 II StGB (a. F.) aufwiesen (S. 279). Ähnlich argumentiert Maurach (JZ 1953, 279 f.), demzufolge der Wortlaut nur auf den ersten Blick ein beachtliches Hindernis darstelle, welches das RG nicht davon habe abhalten können, das zutreffende Ergebnis zu finden.42 Demgegenüber sieht der BGH sich, ohne auf die §§ 263, 266 StGB (a. F.) einzugehen, in Anbetracht der Entstehungsgeschichte nicht in der Lage, die Norm gegen ihren „klaren und eindeutigen Wortlaut auszulegen“.43 Mit dem Wissen um die spätere Entwicklung, die zur Umgestaltung von qualifizierten Tatbeständen zu benannten, aber nicht zwingend anzuwendenden Strafzumessungsgründen („Regelbeispielstechnik“) führte,44 wird die Thematik durchsichtiger. Der heutige § 243 I StGB (siehe oben) als Paradebeispiel dieser Regelungstechnik bringt durch die Formulierung „in der Regel“ zum Ausdruck, daß den genannten Beispielen nur indizielle Bedeutung zukommt, mit anderen Worten: Der erhöhte Strafrahmen kann, muß aber trotz Vorliegens eines Beispiels nicht angewandt werden. § 292 II StGB a. F. sträubt sich sprachlich gegen 42 Aus den vom OLG Koblenz und von Maurach zitierten Entscheidungen des RG folgt dies freilich nur indirekt; eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Wortlaut ein Hindernis darstellt, findet sich dort nicht. 43 BGHSt 5, 211 (214); dem BGH im Ergebnis, nicht aber in der (formalen!) Begründung zust. Kohlrausch/Lange, StGB41, S. 58. Abl. dagegen unter Hinweis auf mögliche ungerechte Ergebnisse, aber ohne Problematisierung des Wortlauts Jescheck, GA 1955, 97 (102 f.). 44 Eingehend dazu Maiwald, NStZ 1984, 433 ff.

3. Zur Bedeutungsfeststellung

53

diese Interpretation. Vor allem der Vergleich zu §§ 263 IV, 266 II StGB a. F. zeigt, daß aus einer sprachlich geringfügigen Abweichung („in der Regel“ statt „insbesondere“) ein wesentlicher Unterschied von dogmatisch großer Tragweite folgt.45 Bei genauer Lektüre des Gesetzestextes wird man der Einschätzung des BGH, der Wortlaut sei „klar und eindeutig“, somit wohl zustimmen können, jedoch nur wenn man die dogmatischen Hintergründe, also die Frage nach dem Charakter der Bestimmung dabei zunächst ausklammert. Der Verzicht des BGH auf einen Vergleich mit der Auslegung der ähnlich gestalteten §§ 263 IV, 266 II StGB a. F. muß allerdings als Kunstfehler in der Begründung gesehen werden. Dies auch deshalb, weil die Erörterung der Entstehungsgeschichte, auf die der BGH sich neben dem Wortlaut maßgeblich beruft, wenig überzeugend erfolgt.46 Daß der BGH offenbar kein Bedürfnis für eine Innovation in dieser Rechtsfrage erkennt, kann ihm nicht angelastet werden, die fehlende Auseinandersetzung mit ernsten Gegenargumenten dagegen schon. Fall 16 (BGHSt 9, 338): Gemäß § 108a i. V. m. § 108d StGB a. F. wurde u. a. bestraft, wer „durch Täuschung bewirkt, daß jemand“ beim Unterschreiben eines Wahlvorschlages „über den Inhalt seiner Erklärung irrt“. Im zu beurteilenden Fall wußten die Opfer infolge der Täuschung nicht einmal, daß sie überhaupt einen Wahlvorschlag unterschrieben. Der BGH sieht darin kein Hindernis: Schon aus dem eindeutigen Wortlaut folge, daß jeder durch Täuschung bewirkte Erklärungsirrtum erfaßt sei (S. 339).47 Fall 17 (BGHSt 39, 36): Der Angeklagte lockte eine Prostituierte auf ein einsames Gelände, bedrohte sie mit einem Messer, worauf sie ihm Geld aushändigte. Anschließend zwang er sein Opfer unter Ausnutzung der Situation zur Duldung des Geschlechtsverkehrs. In Betracht kam u. a. § 239a StGB.48 Dazu müßte der Angeklagte „. . . sich eines anderen bemächtigen, um die Sorge des Opfers um sein Wohl . . . zu einer Erpressung (§ 253) auszunutzen“. Nach Ansicht des BGH „könnten“ auf diesen Sachverhalt die §§ 239a, 239b StGB „nach ihrem eindeutigen Wortlaut“ Anwendung finden (S. 38). Allerdings sei eine einschränkende Auslegung notwendig. Fall 18 (BGHSt 27, 160): „Verschafft“ sich jemand eine Sache, wenn er lediglich Pfandscheine erwirbt, um die gestohlenen Sachen später auszulösen (§ 259 I StGB)? Nach Erörterung zivilrechtlicher Vorfragen verneint der BGH einen Verstoß gegen das Analogieverbot: Gemäß Wortlaut und Sinn des § 259 StGB könne ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber auch diese Konstellation habe erfassen wollen (S. 165). Fall 19 (BGHSt 27, 45): Setzt Hehlerei in Form des „Absetzens“ voraus, daß es tatsächlich zum Absatz gekommen ist?49 Anders als der 2. Strafsenat (NJW 1976, 1698) hält der 4. Strafsenat diese Folgerung sprachlich nicht für zwingend (S. 50). 45 Nach dem Bekunden Jeschecks (oben Fn. 43) hat die Große Strafrechtskommission gerade unter dem Eindruck von BGHSt 5, 211 diese Formulierungsänderung vorgeschlagen. 46 Dazu unten Fall 194. 47 Dezentes „zw.“ bei Schwarz/Dreher, StGB29, § 108a, Anm. 1a. 48 Die Norm wurde durch das 6. StrRG 1998 redaktionell geringfügig geändert.

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III. Wortlaut und Wortsinn

Unter „absetzt“ lasse sich ohne weiteres ebenso (nur) das bloße Tätigwerden beim Absetzen verstehen. Die Formulierung „ohne weiteres“ gebrauchte zuvor bereits D. Meyer in MDR 1975, 721 (722).

In den verbleibenden Fällen überzeugen noch am ehesten die Ausführungen in Fall 16 (Wählertäuschung), aber auch dort hinterläßt die Evidenzbehauptung ein gewisses Unbehagen; angemessener erscheint eher die Auffassung, der Wortlaut lege diese Auslegung nahe. In Fall 17 (erpresserischer Menschenraub) verwirrt zunächst die einleitende Aussage, die §§ 239a, 239b StGB „könnten“ nach ihrem „eindeutigen“ Wortlaut für den zu beurteilenden Sachverhalt Anwendung finden. Die Möglichkeitsform paßt nicht recht zur angeblichen Eindeutigkeit. Daß die Bedeutung des Normtextes zudem nicht so klar ist wie vom 1. Strafsenat behauptet, hat später der Große Strafsenat unter genauerer Analyse der Normstruktur in BGHSt 40, 350 dargelegt.50 Schon die verschachtelte Formulierung beider Bestimmungen läßt an der Möglichkeit zweifeln, evidente Aussagen über den Anwendungsbereich der Vorschriften zu gewinnen. Auch im Fall 18 („sich verschaffen“ einer Sache durch Erwerb eines Pfandscheins) wirkt die Behauptung, die Subsumtion sei nach Sinn und Wortlaut des § 259 StGB „ohne weiteres“ möglich, nach ausführlicher (und notwendiger!) Erörterung zivilrechtlicher Vorfragen wenig überzeugend.51 Geradezu ärgerlich ist der apodiktische Umgang mit dem Wortlaut in Fall 19 („Absetzen“ in § 259 nur bei erfolgreicher Veräußerung?). Während der 2. Strafsenat (NJW 1976, 1698 f.) den „eindeutigen“ Gesetzeswortlaut des § 259 StGB dahin versteht, daß es zum Absatz der Ware kommen muß,52 und in der gegenteiligen Auffassung einen Verstoß gegen das Analogieverbot erkennt, hält es der 4. Strafsenat sprachlich „ohne weiteres“ für zulässig, bloße Absatzbemühungen ebenfalls unter die Norm zu fassen. Zu beanstanden ist insofern nicht das Ergebnis, sondern der eklatante Begründungsmangel. Nachdem der 2. Strafsenat seine Meinung zur sprachlichen Bedeutung sogar näher dargelegt hatte und ein Verstoß gegen das Analogieverbot im Raum stand, mußte der 4. Strafsenat seine Auffassung näher erläutern, denn nach der gegenläufigen Vorentscheidung des 2. Strafsenats war kein Raum mehr für ein Evidenzurteil. Unverständlich ist aber auch das Verhalten des 2. Strafsenats, der im Anfrageverfahren von der seinerseits behaupteten Evidenz abrückte53 und dem 4. Strafsenat offenbar zutraute, die Verletzung von Art. 103 II GG argumentativ zu widerlegen.

49

Zum gleichen Problem bei der „Absatzhilfe“ siehe BGHSt 26, 358 (unten Fall

80). 50 In Anbetracht des s. E. klaren Wortlauts nahm der 1. Strafsenat folglich eine teleologische Reduktion vor, während der Große Strafsenat die Bestimmungen „nur“ einschränkend auslegt. 51 Vgl. weiter zu BGHSt 27, 160 unten Fall 81. 52 Ebenso bereits Küper, JuS 1975, 633 (635): „An diesem sprachlichen Befund ist nicht zu rütteln . . .“.

3. Zur Bedeutungsfeststellung

55

Nach der Analyse einzelner Evidenzbehauptungen des BGH bleibt noch eine eigentümliche Konstellation zu behandeln, die sich dadurch auszeichnet, daß bislang für selbstverständlich gehaltene sprachliche Annahmen plötzlich bezweifelt werden und sich Versuche ihrer rationalen Begründung als erstaunlich schwierig erweisen. Anwendungsbeispiele hierfür sind die im StGB bevorzugte Verwendung des männlichen Geschlechts bei der Bezeichnung von Tätern (§ 339: ein Richter, ein anderer Amtsträger, § 227: der Täter, § 142: ein Unfallbeteiligter usf.54) und der Gebrauch des Plurals (§ 306 I Nr. 1: Wer fremde Gebäude oder Hütten in Brand setzt, § 315b I Nr. 2: Wer Hindernisse bereitet, §§ 174 ff.: sexuelle Handlungen usf.55). In den genannten Fällen herrscht (wohl) Einigkeit, daß selbstverständlich auch Richter- und Amtsträgerinnen oder eine Unfallbeteiligte sich strafbar machen können und daß es für die Verwirklichung der jeweiligen Tatbestände genügt, nur ein Gebäude in Brand zu setzen oder nur ein Hindernis zu bereiten. Das folgt nicht aus spezifisch juristischen Erwägungen, sondern aus sprachlichen Gründen. Daß auch Amtsträgerinnen Täter (Täterinnen) eines Amtsdelikts sein können, ergibt sich demgemäß nicht erst daraus, daß eine Differenzierung nach dem Geschlecht willkürlich wäre56, sondern daraus, daß die grammatikalische Verwendung des männlichen Genus nicht zugleich eine Beschränkung auf das natürliche Geschlecht zur Folge hat (generisches Maskulin57). Beginnt jedoch der Gesetzgeber damit, diese Selbstverständlichkeit an einzelnen Stellen des Gesetzes durch die Verwendung beider Geschlechtsformen in Frage zu stellen, muß er mit unerwünschten Auswirkungen bei der Auslegung anderer Normen (Umkehrschlüsse!) rechnen.58

Aufgrund abweichender Auffassungen in der Literatur sah der BGH sich dennoch veranlaßt, auf die Thematik der Pluralverwendung näher einzugehen: Fall 20 (BGHSt 46, 146 – „Fälschung von Zahlungskarten“): Der Täter hatte zur Täuschung im Rechtsverkehr mehrfach eine EC-Karte manipuliert. In § 152a I Nr. 1 StGB heißt es jedoch „Wer . . . Zahlungskarten . . . nachmacht oder verfälscht“. Der BGH sieht im Wortlaut der Vorschrift kein Problem: Der Sprachgebrauch des Gesetzes sei nicht in dem Sinn eindeutig, daß aus der Verwendung des Plurals begrifflich zwingend gefolgert werden müsse, das Gesetz verlange zur Tatverwirklichung wirk53 Auch psychologisch seltsam: Etwas aufzugeben, wovon man zuvor überzeugt war, ist mit dem „horror pleni“ sicherlich nicht ausreichend erklärt. Vgl. jedoch die Ausführungen zum forensischen Begründungsstil oben II 7. 54 Zu den fragwürdigen Bemühungen des Gesetzgebers des 6. StrRG, vermehrt geschlechtsneutrale Formulierungen zu verwenden, siehe Schroeder, in: GedS für Zipf, S. 153 (155). 55 Weitere Beispiele bei Schlehofer, JuS 1992, 572 (574, r. Sp.) und BGHSt 46, 146 (150). 56 Vgl. aber Jakobs, Strafrecht AT, 4/38. 57 Siehe im „Handbuch der Rechtsförmlichkeit“, Rn. 92 und Walter, Stilkunde, S. 205 ff. 58 Walter, Stilkunde, S. 206 f.; zu optimistisch das „Handbuch der Rechtsförmlichkeit“, Rn. 97.

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III. Wortlaut und Wortsinn

lich eine Mehrzahl an Tatobjekten (S. 150). Das werde durch viele Vorschriften des StGB (u. a. §§ 174 ff., 306) belegt. Der Gesetzgeber habe nur vereinzelt ältere Vorschriften auf den Singular umgestellt, ohne damit Veränderungen bezweckt zu haben (S. 150 f.). Die Rechtsprechung habe es wiederholt abgelehnt aus der gesetzlichen Verwendung des Plurals begriffliche Folgerungen zu ziehen (S. 151). – Es ist fraglich, ob der BGH die Sache genau trifft, denn die ubiquitäre Verwendung des Plurals besagt womöglich nur, daß sich die Frage auch bei anderen Tatbeständen stellt. Die sprachlichen Bedenken sind damit noch nicht vollständig ausgeräumt. Die Lösung liegt wohl darin, daß Gesetze als typisierende und generalisierende Beschreibungen von Lebenssachverhalten zur Verwendung des Plurals neigen. Das ist keine sprachwidrige Vereinfachung, sondern entspricht auch alltagssprachlichem Usus. Nicht einmal unpräzise oder mißverständlich ist deshalb die Aussage „Das Mitbringen (oder Halten) von Haustieren ist verboten!“. Kein ernsthafter Teilnehmer der Sprachgemeinschaft würde hier das Mitbringen nur eines Tieres als erlaubt ansehen, ohne sich der darin liegenden Rabulistik bewußt zu sein. Da das Gesetz sich zumindest auch an den Bürger wendet, ist nicht ersichtlich, weshalb es nicht ebenso formuliert werden kann.59 Bezogen auf § 152a folgt aus dem Gesagten allerdings nur, daß der Wortlaut der Erfassung eines Einzelfalls jedenfalls nicht entgegensteht.60 Andere als sprachliche Gründe könnten freilich dafür sprechen, die Vorschrift enger zu verstehen.61

Der Fall zeigt, wie schwer es sein kann, bislang als selbstverständlich Vorausgesetztes vernünftig zu begründen, wenn man sich nicht darauf beschränken will, anderslautende Äußerungen als „abwegig“ oder „fernliegend“ zu bezeichnen.62 Immer wieder werden in der Literatur überraschende Versuche unternommen, Konsense und Evidenzen zu beseitigen,63 etwa wenn entgegen einhelliger Auffassung Körperteile des Täters als gefährliche „Werkzeuge“ gemäß § 224 I Nr. 2 StGB betrachtet werden.64 Die Rechtsprechung wird sich nur selten mit solchen Ansichten auseinandersetzen, aber wenn sie es doch einmal tut und da59 Zu Unrecht führt Schlehofer (wie Fn. 55) die Pluralverwendung als Beispiel für seine (sonst zutreffende) These an, daß der natürliche Wortsinn entgegen vieler Äußerungen im Strafrecht nicht maßgebliche Schranke der Auslegung sei. Gerade der Alltagssprachgebrauch spricht hier für die Auffassung des BGH. 60 Anders aber Rudolphi, in: SK-StGB, § 152a, Stand: 2/1999, Rn. 6; Puppe, in: NK-StGB, § 152a, Stand: 8/2000, Rn. 22 und wohl auch Ruß, in: LK-StGB11, § 152a, Rn. 4 – alle ohne nähere Analyse der sprachlichen Möglichkeiten. 61 Wie z. B. – so Puppe, JZ 2001, 471 (472, r. Sp.) – die Vorverlagerung der Strafbarkeit und der hohe Strafrahmen. 62 Aus dem Zivilrecht kann ein Beispiel von Laudenklos (KritJ 1997, 142 [150]) zu § 823 I BGB genannt werden: Die Vorschrift verlangt zwar eine Verletzung des „Eigentums“, aber niemand zweifelt daran, daß darunter auch die Beschädigung einer Sache fällt, obwohl dadurch nicht das Eigentumsrecht, sondern der Gegenstand, auf den es sich bezieht, beeinträchtigt wird. 63 Nach Auffassung von Honsell (Historische Argumente, S. 7) hat die Bereitschaft zu zweifeln zugenommen. 64 So Hilgendorf, ZStW 2000, 811 (822 ff.), dem allerdings insofern zuzustimmen ist, als Rechtsprechung und Lehre den Begriff des gefährlichen Werkzeugs allenthalben aufgeweicht haben. Das spricht aber nicht dafür, diesen Irrweg bis zum bitteren

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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bei erheblichen Begründungsaufwand betreiben muß, zeigt das, auf welch brüchigem Boden Evidenzen stehen können. „Alles, was viel bedacht wird, wird bedenklich.“65 Abschließend bleibt festzuhalten: Fälle der sprachlichen Eindeutigkeit sind selten66, zumal wenn der Streit um die Normbedeutung beim höchsten Strafgericht angelangt ist. Ihre Behauptung durch den BGH erweckt oftmals Unbehagen, vor allem dann, wenn der Inhalt der Regelung sich erst bei Betrachtung des gesetzlichen Kontexts oder dogmatischer Vorfragen erschließt. Dennoch kann im allgemeinen nicht ausgeschlossen werden, daß die an die Norm herangetragenen Auslegungshypothesen bereits auf sprachlicher Ebene recht eindeutig bestätigt oder verworfen können werden.67 Insoweit kann der unter anderem von Larenz68 vertretenen These, die Eindeutigkeit sei erst Ergebnis des Auslegungsvorgangs, nicht ohne Einschränkung gefolgt werden. Der weitere Auslegungsprozeß (dazu sogleich) trägt vielmehr dazu bei, die Eindeutigkeit zu bestätigen oder einen Konflikt zwischen den Kriterien festzustellen und aufzulösen oder aber eine Rechtsfortbildung vorzubereiten. Der eigentliche Sinn von Evidenzen liegt eher darin, rechtliche Zweifelsfragen erst gar nicht aufkommen zu lassen und dadurch Gerichtsverfahren zu vermeiden! Als überraschend schwierig kann es sich erweisen, Selbstverständliches rational zu begründen, wenn es einmal Gegenstand des Nachdenkens wurde. c) Weitere Auslegung trotz Eindeutigkeit? (sens-clair-doctrine) Die vorgenannten Erörterungen führen unmittelbar zur Frage, ob bei Feststellung der Eindeutigkeit auf sprachlicher Ebene der Vorgang der Auslegung beendet ist. Selbst wenn diese These theoretisch haltbar wäre69, kann schon mit den Ende zu führen! Für die ganz h. M. statt aller Krey, Studien, S. 158: „Beim besten Willen“ sprachlich nicht möglich. 65 Nietzsche, Zarathustra, 1. Teil, Von den Fliegen des Marktes. 66 Larenz, Methodenlehre, S. 343; Kramer, Methodenlehre, S. 62; Engisch, Einführung, S. 92 (Fn. 31); Scheuerle, ZZP 1971, 241 (297). 67 Praxisfern ist der Standpunkt Deckerts (Folgenorientierung, S. 42), die vom BVerfG bisweilen benutzten Formulierungen „klarer/eindeutiger“ Wortlaut dürften überholt sein. 68 Larenz, Methodenlehre, S. 343; ebenso Säcker, in: MüKo-BGB, Einl., Rn. 97. Fraglich ist allerdings, ob die übrigen canones womöglich schon beim Entwurf der Auslegungshypothesen eine Rolle spielen, denn letztlich basiert das gesamte Vorwissen bereits auf früheren Interpretationen. 69 Dagegen wohl die ganz überwiegende Meinung, siehe z. B. Larenz, Methodenlehre, S. 343; Kramer, Methodenlehre, S. 62 (Fn. 138). Nach Hensche (ARSP 2001, 373 [390]) soll die These schon aus „logischen“ Gründen unhaltbar sein. Coing (Methodenlehre, S. 30) möchte dahingehend einschränken, daß der klare Wortsinn Ausgangspunkt der Auslegung ist und für die Behauptung eines gegenteiligen Textsinns Beweis erbracht werden muß.

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III. Wortlaut und Wortsinn

oben aufgeführten Fällen belegt werden, daß die Praxis dieser Doktrin keineswegs folgt. Der BGH sieht sich jedenfalls nicht gehindert, trotz Eindeutigkeit der semantischen Interpretation umfangreiche Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte vorzunehmen, den Normzweck zu erforschen und das Ergebnis mit Folgeerwägungen zu kontrollieren. Die Gründe für diese Vorgehensweise sind unterschiedlich. So wird etwa ein (womöglich) vom Wortlaut abweichender Wille des Gesetzgebers nicht von vornherein außer Betracht gelassen, sondern eher mit der „Andeutungstheorie“ – der Wille hat im Gesetz keinen Ausdruck gefunden – beiseite geschoben70, d.h. mit einer Rangfolgeregel überspielt. Das bietet dem BGH nicht zuletzt Gelegenheit, auf Gesetzesmängel hinzuweisen. Daneben dient die Heranziehung der übrigen Auslegungskriterien natürlich dazu, die Überzeugungskraft des Urteils zu erhöhen, Zweifel an der Eindeutigkeit durch zusätzliche Argumente zu zerstreuen.71 Weiter bleiben die Fälle, in denen eine Reduktion eines eindeutigen, aber zu weiten Wortlauts im Raum steht.72 Für eine solche Reduktion können sowohl entstehungsgeschichtliche als auch teleologische Argumente sprechen. Obwohl die Auslegung in solchen Fällen ihren Fortgang zu nehmen scheint, befindet sich der Rechtsanwender hier schon im Bereich der Rechtsfortbildung bzw. Gesetzeskorrektur oder wenigstens auf dem Weg dorthin.73 Und schließlich muß der BGH auch den im Verfahren vorgetragenen Argumenten Rechnung tragen und Auffassungen von Vorinstanzen oder vorlegenden Gerichten berücksichtigen. Insgesamt läßt sich die Praxis des BGH dahingehend zusammenfassen, daß dem Wortlaut eindeutig zuwiderlaufende Kriterien zwar erörtert werden, den klaren Wortlaut jedoch – jedenfalls im Wege der Auslegung – nicht überwinden können. Gleichwohl darf nicht verschwiegen werden, daß der BGH hin und wieder dennoch den Auslegungsgrundsatz postuliert, nur bei zweifelhaftem Wortlaut müsse auf Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Vorschrift zurückgegriffen werden:74 70 So etwa in Fall 12. Zu den Verbindungslinien der „sens-clair-doctrine“ mit der „Andeutungstheorie“ vgl. H. und K. Clauß, JZ 1961, 660 (662); die Autoren sehen den Inhalt der Doktrin in Abhängigkeit zum Streit zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Auslegungstheorie und verlangen (vermittelnd) für das Urteil der Eindeutigkeit die Übereinstimmung von sprachlichem Ausdruck und gesetzgeberischem Willen (S. 663). Die Dinge werden durch die Integration weiterer Auslegungselemente jedoch unnötig verkompliziert. 71 Mit der Entstehungsgeschichte wird das Wortlautargument z. B. in Fall 5 und Fall 10, unterstützt, durch den Normzweck in Fall 4 und Fall 18. 72 So z. B. in Fall 11 und Fall 17. 73 In diesem („technischen“) Sinn können Looschelders/Roth (Methodik, S. 147) in der Tat den Vorgang der „Auslegung“ in dieser Phase für beendet erklären. 74 Zu entsprechenden Äußerungen des schweizerischen Bundesgerichts siehe Kramer, Methodenlehre, S. 62 (Fn. 138). Wie der BGH auch schon das RG in RGSt 1, 246 (248): „Solcher unzweideutigen Fassung des Gesetzes gegenüber mangelt dem Unternehmen einer logischen und geschichtlichen Auslegung des § 245 jeder rechtfertigender Anlaß.“

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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„Da der Gesetzeswortlaut nicht eindeutig ist, müssen auch die Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Strafbestimmung bei der Auslegung mit herangezogen werden.“ (BGHSt 11, 47 [49]) „Die Begründung des Gesetzes kann hier zur Auslegung herangezogen werden, weil der Wortlaut bezüglich der hier zu entscheidenden Frage nicht eindeutig ist, . . .“. (BGHSt 25, 374 [379]) „Läßt aber, wie hier, der vom Gesetzgeber verwendete Wortlaut mehrere Auslegungsmöglichkeiten zu, so ist zur Auslegung der gesetzgeberische Wille mit heranzuziehen . . .“. (BGHSt 27, 45 [50]) „Gibt der Wortlaut des Gesetzes danach keinen eindeutigen Aufschluß, so ist zur Erforschung von Sinn und Zweck der gesetzlichen Neufassung auf die Gesetzesmaterialien zurückzugreifen.“ (BGHSt 32, 1 [4]) „Der Begriff der ,sonstigen Stelle‘ ist allerdings nicht eindeutig; er bedarf der Auslegung.“ (BGHSt 43, 370 [375])

Die Äußerungen sprechen dafür, daß der BGH zumindest theoretisch der „sens-clair-doctrine“ folgt.75 Die oben zum Thema „Eindeutigkeit“ untersuchten Fälle belegen jedoch die gegenteilige Praxis, die sehr wohl weitere Kriterien des Kanons heranzieht (heranziehen muß) und ihre Entscheidungen intensiv begründet. Liegt also ein „venire contra factum proprium“, ein Handeln gegen eine selbst behauptete Regel vor? Gerettet werden kann die Regel nur, wenn man differenziert: Trotz eindeutigen Wortlauts sind aus den oben genannten Gründen, etwa zur Rechtfertigung einer Rechtsfortbildung, die weiteren canones zu prüfen, doch in normativer Hinsicht können sie auf das Ergebnis der Auslegung keinen Einfluß mehr nehmen.76 Die Auslegung im technischen Sinn ist beendet. Unabhängig davon, ob dieser (juristische77) Erklärungsversuch für die Vorgehensweise des BGH überzeugt, sollte die Auslegungsmaxime (sensclair-doctrine) aufgegeben werden. Sie erzeugt zumindest Mißverständnisse78 75 Die Äußerung aus BGHSt 32, 1 (4) kann darüber hinaus fruchtbar gemacht werden für die Frage, was Ziel der Auslegung ist – Feststellung des maßgeblichen Wortsinns oder Ermittlung des Normsinns; vgl. dazu oben Fn. 17. 76 Die These, daß gegen den eindeutigen Wortlaut keine anderen Auslegungskriterien ins Feld geführt werden dürfen, hält Engisch (Einführung, S. 90 [Fn. 31]) immerhin für „diskutabel“. Für einen „Vorrang“ des eindeutigen Wortlauts Gern, VA 1989, 415 (436). 77 Säcker (in: MüKo-BGB, Einl., Rn. 97) sieht eine psychologische Erklärung für die im übrigen unhaltbare Doktrin darin, daß die Praxis mit diesem bequemen Formalargument „Sinnverdrehungen“ entgegentreten könne. 78 Zwei der von Rüthers (Rechtstheorie, Rn. 732) gegen die „sens-clair-doctrine“ vorgebrachten Argumente sind m. E. nicht überzeugend: Zum einen könne der Wandel des Umfelds zu einer veränderten Interpretation der Norm führen, zum anderen könnten die eindeutigen Normen in Widerspruch zu höherrangigem Recht stehen. Beide Probleme widersprechen der Doktrin nicht. Im ersten Fall ist die Eindeutigkeit lediglich verlorengegangen, und es stellt sich allein die Frage nach dem maßgeblichen Sprachgebrauch. Das zweite Argument behandelt eine Konkurrenzfrage und hat mit dem sprachlichen Gehalt nichts zu tun: Eine eindeutige Norm kann z. B. durch eine andere, ebenfalls klare Regelung verdrängt werden. Auch das von Jescheck/Weigend

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III. Wortlaut und Wortsinn

und ist praktisch irrelevant. Fälle, in denen angesichts des eindeutigen Wortlauts die Prüfung unmittelbar zu Ende ist, gelangen nicht zum BGH! d) „Schon der Wortlaut“ Dem Aspekt „Eindeutigkeit“ verwandt ist die häufig anzutreffende Argumentationsfigur, nach der eine bestimmte Interpretation der Norm „schon“/„bereits“ aus dem Wortlaut oder „schon sprachlich/begrifflich“ aus dem Gesetz folge. Mit diesen Formulierungen bekräftigt der BGH in den fraglichen Fällen das Gewicht des sprachlichen Auslegungskriteriums, gibt mit einer „Tendenzanzeige“79 zu verstehen, daß für ihn die Sache eigentlich klar ist. Rechtstheoretisch bietet diese Konstellation zwar keine besonderen Herausforderungen, weil an sie – darin liegt der qualitative Unterschied zu den Eindeutigkeitsfällen – keine explizite Vorrangregel wie die „sens-clair-doctrine“ anknüpft. Doch praktisch gesehen spielt diese Fallgruppe, in welcher der Spielraum der Auslegung stark verengt ist, keine geringe Rolle. Deshalb sollen einige wenige Beispiele vorgestellt und auf ihre Überzeugungskraft hin geprüft werden. Fall 21 (BGHSt 4, 325): Gemäß § 60 StGB a. F. konnten U-Haft und einstweilige Unterbringung auf die später erkannte Strafe angerechnet werden. Der BGH mußte entscheiden, ob diese Billigkeitsregelung nicht nur für die einstweilige Unterbringung i. S. von § 126a StPO (a. F.), sondern auch für die „Anstaltsbeobachtung“ gemäß § 81 StPO (a. F.) galt. Letzteres hatte die Vorinstanz verneint.

Ohne hier auf den Unterschied zwischen den genannten Maßnahmen einzugehen, ist anzumerken, daß das Gesetz nur in § 126a StPO (a. F.), nicht aber in § 81 StPO (a. F.) von „einstweiliger Unterbringung“ sprach und § 60 StGB a. F. gerade in Hinblick auf den 1933 eingefügten § 126a StPO (a. F.) um die entsprechende Formulierung ergänzt worden war. Nach Ansicht des BGH ist jedoch auch bei der Maßnahme des § 81 die Anrechnung möglich (S. 326): „Daß diese Ansicht [der Vorinstanz] nicht der Auffassung des Gesetzes entspricht, ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 60 StGB [i. d. F. von 1933], wonach nicht nur die Untersuchungshaft, sondern auch eine einstweilige Unterbringung gemäß § 126a StPO auf die erkannte Strafe angerechnet werden kann; denn in der Art des Vollzugs steht die einstweilige Unterbringung gemäß § 126a StPO einer Verwahrung nach § 81 StPO im wesentlichen gleich, die beiden Maßnahmen unterscheiden sich nur in der Zweckrichtung.“ Im übrigen komme es auf die Art und Weise der behördlichen Freiheitsentziehung nicht einmal entscheidend an, denn auch die Untersuchungshaft unterscheide sich im Vollzug im wesentlichen von den Freiheitsstra-

(Strafrecht AT, S. 154) gegen die „sens-clair-doctrine“ vorgebrachte Beispiel BGHSt 1, 145 („Gewalt“ durch Betäubung?) hat mit der Doktrin letztlich nichts zu tun, denn daß der Begriff der Gewalt in diesem Zusammenhang nicht eindeutig ist, bedarf keiner Darlegungen. 79 Begriff bei Gast, Rhetorik, Rn. 212, in ähnlichem Zusammenhang.

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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fen. Der Leitsatz lautet: „Die Unterbringung . . . gemäß § 81 StPO kann als Untersuchungshaft auf die erkannte Strafe angerechnet werden.“

Das Ergebnis der Entscheidung unterliegt keinem Zweifel, die Begründung hinsichtlich des sprachlichen Kriteriums dagegen schon. Das Gericht geht selbst davon aus, daß § 60 StGB mit „einstweiliger Unterbringung“ die Maßnahme gemäß § 126a StPO meint. „Schon aus dem Wortlaut“ des § 60 StGB kann demnach die Anrechnung bei § 81 StPO nicht folgen. Daß beide Maßnahmen sich im Vollzug kaum unterscheiden, spricht zwar für ihre inhaltliche, nicht aber für ihre sprachliche Gleichbehandlung! Weshalb laut Leitsatz die Anrechnung „als Untersuchungshaft“ erfolgt, ist nicht verständlich und deckt sich nicht mit den Entscheidungsgründen. Eine solche Auslegung wäre zwar möglich gewesen, weil das gegenüber der StPO ältere StGB das Wort „Untersuchungshaft“ nicht im technischen Sinn der jüngeren StPO verwendete80, doch hat sich der BGH für diesen Weg, bei dem das Ergebnis sich freilich ebensowenig „schon aus dem Wortlaut“ ergeben hätte, nicht entschieden. Die Kontrolle der Begründung mit einem einfachen syllogistischen Schluß hätte den richtigen Weg gewiesen.81 Fall 22 (BGHSt 10, 28): Der Täter fuhr ohne Fahrerlaubnis (strafbar gemäß § 24 StVG a. F. und § 21 StVG g. F.). Durfte deshalb das benutzte Fahrzeug eingezogen werden? Dazu hätte es als Gegenstand „zur Begehung“ eines vorsätzlichen Verbrechens oder Vergehens „gebraucht oder bestimmt“ sein müssen (§ 40 StGB a. F.). Das OLG Hamburg hat die Frage bejaht, denn der Täter verwende das Fahrzeug als Instrument seiner strafbaren, gegen die Sicherheit des Verkehrs gerichteten Handlung. Der BGH widerspricht: „Schon der Wortlaut“ lasse deutlich erkennen, daß nur Gegenstände gemeint sein können, die dem Täter „als Mittel zur Verwirklichung eines gegen die Strafrechtsordnung verstoßenden Planes dienen sollen“ (S. 29). An dieser Absicht fehle es, wenn nur ein gegen die Nutzung des Gegenstandes gerichtetes Verbot verletzt würde (S. 30). Hier komme es dem Täter nicht auf die Gefährdung des Straßenverkehrs, sondern nur auf die Nutzung des Fahrzeugs an.

Spricht der Wortlaut hier wirklich schon deutlich für die Ansicht des BGH, oder legt der Gesetzestext bei erster Betrachtung nicht eher ein weitergehendes Verständnis nahe? Die Begründung des OLG Hamburg leuchtet nicht minder ein, denn daß es dem Täter auf die Gefährdung des Straßenverkehrs gerade ankommen muß (Absicht im technischen Sinn), ergibt sich aus dem Gesetzestext nicht. Zur Stützung seiner Argumentation zieht der BGH in der weiteren Begründung zu Recht das Waffenrecht als Vergleich heran. Beim unerlaubten Waffenbesitz sträubt das Sprachempfinden sich in der Tat dagegen, von einem „Gebrauch“ der Waffe zur Tatbegehung zu sprechen.82 Anders sieht es aber Jagusch, in: LK-StGB8, § 60, Anm. 2. Die Kommentarliteratur äußert keine Bedenken gegen die Entscheidung; nur Sarstedt (in: LR-StPO21, § 81, Anm. 4) geht präzise von einer „entsprechenden Anwendung“ des § 60 StGB (a. F.) aus, doch bleibt zweifelhaft, ob er damit den methodologischen Weg von BGHSt 4, 325 zutreffend charakterisiert. 80 81

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III. Wortlaut und Wortsinn

schon beim Benutzen der Schußwaffe aus, selbst wenn man dabei nur auf das Waffendelikt abstellt. Gebraucht dann der Täter nicht doch die Waffe zur Begehung einer Straftat? Und liegt der oben genannte Fall nicht eher wie der hier zuletzt geschilderte? Für die Entscheidung des BGH mögen andere Aspekte sprechen, nicht aber „schon“ die grammatikalische Auslegung.83 Fall 23 (BGHSt 26, 176): Gemäß § 113 II Nr. 2 StGB84 liegt in der Regel ein besonders schwerer Fall des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte vor, wenn der Täter den Angegriffenen in die Gefahr des Todes bringt. Ist diese Todesgefahr eine „besondere Folge der Tat“ i. S. von § 18 StGB mit der Konsequenz, daß insoweit Fahrlässigkeit des Täters genügte? Der BGH hält es „schon sprachlich“ nicht für möglich, die Herbeiführung einer Gefahr als Folge einer Tat zu bezeichnen (S. 181). Notwendig sei eine feststellbare Veränderung in der Außenwelt. Eine Gefahr sei lediglich „Vorstufe“ einer Folge.

Der sprachliche Fehlgriff des BGH dürfte hier am deutlichsten zutage liegen. Aus dem Normtext ist nichts dafür ersichtlich, als „Folge“ der Tat nur eine (sinnlich wahrnehmbare) Veränderung in der Außenwelt aufzufassen. Folge eines Verhaltens kann auch ein Gefahrzustand für ein Rechtsgut sein. So wird man z. B. die Mitteilung, infolge einer Brandstiftung seien Menschen in (Lebens-)Gefahr geraten, kaum als sprachwidrig ansehen können. Die Unrichtigkeit der semantischen „Auslegung“ des BGH wird im Schrifttum denn auch einhellig konstatiert und mit vielen beispielhaften, z. T. dem gesetzlichen Sprachgebrauch entnommenen Formulierungen widerlegt.85 Gegen die Anwendung des § 18 StGB sprachen andere, nicht aber „schon sprachliche“ Gründe. Fall 24 (BGHSt 28, 129): Wegen „Unfallflucht“ wird gemäß § 142 II Nr. 2 StGB auch der Unfallbeteiligte bestraft, der sich zwar „berechtigt oder entschuldigt“ vom Unfallort entfernt hat, aber nicht nachträglich die Feststellungen zugunsten des Geschädigten ermöglicht. Fällt darunter auch derjenige, der in Unkenntnis des Unfalls (ohne Vorsatz) davonfährt, aber kurz später Kenntnis vom Unfall erlangt? Dagegen sprechen könnte eine „formal-dogmatische“ Betrachtung, die zwischen Vorsatz und Schuld streng differenziert. Dementsprechend sieht das vorlegende BayObLG in der Anwendung des § 142 II StGB auf den genannten Sachverhalt einen Verstoß gegen das Analogieverbot. Anders der BGH: Die Verpflichtung treffe denjenigen, der sich „ohne strafbaren Verstoß“ gegen § 142 I StGB vom Unfallort entfernt (S. 130). „Dabei ist das nicht vorsätzliche Sich-Entfernen dem ,berechtigten‘ . . . oder dem

82 Die Waffengesetze enthalten deshalb anderslautende Einziehungsbestimmungen. Gegen die Vergleichbarkeit mit den Waffengesetzen LG Düsseldorf MDR 1954, 311. 83 Ebenso LG Düsseldorf MDR 1954, 311. Zur Wortauslegung in dieser Frage siehe auch die instruktive Anm. von Hoffmann-Walldorf, NJW 1954, 1147 zu OLG Frankfurt NJW 1954, 652. Gülde (JW 1937, 170) sieht in der h. M. zutreffend eine Einschränkung des Begriffs „gebrauchen“. 84 Die Vorschrift wurde durch das 6. StrRG 1998 nur redaktionell geändert. 85 Backmann, MDR 1976, 969 (970 f.); Blei, JA 1975, 804 (805); Küper, NJW 1976, 543 (544 f.): „quasi-naturalistische Erfolgsdefinition“; Meyer-Gerhards, JuS 1976, 228 (231): „unhaltbar“.

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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,entschuldigten‘ . . . gleichzusetzen“ (S. 132). Das ergebe sich schon aus dem Wortsinn. „In der Rechtssprache finden die Worte ,berechtigt‘ und ,entschuldigt‘ auch in bezug auf tatbestandsmäßig nicht vorsätzliche Verhaltensweisen Anwendung.“

Die Problematik resultiert aus einer zumindest ungeschickten Formulierung durch den Gesetzgeber. Dem Strafrechtsdogmatiker „fehlt etwas“, wenn nur von Rechtfertigung und Entschuldigung die Rede ist, und der BGH formuliert selbst, wie die Norm zutreffend lauten müßte („ohne strafbaren Verstoß gegen § 142 I StGB“). Dennoch kann man die Ablehnung des engen „formal-dogmatischen“ Begriffsverständnisses durch den BGH billigen.86 Leider schwächt der Senat seine Begründung selbst durch fragwürdige Annahmen im Bereich des Wortlautkriteriums: Zum einen weckt das „Gleichsetzen“ der Fallgruppen unwillkürlich den Verdacht der Analogie; denn ein Gleichsetzen spricht dafür, daß die Merkmale des Begriffs (der entsprechenden Definition) eben nicht erfüllt sind, sondern lediglich Ähnlichkeit vorliegt.87 Gemessen an der weiteren Entscheidungsbegründung war ein solches Vorgehen zudem gar nicht nötig. Ebensowenig überzeugt zum anderen die Tendenzanzeige („schon aus dem Wortsinn“), weil ein abweichendes, streng dogmatisches Begriffsverständnis durchaus nahelag und der Widerlegung bedurfte. Die Fälle sollten belegen, daß die behauptete Tendenzanzeige nicht immer so sicher ist, wie es die Formulierungen des BGH suggerieren. Insoweit gilt nichts anderes als bei den „echten“ Evidenzen. Hier wie dort neigt der BGH dazu, seine Entscheidungen intensiv mit weiteren Argumenten zu stützen, obwohl doch das sprachliche Kriterium die Lösung weitgehend vorzeichnen soll. Mit den Beispielen soll hingegen nicht belegt werden, daß die Argumentationsfigur „schon der Wortlaut“ generell nicht überzeugt, gar direkt auf fehlerhaftes Vorgehen hinweist und dem kritischen Leser stets Warnsignal sein sollte. Weitere insoweit einschlägige und analysierte Entscheidungen bieten in der Regel unter diesem Gesichtspunkt weniger Angriffsfläche, sind aber ebenfalls nicht durchweg überzeugend.88

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Eingehend Küper, in: Heidelberg-FS, S. 460 ff. und unten Fall 61. Näher unten III 7 i. 88 Die Argumentationsfigur taucht in folgenden Entscheidungen von methodologischem Interesse auf (Anmerkungen sind nachgewiesen, wenn sie gerade die Wortlautauslegung kritisieren): BGHSt 1, 334 (335); 4, 36 (41); GS 14, 38 (43); 14, 68 (70, zweifelhaft!); 24, 143 (148); 26, 106 (108); 27, 56 (ähnlich oben Fall 13); 27, 120 (123); 29, 73 (75); 29, 300 (303); 31, 163 (167); 32, 104 (108); 35, 390 (393); 38, 78 (79); 38, 281 (282) mit Anm. Otto, JZ 1992, 1139; 42, 291 (293); 42, 294 (295) mit Anm. Eisenberg, NStZ 1998, 53; 45, 253 (258). 87

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III. Wortlaut und Wortsinn

e) Heranziehung von Wörterbüchern/Lexika Wenn es um gemeinsprachliche oder technische Begriffe geht, greift die Rechtsprechung zur Ermittlung der Wortbedeutung verschiedentlich auf Wörterbücher und Lexika zurück. Daß diese Vorgehensweise zulässig ist, wird nicht bestritten, zuweilen sogar gefordert89. Der BGH in Strafsachen zieht folgende Wörterbücher heran: Grimms Wörterbuch90; Duden, Großes Wörterbuch der deutschen Sprache91; Duden, Deutsches Universalwörterbuch92; Wahrig, Deutsches Wörterbuch93; Trübners Deutsches Wörterbuch94; Kluge/Götze, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache95; Perkun, Das Deutsche Wort96 und Compact Wörterbuch „Synonyme“97. Verhältnismäßig spät, dann aber recht häufig zu Ehren gelangen die großen Enzyklopädien von Brockhaus98 und Meyers99 sowie das Klinische Wörterbuch „Pschyrembel“100. Wenn man bedenkt, daß einzelne Entscheidungen zugleich auf mehrere der genannten Werke zurückgreifen, dann ist die Ausbeute in quantitativer Hinsicht gering. Worin das begründet ist, kann sich womöglich aus der Analyse der Konstellationen ergeben, in denen der BGH dennoch so verfährt. Relativ häufig sind Entscheidungen, in denen der BGH sich zum Verständnis technischer Fragen der Nachschlagewerke bedient. Offensichtlich ist dies beim Klinischen Wörterbuch „Pschyrembel“, aber auch allgemeine Nachschlagewerke werden zur Begriffsklärung herangezogen. Können Radarwarngeräte „Nachrichten“ empfangen (BGHSt 30, 15)? Wann wird ein Kraftfahrzeug „geführt“ (BGHSt 35, 390)? Was ist ein „Magazin“ i. S. von § 308 StGB a. F. (BGHSt 41, 219), was ein „Zünder“ i. S. des Kriegswaffenkontrollgesetzes (BGHSt 41, 348) und was ein „Arzneimittel“ (BGHSt 43, 336)? 89 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 738: Muß möglich sein; Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 190: Sinnvoll; Looschelders/Roth, Methodik, S.140: Hat zu erfolgen; Schneider, MDR 1963, 368: Erlaubt und manchmal fördernd. 90 Bis einschließlich Band 44: BGHSt 12, 364 (366); 14, 55 (57); 21, 196 (199); 21, 334 (339); 22, 14 (16); 24, 352 (355); 30, 15 (16 f.); 35, 390 (393). 91 BGHSt 28, 224 (227); 29, 204 (206); 30, 15 (17); 31, 317 (319); 38, 78 (79); 44, 347 (349). 92 BGHSt 35, 390 (393). 93 Brockhaus/Wahrig in BGHSt 31, 317 (319); 43, 346 (348); Wahrig in BGHSt 44, 347 (349). 94 BGHSt 14, 223 (227); 23, 286 (287). 95 BGHSt 30, 15 (16). 96 BGHSt 22, 14 (16). 97 BGHSt 44, 347 (349). 98 BGHSt 31, 317 (319); 39, 330 (334); GS 40, 350 (356); 41, 219 (220); 41, 348 (351); 43, 336 (338); 43, 346 (348). 99 BGHSt 39, 212 (215); 39, 330 (334); GS 40, 350 (356); 43, 336 (338). 100 BGHSt 31, 348 (355): „Wehen“; 32, 194 (195): „Wehen“; 36, 1 (6 u. 8): „HIV“; 36, 262 (265): „HIV“; 43, 346 (347, 353, 355): „Strahlen“, „Strahlenschäden“.

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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Hier bieten die Wörterbücher durchaus Orientierung. In der Entscheidung zum Kriegswaffenkontrollgesetz legt der BGH sogar ohne weiteres die gefundene Definition als maßgeblich zugrunde. Geht es dagegen um Fallgestaltungen aus dem alltäglichen Sprachgebrauch, wird die Sache komplizierter. Am ehesten geht die Rechtsprechung dann so vor, daß der alltägliche Sprachgebrauch zunächst anhand der Wörterbücher ermittelt und dann als Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen genutzt wird. Die übrigen Auslegungselemente können den in der Regel weiten Begriff bestätigen101 oder eine Einschränkung erzwingen102. Gut erkennbar ist ein solches Vorgehen, das den Wortlaut zunächst von jeglichem juristischen Vorverständnis befreit103, etwa in Fall 25 (BGHSt 21, 196): Ist eine Schülerin ihrem Fahrlehrer „zur Ausbildung anvertraut“ (§ 174 StGB a. F.)? Zum Begriff „anvertraut“ führt der BGH aus (S. 199): „Das Strafgesetzbuch verwendet diesen Begriff verschiedentlich, z. B. in . . . Seine Bedeutung bestimmt sich nach dem Bezug, den er hat (z. B. . . .). Vom Sinnzusammenhang gelöst und für sich betrachtet wird unter ,Anvertrauen‘ im allgemeinen zu verstehen sein: . . . (siehe dazu Gebr. Grimm . . .).“ Es folgen Ausführung zur Systematik und Sinn und Zweck der Norm.

Zwingend ist diese methodische Reihenfolge jedoch keineswegs. Mitunter nutzt der BGH den in Wörterbüchern ermittelten Sprachgebrauch auch lediglich zur Absicherung seiner anderweitigen Argumentation104 oder um zu belegen, daß der Wortlaut der postulierten Auslegung jedenfalls nicht entgegenstehe105. Hin und wieder weist der BGH auch überflüssigerweise auf Wörterbücher hin, fast so, als wolle er die Allgemeinbildung der Leser fördern: So liegt es in BGHSt 21, 334 (339) hinsichtlich des Begriffs „unverzüglich“, der längst in § 121 I BGB gesetzlich definiert sowie in Theorie und Praxis ausdifferenziert wurde. Der zusätzliche Hinweis auf das Grimmsche Wörterbuch fördert die Argumentation nicht, da die Rechtssprache den allgemeinen Sprachgebrauch verdrängt hat. — Ähnliches gilt für BGHSt 12, 364 (366), wo der Ausdruck „verunglimpfen“ (§ 97 StGB a. F.) zunächst mit Hilfe eines Wörterbuchs definiert und anschließend festgestellt wird, daß er all das umfaßt, „was die Sprache des Strafgesetzbuches als Beleidigung im Sinne der §§ 185, 186, 187 begreift“. Das Wörterbuch erscheint hier eher als Umweg denn als Ausgangspunkt der Erörterungen. — Unerfreulich ist weiterhin die ungewöhnlich weitschweifige Entscheidung BGHSt 23, 286 zum Begriff des „Feilhaltens“ im Lebensmittelrecht. Der BGH referiert die althochdeutsche Herkunft des Wortes und berichtet mit zahlreichen Belegen, daß RG und Schrifttum diesem Verständnis seit langem folgten (S. 288). Bis der eigentlich streitige Punkt106 – zu dessen Klärung Wörterbücher im übrigen nichts beitragen können 101

Z. B. in BGHSt 44, 347 (349). Z. B. in BGHSt 43, 346 (348). 103 Ähnlich auch BGHSt 14, 55 (57), siehe unten den Text zu Fn. 192. 104 Z. B. in BGHSt 39, 330 (334). 105 Z. B. in BGHSt 24, 352 (355). 106 Werden verdorbene Lebensmittel auch dann „feilgehalten“ (§ 4 Nr. 2 LebMG), wenn sie nach Art ihrer Aufbewahrung einem Unbefangenen zwar als käuflich er102

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III. Wortlaut und Wortsinn

– erreicht ist, sind vier Seiten Urteilstext entstanden! Keinen Erkenntnisgewinn ergeben auch die etymologischen Forschungen im folgenden Fall 26 (BGH StV 2000, 315 [Anfragebeschluß 4. Senat]; NJW 2000, 2907 [Erwiderung 1. Senat]; JR 2001, 73 [Vorlagebeschluß 4. Senat] – „Zweierbande“): Setzt der Begriff der „Bande“ eine Mindestanzahl von drei Beteiligten voraus? Der 4. Strafsenat bejaht das und sieht in der gegenteiligen Ansicht der ständigen Rechtsprechung (zwei Mitglieder ausreichend) eine Überschreitung der Wortlautgrenze (S. 317, r. Sp.).107 Der 4. Senat beschäftigt sich eingehend mit dem Wortlaut und greift dabei weit in die Vergangenheit zurück. Jedoch belegen die angegebenen Fundstellen keinen eindeutig gegenteiligen Sprachgebrauch, zumal unklar bleibt, wessen Sprachgebrauch überhaupt maßgeblich sein soll. Und vor allem: Wie verhält sich dieser (angebliche) Sprachgebrauch zur überkommenen Rechtsprechung? Diese Schwäche in der Entscheidungsbegründung hat der 1. Strafsenat im Anfrageverfahren dann auch konsequent offengelegt: Der 4. Senat lasse außer acht, „daß in den letzten Jahrzehnten der Bedeutungsgehalt gerade auch durch die Rechtspraxis und die Rechtssprache entscheidend mitgeprägt worden ist. Schon das RG . . .“.108

Trotz dieses Beispiels fällt auf, daß der BGH gerade dann selten auf Wörterbücher zugreift, wenn sich die Frage nach der Reichweite des Wortlauts, also den sprachlichen Grenzen einer noch möglichen Gesetzesauslegung stellt. Gerade hier würde sich dieses Hilfsmittel anbieten. Vor allem in Anbetracht der h. M., die aus Art. 103 II GG als maßgebliche Schranke den Wortsinn aus Sicht des Bürgers folgert109, muß diese Abstinenz verwundern. Andererseits wird kaum zu erwarten sein, daß die Wörterbücher im Bereich des Begriffshofs nennenswert zur Klärung oder zur Eingrenzung beitragen können. Eher werden sie eine extensive Auslegung rechtfertigen: Irgendeine der im Lexikon aufgeführten Wortbedeutungen wird schon (noch) passen!110 Zur Verdeutlichung dieser Praxis folgende Beispiele zum Wort „Verlassen“: Fall 27 (BGHSt 22, 14): Wegen Fahnenflucht wird u. a. bestraft, wer eigenmächtig seine Truppe „verläßt“ (§ 16 I WStG). Trifft das auch auf einen Soldaten zu, der sich in seinem Urlaub durch bestimmte Verhaltensweisen von der Truppe abwendet? Um zu begründen, daß das Merkmal „verläßt“ keine räumliche Entfernung von der Truppe voraussetzt, greift der BGH auch auf Wörterbücher zurück und argumentiert scheinen, es jedoch an der Verkaufsabsicht seitens des Verkäufers mangelt? Daß die objektiven Voraussetzungen des Begriffs nicht streitig sind, sagt der BGH selbst (a. a. O., S. 290). 107 Der Große Strafsenat hat sich dieser Auffassung im Ergebnis angeschlossen, hinsichtlich des Wortlauts aber ohne Begründung festgestellt, daß dieser beide Ansichten erlaube, vgl. BGHSt GS 46, 321 (328 f.). 108 BGH NJW 2000, 2907 (2908, l. Sp.). Zutreffend ist allerdings auch, daß insoweit kein Hindernis besteht, zum ursprünglichen Bedeutungsgehalt des Bandenbegriffs zurückzukehren – so die Replik des 4. Senats im Vorlagebeschluß, JR 2001, 73 (76, r. Sp.). Siehe zum Ganzen unten Fall 92 und Fn. 491. 109 Vorerst sei verwiesen auf BVerfGE 71, 108 (121); näher unten III 7 b. 110 Durch Beachtung des Kontextes kann dem freilich entgegengewirkt werden, vgl. unten III 7 f am Ende.

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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wie folgt (S. 16 f.): „Verlassen bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch ,zurücklassend entfernen, aufgeben‘ (Grimm . . .) oder ,fortgehen, sich wegwenden‘ (Perkun . . .). Dieser Begriff wird nicht nur für ein Ausscheiden aus einem räumlichen Bereich, sondern auch im übertragenen Sinne verwendet (Wer sein ,Elternhaus verläßt‘, muß nicht tatsächlich oder direkt aus dem Gebäude fortgehen . . .).“ Auch § 16 I WStG verwende den Begriff nicht enger als im allgemeinen Sprachgebrauch üblich; die Eingliederung des Soldaten erschöpfe sich nicht in einer räumlichen Bindung. „Eine Beschränkung des Tatbestandsmerkmals ,Verlassen‘ . . . – entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch – auf ein Ausscheiden des Soldaten aus dem räumlichen Bereich der Truppe“ werde dem öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnis nicht gerecht. Eine derart „formale Auslegung“ führe auch zu unbefriedigenden Folgen. Fall 28 (BGHSt 38, 78): „Verläßt“ der Vater sein Kind in hilfloser Lage (§ 221 I Alt. 2 StGB a. F.), wenn er sich in abgelegenem Gelände in einen Zustand der Bewußtlosigkeit versetzt und das Kind deshalb anschließend ziellos umherirrt?111 Nach Ansicht des BGH (S. 79) spricht neben andern Gründen „schon der Wortlaut“ gegen eine solche Auslegung: „Als Wesensmerkmal des Begriffs ,Verlassen‘ ist vorrangig das räumliche Sichentfernen anzusehen (vgl. Duden . . .). Demgemäß müssen die Vertreter der erweiternden Auslegung das Tatbestandsmerkmal mit Umschreibungen wie ,im Stich lassen‘ erläutern, um den nach ihrer Meinung darin enthaltenen Sinn auszudrücken; das macht deutlich, daß sie sich mit ihrer Auslegung vom Wortlaut der Vorschrift entfernen (ebenso Feloutzis . . .).“

Generell ist nichts dagegen einzuwenden, den gleichen Begriff in verschiedenen Normen unterschiedlich zu interpretieren. Dennoch bereitet das methodische Vorgehen des BGH in Fall 27 und Fall 28 Kopfzerbrechen. Während in Fall 27 der allgemeine Sprachgebrauch dazu herhalten muß, den Ausdruck „Verlassen“ im übertragenen Sinn (extensiv) zu verstehen, stellt der BGH in Fall 28 auf eine „vorrangige“ (regelmäßige, engere) Begriffsverwendung ab, wonach es auf die räumliche Entfernung des Täters ankomme. Was hier dem regelmäßigen Sprachgebrauch entspricht, soll ihm dort zuwiderlaufen („entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch“, vgl. Fall 27). Die zunächst zurückhaltend vorgetragene und begründungsbedürftige extensive Interpretation verwandelt der BGH plötzlich in das einzig zutreffende Begriffsverständnis! Fragwürdig ist nebenbei auch, ob die Wendung „das Elternhaus verlassen“ die Ausweitung rechtfertigt. Mag damit nicht unbedingt das unmittelbare Fortgehen aus dem Gebäude gemeint sein, so liegt doch die Assoziation einer räumlichen Entfernung sehr nah. Wer das Elternhaus „verläßt“, wendet sich nicht nur innerlich davon ab. In Fall 28 ist nicht zu beanstanden, daß der BGH sich aus verschiedenen Gründen für die engere, dem Begriffskern annähernde Auslegung entscheidet. Im Gegenteil spricht sogar einiges dafür, die regelmäßige (BGH: „vorrangige“) Bedeutung als Ausgangspunkt zu nehmen und die Begründungslast zu steigern, je weiter die Auslegung in den Bereich des Begriffshofs vor-

111 Die Frage ist seit dem 6. StrRG 1998 geklärt: „in einer hilflosen Lage im Stich läßt“ (§ 221 I Nr. 2 StGB).

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III. Wortlaut und Wortsinn

dringt112. Höchst bedenklich sind demgegenüber die Ausführungen, mit denen der BGH der Gegenauffassung eine Entfernung vom Wortlaut vorwirft. Die erläuternde Umschreibung eines Tatbestandsmerkmals (hier „Im-Stich-lassen“ für „Verlassen“) ist Grundlage jeden Definierens: Wie sonst als durch „Umschreibungen“ kann die Intension eines Begriffs zum Ausdruck gebracht werden?113 Ob die Definition „richtig“ ist, ob die Wörter wirklich synonym zu verstehen sind, bleibt eine andere Frage. Insgesamt: Das Heranziehen von Wörterbüchern besitzt im Auslegungsprozeß kein großes Gewicht, kann einer Entscheidung jedoch als Ausgangspunkt oder zur Unterstützung des Ergebnisses dienlich sein. Im Bereich der Wortlautgrenze helfen Wörterbücher nicht weiter, wenn deren Verwendung nur bezweckt, jede extensive Auslegung zu rechtfertigen.114 Insofern stellt sich die Frage nach einer normativen Bindungskraft des auf diesem Weg festgestellten Sprachgebrauchs praktisch nur selten. Daraus sollte jedoch nicht umgekehrt gefolgert werden, auf den Gebrauch von Nachschlagewerken besser ganz zu verzichten, denn auch die Ermittlung eines „regelmäßigen“ Sprachgebrauchs oder die Feststellung, daß ein solcher nicht besteht, ist ein brauchbares Argument im Auslegungsprozeß.115 Das Interesse des Gesetzgebers an einem möglichst sinnkonstanten Verstehen seiner Normen durch die Adressaten sollte dafür sprechen, sich am gängigen Sprachgebrauch zu orientieren, falls nicht abweichende („juristische“) Gesichtspunkte entgegenstehen.

112 Eine weitergehende methodologische Regel ist dadurch nicht begründet; vgl. auch Looschelders/Roth, Methodik, S. 140. 113 Der BGH meint in Wirklichkeit, daß die Gegenauffassung mehr oder etwas anderes sagt als das zu Definierende hergibt. Vgl. im einzelnen zum korrekten Definieren Gast, Rhetorik, Rn. 194 ff. (insbesondere Rn. 197). 114 Anders allerdings BGH StV 2000, 315 (oben Fall 26) und BGHSt 29, 204 (206): Die Subsumtion des Kilometerzählers eines KFZ als „technische Aufzeichnung“ i. S. von § 268 StGB wird vom BGH u. a. mit Hinweis auf ein Wörterbuch als unvereinbar mit dem Wortlaut angesehen, weil danach ein abtrennbares Aufzeichnungsergebnis vonnöten sei. Eine anderslautende, unveröffentlichte Entscheidung gibt der Senat auf. Die frühzeitige Zuhilfenahme eines Nachschlagewerks hätte dem BGH diesen Meinungswandel mithin erspart. Freilich steht die These der Unvereinbarkeit mit dem Wortlaut auf schwachen Füßen (vgl. Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1, Rn. 863 f.) und ergibt sich vor allem aus dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht zwingend. Der BGH sagt selbst (a. a. O.), daß die genannte Voraussetzung (lediglich) in der Regel aus dem Verständnis des Begriffs folge. 115 BGH NJW 1967, 343 (346) – insoweit in BGHZ 46, 74 nicht abgedruckt – zieht intensiv Wörterbücher und Lexika heran, um zu belegen, daß sowohl gesetzes- als auch alltagssprachlich kein einheitliches Verständnis des in Frage stehenden Ausdrucks feststellbar ist.

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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f) Heranziehung von Syntax und Kontext Als weiteres wichtiges Instrument zur Feststellung der maßgeblichen Wortbedeutung ist die Systematik der Norm oder ihr Verhältnis zu anderen – benachbarten oder allgemeineren – Vorschriften zu erörtern. Dabei soll es nicht darum gehen, bereits hier alle Figuren darzustellen, die zur „systematischen Auslegung“ gezählt werden. Vielmehr werden an dieser Stelle nur Konstellationen untersucht, in denen der Aufbau der Norm und ihr Zusammenspiel mit anderen Normen unmittelbar Aufschluß über den „richtigen“ Sprachgebrauch geben. Eine trennscharfe Differenzierung zwischen den canones ist in Anbetracht der vielfältigen Verschränkungen ohnehin nicht möglich, wenngleich die Frage, ob die Auslegung sich noch im Bereich des Wortlautkriteriums oder schon auf dem Gebiet der anderen Konkretisierungselemente bewegt, im Hinblick auf das Analogieverbot nicht ohne Bedeutung ist. Noch vollständig in den Bereich der grammatikalischen Auslegung, aber als Annäherung zu den hier interessierenden Fällen geeignet sind folgende Beispiele, die sich jeweils mit der Syntax einer Vorschrift befassen: Fall 29 (BGHSt 27, 120): Gemäß § 98 II 1 StGB kann das Gericht bei landesverräterischer Agententätigkeit dann von Strafe absehen, „wenn der Täter freiwillig sein Verhalten aufgibt und sein Wissen einer Dienststelle offenbart“. Ist „freiwilliges“ Handeln des Täters auch bezüglich des Offenbarens notwendig? Dafür spricht nach Ansicht des BGH „schon der Wortlaut“ (S. 123). In der unmittelbaren Anordnung des Adverbs hinter dem Subjekt komme zum Ausdruck, daß dieses Adverb sich auf beide der folgenden, gleichgeordneten Satzteile beziehe. Eine andere Auffassung hätte der Gesetzgeber unschwer durch eine Beiordnung des Adverbs „freiwillig“ zum Verb „aufgibt“ zum Ausdruck bringen können. Diese am Wortsinn nach dem allgemeinen Sprachgebrauch orientierte Auslegung entspreche auch dem Willen des Gesetzgebers. Laut Hengsberger (in: LK-StGB9, § 98, Rn. 11) spricht der Satzbau für die gegenteilige Ansicht. Fall 30 (BGHSt 43, 266): Der Handel mit Betäubungsmitteln wird u. a. dann schärfer bestraft, wenn der Täter „dabei eine Schußwaffe oder sonstige Gegenstände mit sich führt, die ihrer Art nach zur Verletzung von Personen geeignet und bestimmt sind“ (§ 30a II Nr. 2 BtMG). Der BGH mußte den Fall entscheiden, in dem einer der Täter ein „Schweizer Offiziersmesser“ (Multifunktionsmesser) mit sich geführt und jederzeit zum Gebrauch bereit gehalten hatte. Nach Auffassung des Gerichts läßt sich dem Wortlaut der Vorschrift nicht entnehmen, ob das Merkmal „ihrer Art nach“ sich nur auf die Eignung oder auch auf die Bestimmung des Gegenstands bezieht. Aus anderen als sprachlichen Gründen folgert der BGH im weiteren, daß es auf die Funktionsbestimmung durch den Täter ankomme.

In diesen Beispielen mit weitgehend identischer Fragestellung befremdet die unterschiedliche Folgerung aus dem Satzbau, insbesondere die selbstbewußte Behauptung einer praktisch eindeutigen Situation („schon der Wortlaut“) in Fall 29. Die Voranstellung des Merkmals „ihrer Art nach“ legt für Fall 30 die gleich Konsequenz nahe. Dabei soll hier nicht unterstellt werden, der BGH argumen-

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III. Wortlaut und Wortsinn

tiere beliebig, je nach erwünschtem Ergebnis, sondern nur aufgezeigt werden, welche Schwierigkeiten schon eine recht einfache Satzstruktur bereiten kann116. Eine intensive Beschäftigung mit der Syntax wird dem BGH auch in folgenden, aus dem Bereich exemplifizierender Gesetzestechnik stammende Entscheidungen abverlangt, die bereits als Beispiele logisch-systematischer Auslegung gelten können. Wiederum bleibt zweifelhaft, ob beide Konstellationen in sprachlich-logischer Hinsicht eine unterschiedliche Behandlung erlauben: Fall 31 (BGHSt 13, 5): Was ein verbotenes Bindemittel ist, brachte die Wurstwarenverordnung 1937 in ihrem § 1 II wie folgt zum Ausdruck: „zur Erhöhung der Bindefähigkeit dienende, insbesondere eiweiß-, stärke oder dextrinhaltige oder andere quellfähige Stoffe, auch in Gemischen mit andern Stoffen“. Zu entscheiden war, ob die Quellfähigkeit notwendige Voraussetzung eines jeden Bindemittels ist. Der BGH verneint das. Die Quellfähigkeit sei zwar Oberbegriff der ausdrücklich aufgezählten Eigenschaften („insbesondere“), jedoch selbst nur ein Beispiel für die zur Erhöhung der Bindefähigkeit dienenden Stoffe (S. 7). Fall 32 (BGHSt 22, 235): Eine gefährliche Körperverletzung beging nach § 223a StGB a. F. unter anderem, wer „mittels einer Waffe, insbesondere eines Messers oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs, oder . . .“ vorging. Der BGH ist der Auffassung, das Gesetz führe Waffe und Messer nur als typische Beispiele für das gefährliche Werkzeug an (S. 236), sieht in letzterem also den Oberbegriff.117 Unmißverständlich und sprachlogisch zutreffend sagt demgegenüber schon RGR 4, 298 (299): „. . ., daß in dieser Vorschrift die Worte ,insbesondere eines Messers oder eines anderen gefährlichen Werkzeuges‘, durch zwei Kommata eingeschlossen, dem vorangeschickten Worte ,Waffe‘ als Apposition angefügt, somit die Werkzeuge als Species des Gattungsbegriffes ,Waffe‘ hingestellt sind.“118 Dagegen hält R. Schmitt (JZ 1969, 304) „sprachlogisch“ allein die Auffassung des BGH für zutreffend, ohne sich mit der Argumentation des RG auseinanderzusetzen. Die Ansicht Schmitts könnte nur überzeugen, wenn im Gesetzestext hinter „Messers“ ein weiteres Komma eingefügt worden wäre.119

Um echte Folgerungen aus der Systematik geht es, wenn Absätze innerhalb einer Norm oder verschiedene Bestimmungen zu einer ähnlichen Problematik miteinander verglichen und dabei Schlüsse aus unterschiedlichen Formulierungen gezogen werden. Bei diesen „logisch“ anmutenden Operationen befindet der Jurist sich in seinem Element und kann zeigen, daß er die begrifflich-syste116 Daß man auch ein Sprachungetüm lesbar machen kann, zeigt Haft (Strafrecht BT, S. 223 f.) anschaulich am Beispiel des syntaktisch verunglückten § 266 StGB. 117 Seit dem 6. StrRG 1998 ist die Frage durch § 224 I Nr. 2 StGB („mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs“) eindeutig im Sinn des BGH geklärt. 118 Ebenso Frank, RStGB, § 223a, Anm. II 1; Olshausen, RStGB, § 223a, Anm. 3a und BGH NJW 1978, 1206: „Indessen nennt § 223a StGB das gefährliche Werkzeug nur als Beispiel für eine Waffe.“ 119 Daß der Gesetzestext inhaltlich mißlungen ist (vgl. Hälschner, Strafrecht II/1, 1884, S. 93 f.), berechtigt nicht zu einer verzerrenden Lesart.

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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matischen Eigenheiten der Kodifikation beherrscht wie eine Klaviatur. Aber nicht immer ist die Lösung so einfach wie in Fall 33 (BGHSt 19, 158): § 86 I 1 StGB a. F. ließ die Einziehung von Gegenständen bei Hochverrat zu. Vermögenswerte, die an Stelle der Gegenstände getreten waren, wurden diesen gleichgestellt (Satz 2). Gemäß Abs. 2 wurde dem nicht an der Tat beteiligten Eigentümer unter bestimmten Voraussetzungen eine Entschädigung für die Einziehung gewährt. Nach Ansicht des BGH erfaßt die Norm nur körperliche Gegenstände, nicht aber ein Bankguthaben. Das StGB gehe in der Regel von diesem Verständnis aus (S. 159), aber erst die Gegenüberstellung zum Begriff Vermögenswerte in § 86 I 2 belege, daß dies die einzig sinnvolle Auslegung sei (S. 160 f.). Auch die Formulierung „Eigentümer“ in Abs. 2 spreche dafür (S. 161). Bei anderer Auffassung werde „die ,Form gesprengt‘, in die das Gesetz gekleidet ist“ (S. 162). – Ein überzeugend begründeter grammatikalisch-systematischer Gegenschluß!120

Schwieriger liegt es – jedenfalls wenn man die Ansicht des BGH rechtfertigen will – in folgendem, methodologisch brisanten Fall zum Thema Geldfälschung. Die einschlägigen Vorschriften lauten:121 § 146 I StGB: „Mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren wird bestraft, wer 1. Geld in der Absicht nachmacht, daß es als echt in Verkehr gebracht oder daß ein solches Inverkehrbringen ermöglicht werde, oder . . ., 2. falsches Geld in dieser Absicht sich verschafft 3. oder falsches Geld, das er unter den Voraussetzungen der Nummern 1 oder 2 nachgemacht, verfälscht oder sich verschafft hat, als echt in Verkehr bringt.“ § 147 I StGB: „Wer, abgesehen von den Fällen des § 146, falsches Geld als echt in Verkehr bringt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Fall 34 (BGHSt 29, 311): Bringt falsches Geld als echt in Verkehr, wer es einem eingeweihten Mittelsmann überreicht? Im konkreten Fall kam nur eine Bestrafung gemäß § 147 StGB in Betracht, die zunächst davon abhing, ob die Kenntnis des Mittelsmanns das Tatbestandsmerkmal „als echt“ ausschließt, denn diesem ist die Falschheit des Geldes ja bewußt. Dennoch hält der BGH nach allgemeinem Sprachgebrauch die Anwendung der Norm für möglich. Bei einem Gehilfen sei das unzweifelhaft, aber auch bei einem selbständig handelnden Mittelsmann könne „final gesehen“ von einem Inverkehrbringen „als echt“ gesprochen werden (S. 313).122 Der BGH muß jedoch eine weitere Hürde, nämlich eine sprachlich-systematische überwinden: Die Formulierung des § 146 I Nr. 1 differenziert zwischen dem Inverkehrbringen als echt sowie dem Ermöglichen eines solchen Inverkehrbringens, und 120 Maurach hält die grammatikalisch-systematische Auslegung des BGH ebenfalls für zwingend, läßt die Frage ihres Gewichtes gegenüber einer entgegenstehenden gegenwartsbezogenen teleologischen Interpretation jedoch mit der Begründung dahinstehen, daß vorliegend die analoge Anwendung des § 86 StGB zulässig sei (JZ 1964, 529 [536 f.]). 121 Die geltende Fassung des § 146 StGB weicht nur in der Mindeststrafe (ein Jahr) ab. 122 Schon gegen diese Wortlautauslegung sprechen gewichtige Gründe.

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III. Wortlaut und Wortsinn

gerade die zweite Alternative trifft auf den vorliegenden Sachverhalt zu. Da §§ 146 I Nr. 3 und 147 eben diese Alternative nicht enthalten, liegt eigentlich der Umkehrschluß nahe, daß der Gesetzgeber bewußt auf die Erfassung dieser Situation verzichtet hat. § 147 I müßte konsequent lauten: „falsches Geld in Verkehr bringt oder ein solches Inverkehrbringen ermöglicht“. Daß § 146 I Nr. 1 die Unterscheidung im subjektiven Tatbestand trifft, ist ohne Belang. Der BGH überwindet diese sprachlich-systematische Erwägung jedoch mit Argumenten aus der Entstehungsgeschichte: Der Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens verbiete es, die Gleichstellung in § 146 I Nr. 1 als „argumentum e contrario“ für die Auslegung des § 147 zu nutzen (S. 314). Der Gesetzgeber habe in § 146 I Nr. 1 nur (klarstellend!) der denkbaren Auslegung vorbeugen wollen, „das Gesetz wolle die Weitergabe an Eingeweihte nicht erfassen“, dabei jedoch versäumt, die §§ 146 I Nr. 3, 147 unmißverständlich mit diesem Ziel in Einklang zu bringen.

Der BGH greift dem Gesetzgeber durch eine subjektiv-historische Auslegung „unter die Arme“ und reduziert das Problem auf ein gesetzgeberisches Versehen. Freilich ist diese Vorgehensweise angesichts des Wortlauts zweifelhaft. Der Gesetzgeber mag durch die Formulierung keine Einschränkung bezweckt haben, die Einschränkung zudem nicht sinnvoll sein, doch bei „objektiver“ Lesart führt kein Weg an der gegenteiligen Auslegung vorbei. Vor allem wäre zu diskutieren, ob der Überwindung der sprachlich-systematischen Ebene das Analogieverbot entgegensteht, insbesondere ob die zur Ermittlung der maßgeblichen Wortbedeutung herangezogene Systematik an der Reichweite dieses Verbots partizipiert.123 Daß der BGH die ausdifferenzierte Begrifflichkeit des Gesetzes sonst ernster nimmt, soll im folgenden Abschnitt belegt werden. Zuvor jedoch ein Beispiel für die Ansicht des BGH, daß der Kontext den allgemeinen Sprachgebrauch ausstechen kann. Freilich bleibt die Entscheidungsbegründung den Beweis dafür schuldig und „springt“ unmittelbar in die Entstehungsgeschichte: Fall 35 (BGHSt 31, 317): Setzt das „Ausüben“ einer geheimdienstlichen Tätigkeit i. S. von § 99 StGB eine dauerhafte Betätigung voraus oder genügt unter Umständen das einmalige Tätigwerden? Unter Hinweis auf Wörterbücher und auf eine Stimme aus dem Schrifttum konstatiert der BGH, daß dem Begriff des „Ausübens“ nach dem Sprachgebrauch im allgemeinen ein Element der Dauer eigen sei (S. 318). Darauf soll es im vorliegenden Fall jedoch nicht ankommen, denn: „In dem Zusammenhang, in welchem das Wort hier verwendet ist, führt sein Sprachsinn aber nicht notwendig zu der Folgerung, daß eine nicht dauerhaft ausgeübte geheimdienstliche Tätigkeit von dem Straftatbestand nicht erfaßt werde. Nichts in den Gesetzesmaterialien spricht dafür, daß der Gesetzgeber eine derartige Einengung gewollt habe . . .“. Weshalb der Kontext hier ein abweichendes Begriffsverständnis erlaubt, verrät der BGH leider nicht.

123

Dazu später im Kapitel III 7 g („Schmerz der Grenze“).

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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g) Hilfsmittel: „Der Gesetzgeber formuliert sonst so/ hätte sonst wie folgt formuliert.“ Ein gern verwendetes, ebenfalls der systematischen Auslegung zugehöriges Hilfsmittel zur Ermittlung der maßgeblichen Wortbedeutung ist der Hinweis darauf, daß der Gesetzgeber seinen Text mit Absicht so und nicht anders formuliert hat, daß er in vergleichbaren Situationen andere Ausdrücke verwendet oder daß eine andere Auslegung einen anderen Gesetzeswortlaut voraussetzt. Dem Gesetzgeber wird eine besondere Kompetenz in der sprachlichen Durchdringung seines Gegenstandes bescheinigt: Die Formulierungen im Gesetz sind ernst zu nehmen, und von den Gesetzesverfassern ist es zu erwarten, sich die Vielfalt der Sprache zunutze zu machen, sich des „richtigen“ Wortes zu bedienen, zumal wenn andernorts bereits so verfahren wurde. Wirklich überzeugend ist diese Argumentation nur, wenn das Gesetz tatsächlich unterschiedliche Sachverhalte mit differenzierter Gesetzessprache verknüpft, die Unterscheidung in der Sache also auch äußerlich zum Ausdruck bringt: In BGHSt 4, 158 (oben Fall 3) widerspricht der BGH der Annahme eines Redaktionsversehens, indem er auf gleichlautende Regelungen in anderen Bestimmungen desselben Gesetzes (GVG) verweist (S. 159). — In BGHSt 11, 52 (oben Fall 4) wird anhand von Beispielen gezeigt, wie der Gesetzgeber der StPO sonst formuliert, wenn er die Zuständigkeitsfrage anders – im Sinn der Gegenauffassung – löst (S. 53). — Daß die Gesetzesverfasser konsequent zu Werk gehen, unterstellt der BGH in BGHSt 21, 139 (140): Gibt von zwei zeitgleich eingeführten Normen des Militärstrafgesetzbuches die eine dem Richter nur die Möglichkeit, von Strafe abzusehen, die andere aber darüber hinaus die Befugnis, die Strafe zu mildern, dann kann die Milderungsmöglichkeit nicht mit der Begründung auf erstere Norm erstreckt werden, das Absehen von Strafe schließe die Befugnis zur Strafmilderung mit ein. — Auf ein gesetzestechnisches „Vorbild“ verweist der BGH auch in einer Entscheidung zum Straffreiheitsgesetz 1954: „. . . hätte der Gesetzgeber dies gewollt, so hätte er die Vorschrift“ wie im Straffreiheitsgesetz 1949 gefaßt, BGHSt 6, 312 (314). — Ähnlich auch BGHSt 26, 191 (195): „. . . der Textvergleich zu früheren Fassungen nötigt vielmehr zu der Annahme . . .“ und BGHSt 1, 351 (353): „Da ihr Wortlaut [der §§ 401, 414 RAO] völlig anders gefaßt wurde, liegt im Gegenteil die Annahme näher, man habe es gerade vermeiden wollen, die Rechtsprechung auf die zum § 154 VZG entwickelten Grundsätzen festzulegen“.124 — Zu nennen ist letztlich die weitreichende Entscheidung BGHSt 29, 129 zum „wilden Plakatieren“: Während § 134 StGB (u. a.) zwischen Zerstören und Verunstalten differenziert, kennt § 303 StGB nur die Tathandlungen Beschädigen oder Zerstören. Ein als Verunstaltung zu klassifizierendes Verhalten könne deshalb nicht als Beschädigung gemäß § 303 StGB aufgefaßt werden (S. 133).125 124 In den zuletzt genannten Entscheidungen vereinigen sich sprachliche, systematische und historische Auslegungselemente. 125 Zum Bestreben einiger Bundesländer, zur Bekämpfung des „Graffiti-Unwesens“ § 303 StGB um die Tathandlung des „Verunstaltens“ zu erweitern, siehe Scheffler, NStZ 2001, 290 und BR-Drucks. 15/404.

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III. Wortlaut und Wortsinn

Fall 36 (BGHSt 27, 56; 42, 368; GS 48, 189; NJW 2002, 1437 – „Eigenhändigkeit“): Die häufig anzutreffende Problematik, ob Straferschwerungsgründe in eigener Person erfüllt werden müssen oder ob bei Mittätern eine Zurechnung über § 25 II StGB möglich ist, beantwortet BGHSt 27, 56 für das Beisichführen einer Schußwaffe gemäß § 125a 2 Nr. 2 StGB im ersteren Sinn. Der Gesetzgeber formuliere in anderen Vorschriften des Strafrechts „wenn der Täter oder ein anderer Beteiligter eine Waffe bei sich führt“.126 Diesen Umkehrschluß befürwortet ebenfalls BGHSt 42, 368 (371) für das Mitsichführen einer Schußwaffe gemäß § 30a II Nr. 2 BtMG: Hätte der Gesetzgeber anderes gewollt, hätte er auch in § 30a BtMG eine entsprechende Klarstellung vornehmen können.127 Auf die Vorlage des 3. Senats hat der Große Strafsenat das systematische Argument jedoch überzeugend zurückgewiesen: Aus dem unterschiedlichen Wortlaut der Vorschriften folge nichts, weil die Formulierung „ein anderer Beteiligter“ über § 25 II StGB hinaus auch noch Anstifter und Gehilfen erfasse, also über die Wirkung von § 25 II hinausgehe (S. 194). Im Vorlagebeschluß hatte der 3. Senat noch allgemeiner darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber bei der Umschreibung straferschwerender Umstände keinem einheitlichen Sprachgebrauch folge, und dem Vergleich mit ähnlichen Vorschriften somit die Grundlage fehle (S. 1439, r. Sp.). BGHSt 42, 368 (370) enthält allerdings eine weitere Steigerung seiner begrifflichsystematischen Argumentation, auf die der Große Senat sich aber nicht einläßt: Die Formulierung „oder ein anderer Beteiligter“ wäre in diesem Umfang nicht nötig, wenn für Mittäter schon § 25 II StGB die Zurechnung eröffnen würde. Sie müßte sich konsequent auf Teilnehmer (Anstifter und Gehilfen) beschränken! Dafür nennt der Senat aber keine gesetzlichen Vorbilder, die derart subtil differenzieren und etwaige Gegenschlüsse erlauben würden. Im Vorlagebeschluß verweist der 3. Senat (S. 1440, l. Sp.) allerdings auf den s. E. deutlicheren § 243 I Nr. 5 StGB i. d. F. bis zum 1. StrRG, wo es in der Qualifikation des Beisichführens einer Waffe noch einmal abweichend heißt „der Dieb oder einer der Teilnehmer am Diebstahl“; für Mittäter erfolgte die Zurechnung nach den allgemeinen Regeln. In der gegenwärtigen Strafrechtsordnung findet sich diese Formulierung – soweit ersichtlich – jedoch nicht mehr und kann demgemäß nicht als Grundlage für systematische Folgerungen dienen.128

Der BGH vertraut in aller Regel auf die begriffliche Folgerichtigkeit des Gesetzes und arbeitet dabei insbesondere mit Umkehrschlüssen: Eine andere Formulierung, zumal eine umständliche Ausdrucksweise129 spricht mit hoher Wahrscheinlichkeit für einen anderen Inhalt der Vorschrift.130 Die damit verbundene 126 Vgl. §§ 244 I Nr. 1, 2, 250 I Nr. 1, 2 StGB i. d. F. bis 1998 und §§ 244 I Nr. 1, 250 I Nr. 1 StGB g. F. 127 Im Vorlageverfahren hat der 1. Senat am Umkehrschluß weiter festgehalten (NJW 2002, 3116): Die Wendung in § 30a BtMG setze sich systematisch von der Formulierung „oder ein anderer Beteiligter“ ab. 128 Siehe auch Altenhain, NStZ 2003, 437 (r. Sp.). 129 BGHSt 18, 156 (158): Es sei unwahrscheinlich, daß der Gesetzgeber eine umständliche Ausdrucksweise benutzt hat, wenn er eine längst gebräuchliche und kürzere Fassung hätte wählen können. 130 Noch „retten“ kann sich der BGH in BGHSt 42, 294, wo der Begriff „Verhandlung“ i. S. von StPO und JGG zur Debatte stand: Ist die Urteilsverkündung davon

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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Reduzierung der Interpretationsmöglichkeiten erzeugt pädagogischen Druck auf die Legislative, die ihre Kodifikationen mit den dort enthaltenen Ausdifferenzierungen begrifflich beherrschen muß,131 um Gesetzesänderungen zielsicher zu plazieren. Denn das grammatikalisch-systematische Argument ist stark und würde sich gegenüber abweichenden Vorstellungen der Gesetzesverfasser regelmäßig durchsetzen. Die Argumentation verliert jedoch an Kraft, wenn der BGH auf keine gesetzliche Parallele, die einen Umkehrschluß zuläßt, verweisen kann, sondern selbst denkbare Alternativen unterbreitet: Ist eine Strafaussetzung zur Bewährung auf einen Teil der Strafe einschränkbar? Nein – denn in diesem Fall hätte der Gesetzgeber in § 23 StGB (a. F.) „ganz oder teilweise“ hinzugefügt, BGHSt 6, 163 (164). Spitzfindig argumentiert der 4. Strafsenat in seiner Entscheidung zum Bandenbegriff (oben Fall 26): § 244 I Nr. 2 StGB formuliert „(wer) als Mitglied einer Bande . . . unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitglieds stiehlt“. Soll die Norm auch für eine „Zweier-Bande“ gelten, so müßte sie nach Ansicht des 4. Senats lauten: „(wer) als Mitglied einer Bande . . . unter Mitwirkung des anderen oder eines anderen Bandenmitglieds stiehlt“.132 Fall 37 (BGHSt 48, 34): Auf ein schwaches Wortlautargument beruft sich auch BGHSt 48, 34 (38) gegenüber der „Letalitätslehre“, die zur Erfüllung des § 227 I StGB verlangt, daß die Todesfolge Resultat des Körperverletzungserfolges und nicht nur der Handlung ist: Der Gesetzgeber des 6. StrRG habe der Formulierung „durch die Körperverletzung“ die Ergänzung „(§§ 223–226)“ hinzugefügt. Wollte er aber der „Letalitätslehre“ folgen, dann wäre es „angezeigt gewesen“, in dem Klammerzusatz auf die Absätze 2 der §§ 223, 224, 225 (Anordnung der Versuchsstrafbarkeit) zu verzichten. Kühl hat darauf zu Recht erwidert, daß ein solches Vorgehen zum einen nicht einfach, zum anderen gesetzestechnisch unüblich gewesen wäre.133 Fall 38 (BGHSt 9, 48): Nach § 46 Nr. 1 StGB a. F. blieb der Versuch straflos, wenn der Täter aufgibt, ohne daß er an der weiteren Tatausführung „durch Umstände gehindert worden ist, welche von seinem Willen unabhängig waren“. Ist auch derje-

noch miterfaßt? Aus § 48 I JGG („Verhandlung, einschließlich der Verkündung“) zieht der BGH für Vorschriften, die diesen Zusatz nicht enthalten, keinen Umkehrschluß, sondern erblickt in § 48 JGG nur eine Klarstellung der ohnehin bestehenden Rechtslage (S. 295). Nicht überzeugen kann demgegenüber die bereits erwähnte Entscheidung BGHSt 29, 311 (oben Fall 34), denn selbst wenn der Gesetzgeber mit der Ausdifferenzierung der Tathandlungen nur eine Klarstellung beabsichtigte, ist ihm das „objektiv“ nicht geglückt! Näher zum Umkehrschluß unten V 3 b, zum Gesichtspunkt, daß die gleichen Begriffe in der Regel mit gleichem Inhalt belegt sind („Einheit der Rechtsordnung“), unten V 8 b. 131 BGHSt 6, 304 (307): „Dieser Unterschied [zwischen Ersatzeinziehung und Wertersatz] kann dem Gesetzgeber bei Erlaß des StFrG 1954 nicht entgangen sein.“ 132 BGH StV 2000, 315 (317, r. Sp.), unter Berufung auf Dreher. Dazu, daß diese feinsinnige Argumentation den gesetzgeberischen Gepflogenheiten nicht gerecht wird, siehe Christensen/Kudlich, JuS 2002, 144 (147); auch Dreher selbst hält sie nicht für zwingend, immerhin aber für ein „sehr starkes Indiz“ (NJW 1970, 1802 [1804]). 133 Kühl, JZ 2003, 637 (638, r. Sp.); abl. zu dem Argument auch Hardtung, NStZ 2003, 261 (262, r. Sp.).

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III. Wortlaut und Wortsinn

nige durch solche Umstände an der Tat gehindert worden, der von seinem Vergewaltigungsopfer abläßt, weil er es als persönlich bekannt wiedererkennt? Der BGH bejaht das. Die gegenläufige (großzügigere) Ansicht im Schrifttum laufe darauf hinaus, den Rücktritt nur dann auszuschließen, wenn dem Täter aufgrund der eingetretenen Umstände überhaupt kein Entscheidungsspielraum mehr bleibe (S. 50). Dann aber würde das Gesetz nicht von „gehindert worden“ sprechen, sondern verlangen, daß die Ausführung der Tat „unmöglich geworden ist“ (S. 51).134 – Der Senat hat nur insoweit recht, als die Gegenmeinung in der von ihm vorgeschlagenen Formulierung eine bessere Stütze fände; aber vereinbar mit dem damaligen Wortlaut waren beide Ansichten.

Derartige Argumentationsmuster135 sind generell fragwürdig, weil der Gesetzgeber durch genauere Formulierung seiner Gesetzestexte die Entstehung von Interpretationsproblemen zwar oft vermeiden könnte, es aber – aus welchen Gründen auch immer, vielleicht nur aus Versehen – nicht getan hat. Deshalb sind Anhaltspunkte notwendig, ob sich die Gesetzesverfasser ihrer Möglichkeiten bewußt waren. Allein weil eine bessere Regelung hätte getroffen werden können, folgt noch nichts Zwingendes für die Auslegung der geltenden Fassung! So sagt das RG in zugespitzter Form: „Die Beachtung oder Nichtbeachtung solcher sprachlichen Feinheiten [durch den Gesetzgeber] hängt mehr oder weniger von Zufällen ab und läßt keinen zuverlässigen Schluß auf die Bedeutung einer Bestimmung zu.“136

Und auch BGHSt 31, 317 (oben Fall 35, „Ausüben“ einer geheimdienstlichen Tätigkeit) erkennt das an: Jedenfalls sei es nicht angängig, aus dem Umstand, daß der Gesetzgeber nicht eine andere, denkbare Fassungen gewählt hat, „auf eine so weitgehende Einschränkung des Tatbestandes zu schließen“ (S. 319). Gleichwohl verweisen die Senate insgesamt gerne darauf, daß der Gesetzgeber bei anderer Intention den Text anders verfaßt hätte, oftmals mit der Bemerkung, daß eine entsprechende Klarstellung des Wortlauts sogar leicht oder einfach hätte vorgenommen werden können.137 Das Argument dient dann nicht nur dazu, der Gegenauffassung den Boden zu entziehen, sondern bringt zudem Mißfallen gegenüber der gesetzgeberischen Sorglosigkeit zum Ausdruck.138 Eindeutige Ausgestaltungen des Gesetzes werden insbesondere dann verlangt, wenn es um die Anwendung von Strafschärfungen geht.139 Zuweilen wird die Argumentationsfigur auch genutzt, um im Schrifttum oder anderweitig vorgebrachte Re134

Die Argumentation ist hier vereinfacht wiedergegeben. Weitere Bsp. mit eigenen Vorschlägen des BGH in BGHSt 10, 43 (44); 12, 392 (397); 44, 233 (241). 136 RGSt 77, 137 (138), näher unten Fall 212. 137 BGHSt 4, 119 (121); 10, 43 (44); 17, 149 (153); 25, 97 (98): Klarstellung durch ein Wort möglich; 27, 120 (123) = oben Fall 29; 44, 145 (152). 138 Besonders deutlich in BGHSt 25, 97 (98). 139 BGHSt 28, 48 (52): Eine derartige Verschärfung wäre im Gesetz „unzweideutig zum Ausdruck gebracht worden“; 42, 368 (371). 135

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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duktionsbemühungen abzuwehren:140 Die ohne weiteres mögliche Klarstellung des Gesetzes spricht gegen die Notwendigkeit, der Legislative auszuhelfen: Arzt hilf dir selbst! h) Zusammenspiel von speziellen mit allgemeinen Normen Die besondere Problematik aus dem dogmatischen Verhältnis der speziellen zu den allgemeinen Normen (z. B. StGB-BT zu StGB-AT) kam bereits im Abschnitt zur „Evidenz“ zur Sprache und zwar dort, wo der BGH trotz notwendigen Rückgriffs auf andere Normen die Eindeutigkeit seiner Lösung bereits auf sprachlicher Ebene behauptete (vgl. oben Fall 13). Besonders dem Laien wird durch das Ineinandergreifen von speziellen und allgemeinen Normen das Verständnis der Kodifikationen erschwert und damit das Ideal eines Gesetzesadressaten, der sich durch einen Blick in das Gesetz über das von ihm Erwartete informieren können soll, erheblich relativiert. Die isolierte Lektüre einer Norm des StGB-BT kann geradezu in die Irre führen, denn der Inhalt der gesetzlichen Begriffe ergibt sich unter Umständen erst auf Umwegen.141 Auch die mangelhafte Abstimmung der Normen miteinander erschweren die Rechtsanwendung. Fall 39 (BGHSt 6, 213): Als Rückfalltäter wurde gemäß § 244 StGB a. F. verschärft behandelt, wer „als Dieb, Räuber . . . oder als Hehler bestraft worden ist, darauf abermals einer dieser Handlungen begangen hat und wegen derselben bestraft worden ist“. Fällt unter diese Strafschärfung auch derjenige, der einen Raub oder einen schweren Diebstahl (nur) verabredet (§ 49a II StGB a. F.)? Der BGH erblickt im Wortlaut jedenfalls kein Hindernis, denn „nach seinem inneren Zusammenhang versteht § 244 StGB [a. F.] unter der Begehung eines Diebstahls allenthalben dasselbe, nämlich die Strafbarkeit als Dieb, d. h. nach den Diebstahlsvorschriften“142, wofür auch eine Verurteilung gemäß § 49a genüge (S. 214). Seit jeher wende die Rechtsprechung die Norm etwa auch auf Versuch und Anstiftung an. Fall 40 (BGHSt 33, 370): Das 1. StrRG ersetzte die (echte) Diebstahls-Qualifikation des § 243 StGB a. F. durch eine Strafzumessungsnorm mit benannten Strafzumessungsgründen. Diese „Umwidmung“ führte zur Frage, ob die „Regelbeispiele“ in der Form des Versuchs verwirklicht werden können. Aus § 243 StGB selbst konnte sich keine Antwort ergeben, denn die Norm formuliert ihre Voraussetzungen – wie im StGB-BT üblich – so, als müsse Vollendung vorliegen (wer „einbricht“, „eindringt“, „stiehlt“ etc.). Bei (qualifizierten) Tatbeständen helfen die Vorschriften des StGB-AT weiter (§§ 22, 23 StGB), die jedoch auf die Verwirklichung eines Tatbestandes (§ 22) abstellen, das Problem der Regelbeispiele dagegen nicht behan140

Z. B. in BGHSt 4, 119. BGHSt 7, 240 (244): „Hierin kann der Senat keinen Mangel an Folgerichtigkeit finden, weil die vom Gesetzgeber verwendeten Begriffe jeweils aus dem Gesamtinhalt des Gesetzes heraus verstanden werden müssen.“ 142 Vgl. die ähnliche Argumentationsweise in BGHSt 28, 129 (oben Fall 24), wo der BGH ebenfalls mitteilt, wie die unsauber formulierte Norm (§ 142 II StGB) richtig zu lesen ist! 141

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III. Wortlaut und Wortsinn

deln. Deshalb läßt der BGH einen Hinweis auf die genannten Normen des StGB-AT zur Begründung der Versuchsstrafbarkeit nicht genügen, muß im Anschluß dann aber einige „Klimmzüge“ unternehmen um dieses Ergebnis dann auf anderem Weg zu erreichen, insbesondere, um einen Verstoß gegen das Analogieverbot auszuräumen.143 Fall 41 (BGHSt GS 39, 100): § 251 StGB a. F. lautete: „Verursacht der Täter durch den Raub . . . leichtfertig den Tod eines anderen, so . . .“. War die Norm auch bei vorsätzlichem Handeln des Täters anwendbar? Der Große Senat bejaht das, obwohl der Wortlaut § 251 StGB „für sich betrachtet“ diese Auffassung nicht stütze (S. 103). Doch sei zu berücksichtigen, „daß die Vorschriften des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches nicht isoliert von den Regelungen des Allgemeinen Teils angewendet werden können.“ Dessen § 18 bestimmt für erfolgsqualifizierte Delikte wie z. B. § 251, daß dem Täter hinsichtlich des Taterfolgs „wenigstens Fahrlässigkeit“ zur Last fallen muß.144

Ungenutzt läßt der BGH die Möglichkeit, die anzuwendende Norm durch Rückgriff auf eine allgemeinere Vorschrift zu „erweitern“, z. B.145 in Fall 42 (BGHSt 45, 46): Gemäß § 118 III BRAO ist das Anwaltsgericht an tatsächliche Feststellungen eines strafgerichtlichen „Urteils“ gebunden. § 410 III StPO stellt den Strafbefehl, gegen den kein Einspruch erhoben wird, einem rechtskräftigen Urteil gleich. Ist das Anwaltsgericht auch an die dem Strafbefehl zugrundeliegenden Feststellungen gebunden? Der Wortlaut des § 118 III BRAO spricht nach Ansicht des BGH dagegen (natürlich!) und auch aus § 410 StPO lasse sich für eine Bindung nichts entnehmen (S. 47). Sinn und Zweck der Bindungswirkung sprächen ebenfalls gegen eine Erstreckung auf den Strafbefehl (S. 48).

Die entscheidenden Normtexte dürften beide Lösungen zulassen. Daß sich aus § 410 III StPO jedoch für eine Bindungswirkung gar nichts ergebe, will nicht recht einleuchten, denn die StPO müßte für die rechtliche Behandlung der beiden Entscheidungsarten eigentlich das leitende Gesetz sein. Das folgende abschließende Beispiel soll Möglichkeiten und Grenzen des Zusammenspiels von Normen aus dem StGB-AT und dem StGB-BT illustrieren. Der BGH erliegt – anders als einige Stimmen aus der Literatur – nicht der Versuchung, eine womöglich unbefriedigende Gesetzesfassung durch einen interpretatorischen Kunstgriff zu korrigieren: Fall 43 (BGHSt 27, 52 – „Leihbücherei“): Gemäß § 184 I Nr. 3 StGB i. d. F. des 4. StrRG) wurde bestraft, wer „pornographische Schriften, Ton- und Bildträger, Abbildungen oder Darstellungen . . . im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen,

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Ob das gelungen ist, muß bezweifelt werden; vgl. dazu unten Fall 68. Im weiteren muß der Große Senat freilich begründen, weshalb § 251 StGB (a. F.) in Anbetracht seiner abweichenden Voraussetzungen gegenüber § 18 StGB keine Spezialregelung darstellt. Das 6. StrRG hat die Problematik 1998 entsprechend BGHSt 39, 100 gesetzlich sanktioniert („wenigstens leichtfertig“). 145 Weiteres Beispiel ist BGHSt 6, 248 (siehe oben Fall 13 mit der Kritik von Lange). 144

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die der Kunde nicht zu betreten pflegt, im Versandhandel oder in gewerblichen Leihbüchereien oder Lesezirkeln einem anderen anbietet oder überläßt“. Durch das EGStGB wurde die Gesetzesfassung hinsichtlich der Tatobjekte vereinfacht, indem nur noch das Wort „Schriften“ auftauchte und insofern auf die Legaldefinition in § 11 III StGB verwiesen wurde. Nach dieser Bestimmung stehen Bild- und Tonträger den Schriften gleich. Der BGH mußte über die Frage entscheiden, ob § 184 I Nr. 3 StGB (a. F.) den Verleih von Pornofilmen in spezialisierten Videotheken erfaßt. Das vorlegende OLG wollte das unter Hinweis auf die Gleichstellungsklausel des § 11 III StGB (a. F.) bejahen: Ein Filmverleih sei zwar nach dem klaren Wortsinn keine „Leihbücherei“, doch strahle die Gleichstellung in § 11 III StGB auch auf den Begriff der Leihbücherei aus, deren „Inhalt sich nach den in jener Klausel den Schriften gleichgestellten Gegenständen bestimme“.146 Kurzum: Wenn Bild- und Tonträger wie Schriften zu behandeln sind, weshalb dann nicht auch Videotheken wie Leihbüchereien? Der BGH erteilt dieser Argumentation jedoch unter Berufung auf den Wortlaut147 eine deutliche Absage. Die sprachliche Vereinfachung durch das EGStGB („Schriften“) diene allein der Entlastung des Gesetzestextes, beabsichtige hingegen keine inhaltliche Änderung (S. 54 f.). Eine Schließung der Gesetzeslücke habe der Gesetzgeber zwar erwogen, aber letztlich nicht vollzogen.

Der Fall liegt eigentlich so klar, daß er auch als Beispiel zur Evidenz hätte aufgeführt werden können, was den BGH übrigens auch hier nicht davon abhält, seine Entscheidung intensiv zu begründen. Die vom OLG behauptete Rückkoppelung („Ausstrahlungswirkung“) der Gleichstellung von Tatobjekten in § 11 III StGB auf die Art des Vertriebs findet im Gesetz schlicht keinen Anhaltspunkt, weder in der speziellen noch in der allgemeinen Norm. Die Gleichbehandlung von Filmen mit „Schriften“ macht aus Videotheken keine „Leihbüchereien“, mag ein anderes Ergebnis inhaltlich auch noch so angemessen oder wünschenswert sein.148 Dennoch mangelt es nicht an Versuchen, die Verweisung auf § 11 III StGB zu einer Überspielung des Wortlauts zu nutzen: „Ebenso gut könnte nämlich umgekehrt angesichts des umfassenden Tatobjekts der Ausdruck ,in gewerblichen Leihbüchereien‘ eine etwas unpräzise Ausdrucksweise des Gesetzes sein, die aus den den Tatobjekten zugeordneten Begehungsweisen lediglich die häufigste herausgreift. Dies ist um so eher möglich, als § 184 nur von ,Schriften‘ spricht und die Einbeziehung von Bild- und Tonträgern durch die Verweisung auf § 11 Abs. 3 erzielt, so daß diese Erweiterung auch bei dem Begriff der ,Leihbücherei‘ hinzuzudenken wäre. Eine solche Auslegung würde sich noch im Rahmen des Wortsinnes halten.“149

146

So die Wiedergabe der Argumentation des OLG durch den BGH auf S. 54. Insoweit krit., im Ergebnis aber zust. Blei, JA 1977, 190 (191), der angesichts von BGHSt 27, 45 (oben Fall 19) an der Stabilität der Wortlautgrenze zweifelt. Wie der BGH: Krey, Studien, S. 167. 148 Der Gesetzgeber hat die Lücke 1985 mit Einführung des § 184 I Nr. 3a StGB geschlossen (Gesetz zur Neuregelung des Jugendschutzes in der Öffentlichkeit vom 25.2.1985). 147

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III. Wortlaut und Wortsinn

Die Argumentation vermag nicht zu überzeugen. Das „Hinzudenken“ findet in der Legaldefinition keine ausreichende Rechtfertigung, zumal § 11 III StGB die Gleichstellung ausdrücklich auf Vorschriften beschränkt, die auf diesen Absatz verweisen! Und was am Begriff „Leihbücherei“, soweit seine Bedeutung hier relevant ist, unpräzise sein soll, bleibt unerfindlich. Schroeder liefert damit ein Beispiel für zu weitreichende Folgerungen aus Normen des StGB-AT für den Anwendungsbereich eines Straftatbestandes des StGB-BT. Der BGH ist dem zu Recht, obgleich kriminalpolitische Gründe sicher für die gegenteilige Ansicht sprachen, nicht gefolgt. i) Heranziehung des Gesetzeszwecks Keiner besonderen Hervorhebung bedarf die Tatsache, daß im Rahmen des möglichen Wortsinns die gesetzgeberischen Zielvorstellungen den Ausschlag für die letztlich maßgebende Wortbedeutung geben. Dem heutigen Juristen erscheint deshalb – nach Durchsetzung von Interessen- und Wertungsjurisprudenz gegenüber Positionen einer „Begriffsjurisprudenz“ – das Projekt einer „teleologischen Begriffsbildung“150 als Selbstverständlichkeit. Den Vorrang der teleologischen Auslegung erkennt auch die Rechtsprechung an: „Innerhalb der Grenzen des sprachlich Möglichen ist aber jeder Begriff nach dem Sinn und dem Zweck der Vorschrift auszulegen, zu deren Aufbau er verwendet ist.“ (BGHSt 3, 300 [303]; fast gleichlautend: BGHSt 4, 144 [148])151

In Konsequenz dessen vermögen Normsinn und -zweck sogar ein unterschiedliches Verständnis desselben Wortes zu rechtfertigen, je nach Schutzrichtung der entsprechenden Vorschriften.152 Die „Einheit der Rechtsordnung und Rechtsbegriffe“ findet hier ihre Grenze. Einzelheiten zu dieser Thematik sowie zu den sonstigen Eigenheiten „teleologischer Auslegung“ werden später erörtert (V 8 a und VI). Kurz dargestellt werden hier nur Beispiele, in denen aus dem Schutzzweck der Norm unmittelbar etwas Inhaltliches zum sprachlichen Verständnis gefolgert wird, es also in der Tat um die Begriffsbildung geht:153 149 Schroeder, JR 1977, 231 (232, l. Sp.), der konsequent die Evidenz der BGH-Lösung bestreitet und das dort benutzte Wort „zweifellos“ sogar als Indiz für die Überdeckung einer Argumentationsschwäche ansieht (S. 232, r. Sp.). Im Ergebnis ebenso Dreher, StGB37, § 184, Rn. 19. 150 Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, 1930. 151 Siehe auch BGHSt 12, 48 (49): „Diese Zweckbestimmung [durch die StVO] muß bei der Auslegung des Begriffs ,Gegenstände‘ in erster Linie berücksichtigt werden.“ Viele Beispiele aus der Praxis des RG bringt Schwinge, Teleologische Begriffsbildung, S. 33 ff. („seit langem Übung“). 152 Z. B. BGHSt 3, 300 („Gebäude“); 4, 107 („Absicht“); 4, 202 („Verletzter“); 6, 107 („Gebäude“); eingehend und mit vielen Beispielen unten V 8 a. 153 Sieht man als Ziel der Auslegungsvorgangs die Ermittlung des maßgeblichen Wortsinns an, so könnten letztlich alle übrigen Hilfsmittel bereits beim Wortlautkrite-

3. Zur Bedeutungsfeststellung

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Fall 44 (BGHSt 6, 107): Ist ein mit Wänden und Dach versehener Rohbau (ohne Türen, Fenster und Fußböden) bereits ein „Gebäude“ i. S. des Brandstrafrechts? Der BGH bejaht das und gibt dem Ausdruck damit in § 308 StGB (a. F.) einen anderen Inhalt als beim schweren Diebstahl gemäß § 243 I Nr. 2 StGB (a. F.). Während es bei § 243 (a. F.) darauf ankomme, Unbefugten den Zutritt zu verwehren, um im Gebäude untergebrachte Gegenstände besonders zu schützen, gehe es bei § 308 (a. F.) um den Schutz vor Angriffen auf Sachen von besonderem Wert oder besonderer Bedeutung (S. 108). Ob diese Sachen (Gebäude) leicht zugänglich sind, sei für das Recht der Brandstiftung mithin irrelevant, so daß hier der allgemeine Sprachgebrauch zugrunde gelegt werden könne. Fall 45 (BGHSt 44, 175): Seit dem 6. StrRG wird eine Brandstiftung als besonders schwer angesehen, wenn sie die Gesundheitsgefährdung einer großen Zahl von Menschen verursacht (§ 306b I StGB). Der BGH zählt auf, an welchen Stellen der „unbestimmte Rechtsbegriff“ der Gesundheitsschädigung „einer großen Zahl von Menschen“ im Gesetz verwendet wird (S. 177). Aus Systematik, Strafdrohung und der Art der geschützten Tatobjekte folgert der BGH in „tatbestandsspezifischer Auslegung“, daß jedenfalls bei 14 betroffenen Bewohnern eines mittelgroßen Hauses die Zahl der Gefährdeten groß sei (S. 178).

Gegen den Ausgangspunkt beider Entscheidungen ist nichts einzuwenden. Freilich gewinnt im zweiten Beispiel der „unbestimmte Rechtsbegriff“ auch durch Erwägungen zur Systematik und zum Schutzzweck nicht sonderlich an Kontur, was allerdings eine Frage des Bestimmtheitsgebots ist. Der Vorrang des teleologischen Elements bei der Feststellung der maßgeblichen Wortbedeutung kann im Einzelfall jedoch zugunsten einer Begriffsauslegung zurücktreten, insbesondere wenn der Schutzzweck der Norm nicht hinreichend konkret ist, um eine Zweifelsfrage zu entscheiden: Fall 46 (BGHSt 9, 44): Liegt auch dann eine „unechte“ Urkunde i. S. des § 267 StGB vor, wenn der berechtigte Aussteller lediglich ein falsches Ausstellungsdatum vermerkt, die Urkunde z. B. rückdatiert? Der BGH ist der Ansicht, daß Sinn und Zweck der Norm nichts zur Beantwortung der Frage zu leisten vermögen (S. 45). Entscheidend sei der allgemeine Sprachgebrauch, wonach es (nur) darauf ankomme, ob über die Person des Ausstellers getäuscht werden soll.

Der Schutzzweck der Norm deckt offensichtlich beide Ergebnisse, denn der Rechtsverkehr verdient auch Schutz vor Rückdatierungen u. ä. mißbräuchlichen Verhaltensweisen mit Urkunden. Der BGH scheint dementsprechend „froh“ zu sein, statt mit diffusen Schutzzweckerwägungen arbeiten zu müssen, auf eine bewährte und die Frage eindeutig beantwortende Definition des Urkundenbegriffs zurückgreifen zu können.154 Insoweit liegt kein Rückfall in eine „Be-

rium abgehandelt werden; eine solche Konzeption klingt in der Schrift von Schwinge (Teleologische Begriffsbildung) an, der dort etwa auch Fälle teleologischer Reduktion behandelt (S. 43 ff.). Siehe auch Zippelius, Methodenlehre, S. 48 ff.: Auslegung als argumentative Bestimmung der „zutreffenden“ Wortbedeutung. Zum hier vertretenen Standpunkt vgl. das zur systematischen Auslegung Ausgeführte (siehe oben III 3 f).

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III. Wortlaut und Wortsinn

griffsjurisprudenz“, sondern eine rationelle Handhabung des Kanons vor, die nur die für den konkreten Fall aussagekräftige Kriterien aufgreift. Erst recht maßgeblich ist die sprachliche Interpretation, wenn die teleologische Auslegung mit der Wortsinngrenze nicht mehr in Einklang zu bringen ist – aus einem PKW oder LKW kann eben auch eine noch so fantasiereiche „teleologische Begriffsbildung“ kein „bespanntes Fuhrwerk“ machen155 – oder aber der eindeutige Wortlaut eine bestimmte, wenn auch zweckwidrige Auslegung „schlechthin gebietet“156.

4. Was ist entscheidend: Alltagssprache oder Fachsprache? a) Ausgangspunkt Als weiteres Problem im Rahmen der Wortauslegung taucht die Frage nach dem Verhältnis von juristisch-fachsprachlicher zur alltagssprachlichen Wortbedeutung auf. Da die Gesetzessprache sich weitgehend der Alltagssprache bedient, hat die Thematik erhebliche Relevanz. In der Literatur zur Methodenlehre wird in dieser Situation ganz überwiegend, aber mit unterschiedlichen Gründen ein Vorrang der juristischen vor der alltagssprachlichen Verwendungsweise angenommen.157 Doch ungeachtet dieser klaren Vorrangregel muß man nicht lange suchen, um auf Unklarheiten und Schwierigkeiten zu stoßen. Bereits die theoretische Herleitung dieser Regel läßt Zweifel aufkommen, ob diese „naturgemäße Spannung“158 ohne weiteres auflösbar ist. Nach Bydlinski soll die juristische Fachsprache in Rechtsgebieten entscheidend sein, die über eine besondere Rechtstechnik verfügen, was im klassischen Bereich des Justizrechts, einschließlich des Strafrechts der Fall sei.159 Anders liege es dort, wo vom Normadressaten unvermittelt Normbeachtung erwartet wird, wie etwa im Straßenverkehrsrecht. Doch gerade das Beispiel des Straßenverkehrsrechts führt direkt zur Frage, weshalb im Strafrecht, das den Bürger am einschneidendsten trifft, 154 Ob diese Definition allerdings aus dem „allgemeinen Sprachgebrauch“ folgt, muß bezweifelt werden. In BGHSt 24, 140 (Fotokopie als Urkunde?) schreibt das Gericht den überkommenen Urkundenbegriff sogar zwingend fest und sieht in Abweichungen davon (zulasten des Täters) eine unzulässige Rechtsfortbildung (S. 142). Zur Klärung der Frage müßte die ursprüngliche Entstehung des Urkundenbegriffs – das Zustandekommen seiner Definition – untersucht werden; unter Umständen sind dabei doch teleologische Gesichtspunkte eingeflossen. 155 Siehe BGHSt 10, 375 = unten Fall 57. 156 BGHSt 20, 248 (250). 157 Z. B. Brugger, AöR 1994, 1 (22); Bydlinski, Methodenlehre, S. 439; Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 190; Kramer, Methodenlehre, S. 49 und 63; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 741 am Ende. 158 Engisch, Einführung, S. 93. 159 Bydlinski, Methodenlehre, S. 439.

4. Was ist entscheidend: Alltagssprache oder Fachsprache?

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nicht ebenfalls das alltägliche Wortverständnis maßgeblich sein soll. Auch die Begründung von Rüthers, der aufgrund der Gesetzesbindung des Richters im Zweifel dem fachsprachlichen Gebrauch den Vorrang zuspricht160, führt insoweit nicht weiter. Denn Art. 20 III, 97 GG mögen diese These zwar stützen, doch bliebe zu klären, ob nicht Art. 103 II GG für den Bereich des Strafrechts der Fachsprache Grenzen setzt. Es ist zumindest fraglich, ob den Interessen des Bürgers durch das Bestimmtheitsgebot ausreichend Rechnung getragen wird, denn sonderlich hohe Anforderungen an die Verständlichkeit der Gesetzessprache werden daraus nicht gefolgert, oder ob Art. 103 II GG darüber hinaus auch den Richter im Rahmen der Auslegung161 zu einer alltagssprachlichen Interpretation drängt. Konsequent am Adressaten des Gesetzes orientiert162 schlägt deshalb z. B. Loos eine Differenzierung zwischen Verfahrensrecht und materiellem Recht vor: Nur im Verfahrensrecht sei der technisch-juristische Sprachgebrauch zu bevorzugen.163 Looschelders/Roth votieren demgegenüber dafür, den allgemeinen Sprachgebrauch generell zum Ausgangspunkt zu nehmen und für eine spezielle Wortverwendung Anhaltspunkte zu verlangen.164 Der Praxis am nächsten dürfte der Ansatz von Kramer kommen, wonach bei fachsprachlich verwendeten Ausdrücken stets der professionelle Sprachgebrauch vorrangig sei, während landläufig gebräuchliche Wörter grundsätzlich nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zu bestimmen seien, wenn sie nicht fachjuristisch geprägt sind.165 Nicht weniger großzügig will Neumann die Entscheidung von der „jeweiligen Anwendungssituation“ abhängig machen: Ist der Rückgriff auf juristische Regelkenntnis notwendig, liege ein Begriff der juristischen Fachsprache vor, werde zur Bedeutungsermittlung auf die allgemeinen Sprachregeln zurückgegriffen, handele es sich um einen umgangssprachlichen Begriff.166 Durch diese weitgehend pragmatischen Standpunkte rückt die rechtstheoretische Grundproblematik leicht in den Hintergrund. Sie wird vor allem bei der Frage nach dem „möglichen Wortsinn“ als Auslegungsgrenze virulent und dort nochmals aufgegriffen (unten III 7 b). Die Praxis hält sich nicht lange mit theoretischen Erwägungen zu diesem Themenkreis auf. Regelmäßigkeiten sind nur schwer erkennbar, so daß eine systematische Aufbereitung des Materials Schwierigkeiten bereitet. Vom grundsätzlichen Vorrang der Fach- vor der Umgangssprache dürfte freilich auch der BGH ausgehen. 160

Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 741 am Ende. Die Frage, welche Rolle der Bestimmtheitsgrundsatz im Prozeß der Auslegung spielt, erörterte das BVerfG in BVerfGE 92, 1 (eingehend dazu unten V 7 e). 162 Stickel (Direktor des Instituts für Deutsche Sprache) folgert generell aus dem Betroffensein des Bürgers durch das Recht einen nur eingeschränkten Anspruch der Juristenzunft auf eine Fachsprache (ZRP-Rechtsgespräch ZRP 2001, 229 [230]). 163 Loos, in: AK-StPO, Einl. III, Rn. 11. 164 Looschelders/Roth, Methodik, S. 146. 165 Kramer, Methodenlehre, S. 49 und 63. 166 Neumann, in: Rechtskultur als Sprachkultur, S. 113. 161

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III. Wortlaut und Wortsinn

b) Konstellationen Die Frage nach dem Verhältnis von Fach- zur Alltagssprache kann sich in mehreren Variationen stellen. Probleme entstehen dabei nur, wenn einem Ausdruck sowohl eine umgangs- als auch eine fachsprachliche Bedeutung zukommen kann, die voneinander abweichen (Homonym), wenn also eine „Sprachspaltung“167 zwischen Fach- und Umgangssprache in Betracht kommt. Da Gesetzestexte weitgehend auf der Alltagssprache basieren, muß der Rechtsanwender häufig diese Möglichkeit eines divergierenden (inkonsistenten) Sprachgebrauchs erwägen.168 Selten geht es demgegenüber um die Auslegung eines rein juristischen Fachbegriffs, dem als „Fremdwort“ jeder Bezug zur Alltagssprache fehlt.169 In der Theoriesprache (Dogmatik) sind solche juristischen Begriffskonstruktionen zwar zahlreich, nicht aber in der Gesetzessprache170, da der Gesetzgeber naturgemäß und aufgrund des Bestimmtheitsgebotes um Verständlichkeit bemüht sein muß171. Deshalb sprechen Schrifttum und Praxis, nicht aber der Gesetzgeber z. B. von „mittelbarer Täterschaft“, „Realkonkurrenz“, „Garantenstellung“, „dolus generalis“ oder „Erlaubnistatumstandsirrtum“. Häufiger ist die Konstellation, daß zwar sowohl eine umgangs- als auch eine fachsprachliche Bedeutung denkbar ist, jedoch aufgrund des Kontextes oder anderer Gründe von vornherein klar ist, welcher Sprachgebrauch maßgebend ist. Gerade bei strafrechtlichen, dogmatisch ausdifferenzierten Fachbegriffen (z. B. „Vorsatz“, „Absicht“) sollte die Praxis keine Probleme haben, tut sich zuweilen aber dennoch schwer: So liegt es z. B. in BGHSt 2, 393: Was ein „Verbrechen“ i. S. von § 1 StGB a. F. ist, richtet sich nach Ansicht des BGH nach dem Sinn, den die Sprache des StGB mit diesem Begriff verbindet (S. 395). — Ähnliches müßte eigentlich für den Begriff der „Absicht“ gelten, doch gibt nach Ansicht von BGHSt 18, 246 (249) weder seine Verwendung im Sprachgebrauch noch seine Anwendung im Gesetz Klarheit über die Bedeutung. — Den Ausdruck „Haft“ in § 140 I Nr. 5 StPO a. F. versteht nach Ansicht von BGHSt 3, 334 sowohl der allgemeine Sprachgebrauch als auch das Gesetz umfassend im Sinn von Untersuchungshaft und Strafhaft, es sei denn, aus dem Zusammenhang folge etwas anderes (S. 335). Demgegenüber verweist der Große Senat in BGHSt 4, 308 darauf, daß die Wortlautauslegung zu keinem eindeutigen Ergebnis führe; die „allgemeine Gesetzessprache“ verwende den Begriff der Haft mal 167 Näher dazu mit Beispielen aus dem Zivilrecht Schwab, in: FS für Rolland, S. 347 f. 168 Erstaunt darüber, wie oft gemeinsprachliche Ausdrücke sich als juristisch geprägt erweisen, Wimmer, SuL 1998, 8 (16). 169 Zur Unterteilung des juristischen Fachwortschatzes in Untergruppen siehe Busse, SuL 1998, 24 (33 ff.). 170 Nussbaumer, in: Juristische Fachsprache, S. 35. Die von Stickel (in: Sprache und Recht, S. 4) konstatierte „Fremdwortarmut“ der „Rechtssprache“ trifft nur auf die Gesetzessprache zu. 171 Handbuch der Rechtsförmlichkeit, Rn. 46; Wimmer, SuL 1998, 8 (16).

4. Was ist entscheidend: Alltagssprache oder Fachsprache?

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weit, mal eng (S. 309).172 Einen etwaigen allgemeinen Sprachgebrauch läßt der Große Senat hingegen zu Recht von vornherein außer Betracht. — Eine Fahrerlaubnis konnte gemäß § 42m I StGB a. F. auch bei einem auf fehlender Zurechnungsfähigkeit beruhenden Freispruch entzogen werden. BGHSt 14, 68 sieht sowohl den Fall der erwiesenen als auch den der bloß zugunsten des Täters unterstellten Unzurechnungsfähigkeit als von der Norm erfaßt an. In der Rechtssprache sei es allgemein üblich, beide Fälle kurz unter den Begriff des „Freispruchs wegen Zurechnungsunfähigkeit“ zusammenzufassen (S. 71).173 Belegt wird dieses „übliche“ Verständnis allerdings nicht. — Ein echter Fall von Mehrdeutigkeit liegt BGHSt 9, 67 zugrunde. Der Ausdruck „Übertretung“ mußte nicht immer im technischen Sinn als dritte Kategorie neben „Verbrechen“ und „Vergehen“ gemeint sein (§ 1 StGB a. F.),174 sondern konnte synonym zu „Überschreitung“ verstanden werden, wie etwa in § 151 GewO a. F.: „Sind bei der Ausübung des Gewerbes polizeiliche Vorschriften von Personen übertreten worden, welche der Gewerbetreibende zur Leitung des Betriebs . . . bestellt hatte, so trifft die Strafe diese letzteren. Der Gewerbetreibende ist neben denselben strafbar, wenn die Übertretung mit seinem Vorwissen begangen ist . . .“. Ein juristisch-technisches Wortverständnis liegt hier – anders als oben beim Ausdruck „Verbrechen“ (BGHSt 2, 393) – in der Tat fern.

Merkwürdig mutet der Rückgriff auf den allgemeinen Sprachgebrauch an, wenn offensichtlich Ausdrücke der juristischen Fachsprache zur Debatte stehen, der BGH aber seine Lösung dennoch auf den allgemeinen Sprachgebrauch stützt: Schon im oben genannten Beispiel zum Begriff „Haft“ (BGHSt 3, 334; GS 4, 308) kann der Hinweis auf den landläufigen Sprachgebrauch die Argumentation nicht fördern. — Im ebenfalls bereits behandelten Fall 46 (BGHSt 9, 44) verwundert, daß der BGH nach so langer dogmatischer Vorarbeit bei der Interpretation des Urkundenbegriffs zur Begründung eines engeren Begriffsverständnisses noch immer auf den allgemeinen Sprachgebrauch abstellt. Man muß im Rückblick bezweifeln, ob es dem Gericht damit wirklich ernst war, denn gerade der strafrechtliche Urkundenbegriff hat sich weit vom Alltagsverständnis emanzipiert.175 Tatsächlich ist der BGH nicht diesem Verständnis, sondern der in Rechtsprechung und Lehre entwickelten Definition gefolgt. — Zu erwähnen sind weiterhin Fall 34 (BGHSt 29, 311: Inverkehrbringen von Falschgeld „als echt“ durch Übergabe an einen eingeweihten Mittelsmann?), wo der allgemeine Sprachgebrauch für eine (zu) weitgehende Auslegung instrumentalisiert wird,176 und BGHSt 39, 330, wo die Einschränkung der §§ 239a, 239b StGB unter anderem aus der gesetzlichen Überschrift „Geiselnahme“ hergeleitet wird: „Der Begriff der Geiselnahme umfaßt von jeher solche Fallgestaltungen, in 172

Die Problematik ist seit dem StPÄG vom 19.12.1964 (BGBl. I, S. 1067) geklärt. Der Gesetzgeber hat die Norm im 2. Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 26.11.1964 in diesem Sinn neuformuliert („weil seine Zurechnungsunfähigkeit nicht erwiesen oder nicht auszuschließen ist“). 174 Der Gesetzgeber hat diese Dreiteilung im 2. StrRG abgeschafft. 175 Kein Wunder, daß § 267 StGB als Musterbeispiel etwaiger „Subsumtionsirrtümer“ herhalten muß; vgl. z. B. Roxin, Strafrecht AT I, § 12, Rn. 91. Näher dazu unten III 7 b. 176 Näher unten Fall 67. 173

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III. Wortlaut und Wortsinn

denen das Opfer fremder Gewalt unterstellt und festgehalten wird, um durch Bedrohung eine Forderung gegen Dritte durchzusetzen (vgl. Brockhaus . . . und Meyers Enzyklopädisches Lexikon . . ., je zum Stichwort ,Geiselnahme‘)“.177 Gerade die Heranziehung des überkommenen alltäglichen Sprachgebrauchs durch BGHSt 39, 330 wirkt nicht überzeugend, da fraglich war, ob der Gesetzgeber durch die Neufassung der Normen vom gängigen Bild der Geiselnahmen abgerückt sein könnte, wofür Wortlaut und Struktur der §§ 239a, 239b StGB sprechen.178

Noch problematischer als die Flucht in den allgemeinen Sprachgebrauch ist freilich die umgekehrte Situation, in der bei typischen Begriffen des Alltags fast gewaltsam auf eine (angebliche) fachsprachliche Bedeutung ausgewichen wird. Insofern sollte die Rechtsprechung deutlichere Anhaltspunkte für einen unter Umständen abweichenden juristischen Wortgebrauch verlangen als im folgenden Fall 47 (BGHSt 23, 331), in dem das Gericht ähnlich wie in BGHSt 14, 68 gegen einen (angeblich nicht relevanten) allgemeinen Sprachgebrauch argumentiert: Ein Angeklagter soll auch dann gemäß § 329 I StPO „nicht erschienen“ sein, wenn er zwar körperlich anwesend, aber wegen Trunkenheit nicht verhandlungsfähig ist. Das ergebe sich aus dem Sprachgebrauch, wie er sich im Strafverfahrensrecht herausgebildet habe (S. 334). Im Strafprozeßrecht sei es ganz allgemein anerkannt, daß alle an der Verhandlung Beteiligten nicht nur körperlich anwesend, sondern jedenfalls auch verhandlungsfähig sein müssen. „Wer in verhandlungsunfähigem Zustand auftritt, wird gemeinhin als nicht erschienen behandelt [Nachweise]. Danach ist es mit der Wortfassung des § 329 Abs. 1 StPO durchaus vereinbar, einen Angeklagten auch dann als ,nicht erschienen‘ anzusehen, wenn er in der Berufungsverhandlung schuldhaft betrunken und dadurch verhandlungsunfähig auftritt. Ihn bei solchem Verhalten einem schuldhaft ausgebliebenen Berufungsführer mit den sich daraus ergebenden gesetzlichen Folgen gleichzustellen,179 wird auch dem Sinn und Zweck der Vorschrift gerecht.“

Fall 47 zeigt, wie die Behauptung eines fachsprachlichen Wortgebrauchs der Überwindung des Wortlauts dient. Der BGH entwickelt ein Lehrbeispiel für eine juristische Fiktion (anwesend, aber verhandlungsunfähig = nicht erschienen), für die es im Gesetz näherer Anhaltspunkte, wenn nicht sogar einer Definition bedürfte.180 Und § 329 I StPO liefert ein weiteres sprachliches Argument gegen diese, dem alltäglichen Verständnis widersprechende Interpretation, denn 177 BGHSt 39, 330 (334). Der 1. Senat bringt dieses Argument allerdings nur unterstützend für seine bereits in BGHSt 39, 36 entwickelte teleologische Reduktion der §§ 239a, 239b StGB. 178 In diesem Sinn dann der Große Senat in BGHSt GS 40, 350. 179 Von einer „Gleichstellung“ spricht auch das OLG Frankfurt NJW 1968, 217 (r. Sp. unter 3.) und sieht die Subsumtion unter § 329 StPO als mit Wortlaut und Sinn vereinbar an (r. Sp. oben). Eb. Schmidt (JR 1969, 270) wertet die Vorgehensweise des OLG Frankfurt als entsprechende Anwendung des § 329 StPO. 180 Es liegt ein geradezu klassischer Fall vor, in dem eine solche gesetzliche Fiktion zu erwarten wäre: Eine gesetzgeberische Gleichstellung von Fällen, die in der Wirklichkeit differieren.

4. Was ist entscheidend: Alltagssprache oder Fachsprache?

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danach kann der Betroffene sein „Ausbleiben“ entschuldigen. Für einen inkonsistenten Sprachgebrauch – Laie auf der einen, Gesetzgeber auf der anderen Seite – ist nichts ersichtlich. Das Verstehen der Wörter im übertragenen Sinn kann so weit nicht getrieben werden; andernfalls wird man z. B. auch nichts dagegen einwenden können, ein unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB) auch ohne Ortsveränderung für möglich zu halten181 oder sogar boshafte nächtliche Telefonanrufe als „Eindringen“ in eine Wohnung (§ 123 StGB) aufzufassen182. „Im Rechtssinne“183 mögen beide Fallgruppen (anwesend, aber verhandlungsunfähig und „nicht erschienen“) gleich zu behandeln sein, doch methodologisch ist dieses Ergebnis nur mit einer Analogie zu bewerkstelligen184. Daß auch der BGH der Annahme einer Analogie nicht fern steht, zeigt die Formulierung vom „Gleichstellen“ (siehe oben). Den Weg der entsprechenden Anwendung sah der BGH wohl als mit seinem Grundverständnis vom Charakter des § 329 StPO als einer Analogie nicht zugänglichen Ausnahmevorschrift unvereinbar an.185 Das BVerfG hat in einem vergleichbaren Fall, der im Geltungsbereich des Analogieverbots spielte, die ähnliche Argumentation eines OLG abgelehnt: Seiner Pflicht zur Übernahme des Ehrenamts als Wahlhelfer „entzieht“ sich nicht, wer zwar erscheint, aber durch unkorrektes (politisches) Verhalten den Wahlvorsteher zum Ausschluß zwingt. (BVerfGE 71, 108 [111, 121])

Die Situation, daß bei Alltagsbegriffen die Fachsprache einen über die Umgangssprache hinausgehenden Wortgebrauch rechtfertigen muß, taucht freilich nicht häufig auf. Abgesehen von der Frage nach der Vereinbarkeit dieser Vorgehensweise mit dem Analogieverbot186 bzw. mit dem möglichen Wortsinn als Grenze jeder (teleologischen) Auslegung erweckt sie auch sonst Bedenken. Nicht zuletzt hier findet der Verdacht des Laien gegen die Juristen und ihre Sprache eine Grundlage.187 Die juristische Fachsprache ist für den Laien schon allgemein so gefährlich, weil sie anders als die meisten anderen Fachsprachen auf gemeinsprachlichen Ausdrücken basiert und dadurch das Mißverstehen der Texte 181 Zum „Verlassen“ der Truppe ohne räumliche Entfernung siehe bereits Fall 27 (BGHSt 22, 14). 182 Beispiel bei Engisch, Einführung, S. 100. 183 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 52, Rn. 25: Vom Wortlaut her keine Bedenken, einen verhandlungsunfähigen Prozeßbeteiligten als im Rechtssinne nicht erschienen anzusehen. 184 Eingehend Küper, JuS 1972, 127 ff. 185 Ausführlich dazu unten V 4 d. 186 Dazu unten III 7 b. Im Fall 47 wäre allerdings zu untersuchen, ob Art. 103 II GG in dieser strafprozessualen Frage überhaupt einschlägig wäre. 187 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 34 f.: Juristen als Auslegungsakrobaten. Die anderen Bedenken folgen aus der gegenteiligen – übertrieben formalistischen! – Vorgehensweise. Symptomatisch hierfür der Streit um den Rechenschaftsbericht der CDU über ihre Parteispenden: Wird die im Parteiengesetz begründete Pflicht zur Vorlage dieses Berichts auch durch einen inhaltlich unrichtigen erfüllt? Vgl. VG Berlin NJW 2001, 1367 und OVG Berlin NJW 2002, 2896 mit unterschiedlichen Ergebnissen.

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III. Wortlaut und Wortsinn

befördert.188 Dieser Effekt wird verstärkt, wenn die juristische Terminologie nicht nur „enger“ als der umgangssprachliche Gebrauch ist, sondern über diesen hinausgeht oder gar konträr dazu liegt.189 Man wird der Rechtsprechung des BGH allerdings zugute halten dürfen, daß sie in aller Regel davon absieht, eine abweichende fachsprachliche Verwendungsweise „künstlich“ zu konstruieren: In BGHSt 18, 242 war zu entscheiden, ob ein „Erwerb von Waren“ i. S. von § 136 Allgemeiner Zollordnung (a. F.) durch Diebstahl erfolgen kann. Der BGH geht davon aus, daß dies nach allgemeinem Sprachgebrauch nicht der Fall sei (S. 245). Aber: Die Begriffe des Zollgesetzes seien aus diesem selbst zu bestimmen und könnten in einem anderen, weiteren Sinn verstanden werden (S. 244). Für einen solchen abweichenden Sprachgebrauch des Gesetzes findet der BGH dann jedoch keine Anhaltspunkte. In gewissem Maß formuliert er sogar eine Vermutung, wonach bei Wörtern der Umgangssprache der Gesetzgeber gerade diese Bedeutung zugrunde gelegt haben dürfte: „Hätte der Gesetzgeber auch die diebische Besitzverlangung . . . unter Strafe stellen wollen, so wäre es unerfindlich, weshalb er dafür Begriffe verwendet hätte190, die nach dem allgemeinen Sprachgebrauch in der Regel einen rechtsgeschäftlichen Erwerb bezeichnen“191. — Noch stärker in diese Richtung tendiert BGHSt 14, 55 bei der Auslegung des Begriffs „Empfehlung“ im Kartellrecht: „Wie jedes Gesetzesverständnis“ sei auch im GWB von der Wortbedeutung des allgemeinen Sprachgebrauchs192 auszugehen (S. 57). — BGHSt 22, 235 hält in der Frage, ob eine Hauswand ein gefährliches Werkzeug i. S. von § 223a StGB (a. F.) sein kann, das natürliche (engere) Sprachempfinden für entscheidend. Es wehre sich gegen ein weiteres, in der Literatur teilweise vertretenes Verständnis (S. 236). Wie die gegenteilige Auffassung gerechtfertigt werden könnte – etwa durch die Behauptung eines abweichenden juristischen Werkzeugbegriffs – ist der Begründung des BGH nicht zu entnehmen. — Als weiteres Beispiel für die Ausweitung eines landläufig enger verstandenen Begriffs kann der oben bereits erörterte Fall 35 (BGHSt 31, 317) genannt werden, in dem der BGH den Ausdruck „Ausüben“ unter Berufung auf den besonderen gesetzlichen Kontext abweichend vom alltäglichen Sprachgebrauch bestimmt. Die Entscheidung mag im Ergebnis vertretbar sein, leidet jedoch in diesem maßgeblichen Punkt an einer unzureichenden Begründung (siehe Fall 35). — Aufgeführt werden kann außerdem BGHSt 45, 131 mit der Frage, ob das „Eindringen“ in den Körper i. S. von § 176a StGB einen entgegenstehenden Willen des Betroffenen voraussetzt. Die bejahende Auffassung rekurriert auf die 188

Ermert, in: Recht und Sprache, S. 12; Busse, SuL 1998, 24 (37 und 44). Zumindest in Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz ist es auch nicht völlig unbedenklich, wenn der Gesetzgebers in einer Legaldefinition über den allgemeinen Sprachgebrauch hinausgeht; siehe z. B. BGHSt 11, 304 (308) zum Begriff der „Krankheit“ in der Arzneimittelverordnung. 190 Zu dieser Argumentationsfigur bereits oben III 3 g. 191 Ob das Verständnis des Erwerbs als rechtsgeschäftlich wirklich dem allgemeinen Sprachgebrauch entspricht oder ob es sich nicht von vornherein um einen juristisch geprägten Ausdruck handelt, kann hier dahinstehen. 192 Der BGH spricht allerdings von der Wortbedeutung „im ursprünglichen Sinn“, die er aber mit Hilfe eines Wörterbuchs ermittelt. Vom „gewöhnlichen Sprachgebrauch“ geht BGHSt 9, 140 (141) bei Beantwortung der Frage aus, ob ein „Windfang“ bereits zu einer von § 166 StGB (a. F.) geschützten „Kirche“ gehört. 189

4. Was ist entscheidend: Alltagssprache oder Fachsprache?

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parallele und allgemein anerkannte Auslegung dieses Begriffs in den §§ 123 und 243 StGB sowie auf den allgemeinen Sprachgebrauch, findet damit beim BGH jedoch kein Gehör. Das Gericht weist auf die Besonderheiten im Sexualstrafrecht hin (belegt an §§ 177, 179 StGB) und bezieht zum Argument „allgemeiner Sprachgebrauch“ keine Stellung.193 In einer zu Fall 35 („Ausüben“) parallel liegenden Konstellation argumentiert der BGH wieder näher am allgemeinen Sprachgebrauch: Fall 48 (BGHSt 1, 293) Setzt das „Unzuchttreiben“ i. S. von § 175 (a. F.) ein Handeln von gewisser Dauer voraus oder genügt bereits ein Griff an das Geschlechtsteil eines anderen Mannes? Der BGH vertritt die engere Auffassung: „Der Ausdruck ,Treiben‘ bedeutet nach dem Sprachgebrauch des Lebens eine Betätigung von einer gewissen Anspannung und Dauer. Dies zeigen z. B. die Redewendungen Sport treiben, Unfug treiben, Ehebruch treiben, Handel treiben“ (S. 295). Eine andere Auffassung würde dem Wortlaut des § 175 (a. F.) Zwang antun (S. 296). Gleichwohl prüft das Gericht noch, ob sich aus einem Vergleich mit benachbarten Normen ein anderes Verständnis ergeben könnte, lehnt das aber letztlich ab (S. 295 f.). Die unterschiedliche Argumentation in Fall 35 und Fall 48 könnte auf einer kriminalpolitischen Folgeerwägung beruhen: Während in BGHSt 31, 317 ein engeres Verständnis zu „schwerwiegenden Lücken“ führen würde (S. 320), werden in BGHSt 1, 293 etwaige Strafbarkeitslücken durch die Versuchsstrafbarkeit aufgefangen (S. 297).

Der Spielraum der Rechtsprechung wird zusätzlich erweitert, wenn neben landläufigem oder juristischem noch ein technischer Sprachgebrauch, etwa aus dem naturwissenschaftlichem Bereich in Frage kommt. Dennoch belegen die beiden folgenden Beispiele das Bemühen des BGH, eine Subsumtion entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch zu vermeiden. Fall 49 (BGHSt 30, 15): Empfängt ein im Auto mitgeführtes Radarwarngerät „Nachrichten“ i. S. des Fernmeldeanlagegesetzes (FAG)? In einer bemerkenswert intensiven Wortauslegung erläutert der Senat den im FAG nicht näher bestimmten Ausdruck „Nachricht“ zunächst nach dem allgemeinen Sprachgebrauch. Die daran orientierten Definitionen gingen davon aus, daß ein Absender einen Empfänger von etwas in Kenntnis setzen will (S. 17). Weil diese Definitionen einer Anwendung der Norm entgegenstehen würden, beeilt der BGH sich, die Eindeutigkeit zu relativieren, indem er auf den Unterschied zwischen „Nachricht“ und „Mitteilung“ hinweist. Bei Nachrichten werde eher die Empfänger-, bei Mitteilungen eher die Absenderseite betont.194 Wesentlich weiter sei das technische Begriffsverständnis, wonach irgend etwas von einer Quelle Ausgehendes genüge. Der Gesetzgeber habe um diesen unterschiedlichen Sprachgebrauch gewußt, aber dennoch von einer Eingrenzung abgesehen (S. 18). Der Zweck des Gesetzes spreche eher für ein umfassendes Verständnis, das allerdings nicht ganz so weit reiche wie das technische (S. 19 f.).

193 Die Folgerung aus dem allgemeinen Sprachgebrauch erscheint allerdings in der Tat wenig zwingend, vgl. Duden, Großes Wörterbuch, Bd. 2, zum Stichwort „Eindringen“: „Sich einen Weg bahnend in etwas dringen, hineingelangen“. 194 Die Ausführungen des BGH hierzu bleiben bewußt unklar (S. 17): „Es kann allerdings zweifelhaft sein, ob sich darin bereits die alltägliche Bedeutung des Wortes ,Nachricht‘ erschöpft (vgl. dazu Grimm a. a. O. Sp. 103).“

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III. Wortlaut und Wortsinn

Fall 50 (BGHSt 24, 136): Ist eine Gaspistole eine „Schußwaffe“ gemäß § 244 I StGB (a. F.195)? Der BGH beginnt schulmäßig (S. 138): „Was als Schußwaffe zu gelten hat, wird im Strafgesetzbuch nicht erläutert, auch die Begründung zur Neufassung des § 244 StGB gibt hierzu keine Auskunft.“ Das Bundeswaffengesetz von 1968 und das Landesrecht könnten nicht zugrunde gelegt werden, da sie den Schußwaffenbegriff nur für ihren Anwendungsbereich regelten. „Gleichwohl muß der Inhalt dieses Rechtsbegriffs196 – auch unter Berücksichtigung seiner Wandelbarkeit je nach dem Fortschritt der Waffentechnik . . . – in Anlehnung an die in den Waffengesetzen enthaltenen Grundvorstellungen über eine Schußwaffe und im Einklang mit dem allgemeinen Sprachgebrauch gefunden werden.197 Dabei kann an die in langer Rechtsentwicklung erarbeiteten Merkmale für die Schußwaffeneigenschaft einer Waffe angeknüpft werden“. – Was der allgemeine Sprachgebrauch unter „Schußwaffe“ versteht, teilt der BGH in diesen ohnehin recht dunklen, letztlich alle Sprachgebräuche integrierenden Ausführungen leider nicht mit. Anscheinend möchte der Senat sich Spielraum offenlassen, um den sich wandelnden Verhältnissen Rechnung tragen zu können (dazu sogleich BGHSt 1, 1).

Freilich bleibt auch in solchen Fällen der Vorrang der juristischen (strafrechtlichen) Fachsprache vor einem außerjuristisch technischen Sprachgebrauch gewahrt: Fall 51 (BGHSt 1, 1 – „Salzsäure“): Kann auch ein chemisches Angriffsmittel (Salzsäure) eine „Waffe“ i. S. von §§ 223a, 250 I Nr. 2 StGB (a. F.) sein oder ist eine mechanische Einwirkung zu verlangen? Der BGH hält einen an der technischen Entwicklung angelehnten Sprachgebrauch der Allgemeinheit für maßgeblich, der dem Wandel der Zeiten unterworfen sei (S. 2).198 Ein davon abweichendes strafrechtliches Begriffsverständnis sei hier nicht ersichtlich, wäre nach Ansicht des BGH allerdings vorrangig (S. 3): „Es könnte nur zu fragen sein, ob dieser Wandel in der technischen und in der allgemeinen Betrachtung keine Schlüsse für die strafrechtliche Bestimmung des Waffenbegriffs erlaube, weil der Inhalt strafrechtlicher Begriffe aus dem Strafgesetz selbst zu entnehmen ist.“

Abschließend zu erwähnen bleibt der „Normalfall“, in dem die Rechtsprechung von einem weiten Alltagsbegriff ausgeht und die übrigen Auslegungselemente dazu nutzt, um entweder eine im Begriffshof liegende Bedeutung auszu195 Absatz 1 i. d. F. vom 1. StrRG (1969) bis zum 6. StrRG (1998). Mit „Neufassung“ meint der BGH die durch das 1. StrRG erfolgte. 196 In Konsequenz dieser Auffassung wird man alle im Gesetz genannten Begriffe als „Rechtsbegriffe“ ansehen müssen, so etwa auch in BGHSt 6, 107 (Fall 44), wo der BGH den Ausdruck „Gebäude“ – wenigstens für das Brandstrafrecht – dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechend versteht. Aber ganz abgesehen von der umstrittenen Differenzierung zwischen deskriptiven und normativen Begriffen, bleibt die Frage, ob ein „Rechtsbegriff“ überhaupt alltagssprachlich bestimmt werden kann. Mit einer besonderen „Schärfe“ der juristischen Fachsprache, die u. a. Binding betonte (vgl. Engisch, Einführung, S. 93 f.), wäre es dann nicht weit her. 197 Im Ergebnis ähnlich, aber wesentlich klarer Heimann-Trosien, in: LK-StGB9, § 244, Rn. 3: „Im übrigen sollte man aber die Begriffsbestimmung von § 1 BWaffG übernehmen, die . . . dem üblichen Sprachgebrauch am nächsten kommt.“ 198 Näher dazu unten III 7 d und e (Porosität und Bedeutungswandel).

4. Was ist entscheidend: Alltagssprache oder Fachsprache?

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wählen oder eine Restriktion/Reduktion vorzunehmen.199 Die Erforschung des gesetzgeberischen Willens mag im Einzelfall auch ergeben, daß der Gesetzgeber einen Begriff im umgangssprachlichen Sinn verstanden hat, aber das ist eine Frage der Auslegung. Diesen Standpunkt teilt auch die folgende Entscheidung und gelangt anschließend mit eingehender historischer Auslegung zu einem engeren Begriffsverständnis: „Verwendet ein Gesetz einen Begriff, der auch außerhalb der Rechtsanwendung im Alltagsleben üblich ist . . ., so stellt sich für die Auslegung des Gesetzes die Frage, ob der in ihm verwandte Begriff in dem gleichen Sinn wie im alltäglichen Sprachgebrauch gemeint ist. Das muß nicht so sein. Denn das Gesetz gebraucht gelegentlich Begriffe in einem engeren Sinne als die tägliche Umgangssprache. . . . Ob das der Fall ist, läßt sich nur durch Ergründung des Gesetzeswillens erkennen.“ (BGHSt 14, 116 [118])200 In BGHSt 5, 263 geht der Senat hinsichtlich des Ausdrucks „Gegenstand“ vom allgemeinen Sprachgebrauch aus, der eine weite Interpretation zulasse (S. 266). Daß in anderen Vorschriften des StGB mit diesem Ausdruck in aller Regel nur körperliche Gegenstände gemeint sind, hindere nicht daran, unter Berücksichtigung von Systematik und Zweck für § 264a StGB (a. F. – „Notbetrug“) ein anderes Verständnis zugrunde zu legen. — Zu einer Einschränkung eines umfassenden Alltagsbegriffs sieht der BGH sich auch in BGHSt 33, 16 gezwungen. In einfachen und ungefährlichen Sympathiebekundungen sei in Anbetracht des Bestimmtheitsgebots und Art. 5 I GG noch kein „Werben“ für eine terroristische Vereinigung gemäß § 129a III StGB zu erkennen (S. 18). — Und schließlich BGHSt 43, 346: Ein Arzt, der Patienten ohne medizinische Indikation, aber mit einem einwandfrei funktionierenden Gerät röntgt, macht sich nicht gemäß § 311d StGB strafbar. Nach allgemeinem Sprachgebrauch würden dadurch zwar – wie es der Wortlaut verlangt – ionisierende Strahlen „freigesetzt“ (aus einer Bindung gelöst, S. 348), jedoch sprächen gesetzgeberischer Wille sowie Sinn und Zweck der Regelung für ein einschränkendes Begriffsverständnis i. S. einer unkontrollierten Ausdehnung der Strahlen (S. 349).

Die zuletzt genannten Beispiele sind in methodischer Hinsicht nicht problematisch und verdeutlichen das regelmäßige Vorgehen. Interessant ist insoweit allenfalls die Frage, ob mit der juristischen Konkretisierung eines weiten Alltagsbegriffes nunmehr ein Fachterminus entsteht.201 Mit anderen Worten: Wird nach Heranziehung von Entstehungsgeschichte und Gesetzeszweck aus dem Wort „freisetzen“ ein neuer, fachsprachlicher Begriff geboren und damit wo199 Vgl. Krey, Studien, S. 160: Einengung des weiten Rahmens als „vornehmste Aufgabe juristischer Begriffsbildung“. 200 Fragwürdig demgegenüber BGHSt 34, 171 (175) = unten Fall 72: „Der Gesetzgeber hat den Begriff des ,Glücksspiels‘ nicht definiert. Er geht also [?] von einer typischen, allgemein bekannten und daher nicht umschreibungsbedürftigen Erscheinung des täglichen Lebens aus.“ Im Anschluß legt der Senat gleichwohl die ausgiebigen Anstrengungen der Rechtsprechung dar, den Begriff des Glücksspiels näher zu konkretisieren. 201 Die Frage ist in Hinblick auf die Wortlautgrenze nicht nur akademischer Natur; vgl. unten III 7 b am Ende.

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III. Wortlaut und Wortsinn

möglich ein inkonsistenter Sprachgebrauch mit Vorrang des juristischen Verständnisses begründet? So weit wird man kaum gehen können; die canones der Auslegung dienen eben doch der Entscheidung für eine der in Betracht kommenden Bedeutungen, begründen aber nicht originär einen Fachbegriff. Nicht alles, was das Recht berührt, wird zu Recht.202 Anderes mag gelten, wenn der aus dem Konkretisierungsprozeß resultierende Begriff durch Theorie und Praxis im Laufe der Zeit eine Ausdifferenzierung erfahren hat, die einer Übernahme durch die Fachsprache gleichkommt. Als Beispiele hierfür könnten der Bandenund der Urkundenbegriff (Fall 26 und Fall 46) angeführt werden, die durch Dogmatik und Präjudizien im Lauf der Zeit ihren genauen Umfang erfahren haben. Gerade der Bandenbegriff zeigt, wie sogar der Gesetzgeber, der auf eine ausdrückliche Definition verzichtet, an diese juristische Begriffsbildung anknüpft.203 Festzuhalten bleibt: Die Gesetzessprache ist nur im Idealfall durch das allgemeine Sprachverständnis geprägt.204 Vorrangig ist der juristische Sprachgebrauch, der sowohl enger sein, als auch darüber hinausgehen kann. Bei typischen Alltagsbegriffen sollte eine darüber hinausgehende fachsprachliche Bedeutung jedoch fundiert belegt werden können, während sich bei offensichtlich juristisch geprägten Ausdrücken eine „Flucht“ zurück in die Alltagssprache verbietet. Auf die hierbei durch Art. 103 II GG gezogenen Grenzen wird später eingegangen (unten III 7 b).

5. Vorstellungen des Gesetzgebers Als wichtiges Erkenntnismittel zur Begriffsbestimmung dient weiterhin die Entstehungsgeschichte. Insofern kommt die ganze Bandbreite von Argumentationsfiguren der historischen Auslegung zum Zug, mitsamt ihren spezifischen Fragestellungen und Problemen: Ist der Rechtsanwender an die Vorstellungen der Gesetzgebungsorgane gebunden (objektive/subjektive Theorie)? Hat diese Vorstellung im Wortlaut ihren Ausdruck oder wenigstens einen Anhalt gefunden („Andeutungstheorie“)? Verlieren die Motive der Legislative mit Zeitablauf an Bedeutung und wie ist ihr Rang gegenüber den übrigen canones? Die Fragen ließen sich vermehren und werden eingehend im Kapitel Entstehungsgeschichte erörtert. Nur zwei Konstellationen, die unmittelbar mit der Feststellung der maßgeblichen Wortbedeutung zusammenhängen, sollen bereits hier zur Sprache kommen. Zum einen Vorstellungen des Gesetzgebers, die sich direkt auf die 202 Vgl. zur „König-Midas-Metapher“ von Kelsen: Paeffgen, in: FS für Grünwald, S. 459 (in anderem Zusammenhang). 203 Um so erstaunlicher, wenn die Rechtsprechung dieser Entwicklung dann nachträglich wieder den Boden entzieht, indem sie plötzlich einen engeren Bandenbegriff postuliert; vgl. oben Fall 26. 204 Brugger, AöR 1994, 1 (23).

5. Vorstellungen des Gesetzgebers

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Frage des maßgeblichen Sprachgebrauchs beziehen (subjektiv-semantische Auslegung205), zum andern die Problematik, ob und in welchem Umfang im Gesetzgebungsverfahren aufgezählte Anwendungsbeispiele die Reichweite der Norm begrenzen. Die ähnliche Thematik des sich im Lauf der Zeit wandelnden Verständnisses von Begriffen (Extensionserweiterung) – etwa wegen fortschreitender Technik – wird unter dem Stichwort „Porosität“ im Abschnitt zur Wortlautgrenze behandelt. a) Vorstellungen des Gesetzgebers über den Sprachgebrauch Verwendet das Gesetz Begriffe der Alltagssprache, wird regelmäßig auch die Interpretation an dieses Verständnis anknüpfen. Ausnahmen, in denen nach nicht immer überzeugender Ansicht des BGH die Fachsprache landläufige Begriffe „umwidmet“, wurden bereits erörtert (oben ab Fall 47). Leicht fällt die Argumentation, wenn die Gesetzgebungsorgane in den Materialien ausdrücklich an den allgemeinen Sprachgebrauch anknüpfen, insoweit also Kongruenz vorliegt wie im folgenden Beispiel: Fall 52 (BGHSt GS 1, 158): Kann ein Wohnwagen, in den ein Dieb einsteigt, als „umschlossener Raum“ i. S. von § 243 I Nr. 2 StGB (a. F.) aufgefaßt werden oder muß eine feste Verbindung zur Erdoberfläche gegeben sein? Nach Ansicht des Großen Senats haben die Gesetzesmotive für die in § 243 StGB (a. F.) gebrauchten Begriffe „Gebäude“, „Behältnis“ und „umschlossener Raum“ ausdrücklich den allgemeinen Sprachgebrauch für maßgeblich erklärt (S. 163): „Der Entwurf hat es nicht für erforderlich gehalten, eine Reihe von Begriffen zu definieren, wie dies das Preußische Gesetzbuch allerdings getan, welche aber, wie beispielsweise die von ,umschlossenen Räumen‘, ,falschen Schlüsseln‘, von ,Einsteigen‘ und ,Einbrechen‘, dem gemeinen Leben angehören und ohne gesetzgeberische Erklärungen dem Verständnisse des Laien zugänglich und einander daher in Schwurgerichten auch ohne gesetzliche Erklärung werden richtig aufgefaßt und gehandhabt werden.“

Doch schon der nächste, denkwürdige Fall zeigt die Schwierigkeiten subjektiv-historischer Auslegung bei der Ermittlung der maßgeblichen Definition und die Hürden, die dem „gesetzgeberischen Willen“ durch die Praxis in den Weg gelegt werden können. Fall 53 (BGHSt 6, 100; 11, 199; 15, 138 – „Gemeingefahr“): Der 1952 eingeführte, bis 1964 geltende § 315a StGB stellt Straßenverkehrsgefährdungen unter Strafe, aus denen eine „Gemeingefahr“ resultiert. Hinsichtlich der Gemeingefahr verwies die Norm auf die Legaldefinition des § 315 III (a. F.), welche die Herbeiführung einer „Gefahr für Leib oder Leben, sei es auch nur eines einzelnen Menschen . . .“ verlangte. In BGHSt 11, 199 ging es um die Frage, ob die Gefährdung der Insassen des vom Täter gelenkten Fahrzeugs hierzu genügt, während BGHSt 15, 138 entscheiden mußte, ob das gezielte Zufahren auf eine bestimmte Person eine Gemeingefahr begründet. BGHSt 6, 100 hatte aus der Legaldefinition den naheliegenden 205

Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 86.

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III. Wortlaut und Wortsinn

Schluß gezogen, daß auch Fahrzeuginsassen, die nicht Teilnehmer der Tat sind, erfaßt sind. Anders jedoch BGHSt 11, 199:206 Der Wortlaut gebe Anlaß zu Mißdeutungen (S. 201), rechtfertige nur auf den ersten Blick eine Auffassung i. S. von BGHSt 6, 100 und stehe einer sinngemäßen Auslegung nicht entgegen (S. 203). Aus der Entstehungsgeschichte folge lediglich, daß die Gefährdung einer einzelnen Person ausreichen kann (S. 202). Dem Begriff der Gemeingefahr sei jedoch das Merkmal der „Unbestimmtheit“ des Personenkreises eigen, weshalb auch Verwandte und Bekannte des Täters nicht dem Schutzbereich der Norm unterfielen. Gegenteilige Anhaltspunkte aus der Entstehungsgeschichte, auf die Hartung207 in einer energischen Kritik an BGHSt 11, 199 hingewiesen hat, hält BGHSt 15, 138 (141 f.) für irrelevant: Aus Hartungs Ansicht ergäbe sich höchstens, „daß der Gesetzgeber sich über die wahre, dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechende Bedeutung dieses Merkmals geirrt haben könnte. Auf diese Bedeutung hatte u. a. noch die Begründung . . . zum Entwurf der Reichsratsvorlage von 1925 ausdrücklich mit den Worten hingewiesen: ,Die Voraussetzung einer Gefahr für Menschenleben ist erfüllt, wenn die Gefahr besteht, daß ein Mensch sein Leben verliert. Eine Mehrheit gefährdeter Personen wird nicht gefordert; doch darf die gefährdete Person nicht individuell bestimmt sein‘.208 Ein etwaiger Irrtum des Gesetzgebers würde aber den Richter nicht dazu berechtigen, den wirklichen – allgemein enger verstandenen – Sinn der im Gesetz gebrauchten Fassung außer acht zu lassen und nur den . . . Willen des Gesetzgebers zugrunde zu legen, wie Hartung meint. Nicht zustimmen kann der Senat der Ansicht des Bayerischen Obersten Landesgerichts, daß die Begriffsbestimmung in § 315 Abs. 3 StGB nach ihrer Wortfassung eindeutig und unmißverständlich sei. Der Vorlegungsbeschluß schränkt diese Annahme selbst durch den Hinweis ein, daß der Wortlaut ,erheblich über das hinausgeht, was gemeinhin als Gemeingefahr bezeichnet wird, und daß er von dem damals überkommenen Begriff der Gemeingefahr und vom allgemeinen Sprachgebrauch abwich‘.209 Gebraucht der Gesetzgeber jedoch einen in der Rechtssprache feststehenden Begriff, wie den der Gemeingefahr, in einem von seiner allgemein anerkannten Bedeutung abweichenden Sinn, so kann die Auslegung dies nur berücksichtigen, soweit es in dem Gesetz zweifelsfrei zum Ausdruck gekommen ist. Das ist aber entgegen der Annahme des Vorlegungsbeschlusses hier gerade nicht der Fall. Die gesetzliche Begriffsbestimmung bezeichnet als Gemeingefahr allgemein eine ,Gefahr für Leib oder Leben oder bedeutende Sachwerte. . .‘ und fügt hinzu, daß auch die Gefährdung eines einzelnen Menschen genügt. Sie sagt aber nichts darüber, ob darunter – abweichend von dem herkömmlichen Begriff der Gemeingefahr – auch ein von dem Täter als Angriffsziel ausge206 Eine Vorlage zum Großen Senat war nach Einführung der speziellen Zuständigkeit des 4. Senats für Verkehrsstrafsachen nicht mehr notwendig; krit. dazu – gerade in Hinblick auf BGHSt 11, 199 – Hartung, JZ 1958, 444 (445, r. Sp.). 207 Hartung, NJW 1960, 1417 (1418 f.); abl. auch Jescheck, GA 1959, 65 (80). 208 Der BGH verschweigt allerdings, daß der E 1925 den Begriff „Gemeingefahr“ noch anders definierte („Gefahr für Menschenleben oder in bedeutendem Umfange für fremdes Eigentum“) und nicht Gesetz wurde. Der Gesetzgeber von 1935 (Einführung des § 315 III StGB) hat auf das in der Begründung zum E 1925 vertretene Begriffsverständnis gar keinen Bezug genommen. Ausführlich zum ganzen Hartung, NJW 1960, 1417 (1418 f.) und NJW 1961, 131 f. (Anm. zu BGHSt 15, 138). 209 Das ist ein schwacher Einwand gegen das BayObLG, denn auch ein vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichender Gesetzeswortlaut kann „eindeutig“ sein.

5. Vorstellungen des Gesetzgebers

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wählter, individuell bestimmter Mensch . . . verstanden werden soll, was in der Begründung zum Gesetzentwurf von 1925 . . . ausdrücklich verneint worden war“.

Dem Willen des historischen Gesetzgebers werden kaum überwindbare Hürden gesetzt, indem der BGH „sein“ Begriffsverständnis selbst für den Fall postuliert, daß der Gesetzgeber von einem weiten Begriff der Gemeingefahr ausgegangen wäre – was nach Ansicht des vorlegenden Gerichts durch den Wortlaut sogar eindeutig und unmißverständlich belegt ist. Die Modifizierung eines in der Rechtssprache feststehenden Begriffs210 müsse der Gesetzgeber „zweifelsfrei“ zum Ausdruck bringen. Im Ergebnis verlangt der BGH somit für die Durchsetzung des (hier unterstellten) gesetzgeberischen Willens eine eindeutige Klarstellung und geht damit über die ansonsten aus der „Andeutungstheorie“ resultierenden Anforderungen, wonach der gesetzgeberische Wille zumindest einen Anhalt im Text gefunden haben muß (vgl. unten IV 3), weit hinaus. In den Verantwortungsbereich des Gesetzgebers, freilich durch den BGH gefördert, fällt folgende Sprachverwirrung, die in BGHSt 27, 45 (oben Fall 19) ihren Höhepunkt fand. Der Streit um des Merkmal „Absetzen“ in § 259 StGB (erfolgreicher Absatz notwendig?) hat seine Wurzeln u. a. in einer Änderung der Abgabenordnung: Fall 54 (BGHSt 23, 36; 27, 45): Bis 1939 konnte Steuerhehlerei sowohl durch das „Absetzen“ von Erzeugnissen als auch durch das „Mitwirken zum Absatz“ begangen werden (§ 403 AO a. F.). Der Gesetzgeber beschränkte 1939 den Wortlaut jedoch auf die Tathandlung des „Absetzens“. Im Gegensatz zu unveröffentlichten Entscheidungen des BGH, die das „Mitwirken zum Absatz“ vom Merkmal des „Absetzens“ als mitumfaßt ansahen, schließt BGHSt 23, 36 aus dieser Gesetzesänderung auf eine Einschränkung des Tatbestandes, auch wenn das den Absichten des Gesetzgebers nicht entspreche (S. 38). Unter „Mitwirken zum Absatz“ falle jede, auch untergeordnete Förderung, während das „Absetzen“ die selbständige Verfügungsgewalt des Handelnden über die Sache und eine erfolgreiche Übertragung der Verfügungsgewalt voraussetze. Ebenso hätten es die Verfasser des E 1962 gesehen und deshalb aus guten Grund im Tatbestand der Hehlerei die Absatzhilfe als eigenständige Alternative beibehalten.211 Stand in BGHSt 23, 36 noch die Frage der selbständigen Verfügungsgewalt, an der es im konkreten Fall gefehlt hatte, im Vordergrund, geriet in BGHSt 27, 45 der weitere Teil der oben wiedergegebenen Definition ins Blickfeld, nämlich die Problematik, ob die Übertragung der Verfügungsgewalt begriffsnotwendig erfolgreich sein muß. BGHSt 23, 36 hatte diese Thematik nicht zu behandeln, mit der genannten 210 Nach den sich widersprechenden Entscheidungen BGHSt 6, 100 und 11, 199 wird man kaum von einem in diesem Sinn feststehenden Begriff ausgehen dürfen. Daß die Definition in § 315 III StGB (a. F.) dem allgemeinen Sprachgebrauch zuwiderläuft (so das vorlegende Gericht) und in gewisser Weise in sich selbst widersprüchlich oder wenigstens unglücklich gewählt ist (vgl. Horn, JZ 1964, 646 [647, Fn. 8]), kann man schwerlich bezweifeln. Gegenüber dem allgemeinen Sprachgebrauch ist die gesetzliche Definition aber in jedem Fall vorrangig. 211 Daß aus dieser Formulierung des E 1962 jedoch andere Probleme folgten (BGHSt 27, 45), hat der BGH nicht erahnt.

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III. Wortlaut und Wortsinn

Definition die Frage aber eigentlich (unbeabsichtigt?) im positiven Sinn vorentschieden. Die Ausgangslage von BGHSt 27, 45 wich freilich von der oben geschilderten leicht ab: Die ursprüngliche Fassung des § 259 StGB enthielt die Tathandlung des „Mitwirkens zum Absatz“, die im umfassenden Sinn verstanden wurde, aber nach Ansicht des Gesetzgebers gerade den völlig selbständig handelnden Hehler nicht zutreffend charakterisierte. Was dem Gesetzgeber somit vorschwebte, um ohne Änderung des übrigen Anwendungsbereichs die Problematik von Täterschaft und Teilnahme sachgerecht zu regeln, wäre mit der ursprünglichen Fassung der Steuerhehlerei (siehe oben) zutreffend zum Ausdruck gebracht worden! Statt dessen wählte er die Formulierung „absetzt oder absetzen hilft“, wodurch zwar die Beteiligungsformen adäquat erfaßt wurden, jedoch für den selbständig handelnden212 Täter die Frage nach dem Erfolg der Veräußerung provozierte. Hätte der Gesetzgeber die Gründe von BGHSt 23, 36, insbesondere die Definition des „Absetzens“ sorgfältig studiert, wäre der Konflikt zu vermeiden gewesen. Der BGH springt jedoch – anders als im vorgenannten Beispiel – dem Gesetzgeber zur Seite und betont, daß eine Einschränkung mit der Neufassung des Tatbestandes nicht beabsichtigt gewesen sei (S. 49). Sprachlich könne „ohne weiteres“ auch das bloße Tätigwerden als „Absetzen“ angesehen werden (S. 50).213 Den Lapsus des Gesetzgebers214 relativiert der BGH schließlich mit der zweifelhaften Auslegungsregel, daß ein nur zur Klarstellung neugefaßter Tatbestand nicht so sehr nach dem Wortlaut interpretiert werden dürfe, wie ein neugefaßter Gesetzestext. Die inhaltlich wie auch im methodologischen Duktus entgegenstehende Entscheidung BGHSt 23, 36 wird nicht erwähnt.

Als Ergebnis bleibt festzuhalten: Im günstigsten Fall stehen Vorstellungen des Gesetzgebers über die Wortbedeutung in Einklang mit einem „objektiven“ – alltags- oder fachsprachlicher Konvention entsprechenden – Begriffsverständnis. Die Gesetzesverfasser können sich freilich irren oder ihre Ziele nur unvollkommen zum Ausdruck bringen; die Durchsetzung des „gesetzgeberischen Willens“ hängt dann in gewisser Weise vom Wohlwollen der Rechtsprechung ab, die (auch vom Standpunkt der Legislative aus gesehen) unzureichend formulierte Gesetze mal mehr (BGHSt 23, 36), mal weniger (BGHSt 27, 45) beim Wort nimmt.215 b) Aufzählung von Anwendungsbeispielen in den Gesetzesmaterialien Die Wortbedeutung wird weiterhin dadurch beeinflußt, daß die Gesetzesverfasser in den Materialien den Anwendungsbereich der Norm durch das Aufzählen von Beispielen oder durch das Erörtern von problematischen Fällen verdeut212 Ein Rückgriff auf die Alternative „Absatzhilfe“ kam wegen der Selbständigkeit des Täters nicht in Frage. 213 Zur entgegengesetzten, später aber aufgegebenen Ansicht des 2. Senats (der eindeutige Wortlaut setzt den Absatzerfolg voraus!) siehe NJW 1976, 1698 (1699) und Fn. 53 sowie den dazugehörigen Text. 214 Fezer, NJW 1975, 1982: Die beabsichtigte Klarstellung hat zu einer Unklarheit an anderer Stelle geführt. 215 Näher zu den Voraussetzungen der Gesetzesberichtigung unten IV 8.

5. Vorstellungen des Gesetzgebers

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lichen. Dem Gesetzesvorhaben geht ja konkretes Anschauungsmaterial voraus, das den Gesetzgeber zum Handeln bzw. zur Abstrahierung veranlaßt. Um die Bedeutung der abstrakten Gesetzesbegriffe (= Intension) zu ermitteln, liegt es nahe, auf umgekehrten Wege den Abstrahierungsprozeß mit Hilfe der im Gesetzgebungsverfahren genannten Beispiele nachzuvollziehen, also aus der gesetzgeberisch vorgesehenen oder zugrundegelegten Extension auf die Intension zu schließen.216 Mit der dabei gewonnenen Definition kann der konkret zu entscheidende Fall unter Umständen bereits entschieden werden. Daß der BGH so verfährt und sich zuweilen mehr Anschauungsmaterial vom Gesetzgeber wünscht217, ist nicht zu bezweifeln. Fraglich ist allein, wie weit die in den Materialien genannten Anwendungsbeispiele die Intension bestimmen und dadurch eine Art Bindungswirkung erzeugen können. Klar ist, daß eine nur beispielhafte Aufzählung kein abschließender Katalog sein kann, sondern lediglich der Erläuterung dient. So kann als „technisches Mittel“ für Observationen i. S. von § 100c StPO auch ein satellitengestütztes Navigationssystem („GPS“) angesehen werden, auch wenn dieses zum Zeitpunkt des Normerlasses noch nicht existierte und die Materialien als Beispiel für technische Mittel nur „Peilsender“ ausdrücklich nennen (BGHSt 46, 266 [272]). — Durch eine beispielhafte Aufzählung („so etwa“) ist es nicht ausgeschlossen, den nicht genannten, privatrechtlich organisierten Verwaltungsträger dennoch als „sonstige Stelle“ i. S. von § 11 I Nr. 2c StGB (a. F.) aufzufassen (BGHSt 43, 370 [376]). — Die in den Materialien erwähnte „Autofalle“ schließt es nicht aus, auch einen Mofafahrer als von § 316a StGB geschützten „Kraftfahrer“ anzusehen (BGHSt 39, 249 f.).

Schwieriger wird es, wenn den genannten Beispielen eine Gemeinsamkeit anhaftet, die damit als notwendige Eigenschaft des abstrakten Gesetzesbegriffs erscheint. Zwei bereits erwähnte Fälle verdeutlichen die Problematik: In BGHSt 1, 1 (oben Fall 51: Salzsäure als „Waffe“?) mußte der BGH sich mit der gegen seine Ansicht sprechenden, in RGR 4, 298 näher dargelegten Entstehungsgeschichte des § 223a StGB a. F. auseinandersetzen. Die Gesetzesverfasser hatten unter dem Ausdruck „Waffe“ eindeutig nur mechanisch wirkende Gegenstände verstanden und folglich auch nur entsprechende Beispiele aufgezählt (RGR 4, S. 299; RT-Berichte 1876, S. 802, r. Sp.). Gleichwohl läßt der BGH die Subsumtion nicht scheitern. Der Gesetzgeber habe sich am allgemeinen und technischen Sprachgebrauch orientiert, durfte deshalb beim damaligen Stand der Waffentechnik am Merkmal der mechanischen Einwirkung anknüpfen (S. 2). Die zugrundeliegenden Auffassungen seien jedoch dem Wandel der Zeiten unterworfen, die Waffentechnik vorangeschritten und der allgemeine Sprachgebrauch dieser gefolgt (S. 2 und 3). Ein etablierter strafrechtlicher Waffenbegriff stehe diesem Bedeutungswandel nicht entgegen. — Ähnlich liegt BGHSt 22, 235 (oben S. 88: Hauswand als „gefährliches Werkzeug“?): Die aus den Materialien ersichtlichen Beispiele sprechen nach Ansicht des BGH für eine Beschränkung auf bewegliche Gegenstände (S. 236). 216 217

Zur Terminologie siehe bereits oben III 1 und die Nachweise in Fn. 2 und 3. Z. B. in BGHSt 42, 306 (308).

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III. Wortlaut und Wortsinn

Beide Beispiele machen deutlich: Läßt die Exemplifizierung in den Materialien mit hinreichender Deutlichkeit auf eine notwendige Eigenschaft des Begriffs (mechanische Wirkung der Waffe, Beweglichkeit des Werkzeugs) und damit zumindest auf einen Bestandteil der Intension schließen, so wird das die Rechtsanwendung kaum ignorieren können. BGHSt 1, 1 muß insoweit erheblichen Begründungsaufwand leisten, um den Bedeutungswandel zu rechtfertigen, und ob die auf einen Wandel der tatsächlichen Verhältnisse abstellende Argumentation des BGH dem Analogieverbot standhält, ist an anderer Stelle noch zu untersuchen.218 Bemerkenswert bleibt jedenfalls die Tatsache, daß die doch recht konkreten Vorstellungen der Gesetzesverfasser zum Begriffsinhalt des Ausdrucks „Waffe“ nach Ansicht von BGHSt 1, 1 keinen feststehenden juristischen Sprachgebrauch zu begründen vermögen, der wohl auch durch einen technischen Wandel nicht zu überwinden gewesen wäre. Zu beachten ist schließlich der Vorbehalt, unter dem jede historische (genetische) Auslegung nach überwiegender Auffassung steht: Hat die Ansicht der Gesetzesverfasser nach Auffassung des BGH im Gesetzeswortlaut keinen Ausdruck gefunden219, ist ihre Berücksichtigung keinesfalls zwingend. Im Ergebnis ist die Aufzählung von Anwendungsbeispielen in den Gesetzesmaterialien als wichtiges Hilfsmittel bei der Konkretisierung der abstrakten Gesetzesbegriffe anzusehen, ohne daß die Intension der Wörter damit unzweifelhaft feststünde. Aber selbst wenn die Beispiele im Gesetz selbst aufgezählt würden („exemplifizierende Gesetzestechnik“), wären nicht alle Fragen geklärt. Hätte der Gesetzgeber z. B. in § 223a StGB formuliert „Waffe, insbesondere eines Messers, Knüppels, Schlagrings oder sonstigen mechanisch wirkenden Gegenstandes“, so würde zwar einiges dafür sprechen, die mechanische Wirkung als notwendiges Begriffselement der „Waffe“ zu begreifen. Zwingend wäre diese Folgerung jedoch nicht, wie der BGH in einer parallelen und bereits dargestellten Situation (BGHSt 13, 5 = oben Fall 31, „quellfähige Bindemittel“) deutlich gemacht hat.

6. Zusammenfassung zu III. 1.–5. Argumente aus dem Bereich des Gesetzeswortlauts sind variationsreich und vielfältig mit den übrigen Auslegungskriterien verknüpft. Zur Bedeutungsfeststellung bieten sich zunächst gesetzliche Definitionen an, die allerdings ihrerseits in die Mühlen der Auslegung geraten und Probleme der Wortauslegung bergen (III 3 a). Zahlreich sind Fälle, in denen der BGH bereits den Wortlaut für „eindeutig“ hält (III 3 b). Die Feststellung sprachlicher Evidenz ist sowohl 218

Siehe unten III 7 d und e („Porosität“ und „Bedeutungswandel“). Wann das der Fall ist und ob diese „Andeutungstheorie“ überzeugt, wird im Kapitel Entstehungsgeschichte erörtert (unten IV 3). 219

6. Zusammenfassung zu III. 1.–5.

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bei gemein- als auch bei fachsprachlichen Begriffen denkbar, setzt teilweise allerdings erhebliches dogmatisches Vorwissen voraus; wie brüchig der Boden der Evidenz sein kann, zeigt sich aber, wenn bislang Selbstverständliches plötzlich begründet werden muß. Die Rechtsprechung ist weitgehend der Ansicht, eine bereits sprachlich eindeutige Norm bedürfe keiner weiteren Auslegung (III 3 c). Aus vielerlei Gründen erörtert der BGH dennoch häufig zusätzliche Auslegungskriterien; einen Widerspruch zur Eindeutigkeitsregel muß man darin nicht sehen. Als ähnlich angreifbar wie die Evidenzbehauptung „eindeutig“ kann sich die oftmals anzutreffende Tendenzanzeige erweisen, „schon der Wortlaut“ lege eine bestimmte Interpretation nahe (III 3 d). Die Senate bedienen sich dieser Argumentation auch in sprachlichen Zweifelsfällen und wecken damit den Verdacht, inhaltliche Begründungsprobleme überdecken zu wollen. Orientierung bei der Ermittlung der alltagssprachlichen Bedeutung bieten Wörterbücher und Lexika, auf die der BGH insgesamt gesehen aber nur selten zurückgreift (III 3 e). Eine Gefahr besteht insoweit darin, extensive und in Hinblick auf Art. 103 II GG bedenkliche Wortinterpretationen zu rechtfertigen. Wichtige Hilfsmittel zur Bedeutungsermittlung sind Syntax und Kontext der Norm (III 3 f). Bereits einfache Satzstrukturen bereiten zum Teil erhebliche Schwierigkeiten. Objektiv-systematisch angezeigte Gegenschlüsse können mit dem Willen des Gesetzgebers in Konflikt geraten. Mit dem Hinweis darauf, daß der Gesetzgeber sonst anders formuliert oder formulieren würde, nutzen die Senate häufig ein weiteres systematisches Argumentationsmuster (III 3 g). Dabei wird dem Gesetzgeber mitunter ein zu hohes Maß an stringenter Begriffsverwendung unterstellt. Besondere Schwierigkeiten der Wortauslegung entstehen, wenn der fallentscheidende Normtext sich erst aus verschiedenen, unter Umständen nicht miteinander abgestimmten Normen zusammensetzt (III 3 h). Unmittelbaren Einfluß auf die sprachliche Auslegung hat die teleologische Begriffsbildung (III 3 i). Schwierige Fragen bietet der Themenkomplex Alltagssprache/Fachsprache (III 4). Aus der Tatsache, daß Gesetzestexte sich stets der Alltagssprache bedienen, ergeben sich erhebliche Friktionen, insbesondere wenn ein Begriff sowohl gemein- als auch fachsprachlich verstanden werden kann („Sprachspaltung“). Einerseits bestehen Tendenzen zur Flucht aus der Fach- in die Alltagssprache, andererseits zur Verbiegung von typischen Alltagsbegriffen durch eine angebliche fachsprachliche Bedeutung (III 4 b). Vorrangig ist die (feststellbare) juristische Fachsprache. Maßgeblichen Einfluß auf die Feststellung der Wortbedeutung hat die Entstehungsgeschichte (III 5), die zum einen unmittelbar Aufschluß über die sprachlichen Vorstellungen der Gesetzesverfasser gibt (III 5 a) oder etwa durch die in den Gesetzesmaterialien genannten Anwendungsbeispiele der Norm Schlußfolgerungen auf die Intension zuläßt (III 5 b). Ob die Vorstellungen der Gesetzesverfasser bindend sind, wird an anderer Stelle untersucht (unten IV).

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III. Wortlaut und Wortsinn

7. An der Wortlautgrenze Stand bislang die Frage im Zentrum, auf welche Weise die Bedeutung der Gesetzesausdrücke ermittelt werden kann, geht es nunmehr um den Grenzbereich von Auslegung und Rechtsfortbildung. Zu differenzieren ist insoweit zwischen den theoretischen Vorfragen, die das Grenzkriterium des „möglichen Wortsinns“ aufwirft (7 a–f), und dem tatsächlichen Umgang des BGH mit diesem Kriterium (7 g). Bei den Vorfragen ist etwa zu prüfen, ob der mögliche Wortsinn von den Senaten überhaupt als maßgebliche Trennlinie anerkannt wird, ob die Wortsinngrenze alltags- oder fachsprachlich bestimmt wird und ob sie dem Wandel technischer und sozialer Umstände Rechnung tragen kann. Nach Klärung der Vorfragen ist zu untersuchen, wie der BGH in strittigen Einzelfällen argumentiert. Dabei werden viele aus den Lehrbüchern und Kommentaren bekannte und oft malträtierte Beispiele auftauchen; ob es sich dabei – wie häufig behauptet – wirklich um „Sündenfälle“ handelt, die an der Tauglichkeit des Abgrenzungskriteriums grundsätzlich zweifeln lassen, bedarf näherer Prüfung. a) Ist der Wortlaut (mögliche Wortsinn) Grenze der Auslegung? Der BGH geht implizit und explizit vom möglichen Wortsinn als entscheidender Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung aus. Schon im ersten Band der amtlichen Sammlungen finden sich entsprechende Bekenntnisse, wenn etwa der Große Strafsenat eine Auslegung nach dem Zweck der Vorschrift nur soweit zuläßt, wie es der Wortlaut gestatte (BGHSt GS 1, 158 [166]). Das „sprachlich Mögliche“ als Grenze der Gesetzesinterpretation wird ausdrücklich festgehalten in BGHSt 3, 300 und 4, 144 (vgl. oben S. 80). Unmißverständlich formuliert der BGH unter anderem in folgenden Entscheidungen: „Diese zutreffenden und zu billigenden rechtspolitischen Erwägungen können und müssen dann bei der Auslegung des Gesetzes berücksichtigt werden, wenn sein Wortlaut dies gestattet.“ (BGHSt 8, 343 [345]) Ähnlich BGHSt 13, 287 (289): Dem Strafrichter sei es „schon ganz allgemein verwehrt“, „sich mit rechtspolitischen Erwägungen über den Wortlaut des Gesetzes hinwegzusetzen“. „Die Auslegung einer strafrechtlichen Norm findet ihre Grenze im möglichen Wortsinn. Jenseits dieser Grenze beginnt die Analogie, die nur zugunsten eines Beschuldigten zulässig ist. Das folgt aus dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG; § 1 StGB).“ (BGHSt 37, 226 [230])220 Pathetisch und nicht ganz so deutlich: „denn es ist nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepaßt weitergelten will, solange dies nicht die Form sprengt, in die er gegossen ist“. (BGHSt 10, 157 [160]) 220 Ebenso z. B. BGHSt 39, 112 (114): dort als „ständige Rechtsprechung“ bezeichnet; 40, 272 (279); 41, 285 (286); 43, 237 (238); 48, 354 (357).

7. An der Wortlautgrenze

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Das Gericht befindet sich damit im Einklang mit Äußerungen des BVerfG221 und den weitaus überwiegenden Stimmen in der Literatur222. Diese Begrenzung staatlicher Macht wird als rechtsstaatliche Errungenschaft anerkannt, die in Art. 103 II GG (§ 1 StGB) ihr positivrechtliches Fundament mit grundrechtsgleicher Wirkung gefunden hat. Der Bürger soll als letztlich Betroffener vor unvorhersehbaren (richterlichen) Entscheidungen geschützt werden.223 Erkennen kann er den Bereich strafbaren Handelns im Ergebnis nur anhand des geschriebenen Textes.224 Daß die Grenzziehung gerade auf sprachlicher Ebene erfolgt, nicht aber nach rein juristischen Kriterien, ist eine Konsequenz der adressatenbezogenen Verständnisses von Art. 103 II GG. Ob dieses Bild eines sich stets informierenden Bürgers ein realitätsnahes ist,225 spielt für die Interpretation des Art. 103 II GG keine Rolle. Das Ziel der Norm mag idealistisch oder gar naiv sein, doch bindend ist es allemal und überlegene Konzeptionen sind nicht ersichtlich. Der BGH hat eine nähere rechtstheoretische bzw. verfassungsrechtliche Herleitung des Wortlautkriteriums allerdings nie unternommen. BGHSt 18, 136 (139 f.) betont zwar die grundrechtliche Fundierung des Analogieverbots, folgert daraus aber nur recht allgemein, daß die Strafdrohung „im positiven Strafgesetz festgelegt“ sein müsse und die Verhängung „nicht ausdrücklich vorgesehene[r] Haupt- und Nebenstrafen“ unzulässig sei.

Bereits in den theoretischen Vorbemerkungen wurde erwähnt, daß die Sache nicht immer so klar lag und das höchste Strafgericht mitunter das semantische Grenzkriterium – bewußt oder unbewußt – in Frage gestellt hat. Die betreffenden Entscheidungen mögen in rechtstheoretischer Hinsicht überholt sein, lohnen aber noch immer der Betrachtung. Fall 55 (BGHSt 6, 394 – Zuchtmittel als „Strafe“?): Der Entzug der Fahrerlaubnis gemäß § 42m StGB a. F. setzte eine Verurteilung des Fahrzeugführers zu einer 221 BVerfGE 105, 135 (157); 92, 1 (12); 82, 236 (269); 73, 206 (235); 71, 108 (115); 64, 389 (393); 47, 109 (124). 222 Statt vieler Bydlinski, Methodenlehre, S. 467 f.; Krey, Studien, S. 146 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 322; Looschelders/Roth, Methodik, S. 296; Roxin, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 26 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 47. 223 Daß nach überwiegender Ansicht Art. 103 II GG außerdem die „Wertentscheidung“ des Gesetzgebers vor judikativen Übergriffen schützen soll, also eine Kompetenzabgrenzung sichert (z. B. Looschelders/Roth, Methodik, S. 295), spielt hier keine Rolle, und vermag angesichts der diesen Aspekt bereits erfassenden Art. 20 III, 97 I GG auch kaum zu überzeugen. Auch das BVerfG stellt vorrangig auf den Gedanken des Vertrauensschutzes ab, vgl. BVerfGE 64, 389 (394) und Jähnke, in: BGH-FS, S. 399. 224 Näher Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 56. Nicht überzeugend ist allerdings die plakative Aussage, daß vom gesetzgeberisch Angeordneten nur dem Gesetzestext „Autorität“ zukomme (so z. B. Krey, Studien, S. 147) – eine Annahme, die von einer subjektiv-historischen Auslegungstheorie in jedem Fall bestritten würde. Ferner wird für das Abgrenzungskriterium „möglicher Wortsinn“ der Aspekt der Prävention geltend gemacht, vgl. z. B. Roxin, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 30. 225 Schmidhäuser, in: GedS für Martens, S. 240 f.: Rechtsstaatliche Utopie.

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III. Wortlaut und Wortsinn

Strafe (oder einen Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit) voraus. Wie steht es mit einem Jugendlichen, der wegen eines Verkehrsvergehens nicht zu (Jugend-) Strafe, sondern zu einem Zuchtmittel verurteilt wird. Die Problematik resultiert aus einer begrifflichen Inkompatibilität zwischen allgemeinem Strafrecht und Jugendstrafrecht. Fest steht: Ein Zuchtmittel i. S. des JGG ist keine „Strafe“ i. S. des Erwachsenenstrafrechts. Davon möchte auch der BGH nicht – etwa durch eine Ausdehnung des Wortverständnisses226 in § 42m (a. F.) – abgehen. Gleichwohl soll in Anbetracht von Sinn und Zweck sowie von andernfalls eintretenden unerträglichen Folgen die Norm zur Anwendung gelangen. Entscheidende Voraussetzungen der Maßnahme seien eine Verurteilung wegen einer entsprechenden Tat oder ein Freispruch mangels Zurechnungsfähigkeit (S. 396).227 An die Verurteilung zu Strafe knüpfe das Gesetz allein deshalb an, weil ganz überwiegend erwachsene Täter betroffen seien.228 Einer Ahndung der schuldhaften Tat durch Strafe stehe insoweit jedoch die Verhängung eines Zuchtmittels gleich; beiden Fällen sei das Einstehen für Unrecht gemeinsam (S. 397).229 Daß § 42m (a. F.) von Strafe spricht, sei letztlich kein Hindernis, und verführt den BGH zu einer fragwürdigen Aussage: „Aber durch den Wortlaut ist die Auslegung der Bestimmung nicht begrenzt; es kommt vielmehr auf den Sinn und Zweck an, den der Gesetzgeber – nach ihrer Stellung im Gesetz – erkennbar verfolgt hat.“ (BGHSt 6, 394 [396])

Fraglich ist allerdings, wie dieser Satz zu verstehen ist. Drei Möglichkeiten sind denkbar. Erstens könnte der BGH damit eine allgemeingültige rechtstheoretische Aussage getroffen, zweitens eine Ausnahme von der Wortlautgrenze für den vorliegenden Fall formuliert haben oder drittens annehmen, daß der Wortlaut hier zwar als Argument eher gegen die zutreffende (befriedigende!) Lösung spricht, im Ergebnis aber doch nicht überschritten ist. Keine dieser Deutungen will recht überzeugen. Bei Zugrundelegung der dritten Variante, müßte dem BGH eine sehr ungeschickte Formulierung seiner Auffassung unterstellt werden. Für die zweite Deutung hat sich Neumann230 ausgesprochen, vor allem unter Hinweis auf die vom BGH verwendete Formulierung „Auslegung der Bestimmung“ – im Unterschied etwa zu „Auslegung einer strafrechtlichen Bestimmung“. Hiergegen bleibt jedoch einzuwenden, daß eine solche Einschränkung besser durch das Demonstrativpronomen „dieser“ (Bestimmung) zum Ausdruck gekommen wäre, und auch im übrigen ist dem Satz eine generalisierende Tendenz zu entnehmen.231 Der BGH hat in späteren Urteilen allerdings nicht mehr

226 Diesen Weg schlägt Zimmermann, NJW 1956, 1262 (l. Sp.) vor: Bestimmung des Worts „Strafe“ nach Sinn und Zweck des § 42m StGB (a. F.). Weil das ältere StGB auf die Terminologie des JGG nicht abgestimmt sei, plädiert auch Potrykus (MDR 1955, 72) für einen weiten Begriff von „Strafe“. 227 In diesem Sinn hat der Gesetzgeber die Norm im 2. Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 26.11.1964 klargestellt (BGBl. I, S. 921). 228 Das mag faktisch zutreffen, hilft aber in normativer Hinsicht nicht weiter. 229 Ähnlich LG Bonn NJW 1954, 653: Unter Strafe i. S. von § 42m StGB (a. F.) seien generell die Rechtsfolgen einer Straftat zu verstehen. 230 Neumann, in: Juristische Dogmatik, S. 45 f.

7. An der Wortlautgrenze

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auf die grundsätzliche Aussage in BGHSt 6, 394 rekurriert, obwohl z. B. BGHSt 10, 375 (sogleich Fall 57) bestens dazu geeignet gewesen wäre.232 Auch die nächste Entscheidung hinterläßt zumindest Zweifel, ob sie die Wortlautgrenze anerkennt: Fall 56 (BGHSt 8, 66): Nach alter Rechtslage konnte als Nebenstrafe233 die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte ausgesprochen werden (§ 32 StGB a. F.), was u. a. zum zeitlich befristeten Verlust des passiven Wahlrechts führte (§ 34 Nr. 2 a. F.). Der im Urteil bestimmte Zeitraum der Aberkennung begann erst am Tag der Verbüßung der Hauptstrafe (§ 36 I a. F.). Im Abschnitt über den Landesverrat sah § 98 I a. F. als mögliche, zeitlich befristete Nebenfolgen hingegen nur einzelne Maßnahmen wie etwa auch den Verlust der Wählbarkeit vor, nicht aber die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte insgesamt. Allerdings bestimmte § 98 a. F. nicht den Fristbeginn. Konnte insoweit auf § 36 I a. F. zurückgegriffen werden, der ausdrücklich an die Aberkennung der Ehrenrechte (insgesamt) anknüpft, oder mußte zugunsten des Verurteilten die Frist womöglich schon ab dem Tag der Verurteilung oder dem Eintritt der Rechtskraft beginnen? Sicher ist, daß Sinn und Zweck der Regelung und die nahe Verwandtschaft der Maßnahmen für eine Gleichbehandlung, also für einen Rückgriff auf § 36 (a. F.) sprachen. Der BGH führt ungeschickt in die Problematik ein und weckt unmittelbar den Verdacht einer verbotenen Analogie (S. 67): „Für den sachlichen Inhalt der begehrten Entscheidung ist im Gesetz keine ausdrückliche Regelung enthalten.“ Ob das ein Versehen des Gesetzgebers gewesen sei, könne dahinstehen (S. 68). „Denn die Antwort auf die Zweifelsfrage ist in der Tat bereits aus dem geltenden Recht zu gewinnen.“ Sodann zeigt der BGH anhand systematischer und rechtspolitischer Erwägungen eingehend auf, daß die Anwendung des § 36 I (a. F.) auch im vorliegenden Fall die einzig sinnvolle Lösung sei. Den Vorwurf der verbotenen Analogie sucht der BGH wie folgt zu entkräften: „Denn dieses Verbot will nur verhindern, daß ein Strafgesetz auf ein menschliches Verhalten angewandt wird, auf das es sich nicht erkennbar erstreckt. Ist aber aus dem Wortlaut und Sinn einer gesetzlichen Regelung erkennbar, daß sie für einen wenn auch nicht ausdrücklich erfaßten Sachverhalt in gleicher Weise gelten will wie für den im Gesetz ausdrücklich behandelten Fall, dann ist die Anwendung des Gesetzes auf jenen Sachverhalt eine erlaubte und gebotene Auslegung, der sich der Richter nicht entziehen darf.“ (BGHSt 8, 66 [70])

In Konsequenz dieser Ausführungen müßte aus § 36 (a. F.) nach seinem Wortlaut (!) und Sinn erkennbar sein, daß auch der nicht ausdrücklich geregelte Sachverhalt erfaßt sein soll. Diese subtile Differenzierung des Senats234 ist si231 Als ausdrückliches Abrücken von der Wortlautgrenze wird die Entscheidung auch von Jescheck (GA 1956, 97 [98]) und Roxin (Strafrecht AT I, § 5, Rn. 34, Fn. 51) gedeutet. 232 Ähnlich wie BGHSt 6, 394 und ebenfalls zu § 42m StGB a. F. allerdings BGHSt GS 10, 94 (unten Fall 83): Da der Gesetzgeber die Problematik nicht bedacht hat, komme der „bloßen Wortfassung“ keine maßgebliche Rolle zu (S. 96 f.). 233 Die Anwendbarkeit des Analogieverbots auf Nebenstrafen und -folgen sowie Maßregeln ohne Strafcharakter (wie z. B. § 42m StGB a. F.) ist nicht zweifelhaft; ausdrücklich: BGHSt 18, 136 (140).

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III. Wortlaut und Wortsinn

cherlich durchführbar, aber zumindest mißverständlich und zur Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung auch nicht hilfreich.235 Selbstverständlich verlangt die Wortlautgrenze nicht, daß der konkrete Lebenssachverhalt sich unmittelbar („ausdrücklich“) in der abstrakten Norm wiederspiegelt. Damit wäre das Wesen von Gesetzgebung, konkrete Umstände in abstrakte Merkmale zu fassen, von vornherein verfehlt. Die Einsicht, daß zur Einhaltung der Wortlautgrenze die Vereinbarkeit der Subsumtion mit dem Gesetzeswortlaut genügt, hätte aber nicht der kryptischen Formulierung des Senats bedurft. Vereinfacht könnte die Argumentation folgendermaßen aussehen: „§ 98 (a. F.) enthält keine Fristbestimmung. Die nach dieser Norm möglichen Maßnahmen fallen jedoch unter den Sammelbegriff der „bürgerlichen Ehrenrechte“. Für deren (vollständigen) Entzug bestimmt § 36 (a. F.) den Fristbeginn auf . . . Wenn diese Anordnung für den Sammelbegriff gilt, kann für die darin enthaltenen Einzelfälle nichts anderes gelten, denn der weitere Begriff umfaßt den engeren mit.“

Freilich kann auch diese Begründung nichts daran ändern, daß ein auf unbefriedigender Gesetzeslage beruhender Grenzfall gegeben ist. Nur spricht nichts dafür, diese Tatsache hinter umständlichen Erwägungen zu verbergen.236 Klarer liegen die Dinge im folgenden Beispiel – einem Lieblingskind methodenkritischer Stimmen: Fall 57 (BGHSt 10, 375 – „Forstdiebstahl“): § 3 I Nr. 6 des preußischen Forstdiebstahlsgesetzes von 1878 verschärfte die Strafe für Forstdiebstahl, wenn der Täter ein „bespanntes Fuhrwerk“ oder ein „Lasttier“ benutzte. Der BGH hält die Norm auch bei Verwendung eines Kraftfahrzeugs für anwendbar. Dem bloßen Wortlaut nach falle es zwar nicht unter die Vorschrift, wohl aber nach ihrem Sinn (S. 375). Der Gesetzgeber habe angesichts der technischen Situation noch keinen Anlaß für die ausdrückliche Erfassung von Kraftfahrzeugen gesehen.

Die Argumentation des BGH ist apodiktisch und klar, aber in Anbetracht des im Raum stehenden Verstoßes gegen das Analogieverbot erstaunlich unreflektiert.237 Die der Entscheidung implizit zugrunde liegende Annahme, der Wort234 Sie taucht später nochmals in anderem Zusammenhang auf, vgl. BGHSt 47, 249 (251) und BGH NJW 2002, 765 (unten in Kap. V den Text vor Fn. 79). 235 Als Absage an das Grenzkriterium „Wortlaut“ deutet die Entscheidung z. B. Bindokat, JZ 1969, 541 (542, l. Sp.). Vgl. die Formulierung aus BGHSt 8, 66 auch mit den Ausführungen aus BGHSt 18, 136 (oben vor Fall 55). 236 Die oben wiedergegebene Formulierung aus BGHSt 8, 66 (70) greift der Gerichtshof in BGHSt 15, 118 (122) nochmals auf: „Diese Rechtsprechung enthält keine unzulässige Analogie; denn sie wendet das Strafgesetz lediglich nach dem ihm innewohnenden Sinn und Zweck an, dehnt es aber nicht auf solche Verhaltensweisen aus, für die es nach dem erkennbaren Gesetzeswillen nicht gelten soll (vgl. BGHSt 8, 68 [richtig: 66, E. S.], 70 zu IV).“ Ein klares Bekenntnis zur Wortlautgrenze wird man auch dieser, im Vergleich zu BGHSt 8, 66 (70) zwar weniger kryptisch, aber letztlich zu allgemein gehaltenen Formulierung nicht entnehmen können. 237 Die (Nicht-)Begründung durch den BGH wird von Hassemer (in: AK-StGB, § 1, Rn. 91) plastisch „Argumentation durch Unterlassen“ genannt. Das höchste Straf-

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laut (mögliche Wortsinn) begrenze die Auslegung (zumindest hier) nicht,238 widerspricht der vom BGH – mit Ausnahme von BGHSt 6, 394 – selbst in vielen Äußerungen vertretenen methodologischen Konzeption. Nur unter diesem Aspekt ist BGHSt 10, 375 überhaupt kritisierbar, während die Wortlautüberschreitung selbst außer Frage steht und vom Senat ja auch nicht kaschiert wird. Vereinzelt wird der Versuch unternommen, die Entscheidung unter Hinweis auf die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse als zulässige Gesetzeskorrektur auszuweisen.239 Betrachtet man jedoch als zentrales Anliegen des Art. 103 II GG den Schutz des Normadressaten vor unvorhersehbarer Rechtsanwendung und als Maßstab für die Erkennbarkeit des Regelungsbereichs den möglichen Wortsinn, dann bleibt ein solcher Rechtfertigungsversuch unhaltbar. Vom Bürger kann nicht erwartet werden, den Anwendungsbereich der Norm den realen Verhältnissen entsprechend weiterzuentwickeln, wenn es hierfür am sprachlichen Rahmen fehlt. Die Problematik wird unter dem Stichwort Porosität nochmals aufgegriffen und näher behandelt (unten III 7 d). Eine weitere Entscheidung soll zum Ausgangspunkt zurückführen und die Frage nach alternativen Abgrenzungskriterien zwischen der Rechtsanwendung secundum und praeter legem aufwerfen. Fall 58 (BGHSt 28, 48): Die Angeklagten hatten ihre Aufsichtspflichten als Dienstvorgesetzte im Bereich militärischer Geldverwaltung verletzt, was zu einem erheblichen finanziellen Schaden führte. Dieses Verhalten war ohne weiteres vom Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen (§ 41 i.V. m. § 2 WStG) erfaßt, denn die von § 41 WStG vorausgesetzte „schwere Folge“ der Pflichtverletzung besteht nach der Begriffsbestimmung des § 2 Nr. 3 auch in einer Gefahr für Sachen (hier: Geldscheine) von bedeutendem Wert. Jedoch folgert der BGH aus dem Zusammenhang mit den übrigen in § 2 Nr. 3 genannten Folgen (Gefahr für die Sicherheit, Gefahr für die Schlagkraft der Truppe usf.), daß zwischen dem Verhalten der Täter und den Tatfolgen ein militärischer Bezug bestehen müsse, woran es im Bereich der Geldverwaltung fehle (S. 51). Eine derart verschärfte Verantwortung habe der Gesetzgeber nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht,240 und auch die Entstehungsgeschichte spreche nicht für eine solche Ausdehnung (S. 52). Nach alledem führe „die mögliche Auslegung der §§ . . . nicht über die aus Sinn und Zweck dieser Vorschriften folgende natürliche Anwendungsgrenze hinweg“ (S. 52 f.). gericht habe gar nicht bemerkt, „über welches Eis es da gerutscht ist“ (ders., in: Strafen im Rechtsstaat, S. 30). 238 Die Entscheidung kann letztlich nur in diesem Sinn gedeutet werden; ebenso Neumann, in: Juristische Dogmatik, S. 45, Roxin, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 34 und Bindokat, JZ 1969, 541 (542, l. Sp.), der BGHSt 6, 394; 8, 66; 10, 375 als Belege einer nicht dem Wortlautkriterium folgenden Konzeption anführt. 239 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 160 („sekundärer Redaktionsfehler“); Looschelders/Roth, Methodik, S. 297. 240 Hier verdreht der BGH die Tatsachen: Nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht hat der Gesetzgeber die vom BGH befürwortete systematisch-teleologische Restriktion oder Reduktion der Norm! Nur so erklärt sich der erhebliche Begründungsaufwand des Senats.

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III. Wortlaut und Wortsinn

Die abschließende Formulierung des BGH bleibt rätselhaft. Wie kann eine einschränkende (systematisch-teleologische) Auslegung sich über eine Anwendungsgrenze hinwegsetzen, die sich doch gerade aus Sinn und Zweck ergeben soll? Aber ganz abgesehen von dieser Ungereimtheit interessiert hier lediglich, ob Sinn und Zweck wirklich eine („natürliche“) Anwendungsgrenze – womöglich neben dem Wortlaut – konstituieren. Neben den oben vorgestellten Entscheidungen finden sich auch vereinzelt Stimmen in der Literatur, die ein an Sinn und Zweck, an der ratio legis241 oder an der Wertentscheidung des Gesetzgebers orientiertes Modell vertreten242. Diesen Ansichten ist zuzugeben, daß aus rechtstheoretischer Perspektive die Abgrenzung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung, zumal wenn darin ein Aspekt der Kompetenzzuweisung zwischen den Staatsgewalten gesehen wird, nicht zwingend am Merkmal des möglichen Wortsinns festgemacht werden muß. Darüber hinaus wäre ein die Wertentscheidung des Gesetzgebers als maßgebliches Kriterium zugrundelegendes System auch juristisch durchführbar243 – freilich kaum trennscharf244. Jedoch soll die h. M. zum Grenzkriterium hier nicht weiter in Frage gestellt werden; das Verfassungsrecht – in seiner gegenwärtig herrschenden und verfassungsgerichtlich sanktionierten Deutung – oktroyiert der Methodologie bestimmte Vorgaben, darunter auch die aus dem Betroffensein des Bürgers gefolgerte Wortlautgrenze. Weiter bleiben Entscheidungen vorzustellen, welche die Grenzlinie des Analogieverbots nicht wie BGHSt 6, 394 und 10, 375 nach Sinn und Zweck, sondern nach den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers bestimmen. Daß die Vorstellungen des Gesetzgebers bei der Auslegung eine Rolle spielen, ist selbstverständlich; hier geht es nur darum, ob sie dem Rechtsanwender eine aus 241 So z. B. das schweizerische Bundesgericht in BGE 87 IV, 115 (118): Der Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ verbiete nur, „über den dem Gesetz bei richtiger Auslegung zukommenden Sinn hinauszugehen“. Von außen betrachtet ist dieser Standpunkt vor allem deshalb merkwürdig, weil Art. 1 des schweiz. StGB weit eher als Art. 103 II GG auf die Maßgeblichkeit einer sprachlichen Grenze hindeutet: „Strafbar ist nur, wer eine Tat begeht, die das Gesetz ausdrücklich mit Strafe bedroht.“ 242 Stratenwerth, Strafrecht AT I, § 3, Rn. 31 (wahrer Sinn des Gesetzes); Schmidhäuser, Strafrecht AT, 5/42 („Auslegungstatbestand“ als Ergebnis der Auslegung ist maßgeblich, nicht der „Wortlauttatbestand“); Hanack, NStZ 1986, 263 (abl. Anm. zu BVerfGE 71, 108). Über das noch weiter abweichende Modell von Jakobs (Strafrecht AT, 4/33 ff.), der nicht von Analogie-, sondern von „Generalisierungsverbot“ spricht, soll hier nicht berichtet werden. 243 Bydlinski, Methodenlehre, S. 469. Dagegen halten Jescheck/Weigend (Strafrecht AT, S. 159) allein das Wortsinnkriterium für objektiv nachprüfbar. 244 Scharf abl. deshalb Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 77: Unsicherheiten der teleologischen Auslegung würden in das Gesetzlichkeitsprinzip hereingetragen. Abl. auch Wohlers, in: ratio legis, S. 82 ff., der allerdings die Berufung auf die ratio legis zu pauschal als „Chiffre für den eigenen gestalterischen Willen des Auslegenden“ betrachtet (S. 83).

7. An der Wortlautgrenze

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Art. 103 II GG folgende Schranke ziehen. Nur andeutungsweise kommt eine solche Konzeption in folgenden Formulierungen zum Ausdruck: „Der Richter ist aber nicht befugt, entgegen dem klaren und bestimmten, dem Willen des Gesetzgebers jedenfalls nicht widersprechenden Wortlaut den gesetzlichen Tatbestand ,zu berichtigen‘, noch dazu zuungunsten des Beschuldigten . . .“. (BGHSt 2, 317 [319]) „Auch ist kein sachliches Bedürfnis für eine solche Auslegung erkennbar, vielmehr bestehen gegen eine derartige Ausweitung des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift angesichts ihrer Entstehungsgeschichte und ihres eindeutigen Wortlautes mit Rücksicht auf das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG und des § 2 StGB durchgreifende rechtliche Bedenken.“ (BGHSt 20, 387 [388])

Die erstgenannte Formulierung (BGHSt 2, 317) erkennt die Wortlautgrenze zwar grundsätzlich an, möchte sich jedoch für den Fall, daß der Wortlaut dem Willen des Gesetzgebers klar widerspricht, die Option einer Gesetzeskorrektur (zulasten des Betroffenen!) nicht verschließen. Die zweite Äußerung (BGHSt 20, 387) deutet eine Verbindung von Art. 103 II GG mit der Entstehungsgeschichte zwar an, legt sich im entscheidenden Punkt aber nicht fest. Weit darüber hinaus geht der BGH in folgendem Urteil, dessen Ausführungen zur Reichweite des Analogieverbots allerdings kaum schlüssig sind; es ist zu bezweifeln, daß der BGH seinen eigenen Ausführungen zustimmen würde, falls man sie leitsatzartig generalisieren würde. Fall 59 (BGHSt 41, 219 – „Magazin“): Der Täter setzte einen mit Lecithin gefüllten Tankbehälter, der außerhalb einer Fabrikhalle errichtet worden war und mehrere Tonnen Inhalt faßte, in Brand. Handelt es sich bei dem Tankbehälter um ein „Magazin“ i. S. von § 308 StGB (i. d. F. bis zum 6. StrRG 1998) oder ist dazu eine von Menschen betretbare Räumlichkeit notwendig? Der BGH verneint die Brandstiftung mit folgender Begründung (S. 220 f.): (1) Nach dem Wortsinn sei unter „Magazin“ ein Vorratsraum, Lagerhaus, Lagerraum oder Speicher zu verstehen (Hinweis auf Brockhaus).245 (2) Das RG habe (z. T.) eine weite Auslegung vertreten, die es nicht ausgeschlossen erscheinen lasse, den Tankbehälter als „Magazin“ anzusehen. Gleichwohl: (3) „Einer ausdehnenden Auslegung steht jedoch das strafrechtliche Analogieverbot entgegen . . . Es steht fest, daß der Gesetzgeber seinerzeit nicht an Brandobjekte wie Tankbehälter für chemische Produkte gedacht hat. Der – abschließende . . . – Katalog von Angriffsobjekten in § 308 Abs. 1 StGB entstammt einer längst überholten Wirtschaftsordnung . . . Abhilfe kann insoweit nur der Gesetzgeber schaffen.“

Daß der Katalog des § 308 StGB einer längst überholten (agrarischen) Wirtschaftsordnung entstammt, ist gewiß richtig. Fraglich ist jedoch nur, ob der abstrakte Begriff „Magazin“ die konkrete Erscheinung „Tankbehälter“ erfaßt. Da245 Es folgt ein Gedankensprung, denn der BGH kommt auf den von ihm soeben dargelegten allgemeinen Sprachgebrauch nicht mehr zurück. Zumindest wäre zu ergänzen, daß nach der aufgeführten Definition die Subsumtion durchaus möglich wäre („Speicher“). Freilich würde der BGH dadurch ein starkes Gegenargument einführen.

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III. Wortlaut und Wortsinn

für sprechen der allgemeine Sprachgebrauch und die (weite) Interpretation des RG. Dagegen spricht nach Ansicht des BGH die Tatsache, daß der historische Gesetzgeber bei Verwendung des Ausdrucks nicht an Tankbehälter für chemische Produkte dachte. Aber kann die Vorstellung des Gesetzgebers wirklich eine derart weitreichende und vom Analogieverbot sanktionierte Einschränkung des Anwendungsbereichs bewirken?246 Schon oben (III 5 b) wurde – jedenfalls für die Auslegung auf Wortlautebene – aufgezeigt, daß die Aufzählung von Anwendungsbeispielen in den Gesetzesmaterialien keineswegs die Normanwendung auf die genannten Fälle beschränkt, sondern lediglich Anhaltspunkte und Hilfe für die Herausarbeitung der Begriffsbedeutung (Intension) liefern. Und ist die Intension des Begriffs erst einmal ermittelt, ist die Normanwendung auch nicht auf bereits bekannte Fälle beschränkt, sondern es kommt darauf an, ob die gesetzliche Abstrahierung und ihre Definition den neu auftretenden Fall erfaßt oder nicht. Der Ausdruck „Magazin“ enthält insoweit keine Merkmale, die es ausschließen, einen Tankbehälter für chemische Produkte darunter zu subsumieren. Ebensowenig wäre die Subsumtion einer Laserwaffe unter den gesetzlichen Ausdruck „gefährliches Werkzeug“ schon deshalb ausgeschlossen, weil der historische Gesetzgeber sich einen solchen Fall nicht vorgestellt hat oder sich hat vorstellen können (näher unten III 7 d). Selbst die Deutung der Entscheidung als extremes Beispiel einer subjektiv-historischen Auslegungstheorie247 verleiht ihr noch keine Überzeugungskraft: Dazu wäre zunächst zu klären, ob der Wille des Gesetzgebers wirklich starr an die damaligen tatsächlichen Umstände gebunden ist oder ob dieser „Wille“ nicht vielmehr – im Rahmen des sprachlich Möglichen – nach einer fortwährenden Anpassung verlangt, um seine Reichweite wenigstens zu erhalten (näher unten IV 5). Keinesfalls aber kann der BGH sich auf das strafrechtliche Analogieverbot berufen. Für seine Interpretation des Begriffs „Magazin“ mögen verschiedene Gründe sprechen, womöglich auch die (nicht mitgeteilte) Entstehungsgeschichte, aber diese Gründe fallen nicht in den Themenkreis „Analogieverbot“, sondern werfen allenfalls die davon zu trennende Frage nach der Bindung an die Vorstellungen des historischen Gesetzgebers auf.248 Konsequent i. S. einer subjektiven Auslegungstheorie könnte der BGH seine Entscheidung wie folgt begründen:

246 In diesem Sinn allerdings konsequent gegen BGHSt 1, 1: G. und D. Reinicke, NJW 1951, 681 (683). 247 Otto, JK 1996, StGB § 1/15: Beeindruckendes Bekenntnis zur historischen Auslegungstheorie. 248 Th. Schmidt (JuS 1996, 366) sieht – unzutreffend! – in der Entscheidung ein Beispiel für die begrüßenswerte Tendenz der neueren Rechtsprechung, „die Anwendung der Strafgesetze intensiver als bisher an Art. 103 II GG zu messen“. Richtig dagegen Otto, JK 1996, StGB § 1/15, der die Ausführungen des BGH in den Problembereich „subjektive/objektive Theorie“ einordnet, was allenfalls mittelbar mit Art. 103 II GG zu tun hat.

7. An der Wortlautgrenze

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(1) Der Wortsinn läßt die Subsumtion (nach allgemeinem Sprachgebrauch) zwar zu. (2) Und auch das RG hat teilweise eine weite Auslegung vertreten. (3) Jedoch hat der Gesetzgeber eine andere Begriffsbedeutung zugrunde gelegt (durch Menschen betretbare Räumlichkeit), wofür folgende Äußerungen in den Gesetzesmaterialien . . . oder ein Vergleich mit den dort genannten Anwendungsbeispielen sprechen. (4) Die Veränderung der tatsächlichen Umstände (die Entwicklung von Tankbehältern für chemische Produkte) vermag an diesem Begriffsverständnis nichts zu ändern249, denn die Rechtsprechung ist an die Wertentscheidung des Gesetzgebers gebunden (Art. 20 III, 97 I GG). (5) Der Gesetzgeber muß die Anpassung seiner Gesetze an tatsächliche Veränderungen selbst vornehmen.

Bedenkenswert bleibt allenfalls, ob aus der Gesetzesbindung des Richters (Art. 20 III, 97 I GG), also aus dem staatstheoretisch fundierten Grundsatz der Gewaltenteilung eine zusätzliche Grenze der Auslegung herzuleiten ist. So will etwa Krey nicht nur in einer Wortlautüberschreitung, sondern auch in einem Verfehlen oder Verfälschen des gesetzgeberischen Regelungszwecks einen Verstoß gegen Art. 103 II GG sehen.250 Die Auswirkungen dieser Auffassung sind weitreichend, denn folgerichtig müßte jede in subjektiv-teleologischer Hinsicht unzutreffende Interpretation als Verfassungsverstoß einzuordnen sein – eine Konsequenz, die ganz offensichtlich Unbehagen weckt. Gleichwohl ist eine dem Grundsatz der Gewaltenteilung zu entnehmende Grenze richterlicher Rechtsanwendung i. S. eines unbedingten Vorrangs der gesetzgeberischen vor der richterlichen Wertentscheidung zu bejahen. Sie folgt jedoch nicht aus dem Grundrecht des Art. 103 II GG, sondern aus Art. 20 III, 97 I GG. Sie hat vor allem nicht zur Folge, daß jeder Fehler bei der Anwendung der Auslegungskriterien bzw. bei der Ermittlung der gesetzgeberischen Wertentscheidung als Verfassungsverstoß anzusehen wäre. Vielmehr kann nur eine Willkürkontrolle stattfinden, die darauf achtet, daß ein eindeutig feststellbares251 legislatives Programm nicht durch ein judikatives ersetzt wird. Ein weitergehender Kontrollmaßstab würde den Unterschied zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit endgültig beseitigen. Auch in der Rechtsprechung des BVerfG finden sich Äußerungen, die aus Art. 103 II GG in seiner Ausprägung als Analogieverbot neben dem möglichen

249 Auch diese Begründung sollte jedoch nicht auf das unbrauchbare und zu schlichte Argument zurückgreifen, der Gesetzgeber habe an diesen Fall nicht gedacht! Damit würde man dem Argumentationsniveau einer ernsthaft betriebenen historischer Auslegung kaum gerecht. Eingehend dazu unten IV 5 a. 250 Krey, Strafrecht AT I, Rn. 104 und Studien, S. 204–214; Nolte, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 103 II, Rn. 159. Warum gerade Art. 103 II GG als Grundrecht (statt Art. 20 III, 97 I) das gesetzgeberische Ziel vor richterlichen Übergriffen schützen soll, ist m. E. nicht überzeugend dargetan, vor allem nicht mit Erwägungen zum Demokratieprinzip. 251 Krey (Studien, S. 214) verlangt, daß die rechtspolitische Wertentscheidung des Gesetzgebers mit „hinreichender Sicherheit“ zu ermitteln ist.

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III. Wortlaut und Wortsinn

Wortsinn zusätzliche Schranken für die Rechtsanwendung herleiten.252 Von einer Klärung dieser Fragen ist das BVerfG allerdings noch weit entfernt: Nach BVerfGE 92, 1 (12) soll nicht nur die „Analogie“ im technischen Sinn, sondern „jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht“, ausgeschlossen sein. Was aber soll mit dem „Inhalt“ genau gemeint und wie soll er zu ermitteln sein? Die Entscheidung enthält zwar den Zusatz, daß insoweit der mögliche Wortsinn das „maßgebende Kriterium“ ist, aber BVerfG NJW 1998, 1135 (1136) enthält diese Klarstellung bereits nicht mehr. Nach dieser Entscheidung soll auch eine „objektiv unhaltbare und deshalb willkürliche Auslegung“ gegen den „Grundgedanken“ des Art. 103 II GG verstoßen. Auf die Ausprägung des Art. 103 II GG als Willkürverbot hatte bereits BVerfGE 64, 389 (394) hingewiesen.253 Noch weiter geht das Sondervotum zu BVerfGE 92, 1 (20): „Auch innerhalb des möglichen Wortsinns darf die Auslegung nicht weiter gehen, als es Zweck und Sinnzusammenhang der Norm zulassen.“ Mißverständnisse begünstigt außerdem die Entscheidung BVerfG NJW 1995, 2776, in der zunächst das Wortsinnkriterium zugrunde gelegt und dessen Überschreitung durch das LG konstatiert wird, dann aber zusätzlich Entstehungsgeschichte und Zweck der Norm erörtert werden.254 Damit wird jedoch der Eindruck erweckt, daß jede fehlerhafte Auslegung der Fachgerichte gegen Art. 103 II GG verstößt.

Insgesamt ergeben die dargestellten Entscheidungen zu dem aus Art. 103 II GG folgenden Abgrenzungskriterium kein sonderlich homogenes Bild und zugegebenermaßen wiegen widersprüchliche Äußerungen gerade in dieser Frage von grundsätzlicher Bedeutung schwer. Dennoch kann bei Berücksichtigung des quantitativen Ausmaßes von einer gesicherten, den möglichen Wortsinn als Auslegungsgrenze anerkennenden Praxis der Gerichte ausgegangen werden.255 Neu252 Zum Einfluß des Bestimmtheitsgebots und der Grundrechte auf die Auslegung siehe unten V 6 und 7. 253 Weitere Nachweise bei Küper, JuS 1996, 783 (786). Vgl. auch BVerfG NJW 2000, 2660 m. w. N., wonach die Kontrolle der Rechtsanwendung durch das BVerfG beschränkt ist auf Verstöße gegen das Willkürverbot und auf Auslegungsfehler, die auf einer unrichtigen Anschauung von Grundrechten beruhen. Nach BVerfG StV 2003, 553 (554) verstößt eine willkürliche, d.h. „unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbare“ Auslegung gegen Art. 3 I GG. 254 Welche groben Fehler dem BVerfG bei dieser „einfachgesetzlichen“ Auslegung unterlaufen sind, wird von Küper (JuS 1996, 783 ff.) eingehend dargelegt und stimmt sehr nachdenklich. 255 BGHSt 40, 272 hat die Wortlautschranke auch bei der Aufarbeitung des DDRUnrechts zum Ansatz gebracht: Eine Rechtsbeugung durch Richter und Staatsanwälte der DDR liege u. a. vor, wenn „die Grenzen zulässiger Auslegung augenfällig überschritten“ wurden (S. 279). Insoweit gelte grundsätzlich nichts anderes als bei der Rechtsanwendung in der Bundesrepublik und mithin auch die Grenze des möglichen Wortsinns. Freilich schränkt der Senat sodann seinen Ausgangspunkt ein und berücksichtigt zugunsten der Täter „bei der wertenden Subsumtion“ (S. 279) und bei der Bestimmung der Wortlautgrenze (S. 282) gleichwohl die Wertvorstellungen der DDR (abl. dazu z. B. Spendel, JR 1995, 214 [215, l. Sp.]: „überraschender Gedankenbruch“). BGHSt 41, 247 (260) erklärt demgegenüber unmittelbar (und ehrlich) die Auslegungsmethoden der DDR für maßgeblich, so daß eine Rechtsbeugung erst bei „grotesker Entfernung“ vom Gesetzeswortlaut in Frage komme (S. 261). Die Thematik

7. An der Wortlautgrenze

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eren Fehlentwicklungen (BGHSt 41, 219) ist entgegenzutreten. Frühe Abwege (BGHSt 6, 394; 10, 375) können dagegen beim gegenwärtigen Stand als überwunden gelten.256 Davon geht auch der BGH in einer neueren Entscheidung aus, in der er der wortlautwidrigen Einschränkung einer Subsidiaritätsklausel (§ 125 I, letzter Halbsatz StGB), wie es die frühere Rechtsprechung sowie Literaturstimmen unter Berufung auf Sinn und Zweck der Norm unternommen haben, eine deutliche Absage erteilt: „Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze der Auslegung strafrechtlicher Bestimmungen zum Nachteil des Angeklagten (vgl. nur BGHSt 39, 112, 114 f.; 40, 272, 279; 42, 291; BGH StV 1996, 546, 547; ferner BVerfGE 71, 108, 115; 73, 206, 235) . . . Der Senat hält diese Rechtsprechung257 im Hinblick auf die oben . . . angeführte neuere Rechtsprechung zur Auslegung strafrechtlicher Normen258 für überholt . . .“. (BGHSt 43, 237 [238 f.])

b) Alltagssprache/(juristische) Fachsprache Bereits im Kapitel III 4 wurden Konstellationen erörtert, in denen die Rechtsprechung zur Ermittlung der Wortbedeutung einmal auf den alltäglichen, ein andermal auf den juristischen Sprachgebrauch abhebt. Daß in der Methodenlehre die überwiegende Ansicht für den Zweifelsfall von einem Vorrang der Fachsprache ausgeht, kam ebenfalls bereits zur Sprache. Fraglich bleibt indes, ob dieser Vorrang auch im Grenzbereich des Wortlauts gelten darf, denn mit kann hier nicht weiter vertieft werden; sie ist nicht vorrangig methodologischer Natur und setzt zudem eine nähere Auseinandersetzung mit der Interpretation des Tatbestandes der Rechtsbeugung durch den BGH voraus. Näher und krit. zur Rechtsprechung des BGH zu den Justizverbrechen in der DDR Schroeder, NJW 1999, 89 und Spendel, JZ 1995, 375. 256 Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 55. – Schlehofer (JuS 1992, 572 [574]) wendet sich gegen eine Ausgrenzung bzw. Rechtfertigung der problematischen Entscheidungen (wie z. B. BGHSt 10, 375) als nicht repräsentative Ausrutscher einer sonst herrschenden Meinung: Die Kritik aus dem Lager der h. M. bemängele in Wirklichkeit nicht die Wortlautüberschreitung, sondern daß in concreto kein hinreichender Anlaß dafür vorgelegen habe; die h. M. scheue sich bei gegebenen Anlaß keineswegs, selbst diese Schranke (des möglichen Wortsinns nach dem Sprachgebrauch des täglichen Lebens) zu überschreiten. – Einen solchen Vorbehalt wird man der h. M. aber kaum unterstellen können. Zum einen ist kaum zu bestreiten, daß in den von der h. M. am häufigsten genannten Fällen einer Wortlautüberschreitung (BGHSt 6, 394; 10, 375) tatsächlich materielle Gründe dazu drängten. Warum sollten die Entscheidungen dann aber dennoch von der h. M. beanstandet werden? Zum anderen erscheint die Annahme eines derart chiffrierten Meinungsaustausches, in dem es nicht mehr um das Gesagte, sondern nur noch um Motivforschung geht, als wenig plausibel. Juristische Diskurse wären dann nichts anderes als Irreführungen, auf die getrost verzichtet werden könnte. 257 Gemeint ist die frühere Rechtsprechung, die Ausnahmen von der gesetzlich angeordneten Subsidiarität zuließ; näher unten Fall 105. 258 Ob der BGH die „neuere Rechtsprechung“ in dieser auslegungstheoretischen Frage bewußt in einen Gegensatz zu einem womöglich überwundenen Standpunkt der Gerichte stellt, ist schwer zu sagen.

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III. Wortlaut und Wortsinn

einem adressatenbezogenen, auf den Bürger abstellenden Verständnis des Art. 103 II GG wäre das nur schwer vereinbar.259 In der Konzeption stringent, aber kaum realistisch fordert das BVerfG mit der wohl herrschenden Meinung eine Orientierung am Sprachgebrauch des Bürgers:260 „Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation (vgl. BGHSt 4, 144 [148]). Wenn, wie gezeigt, Art. 103 Abs. 2 GG Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit der Straf- und Bußgeldandrohungen für den Normadressaten verlangt, so kann das nur bedeuten, daß dieser Wortsinn aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen ist.“ (BVerfGE 71, 108 [115])

Dieser Standpunkt läßt verschiedene Situationen außer Betracht, in denen die Praxis (unbeanstandet) anders vorgeht und vorgehen muß.261 Zunächst kann die Reichweite rein juristischer Begriffe, die der Umgangssprache völlig fremd sind, unklar sein, obgleich solche Begriffe in der Gesetzessprache selten vorkommen (siehe oben III 4 b). So würde z. B. bei der Beurteilung, was eine rechtliche Einstandspflicht (Garantenstellung) i. S. von § 13 StGB ist, von vornherein kein umgangssprachliches Verständnis zugrunde gelegt werden können. Noch schwieriger liegt es, wenn für einen gesetzlichen Ausdruck sowohl ein umgangssprachlicher als auch ein davon abweichender fachsprachlicher Gebrauch denkbar ist. In dieser Situation entsteht für die herrschende Meinung nur dann kein Konflikt mit der Wortlautgrenze, wenn die alltagssprachliche Verwendungsweise einen weiteren Begriffshof bietet als der juristische Sprachgebrauch, dieser also in jenem aufgeht. Als Beispiel hierfür ist BGHSt 1, 1 (oben Fall 51) zu nennen: Der gemeinsprachliche Begriff von „Waffe“ läßt so viel Spielraum, daß eine juristische Begriffsbildung kaum noch darüber hinausgehen muß. Interessanter und in Anbetracht der oben wiedergegebenen verfassungsgerichtlichen Äußerung problematisch ist hingegen die umgekehrte Situation, in der die fachsprachliche Bedeutung die Grenzen des landläufigen Sprachgebrauchs überschreiten will. Diese Situation mag nicht häufig sein (vgl. oben III 4),262 aber dennoch müßte ihre Vereinbarkeit mit Art. 103 II GG von der herr-

259 Vgl. zur Problematik auch Hassemer, Strafen im Rechtsstaat, S. 26, der die h. M. hier in einem Dilemma sieht. 260 Ebenso Krey, Studien, S. 159; Roxin, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 28 und 37; Schünemann, in: FS für Bockelmann, S. 124; ähnlich, aber mit wesentlicher Einschränkung Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 9, Rn. 84: Natürliche Wortbedeutung, falls es sich nicht um Rechtsbegriffe handelt. 261 Auf die Widersprüchlichkeit der h. M. weist Wank hin (Auslegung, S. 50–52). Als rechtsstaatlich begrüßenswert, letztlich aber – aus sprachwissenschaftlicher Sicht – als „unrealistische Fiktion“ betrachtet den Standpunkt der h. M. Busse, SuL 1998, 24 (45). 262 Dem Gesetzgeber ist in diesen Fällen die Verwendung von Legaldefinitionen (gesetzlichen Fiktionen) zu empfehlen, vgl. z. B. BGHSt 43, 336 (338): Der im AMG

7. An der Wortlautgrenze

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schenden Ansicht bewiesen werden. Die bisher erörterten Fälle eignen sich nur zum Teil zur Verdeutlichung der Problematik: BGHSt 23, 331 (oben Fall 47: Ist ein anwesender, aber verhandlungsunfähiger Angeklagter „nicht erschienen“?) würde die Situation zwar exakt treffen, doch spielt er nicht im Gebiet des materiellen Strafrechts und damit (jedenfalls nach h. M.) außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 103 II GG. Allerdings hat BVerfGE 71, 108 (121) in einer vergleichbaren Situation die Argumentation eines Strafgerichts konsequent als unvereinbar mit dem möglichen Wortsinn angesehen: Aus Sicht des Bürgers „entzieht“ sich ein Wahlhelfer nicht seiner Pflicht, wenn er aufgrund seines Verhaltens vom Wahlvorstand von der Pflicht entbunden wird. — In BGHSt 18, 242 (oben S. 88) hält der Senat eine Überschreitung des allgemeinen Sprachgebrauchs zumindest theoretisch für zulässig: Dieser spreche vorliegend zwar dagegen, in einem Diebstahl einen „Erwerb von Waren“ zu sehen, jedoch seien die Begriffe des Zollgesetzes aus diesem selbst und womöglich in einem weiteren Sinn zu verstehen (S. 244 f.). Hier sei dafür aber nichts ersichtlich. — Ähnlich argumentiert BGHSt 28, 147 (148): Der allgemeine Sprachgebrauch verlange für den Begriff der „Vereinigung“ eine größere Anzahl von Personen; eine andere Meinung des Gesetzgebers sei nicht erkennbar. Dürfte eine solche Meinung sich angesichts der Wortlautgrenze aber durchsetzen? Kaum mit dem allgemeinen Sprachgebrauch zu vereinbaren dürfte folgende Auslegung des BGH sein: Fall 60 (BGHSt 12, 48 – „Ölspur“): Gemäß § 41 StVO a. F. war es verboten, „Gegenstände auf Straßen zu bringen oder liegen zu lassen, wenn dadurch der Verkehr gefährdet“ wird. Der Senat ist der Ansicht, daß die Norm auch beim Hinterlassen einer Ölspur erfüllt ist. Gegen diese zweckorientierte Auslegung bestünden keine „durchgreifenden sprachlichen Bedenken“ (S. 49). Es sei unbestritten, daß der an mehreren Stellen im StGB benutzte Ausdruck „Gegenstände“ auch flüssige Körper umfasse.

Gutes Anschauungsmaterial für die Problematik bieten die Gesetzesausdrücke „Urkunde“ und „Sache“. Vor allem die Dogmatik des Urkundenbegriffs bietet reihenweise Beispiele für eine gegen die Alltagssprache verstoßende Begriffsbildung: Unabhängig davon, wie das umgangssprachliche Verständnis dieses Ausdrucks im einzelnen aussehen mag, dürften jedenfalls folgende Fälle einer „zusammengesetzten Urkunde“ nicht mehr damit zu vereinbaren sein: Das amtliche KFZ-Kennzeichen (BGHSt 16, 94), die Fabriknummer auf dem Rahmen eines Kraftfahrzeugs (BGHSt 9, 233), ein Verkehrsschild (nach OLG Köln NJW 1999, 1042 keine Urkunde, allerdings ohne Hinweis auf einen etwaig entgegenstehenden Wortlaut), ein Preisschild in Verbindung mit der Ware (OLG Hamm NJW 1968, 1894); auch das beliebte Beispiel des Bierdeckels, auf dem der Wirt die verzehrten Getränke durch Striche markiert (RG DStZ 1916, 78), wird man in diesem Zusammenhang anführen müssen263. definierte Arzneimittelbegriff habe sich vom allgemeinen Sprachgebrauch gelöst und gehe über diesen hinaus. 263 Auch Schlehofer (JuS 1992, 572 [573, r. Sp.]) bringt dieses Beispiel als Beleg für die These, der „natürliche Wortsinn“ sei nicht stets Grenze der Auslegung; ebenso Wank, Auslegung, S. 52.

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III. Wortlaut und Wortsinn

In keinem der genannten Fälle wurde ein Verstoß gegen einen „möglichen Wortsinn“ auch nur erwogen.264 Merkwürdigerweise sieht der BGH in BGHSt 9, 44 (oben Fall 46) demgegenüber die Umgangssprache als unüberwindliche Hürde, wenn der (grundsätzlich berechtigte) Aussteller ein Schriftstück mit einem falschen Datum versieht (rückdatiert). In dieser „schriftlichen Lüge“ könne nach allgemeinem Sprachgebrauch keine „unechte Urkunde“ gesehen werden.265

Die Beispiele dürften belegen, daß der BGH in Wirklichkeit mit einem dogmatisch ausdifferenzierten Urkundenbegriff, also mit einem Fachterminus operiert, dessen Verhältnis zum umgangssprachlichen Verständnis nicht die geringste Rolle spielt; die Perspektive des betroffenen Bürgers bleibt von vornherein außer Betracht. Der Urkundenbegriff belegt, wie eine juristische Begriffsbildung – weitgehend unbemerkt266 – über den Rahmen der alltäglichen Wortbedeutung weit hinausgehen kann. Ein weiteres, auf den ersten Blick womöglich überraschendes Beispiel ist die Fragestellung, ob ein Tier taugliches Tatobjekt eines Diebstahls oder einer Sachbeschädigung sein kann. Bis 1990 war die Sachlage unstreitig: Ein Tier wurde einhellig als „Sache“ i. S. von §§ 242, 303 StGB angesehen. Wenn überhaupt Begründungen dafür gegeben wurden, erschien ein Hinweis auf die Legaldefinition des § 90 BGB (körperliche Gegenstände)267 oder auf einen eigenständigen strafrechtlichen Sachbegriff als ausreichend; die Gerichte hielten dieses Ergebnis für selbstverständlich268. Merkwürdigerweise hat erst der Gesetzgeber 1990 durch eine besondere Regelung die alte Gewißheit – jedenfalls nach Ansicht findiger Exegeten – ohne Absicht erschüttert. Gemäß § 90a BGB n. F. sind „Tiere keine Sachen“ (Satz 1), aber „auf sie sind die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden“ (Satz 3). Plötzlich stand die Frage nach dem strafrechtlichen Analogieverbot im Raum. Stark vereinfacht ergeben sich nunmehr zwei Lösungsansätze:269 Die Analogie in § 90a Satz 3 BGB ist eine gesetzlich angeordnete und damit der Schutzbereich von Art. 103 II GG nicht betroffen, oder aber das (ältere!) StGB kennt einen eigenen Sachbegriff270, der Tiere seit jeher umfaßt271. Aber wie kommt es, daß die Thema264 Anders aber z. B. Bindokat, JZ 1969, 541 (545, r. Sp.) für die sog. Beweiszeichen: Nach dem Sprachgebrauch seien unter Urkunden nur Schriftstücke, nicht aber Zeichen zu verstehen. 265 Sehr viele Laien dürften gerade dies anders beurteilen! 266 Die Anhänger der „natürlichen Wortbedeutung“ als Auslegungsgrenze (vgl. oben Fn. 260) bringen leider nicht die passenden Testfälle, die ihre Konzeption auf den Prüfstand stellen würden. 267 Nachweise bei Küper, JZ 1993, 435 (436, l. Sp.). 268 Nach RGSt 37, 411 kann das „Kitzligmachen“ eines Pferdes (bei besonderen Beeinträchtigungen) Sachbeschädigung sein! Der Formulierung in RGSt 12, 313, wonach der Schuldschein über eine Forderung „an sich eine bewegliche körperliche Sache, ein Stück der leblosen Außenwelt“ sei, wird man wohl keine Ausschlußwirkung für Tiere entnehmen können. 269 Näher Küper, JZ 1993, 435 ff.; Graul, JuS 2000, 215 ff. 270 In diesem Sinn vor Einführung des BGB RGSt 29, 111 (112 f.) unter Hinweis auf die Gesetzesmotive zum preußischen StGB: Nicht der zivilrechtliche, sondern der natürliche Begriff der Sache sei entscheidend; ebenso RGSt 32, 165 (179): „. . . in der

7. An der Wortlautgrenze

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tik vor 1990 überhaupt nicht problematisiert wurde272, obgleich in der Alltagssprache doch wohl niemand das „Kitzligmachen“ eines Pferdes (mit nachteiligen Folgen für dessen Nervensystem) als „Sachbeschädigung“ auffassen wird273. Gerade wer bei der Ermittlung der Wortbedeutung auf den Gebrauch im „gewöhnlichen Leben“ oder auf den „natürlichen“ Wortsinn abstellen will, müßte zu dieser Frage Stellung beziehen.274 Selbst wenn in vergangenen Zeiten ein dahingehender Sprachgebrauch bestanden haben sollte, wäre ein etwaiger, womöglich durch § 90a BGB geförderter Sprachwandel zu prüfen, denn die h. M. stellt hinsichtlich der Wortlautgrenze auf das gegenwärtige Verständnis ab!275 Nach umgangssprachlichem Verständnis bereitet zudem nicht nur der Sachbegriff Schwierigkeiten, vielmehr sind auch die Tathandlungen in § 303 StGB (Beschädigen oder Zerstören) auf Tiere offensichtlich nicht zugeschnitten. Wer die Subsumtion unter den Sachbegriff aufgrund der gesetzlich angeordneten und damit zulässigen Analogie gelingen läßt, müßte sich konsequent mit dieser Frage auseinandersetzen und prüfen, ob ein Tier „zerstört“ oder „beschädigt“ werden kann.276 Zur Rechtfertigung einer derart sprachwidrigen Annahme277 wäre darzulegen, wie die Analogie aus § 90a BGB sich auch auf die Tatnatürlichen Anschauung ist der Ursprung der einfachen Rechtsbegriffe zunächst zu suchen.“ 271 Küper, Jura 1996, 205 (206, Fn. 3): Autonome Auslegung der Strafvorschriften. Seit dem 18. StÄG von 1980 kann unterstützend auch auf § 325 I Nr. 1 StGB („Tiere, Pflanzen oder andere Sachen“) verwiesen werden, der den Sprachgebrauch allerdings nur für den Bereich der Umweltdelikte festlegen kann. Daß ein solcher strafrechtlicher Sachbegriff im übrigen gegen die rechtspolitische Zielsetzung des § 90a BGB (Tiere sind keine Sachen!) verstößt, versteht sich von selbst; diesen – wenn auch zulässigen – Widerspruch gegen die „Einheit der Rechtsordnung“ (der Rechtsbegriffe) sollte der Gesetzgeber nicht nur aus norm-ästhetischen Gesichtspunkten beseitigen. 272 Vgl. allerdings E. Wolf, in: Festgabe für das Reichsgericht, Bd. V, S. 48: Viele Menschen begriffen nicht ohne weiteres Tiere als „Sachen“, weil sie (tote) Sachen in einen Gegensatz zu allem Lebendigen setzten. S. 49 f.: Ein fliegender Vogel würde im täglichen Leben nicht als Sache bezeichnet. E. Wolf selbst stellt beim Sachbegriff auf eine Zweckbeziehung zum Menschen ab; an einer solchen Zweckbeziehung und damit an der Sachqualität fehle es z. B. bei wilden Tieren (S. 65). 273 Vgl. auch Maurach, Strafrecht AT, S. 102: Es sei zumindest zweifelhaft, ob ein Hundeliebhaber sein Tier als Sache ansehen würde. – Für denjenigen, der in den genannten Beispielen (Pferd, Hund) sprachlich keine Bedenken sieht, sind obige Ausführungen natürlich hinfällig. Aber die Suche nach anderem, u. U. besser treffenden Anschauungsmaterial wäre nicht schwierig. Beispiele zu § 185 StGB bringt Wimmer, SuL 1998, 8 (16). 274 Siehe in diesem Zusammenhang Heimann-Trosien, in: LK-StGB9, vor § 242, Rn. 8: Wortbegriffe seien im Strafrecht so aufzufassen, „wie sie dem gewöhnlichen Leben am nächsten stehen“. Zweifelhaft Tröndle/Fischer, StGB51, § 242, Rn. 2 (Hervorhebung dort): „Der Sachbegriff ist dem Zweck des StGB und seinem natürlichen Wortsinn gemäß auszulegen, so dass zB i. S. des § 242 auch ein Tier eine Sache ist“. Folgt aber wirklich aus dem natürlichen Wortsinn oder aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch des Lebens, daß Tiere dem Sachbegriff unterfallen? 275 Siehe unten III 7 e, Fn. 356 und den dazugehörigen Text. 276 Wenn Mitsch (Strafrecht BT II 1, § 5, Rn. 24) ausführt, bei Tieren komme ein Beschädigen in Betracht, wenn die Einwirkung „in bezug auf einen Menschen als ,Gesundheitsschädigung‘ iSd § 223 StGB zu qualifizieren wäre“, ist das zwar das sachlich erwünschte Ergebnis; es fehlt aber die nötige methodische Begründung.

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III. Wortlaut und Wortsinn

handlungen des § 303 StGB soll erstrecken können278. Eine solche Lösung mag mit einigem Argumentationsaufwand dogmatisch begründbar sein; sie ist allerdings weder dogmatisch „schön“ noch für den Gesetzesadressaten transparent. Als sprachwidrige Subsumtion im Bereich des § 303 StGB wird man – jedenfalls bei „natürlicher“ Betrachtung – auch die Praxis der Gerichte bezeichnen müssen, das Herauslassen von Luft aus Auto- und sogar Fahrradreifen als „Beschädigen“ einer Sache aufzufassen (vgl. BGHSt 13, 207 und BayObLG NJW 1987, 3271). Das OLG Düsseldorf hat hingegen seine gegenteilige Auffassung (NJW 1957, 1246) auch auf „den“ – gemeint ist der allgemeine – Sprachgebrauch gestützt, ohne daß dieses Argument später vom BGH, vom BayObLG sowie den Anmerkungsverfassern279 auch nur aufgegriffen worden wäre. Das mangelnde Problembewußtsein entspricht eigentlich nicht der Bedeutung des dahinterstehenden Arguments (Art. 103 II GG!).

Im Ergebnis gilt: Sowohl Sach- als auch Urkundenbegriff sind juristische Terme.280 Ihr Gebrauch in der Rechtsanwendung geht über ihren umgangssprachlichen Begriffshof teilweise hinaus. Die dargestellten Fälle belegen, daß die Praxis sich – in Widerspruch zum Standpunkt der herrschenden Ansicht, aber in der Sache zu Recht – in der juristischen Begriffsbildung nicht an eine alltagssprachliche Konvention gebunden fühlt. Selbst wenn dadurch Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit des Strafbarkeitsbereichs für einen ideal gedachten, normlesenden Bürger notwendig leiden, liegt darin kein Verstoß gegen das Analogieverbot.281 Auch im Grenzbereich möglicher Gesetzesauslegung gilt der bereits festgestellte (oben III 4) Vorrang der Fach- vor der Umgangssprache.282 Eine Umkehrung dieses Verhältnisses nur für den Bereich der Wortlautgrenze wäre theoretisch fragwürdig, kaum praktikabel und beim erreichten Stand der Gesetzgebungstechnik283 illusorisch. Der mögliche Wortsinn ist nur dann aus 277 Anders aber Preisendanz, StGB, § 303, Anm. 3, der „Zerstören“ als völlige Aufhebung der Gebrauchsfähigkeit definiert und als Beispiel hierfür gerade das Vergiften eines (gebrauchsfähigen?!) Hundes anführt! Der Verstoß gegen die Alltagssprache wird durch ein umgekehrtes Beispiel belegt, das der „Hohlspiegel“ (Der Spiegel, 7.1.2002, S. 182) aus den „Kieler Nachrichten“ präsentiert: „Der entgegenkommende PKW mußte ausweichen, stürzte eine Böschung hinunter und wurde schwer verletzt.“ Für den Laien kurios ist es sicherlich auch, wenn eine überfahrene Leiche als „beschädigte Sache“ bezeichnet wird (AG Rosenheim NStZ 2003, 318 in anderem Zusammenhang). 278 Vgl. Küper, JZ 1993, 435 (439, l. Sp.): Die Analogie setze sich wie ein Virus fort. 279 Klug, JZ 1960, 226; Behm, NStZ 1988, 275; Geerds, JR 1988, 218. 280 Ebenso Neumann, in: Rechtskultur als Sprachkultur, S. 115. 281 Ähnliche Fragen tauchen auch beim Bestimmtheitsgebot auf, das der richterlichen Normkonkretisierung nach Ansicht des BVerfG ebenfalls Schranken auferlegt, vgl. unten V 7 e. 282 Ebenso z. B. AG München NStZ 1986, 458 (459). Anders Schmitz, in: MüKoStGB, § 1, Rn. 68: Der juristische Sprachgebrauch sei zwar maßgebend, müsse sich aber im Rahmen der alltagssprachlichen Bedeutung halten. 283 Besserung ist nicht zu erwarten, auch wenn das „Handbuch der Rechtsförmlichkeit“ (Rn. 46) dazu anhält, Abweichungen von der Gemeinsprache durch Begriffsbe-

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Sicht des Bürgers zu bestimmen, wenn das Gesetz selbst auf die umgangssprachliche Bedeutung der Begriffe rekurriert: In diesem Fall darf kein darüber hinausgehender Fachterminus „konstruiert“ werden. Für den Bürger ist diese Situation auch rechtlich hinnehmbar, denn zum einen muß er die Möglichkeit einer fachsprachlichen Verwendungsweise einkalkulieren und zum anderen hat auch die juristische Begriffsbildung Grenzen einzuhalten (dazu sogleich). Demgegenüber ist der Standpunkt des BVerfG (E 71, 108) und des überwiegenden Schrifttums realitätsfern, versehentlich zu weit formuliert, oder er leidet wenigstens an einem Vollzugsdefizit284. Solange das BVerfG mit seinem methodischen Standpunkt nicht ernst macht, sollte er auch nicht fatalistisch unter Hinweis auf § 31 BVerfGG hingenommen werden.285 Schwierig zu beurteilen ist, welche Position der BGH zu dieser Thematik einnimmt. Ein explizites Bekenntnis i. S. von BVerfGE 71, 108 existiert – soweit ersichtlich – nicht; die oben vorgestellten impliziten Äußerungen (BGHSt 12, 48; 18, 242; 28, 147) lassen eine Generalisierung kaum zu. Es ist allerdings wenig wahrscheinlich, daß der BGH insoweit vom BVerfG abweichen würde. Voreilig auf die Seite der h. M. zieht den BGH jedoch, wer als Beleg auf Urteile verweist, in denen das Gericht zwar unter Berufung auf den „natürlichen“ Sprachgebrauch die Subsumtion ablehnt, aber damit keine grundsätzliche Aussage zur Bestimmung der Wortlautgrenze treffen wollte. So liegt es etwa in BGHSt 22, 235 (oben S. 88), wo es der BGH ablehnt, eine Hauswand als „gefährliches Werkzeug“ anzusehen. Das „natürliche Sprachempfinden“ wehre sich gegen ein solches Verständnis (S. 236).286 Daß die Wortlautgrenze aber generell nach dem natürlichen Sprachempfinden zu bestimmen ist, kann der Entscheidung keineswegs entnommen werden.287 Zum Schwur käme es nur, wenn ein weitergehender juristischer Sprachgebrauch als Alternative zur Wahl stünde; davon geht der BGH aber offenbar nicht aus. Seine Ausführungen besagen im Ergebnis allenfalls, daß nach seinem Dafürhalten im konkreten Fall vom Alltagsverständnis auszugehen ist, das bei weiter Auslegung überschritten wäre und deshalb ein Verstoß gegen das Analogieverbot288 vorläge. stimmungen zu verdeutlichen. § 90a BGB würde dem wohl genügen, ein „eigenständiger“ strafrechtlicher Sachbegriff ohne gesetzliche Klarstellung sicher nicht. Und wie würde wohl die geforderte gesetzliche Umschreibung des Urkundenbegriffs aussehen? 284 Das ist schon daran ersichtlich, daß keine der genannten und vom BGH rezipierten juristischen Begriffsschöpfungen vom BVerfG unter dem Aspekt des Analogieverbots verworfen wurden; anders sieht es z. B. beim – politisch bedeutsameren! – Gewaltbegriff des § 240 I StGB aus, den das BVerfG allerdings am Maßstab des Bestimmtheitsgebots mißt (vgl. BVerfGE 92, 1 und unten V 7 e). Unterliegt aber nicht z. B. auch der (vergeistigte!) Urkundenbegriff den gleichen Einwänden wie der Gewaltbegriff? 285 Insoweit ist die Situation eine andere als bei der endgültig entschiedenen Frage, ob der „möglichen Wortsinn“ überhaupt Grenze der Auslegung ist (oben III 7 a). Vgl. zur Bindungswirkung in Methodenfragen unten VII 1 c. 286 R. Schmitt (JZ 1969, 304 [305]) hält die Berufung des BGH auf den Lebenssprachgebrauch für hinfällig, nachdem das Gericht sich in anderer Beziehung – Erfassung von Chemikalien (BGHSt 1, 1) und Tieren (BGHSt 14, 152) – längst darüber hinweggesetzt habe. 287 In diesem Sinn wird sie aber wohl vereinnahmt von Krey, Studien, S. 155.

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III. Wortlaut und Wortsinn

Geht man vom hier vertretenen Standpunkt aus, daß der „mögliche Wortsinn“ nicht stets aus Perspektive des Bürgers bestimmt werden kann, stellt sich die Folgefrage, wie die Wortlautgrenze bei juristischen Fachtermini zu ermitteln ist.289 Denn daß auch hier Art. 103 II GG der Rechtsanwendung Grenzen auferlegt, kann nicht strittig sein. Abstellen müssen wird man insoweit auf die nach dem konkreten Zusammenhang „noch mögliche fachsprachliche Bedeutung“. Das erscheint auf den ersten Blick paradox, da die Verwendung einer Fachsprache ja gerade bezweckt, ein präzises Wortverständnis zu konstituieren290, Bereiche der Möglich- und Beliebigkeit zu reduzieren sowie Unverständlichkeiten zu beseitigen. Bei juristisch geprägten Begriffen sollten mithin Fälle von Mehrdeutigkeit die Ausnahme sein, da ihr Inhalt und Umfang in aller Regel feststehen müßte. Aber so günstig stellt sich die Situation nicht dar. Es genügt der Hinweis auf den bereits erörterten Urkundenbegriff, über dessen Inhalt zwar im wesentlichen Einigkeit besteht, dessen genauer Umfang in vielen Konstellationen aber höchst fraglich ist.291 Und bereits ein oberflächlicher Blick in die Kommentare zum StGB zeigt die Bandbreite möglicher dogmatischer Begriffsbildung. Mehrdeutigkeiten bei juristischen Fachtermini mögen im Ergebnis seltener auftauchen, sind aber keineswegs ausgeschlossen. Der sicherste Anhalt zur Ermittlung der Wortbedeutung wäre wahrscheinlich die Erforschung des gesetzgeberischen Willens mit Hilfe der Gesetzgebungsgeschichte, doch verhält es sich damit wie bereits mehrfach dargestellt: Art. 103 II GG dient nicht der Durchsetzung des historischen Gesetzgeberwillens, sondern begründet ein Abwehrrecht des Bürgers gegen unvorhersehbare Rechtsanwendungen des Richters. Auch die Durchsetzung des historischen Willens kann jedoch wegen Widerspruchs zum Wortlaut unvorhersehbar sein und einer „objektiven“ Schranke bedürfen. Worin findet der „noch mögliche fachsprachliche Wortsinn“ aber sonst seine Grenzen? Daß auch dieses Kriterium vage ist (wie der alltägliche Sprachgebrauch), ist nicht zu bestreiten. Immerhin wird man aber verlangen können, daß die vom Gesetzgeber selbst vorgegebene Systematik einzuhalten ist292 und daß der Richter von einem eindeutig feststellbaren juristischen Sprachgebrauch nicht zulasten des Täters abweichen darf293, weder durch eine Flucht in den Alltagssprachgebrauch noch durch unhaltbare juristische Begriffs288

Davon ist im Urteil freilich nicht die Rede. Henkel (Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 200 f.) will den Bezug zur Alltagssprache insoweit wahren, als daß der juristische Sprachgebrauch zumindest nicht in einen „klaren Gegensatz“ zum allgemeinen Sprachverständnis treten darf und außerdem nicht gleichstellen darf, was dort Gegensätzliches bedeutet. 290 Wimmer, SuL 1998, 8 ff. Vgl. aber auch Busse, SuL 1998, 24 (29), mit der Hypothese, daß der Gesetzgeber die Vieldeutigkeit strategisch beabsichtige, um die Anpassungsfähigkeit des Gesetzes an zukünftige Entwicklungen zu gewährleisten. 291 Z. B. bezüglich der „zusammengesetzten Urkunde“ und der „Gesamturkunde“. 292 Siehe dazu auch unten III 7 f. 293 A.A. Küper, in: Heidelberg-FS, S. 465. 289

7. An der Wortlautgrenze

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bildungen, die einzig der Erfassung des als strafwürdig erkannten Einzelfalls dienen. Insbesondere kriminalpolitisch motivierte ad-hoc-Lösungen, die vom sonst gängigen Begriffsverständnis abweichen und damit zu einer „Sprachspaltung“ innerhalb der Fachsprache führen, sind abzulehnen, wenn sie nicht auf bereits in der Dogmatik geläufige Vorbilder verweisen können. Das Gesagte soll mit folgenden Beispielen, in denen eine Wortlautüberschreitung allein aus einem spezifisch fachsprachlichen Begriffsverständnis begründet werden könnte, illustriert werden:294 Fall 61 In BGHSt 28, 129 (oben Fall 24) war zu entscheiden, ob die gesetzlichen Formulierungen „berechtigt“ oder „entschuldigt“ (§ 142 II Nr. 2 StGB) auch das unvorsätzliche Verhalten erfassen. Der BGH ist der Ansicht, daß eine „formal-dogmatische“ Betrachtung dem nicht entgegensteht;295 nach der „Rechtssprache“ sei auch unvorsätzliches Verhalten erfaßt (S. 132). Infolgedessen stehe einer weiten, dem „natürlichen Wortsinn“ entsprechenden Auslegung nichts entgegen. Ob die Ausführungen des BGH zur fachsprachlichen Bedeutung der beiden Gesetzesbegriffe überzeugen, ist fraglich. Lackner hat dargelegt,296 daß die Gesetzesverfasser sehr wohl von einem engeren juristisch-technischen Verständnis der Begriffe ausgegangen seien und beim damaligen Stand der Rechtsprechung keinen Anlaß gehabt hätten, die Fallgruppe des vorsätzlichen Entfernens überhaupt zu diskutieren. Wie genau der Gesetzgeber ansonsten vorgeht, wenn es darum geht, Rechtsfolgen unvorsätzlichen, nicht rechtswidrigen oder nicht schuldhaften Verhaltens zu bestimmen, hat Rudolphi aufgezeigt:297 Auch hinsichtlich § 142 StGB spreche alles für ein engeres – dogmatisches – Verständnis; eine Abweichung von der Sprache, die der Gesetzgeber selbst verwende, verstoße gegen das Analogieverbot.298 Dagegen hat Küper zu begründen versucht, daß selbst bei einer Orientierung am fachsprachlichen Wortgebrauch der insoweit noch mögliche Wortsinn nicht überschritten sei:299 Theoriesprachlich könne sinnvoll von einem „entschuldigten“ Verhalten auch bei unvorsätzlichem Handeln gesprochen werden, denn auch in diesem Fall könne im weiteren Sinn kein „Schuldvorwurf“ erhoben werden; es komme in Hinblick auf die Wortlautgrenze nicht auf die systematisch „schärfste“ oder „richtige“ Begriffsbedeutung, sondern eben auf die noch mögliche an.300 294

Weitere Nachweise unten in Fn. 307. Der BGH zieht zur Ermittlung der Wortbedeutung vor allem die historische Auslegung heran! 296 Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 50. 297 Rudolphi, JR 1979, 210 (213); ähnlich Berz, Jura 1979, 125 (132). 298 Die Prämisse für seine Auffassung, nämlich daß die Wortlautgrenze überhaupt nach der Fachsprache zu ermitteln ist, begründet Rudolphi leider nicht. Bei Lackner (Fn. 296) bleibt der Zusammenhang der historischen Auslegung mit Art. 103 II GG sogar völlig offen; die Ausführungen zur Entstehungsgeschichte hängen quasi in der Luft. 299 Küper, in: Heidelberg-FS, S. 466; Küper selbst bestimmt die Wortlautgrenze allerdings nach dem Alltagssprachgebrauch, vgl. a. a. O., S. 465. 300 Dem wird man so nur schwerlich zustimmen können, denn durch die Systematik des § 142 II StGB hat der Gesetzgeber die Variationsbreite der noch möglichen juristischen Bedeutung doch weitgehend reduziert; näher Berz, Jura 1979, 125 (131 f.). Inso295

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III. Wortlaut und Wortsinn

Die Thematik soll hier nicht weiter vertieft werden, denn der methodisch maßgebliche Gesichtspunkt dürfte in den unterschiedlichen Stellungnahmen, insbesondere bei Küper hinreichend zum Ausdruck gekommen sein. Unter Berücksichtigung des bisher Ausgeführten gilt: Die Auslegung des BGH wäre gemessen an Art. 103 II GG unzulässig, wenn sie die eindeutig feststellbare fachsprachliche Bedeutung oder – falls kein eindeutiger Sprachgebrauch erkennbar ist – die noch mögliche fachsprachliche Bedeutung überschritte. Nach Ansicht des Gerichts ist das jedoch nicht der Fall. Die dabei vom Senat vorgetragenen inhaltlichen Gründe mag man bezweifeln, doch die methodische Vorgehensweise verdient grundsätzlich Beifall. Freilich kann aus den Ausführungen des Gerichts nicht geschlossen werden, daß der BGH der hier vertretenen Konzeption zum Verhältnis von Fach- zur Alltagssprache generell zustimmen würde. Fest steht aber immerhin, daß die juristische Fachsprache der „natürlichen“ Wortbedeutung vorginge und damit der Auslegung Grenzen setzt.301 Keinesfalls angängig wäre es mithin, das weite Verständnis durch eine Flucht in den allgemeinen Sprachgebrauch zu rechtfertigen, denn mit den Ausdrücken „berechtigt“ und „entschuldigt“ rekurriert der Gesetzgeber nicht auf deren umgangssprachliche Bedeutung. Fall 62 (BGHSt 37, 147): Als weiteres Beispiel, in dem ein fachsprachliches Begriffsverständnis „beinahe“ einen Verstoß gegen das Analogieverbot begründete, während eine alltagssprachlich angelegte Interpretation in bezug auf die Wortlautgrenze bedenkenlos möglich gewesen wäre, kann BGHSt 37, 147 angeführt werden. Nach § 29 I Nr. 1 BtMG wird u. a. bestraft, wer Betäubungsmittel unerlaubt anbaut, herstellt, . . ., ausführt, veräußert, abgibt, sonst in den Verkehr bringt. Eine Strafschärfung sah § 29 III 2 Nr. 4 BtMG a. F. für denjenigen vor, der mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge „Handel treibt, sie in nicht geringer Menge besitzt oder abgibt“. Kann aus dem Fehlen der Tathandlung des „Veräußerns“ im Qualifikationstatbestand geschlossen werden, daß die rechtgeschäftliche bzw. entgeltliche Abgabe („Veräußerung“) nicht von der Strafschärfung erfaßt wird?302 Eine solch subtile, aber offensichtlich sachwidrige Annahme wird durch den Gesetzestext des § 29 I Nr. 1 provoziert, der ausdrücklich zwischen (entgeltlicher) Veräußerung und (unentgeltlicher) Abgabe differenziert. Der BGH hat jedoch in Hinblick auf das Analogieverbot keine Bedenken, für den Fall der entgeltlichen Weitergabe auf den umfassenderen Gesetzesbegriff der „Abgabe“ zurückzugreifen (S. 151), obschon die Begründung des Senats recht gequält wirkt303. In der Differenzierung der Begriffe in § 29 I Nr. 1 wird man aber in der Tat eine derart trennscharfe Abgrenzung, die weit mag es nicht auf die „schärfste“, aber doch auf eine feststellbare Bedeutung ankommen. Daß Systematik und Kontext bei der Bestimmung der Wortlautgrenze zu berücksichtigen sind, dazu unten III 7 f. 301 Auch Looschelders/Roth (Methodik, S. 150 f.) gehen davon aus, daß der mit Hilfe der systematischen Auslegung ermittelte Sprachgebrauch die maßgebliche Grenze bildet, die BGHSt 28, 129 aber nicht überschritten habe. 302 Unterstellt wird dabei natürlich, daß ein „Veräußern“ denkbar ist, ohne zugleich die Alternative des „Handeltreibens“ zu verwirklichen. 303 Siehe die Anm. von Schoreit-Bartner, NStZ 1991, 90.

7. An der Wortlautgrenze

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Überschneidungen ausschlösse, nicht erkennen können. Wäre die Rechtssprache in den genannten Normen allerdings eindeutig im Sinn eines Ausschlußverhältnisses zu verstehen, so griffe zugunsten des Täters das Analogieverbot ein, obwohl der Sprachgebrauch des Alltags die Subsumtion ohne weiteres zuließe.304 Das Beispiel zeigt deutlich auf, welche Sorgfalt der Gesetzgeber bei der Formulierung seiner Texte obwalten lassen muß, um sachlich nicht gerechtfertigte Umkehrschlüsse zu vermeiden.305

Im Ergebnis kommt der hier vertretene Standpunkt der Praxis recht nahe,306 die über ihr Vorgehen freilich nicht reflektiert: Die Grenze des möglichen Wortsinns ist nur dann alltagssprachlich (aus Sicht des Bürgers) zu ermitteln, wenn es tatsächlich um die Auslegung eines Alltagsbegriffes geht. Bei juristischen Fachausdrücken schützt Art. 103 II GG vor unhaltbaren juristischen Begriffsbildungen: Von einem eindeutig feststellbaren juristischen Sprachgebrauch darf nicht zulasten des Täters abgewichen werden. Insoweit halten Praxis und Lehre dem Druck häufig nicht stand.307 Sind Fachausdrücke auch in der Umgangssprache geläufig, jedoch mit einer anderen Bedeutung (Homonyme, z. B. Sache, Gegenstand, Urkunde), dann verbietet es Art. 103 II GG, bezüglich der Wortlautgrenze von dem womöglich unliebsamen juristischen auf den Sprachgebrauch des Alltags auszuweichen. Andererseits kann die Fachsprache in dieser Situation sogar über die umgangssprachliche Bedeutung hinausgehen (vgl. wieder Sache, Gegenstand, Urkunde).308 c) „Lehnstuhlmethode“/Sprachgefühl/linguistische Erhebungen Ist im konkreten Fall der Alltagssprachgebrauch als maßgebliche Grenze anerkannt oder hält man diesen mit der herrschenden Meinung generell für entscheidend, bleibt noch die Frage, wie diese Grenze zu ermitteln ist.309 Da die 304

Eine solche Konstellation liegt in BGHSt 29, 311 = unten Fall 67 vor. Näher dazu unten V 3 b. 306 Ähnlich wie hier, aber konkretisierungsbedürftig Larenz, Methodenlehre, S. 322: „Unter dem ,möglichen Wortsinn‘ verstehe ich alles, was nach dem allgemeinen oder dem jeweils als maßgeblich zu erachtenden Sprachgebrauch dieses Gesetzgebers – wenn auch vielleicht nur unter besonderen Umstanden – noch als mit diesem Ausdruck gemeint verstanden werden kann.“ 307 Verstöße gegen diese Regel werden im weiteren Verlauf noch des öfteren aufgezeigt: Siehe z. B. BGHSt 33, 370 (Fall 68); 21, 101 u. a. (Fall 85); 34, 221 (Fall 103) und die Gegenauffassungen zu: BGHSt 42, 158 (Fall 104); 47, 243 (Fall 105); 42, 235 (III 7 g bb, Nr. 19); BGHSt 1, 313 (Fall 113). 308 Aber Achtung: Nicht jede juristische Konkretisierung macht einen Alltags- zu einem Fachbegriff; vgl. oben III 4 am Ende („freisetzen“) und Fall 47 („nicht erschienen“). Ein über die Alltagssprache hinausgehendes fachsprachliches Verständnis, das nicht lediglich auf einen Alltagsbegriff aufbaut und diesen konkretisiert, bedarf deshalb einer Begründung. 309 Strikt abl., allerdings von einem methodologisch anderen Ausgangspunkt Jean d’Heur, NJ 1995, 465 (466): „In der Alltagssprache ist die Suche nach der Wortlaut305

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III. Wortlaut und Wortsinn

(Bedeutungs-)Wörterbücher zur deutschen Sprache den gängigen Sprachgebrauch abbilden, bieten sich diese in erster Linie an. Merkwürdigerweise werden sie von der Praxis jedoch gerade hier nur selten herangezogen und wenn doch, dann häufig, um extensive Interpretationen zu rechtfertigen: Irgendeine der im Wörterbuch aufgeführten Wortbedeutungen wird die Subsumtion noch tragen!310 Denkbar ist weiterhin, sich die Erkenntnisse der einschlägigen Nachbarwissenschaften zunutze zu machen, indem etwa empirisch-linguistische Gutachten in Auftrag gegeben werden, die in Umfragen den tatsächlichen in der Bevölkerung herrschenden Sprachgebrauch ermitteln. Diese empirischen Untersuchungen stoßen freilich auf grundsätzliche Widerstände der Praxis und auf erhebliche praktische Probleme wie Zeit- und Kostenaufwand311. Vom Standpunkt der herrschenden Ansicht müßte konsequent auch ein Tatbestand, dessen Tatbestandsmerkmale stark von der juristischen Fachsprache geprägt sind, auf seine etwaige alltagssprachliche Bedeutung hin untersucht werden. Mit einbezogen werden müßten dabei zudem die relevanten und sehr allgemein gefaßten Bestimmungen des Allgemeinen Teils des StGB. Ob insoweit aussagekräftige empirische Untersuchungen möglich sind, ist zumindest zweifelhaft.312 Auf jeden Fall sinnvoll können solche Hilfsmittel für einen um verständliche Gesetzestexte bemühten Gesetzgeber sein, der nicht nur wegen des Bestimmtheitsgebots darauf achten sollte, daß Fach- und Alltagssprache nicht zu weit auseinanderdriften313.

Aber selbst wenn diese Schwierigkeiten überwunden werden könnten, bliebe doch die normativ zu beantwortende Frage, ab wann der mögliche Wortsinn noch als gewahrt angesehen werden kann: Wenn 20% oder 10% der Befragtengruppe oder gar nur ein Befragter den vom Rechtsanwender erwogenen Sprachgebrauch pflegt oder zumindest nicht für sprachwidrig hält?314 Womöglich exigrenze mithin reichlich albern, zumal wenn damit die Absicht verfolgt werden sollte, eine Art Sprachpolizei zur Sanktionierung abweichenden Sprachverhaltens zu etablieren.“ 310 Siehe bereits oben III 3 e. Wie man dieser Tendenz durch Berücksichtigung des Kontextes zumindest teilweise begegnen kann, siehe unten III 7 f am Ende. 311 Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 190. 312 Vgl. z. B. die linguistisch-empirische Untersuchung von Luttermann zur Verständlichkeit des Diebstahlstatbestandes (in: Juristische Fachsprache, S. 95 ff.). Daß die Probanden die Tatbestandsmerkmale des § 242 StGB teilweise anders verstehen als die Strafjuristen, dürfte kein überraschendes Ergebnis sein. 313 Eine solche Divergenz konstatiert mit Hilfe eines „explorativen Verständlichkeitstests“ Luttermann hinsichtlich der Frage, was unter einer „lebenslangen“ Freiheitsstrafe zu verstehen ist (ZRP 1999, 334). Krit. zu dieser Vorgehensweise und generell gegenüber unreflektierten Forderungen nach verständlichen Gesetzestexten Nussbaumer, ZRP 2000, 491, der für eine realistische Perspektive plädiert. 314 Die gleichen Schwierigkeiten tun sich auf, wenn mit Hilfe linguistischer Erhebungen geprüft werden soll, ob ein Tatbestand hinreichend bestimmt gefaßt ist: Welches Maß an Fehleinschätzungen seitens der Probanden über den Anwendungsbereich eine Norm beweist deren Unbestimmtheit?

7. An der Wortlautgrenze

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stieren in der Linguistik Maßstäbe dafür, was als herrschender, gebräuchlicher oder zumindest noch vertretbarer Sprachgebrauch bezeichnet werden kann, aber ist das auch der aus Art. 103 II GG folgende, juristisch relevante Maßstab? Angesichts der ungeklärten Fragen und Probleme erscheint der Rückgriff auf Bedeutungswörterbücher, in denen der praktizierte Sprachgebrauch von berufener Seite dokumentiert wird, als vorzugswürdig. In der Praxis – und entsprechendes gilt für das Schrifttum – herrscht demgegenüber in vielen Zweifelsfällen die Berufung auf das eigene Sprachgefühl vor, mit dem auf den allgemeinen Sprachgebrauch geschlossen wird („Lehnstuhlmethode“315). Häufig dürften damit vertretbare Ergebnisse erzielt werden, zumal informelle Kontrollmechanismen wirken: Eine völlig sprachwidrige Auslegung wird im Richterkollegium keine Zustimmung finden und in der Fachöffentlichkeit, deren Meinung der Rechtsanwender antizipiert316, als lächerlich zurückgewiesen. Diese „Lächerlichkeitsgrenze“ überschritte z. B., wer einen LKW als „bespanntes Fuhrwerk“ auffaßte. Trotz der genannten Kontrollmechanismen ist jedoch Vorsicht gegenüber der Berufung auf das eigene (richterliche) Sprachgefühl angebracht. Immer wieder kommt es vor, daß bloße Behauptungen vorgebracht werden,317 obwohl inhaltliche Begründungen zur Wortauslegung möglich waren, oder daß mit Evidenzbekräftigungen („ohne weiteres“, „zwanglos“) gearbeitet wird, obwohl die gegenteilige Hypothese bereits mit inhaltlichen Argumenten belegt werden konnte.318 In eine Aporie führt es sogar, wenn man jede Kontroverse um den möglichen Wortsinn schon als Beleg der sprachlichen Mehrdeutigkeit des Ausdrucks und damit praktisch jede propagierte extensive Interpretation als zulässig ansieht; abgesehen von völlig abwegigen Behauptungen zur Semantik, wäre dann kaum jemals eine Deutung ausgeschlossen.319 Eine solche Auffassung sollte in Hinblick auf die Funktion des Art. 103 II GG den „möglichen Wortsinn“ als Grenzkriterium ganz verwerfen.

315 Koch/Rüßmann (Begründungslehre, S. 190 f.) halten diese Vorgehensweise für zulässig, allerdings erst nach Ausschöpfung anderer Möglichkeiten (Wörterbücher!) und nur bei ausdrücklicher Kenntlichmachung. 316 Zumindest unbewußt wird der Rechtsanwender eine solche Prognose zur Akzeptanz durchführen; vgl. nochmals oben Kap. II, Fn. 59. 317 Nach Stickel (in: Sprache und Recht, S. 2) äußern einige Juristen „etwas naive“ Meinungen zur Sprache, dies aber „ziemlich selbstbewußt“. 318 Vgl. oben III 3 b und Fall 19 (BGHSt 27, 45). Weitere Beispiele unten in Kapitel III 7 g. 319 Siehe Küper, in: FS für Stree/Wessels, S. 483 f. Hinsichtlich der „Eindeutigkeit“ sprachlicher Auslegung vgl. allerdings auch BGHSt 25, 374 (379): Der Wortlaut sei nicht eindeutig, „wie schon die Tatsache zeigt, daß in der Rechtsprechung und im Schrifttum verschiedene Meinungen vertreten werden“.

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III. Wortlaut und Wortsinn

d) Porosität und (primäre/sekundäre) Redaktionsfehler Im Zusammenhang mit der Wortlautgrenze ist ein Phänomen zu behandeln, das die sprachanalytische Schule mit dem Ausdruck „Porosität“ der Begriffe bezeichnet. Gemeint ist die Offenheit (Durchlässigkeit) umgangssprachlicher Ausdrücke gegenüber neuen technischen oder sozialen Entwicklungen.320 In diesen Fällen kann der Anwendungsbereich der Norm eine Erweiterung erfahren, ohne daß eine Änderung des Normtextes notwendig wäre und ohne daß dadurch die Bedeutung der gesetzlichen Begriffe abgewandelt würde. Häufig genanntes Beispiel321 für diese Erscheinung ist der Begriff „Fahrzeug“, der natürlich auch die bislang noch nicht bekannten Fortbewegungsmittel erfaßt. Nicht anders verhält es sich mit dem Ausdruck „Waffe“, dessen Bedeutung bzw. Definition keine Variation erfährt, wenn die Waffentechnik etwas Neues hervorbringt; die Subsumtion wäre ohne weiteres zulässig, obwohl der Gesetzgeber nicht an die neuartige Erscheinung gedacht hat oder hat denken können. Seine Abstraktion der Lebenswirklichkeit durch die gesetzlichen Begriffe erfaßt auch den neuen Fall, und auch seine Wertentscheidung wird dadurch nicht konterkariert, sondern angemessen „verlängert“322. Vor diesem Hintergrund wird der Wunsch der Legislative nach unbestimmter Gesetzesformulierung verständlich und berechtigt: Das in höherem Maß abstrakt formulierte Gesetz bietet (bei allen sonstigen Nachteilen!) größere Gewähr für die sachgemäße und gleichmäßige Erfassung aller relevanten Sachverhalte.323 Eine detaillierte Kasuistik324 und größere Anschaulichkeit führen zu Lücken und Ungereimtheiten sowie zur Neigung der Gerichte, den Wortlaut der Vorschriften zu überdehnen oder überspielen.325 Die Problematik wird in den folgenden, gegenläufigen Entscheidungen deutlich: In BGHSt 10, 375 (oben Fall 57) ist es offensichtlich und vom BGH auch konstatiert, daß ein Kraftfahrzeug kein „bespanntes Fuhrwerk“ sein kann, obgleich teleologische Erwägungen für eine Anwendung der Norm sprachen. Der sprachliche Rahmen des Gesetzes stand einer Erfassung der neuen Fortbewegungsmittel entgegen; der Begriff ist insoweit „undurchlässig“. Fall 63 Anders lag es in RGSt 12, 371: Der gesetzliche Ausdruck „Eisenbahn“ (§§ 315, 316 StGB a. F.), deckte auch die elektrische Eisenbahn ab, obwohl der Ge320 Vgl. Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 150; Schünemann, in: FS für Bockelmann, S. 127. 321 Schünemann, in: FS für Bockelmann, S. 127. 322 Formulierung bei Schünemann, in: FS für Klug, S. 182. 323 Siehe Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 40: Mehrdeutigkeit kein Mangel, sondern Vorzug der Rechtssprache und Busse (oben Fn. 290). 324 Oft kritisiert: § 243 StGB i. d. F. bis zum 1. StrRG von 1969; siehe dazu die Glosse von Maurach, JZ 1962, 380. 325 Oder umgekehrt zu einer „subalternen“ Haltung der Richter gegenüber dem Gesetzestext, so Noll, JZ 1963, 297 (301, l. Sp.).

7. An der Wortlautgrenze

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setzgeber angesichts des technischen status quo nur mechanisch oder durch Dampfkraft angetriebene Eisenbahnen vor Augen hatte bzw. haben konnte. Die etablierte Definition des Begriffs „Eisenbahn“ stand einer Subsumtion nicht entgegen, da die Art der Antriebskraft insoweit nicht als begriffsnotwendig erschien. Zu Recht folgert das RG, daß der Gesetzgeber seine Anordnung nicht auf die damals übliche Konstruktion beschränken wollte (S. 372). Der Gesetzgeber vermöge nicht im voraus „die reiche Mannigfaltigkeit des Lebens zu fixieren“.

Die Entscheidungen behandeln deshalb gegenläufige Konstellationen, weil sie trotz gleicher Interessenlage – in beiden Fällen sprachen teleologische Gründe offensichtlich für die Anwendung des Gesetzes – bei Zugrundelegung desselben methodischen Instrumentariums zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen müßten, denn nur im Fall RGSt 12, 371 hält sich die Subsumtion noch innerhalb des sprachlichen Rahmens. Demgemäß mußte der BGH, um in BGHSt 10, 375 das „richtige“ Ergebnis zu erzielen, das methodische Instrumentarium im kaum haltbarer Weise (siehe oben bei Fall 57) abwandeln – eine teuer erkaufte Vorgehensweise, wenn man die nachhaltig andauernde Diskussion um diesen Fall berücksichtigt.326 Nicht gangbar ist auch der Weg, den sprachlichen „Mangel“ des Gesetzes durch die Figur des „sekundären Redaktionsfehlers“ zu beseitigen.327 Die Konstellation von BGHSt 10, 375 ist damit zwar treffend bezeichnet, denn ursprünglich („primär“) deckte der Gesetzestext die ins Auge gefaßte („angeschaute“) Wirklichkeit ab, während er bei Kenntnis von der späteren Entwicklung sicherlich anders formuliert worden wäre. Eine Korrektur dieses nachträglich eingetretenen, aus teleologischer Sicht „nur“ formell („redaktionell“) erscheinenden Fehlers durch den Richter ist unter der Herrschaft des Analogieverbots jedoch nicht legitimiert. Sie wäre im übrigen auch aus anderen als rechtlichen Gesichtspunkten nicht wünschenswert. Zum einen würde dadurch eine weitere Entfernung zwischen gelebten und geschriebenen Recht befördert, zum anderen einer Vernachlässigung der Kodifikationspflege durch den Gesetzgeber Vorschub geleistet. Deshalb kann es hingenommen werden, daß eine wortlautgetreue Auslegung in gewisser Weise zu einer „Mumifizierung“328 des Gesetzes führt und darüber hinaus der Zufall Einfluß auf das Auslegungsergebnis gewinnt, wenn es darauf ankommt, ob der Gesetzgeber seine Formulierungen (in weiser Voraussicht oder nicht) nur abstrakt genug gefaßt hat. Der Gesetzgeber befindet sich hier notgedrungen in einem Dilemma: Formuliert er zu abstrakt, aber „zukunftsfest“, wird das Gesetz für den Bürger weithin unlesbar (BGB!) und gerät womöglich in Konflikt mit dem Bestimmtheitsgebot, formuliert er zu anschaulich, aber dafür verständlich, entstehen unbefrie326 Das zeitgenössische Schrifttum hat sich demgegenüber mangels Sensibilisierung für das Thema kaum mit BGHSt 10, 375 auseinandergesetzt; Anmerkungen sind nicht ersichtlich. 327 Siehe oben Fn. 239. 328 Eine von Maurach (Strafrecht AT, S. 102) in anderem Zusammenhang verwendete Formulierung; näher dazu unten IV 5.

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III. Wortlaut und Wortsinn

digende Lücken. Gleichwohl steht das Interesse an der Berichtigung sekundärer Redaktionsfehler in keinem Verhältnis zur Begründung des Verdachts, eine Ausnahme vom Analogieverbot zu statuieren. Ein zwingendes Bedürfnis, in noch weiterem Umfang Spielräume der Gesetzesauslegung zuzulassen, ist in der vorliegenden Konstellation zudem nicht ersichtlich. Nach allem, was bereits zum möglichen Wortsinn als Auslegungsgrenze gesagt wurde, ist auch die Behandlung primärer Redaktionsfehler, d.h. schon ursprünglich im Gesetz angelegter Fassungsversehen329, nicht weiter problematisch. Art. 103 II GG verbietet es als „objektive“ Schranke, eine Gesetzeskorrektur zulasten des Betroffenen vorzunehmen, auch wenn eine solche Korrektur im Interesse der Gesetzesverfasser oder der allgemeinen Rechtsentwicklung sein mag.330 Die Rechtssicherheit gebietet es, den „Gesetzgeber beim Wort zu nehmen“ (BVerfGE 71, 108 [116]). Es besteht im übrigen bei Berücksichtigung des Vertrauensschutzes auch kein Unterschied, ob die Fehlleistung des Gesetzgebers allein sprachlich oder doch inhaltlich begründet ist. Zum einen kann auch ein versehentliches „Verschreiben“ zu einem sinnvollen und Vertrauensschutz begründenden Text führen. Zum andern sollten in dieser sensiblen Thematik von vornherein Abgrenzungsfragen und Umgehungsversuche – fragwürdige Behauptungen bloßer Redaktionsversehen – vermieden werden. Deshalb darf auch ein offensichtliches, jedermann erkennbares Redaktionsversehen nicht berichtigt werden, mögen die „Einbußen an Vernünftigkeit“ noch so „beklagenswert“331, die Folgen noch so unerwünscht332 sein. Das „Analogieverbot“ umfaßt eben nicht nur die Analogie im engeren Sinn als Methode der Lückenfüllung, sondern jede wortlautüberschreitende Rechtsanwendung bzw. Gesetzeskorrektur zulasten des Täters. Wenn verschiedentlich die Richtigstellung von Redaktionsversehen zur Durchsetzung des wahren Gesetzeswillens als „Ausle329

Näher zum Begriff des Redaktionsversehens und ähnlicher Erscheinungen unten

IV 8. 330 Entschieden abl. zur täterbelastenden Korrektur von Redaktionsversehen Krey, Studien, S. 171 f.; Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 58 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 103, Stand: 12/1992, Rn. 228; Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1, Rn. 75; ebenso aus Vertrauensschutzerwägungen Jahr, in: FS für Kaufmann, S. 152; a. A. etwa Heck, Gesetzesauslegung, 1914, S. 196: Das Analogieverbot erstrecke sich nicht auf die Korrektur sprachlicher Fehlgriffe; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 160: „Vom möglichen Wortsinn ist nur dann abzusehen, wenn ein Fehler in der Textfassung des Gesetzes vorliegt . . .“. 331 Siehe Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 56. 332 Aufgrund § 2 III StGB können die Konsequenzen eines Versehens enorm sein, selbst wenn der Gesetzgeber unverzüglich nachbessert; vgl. z. B. BGHSt 22, 375 = unten Fall 224 („Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen“). Sehr kraß wäre es etwa, wenn der Gesetzgeber bei Überarbeitung des Gesetzes für ein schweres Delikt als Höchstmaß der Freiheitsstrafe 10 Monate statt 10 Jahre bestimmen würde oder wenn ein Straftatbestand geschlechtsdifferenzierend formuliert, an einer Stelle aber der männliche Täter „vergessen“ würde. Daß solche Gesetze womöglich verfassungswidrig wären, hülfe nicht, denn was sollte an deren Stelle treten?

7. An der Wortlautgrenze

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gung“ charakterisiert wird333, kann das einmal auf einer abweichenden – nicht auf den Wortlaut, sondern auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers oder den Zweck des Gesetzes abstellenden – Konzeption bei der Abgrenzung von „Auslegung“ und „richterlicher Rechtsfortbildung“ beruhen, die aber gleichfalls den Vertrauensschutz in Rechnung stellen muß und kann;334 nicht jedoch kann in dieser Situation mit dem Ausdruck (berichtigende) „Auslegung“ ein etwaiger Verstoß gegen Art. 103 II GG ausgeräumt werden. Diese Zusammenhänge sollten nicht durch eine unklare Terminologie verdunkelt werden: Die Berichtigung eines Redaktionsfehlers beinhaltet die Korrektur oder Änderung des Gesetzeswortlauts und muß sich, auch wenn sie der Durchsetzung des gesetzgeberischen Willens dient, am Maßstab des Art. 103 II GG messen lassen. In der amtlichen Sammlung findet sich folgerichtig auch keine Entscheidung im Anwendungsfeld des Art. 103 II GG, in der sich der BGH ausdrücklich berechtigt sieht, einen Redaktionsfehler gegen den Gesetzeswortlaut zulasten des Täters zu korrigieren. Da in den entsprechenden Fällen starke Sachgründe zur Ausweitung drängen, wird die Problematik in die sprachliche Bestimmung der Wortlautgrenze verlagert, die, weil dem Rechtsanwender ihre Überschreitung unter Berufung auf ein Versehen versagt bleibt, in fragwürdiger Weise gedehnt oder umgangen werden muß. Entsprechende Urteile, die im Ergebnis doch auf eine Gesetzeskorrektur hinauslaufen, werfen demgemäß weniger prinzipielle Fragen auf, sondern sind auf Redlichkeit und Vertretbarkeit der Argumentation hin zu untersuchen.335 e) Bedeutungswandel/zeitlicher Horizont Eng verwandt mit der Porosität der Rechtsbegriffe ist die Frage nach dem maßgeblichen Sprachgebrauch im zeitlichen Horizont: Kommt es auf das zum Zeitpunkt des Gesetzeserlasses geltende oder auf das gegenwärtige Begriffsverständnis an? Und: Hängt die Antwort davon ab, ob es um die Auslegung eines Alltags- oder eines juristischen Fachbegriffs geht? Die Thematik wird akut, wenn aufgrund veränderter tatsächlicher oder rechtlicher Umstände ein Bedeutungswandel der Norm, d.h. eine Sinnänderung bei unverändertem Wortlaut336 333 Z. B. Bender, JZ 1957, 593 (599); Enneccerus, Bürgerliches Recht, S. 109: „Abändernde Auslegung“; Riedl, AöR 1994, 642 (652, 654); vgl. auch Wessels, unten bei Fall 214; dagegen etwa Krey, Studien, S. 172. 334 Rüthers (Rechtstheorie, Rn. 937 f., 950) sieht in der Korrektur von Formulierungsfehlern keine „richterliche Abweichung vom Gesetz“, jedoch müsse die Korrektur den Vertrauensschutz der Normadressaten beachten. Unklar demgegenüber Engisch, der die Richtigstellung eines Redaktionsversehens einerseits noch als „Auslegung“ qualifiziert, andererseits als legitimierenden Grund für eine Rechtsfortbildung betrachtet (vgl. Einführung, S. 224 und S. 122 [Fn. 47 unter 4.]). 335 Eingehend zur Argumentationspraxis der Strafsenate im Bereich gesetzgeberischer Fehler unten IV 8.

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III. Wortlaut und Wortsinn

im Raum steht. Ein Unterschied zwischen der Porosität der Rechtsbegriffe (Erfassung eines neuen Falls ohne Änderung der Intension) und einem Bedeutungswandel (Abwandlung der Intension) ist freilich nicht immer leicht zu erkennen.337 Wird die Intension nur hinreichend konkret gefaßt wie etwa in der berühmten 223silbigen Definition des Begriffs „Eisenbahn“ durch RGZ 1, 247 (252), dann wird fast jede neue Erscheinungsform (Extension) zu einer Korrektur der bisher maßgeblichen Definition (Intension) drängen.338 Begriffsinhalt und -umfang verschwimmen. Schon hier wird deutlich, daß ein „Bedeutungswandel“ nicht in erster Linie eine Frage von Art. 103 II GG ist, sondern zur Thematik führt, ob die Auslegung an den Sprachgebrauch des historischen Gesetzgebers gebunden ist. Hingegen gewährt die für Art. 103 II GG maßgebliche Grenze des „möglichen Wortsinns“ weitaus mehr Spielraum, in dem unter Umständen mehrere Intensionen Platz finden. Zur Illustration kann erneut BGHSt 1, 1 herangezogen werden, eine Entscheidung, die im Schrifttum nach wie vor rege diskutiert und zum Teil als Beleg für Verstöße der Rechtsprechung gegen das Analogieverbot aufgeführt wird. Fall 64 (BGHSt 1, 1 = oben Fall 51, Salzsäure als „Waffe“?): Das RG hatte gegen die Einbeziehung chemischer Substanzen maßgeblich mit dem Gesetzeswortlaut sowie der Entstehungsgeschichte des § 223a StGB a. F. argumentiert (RGR 4, 298). Unter den Waffenbegriff fielen nur Instrumente, welche „nach objektiver Beschaffenheit und regelmäßiger Bestimmung dazu dienen, auf mechanische Weise Körperverletzungen durch Hieb, Stoß, Stich, Wurf oder Schuß herbeizuführen“ (S. 299). Auch die Gesetzesverfasser hätten einhellig und ausdrücklich auf die mechanische Einwirkung abgestellt und nur dementsprechende Beispiele aufgezählt. Der BGH begründet seine weitergehende Auffassung wie folgt: (1) Die Begrenzungen des Waffenbegriffs hätten ihre Grundlage in den damaligen Auffassungen vom Wesen der Waffe gefunden. (2) Diese Auffassungen seien aus dem Sprachgebrauch der Allgemeinheit und der Technik hergeleitet worden und (3) unterlägen damit dem Wandel der Zeiten. (4) Die Fortentwicklung von Kriegstechnik und Naturwissenschaften rechtfertigten eine Trennung zwischen mechanischen und chemischen Angriffsmitteln nicht mehr. (5) Auch der allgemeine Sprachgebrauch sei dieser Weiterentwicklung längst gefolgt. (6) Ein entgegenstehender, originär strafrechtlicher Waffenbegriff sei nicht ersichtlich.339 Die Entscheidung wird im Schrifttum mit unterschiedlicher Begründung kritisiert. G. und D. Reinicke (NJW 1951, 681 [683]) bemängeln die Dynamisierung des Ge336

Schmidt-Jortzig, Rechtstheorie, 1981, 395 (403). So legt etwa BVerfGE 2, 380 (401) einen sehr weiten Begriff des „Bedeutungswandels“ zugrunde: „Allerdings kann eine Verfassungsbestimmung einen Bedeutungswandel erfahren, wenn in ihrem Bereich neue, nicht vorgesehene Tatbestände auftauchen oder bekannte Tatbestände durch ihre Einordnung in den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder Bedeutung erscheinen“. 338 Z. B., wenn die Schienen der Bahn nicht mehr – wie es die ursprüngliche Definition verlangt – aus „Metall“, sondern einem anderen Werkstoff bestehen. Wäre die entsprechende Anpassung der Definition als „Bedeutungswandel“ zu klassifizieren? 339 Zu diesem Aspekt der Entscheidung siehe bereits oben Fall 51. 337

7. An der Wortlautgrenze

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setzes: Der Waffenbegriff sei kein Blankettbegriff, der auf die jeweils geltenden Anschauungen verweist, sondern müsse so ausgelegt werden, wie er ursprünglich verstanden wurde. Da auch der Gesetzgeber unter Waffen nur mechanisch wirkende Mittel verstanden habe, sei die durch den BGH erfolgte Ausdehnung eine verbotene Analogie. Baumann340 meldet Zweifel an hinsichtlich der Prämisse, der allgemeine Sprachgebrauch habe eine Fortentwicklung erfahren, denn der allgemeine Sprachgebrauch unterscheide sehr wohl zwischen „Waffen“ und „chemischen Kampfmitteln“341; zumindest hätte das Gericht seine Meinung näher begründen müssen. Kaufmann sieht die Entscheidung als „unreflektierten Machtspruch“; die Gleichsetzung von Salzsäure mit Waffe sei mit Wortlaut und möglichen Wortsinn nicht vereinbar.342 Ein Hinwegsetzen über die Grenzen des Lebenssprachgebrauchs bescheinigt dem BGH ferner R. Schmitt (JZ 1969, 304 [305]). Zumindest kritisch äußern sich auch Engisch, Hassemer, Schmidhäuser und Rüthers343, für „noch legitim“ hält Larenz344 die Entscheidung, für „hart an der Grenze“ Eser345, während nach Roxin die Umgangssprache den Ausdruck „chemische Waffe“ kenne, der Wortsinn der Subsumtion folglich nicht entgegenstehe346.

Fraglich ist zunächst, ob der BGH im vorliegenden Fall eine Änderung des Norminhalts bzw. der Wortbedeutung vorgenommen hat oder ob das Gericht bei unveränderter Intension des Waffenbegriffs lediglich eine Veränderung im Bereich der Technik aufgefangen hat, ohne den sprachlichen Rahmen der Norm zu verändern (Porosität). Ist letzteres gegeben, kann von vornherein keine Überschreitung des möglichen Wortsinn angenommen werden. Die Argumentation des BGH geht allerdings von einem Bedeutungswandel aus: Der ursprüngliche Sprachgebrauch des Alltags habe unter Einfluß des damaligen Stands der Waf340

Baumann, MDR 1958, 394 (395, r. Sp.). H. und K. Clauß (JZ 1961, 660 [662, Fn. 28]) halten Baumann entgegen, daß der allgemeine Sprachgebrauch noch viel weiter gehe; man spreche z. B. von den „Waffen einer Frau“. Diese Argumentation überzeugt aber ihrerseits nicht, weil sie den auch im Bereich des allgemeinen Sprachgebrauchs zu beachtenden Kontext außer acht läßt; vgl. unten III 7 f (Text zu Fn. 382). 342 Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 80. Eine ernsthafte Analyse der Entscheidungsgründe liefert Kaufmann freilich nicht, obwohl er die Entscheidung geradezu als Gewährsfall heranzieht, um die Untauglichkeit der herkömmlichen Methodendoktrin zu beweisen (vgl. a. a. O. vor allem S. 11, 80, 92); das Verdikt des „unreflektierten Machtspruchs“ trifft eher die Behauptungen Kaufmanns als den BGH. 343 Engisch, Einführung, S. 195: „fragwürdig“; Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 92: wortlautferne Auslegung; Schmidhäuser, Strafrecht AT, 5/42; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 168, der freilich viele Aspekte durcheinanderwirft (die Ausweitung des Waffenbegriffs auf chemische Angriffsmittel hat nichts mit der Frage zu tun, ob man in § 223a StGB a. F. die Waffe oder das gefährliche Werkzeug als Oberbegriff auffaßt; zu dieser Frage, die sich mit der Änderung des § 224 I Nr. 2 StGB n. F. im übrigen erledigt hat, siehe oben Fall 32). 344 Larenz, Methodenlehre, S. 324. 345 Eser, in: Schönke/Schröder, StGB26, § 1, Rn. 56. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 160: Im Rahmen des § 223a StGB. 346 Roxin, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 29. Krey (Studien, S. 166 [Fn. 19]) geht bezüglich BGHSt 1, 1 sogar davon aus, daß die „ganz h. M.“ den Rahmen des möglichen Wortsinns für gewahrt halte. 341

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III. Wortlaut und Wortsinn

fentechnik unter Waffe ein mechanisch wirkendes Mittel verstanden. Erst mit dem Wandel der Technik habe die alltagssprachliche Definition durch die Erfassung der chemischen Angriffsmittel eine Erweiterung erfahren. Freilich bleibt der Unterschied eines Bedeutungswandels zum Phänomen der Porosität gerade im vorliegenden Fall marginal, wenn man noch einmal genauer auf den Ausgangspunkt der Begriffsbildung zurückblickt. Dann bietet sich folgender, vielleicht ebenso akzeptabler Begründungsweg an, der allein auf die Veränderung der Lebenswirklichkeit abstellt: (1) Der Gesetzgeber hat das damals übliche, umgangssprachliche Verständnis des Ausdrucks „Waffe“ zugrunde gelegt. (2) Dieses orientierte sich an den tatsächlichen Erscheinungsformen der technischen Angriffsmittel, die damals typischerweise mechanisch wirkten. (3) Die „zutreffende“ Begriffsbildung (Abstrahierung) müßte demnach unter „Waffe“ ein „technisches“ Angriffsmittel verstehen. (4) Somit ist die mechanische Wirkweise kein notwendiger Bestandteil der Intension,347 sondern nur die nächst höhere Abstraktionsstufe („technisch“). (5) Darunter fallen aber auch chemische Angriffsmittel. (6) Hätte der Gesetzgeber die veränderten Umstände bereits bei Gesetzeserlaß vor Augen gehabt, hätte er in den Gesetzesmaterialien auch die chemischen Angriffsmittel erwähnt, den Gesetzestext aber nicht anders abgefaßt!

Für die Differenzierung von Porosität und Bedeutungswandel kommt es somit darauf an, von welcher Definition der Rechtsanwender ausgehen muß und was davon wirklich begriffsnotwendig ist. Hält man insoweit die Ansicht des historischen Gesetzgebers für maßgeblich, dann stellt sich nur die Frage, was nach dessen Vorstellungen die Intension der Begriffe kennzeichnet und ob eine etwaige Abweichung von diesen Vorstellungen (dann: „Bedeutungswechsel“) zulässig ist.348 Um etwas anderes geht es jedoch bei Art. 103 II GG. Hier kommt es darauf an, ob die Subsumtion gegen den „möglichen Wortsinn“ des Begriffs „Waffe“ (oder „gefährliches Werkzeug“) verstößt, ob also die umgangssprachliche Bedeutung in sprachwidriger Weise überschritten wird, wenn die Intension von „mechanisch wirkend“ auf „mechanisch oder chemisch wirkend“ erweitert wird. Die o. g. Autoren vertreten hier – meist ohne nähere Begründung – gegenteilige Standpunkte und stützen sich dabei offenbar auf ihr Sprachgefühl. Der jeweiligen Auffassung kann man sich anschließen oder widersprechen, aber rational überprüfbar ist diese „Lehnstuhlmethode“ (siehe dazu oben III 7 c) nur bedingt.349 Womöglich hätte die Heranziehung von Wörterbüchern ein wenig mehr Orientierung geboten. Für die Fallgestaltung von BGHSt 1, 1 wird man eine Überschreitung des möglichen Wortsinns kaum feststellen können, denn daß der Betroffene, der den Einsatz eines chemischen Angriffsmittels in Be347

Siehe zum Vergleich nochmals oben Fall 63 („Eisenbahn“). Ausführlich dazu unten IV 5 und Looschelders/Roth, Methodik, S. 139. 349 Insofern würde sich die Frage stellen, ob und vor allem wie die Forderung Baumanns nach näherer Begründung einzulösen wäre. 348

7. An der Wortlautgrenze

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tracht zieht, die Bezeichnung dieses Mittels als „Waffe“ oder „gefährliches Werkzeug“ als sprachwidrig erachtet und deshalb die Strafbarkeit gemäß § 224 I Nr. 2 StGB nicht vorhersehen kann, erscheint als eher lebensfremde Annahme.350 Im Ergebnis kann die Anpassung der Auslegung an veränderte Umstände also sowohl am fehlenden sprachlichen Rahmen (Art. 103 II GG – „Forstdiebstahl“!) als auch am entgegenstehenden gesetzgeberischen Willen scheitern. Gerade BGHSt 1, 1 zeigt, wie die adäquate Analyse eines Urteils durch die Verknüpfung zweier auslegungstheoretischen Problemfelder erschwert wird, nämlich der Frage nach einem Verstoß gegen das Analogieverbot mit der Frage, ob der Wille des historischen Gesetzgebers der Subsumtion im vorliegenden Fall entgegensteht. Von letzterem gehen z. B. G. und D. Reinicke aus und sehen schon deshalb in der Ausdehnung des Anwendungsbereichs durch den BGH eine verbotene Analogie. Beide Gesichtspunkte sind jedoch auseinanderzuhalten.351 Die historische Auslegung spricht hier eventuell für die enge Auslegung,352 aber das hat nichts mit dem „möglichen Wortsinn“ als Auslegungsschranke zu tun, sondern mit dem Rang des historischen Kriteriums im Kanon und der Frage nach dem Ziel der Auslegung. Deshalb verfängt auch der Hinweis der Autoren auf den vom Gesetzgeber angeblich nicht gewollten „Blankettbegriff“ nicht, denn daß die Gesetzesverfasser wirklich gegen eine solche dynamische Anpassung der Norm gewesen waren, hätte einerseits näherer Begründung bedurft (näher unten IV 5 b) und hat andererseits wiederum nichts mit Art. 103 II GG zu tun. Das Thema „Bedeutungswandel“ provoziert noch Ausführungen zu einem (angeblichen) Paradebeispiel für die Veränderungen eines Alltagsbegriffs und den damit einhergehenden dogmatischen und sogar verfassungsrechtlichen Implikationen; gemeint ist der Gewaltbegriff im Strafrecht. Fall 65 (BGHSt 1, 145 – „Betäubungsmittel“): Verübt der Täter „Gewalt“ i. S. des § 249 StGB, wenn er das Opfer betäubt, ohne dabei Widerstand überwinden zu 350 Etwas anderes gälte womöglich, wenn man für den relevanten Sprachgebrauch auf den Zeitpunkt der Gesetzesentstehung abstellt, näher unten am Ende dieses Abschnitts. Aber das wäre paradox. 351 Beide Aspekte ebenfalls verknüpfend Krey, Studien, S. 162 f., der dann aber einigen Begründungsaufwand leisten muß, um darzulegen, daß auch die subjektive Auslegungstheorie eine Orientierung am heutigen Sprachgebrauch zulasse. Nach Ansicht von Schünemann (in: FS für Bockelmann, S. 126 f.) ist der Begründungsversuch Kreys jedoch nicht gelungen. 352 Als „Objektivist“ oder als Anhänger der „Andeutungstheorie“ wird man in BGHSt 1, 1 freilich den Willen des historischen Gesetzgebers ohne weiteres mit dem Argument neutralisieren können, daß er keinen hinreichenden Ausdruck im Wortlaut des Gesetzes gefunden habe. Denn die Formulierung „insbesondere eines Messers oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs“ erzwingt keine Beschränkung auf mechanisch wirkende Angriffsmittel.

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III. Wortlaut und Wortsinn

müssen? Das RG hat die Frage „mit Rücksicht auf den Wortlaut“ stets verneint, in RGSt 72, 349 allerdings unter Berufung auf den Grundgedanken der Norm eine (damals zulässige) Analogie bejaht. Der BGH hält eine unmittelbare Anwendung für möglich: Die Rechtsprechung des RG sei widersprüchlich, denn es habe auch in anderen Fällen, in denen kein nennenswerter körperlicher Kraftaufwand vorlag (Einschließen, Schreckschuß), das Tatbestandsmerkmal Gewalt bejaht (Nachweise in BGHSt 1, 145 [146]). Vom Opfer her gesehen könne es keinen Unterschied machen, ob der Täter mit Betäubungsmitteln oder sonstigem Zwang (Schreckschuß!) vorgeht (S. 147). Diese Auslegung entspreche allein der natürlichen Betrachtung, zumal im allgemeinen Leben die Betätigung von Körperkraft immer mehr zurückgetreten sei. Fall 66 (BGHSt 8, 102 – „Generalstreik“): Übt „Gewalt“ i. S. von § 80 I Nr. 1 StGB a. F. aus, wer durch Massenstreiks Bundesregierung und Bundestag ausschalten will? Der BGH ist der Ansicht, daß der Gewaltbegriff die Anwendung von Körperkraft nicht notwendig erfordere (S. 103). Ihr Einsatz zur Einwirkung auf Verfassungsorgane gehöre vergangenen Zeiten an; die Gegenwart kenne andere, ebenso wirksame Mittel des Umsturzes. Entscheidend sei die Zwangswirkung. Diese Auslegung des Gewaltbegriffs entspreche der neueren Tendenz in Rechtsprechung (Hinweis auf BGHSt 1, 145) und Lehre.

Nicht zuletzt BGHSt 1, 145 und 8, 102 werden als Belege für eine Entwicklung angeführt, die als „Vergeistigung“ oder „Entmaterialisierung“ des Gewaltbegriffs bezeichnet wird.353 Insbesondere der Nötigungstatbestand wurde im Lauf der Zeit auch bei Verhaltensweisen herangezogen, die zwar nicht mehr dem ursprünglichen – einigen körperlichen Kraftaufwand beim Täter verlangenden – Verständnis von Gewalt entsprachen, jedoch als ähnlich wirksam und ebenso strafwürdig angesehen wurden. Bei Zugrundelegung des ursprünglichen (körperlichen) Gewaltbegriffs, so wie ihn der Gesetzgeber wohl verstanden354 und die Rechtsprechung auch sanktioniert hat, ist in der Ausweitung somit eine Änderung der Intension zu sehen. Der BGH sieht sich aufgrund veränderter Lebensverhältnisse und bei „natürlicher Betrachtung“ offenbar zur Vornahme des Bedeutungswechsels berechtigt. Im möglichen Wortsinn als Auslegungsgrenze erkennen beide Entscheidungen kein Problem, obwohl das RG seine gegenteilige Entscheidung unter anderem „mit Rücksicht auf den Wortlaut“ traf. Um die Frage nach der Wortlautgrenze beantworten zu können, muß freilich zunächst geklärt werden, auf welchen zeitlichen Horizont es insoweit ankommt.355 In der ersten Sitzblockadenentscheidung (BVerfGE 73, 206) haben vier unterlegene Richter einen Verstoß gegen das Analogieverbot bejaht und argumentiert, hinsichtlich der Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit komme es auf den Zeitpunkt des 353

Statt vieler BVerfGE 92, 1 (15). So z. B. Heinemann/Posser, NJW 1959, 121 (122): Auch der Gesetzgeber habe bei Schaffung des § 80 StGB (a. F.) 1951 unter „Gewalt“ das seit jeher geltende Verständnis (Anwendung physischer Gewalt) zugrunde gelegt. 355 Zu ungenau bleiben Heinemann/Posser, NJW 1959, 121 (122), indem sie dem BGH einen Verstoß „gegen den Sinn des Satzes nulla poena sine lege“ vorwerfen. 354

7. An der Wortlautgrenze

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Gesetzeserlasses an (S. 244). Das ist jedoch kaum haltbar. Damit wäre sogar eine Berücksichtigung tatsächlicher Veränderung im Rahmen der Porosität verfassungsrechtlich verboten. Maßgeblich für das Verbot sprachwidriger Auslegung zulasten des Bürgers ist vielmehr das gegenwärtige Sprachverständnis356 (zur Tatzeit), denn bei der Abschätzung des Strafbarkeitsrisikos kann der Betroffene nur vom aktuellen Verständnis seiner Sprachgemeinschaft ausgehen. Zumindest theoretisch denkbar, aber höchst unwahrscheinlich ist es, daß aufgrund eines Sprachwandels der „mögliche Wortsinn“ eines Alltagsbegriffs verengt wird, so daß die Subsumtion nunmehr unzulässig wird. Wenn nicht die Fachsprache vorrangig wäre, müßte man eine solche Konstellation in der Thematik erwägen, ob ein Tier als „Sache“ gelten kann (siehe oben III 7 b).

Ob darüber hinaus Vertrauensschutz gegen den nachteiligen Wandel einer ständigen Rechtsprechung besteht, die z. B. im Beibringen von Betäubungsmitteln seit jeher keine Gewalt sah, ist eine davon zu unterscheidende Frage, die überwiegend unter dem Gesichtspunkt „Rückwirkungsverbot“ diskutiert wird. Für die Vereinbarkeit des vergeistigten Gewaltbegriffs mit der Wortsinngrenze kommt es somit darauf an, ob nach alltäglichem, zur Tatzeit gültigen Sprachgebrauch das Beibringen von Betäubungsmitteln, ein Schreckschuß oder die Sitzblockade noch als Gewalt aufgefaßt werden kann oder ob eine solche Interpretation als dermaßen sprachwidrig erscheint, daß die Normanwendung nicht vorhersehbar war.357 Wenn der BGH die Subsumtion hier im Rahmen des Möglichen sieht, kann man das kaum beanstanden; freilich hätte eine nähere Erläuterung, von welchem semantischen Spielraum auszugehen ist und welcher Sprachgebrauch in zeitlicher Hinsicht maßgeblich ist, nicht geschadet358. Weiter verkompliziert würde die Frage nach dem zeitlichen Horizont, wenn man mit den vier unterlegenen Richtern aus BVerfGE 73, 206 schon in BGHSt 1, 145 eine Überschreitung des möglichen Wortsinns sähe. Kann dann noch viele Jahre später, nachdem die Entmaterialisierung des Gewaltbegriffs ihren Fortgang nahm, noch eine Wortlautüberschreitung konstatiert werden, obwohl das Strafbarkeitsrisiko (insbesondere bei Sitzblockaden) für jedermann vorhersehbar war? Die genannten Richter haben sich mit der Begründung beholfen, die Ausdehnung des Gewaltbegriffs sei alsbald auf Kritik gestoßen, wodurch eine für die Frage der Vorhersehbarkeit maßgebliche gefestigte Rechtsauffassung sich nicht habe bilden können (S. 245). Für die Sitzblockaden mag diese Ansicht noch zutreffen, für die Betäubungsmittel oder den Schreckschuß bleiben aber doch Zweifel. Wohlweislich hat sich die zweite Sitzblokkaden-Entscheidung (BVerfGE 92, 1) bei ihrer Einschränkung des Gewaltbegriffs nicht auf das Analogieverbot, sondern auf das Bestimmtheitsgebot gestützt.359 356 In diesem Sinn Kramer, Methodenlehre, S. 64; Krey, Studien, S. 162; Larenz, Methodenlehre, S. 324; Scheffler, Jura 1996, 505 (507). 357 Zu erwägen ist allerdings, ob es sich beim Gewaltbegriff um einen Ausdruck der Fachsprache handelt. Dann würden sich freilich ganz ähnlich Fragen stellen. 358 Entsprechendes ist auch in anderen kritischen Urteilen des BGH zum Gewaltbegriff nicht zu finden, siehe z. B. BGHSt 23, 46 („Laepple“) und BGHSt 23, 126 (Vorhalten einer Waffe).

134

III. Wortlaut und Wortsinn

Abschließend bleibt festzuhalten: Ein Bedeutungswandel kann unter Herrschaft des Analogieverbots von der Rechtsprechung nur dann (nach-)vollzogen werden, wenn dadurch der sprachliche Rahmen, verstanden als der gegenwärtig mögliche Wortsinn, nicht verlassen wird. Insoweit erweisen sich die Entscheidungen BGHSt 1, 145 und 8, 102 eher nicht als Problemfälle der Wortlautgrenze. Ob der mit einer Anpassung der Rechtsprechung verbundene Wandel des Norminhalts im Einklang mit den weiteren Auslegungselementen (insbesondere der subjektiv-historischen Auslegung360) steht, ist eine davon zu trennende Frage. f) Kontext/Systematik/Zusammenspiel von Normen Im Bereich der Wortlautgrenze ist auf einen Gesichtspunkt hinzuweisen, der bereits an anderer Stelle angerissen wurde (oben III 3 f) und auch mit der Problematik Fachsprache/Alltagssprache verknüpft ist (oben III 7 b). Es geht um die eigentlich selbstverständliche Feststellung, daß sich der „mögliche Wortsinn“ als maßgebliche Auslegungsgrenze aus mehr Faktoren zusammensetzt als dem nackten Gesetzeswortlaut. Zutreffend und präzise hat der BGH dies in BGHSt 41, 285 f. (siehe oben Fall 1) wie folgt zusammengefaßt: „. . . findet die Auslegung des Begriffes . . . – wie immer – seine Grenze im Wortsinn, wie er sich aus dem Gesetzeswortlaut und aus dem Sinnzusammenhang des Gesetzes ergibt, in den die Norm gestellt ist.“

Neben dem Gesetzeswortlaut ist also der Kontext, in dem die Gesetzesbegriffe eingebettet sind, zu berücksichtigen. Und erst recht gilt dies für den grammatikalisch-syntaktischen Zusammenhang,361 auch wenn der BGH in der oben zitierten Formulierung dazu explizit nichts sagt. Sprachtheoretisch handelt es sich dabei sicherlich um keine überraschenden Einsichten, aber dennoch ist dieser Aspekt in Anbetracht der daraus resultierenden Konsequenzen und zur Vermeidung von Mißverständnissen zu betonen, zumal im Bereich der Wortlautgrenze die Heranziehung von Kontext und Syntax eine Begrenzung der richterlichen Deutungsmöglichkeiten zur Folge hat.362 Zur Ermittlung der gemäß Art. 103 II GG maßgeblichen Wortlautgrenze ist zudem die logisch-systematische Auslegung heranzuziehen, soweit sie unmittelbar Aufschluß über die Wortbedeutung gibt und das Ergebnis eindeutig ist:363

359

Näher dazu unten Fall 277. Eingehend dazu unten IV 5 b. Dort auch zur Frage, weshalb bei Begriffen der Fachsprache womöglich eher am historischen Verständnis festzuhalten ist als bei Alltagsbegriffen. 361 Küper, JuS 1996, 783 (784): Elementare Regel der Rechtsanwendung; Paeffgen, in: FS für Grünwald, S. 440. 362 Vgl. Roxin, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 37. 360

7. An der Wortlautgrenze

135

Fall 67 („Geldfälschung“, Teil II, vgl. oben Fall 34): Ganz deutlich wird das in der bereits erörterten Entscheidung BGHSt 29, 311 zur Frage, ob die Weitergabe von Falschgeld an einen eingeweihten Mittelsmann die Tatbestände der §§ 146 I Nr. 3 und 147 StGB erfüllen kann. Dagegen spricht die sprachliche Differenzierung zwischen den Tathandlungen des „Inverkehrbringens als echt“ sowie dem „Ermöglichen“ eines solchen Inverkehrbringens in § 146 I Nr. 1 StGB, währenddessen die unmittelbar folgenden §§ 146 I Nr. 3 und 147 nur die erste der genannten Alternativen enthält. Eine logisch-systematische Textauslegung läßt somit nur den Schluß zu, daß die §§ 146 I Nr. 3 und 147 in ihrem Anwendungsbereich nicht auf Sachverhalte erstreckt werden können, die durch die Variante des „Ermöglichens“ abstrakt beschrieben sind364. Daß der Gesetzgeber anderes gewollt hat, offenbar einem Irrtum erlegen ist, kann an der wegen Art. 103 II GG zwingenden Lösung nichts ändern. Insofern findet die vom BGH im vorliegenden Fall herangezogene subjektiv-historische Auslegung ihre „objektive“ Grenze im Analogieverbot365, das sich auf die systematisch-logische Textdeutung erstreckt. Dennoch hat der BGH sich zur gegenteiligen Lösung bekannt und sich damit in methodischen Widerspruch zur Entscheidung BGHSt 19, 158 (näher oben Fall 33) gesetzt, die in einer ähnlichen Konstellation den grammatikalisch-systematisch ermittelten Wortsinn trotz gegenläufiger teleologischer Erwägungen für zwingend hielt.366 Um einen Verstoß gegen das Analogieverbot aufzuzeigen, haben auch vier (unterlegene) Richter in der ersten Entscheidung des BVerfG zur „Sitzblockade“ (BVerfGE 73, 206) u. a. auf die Gesetzessystematik des § 240 I StGB rekurriert: Daß „Gewalt“ i. S. dieser Vorschrift mehr voraussetzt als eine bloß psychisch determinierte Zwangswirkung, folge aus dem Gesetzesbegriff „nötigen“, der das Bewirken von Zwang bereits erfasse (S. 245).367

Im Rahmen der Wortlautgrenze sind weitere Aspekte zu berücksichtigen, die zum Teil ebenfalls schon Gegenstand der vorliegenden Arbeit waren. Dazu zählt zunächst die Herstellung der entscheidungsrelevanten Textbasis (oben III 3 h), denn nicht stets handelt es sich dabei um eine einzige Norm des StGB-BT oder des sonstigen materiellen Strafrechts. Einzubeziehen sind Hilfs- und Er363 Hier gelten die gleichen Maßstäbe und Grenzen wie bei der („noch möglichen“) fachsprachlichen Begriffsbildung (vgl. oben III 7 b, S. 118 ff.). D.h., nicht jede dogmatisch-systematisch unzutreffende Lösung bedeutet zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 II GG, vgl. Küper, in: Heidelberg-FS, S. 465. 364 Auf welch engem Grat diese Argumentation freilich verlaufen kann, zeigt BGHSt 37, 147 (oben Fall 62)! 365 Ein Verstoß des BGH gegen das Analogieverbot könnte auch unter dem Aspekt des Vorrangs der Fachsprache vor der Alltagssprache begründet werden (oben III 7 b), denn die gesetzliche Formulierung in den §§ 146, 147 StGB ist eindeutig subtiler als die umgangssprachliche Verwendungsweise und insoweit vorrangig. 366 Ein weiteres Beispiel dafür, daß die systematische Auslegung für die Bestimmung der Wortlautgrenze relevant ist, bietet BGHSt 28, 129 (oben Fall 61). 367 Zwingend erscheint diese Argumentation der das Urteil nicht tragenden Richter freilich kaum. BVerfGE 92, 1 (17) hat sich ihr angeschlossen, die Problematik allerdings beim Bestimmtheitsgebot erörtert. Krit. zur Einbeziehung des systematischen Arguments in die Prüfung des Art. 103 II GG durch das BVerfG Schroeder, JuS 1995, 875 (877).

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III. Wortlaut und Wortsinn

gänzungsnormen368, die den Sinn der jeweiligen Norm erst faßbar und handhabbar machen. Im Strafrecht wird dies besonders deutlich im Zusammenwirken zwischen StGB-BT und StGB-AT: So hätte § 251 StGB a. F. – Qualifikation des Raubes bei „leichtfertiger“ Verursachung des Todes – ohne Rückgriff auf § 18 StGB nur durch Überschreitung des Gesetzeswortlauts auch auf die vorsätzliche Herbeiführung der Todesfolge angewandt werden können (näher BGHSt GS 39, 100 = oben Fall 41). Signifikant tritt die Problematik bei einigen (Qualifikations-)Tatbeständen oder benannten Strafzumessungsregeln des StGB-BT zutage, die bestimmte Handlungsweisen des Täters unter eine schärfere Strafdrohungen stellen: Landfriedensbruch oder Gefangenenmeuterei unter Ausübung von Gewalttätigkeiten gegen Personen (§ 125 II a. F. – BGHSt 5, 344; § 122 III a. F. – BGHSt 8, 294 und 12, 129), Landfriedensbruch unter Beisichführen einer Waffe (§ 125a 2 Nr. 2 – BGHSt 27, 56) oder Handeltreiben mit Betäubungsmitteln unter Mitsichführen von Schußwaffen (§ 30a II Nr. 2 BtMG – BGHSt 42, 368; GS 48, 189). Es stellt sich jeweils die Frage, ob die Strafschärfungen sich auch auf Mittäter erstrecken können, ohne daß diese die qualifizierenden Umstände eigenhändig verwirklichen, ob also eine Zurechnung dieser Umstände gemäß § 25 II StGB erfolgen darf. Im Rückblick hat das Problem der „Eigenhändigkeit“ der Rechtsprechung viel Kopfzerbrechen bereitet und nicht immer zu stimmigen Lösungen geführt. Freilich – und darauf kommt es hier an – die Wortlautgrenze stand den unterschiedlichen dogmatischen Wegen nie im Weg. Die Tatbestände des StGB sind zwar in aller Regel i. S. eigenhändiger Tatausführung formuliert369, aber ihre Reichweite kann letztlich durch Normen wie § 25 II erweitert werden. Das BVerfG hat es in Hinblick auf Art. 103 II GG z. B. nicht beanstandet, einen „ortsabwesenden Hintermann“ als Mittäter eines Landfriedensbruchs (§ 125 I StGB) anzusehen, obgleich der Tatbestand (u. a.) die Begehung von Gewalttätigkeiten aus einer Menschenmenge heraus voraussetzt (BVerfGE 82, 236 [269 f.] – „Startbahn West“). Keine Berücksichtigung bei der Herstellung der hinsichtlich Art. 103 II GG relevanten Textgrundlage findet hingegen die Überschrift einer Norm (so ausdrücklich BGHSt 45, 103 [106]); sie kann der Auslegung keine zwingend zu beachtende Grenze setzen, als Argument aber eventuell anderweitig Berücksichtigung finden (siehe unten V 2).

Daß „Texterweiterungen“ durch Hilfsnormen im dargestellten Sinn möglich sind und in Hinblick auf Art. 103 II GG keinen Bedenken unterliegen, dürfte nicht streitig sein, auch wenn das Verstehen der Gesetzestexte aus Sicht des Normadressaten darunter notwendig leidet. Dies sollten nicht zuletzt diejenigen berücksichtigen, die die Wortlautgrenze stets am Maßstab des (noch möglichen) 368

Brugger, AöR 1994, 1 (22). Nicht selten formuliert der Gesetzgeber allerdings „. . . bei dem er oder ein anderer Beteiligter eine Schußwaffe bei sich führt . . .“ (z. B. § 244 I Nr. 1 StGB). Obwohl die Versuchung groß ist, kann man daraus jedoch nicht generell im Gegenschluß folgern, daß Regelungen, in denen die zitierte Wendung nicht auftaucht, eigenhändiges Handeln voraussetzen, vgl. BGHSt GS 48, 189 = oben Fall 36. Siehe allerdings nochmals die Entscheidung BGHSt 29, 311 (Fall 67), wo der Gegenschluß zu ziehen war. 369

7. An der Wortlautgrenze

137

alltäglichen Sprachverständnis bestimmen wollen, damit aber eine wenig realistische Sicht der Praxis offenbaren. Der Bürger muß bei seiner Abschätzung des gesetzlichen Anwendungsbereichs vom hier vertretenen Standpunkt sowohl die fachsprachliche Begriffsbildung als auch das gesetzestechnisch bedingte Zusammenspiel von allgemeinen mit besonderen Normen in Rechnung stellen; aus Laienperspektive können sich dabei in beiden Fällen unvermeidlich Überraschungen einstellen. Fall 68 (BGHSt 33, 370 = oben Fall 40): Besondere Schwierigkeiten im Verhältnis von StGB-AT und -BT hat die Einführung der Regelbeispielstechnik im Bereich der Regelungen zur Versuchsstrafbarkeit offenbart. Die Problematik resultiert daraus, daß Normen mit Regelbeispielen wie z. B. § 243 StGB nach ganz h. M. keine Tatbestände, sondern (benannte) Strafzumessungsregeln sind, § 22 StGB für die Strafbarkeit des Versuchs jedoch verlangt, daß der Täter zur Verwirklichung des „Tatbestandes“ unmittelbar ansetzt. Nach dem Sprachgebrauch des Gesetzes schien es somit nicht möglich, einen Täter, der zur Ausführung des Diebstahls versucht, in ein Gebäude einzusteigen (§ 243 I 2 Nr. 1 StGB), nach dem schärferen Strafrahmen des § 243 StGB zu behandeln.370 Bei der Einführung des § 243 StGB n. F. hat der Gesetzgeber diese (und andere) Zusammenhänge offenbar übersehen.371 Der BGH (vgl. nochmals oben Fall 40) behandelt das Wortlautproblem sehr kompliziert und vermengt es mit Argumenten der übrigen canones.372 Und obwohl auch der BGH offenbar nicht an der Prämisse rütteln will, daß § 22 StGB eben nur auf „Tatbestände“ Anwendung finden kann (S. 373 f.), zielen die Entscheidungsgründe doch darauf ab, diese Norm des StGB-AT (zulasten des Täters) entsprechend heranzuziehen.373 Es sei naheliegend, Regelbeispiele wie Tatbestandsmerkmale zu behandeln, da die Ausgestaltung der Vorschriften mehr eine Frage „formaler Gesetzestechnik“ sei (S. 374). Nach weiteren historisch-teleologischen Erwägungen kommt der Senat auf die Thematik Gesetzeswortlaut und Analogieverbot zurück. Aus dem Wortlaut des § 243 lasse sich schon deshalb nichts ableiten, weil die Strafdrohungen des StGB-BT sämtlich auf Tatvollendung zugeschnitten seien (S. 376). Die gesetz370 Man muß strenggenommen zwischen den folgenden Konstellationen unterscheiden: (1) Tatbestand (§ 242 StGB) und Regelbeispiel (§ 243 StGB) werden nicht voll verwirklicht, (2) § 242 wird vollendet, § 243 nur „versucht“ (selten!), (3) § 242 wird nur versucht, § 243 aber verwirklicht. Der BGH behandelt Konstellation (1), die für vorliegenden Zusammenhang auch die problematischste ist. 371 Tröndle/Fischer, StGB50, § 46, Rn. 97 am Ende: Der Gesetzgeber habe die verfassungsrechtlichen Rückwirkungen (Art. 103 II GG) auf die Versuchsstrafbarkeit nicht bedacht. 372 Der gesamte Gedankengang der Begründung ist sehr konfus, z. T. schwer nachvollziehbar; näher Küper, JZ 1986, 518 (521 f.): „unbestimmt“, „vorsichtig-tastend“, „viel zu vage“, „irreführend“, „verstreute Argumente“. Schon die Einleitung ließ nichts Gutes ahnen: Mangels ausdrücklicher Regelung sei es geboten, „bei der Lösung des Problems allgemeine Grundsätze des Strafrechts zu berücksichtigen und das Ergebnis auf dessen Vereinbarkeit mit ihnen zu überprüfen“, BGHSt 33, 370 (373). 373 Deutlicher in diese Richtung BayObLG JR 1999, 36 (37): Die Strafzumessungsvorschriften mit Regelbeispielen seien den Qualifikationstatbeständen „ähnlich“ und könnten deshalb hinsichtlich der Versuchsstrafbarkeit wie Tatbestandsmerkmale behandelt werden.

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III. Wortlaut und Wortsinn

liche Anordnung der Versuchsstrafbarkeit sei dadurch nicht berührt [?!]; zwar enthalte § 243 keine solche Anordnung, aber die in § 242 II vorgesehene genüge (S. 376). – Diese Deduktion ist nicht überzeugend: Daß die Strafdrohungen des BT in Vollendungsform formuliert sind, bestätigt nur die Notwendigkeit einer allgemeineren Norm, die etwas über die begriffliche Möglichkeit eines Versuchs besagt. Das sind die §§ 22, 23, die sich jedoch auf Tatbestände beziehen, was ja auch der BGH betont. Die von ihm herangezogene Anordnung der Versuchsstrafbarkeit in § 242 II hilft nur für den Tatbestand [!] des § 242 I, besagt aber ebenfalls nichts zur Frage, ob die Strafzumessungsgründe auch in Versuchsform vorliegen können.374 Die Hilflosigkeit des BGH gipfelt in der inhaltslosen Feststellung, daß seine Auffassung keine verbotene Analogie darstelle, sondern „eine dem Willen des Gesetzgebers entsprechende Gesetzesauslegung, die mit den allgemeinen Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs, dem Gedanken des Schuldstrafrechts und den Grundsätzen der Strafzumessung im Einklang steht“ (S. 377). Einen anderen Weg, um das sachlich vernünftige Ergebnis des BGH ohne Bedenken aus Art. 103 II GG zu erreichen, bietet Küper an: Der Ausdruck „Tatbestand“ in § 22 StGB könne ohne Überschreitung des äußersten möglichen Wortsinns auch dahin verstanden werden, daß die als Regelbeispiele formulierten Erschwerungsgründe miterfaßt seien; das sei sowohl alltags- als auch theoriesprachlich möglich.375 Damit mag die vertrackte Situation für dieses Mal auf eine ehrliche Art entschärft sein, aber recht überzeugen kann eine solche, allein der Einhaltung einer formalen Grenze dienende „Sprachspaltung“ des Begriffs „Tatbestand“ nicht. Nach dem, was hier zu den Grenzen fachsprachlichen Verständnisses gesagt wurde (oben III 7 b, S. 118 ff.), ist eine derartige Abweichung vom sonst üblichen Begriffsverständnis nicht zu rechtfertigen. Vielleicht war dem BGH die dogmatische Anfälligkeit dieser Konstruktion bewußt, so daß er seinen, nicht minder angreifbaren und arg kryptischen Argumentationsweg wählte.376

Zu erheblichen Schwierigkeiten kommt es im Zusammenhang mit der Wortlautgrenze darüber hinaus, wenn nicht Vorschriften innerhalb einer Kodifikation, sondern Normen verschiedener Gesetze terminologisch nicht aufeinander abgestimmt sind. Die Rechtsprechung des BGH mußte sich insofern vor allem mit Friktionen zwischen allgemeinem Strafrecht und Jugendstrafrecht befassen: 374

Näher Küper, JZ 1986, 518 (523). Küper, JZ 1986, 518 (525 f.). Die begrifflichen Schwierigkeiten umschifft Zipf, JR 1981, 119 (121), der den Einwänden einer gegenläufigen Entscheidung des BayObLG (JR 1981, 118) aber nur teilweise nachgeht; ebenso Fabry, NJW 1986, 15 (18 f.). Völlig desinteressiert gegenüber den rechtsstaatlichen und dogmatischen Bedenken, an denen BGHSt 33, 370 sich wenigstens redlich müht, bleibt die zust. Anm. von G. Schäfer, JR 1986, 522 (523): Die Entscheidung gestatte klare und gerechte Ergebnisse, ohne die Vorteile der flexiblen Regelbeispielstechnik aufgeben zu müssen [fürwahr!]; eine Ungleichbehandlung von echten Qualifikationen und Regelbeispielen beim Versuch sei „schwer einzusehen“. Zu den unterschiedlichen Interessen der Anmerkungsverfasser vgl. nochmals oben I 2 (gegen Ende). 376 Einen Ausweg ohne begriffliche Probleme bot allein die Prüfung eines „unbenannten“ schweren Falls, wodurch freilich die für die Praxis so wichtige Indizwirkung der Regelbeispiele entfiele; für diese Lösung z. B. Tröndle/Fischer, StGB50, § 46, Rn. 101; Lackner/Kühl, StGB, § 46, Rn. 15. 375

7. An der Wortlautgrenze

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In BGHSt 6, 394 (oben Fall 55) resultierte die Unstimmigkeit daraus, daß die Entziehung der Fahrerlaubnis die Verurteilung zu einer „Strafe“ voraussetzte, die jugendstrafrechtliche Sanktion des „Zuchtmittels“ jedoch keine Strafe in diesem Sinn darstellt. Um dennoch zum sachgerechten Ergebnis zu gelangen und „unerträgliche“ Folgerungen zu vermeiden, scheut der BGH nicht davor zurück, Sinn und Zweck über den Wortlaut zu stellen. Die andere Option bestand darin, den Begriff der „Strafe“ in § 42m StGB a. F. in einem weiteren, die Zuchtmittel erfassenden Sinn zu verstehen; der BGH ist vor dieser dogmatisch unsauberen Lösung377 jedoch zurückgeschreckt und hat statt dessen eine methodologisch problematische gewählt (näher oben bei Fall 55). Ähnliche Fragen ergaben sich hinsichtlich § 20a I StGB a. F., der eine Strafschärfung für Gewohnheitsverbrecher u. a. von zwei Vorverurteilungen zu „Zuchthaus“ oder „Gefängnis“ abhängig machte. Nach Ansicht von BGHSt 12, 129 können darunter auch „Jugendgefängnis“ (RJGG) bzw. „Jugendstrafe“ (JGG 1953) fallen.378 Noch schärfer zeigt sich die Schwierigkeit bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 StGB, die an Vorverurteilungen zu „Freiheitsstrafen“ anknüpft. Der BGH379 sieht sprachlich kein Problem, auch hier die „Jugendstrafe“ als Freiheitsstrafe genügen zu lassen, obwohl die Unterschiedlichkeit der beiden Maßnahmen feststehendes, jugendstrafrechtliches Dogma ist und obwohl bei Einführung der Sicherungsverwahrung die „Jugendstrafe“ bereits gesetzlich definiert, eine terminologische Berücksichtigung durch den Gesetzgeber also möglich war.380

Ob die „Sprachspaltungen“ zulässig sind, bemißt sich erneut danach, ob sie fachsprachlich „noch möglich“ oder eine aus dem kriminalpolitischen Bedürfnis geborene ad-hoc-Lösung sind. Mit der sprachlichen Inkompatibilität verschiedener Kodifikationen (StGB/JGG) liegt jedoch ein Sachgrund vor, der über den Einzelfall hinausreicht. Bezogen auf die Terminologie des StGB mögen die Ausdrücke „Strafe“ bzw. „Freiheitsstrafe“ eine feststehende Bedeutung haben, aber eben nur innerhalb dieser Kodifikation und nicht dann, wenn Regelungsfragen quasi von außen (z. B. aus dem JGG) herangetragen werden. Daß insoweit sprachliche Friktionen bestehen, ist für niemanden überraschend, und deshalb ist es keine unhaltbare juristische Begriffsbildung, wenn der Ausdruck „Strafe“ für einen bestimmten, abgrenzbaren Bereich eine abweichende Bedeutung erhält. Der Themenkreis Kontext und Wortlautgrenze gibt Anlaß, abschließend auf einen „Mißstand“ hinzuweisen, der vielleicht sogar eher das Schrifttum als die Rechtsprechung betrifft. Gemeint sind Tendenzen, wortlautferne Auslegungen unter Berufung auf Wörterbücher oder einen weiten Alltagssprachgebrauch zu 377 Die in etwa mit der oben wiedergegebenen Argumentation Küpers im Fall BGHSt 33, 370 vergleichbar ist! 378 A.A. z. B. Schwarz/Dreher, StGB29, § 20a, Anm. 2 A a (Auffassung des BGH „irrig“); zurückhaltende Zweifel äußert BGHSt 21, 11. 379 BGHSt 26, 152 (153). In der ähnlich liegenden Entscheidung BGH NJW 1999, 3723 wird die Thematik überhaupt nicht mehr erörtert. 380 Näher Eisenberg/Schlüter, NJW 2001, 188 (189), die eine Wortlautüberschreitung des BGH annehmen.

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III. Wortlaut und Wortsinn

rechtfertigen, ohne auf den konkret in Betracht kommenden Sinnzusammenhang zu achten. Ein Grenzfall stellt insoweit BGHSt 22, 14 (oben Fall 27) dar: Setzt die Fahnenflucht in Form des „Verlassens“ der Truppe eine räumliche Entfernung voraus? Der BGH stützt seine weite Auffassung u. a. mit dem alltäglichen Sprachgebrauch, der auch ein Verständnis im übertragenen Sinn zulasse. Das dabei aufgeführte Beispiel überzeugt freilich kaum („Verlassen des Elternhauses“ – näher oben bei Fall 27). In BGHSt 38, 78 (oben Fall 28) hat der BGH den Begriff „verlassen“ dagegen enger interpretiert und dabei nur die für den konkreten Tatbestand (§ 221 StGB a. F. – Aussetzung) in Frage kommenden Wortbedeutungen herangezogen. Nicht tragfähig ist demgegenüber der Hinweis in einer Anmerkung381 auf die abstrakte Bedeutung des Wortes, die etwa in den Formulierungen wie „jemand sei von allen guten Geistern verlassen“ oder „da verließen sie ihn“ zutage trete. Ebenfalls keinen Beifall verdient es, wenn in bezug auf BGHSt 1, 1 (Salzsäure als „Waffe“) der weite Interpretationsspielraum durch die metaphorische Rede von den „Waffen einer Frau“ gerechtfertigt werden soll.382 Bedenken hinterläßt auch der Versuch, mit der alltagssprachlichen Formulierung „Rassel-Bande“ zu demonstrieren, wie weit der Begriffshof des Ausdrucks „Bande“ reichen kann (vgl. oben Fall 26).383

In allen Beispielen wird (mehr oder weniger) außer acht gelassen, daß der Kontext der jeweiligen Norm von vornherein viele der denkbaren und in Wörterbüchern belegten Wortbedeutungen ausschließt oder ihre Heranziehung zumindest als fernliegend erscheinen läßt. Es kann im Rahmen der Wortlautgrenze eben nicht „jede philologisch gerade noch haltbare Wortbedeutung“ herangezogen werden.384 Vielmehr ist auch bei Alltagsbegriffen die begrenzende Wirkung des Kontextes zu beachten. g) Der „Schmerz der Grenze“385 aa) Vorbemerkung Nach der Erörterung einiger Vorfragen wird im folgenden die tatsächliche Verfahrensweise des BGH im Bereich der Wortlautgrenze dargestellt. Die Vorarbeit386 war notwendig, um die mit der herrschenden Konzeption verbundenen 381

Walther, NStZ 1992, 231. So aber H. und K. Clauß, JZ 1961, 660 (662, Fn. 28). 383 Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, S. 384–386 und JuS 2002, 144 (146). Der Duden (Großes Wörterbuch, Bd. 1, S. 452, „Bande“) macht das schon äußerlich kenntlich, indem er zwei Verwendungsweisen trennt, von denen hier offensichtlich nur die erste in Betracht kommt: „1. organisierte Gruppe von Verbrechern . . . 2. (abwertend od. scherzh.) Gruppe gleich gesinnter Menschen (häufig Jugendliche)“. 384 Baumann, MDR 1958, 394 (396), in etwas anderem Zusammenhang; zum Gewaltbegriff instruktiv Paeffgen, in: FS für Grünwald, S. 440 ff. 385 Vgl. Mayer, Strafrecht, S. 126. 382

7. An der Wortlautgrenze

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Problemkreise voneinander abzuschichten und die weitere Untersuchung von theoretischem Ballast zu befreien. Die Leistungsfähigkeit der Wortlaut-Konzeption offenbart sich letztlich in deren Handhabung durch die Praxis und gerade hier findet die vielfältige Kritik, die mit Beispielen der Rechtsprechung die Beliebigkeit oder sogar Untauglichkeit des Abgrenzungskriteriums demonstrieren zu können glaubt, ihre Grundlage.387 Vielleicht kann dieser Generalvorwurf in gewissem Umfang entkräftet werden. Dazu können natürlich nicht alle fraglichen Fälle der amtlichen Sammlung besprochen werden, vielmehr soll der Versuch unternommen werden, die verdächtigen Beispiele „wortlautferner Auslegung“388 zu klassifizieren, um Argumentationsschwächen aufzuzeigen und Verbesserungen zu ermöglichen. Gerade weil die Wortlautgrenze schon theoretisch umstritten ist, sollte der BGH nicht noch durch vermeidbare Begründungsmängel Angriffspunkte bieten. Auf der anderen Seite kann natürlich nicht in Abrede gestellt werden, daß unbefriedigende Grenzfälle einer letzten Klärung nicht zugeführt werden können, sondern Zweifel unweigerlich bestehen bleiben. Die unbestritten fließenden Übergänge389 zwischen Begriffshof und Begriffsumwelt („Rest der Welt“390) stehen mit der normativ erzwungenen strikten Trennung zwischen „Auslegung“ und Rechtsfortbildung – tertium non datur – in einer dauernden Spannung391, deren Auflösung sich im Einzelfall als „schmerzhaft“ erweisen kann. Die Reibung zwischen den nur graduellen Übergängen der Semantik einerseits mit der strikten (binären) Unterscheidung zwischen Auslegung und Analogie andererseits kommt trefflich in vereinzelt gebliebenen Formulierungen des BGH zum Ausdruck, wonach die Subsumtion im konkreten Fall „etwas“ über den Wortlaut hinausgehe (BGHSt 22, 1 [5]) bzw. „noch“ mit dem Wortlaut vereinbar sei (BGHSt 21, 101 [105]).

Wenn auch überwiegend konstatiert wird, daß in der Praxis die Zuordnung in die eine oder andere Richtung in den weitaus meisten Fällen möglich ist,392 sind Problemfälle der Wortlautgrenze jedenfalls in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht selten. Die skeptisch-resignative Einsicht des BGH, die Wortlautschranke sei wegen der Manipulierbarkeit des Sprachgebrauchs nur beschränkt leistungsfähig (BGHSt 40, 272 [279]), erscheint demgegenüber nur als 386 Als Zwischenbilanz zu den Ausführungen in III 7 a–f kann der erste Teil der Zusammenfassung unten in III 7 j gelesen werden. 387 Kühl, StV 1987, 122 (126, r. Sp.): Bei der Kritik am Analogieverbot stehe der Vorwurf seiner falschen oder fehlenden Praktizierung ganz im Vordergrund. 388 Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 92. 389 So z. B. konstatiert von BGHSt 40, 272 (279). 390 Vgl. oben Fn. 6. 391 Zur notwendig herrschenden Unsicherheit des Urteils in dieser Situation siehe Engisch, Logische Studien, S. 31. 392 Larenz, Methodenlehre, S. 323; Looschelders/Roth, Methodik, S. 146; Krey, ZStW 1989, 838 (845); Kramer, Methodenlehre, S. 47; Seebode, JZ 1998, 781 (Fn. 4).

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III. Wortlaut und Wortsinn

überzeugend, wenn sie nach Unternehmung aller zumutbaren Anstrengungen gewonnen worden wäre, denn natürlich kann die Untauglichkeit von etwas leicht behauptet werden, wenn man es zuvor schlecht praktiziert hat. Ob die Rechtsprechung des BGH insoweit wirklich ein „düsteres Bild“ bietet wie zuweilen angenommen,393 soll folgende Analyse ergeben. Dabei werden verschiedene Fallgruppen gebildet, angefangen von Beispielen, in denen der BGH sich selbst wegen der Wortlautschranke an der Subsumtion gehindert sieht, über problematische Fälle mit eingehender Argumentation, bis hin zu Konstellationen, in denen es an tragfähigen Begründungen für eine wortlautferne Gesetzesanwendung mangelt oder Scheinbegründungen geliefert werden. Die in der Literatur, insbesondere in Anmerkungen als Wortlautüberschreitungen angeprangerten Entscheidungen aus der amtlichen Sammlung sind so weit wie möglich berücksichtigt. Insofern soll jedoch auch das Reflexionsniveau der Äußerungen aus dem Schrifttum ein wenig unter dem Gesichtspunkt beleuchtet werden, ob dort inhaltlich „mehr“ vorgebracht wird als in der Rechtsprechung oder ob dort – was zu vermuten steht – nicht minder auf Tricks und Schleichwege zurückgegriffen wird. Vermieden werden muß in jedem Fall eine Vorgehensweise, die sich darin erschöpft, schlicht das eigene Sprachgefühl gegen dasjenige eines anderen Rechtsanwenders zu setzen, ohne die denkbaren oder sogar vorgebrachten materiellen Argumente zu erörtern (vgl. oben III 7 c). Nicht hierher gehören die Entscheidungen, die mehr oder weniger offen das heute herrschende und vom BVerfG sanktionierte Grenzkriterium verleugnen und statt dessen die Grenze der Auslegung anhand teleologischer oder historischer Kriterien bestimmen wollen.394 Umgekehrt folgt allein aus der Existenz dieser Fälle kein grundsätzlicher Einwand dagegen, die gesamte Rechtsprechung des BGH bei Rechtsanwendungen zulasten des Täters auf die Einhaltung der Wortlautgrenze hin zu prüfen. Denn schon früh hat der BGH für diese Abgrenzungslinie votiert (Nachweise oben III 7 a), so daß abweichende Standpunkte in dieser Grundsatzfrage wenigstens kenntlich gemacht werden müßten. Eine letzte Vorbemerkung gilt dem hin und wieder in diesem Zusammenhang angestellten Vergleich zwischen der Praxis des BGH und der des RG. Die Rechtsprechung des RG zur Wortlautgrenze genießt wegen ihrer angeblich rechtsstaatlich-zurückhaltenden Linie ein Ansehen, das rational kaum begründbar und eher auf nostalgische Verklärung zurückzuführen sein dürfte. Daß das RG den Verlockungen, die Tatbestandsgrenzen durch Analogien oder zumindest wortlautferne Auslegungen aufzuweichen, seltener erlegen ist als der BGH, wird sich schwerlich belegen lassen395, zumal eine dahingehende Untersuchungsanordnung viele Parameter zu berücksichtigen hätte. Keinesfalls kann ein 393 Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 90; Schmidhäuser, Strafrecht AT, 5/43: Die Rechtsprechung mache das Unmögliche möglich. Schmitz (in: MüKo-StGB, § 1, Rn. 64) sieht im Wortlaut keine wirksame Grenze für die Rechtsprechung. 394 Vgl. oben III 7 a und insbesondere BGHSt 6, 394 und 10, 375.

7. An der Wortlautgrenze

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Hinweis auf Einzelfälle genügen, etwa auf den „immer wieder vorgerittenen Professorenschimmel“396 des Stromdiebstahls, den das RG nicht unter § 242 StGB subsumierte, weil im Anzapfen von Elektrizität keine Wegnahme fremder beweglicher Sachen liege (RGSt 29, 111; 32, 165). So wie es keine großen Schwierigkeiten bereitet, fragwürdige Grenzfälle und Wortlautüberschreitungen des BGH aufzuzeigen, so leicht fiele Entsprechendes für die Praxis des RG. Letztere hat sich z. B. nicht davor gescheut, Schallplatten als „Schriften“ i. S. von § 184 StGB a. F. aufzufassen (RGSt 47, 223), das Anzeichnen eines weiblichen Geschlechtsteils an eine Hauswand unter die Begriffe „Ausstellen“ oder „Anschlagen“ einer unzüchtigen Abbildung zu subsumieren (RGSt 11, 282) und siedend heißen Kaffee als „gefährliches Werkzeug“ i. S. von § 223a StGB a. F. zu behandeln (RG GA 1916, 321).397 Hinsichtlich des in diesem Kontext häufig genannten „Gewaltbegriffs“ ist daran zu erinnern, daß bereits das RG das bloße Einschließen einer Person durch Vorschieben des Türriegels (RGSt 27, 405; 73, 344) oder die Abgabe eines Schreckschusses (RGSt 60, 157; 66, 353) als Gewalt angesehen hat, bezüglich des Beibringens von Betäubungsmitteln insofern nur auf halbem Weg stehengeblieben ist398. Als Beweis für eine insgesamt strengere Handhabung können ebensowenig vereinzelte Fälle genügen, in denen der BGH von einer engherzigen Auslegung des RG abgerückt ist399 oder eine Gesetzesanwendung fortgesetzt hat, zu der das RG sich erst nach Aufhebung des Analogieverbots (1935) entschlossen hat400. Zum einen wäre zu beweisen, daß die „engere“, vom BGH verworfene Auslegung des RG auch tatsächlich die „wortlautnähere“ ist oder ob es nicht sogar einmal umgekehrt liegen kann.401 Nicht jede über die bisherige Interpretation hinausge395 Bei Behauptungen bleibt es z. B. bei Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 93 („seit den Tagen des RG merklich abgenommen“); zu pauschal m. E. auch Baumann, MDR 1958, 394 (395, l. Sp.); differenzierter, aber mit gleicher Grundeinschätzung Tröndle, in: LK-StGB10, § 1, Rn. 33, der auf einige Fälle verweist, in denen auch das RG die Wortenge überwunden habe. 396 Mayer, Strafrecht, S. 123. Laut Baumann (Strafrecht AT8, § 13 II 1) eine „rechtspolitische Großtat“ des RG. 397 Weitere Beispiele bei Schwinge, Teleologische Begriffsbildung, S. 48 ff. und Tröndle, in: LK-StGB10, § 1, Rn. 33. 398 Siehe BGHSt 1, 145 (146) = oben Fall 65 mit Nachweisen und Otto, NStZ 1987, 212. 399 Z. B. BGHSt GS 1, 158 = oben Fall 52 zu § 243 I Nr. 2 StGB a. F.: Wohnwagen als „umschlossener Raum“. 400 Z. B. BGHSt 1, 145 = oben Fall 65: Beibringung Betäubungsmitteln als „Gewalt“. 401 Das dürfte für BGHSt GS 1, 158 gelten (Wohnwagen als „umschlossener Raum“ i. S. von § 243 I Nr. 2 StGB a. F.). Dazu der Große Senat selbst (S. 168): „Da diese Auslegung in höherem Maße als bisher den Wortsinn beachtet, wäre es auch unzutreffend, sie als ausdehnend zu bezeichnen oder in ihr gar (verbotene) Analogie zu sehen.“ Nicht ausreichend berücksichtigt wird dieser Aspekt von Baumann, MDR 1958, 394 (395, Fn. 5) und Schmidhäuser, Strafrecht AT, 5/42 (Fn. 24).

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III. Wortlaut und Wortsinn

hende Auslegung erweist sich in Hinblick auf die rechtsstaatlichen Anforderungen des Art. 103 II GG als problematisch. Zum anderen existieren Fälle, in denen der BGH von einem weiten Verständnis abrückt402, obgleich ein solcher Schritt zurück in der Rechtsprechung äußerst selten vorkommt. Darüber hinaus bliebe zu prüfen, inwieweit ein freierer Umgang mit Sprache einer allgemeinen Tendenz der Sprachgemeinschaft weg von Anschaulichkeit und Formalismus hin zu größerer Abstraktion resultiert, die auch vor der Jurisprudenz nicht haltmacht. Unter Umständen müßte die Rechtsprechung des RG unter dem Gesichtspunkt der Wortlauttreue auch in unterschiedliche Phasen aufgeteilt werden403 – alles Fragen, die eine entsprechende auslegungshistorische Untersuchung zu beachten hätte. Beim gegenwärtigen Forschungsstand besteht jedenfalls keine Berechtigung, das RG als letzte Bastion der Rechtssicherheit anzusehen und einer großzügigen Praxis des BGH gegenüberzustellen und den angeblichen Gegensatz reduktionistisch mit den Beispielen des „Stromdiebstahls“ (RG) und des „Forstdiebstahls“ (BGH) herauszustellen. bb) Fallgruppe 1: Klare Wortlautüberschreitungen, vom BGH als solche erkannt Zunächst sind Fälle zu erwähnen, in denen die in Betracht gezogene Auslegung recht offensichtlich gegen den Gesetzeswortlaut verstößt, und der BGH aufgrund dessen die Subsumtion ablehnt. Hierauf ist schon zur Vermeidung eines verzerrten Gesamtbildes einzugehen, in dem allein die rechtsstaatlich bedenklichen Entscheidungen auftauchen.404 Auf folgende Beispiele ist hinzuweisen: (1) Nach § 246 I StGB a. F. (bis 6. StrRG) setzte eine Unterschlagung voraus, daß der Täter die Sache, die er sich zueignet, bereits in Besitz oder Gewahrsam hat. In Anbetracht des klaren Wortlauts sieht der BGH sich außerstande, im Wege einer „großen berichtigenden Auslegung“ vom Erfordernis des bereits bestehenden Gewahrsams abzusehen (BGHSt 2, 317).405 (2) Wer rechtmäßig (ohne Vorsatz) eine 402 Z. B. BGHSt 3, 259 gegen RGSt 77, 137 und OLG Düsseldorf MDR 1952, 180; nach Auffassung des BGH (S. 260 f.) hat das RG bei seiner Auslegung Bedenken aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte hinter praktischen Bedürfnissen zurücktreten lassen; näher unten Fall 212. Außerdem zu nennen ist BGHSt 37, 226 (Bezahlung einer Geldstrafe durch Dritte, unten Fall 73). 403 Zur Rolle des RG kurz vor Streichung des Analogieverbots 1935 siehe auch Vogel, ZStW 2003, 638 (652, Fn. 71). 404 Zweifelhaft und nicht ausreichend belegt ist die Annahme Hassemers (in: AKStGB, § 1, Rn. 93), die Zahl der Entscheidungen, die unter Berufung auf das Analogieverbot eine Auslegung ablehnen, sei „deutlich geringer“ als die Zahl wortlautferner Interpretationen. Wer die Wirksamkeit des Analogieverbots auf diese Weise bewerten möchte, müßte zudem die gesamte Rechtsprechung auf dem Gebiet des Strafrechts zugrunde legen (vgl. den Text zu Fn. 392) und auch die gar nicht erst zur Anklage gebrachten Fälle berücksichtigen.

7. An der Wortlautgrenze

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Unfallstelle verläßt und sich deshalb nicht gemäß § 142 I StGB (a. F.) strafbar macht, ist nicht (statt dessen) zur nachträglichen Unfallanzeige verpflichtet (BGHSt 7, 112 gegen BGHSt 5, 124); die gegenteilige Auffassung findet im Tatbestand schlichtweg keinen Anhalt („wer sich nach einem Verkehrsunfall . . . vorsätzlich durch Flucht entzieht“) und verstößt damit nach Ansicht des BGH gegen den „Grundgedanken“ des § 2 StGB a. F. (= § 1 g. F.). (3) Zum Absatz gestohlenen Geldes wirkt nicht mit (§ 259 StGB a. F.), wer sich vom Dieb in einer Gaststätte freihalten läßt, denn es fehle am fördernden Verhalten; eine andere Auslegung verstoße gegen Art. 103 II GG (BGHSt 9, 137 [139]).406 (4) „Aus einem Gebäude“ stiehlt nicht, wer den an einer Außenwand eines Hauses angebrachten Zigarettenautomaten aufbricht (BGHSt 9, 173 zu § 243 I Nr. 2 StGB a. F.). (5) § 243 I Nr. 2 StGB a. F. („wenn aus einem Gebäude oder aus einem umschlossenen Raum mittels Einbruchs, Einsteigens oder Erbrechens von Behältnissen gestohlen wird“) ist auch dann nicht erfüllt, wenn der Täter die Scheibe eines KFZ zerschlägt, im Wageninneren den Kofferraum-Verschluß löst und anschließend aus dem Kofferraum einen Gegenstand entwendet (BGHSt 13, 81): „Umschlossener Raum“ sei nur das Wageninnere,407 und daraus habe der Täter nicht gestohlen, es vielmehr wieder verlassen müssen; das Behältnis (Kofferraum) hatte der Täter nicht erbrochen. (6) Ein schwerer Raub „auf einem öffentlichen Platz“ kann nicht in einer unter dem Platz gelegenen Bedürfnisanstalt begangen werden; „eine so weite Auslegung verträgt der Wortlaut des § 250 Abs. 1 Nr. 3 StGB [a. F.] nicht mehr“ (BGHSt 13, 287 f.); die „bedenkliche Entfernung“ vom Wortlaut könne auch durch fallvergleichende und rechtspolitische Erwägungen nicht gerechtfertigt werden (S. 289).408 (7) Kein schwerer Diebstahl gemäß § 243 I Nr. 2 StGB a. F. (siehe oben Nr. 5) liegt vor, wenn der Täter das Behältnis erst außerhalb des Gebäudes erbricht (BGHSt 14, 291); einer anderen Deutung stehe der eindeutige Wortlaut entgegen (S. 292). (8) Die Einziehung von Vermögenswerten kann nicht auf §§ 86, 98 StGB a. F. gestützt werden, wenn der Täter gemäß §§ 42, 47 BVerfGG a. F. wegen Zuwiderhandlung gegen das KPD-Urteil des BVerfG verurteilt wird; §§ 42, 47 BVerfGG würden „ihrem Wesen nach“ zwar in den StGB-Abschnitt „Staatsgefährdung“ gehören und damit die Anwendbarkeit der dort enthaltenen Einziehungsvorschriften rechtfertigen, doch „entscheidend ist aber bei dem Vorrang des Analogieverbotes allein, daß weder die §§ 42, 47 BVerfGG [a. F.] noch ein anderes Gesetz die §§ 98, 86 StGB [a. F.] in diesen Fällen für anwendbar erklären“ (BGHSt 18, 136 [140 f.]). (9) Gemäß § 335 StGB a. F. ist 405 Ob demgegenüber die „kleine berichtigende Auslegung“, wonach Besitzerlangung und Zueignung zumindest gleichzeitig erfolgen dürfen, zulässig ist, läßt die Entscheidung offen (BGHSt 2, 317 [319 f.]). 406 Die Grenzen verlaufen freilich eng: Gibt der Täter dem Dieb Tips, wo oder wie dieser das Geld ausgeben soll, ist der Tatbestand nach Auffassung des BGH erfüllt (a. a. O.). 407 Es ist allerdings fraglich, ob die Wortlautargumentation des BGH wirklich zwingend ist. Auf das Analogieverbot beruft sich das Gericht bezeichnenderweise nicht; anders Hartung in seiner Anm. (NJW 1959, 1546). 408 Als Vergleichsfall bietet sich BGH LM 1957, Nr. 14 zu § 250 I Nr. 3 StGB (a. F.) an: „Auf einem öffentlichen Weg“ spiele sich der Raubüberfall auch dann noch ab, wenn er „nahe“ an einem öffentlichen Weg des Stadtgartens begangen wird; der Wortlaut zwinge nicht zur Annahme, der Raub müsse ausschließlich auf dem Weg selbst stattfinden.

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III. Wortlaut und Wortsinn

die Verfallerklärung nur bei den Bestechungsdelikten der §§ 331–334 StGB a. F. möglich, nicht also beim allgemeinen Delikt der Begünstigung, wie der BGH unter Hinweis auf Art. 103 II GG und § 2 StGB a. F. klarstellt (BGHSt 19, 27 [30]). Der BGH sieht sich zu längeren Ausführungen nur deshalb veranlaßt, weil die Vorinstanz ihre Auffassung auf angeblich anderslautende höchstrichterliche Präjudizien gestützt hat. (10) § 48 WStG a. F. sieht für bestimmte (Amts-)Delikte des StGB eine Gleichstellung von Beamten mit Offizieren und Unteroffizieren vor; nach Auffassung des BGH sind Mannschaftsdienstgrade davon auch dann nicht betroffen, wenn sie funktionell als Unteroffiziere eingesetzt werden (BGHSt 20, 387); angesichts der Entstehungsgeschichte und des eindeutigen Wortlauts sei eine ausdehnende Anwendung mit Rücksicht auf das Analogieverbot nicht möglich (S. 388). (11) Eine Hauswand kann nach Ansicht von BGHSt 22, 235 (oben S. 88) nicht als gefährliches Werkzeug i. S. von § 223a StGB a. F. aufgefaßt werden; das „natürliche Sprachempfinden“ wehre sich gegen eine solche Einordnung (S. 236);409 der eindeutige Wortlaut gebiete es, den Anwendungsbereich auf bewegliche Gegenstände zu beschränken (S. 237). (12) Der in § 184 I Nr. 3 StGB a. F. verwendete Begriff der „Leihbücherei“ erfasse seinem klarem Wortsinn nach einen Videoverleih nicht unmittelbar (BGHSt 27, 52 = oben Fall 43).410 (13) Eine kriminelle „Vereinigung“ (§ 129 StGB) setze den Zusammenschluß von mehr als zwei Personen voraus (BGHSt 28, 147), jedenfalls auf Grundlage der Auffassung des Senats, wonach richterliche Überdehnungen von Straftatbeständen vermieden werden müssen (S. 148); der allgemeine Sprachgebrauch verlange eine größere Anzahl von Personen, für eine andere Meinung des Gesetzgebers sei nichts ersichtlich411. (14) Kann das Ankleben von Plakaten auf Verteilerkästen der Bundespost als Sachbeschädigung (§ 303 I StGB) aufgefaßt werden, obwohl die Plakate ohne Substanzbeeinträchtigungen der Kästen entfernt werden können? Nach Ansicht des BGH würde eine Auslegung, die lediglich auf eine Beeinträchtigung des äußeren Erscheinungsbildes abstellt, sich in unzulässiger Weise vom Wortsinn des Merkmals „beschädigen“ entfernen (BGHSt 29, 129 [133]). (15) Die Verhängung von Sicherungsverwahrung setzt gemäß § 66 II StGB u. a. die Verurteilung zu „zeitiger Freiheitsstrafe“ voraus, worunter nach eindeutigem Gesetzeswortlaut eine lebenslange Freiheitsstrafe nicht falle (BGHSt 33, 398 f.; BGH NJW 2002, 3559); die dadurch entstehenden Ungereimtheiten seien auch nicht mit der „beachtenswerten“ Argumentation des GBA auszuräumen, die lebenslange Freiheitsstrafe sei spätestens seit Einführung des § 57a StGB (Möglichkeit der Aussetzung nach frühestens 15 Jahren) „faktisch“ gesehen eine zeitige Freiheitsstrafe. (16) Mit dem Anlassen eines KFZ i. V. m. dem Einschalten des Lichts wird noch kein Fahrzeug „geführt“ (BGHSt 35, 390 zu § 316 StGB); das folge schon aus dem Sinn des Wortes „führen“ (S. 393, unter Hinweis auf Wörterbücher); bereits nach dem Sprachgebrauch könne etwas Statisches nicht geführt werden; eine andere Auslegung begründe eine verbotene Analogie zulasten des Tä409 Ob allein mit diesem Argument schon ein Verstoß gegen das Analogieverbot begründet ist, bleibt allerdings offen. 410 Zweifelhaften Ausdehnungsbemühungen erteilt der BGH eine Absage (siehe oben bei Fall 43). 411 Ein abweichender fachsprachlicher Gebrauch wäre also vorrangig! Überhaupt legt der Senat sich in BGHSt 28, 147 nicht fest, ob eine anderslautende Interpretation gegen Art. 103 II GG verstieße.

7. An der Wortlautgrenze

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ters (S. 395).412 (17) Laut BGHSt 38, 78 kann nicht jedes Im-Stich-lassen ein „Verlassen“ einer anderen Person in hilfloser Lage darstellen; vielmehr sei eine räumliche Entfernung nötig (näher oben Fall 28). (18) Gemäß § 20 I Nr. 1 und 2 VereinsG wird u. a. bestraft, wer den Zusammenhalt eines verbotenen Vereins oder einer Ersatzorganisation aufrechterhält oder sich dort als Mitglied betätigt. Nach Nr. 5 (a. F.) derselben Vorschrift wird außerdem bestraft, wer Kennzeichen eines der in § 20 I Nr. 1 und 2 bezeichneten Organisationen verbreitet. Gegen ausländische Vereine ergeht kein Vereins-, sondern nur ein gemäß § 20 I Nr. 4 sanktioniertes Betätigungsverbot; sie sind keine Vereine i. S. des § 20 I Nr. 1 und 2, so daß § 20 I Nr. 5 (a. F.) auf sie keine Anwendung findet. Der BGH bezweifelt die innere Rechtfertigung für diese Besserstellung ausländischer Vereine, sieht jedoch wegen des eindeutigen Wortlauts und des Analogieverbots keine Möglichkeit, eine etwaige Strafbarkeitslücke „im Wege ausdehnender Anwendung“ des § 20 I Nr. 5 (a. F.) zu schließen (BGHSt 42, 30 [34]).413 (19) BGHSt 42, 235 hält die sogenannte actio libera in causa414 jedenfalls nicht durch das „Ausnahmemodell“ für begründbar, das in Abweichung vom Koinzidenzprinzip des § 20 StGB – die Schuldfähigkeit muß „bei“ Begehung der Tat gegeben sein! – den Schuldvorwurf ausnahmsweise vorverlagern will; das sei mit dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift und Art. 103 II GG nicht vereinbar (S. 241). (20) Ein Täter, der von einem schlafenden Kind Fotographien fertigt, die in Großaufnahmen Scheide und Gesäß des auf dem Bauch mit einem angewinkelten Bein liegenden Mädchens zeigen, begeht keinen sexuellen Mißbrauch gemäß § 176 V Nr. 2 StGB a. F. (bis zum 6. StrRG); „schon begrifflich“ sei es ausgeschlossen, ein schlafendes Kind zu sexuellen Handlungen zu bestimmen (BGHSt 43, 366 [369]).415 (21) Wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln wird gemäß § 29 VI BtMG auch bestraft, „wenn sich die Handlung auf Stoffe oder Zubereitungen bezieht, die nicht Betäubungsmittel sind, aber als solche ausgegeben werden“. Nach Auffassung von BGHSt 38, 58 (61) zwingt der Gesetzeswortlaut der Vorschrift nicht dazu, eine Täuschung des Zwischenhändlers bezüglich der ImitatEigenschaft zu verlangen, falls Händler und Zwischenhändler zumindest darüber einig sind, daß Endabnehmer getäuscht werden sollen. Der Wortlaut sei jedoch dann „überdehnt“, wenn der Täter dem Zwischenhändler lediglich „Grundstoffe“ zur Herstellung von Imitaten liefert (BGHSt 47, 134 [136]).416 (22) Auch BGHSt 48, 354 412 Anders OVG Saarlouis ZfS 2001, 92 (93, r. Sp.) für den gleichen Ausdruck („ein Fahrzeug im Straßenverkehr . . . geführt wurde“) in § 13 Nr. 2c FeV: Lösen der Handbremse oder Einstecken des Schlüssels in das Zündschloß können genügen; zu Recht abl. zu dieser Sprachspaltung Hentschel, NJW 2002, 722 (734). 413 Die 1998 geschlossene Strafbarkeitslücke (Gesetz vom 26.1.1998, BGBl. I, S. 164) wog im konkreten Fall freilich nicht schwer, da der BGH – anders als die Vorinstanz – § 20 I Nr. 4 VereinsG für anwendbar hielt. 414 Die Thematik kann hier inhaltlich nicht vorgestellt werden; insofern sei auf BGHSt 42, 235 und die dort enthaltenen Nachweise verwiesen. 415 In Frage stand, ob der Angeklagte sich pornographische Schriften verschafft hatte, die den sexuellen Mißbrauch von Kindern zum Gegenstand haben (§ 184 V StGB a. F.). Nach Ansicht des BGH verlangt der „eindeutige Wortlaut“ des § 184 V StGB (a. F.), daß auf dem Foto ein tatsächliches Geschehen abgebildet wird (BGHSt 43, 366 [369]). 416 Fragwürdig in Hinblick auf die Wortlautgrenze bleibt allerdings die Entscheidung BGHSt 38, 58, denn gegenüber dem Zwischenhändler gibt der Händler die Imi-

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III. Wortlaut und Wortsinn

verweigert unter Berufung auf die Wortlautgrenze den systematisch angezeigten („Gleichlauf“) zweiten Schritt: Ein „Vermögensschaden“ i. S. von §§ 263, 266 StGB könne zwar schon bei einer konkreten Vermögensgefährdung vorliegen, für einen „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ (§ 263 III 2 Nr. 2) genüge dies jedoch nicht. Nach seiner sprachlichen Bedeutung verlange das Merkmal einen „endgültigen Verlust“ und sei damit enger zu verstehen als das Merkmal „Schaden“ (S. 356).

Man kann innerhalb der Fallgruppe zwischen Argumentationen unterscheiden, die sich mit einem Hinweis auf die Überschreitung des möglichen Wortsinns begnügen, und solchen, die unterstützend auf die Auslegungsgrenze des Art. 103 II GG (§ 1 StGB) rekurrieren. Jedoch hat, wenn die Wortlautgrenze als maßgebliches Kriterium erst einmal anerkannt ist, die verfassungsrechtliche Absicherung eher rhetorisch-psychologischen als inhaltlichen Wert. Zu bedenken ist allerdings, daß der Hinweis auf Art. 103 II GG dem Wortlautargument zumindest äußerlich größeres Gewicht verleiht und zukünftigen Bemühungen, den Wortlaut anders zu deuten, ein kaum überwindliches Hindernis entgegenstellt.417 Ist die Grenzüberschreitung einer Auslegungshypothese durch den BGH in dieser Form festgestellt, wird eine spätere Revision dieser Auffassung kaum mehr gelingen, weil jede gegenteilige Äußerung sich dem Verdacht des Verfassungsverstoßes aussetzte. Eine weitere Auffälligkeit betrifft die Entscheidungsbegründungen. Obwohl in dieser Fallgruppe diejenigen Beispiele gesammelt wurden, in denen die Wortlautüberschreitungen der Gegenauffassungen am deutlichsten zutage treten, beschäftigt der BGH sich dennoch großteils mit den weiteren Auslegungskriterien. Notwendig wäre das nicht, wenngleich Gründe für diese Vorgehensweise sehr wohl bestehen; sie wurden bereits an anderer Stelle diskutiert (oben III 3 c). Zuweilen haben die Senate auch mit den Folgen einer wortlautfernen Auslegung zu kämpfen, die aus Gründen der Systematik eine weitere provoziert (vgl. oben Nr. 21 und 22). Über den jeweiligen Grad der Grenzüberschreitungen wird man natürlich streiten, das Verlassen des Begriffshofs im Einzelfall vielleicht sogar ganz in Abrede stellen können,418 wie es in der Tat Stimmen aus der Literatur in einigen der genannten Fälle tun. Aber den dabei vorgetragenen Argumenten ist oftmals eine Gewundenheit anzumerken, daß der einfache Weg des BGH meistens rasch überzeugt:

tate nicht als Betäubungsmittel aus; die Konstellation entspricht im wesentlichen der von BGHSt 29, 311 (Inverkehrbringen von Falschgeld „als echt“, vgl. oben Fall 67). 417 Siehe aber die Meinungsaufgabe durch einen Senat im Fall von BGHSt 27, 45 (oben Fall 19 und Fn. 53). 418 Zumal eine Reihe der genannten Entscheidungen schon ein vertieftes Einsteigen in die Materie und einige Vorkenntnisse verlangt, bis die Wortlautüberschreitung als evident erscheint. Der strafrechtlich weniger orientierte Leser vermag infolgedessen nicht alle Beispiele aus dem Stehgreif nachvollziehen zu können. Eine detailliertere Darstellung kann hier jedoch nicht erfolgen, weil es andernfalls an der quantitativ notwendigen Basis der Untersuchung fehlte.

7. An der Wortlautgrenze

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Welzel (JZ 1952, 617 f.) will beispielsweise BGHSt 2, 317 (keine „große berichtigende Auslegung“ des § 246 StGB a. F.) dadurch widerlegen, daß er der Gesetzesformulierung „die er in Gewahrsam hat“ die Eigenschaft eines Tatbestandsmerkmals schlicht abspricht und statt dessen als systematisch bedingte „Abgrenzungsformel“ (zu § 242 StGB) betrachtet, die dem Herrschaftsbereich des Analogieverbots entzogen sei.419 Ohne weiteres abtun kann man die Argumentation Welzels allerdings nicht, zumal wenn man bedenkt, daß es Bestandteile von Straftatbeständen gibt (z. B. die schwere Folge bei der Beteiligung an einer Schlägerei gemäß § 231 StGB), die nach ganz h. M. keine Tatbestandsmerkmale sind, sondern „objektive Bedingungen der Strafbarkeit“, auf die sich ein Verschulden des Täters nicht erstrecken muß.420 Ob ein Tatbestandsmerkmal oder eine objektive Bedingung der Strafbarkeit vorliegt, soll durch Auslegung zu ermitteln sein!421 Und kein Wort hierzu im Gesetzestext, was rechtsstaatlich sicher keine sehr befriedigende Situation ist422, aber zeigt, wie weitgehend strafrechtsdogmatisches Vorverständnis die Lektüre des „nackten“ Gesetzestextes determiniert. — Lange (JZ 1954, 329 f.) will entgegen BGHSt 7, 112 die nachträgliche Anzeigepflicht des berechtigt die Unfallstelle verlassenden Täters (bei Sinnlosigkeit der Rückkehr) als unechtes Unterlassungsdelikt konstruieren: Wer sich nicht nachträglich meldet, soll sich demnach im Wege des Unterlassens durch „Flucht“ vom Unfallort entziehen.423 — Auf welchem Umweg ein Videoverleihunternehmen zu einer „Leihbücherei“ gemacht werden kann, wurde bereits aufgezeigt (BGHSt 27, 52 = oben Fall 43). — Bemerkenswert und recht durchschaubar ist auch der Versuch des GBA, unter Berücksichtigung der Rechtsentwicklung (§ 57a StGB) aus einer lebenslangen Freiheitsstrafe eine „zeitige Freiheitsstrafe“ zu machen (BGHSt 33, 398 m. w. N.). — Zu Recht verwirft BGHSt 42, 235 (240) das von Streng (JZ 1994, 709 ff.) zur Rechtfertigung der actio libera in 419 Jakobs (Strafrecht AT, 4/33, Fn. 61) hält die Einordnung als Abgrenzungsformel für zutreffend, aber dennoch erstrecke sich die Gesetzesbindung hierauf. 420 Einschränkend für die wichtigsten Fälle (§§ 231, 323a StGB) Roxin, Strafrecht AT I, § 23, Rn. 7 ff.: zumindest Fahrlässigkeit erforderlich. Daß der Verzicht auf Vorsatz und Fahrlässigkeit hinsichtlich des Schuldprinzips unbedenklich sei, „weil sich das Fehlen dieser Umstände nur zugunsten des Täters auswirken kann“ (so Jescheck, in: LK-StGB11, vor § 13, Rn. 86), ist keine tragfähige Begründung, denn diese Aussage trifft auch auf Tatbestandsmerkmale zu. 421 Siehe allgemein Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 148 und als Beispiele BGHSt 4, 161 und 21, 334 (361 ff.) zur Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung in § 113 StGB. Laut Savigny (in: Juristische Dogmatik, S. 70) liegt in BGHSt 4, 161 wegen des Absehens vom Vorsatzerfordernis ein Grenzfall zur Wortlautüberschreitung vor. 422 Die Auffassung Welzels zu § 246 StGB (a. F.) geht allerdings noch weiter, denn danach wird ein Teil des Gesetzestextes so behandelt, als sei er gar nicht geschrieben. Auf die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit ist hingegen nach h. M. wenigstens die Garantiefunktion des Art. 103 II GG anzuwenden, vgl. Jescheck, in: LK-StGB11, vor § 13, Rn. 87. Zu einer ähnlichen, rechtsstaatlich ebenso problematischen, mittlerweile aber gesetzlich gelösten Thematik (Strafbarkeit des fahrlässigen Handelns) siehe unten Fall 100. 423 Die von BGHSt 7, 112 revidierte Entscheidung BGHSt 5, 124 (129) hatte die Anzeigepflicht kreiert, ohne auf Dogmatik nennenswert Rücksicht zu nehmen – in Hinblick auf den von Lange (JZ 1954, 329) betriebenen Aufwand eine vielleicht sogar verständliche Vorgehensweise.

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III. Wortlaut und Wortsinn

causa vertretene „Ausdehnungsmodell“, wonach der Begriff der „Tat“ in § 20 StGB anders zu verstehen sei als etwa in § 16. Nach dem hier dargelegten Standpunkt handelt es sich dabei um eine unberechtigte Abweichung von der sonst üblichen fachsprachlichen Bedeutung (siehe oben III 7 b, S. 118 ff.).

cc) Fallgruppe 2: Problemfälle, BGH lehnt Subsumtion ab Im folgenden werden Fälle vorgestellt, in denen der BGH unter Berufung auf Wortlaut und Analogieverbot die Gesetzesanwendung ablehnt, obwohl der Gesetzestext bei weitem Verständnis die Subsumtion wohl noch tragen würde. Eine rechtsstaatlich zurückhaltende Linie, die im Zweifel auf eine Bestrafung verzichtet, mag generell begrüßenswert sein, sollte aber erst nach Ausschöpfung aller begrifflichen Anstrengungen mit der „Keule“ des Analogieverbots gerechtfertigt werden. Fall 69 (BGHSt 2, 337): § 40 StGB a. F. ließ die Einziehung von Gegenständen zu, welche aus einer Straftat hervorgingen oder zu dessen Begehung gebraucht oder bestimmt waren. Ein Vergleich mit anderen Vorschriften zeigt dem BGH, daß das StGB unter „Gegenständen“ nur körperliche Sachen, nicht aber auch Rechte (hier: Miteigentum) verstehe. Eine andere, ausdehnende Auslegung zuungunsten des Angeklagten widerspräche rechtsstaatlichen Grundsätzen (S. 337 f.). Dem BGH ist im Ergebnis zuzustimmen, weil Wortlaut und Systematik für diese Auslegung streiten, jedoch wäre der gegenteilige Standpunkt mit „rechtsstaatlichen Grundsätzen“ ebenfalls vereinbar. Andernfalls wäre jede unterschiedliche Auslegung von Begriffen im StGB rechtsstaatlich bedenklich.424 Fall 70 (BGHSt 28, 100 – „Niere“): Eine schwere Körperverletzung liegt u. a. vor, wenn das Opfer ein „wichtiges Glied“ verliert (§ 226 I Nr. 2 StGB; § 224 I StGB i. d. F. bis 1998). Der BGH sieht die Grenzen „einer zulässigen Wortauslegung“ als überschritten an, wollte man ein inneres Organ (hier: Niere) als Glied bezeichnen (S. 102). Notwendig sei eine Verbindung mit dem Körper durch ein Gelenk. Die Entscheidung wird wegen der nachdrücklichen Erinnerung an die Wortlautgrenze des Art. 103 II GG nur von Hirsch gelobt (JZ 1979, 109), bezüglich des Wortlautarguments jedoch überwiegend abgelehnt425. Unklar bleibt hier allerdings, nach welchen Grundsätzen der BGH die Wortlautgrenze überhaupt bemißt: aus Sicht des Bürgers oder des Juristen, entstehungsgeschichtlich oder nach gegenwärtigem Sprachgebrauch.426 Ohne Herausarbeitung des maßgeblichen Obersatzes bleibt die 424 Zu Recht beruft sich aber BGHSt 19, 158 (oben Fall 35) in einer ähnlichen Situation auf eine Wortlautüberschreitung, denn dort war das grammatikalisch-systematische Argument zwingend. 425 U. Ebert, JA 1979, 278: Der mögliche Wortsinn sei nicht überschritten; Rengier, in: Festgabe 50 Jahre BGH, Bd. IV, S. 471 f.: Falsch gebrauchtes Wortlautargument, um einen unangreifbaren Standpunkt zu suggerieren; Looschelders/Roth, Methodik, S. 132, 148: Auch bei Berücksichtigung des gesetzlichen Kontextes könne eine Niere sprachlich als „Glied“ aufgefaßt werden. 426 Nach Dopslaff (Wortbedeutung und Normzweck, S. 94) hat der BGH schlichtweg sein eigenes Bedeutungsverständnis vom Begriff „wichtiges Glied“ zugrunde ge-

7. An der Wortlautgrenze

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Behauptung der Wortsinnüberschreitung wenig überzeugend, mag die Entscheidung auch aus anderen Gründen im Ergebnis zutreffend sein. Fall 71 (BGHSt 33, 383): Gemäß § 160 AO können die Finanzbehörden vom Steuerpflichtigen, der Schulden, Betriebsausgaben, Werbungskosten oder andere Ausgaben geltend machen will, die Benennung des Gläubigers oder Empfängers verlangen. Damit soll gewährleistet werden, daß die Gläubiger die empfangenen Beträge ihrerseits versteuern. Kommt der Steuerpflichtige einer Aufforderung der Behörde nicht nach, sind seine Lasten steuerlich regelmäßig nicht zu berücksichtigen. Der Angeklagte legte zur Verhinderung des soeben geschilderten Zwischenverfahrens und zum Schutz bestimmter Gläubiger Scheinrechnungen vor, obgleich seine Gesellschaft die Ausgaben tatsächlich hatte. Der Senat verneint eine Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung, obwohl der Angeklagte gegenüber den Finanzbehörden „über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben“ machte (§ 370 I Nr. 1 AO). In einer anderen Interpretation liege eine „entsprechende Erweiterung des strafrechtlichen Anwendungsbereichs“ (S. 385). Die in § 160 AO vorgesehene Haftung für fremde Steuerschulden sei eine „außergewöhnliche Regelung“ (S. 385), die zudem Ermessensentscheidungen der Behörde zur Voraussetzung habe (S. 387). Bei dieser Sachlage sei eine strafrechtliche Sanktionierung nicht mehr durch die gesetzliche Regelung gedeckt (S. 387). – Die Ausführungen des Senats bleiben in methodischer Hinsicht unklar; vor allem ist nicht ersichtlich, inwiefern die Gegenauffassung eine „entsprechende“ Erweiterung des Tatbestandes427 vornimmt, denn der sehr weite Wortlaut des § 370 AO deckt die Sanktionierung ohne weiteres. In Wirklichkeit nimmt der BGH eine einschränkende Auslegung vor428, die mit dem Analogieverbot nichts zu tun hat. Fall 72 (BGHSt 34, 171 – „Glücksspiel“): Eine Kettenbriefaktion ist nach Ansicht des BGH kein „Glücksspiel“ i. S. von § 284 StGB, weil es am notwendigen Einsatz fehle. Die Beweisführung des BGH zeigt erneut eine fragwürdige Handhabung des Analogieverbots: Der Gesetzgeber habe den Begriff des Glücksspiels nicht definiert, gehe also [?] von einer allgemein bekannten und daher nicht umschreibungspflichtigen Erscheinung des täglichen Lebens aus (S. 175). Entscheidendes Abgrenzungskriterium gegenüber dem Geschicklichkeitsspiel sei nach der Rechtsprechung [!] die Abhängigkeit des Spielausgangs vom Zufall, doch müsse diese anerkannte Definition noch durch die Voraussetzung des „Einsatzes“ ergänzt werden (S. 176). Die Gegenauffassung vernachlässige diesen Zusammenhang zwischen Vermögenseinsatz und dessen Gewinn bzw. Verlust, sei demnach mit dem vom Gesetz vorausgesetzten Begriff des Glücksspiels nicht in Einklang zu bringen (S. 177 f.). „Geht der Gesetzgeber von einem allgemeinbekannten Begriff aus, so darf die Rechtsprechung nicht völlig andersartige Verhaltensweisen unter diesen vorgegebenen Begriff einordnen; denn damit wird die Grenze von der zulässigen Auslegung zur verbotenen Analogie legt; der allgemeine Sprachgebrauch gebe jedenfalls keine festen Umrisse dieses Begriffs vor. 427 Gemeint ist wohl § 370 AO, obwohl der BGH das nicht unmittelbar sagt. Überhaupt leidet der Gedankengang des Senats – zumindest seine Formulierung – an einigen Unvollständigkeiten im Bereich der Obersätze. 428 In diesem Sinn auch die Deutung von Streck/Rainer, NStZ 1986, 272: Die Verfolgung wegen Steuerhinterziehung erreiche hier ein Übermaß, das den BGH wohl [!] veranlaßt habe, die Einschränkung im Bereich [!] des § 370 AO zu suchen.

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III. Wortlaut und Wortsinn

überschritten . . .“ (S. 178). – Für den angeblich allgemeinbekannten Begriff des Glücksspiels, der zudem einer Ergänzung durch die Rechtsprechung bedürfen soll, führt der BGH keine Belege an.429 Es ist nicht erkennbar, daß die Wortlautgrenze – gleich, ob man sie allgemeinsprachlich oder fachsprachlich bestimmt – einer Erfassung von Kettenbriefaktionen als Glücksspiel entgegensteht.430 Fall 73 (BGHSt 37, 226 – „Geldstrafe“): In der Bezahlung einer Geldstrafe durch Dritte sieht der BGH keine Strafvereitelung, obgleich gemäß § 258 II StGB derjenige zu bestrafen ist, der die Vollstreckung einer gegen einen anderen verhängten Strafe vereitelt. „Begrifflich“ liege in der Zahlung keine „Vollstreckungs-“, sondern eine Strafzweckvereitelung (S. 229). Notwendig sei eine Beeinträchtigung des äußeren Ablaufs der Vollstreckung. – Indem der BGH ausführt, daß für die Gegenmeinung „nichts im Wortlaut“ angedeutet sei (S. 230), strapaziert er den Normtext als Auslegungsgrenze jedoch über Gebühr. Daß mit „Vollstreckung“ allein der äußere Ablauf der Zahlung (der ordnungsgemäße Eingang des Betrages bei der Gerichtskasse431) gemeint sein kann, bleibt eine unbegründete Behauptung, die schon deshalb fragwürdig erscheint, weil die Zahlungsaufforderung allein an den Verurteilten gerichtet ist und die Geldstrafe notwendig nur dessen Vermögen treffen soll432. Welchen Begründungsaufwand eine seriöse Wortauslegung im vorliegenden Fall erfordert und welches inhaltliche Niveau dabei erreichbar ist, wird in zahlreichen (zustimmenden wie ablehnenden) Anmerkungen zu BGHSt 37, 226 demonstriert.433 Auf die Evidenz seiner Einsicht zum möglichen Wortsinn des § 258 II StGB kann der Senat sich jedenfalls nicht berufen und daß die gegenteilige Interpretation im Wortlaut nicht einmal angedeutet sei, bleibt eine starke Formulierung ohne Grundlage. Fall 74 (BGHSt 44, 233 – „subventionserhebliche Tatsachen“434): Ein Subventionsbetrug gemäß § 264 I Nr. 1 StGB setzt u. a. eine Täuschung über „subventionserhebliche Tatsachen“ voraus. Nach § 264 VIII Nr. 1 (bis zum 6. StrRG = Abs. VII Nr. 1) sind darunter Tatsachen zu verstehen, „die durch Gesetz [Alt. 1] oder aufgrund eines Gesetzes [Alt. 2] von dem Subventionsgeber als subventionserheblich

429 Nach Lampe (JR 1987, 383) sind solche Belege auch nicht auffindbar; aus den Wörterbüchern ergibt sich für den allgemeinen Sprachgebrauch als notwendiges Begriffsmerkmal allenfalls die Abhängigkeit des Erfolgs vom Zufall, vgl. die Nachweise bei Lampe, Fn. 2. 430 Sehr krit. zum Umgang des Senats mit dem nullum-crimen-Grundsatz („schwerstes Geschütz“) Lampe, JR 1987, 383: Belegt werde nur die Bedeutung dieses Grundsatzes, nicht daß ein weiter Glücksspielbegriff dagegen verstößt. 431 So etwas genauer als der BGH Krey, JZ 1991, 889 f., allerdings entgegen seiner früheren Auffassung (in: Strafrecht BT I, 7. Auflage, Rn. 620), wonach Wortlaut und Zweck für die Anwendung von § 258 II in dieser Konstellation sprächen. Zu diesem Meinungswandel Hillenkamp, JR 1992, 74 (76): Hat ein die Wortlautgrenze stark betonender Autor diese im vorliegenden Fall wirklich jahrelang verkannt? 432 Näher Scholl, NStZ 1999, 599 (604) und OLG Frankfurt StV 1990, 112. 433 Vor allem von Scholl (wie Fn. 432) und Wodicka, NStZ 1991, 487 (beide gegen den BGH) sowie Müller-Christmann, JuS 1992, 379 (für BGH); ausführlicher als der BGH auch Hillenkamp (oben Fn. 431) und Mitsch, JA 1993, 304 f. (der Wortlaut spreche sogar für die Strafbarkeit!). 434 Die Entscheidung ist sehr komplex und hier soweit als möglich verknappt.

7. An der Wortlautgrenze

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bezeichnet sind“. Das Land Mecklenburg-Vorpommern gewährte Fördermittel für den sozialen Wohnungsbau. Die Förderung bestimmte sich nach einem Landesgesetz (Wohnungsbauförderungsgesetz), zu dessen Durchführung der Innenminister Richtlinien erlassen hatte. In den Richtlinien heißt es: „Tatsachen, von denen nach diesen Wohnungsbaubestimmungen . . . die Bewilligung, Gewährung, Rückforderung, Weitergewährung oder das Belassen der Subvention abhängen, sind subventionserhebliche Tatsachen im Sinne des § 264 des Strafgesetzbuches (Subventionsbetrug).“ Der BGH hält diese Norm nicht für ausreichend bestimmt, um die Subventionserheblichkeit zu begründen (S. 237). Die Regelung sei zu pauschal und formelhaft und überlasse es dem Leser, sich die Merkmale aus dem Zusammenhang zu erschließen (S. 237 f.). Die bloße Wiederholung der in § 264 VIII Nr. 2 StGB genannten Kriterien (Bewilligung, Gewährung usf.) genügten nicht (S. 238). Auch die Entstehungsgeschichte spreche dafür, klare Beschreibungen zu verlangen (S. 239). Diese formale Betrachtung könne zwar zu Ungerechtigkeiten führen, „sei jedoch als Folge der sich in dem Gesetzeswortlaut widerspiegelnden Entscheidung des Gesetzgebers hinzunehmen. Andernfalls würde der Tatbestand in einer dem Analogieverbot widersprechenden Weise strafbarkeitsbegründend erweitert“ (S. 240). – Der BGH hat recht, wenn er die pauschale Formulierung in den Förderrichtlinien zur Annahme der Subventionserheblichkeit nicht genügen läßt. Dafür lassen sich viele Gründe anführen, aber der mögliche Wortsinn des § 264 VIII Nr. 1 Alt. 2 wäre in Anbetracht der – zwar ungenügenden, aber immerhin doch vorhandenen – Regelung in den Förderrichtlinien sicher nicht überschritten.

Den vorstehenden Beispielen ist eine übertriebene oder unreflektierte Heranziehung des Analogieverbots gemein, ohne daß die zugrundeliegenden Fälle hierzu hinreichend Anlaß geboten hätten. Teilweise spricht der Wortlaut zwar für das Ergebnis des BGH, schließt die jeweiligen Gegenauffassungen aber sicherlich nicht schon aus sprachlichen Gründen aus. Oftmals ermitteln die Strafsenate schlichtweg den semantischen Rahmen nicht ausreichend (so in Fall 70 – „Niere“, Fall 72 – „Glücksspiel“, Fall 73 – „Geldstrafe“), obwohl dies ohne größeren Aufwand möglich gewesen wäre. Zuweilen sollte der BGH sich auch zwingen, den Syllogismus vollständig darzustellen, insbesondere klar herauszuarbeiten, unter welchen Voraussetzungen seiner Ansicht nach ein Verstoß gegen Art. 103 II GG vorliegt und weshalb in der konkreten Situation (viel zu allgemein deshalb die Begründung in Fall 74 – „subventionserhebliche Tatsachen“). In Fall 71 (Zwischenverfahren nach AO) bleibt trotz Weitschweifigkeit der Entscheidungsgründe sogar unklar, bei welchem Tatbestand eine „entsprechende“ Anwendung überhaupt im Raum steht. Unbehagen über die Vorgehensweise des BGH bleibt nicht zuletzt deshalb, weil es in den meisten der erörterten Beispiele auf die Frage der Wortlautüberschreitung gar nicht ankam, sondern das Ergebnis auch mit den „einfachen“ Auslegungskriterien hätte plausibel begründet werden können.435 Einer verfassungsrechtlichen Untermauerung hatte es 435 In Fall 71 hätte der BGH allerdings zur Begründung seiner einschränkenden Auslegung statt auf das Analogieverbot auf das Bestimmtheitsgebot (so teilweise in Fall 74) oder auf eine verfassungskonforme Auslegung zurückgreifen müssen.

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III. Wortlaut und Wortsinn

ebensowenig bedurft wie (umgekehrt) bei offen zutage liegenden Wortlautüberschreitungen die ausführliche Erörterung der übrigen canones. Eine Ausnahme bildet allerdings Fall 73 („Geldstrafe“), wo es dem BGH womöglich an Argumenten fehlte. Aber gerade dann erscheint es verdächtig, die Wortlautauslegung oberflächlich zu betreiben und ihr zusätzlich noch verfassungsrechtliches Gewicht zu verleihen. Schwache Argumente können so nur schwerlich überdeckt werden.436 Den dargestellten Beispielen können Fälle zur Seite gestellt werden, die in nicht überzeugender Weise eine Auslegungshypothese bereits aus sprachlichen Gründen verwerfen, ohne sich dabei explizit auf das Analogieverbot zu berufen. In der Sache besteht insofern jedoch kein Unterschied, weil eine sprachlich unvertretbare Lösung zulasten des Täters konsequent auch gegen Art. 103 II GG verstoßen müßte. Zu weitreichende Folgerungen aus dem Wortlaut ziehen insbesondere die bereits erörterten Entscheidungen BGHSt 10, 28 und 26, 176. BGHSt 10, 28 behandelt die Frage, ob beim Delikt des Fahrens ohne Fahrerlaubnis die Fahrzeuge „zur Begehung“ eines Vergehens „gebraucht sind“ und damit der Einziehung unterliegen (§ 40 StGB a. F.). Die Ansicht des BGH, daß „schon der Wortlaut“ gegen die Möglichkeit der Einziehung spricht, läßt sich aus dem Gesetzestext kaum begründen (näher oben Fall 22). Die am wenigsten überzeugende grammatikalische Auslegung liefert jedoch BGHSt 26, 176 mit der Behauptung, die Herbeiführung einer (Todes-) Gefahr könne schon sprachlich nicht als „Folge“ einer Tat i. S. von § 18 StGB bezeichnet werden (eingehend oben Fall 23).

dd) Fallgruppe 3: Problemfälle, BGH subsumiert und begründet Als nächstes geht es um Grenzfälle, in denen der BGH sich zur Anwendung der Norm entschließt und eine Begründung für die Vereinbarkeit seiner Auslegung mit dem Gesetzeswortlaut anführt. Geprüft werden soll, wie die Rechtfertigungen erfolgen und ob sie sich tatsächlich auf sprachlicher Ebene bewegen. In der bereits mehrfach erwähnten Entscheidung BGHSt 1, 1 (siehe oben Fall 64 – Salzsäure als „Waffe“) beruft das Gericht sich auf einen Wandel des allgemeinen und technischen Sprachgebrauchs, der nunmehr auch chemisch wirkende Angriffsmittel als „Waffe“ verstehe. Ausführlich dargestellt wurden auch die intensiven Bemühungen des BGH, sich eines streng formal-dogmatischen Verständnisses der Begriffe „berechtigt oder entschuldigt“ in § 142 II Nr. 2 StGB zu entledigen (BGHSt 28, 129 = oben Fall 24 und Fall 61). Eine sehr knappe Begründung liefert BGHSt 29, 311 (oben Fall 34 und Fall 67) für seine These, Falschgeld könne auch derjenige „als echt“ in Verkehr bringen, der es an einen eingeweihten Mittelsmann (Zwischenhändler) abgibt. „Final gesehen“ liege auch darin ein Inverkehrbringen als echt, womit der allgemeine Sprachgebrauch gewahrt sei (S. 313). Daß Radarwarnge436 So der Vorwurf Rengiers gegenüber BGHSt 28, 100 (oben Fall 70): Der BGH suggeriere mit seinem (falsch gebrauchten!) Wortlautargument einen unangreifbaren Standpunkt oder überdecke schwache Argumente. Siehe auch Lampe (oben Fn. 430) zu BGHSt 34, 171 (oben Fall 72).

7. An der Wortlautgrenze

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räte „Nachrichten“ empfangen können, erläutert der BGH sehr ausgiebig unter Rückgriff auf ein technisches Wortverständnis in BGHSt 30, 15 (oben Fall 49). Fall 75 (BGHSt 2, 29 – „Ermessensvorschrift“) ist eines der vielen Beispiele, in denen trotz einfacher Satzstruktur die grammatikalische Auslegung große Probleme bereitet. Gemäß § 49 WiStG 1949 war der Mehrerlös aus einem strafrechtlich relevanten Preisverstoß zwingend einzuziehen. § 51 WiStG begründete diese Möglichkeit auch für den Fall, daß es nur am Verschulden des Täters fehlt, mit der Formulierung: § 49 „kann auch angewandt werden, wenn . . .“. Der BGH deutet diese Norm als Mußvorschrift, obwohl deren Wortlaut („kann“) zunächst für die Annahme einer Ermessensvorschrift spreche (S. 30). Die Fassung solle jedoch nur ausdrücken, daß auch ohne Verurteilung die Möglichkeit eines selbständigen Einziehungsverfahrens besteht (S. 31).437 Offener zutage liege die Richtigkeit dieser Auffassung bei § 42 StGB (a. F.), da das Hilfszeitwort dort mit klarem Bezug erscheine (. . . ist die Verurteilung einer bestimmten Person nicht möglich, „so können die daselbst vorgeschriebenen Maßnahmen [der Einziehung und Unbrauchbarmachung] selbständig erkannt werden“). Aber auch der Wortlaut des § 51 WiStG stehe einer solchen Auslegung nicht entgegen (S. 33), eine „ungezwungene und dem natürlichen Sprachgebrauch gerecht werdende Betrachtung“ spreche dafür (S. 34). Die in § 51 enthaltene Beifügung des Wortes „auch“ hinter „können“ sei nicht ohne Bedeutung, denn auf der Beifügung liege der größere Nachdruck. – Die Wortauslegung des BGH wirkt sehr angestrengt. Unverständlich ist, daß der Wortlaut zunächst für das Vorliegen einer Ermessensvorschrift, im weiteren Argumentationsverlauf jedoch eine „ungezwungene“ und dem natürlichen Sprachgebrauch folgende Interpretation plötzlich für die gegenteilige Auffassung sprechen soll.438 Immerhin hat der Senat sich intensiv mit dem möglichen Wortsinn auseinandergesetzt und die Deutung, daß § 51 WiStG 1949 ausnahmsweise die Möglichkeit des Einziehungsverfahrens eröffnet, es im übrigen aber bei den (zwingenden) Anordnungen der in Bezug genommenen Norm bleibt, ist zumindest nicht abwegig. Fall 76 (BGHSt GS 6, 147; bestätigt durch BGHSt 13, 162 – „Unglücksfall“): Liegt ein zur Hilfeleistung verpflichtender „Unglücksfall“ i. S. von § 323c StGB (= § 330c StGB a. F.) vor, wenn eine andere Person einen Selbsttötungsversuch unternimmt und deshalb in Gefahr schwebt? Der Große Senat hat in sprachlicher Hinsicht keine Bedenken, denn abzustellen sei auf die Perspektive des Helfers, von dem das Eingreifen erwartet werde, nicht aber auf die des Lebensmüden oder auf einen allgemeinen Begriff des Unglücksfalls (BGHSt 6, 147 [149]). Dagegen hatte 437 Ebenso RGSt 66, 431 (434) hinsichtlich des ähnlich formulierten § 414 AO a. F.: Das Wort „kann“ solle nur ausdrücken, „es sei für die Einziehung belanglos, wem die einzuziehenden Gegenstände gehören“ (krit. dazu Hartung, NJW 1949, 765 [767]). Hingegen hat BGHSt 1, 351 die gleiche Norm aus Billigkeitserwägungen und in Vorwegnahme der späteren Rechtslage als Ermessensvorschrift gedeutet (näher unten IV 5 d und dort Fall 164). Wenn sich auch BGHSt 1, 351 und BGHSt 2, 29 von der Interessenlage her unterscheiden mögen, so sind doch die unterschiedlichen Wortlautdeutungen befremdlich. 438 In BGHSt 1, 351 (352) hat der BGH zu den §§ 401, 414 AO a. F. ausgeführt, daß deren Interpretation als zwingende Vorschriften mit dem Normtext noch vereinbar sein mag; damit wird besser erfaßt, welche der beiden Interpretationsmöglichkeiten bei „ungezwungener“ Lektüre näherliegt.

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III. Wortlaut und Wortsinn

BGHSt 2, 150 in einem Unglücksfall ein äußeres, vom Willen des Verunglückten unabhängiges Ereignis gesehen; die Erfassung eines freiverantwortlichen Suizids sei deshalb begrifflich und sprachlich ausgeschlossen (S. 151). – Man kann beide sprachlichen Ansatzpunkte teilen: Aus der Sicht eines Dritten oder der betroffenen Angehörigen, ist auch der freiverantwortliche Suizid ein „Unglück“ oder ein „Unglücksfall“439, die Nachricht hiervon eine „Unglücksnachricht“, mag der Betroffene auch nicht „verunglückt“ sein. Daß auch das Gesetz auf diese Perspektive abhebt, ist zumindest nicht auszuschließen; freilich könnten andere als sprachliche Argumente dagegen sprechen. Einen faden Nachgeschmack hinterläßt der Rechtsprechungswandel natürlich, wenn ein Strafsenat zuvor diese sprachliche Deutung für „ausgeschlossen“ hielt. Aber soll schon deshalb, weil ein Senat vielleicht übers Ziel hinausgeschossen ist, der Weg zur „richtigen“ oder wenigstens „vertretbaren“ Lösung verschlossen sein, zumal der Große Senat Argumente für seine Wortauslegung vorbringt?440 Fall 77 (BGHSt 10, 333 – „Diebesfahrt“): Gemäß § 42m StGB a. F. setzte die Entziehung der Fahrerlaubnis u. a. voraus, daß der Täter wegen einer Tat verurteilt wird, die er „bei oder im Zusammenhang mit der Führung eines Kraftfahrzeugs“ begangen hat. Der notwendige Zusammenhang kann nach Ansicht des BGH auch bei anderen als Straßenverkehrsdelikten gewahrt sein, etwa bei Nutzung des Fahrzeugs für eine Diebesfahrt.441 Sehr weitgehend läßt BGHSt 10, 333 die Entziehung der Fahrerlaubnis sogar beim mitfahrenden Teilnehmer einer Diebestour zu, der das Auto selbst nicht lenkt. Der Wortlaut verlangt nach Ansicht des BGH (S. 335 f.) kein eigenhändiges Steuern: „Eine gegenteilige, dem bloßen Wortlaut verhaftete [!] Auslegung würde wiederum dem vom Gesetzgeber gewollten Zweck nicht gerecht; der Wortlaut steht ihr nach Ansicht des Senats sogar entgegen [!!442], weil das Gesetz es genügen läßt, daß der Täter die mit Strafe bedrohte Handlung ,im Zusam439 Die Umschreibungen im Duden (Großes Wörterbuch, Bd. 9, S. 4109), helfen nicht recht weiter, schließen ein solches Verständnis aber auch nicht aus („unglückliche Begebenheit“). Die gegenteilige Auffassung Schmidhäusers (in: GedS für Martens, S. 236) wird durch die von ihm genannte Quelle nicht gestützt (Wahrig, Dt. Wörterbuch: „Unglück – Geschehnis, Ereignis, das Schaden und Trauer hervorruft, . . . Schicksalsschlag; . . . “). In sprachlicher Hinsicht wenig überzeugend ist die Auffassung von Gallas (JZ 1954, 641), wonach ein freier Entschluß zur Selbstschädigung einen „Unglücksfall“ ausschließe, vorliegend dieser Entschluß aber wegen Verstoßes gegen die Rechtsordnung unbeachtlich sei; von einem solchen Akt der Wertung dürften die begrifflichen Voraussetzungen des „Unglücksfalls“ kaum abhängen. Engisch (Wahrheit und Richtigkeit, S. 13 f.) ordnet den Fall dem Begriffshof zu und hält beide Textinterpretationen für „vertretbar“. 440 Deshalb ist Roxins (Strafrecht AT I, § 5, Rn. 34) Ansicht, der Große Senat habe die Bedenken aus BGHSt 2, 150 „leichthin beiseite“ geschoben, zu widersprechen. Treffend wäre dieser Vorwurf gegenüber BGHSt 27, 45 (siehe oben Fall 19), wo der BGH die Vereinbarkeit seiner Auffassung mit dem Gesetzeswortlaut lediglich behauptet, obwohl ein anderer Senat zuvor (mit Begründung!) einen Verstoß gegen Art. 103 II GG bejaht hat; freilich auch dazu abl. Roxin, a. a. O. Unredlich ist die Vorgehensweise von Schmidhäuser (in: GedS für Martens, S. 236–238 und Strafrecht AT, 5/42), der die in BGHSt 13, 162 fehlende Sprachanalyse rügt, ohne auf die Entscheidung des Großen Senats in BGHSt 6, 147 hinzuweisen, auf die BGHSt 13, 162 sich ja ausdrücklich stützt. 441 Einzelheiten und Nachweise bei Rüth, in: LK-StGB9, § 42m, Rn. 12 ff.

7. An der Wortlautgrenze

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menhang mit der Führung eines Kraftfahrzeugs‘ begangen hat. Wann im einzelnen ein solcher Zusammenhang zu bejahen ist, hängt von den Umständen des Falles ab.“ Die weite Formulierung des § 42m StGB (a. F.) läßt die Auslegung des BGH sicher zu; die gegenteilige Interpretation „haftet“ freilich nicht am Wortlaut, sondern ist lediglich enger und kann womöglich aus anderen Gründen die „richtige“ sein.443 Fall 78 (BGHSt 22, 368 – „Gefährdung eines anderen“): Wird „ein anderer“ im Straßenverkehr „gefährdet“ (§ 1 StVO a. F.), wenn der Täter mit seinem Fahrzeug an ein geparktes Auto anstößt?444 BGHSt 22, 368 bejaht das und zieht einen Vergleich zur Alternative „ein anderer geschädigt“, die unbestritten auch dann erfüllt sei, wenn nur das Vermögen einer Person beeinträchtigt ist (S. 369). Entsprechendes müsse für das Merkmal der Gefährdung gelten, was mit dem Sprachgebrauch vereinbar sei: „Die Gefährdung eines anderen in seinem Vermögen als Gefährdung eines anderen zu bezeichnen, läßt sich mit dem Sprachgebrauch ebenso vereinen wie die Bezeichnung eines anderen als Geschädigten, wenn sein Vermögen beschädigt wurde“ (S. 369). Die Argumentation des BGH scheint logisch überzeugend, denn der Grad der Beeinträchtigung (Gefährdung oder Beschädigung) kann mit dem Kreis der geschützten Rechtsgüter eigentlich nichts zu tun haben. In sprachlicher Hinsicht bleibt der vom BGH vorgenommene Vergleich beider Alternativen jedoch fragwürdig, weil die Formulierung „Gefährdung eines anderen“ doch eher nur auf die Person selbst, nicht aber auf deren sonstige Rechtsgüter abzielt, während es bei der „Schädigung eines anderen“ gerade umgekehrt liegt. Sprachwidrig bis zur Annahme einer Wortlautüberschreitung dürfte die Interpretation des BGH freilich nicht sein.445 Fall 79 (BGHSt 26, 348 – „Parken auf Gehwegen“) kann als optische Veranschaulichung des Analogieverbots gelten: Das in der StVO vorgesehene Zeichen Nr. 315 erlaubt das Parken auf Gehwegen. Eine örtliche Beschränkung des Geltungsbereichs durch waagerechte Pfeile im Schild (für Anfang und Ende) war in der StVO für dieses Schild – anders als bei Park- und Halteverbot (Zeichen Nr. 283, 286) – ursprünglich nicht ausdrücklich vorgesehen. Nach Ansicht des BGH durfte eine solche Beschränkung trotz des Ausschließlichkeitsgrundsatzes im Straßenverkehrsrecht dennoch erfolgen. Sinn und Zweck sprächen für die Zulässigkeit einer solchen Begrenzung, und wie jedes Gesetz sei die StVO einer solchen Auslegung zugänglich (S. 350). Im Ergebnis werde kein neues Zeichen kreiert, sondern ein bekanntes Zeichen durch einen Zusatz begrenzt (S. 351). Diese aus Sinn und Zweck folgende Auslegung verstoße nicht gegen das Analogieverbot446 und betreffe allein den An442 Ähnlich wie oben im Fall 75 wird die Wortlautargumentation auf den Kopf gestellt: Der auf den ersten Blick entgegenstehende Gesetzestext wird plötzlich zur Stütze der eigenen Auffassung! 443 Näher Hartung, JZ 1958, 131 f., der die Grenzen richterlicher Auslegung durch vorliegende Entscheidung als überschritten ansieht. Zu einem weiteren Problemfall des § 42m StGB a. F., in dem der BGH bis zur Grenze des Begriffshofs geht, siehe unten BGHSt 5, 179 (Fall 118). 444 Ein Schaden ließ sich nicht nachweisen, so daß die Alternative „ein anderer geschädigt“ nicht in Frage kam. 445 A.A. Neumann (in: Juristische Dogmatik, S. 48) mit dem Hinweis, daß die Ausdrücke „gefährden“ und „schädigen“ sprachlich „asymmetrisch“ gebraucht werden; die Interpretation des BGH sei sprachwidrig.

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III. Wortlaut und Wortsinn

wendungsbereich des Zeichens Nr. 315 (S. 351). Ohne Rücksicht auf Zweckmäßigkeitserwägungen und mit in ihrer Einfachheit überzeugenden Argumentation vertritt das OLG Düsseldorf den gegenteiligen Standpunkt: Die Anordnung der Pfeile sei für das Zeichen Nr. 315 nicht vorgesehen, ihre analoge Übertragung aus anderen Bestimmungen (Verkehrszeichen) unzulässig.447 Fall 80 (BGHSt 26, 358 – „Absatzhilfe“): Aus der bereits geschilderten Umgestaltung des Hehlereitatbestandes (vgl. oben Fall 54) ergab sich das Problem, ob unter „Absetzen“ des Hehlereiguts (§ 259 StGB) nur die erfolgreiche Übertragung der Verfügungsgewalt fällt oder ob bereits Absatzbemühungen zur Tatvollendung genügen. Keine Zweifel hat der Senat jedenfalls bezüglich der Tatbestandsalternative der Absatzhilfe („absetzen hilft“).448 Hierfür genüge die Unterstützung von Absatzbemühungen, denn die geleistete Hilfe könne für sich gesehen noch vor dem eigentlichen Absatz abgeschlossen sein (S. 360). Daß diese Auslegung sprachlich „zwanglos“ möglich sei, werde auch daraus deutlich, daß die frühere Gesetzesformulierung („Mitwirken zum Absatz“) in diesem Sinn gedeutet und gerade mit dem Ausdruck „Absatzhilfe“ umschrieben worden sei. – Es ist fraglich, ob die Absatzhilfe („absetzen hilft“) nicht doch die begrifflichen Voraussetzungen des „Absetzens“ mit enthalten muß, ob insoweit also Unterschiedliches gelten kann.449 Immerhin aber ist der Senat um eine Begründung auf semantischer Ebene bemüht. Fall 81 (BGHSt 27, 160 = oben Fall 18, „Pfandschein“): Verschafft der Täter sich eine Sache (§ 259 StGB), wenn er einen Pfandschein, nicht aber die Sache selbst erwirbt? Der BGH sieht in der Auslegung, die den mittelbaren Besitz und damit den Pfandschein genügen läßt, keinen Verstoß gegen das Analogieverbot. Es könne „ohne weiteres“ davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber die sich aus dem BGB ergebende Gleichstellung von unmittelbaren und mittelbaren Besitz auch für vorliegende Konstellation zugrunde gelegt habe (S. 165). Dagegen sehen Schall (NJW 1977, 2221) und das OLG Schleswig (NJW 1975, 2217) in dieser Interpretation einen Verstoß gegen Art. 103 II GG. Notwendig sei die Veränderung des unmittelbaren Besitzes, andernfalls stelle man die Ersatzhehlerei unter Strafe. Für diese Auffassung mag es gute Gründe geben, weshalb aber die Auslegung des BGH mit dem möglichen Wortsinn unvereinbar sein soll, legen weder Schall noch das OLG Schleswig450 dar.

446 Die Entscheidungsgründe tendieren stark dazu, die maßgebliche Auslegungsgrenze in Sinn und Zweck der Norm zu sehen (vgl. oben III 7 a) und den Wortlaut – hier im Verkehrszeichen verbildlicht – zurückzustellen. In einer Parallele zum materiellen Recht kann man die Vorgehensweise des BGH als Beschränkung einer Erlaubnisnorm beschreiben, ohne daß die Erlaubnisnorm selbst eine solche Möglichkeit böte – methodisch gesehen eine (unzulässige) teleologische Reduktion! 447 OLG Düsseldorf VRS 44 (1973), 152 f. 448 Ebenso kurz später für das „Absetzen“ BGHSt 27, 45, jedoch mit schwacher Begründung (vgl. oben Fall 19 und Fall 54). 449 Anders als BGHSt 26, 358 die wohl h. L., die für beide Alternativen einen erfolgreichen Absatz voraussetzt, z. B. Küper, JuS 1975, 633 (636) und NJW 1977, 58; Lackner/Kühl, StGB, § 259, Rn. 13; Ruß, in: LK-StGB11, § 259, Rn. 26; Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, § 259, Rn. 38. Zum Teil wird allerdings zugestanden, daß dies bei der Absatzhilfe weniger aus dem Wortlaut als vielmehr aus der notwendigen Gleichbehandlung der Tatalternativen folge (vgl. Ruß, a. a. O.).

7. An der Wortlautgrenze

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Fall 82 (BGHSt 42, 123 – „nicht geringe Menge“): § 30a II Nr. 2 BtMG sieht eine Strafschärfung vor, wenn der Täter – unter Erfüllung weiterer Voraussetzungen – „mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge . . . Handel treibt oder sie, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt oder sich verschafft . . .“. Der Täter im vorliegenden Fall wollte das eingeführte Heroin teils zum Eigenkonsum, teils zur Weiterveräußerung nutzen. Nur beim Zusammenrechnen der auf die verschiedenen Tathandlungen entfallenden Anteile lag eine nicht geringe Menge i. S. der Vorschrift vor. Nach Auffassung des BGH (S. 125) deutet die im Gesetz vorgenommen Differenzierung „bei erster Betrachtung“ darauf hin, daß hinsichtlich jeder Tathandlung die nicht geringe Menge vorliegen muß. Dennoch sei auch die gegenteilige Ansicht mit dem Gesetzeswortlaut vereinbar, „wenn der auf die Handlungsmodalitäten der Einfuhr, Ausfuhr und des Sichverschaffens bezogene Zusatz . . . ,ohne Handel zu treiben‘ dahin verstanden wird, daß damit die Formulierung gemeint ist, ,auch soweit der Täter mit den Betäubungsmitteln keinen Handel treibt‘“ (S. 128). – Der BGH beschäftigt sich hier zwar mit der Wortlautschranke, doch kaum in überzeugender Weise. Selbst wenn die vom Senat herangezogene Formulierung die Sachlage zutreffend erfassen sollte, ist damit noch nicht erklärt, daß sie mit der gesetzlichen übereinstimmt.451 Ob das Gesetz wirklich „dahin verstanden“ werden kann, bedarf der – freilich nur schwer zu leistenden – Begründung.

Insgesamt zeigen die Entscheidungen, wie schwierig sich die Begründung der Vereinbarkeit mit der Wortlautgrenze gestalten kann, selbst wenn der zugrundeliegende Rechtssatz grammatikalisch eigentlich keine Probleme bereiten sollte (Fall 75 – „Ermessensvorschrift“). Am überzeugendsten gelingt die Rechtfertigung noch in Fall 80 („Absatzhilfe“) und Fall 81 („Pfandschein“), in denen die Senate ihre Auffassungen zwar mit Evidenzbehauptungen bekräftigen („zwanglos“, „ohne weiteres“), aber auch inhaltliche Gründe für ihre Wortauslegung vorbringen. In Fall 77 („Diebesfahrt“) läßt die weite Gesetzesfassung dem BGH leichtes Spiel, aber der Versuch, die engere Gegenmeinung zu diskreditieren („haftet am Wortlaut“), schlägt fehl und schwächt eher die eigene Ansicht. Die Ausführungen des Großen Senats zum „Unglücksfall“ (Fall 76) werden Sprachsensible argwöhnisch betrachten, aber die Argumentation ist in sprachlicher Hinsicht sicher nicht abwegig. Ähnliches gilt für Fall 78 („Gefährdung eines anderen“), in dem zwar die logische Beweisführung des BGH beeindruckt, aber die Ebene der semantischen Prüfung damit bereits verlassen sein dürfte. Sehr verdächtig wirkt die Vorgehensweise des BGH in Fall 82 („nicht geringe Menge“), denn das Gesetz scheint hier umformuliert zu werden; ob die zitierte Formulierung so verstanden werden durfte, wie vom BGH vorgeschlagen, bleibt letztlich unbegründet. Nicht überzeugend ausgeräumt wird ein 450 Das OLG Schleswig (NJW 1975, 2217 [2218]) möchte eine i. S. des BGH ergangene Entscheidung des RG (RGSt 70, 37) durch die fragwürdige Unterstellung entkräften, diese sei bereits „unter dem Eindruck“ der (für den konkreten Fall noch nicht geltenden!) Aufhebung des Analogieverbot ergangen. Die als Beleg dafür aus den Urteilsgründen des RG herangezogene Formulierung ist freilich sehr vage. 451 Nach Seelmann (StV 1996, 672) nimmt der BGH eine gegen das Analogieverbot verstoßende „Umformulierung“ des Gesetzes vor.

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III. Wortlaut und Wortsinn

Verstoß gegen die Wortlautgrenze auch in Fall 79 („Parken auf Gehwegen“). Die etwas ungewöhnliche graphische Einkleidung der Problematik, die offensichtliche Zweckmäßigkeit der Lösung und vielleicht auch die Geringfügigkeit der möglichen straßenverkehrsrechtlichen Sanktionen verstellen womöglich den Blick auf das Wesentliche. Die einfache Begründung der gegenläufigen OLGEntscheidung besticht. Freilich geht es nicht darum, die bequemste und am einfachsten zu formulierende Begründung zu wählen, sondern die Lösung, die sich aus dem gesamten Auslegungsprozeß ergibt und mit dem Wortlaut vereinbar ist. Daß es der BGH sich leicht gemacht und Wortlautprobleme verschwiegen hat, kann anläßlich der vorstehenden Entscheidungen nicht behauptet werden. Eher ist das Gericht im Bemühen um sinnvolle Fallösungen zuweilen über das Ziel hinausgeschossen. ee) Fallgruppe 4: Problemfälle, BGH subsumiert, aber mit schwacher Begründung Schon die soeben geschilderten Beispiele gaben mitunter Anlaß, die Qualität der Wortlautauslegung zu beanstanden. Deutlicher werden die Begründungsmängel jedoch in den folgenden Fällen: Fall 83 (BGHSt 6, 398; GS 10, 94; BGH GA 1955, 118 – „Entziehung der Fahrerlaubnis“): § 42m I StGB i. d. F. bis 1964 ermöglichte dem Gericht unter bestimmten Voraussetzungen, dem Angeklagten die Fahrerlaubnis zu entziehen; gemäß Abs. 3 war zugleich eine Frist zu bestimmen, vor deren Ablauf die Verwaltungsbehörde keine neue Erlaubnis erteilen durfte. Konnte die Norm auch angewandt werden, wenn die Fahrerlaubnis bereits eingezogen worden war (BGHSt 6, 398) oder der Täter nie eine besaß (BGH GA 1955, 118)? BGH GA 1955, 118 sieht darin eine unzulässige Ausdehnung der Befugnisse des Richters gegen den „klaren Wortlaut“ des Gesetzes452, während BGHSt 6, 398 die Frage bejaht. Die andere Auffassung beschränke sich auf „formale Erwägungen“ und verkenne den Sinn der Maßnahme (S. 399). Es sei zudem unrichtig, daß eine schon entzogene Fahrerlaubnis nicht nochmals „entzogen“ werden könne, denn die Fahrerlaubnis hafte dem Fahrzeugführer nicht naturgemäß an, sondern werde behördlich und nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen erteilt (S. 399). – Die Aussagekraft dieser Begründung, insbesondere des letzten Gedankens ist sehr fragwürdig und räumt vor allem die sprachlichen Bedenken nicht aus. Der Große Senat argumentiert etwas anders, indem er in den genannten Fällen zwar keine Entziehung der Fahrerlaubnis, jedoch die Festsetzung einer Sperrfrist gemäß § 42m III für möglich hält (S. 99).453 Die dafür vorgebrachte Begründung diskreditiert die Wortlautauslegung aber endgültig454 und stellt 452 Jescheck (GA 1959, 65 [66]) sieht eine solche Möglichkeit im Gesetz nicht angedeutet! 453 In diesem Sinn hat der Gesetzgeber 1964 (vgl. oben Fn. 227) die Problematik schließlich in § 42n I 2 geregelt: „Hat der Täter keine Fahrerlaubnis, so wird nur die Sperre angeordnet.“ Die nachträgliche Umsetzung einer zweifelhaften Rechtsprechung ist freilich kein Beweis, daß die Subsumtion zuvor die Grenzen überschritt.

7. An der Wortlautgrenze

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das Grenzkriterium „möglicher Wortsinn“ überhaupt zur Disposition (S. 96 f.): „Aus der Entstehungsgeschichte des § 42m StGB ergibt sich kein Anhalt dafür, daß der Gesetzgeber den Fall eines Täters ohne Fahrerlaubnis bedacht hat. Schon deswegen kommt der bloßen Wortfassung des Gesetzes keine ausschlaggebende Bedeutung zu. In einem solchen Falle tritt vielmehr die Frage nach dem Gesetzessinn ausschlaggebend in den Vordergrund. Läßt er sich klar und eindeutig ermitteln, so greift er gegenüber einer nicht völlig geglückten Wortfassung ohne weiteres durch.“ Die unzureichende Abfassung des § 42m StGB a. F. hat den BGH schon einmal dazu verleitet, den Wortlaut der Norm als Grenze zwischen Auslegung und Analogie zugunsten der Kriterien „Sinn und Zweck“ zurückzustellen, und dies sogar ausdrücklich (BGHSt 6, 394 = oben Fall 55). Der Große Senat hätte diesen Faden fortspinnen sollen, statt die Wortauslegung mit wenig überzeugenden Argumenten zu überspielen. Noch weitergehend hat der BGH in einer ebenfalls auslegungstheoretisch interessanten Problematik zu § 42m StGB a. F. eine sehr reservierte Haltung gegenüber der Methodik im allgemeinen an den Tag gelegt und sich zu folgenden Erwägungen hinreißen lassen (BGHSt 7, 165 [169]): Zweifel bei der Auslegung des § 42m seien in ihrer Bedeutung bisweilen überschätzt worden. „Sie betreffen im Grunde rechtstheoretische Überlegungen, deren Gegensätzlichkeit nicht notwendig mit sich bringt, daß die Rechtsprechung in der Beurteilung praktischer Fälle auseinandergeht.“455 Fall 84 (BGHSt 11, 47 – „Ingebrauchnahme“): „Nimmt“ auch derjenige ein Kraftfahrzeug gegen den Willen des Berechtigten „in Gebrauch“ (§ 248b I StGB), der erst während der Fahrt seine fehlende Berechtigung bemerkt, aber dennoch weiterfährt? Während das BayObLG (NJW 1953, 193) aus der Formulierung „in Gebrauch nehmen“ (statt „gebrauchen“) folgert, daß es allein auf den Augenblick der Inbetriebnahme ankommt456, argumentiert der BGH wie folgt (S. 50): Der Gesetzgeber verwende mit Bedacht nicht den Ausdruck „Benutzung“, denn dieser bedeute „jede beliebige Art der Verwendung, ,Ingebrauchnahme‘ dagegen nur die Benutzung zu dem bestimmungsgemäßen Zweck des Fahrzeugs. Die Ingebrauchnahme kann deshalb [!!] nur eine Benutzung sein, bei der der Täter sich des Fahrzeugs unter Einwirkenlassen der zur Ingangsetzung und Inganghaltung geeigneten Kräfte als Fortbewegungsmittel bedient [Hinweis auf Schönke/Schröder. . .] und dabei eine . . . Herrschaftsgewalt über das ganze Fahrzeug ausübt. Diese Ingebrauchnahme liegt schon bei der Ingangsetzung, jedoch ebenso später vor; denn die immer wieder erneuerten Kräfte zur Fortbewegung wirken bis zur Außerbetriebnahme weiter, und die Herrschaftsgewalt setzt sich ebenso fort, nachdem das Fahrzeug in Gang gebracht worden ist. Ingangsetzen und Inganghalten fallen mithin gleicherweise unter 454 Geschickter insoweit Schröder in seiner Anm. in JZ 1956, 332 (333): Das vorliegende Problem betreffe allein die Interpretation der Rechtsfolgenseite und damit nicht den Bereich des Analogieverbots; die Anordnung der Sperrfrist setze die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht zwingend voraus. Interessant ist die Bemerkung von Bruns in GA 1955, 120 (121), daß die Entscheidung von der jeweiligen Grundeinstellung des Interpreten abhänge, der zwischen „philologischer Gesetzestreue mit wenig sinnvollen Ergebnissen und teleologischen Zweckmäßigkeitserwägungen im Rahmen extensiver Interpretation“ zu wählen habe. 455 Zweifel bezüglich dieses Satzes äußert Schmidt-Leichner, NJW 1955, 557 (558): Es sei fraglich, ob es nur um einen Streit um Worte geht. 456 Ebenso Schwarz/Dreher, StGB29, § 248b, Anm. C und Floegel/Hartung, Straßenverkehrsrecht17, § 248b, Rn. 5 (a. A. verstoße gegen den Wortlaut).

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III. Wortlaut und Wortsinn

den Begriff der Ingebrauchnahme.“ – Die Begründung zeigt, wie der BGH eine unbewiesene Prämisse mehr oder weniger geschickt in seinen Gedankengang einbaut und dabei die eigentlich notwendige Analyse des sprachlichen Rahmens außer acht läßt. Aus dem Gegensatz zwischen den Begriffen der „Benutzung“ und der „Ingebrauchnahme“ folgert der BGH („deshalb“) plötzlich eine Definition des Ingebrauchnehmens, die sowohl das Ingangsetzen als auch das Inganghalten einschließt, was ja erst zu prüfen war. Ob sprachlich gesehen die Ingebrauchnahme (wie das „Inbetriebsetzen“ 457 oder das „Ingangsetzen“458) nicht doch nur auf den Augenblick des Beginns beschränkt ist, beantwortet der BGH nicht459. Fall 85 (BGHSt 21, 101; 31, 118; 46, 62 – „faktischer Geschäftsführer/Vorstand“): Die Bankrottvorschriften der §§ 239, 240 KO a. F. fanden gemäß § 244 KO a. F. auch auf Mitglieder des Vorstands einer Aktiengesellschaft Anwendung, wenn sie die Handlungen in dieser Eigenschaft begangen hatten. BGHSt 21, 101 mußte entscheiden, ob „Mitglieder des Vorstands“ auch Personen sein können, die ohne Eintragung in das Handelsregister, aber unter Duldung des Aufsichtsrats die Stellung „tatsächlich“ ausüben.460 Nach Ansicht des BGH trifft auch diese Täter der strafrechtliche Vorwurf „mit Fug“; die Bestrafung sei mit dem Wortlaut „noch“ vereinbar (S. 105). Die Gegenauffassung könne zu ungerechten Ergebnissen führen, da sie den Durchgriff auf die wirklich Verantwortlichen vereiteln könnte. – Durch das „noch“ bringt der Senat seine Zweifel schon selbst zum Ausdruck, so daß der Frage, warum hier der gesellschaftsrechtliche Sprachgebrauch ausnahmsweise nicht

457 Besser gelöst hat der Gesetzgeber die Probleme der „Schwarzfahrt“ in einer zivilrechtlichen Haftungsregelung (§ 7 III KFG a. F.), wo er 1923 die Formulierung von „Inbetriebsetzen“ schlicht auf „Benutzen“ umstellte! (Vgl. Müller, Straßenverkehrsrecht, § 7 III KFG, S. 218.) Übertragen auf § 248b müßte es folglich heißen „gebrauchen“ statt „in Gebrauch nehmen“. 458 Zutreffend Franke, NJW 1974, 1803 (1804, l. Sp.): „Semantisch verhält sich Ingangnehmen zum Inganghalten wie Ingebrauchnehmen zum Ingebrauchhalten.“ Ebenso A. Ebert (DAR 1954, 291) mit einem Umkehrschluß: Der Gesetzgeber hätte andernfalls formuliert „gebrauchen“ statt „in Gebrauch nehmen“. Nicht überzeugend hingegen der Gegenschluß von Demko (Relativität der Rechtsbegriffe, S. 247): Die Verwendung des Ausdrucks „Ingebrauchnehmen“ statt „Inbetriebsetzen“ lasse auf ein weitergehendes, das „Ingebrauchhalten“ mit umfassendes Verständnis schließen. 459 Der Hinweis des BGH auf Schönke/Schröder geht fehl, denn die Definition ist dort so nicht enthalten. Schröder lehnt in einer späteren Auflage den Ausgangspunkt des BGH dann auch ab (12. Aufl., § 248b, Anm. 5), hält das Ergebnis der Entscheidung jedoch für zutreffend. Nach Ansicht von Wessels/Hillenkamp (Strafrecht BT/2, Rn. 398) zeigt gerade der Fall von BGHSt 11, 47 die Vereinbarkeit solcher Konstellationen mit der Wortlautgrenze. Wohltuend klar und unter Benennung seines theoretischen Standpunktes zur Bestimmung der Wortlautgrenze demgegenüber z. B. AG München NStZ 1986, 458 (459). 460 Die denkbaren Fallkonstellationen sind hier vereinfacht unter dem Ausdruck „faktische Geschäftsführung“ zusammengefaßt, obwohl womöglich differenziert werden muß. Keine Wortlautprobleme bereiten die hier nicht einschlägigen Fälle der Organeigenschaft in einer „nichtigen“ Gesellschaft oder der nur fehlerhaften Organbestellung; näher – auch zu Methodenfragen – Tiedemann, in: Scholz, GmbHG, § 84, Rn. 27 ff. und K. Schmidt, in: FS für Rebmann, S. 421 ff. Vorliegend geht es nicht um die zutreffende Einordnung aller denkbaren Konstellationen, sondern nur darum, ob der BGH seiner Begründungspflicht nachkommt.

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gelten soll, hätte nachgegangen werden müssen. Die rechtspolitischen Erwägungen sind allein nicht geeignet, die begrifflichen Bedenken auszuräumen. Die entsprechende Situation zum Recht der GmbH (§§ 64, 84 GmbHG) behandelt BGHSt 31, 118. Die Zivilgerichte erstrecken zwar die Konkursantragspflicht nach § 64 GmbHG, aus deren Verletzung Schadenersatzansprüche folgen können, auch auf den „faktischen Geschäftsführer“, aber gesellschaftsrechtlich wird dadurch keine Geschäftsführerstellung begründet.461 Fraglich ist deshalb die Anwendung von § 84 I Nr. 2 GmbHG, wonach bestraft wird, wer es „als Geschäftsführer“ entgegen § 64 unterläßt, einen Konkursantrag zu stellen. Der BGH argumentiert hinsichtlich der Wortlautgrenze sehr angreifbar (S. 122): Der Erfassung des tatsächlichen Geschäftsführers stehe das Analogieverbot nicht entgegen, denn auch dieser sei Normadressat. [Zirkelschluß, denn die Frage war ja gerade zu klären!] „Eine andere Auffassung würde den Schutz der Allgemeinheit vor unredlicher Handhabung der Geschäftsführung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung unterlaufen. Der auf strafrechtlichen Schutz abzielende Zweck des § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG kommt in dessen Wortlaut auch hinreichend deutlich zum Ausdruck.“ – Eine methodenehrliche Lösung bietet K. Schmidt an, der dazu allerdings das Abgrenzungskriterium Wortlaut ausdrücklich preisgibt.462 Denkbar wäre es außerdem, den „Geschäftsführer“ i. S. von § 84 GmbHG alltagssprachlich zu verstehen, denn bei diesem Maßstab ist die Erfassung des faktisch Verantwortlichen sicher nicht sprachwidrig. Fraglich ist allerdings, ob eine solche Abkoppelung von gesellschaftsrechtlichen Grundlagen dogmatisch hinnehmbar ist oder ob eine solche Vorgehensweise nicht als kriminalpolitisch motivierte ad-hoc-Lösung erscheint, die gegen die für fachsprachliche Begriffe geltende Auslegungsgrenze (dazu oben III 7 b, S. 118 ff.) verstößt. Im Ergebnis mag die „Sprachspaltung“ zwischen Strafrecht und Gesellschaftsrecht vielleicht vertretbar sein463, zu bemängeln ist jedenfalls, daß der BGH sich zu alldem nicht äußert. Wiederum keine Begründung für die jedenfalls nicht selbstverständliche Abweichung vom gesellschaftsrechtlichen Sprachgebrauch liefert BGHSt 46, 62 (65).464 Angesichts des bereits in BGHSt 31, 118 enthaltenen Begründungsmangels hinsicht461 Siehe – jeweils mit Nachweisen – K. Schmidt, in: FS für Rebmann, S. 433 ff.; Kaligin, BB 1983, 790. Schulze-Osterloh (in: Baumbach/Hueck, GmbHG, § 64, Rn. 40) spricht in diesem Zusammenhang von „Nichtgeschäftsführern“! 462 K. Schmidt, in: FS für Rebmann, S. 439 f.: Die strafgerichtliche Rechtsprechung sei nicht durch den Wortlaut, aber durch den eindeutigen Regelungsgehalt des § 84 GmbHG gedeckt. Generelle Kritik am methodologischen Standpunkt K. Schmidts übt Rüthers, JZ 2003, 995 (996). 463 Durch eine solche Sprachspaltung wird immerhin eine „Normspaltung“ zwischen §§ 64, 84 GmbHG verhindert! Vgl. K. Schmidt, in: FS für Rebmann, S. 436 ff. Andererseits besteht zwischen einer Schadenersatzpflicht und einer Bestrafung eben doch ein qualitativer Unterschied. Sehr großzügig für die Möglichkeit eigenständiger strafrechtlicher Begriffsbildung Bruns, JR 1984, 133, der zwar viele Beispiele vorträgt, aber letztlich – sieht man von den rein rechtspolitischen Erwägungen ab – eine überzeugende Begründung dafür schuldig bleibt, warum dies auch beim „faktischen Geschäftsführers“ gelten soll. Wohl zu Recht gegen einen eigenständig strafrechtlichen Organbegriff z. B. Reich, DB 1967, 1663 (1667, r. Sp.). 464 Für den dort behandelten § 82 GmbHG mag aufgrund noch nicht erfolgter Eintragung der GmbH etwas anderes gelten; auf diesen Aspekt stellt der BGH allerdings nicht entscheidend ab, vgl. BGHSt 46, 62 (66). Abl. zur „faktischen Betrachtungs-

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III. Wortlaut und Wortsinn

lich der Vereinbarkeit mit Art. 103 II GG, ist der Hinweis auf diese Entscheidung inhaltlich nicht ausreichend. Fall 86 (BGHSt 25, 10): Zu einer Überspielung des Wortlauts gelangt der BGH auch in einer Entscheidung zum Einziehungsrecht. § 40 I StGB i. d. F. des EGOWiG 1968 (fast gleichlautend § 74 I StGB g. F.) ließ die Einziehung von Gegenständen zu, „die durch die Tat hervorgebracht oder zu ihrer Begehung . . . gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind“. Weiter verlangte § 40 II Nr. 1 StGB a. F. (§ 74 I Nr. 1 StGB g. F.), daß der Gegenstand dem Täter „gehört“ oder „zusteht“. Wie verhält es sich, wenn zur Tatausführung ein PKW benutzt wird, den der Täter als Sicherheit an einen Dritten übereignet hat und lediglich eine Anwartschaft auf Rückübereignung besteht? BGHSt 25, 10 läßt in dieser Konstellation die Einziehung des Anwartschaftsrechts zu. Da der PKW, nicht aber das Anwartschaftsrecht Tatwerkzeug war, „scheint“ der Wortlaut nach Ansicht des BGH der Einziehung zwar entgegenzustehen (S. 11). Gegenüber einer zweckgerichteten Auslegung griffen diese Bedenken jedoch nicht durch. Das Anwartschaftsrecht sei kein aliud zum Eigentum, sondern wesensgleiches minus (S. 12). Daß die Sache eines Eigentümers, nicht aber das wesensgleiche minus eingezogen werden kann, sei nicht einzusehen. Auch im Zivilrecht würden die Vorschriften über das Eigentum „entsprechend“ auf das Anwartschaftsrecht angewandt. – Richtig ist die Prämisse des BGH, wonach neben Sachen auch Rechte der Einziehung unterliegen können.465 Daß aber Rechte zur Tatbegehung „gebraucht“ werden können, bedarf zumindest näherer Begründung.466 Es ist deshalb merkwürdig, daß der BGH auf den Ausgangspunkt seiner Argumentation – den nur scheinbar entgegenstehenden Wortlaut – nicht mehr zu sprechen kommt. Aus dem Wesen des Anwartschaftsrechts kann man insoweit wohl kaum etwas herleiten.467 Gerade der vom BGH selbst herangezogene Vergleich mit dem Zivilrecht und der dort praktizierten, vom BGH ausdrücklich als „entsprechend“ bezeichneten Anwendung von Vorschriften über das Eigentum hätte das Problembewußtsein schärfen müssen.468 Letztlich findet der BGH sein (vernünftiges) Ergebnis eben doch mit Hilfe des Rechtsgefühls („nicht einzusehen“). Fall 87 (BGHSt 26, 95; 28, 224 – „auf frischer Tat betroffen“): Ein räuberischer Diebstahl liegt gemäß § 252 StGB u. a. vor, wenn der Dieb „auf frischer Tat betroffen“ wird und, um sich den Besitz der Beute zu erhalten, Gewalt gegen eine Person verübt. Trifft das auf denjenigen zu, der das nichtsahnende Opfer niederschlägt, um dem Bemerktwerden zuvorzukommen? Der BGH sieht im Wortlaut kein Hindernis: „Auf frischer Tat betreffen“ meine nicht mehr als das (auch zufällige) raumzeitliche Zusammentreffen einer Person mit dem Dieb. „Jemand kann im reinen Wortsinn weise“ („Büchse der Pandora“) und deren Erstreckung auf den Fall des § 82 GmbHG Joerden, JZ 2001, 310 ff. 465 Das folgt u. a. aus dem Sprachgebrauch von § 40a Nr. 1 StGB a. F., der auch beim Tatunbeteiligten die Einziehung ermöglicht, wenn dieser „dazu beigetragen hat, daß die Sache oder das Recht [= Gegenstand i. S. von § 40 StGB a. F.] Mittel oder Gegenstand der Tat“ gewesen ist; näher K. Meyer, JR 1973, 338. 466 Auch dazu K. Meyer (JR 1972, 385 [386]) in seiner Anm. zu BGHSt 24, 222, wo es um ähnlich schwierige Fragen zu § 40 StGB a. F. ging. 467 Laut Reich (NJW 1973, 105 [106]) erliegt der BGH mit seiner Argumentation vom „wesensgleichen minus“ einer begriffsjuristischen Versuchung. 468 Eser, JZ 1973, 171 (172): Der BGH habe diesen Zwiespalt nicht durchschaut.

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einen Dieb betreffen, ohne daß ihm dessen Anwesenheit bewußt wird“ (S. 96). Der Sinn der Norm lege es zumindest für den vorliegenden Fall nahe, vom Erfordernis des „Bemerktwerdens“ abzusehen. Es leuchte nicht ein und sei mit dem Sinn unvereinbar, § 252 daran scheitern zu lassen, daß der Täter dem Bemerktwerden durch schnelles Zuschlagen zuvorkomme (S. 97). – Die Wortauslegung des BGH ist bedenklich.469 Zu Recht hat BGHSt 28, 224 (227) Zweifel an dieser Interpretation angemeldet und unter Heranziehung eines Wörterbuchs als Synonyme zum „betreffen“ die Ausdrücke „antreffen“ oder „ertappen“ genannt.470 Auch das RG hat ein Wahrnehmen oder Bemerken durch das Gewaltopfer verlangt.471 In jedem Fall zu beanstanden ist allerdings das kryptische Argumentieren mit dem „reinen Wortsinn“. Wenn damit so etwas wie ein unbefangenes Verständnis oder der Alltagssprachgebrauch gemeint sein soll, hätte sich als Hilfsmittel der Wortinterpretation ein Wörterbuch geradezu aufgedrängt, und BGHSt 28, 224 ist ja in der Tat so verfahren.472 Fall 88 (BGHSt 41, 348 – „Bausatztheorie“) Liegt ein vom Kriegswaffenkontrollgesetz erfaßter „Zünder“ auch dann vor, wenn er in Einzelteilen (als Bausatz) geliefert wird und ohne großen Aufwand zusammengesetzt werden kann? Der BGH hat gegen die Erfassung des Bausatzes keine Bedenken aus Art. 103 II GG (S. 354). Mit der „Bausatztheorie“ werde der Wortsinn der Kriegswaffenliste nicht überschritten; die Zerlegung von Gegenständen bei der Versendung sei bei Industrieprodukten üblich (S. 355). Eine andere Auslegung würde Umgehungsmöglichkeiten eröffnen. – Wieder einmal bleibt es bei der Behauptung der Vereinbarkeit mit der Wortlautgrenze, obwohl doch offenbar Problembewußtsein vorhanden und eine inhaltliche Begründung zu leisten war. Einen Argumentationsweg für die sprachliche Auslegung bietet z. B. Steindorf473, der als Vergleichsbeispiel den Kauf eines in Teilen gelieferten Schrankes nennt, der erst zu Hause zusammengebaut werden muß; auch hier sei ein „Schrank“ und nicht nur die Einzelteile gekauft worden. Wenn demgegenüber Pottmeyer474 die „Binsenweisheit“ anführt, daß das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelteile darstellt, und als entscheidendes Kriterium die Einsatzfähigkeit der Waffe (die Nutzbarkeit des Schrankes) bezeichnet, überzeugt das nicht. Präziser wäre es zwar, vom Kauf eines Bausatzes bzw. vom Kauf der Einzelteile zu sprechen, aber die ungenauere Formulierung („Ich habe einen Schrank gekauft, den ich noch zusammenbauen muß.“) dürfte nicht unvereinbar mit dem Alltagssprachgebrauch oder sonst sprachwidrig sein.475 Beim BGH ist von alldem leider nichts zu lesen. 469

Dreher, MDR 1976, 529 (r. Sp.): Sprachlicher „Salto mortale“; Fezer, JZ 1975, 609: „Kühne Wortauslegung“; Kühl, JA 1979, 491: Überspielung der gesetzlichen Handlungsumschreibung mit zweifelhafter teleologischer Argumentation. 470 Es kam in der Entscheidung auf diese Frage freilich nicht an. 471 RGSt 73, 343 (346); ebenso z. B. Schnarr, JR 1979, 314. 472 BGHSt 27, 276 (278) stellt zu einer verfahrensrechtlichen Norm fest: „Dem reinen Wortlaut der Vorschrift nach gehört zu dieser Gruppe demnach zum Beispiel jeder, der . . .“. Damit wird lediglich betont, daß die sprachliche Interpretation nur ein erster Schritt im Gang der Rechtsfindung darstellt, im weiteren aber Sinn und Zweck zu einer Einschränkung führen können. 473 Steindorf, in: Erbs/Kohlhaas, § 1 KWKG, Stand: 3/2002, Rn. 1a. 474 Pottmeyer, wistra 1996, 121 (122).

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III. Wortlaut und Wortsinn

Bereits erörtert und kritisiert wurde die Entscheidung BGHSt 27, 45 (oben Fall 19 und Fall 54) zur Thematik „Absatzerfolg“ bei § 259 StGB.476 Der Senat hält die Subsumtion sprachlich „ohne weiteres“ für möglich (S. 50), obwohl zuvor ein anderer Strafsenat aus dem „eindeutigen Wortlaut“ das Gegenteil gefolgert und dafür – anders als BGHSt 27, 45 – sogar Gründe dargelegt hat (vgl. BGH NJW 1976, 1698 f.). Zudem entwickelt der BGH zur Relativierung des Wortlautarguments eine fragwürdige Auslegungsregel (siehe bei Fall 54). Nicht richtig ist die Ansicht Lackners, der BGH habe in seiner Hehlereientscheidung „eine gründliche Wortlautauslegung“ durchgeführt.477 Dafür gibt es in den Entscheidungsgründen keinen Anhaltspunkt. In methodischer Hinsicht aufschlußreich ist zudem der von Lackner vorgeschlagene Ausweg: Bei der Auslegung des § 259 sei die weitere Tatvariante der „Absatzhilfe“ mit heranzuziehen, die unbestritten auch bloße Absatzbemühungen erfasse.478 „Jedenfalls beide gesetzlichen Begriffe zusammen“ seien geeignet, „alle erfolgreichen und erfolglosen Absatzbemühungen abzudecken“. Dieser Vorschlag ist kreativ, steht aber in merkwürdigem Kontrast zur sonst im Strafrecht betriebenen dogmatischen Feinarbeit. Zur Ausräumung des Verdachts, die Auslegung verstoße gegen Art. 103 II GG, ist er jedenfalls nicht geeignet. Sollte es keinen besseren Weg geben, spricht alles dafür, den Verstoß einzuräumen und von der Annahme eines vollendeten Delikts abzusehen. In Anbetracht der regelmäßig gegebenen Versuchsstrafbarkeit kann das ohne Sorge geschehen. Der BGH würde sich damit zudem der inkonsequenten Ausnahme entledigen, wonach bloße Absatzbemühungen dann nicht genügen sollen, wenn der Hehler an Mittelsmänner der Polizei gerät.479

Keine der dargestellten Entscheidungen räumt die sprachlichen Bedenken aus, die in aller Regel ja doch zumindest gesehen werden. Die Bemühungen der Senate sind allerdings recht unterschiedlich. Am redlichsten müht sich noch BGHSt 25, 10 (Fall 86 – „Einziehung des Anwartschaftsrechts“), doch hätte der Rückgriff auf eine im Zivilrecht praktizierte Analogie stutzig machen müssen. Es verwundert deshalb nicht, daß der Senat den „Schein“ des entgegenstehenden Wortlauts nicht beseitigen kann und statt dessen an das Rechtsgefühl appelliert („es ist nicht einzusehen“).480 Extrem liegt Fall 83 zu § 42m StGB a. F. („Entziehung einer nicht existierenden Fahrerlaubnis“) – eine Norm, die den 475 Pottmeyer (wistra 1996, 121 [122]) ist hingegen der Ansicht, erst durch den Zusammenbau ergebe sich das „geistige Band“ (Hinweis auf Goethe, Faust I), das den Gegenstand seiner Bestimmung zuführt. Damit dürfte der Bereich einer streng philologischen Gesetzesinterpretation jedoch verlassen sein. 476 Zum Begründungsmangel in BGHSt 31, 317 (Behauptung eines vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichenden juristischen Gesetzesverständnisses) siehe oben Fall 35. 477 Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 61 auch für das folgende. 478 So BGHSt 26, 358 = oben Fall 80, aber nie „unbestritten“ (vgl. Fn. 449). 479 Siehe BGHSt 43, 110 und die krit. Anm. von Krack, NStZ 1998, 462 und Otto, JK 1998, StGB § 259/18. Daß die Geister, die man mit einer ersten Wortlautüberdehnung ruft, nicht leicht abzuschütteln sind, zeigten bereits BGHSt 47, 134 und BGHSt 48, 354 (oben III 7 g bb, Nr. 21 und 22). Wird der zweite Schritt nicht gegangen, entstehen u. U. systematische Friktionen.

7. An der Wortlautgrenze

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BGH mehrfach zur Verzweiflung getrieben und in letzter Konsequenz sogar in einem Fall zur Aufgabe des Grenzkriteriums „Wortlaut“ veranlaßt hat (siehe oben Fall 55). Methodenehrlich wäre es gewesen, auch in Fall 83 so zu verfahren oder eben auf die Korrektur der mangelhaften Gesetzesfassung zu verzichten.481 Die Diskreditierung des Gesetzeswortlauts – der „bloßen Wortfassung“ komme gegenüber dem Sinn keine „ausschlaggebende Bedeutung“ zu, da der Gesetzgeber an diese Problematik nicht gedacht habe (!); die Gegenauffassung beschränke sich auf „formale Erwägungen“ – kann jedenfalls nicht überzeugen. Sie kommt der Aufgabe des Grenzkriteriums schon sehr nahe. In Fall 84 („Ingebrauchnahme“) bringt der Senat eine umständliche Argumentation vor, die von der eigentlich notwendigen und nicht schwierigen Sprachanalyse ablenkt. Beim „faktischen Geschäftsführer“ (Fall 85) hat der BGH die Wortlautproblematik stets nur angedeutet, aber nie eine hinreichende Begründung für seine Behauptung, die Bestrafung sei „noch“ vom Wortlaut gedeckt, geliefert. Der Versuch der Rechtfertigung bleibt zirkulär und stellt kriminalpolitische Erwägungen ganz in den Vordergrund. Noch deutlicher fällt dies auf in der Entscheidung zur „Bausatztheorie“ (Fall 88); gerade dort ist die schwache Argumentation ärgerlich, weil eine inhaltliche Begründung für die begriffliche Vereinbarkeit mit dem Wortlaut ohne weiteres zu meistern war. Für Fall 87 („auf frischer Tat betroffen“) wäre eine Rechtfertigung hingegen sehr schwierig gewesen, weshalb der BGH womöglich von vornherein davon abgesehen und es bei der Behauptung der Vereinbarkeit – „im reinen Wortsinn“ – belassen hat. In BGHSt 27, 45 („Absatzerfolg“) war offensichtlich der Wunsch, den gesetzgeberischen Fehlgriff zu korrigieren, so übermächtig, daß der Senat sich trotz vorgetragener sprachlicher Bedenken auf eine Evidenzbehauptung zurückzieht und zusätzlich eine fragwürdige Regel zur Wortlautauslegung im allgemeinen aufstellt. ff) Fallgruppe 5: Mangelndes Problembewußtsein Hier sind Fälle darzustellen, in denen der BGH von vornherein Sensibilität hinsichtlich der Wortlautgrenze vermissen läßt. Oftmals hätte bereits ein Blick in die Kommentarliteratur die Problematik aufgezeigt, in anderen Beispielen (wie in den folgenden beiden Fällen) lag die Sache so klar, daß das fehlende Aufgreifen des Themas durch den BGH sehr verwundert.

480 Zu weitgehend ist jedoch die Interpretation von Krey (Studien, S. 145), wonach die Entscheidung die Überschreitung des Wortsinns unter Berufung auf die ratio legis für statthaft hält. 481 Nennenswerte Lücken waren dadurch nicht zu befürchten, denn die Verwaltungsbehörden hatten ausreichende Handlungsmöglichkeiten (vgl. Jescheck, GA 1959, 65 [66]). Konzeptionell stimmiger und praktikabler war allerdings die Lösung des BGH, die der Gesetzgeber schließlich auch in geschriebenes Recht umgesetzt hat (vgl. oben Fn. 453).

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III. Wortlaut und Wortsinn

Fall 89 (BGHSt 5, 124; 14, 89; 18, 114 – „Verkehrsflucht“): Gemäß § 142 StGB a. F. machte sich strafbar, „wer sich nach einem Verkehrsunfall [den Feststellungen] vorsätzlich durch Flucht entzieht, obwohl nach den Umständen in Frage kommt, daß sein Verhalten zur Verursachung des Unfalls beigetragen hat“. Muß der Täter einer Hilfspflicht nachkommen, z. B. das Opfer zur Klinik bringen (§ 323c StGB!), so ist er nach Erfüllung seiner Pflicht laut BGHSt 5, 124 zur Rückkehr an den Unfallort verpflichtet, denn die Unfallflucht könne auch von einem anderen als dem Unfallort begangen werden (S. 128). Bei „sachgemäßer Güterabwägung“ begründe die Hilfspflicht nur ein Recht zur vorübergehenden Entfernung (S. 128). Ist die Rückkehr mangels feststellungsbereiter Personen zwecklos, soll der Täter sogar zur Meldung des Unfalls bei der Polizei verpflichtet sein.482 BGHSt 14, 89 hält – mit dem Wortlaut vielleicht noch vereinbar – eine Unfallflucht auch dann für möglich, wenn der Täter erst nachträglich Kenntnis vom Unfallgeschehen erlangt und sich zur Weiterfahrt entschließt. BGHSt 18, 114 bejaht für diesen Fall darüber hinaus eine Rückkehrpflicht des Täters zum Unfallort. Darin liege keine „unzulässige Ausweitung des Tatbestandes“ (S. 119). Die Begründung, die der BGH für die Statuierung der Rückkehrpflicht gibt, geht auf den Gesetzeswortlaut nicht weiter ein, obwohl das vorlegende OLG insoweit Bedenken geäußert hat. Statt dessen stellt der BGH maßgeblich auf den Gesetzeszweck, auf die Vereinbarkeit mit den entsprechenden Präjudizien und auf kriminalpolitische Argumente ab. Dabei gerät bei dem Bemühen, Wertungsgleichheit zwischen den unterschiedlichen und bereits bisher vom BGH sehr weitgehend erfaßten Fallkonstellationen herzustellen, der Gesetzestext zu stark aus dem Blick.483 Die spätestens mit BGHSt 5, 124 eingeleitete Expansion des § 142 StGB a. F. fand damit ihren Höhepunkt und wurde schließlich auch vom Gesetzgeber durch das 13. StÄG – bei anderer Ausgestaltung im einzelnen – in geschriebenes Recht umgesetzt (vgl. § 142 StGB g. F.). Völlig zu Recht sagt BGHSt 28, 129 (133), die Rechtsprechung des BGH zu § 142 StGB a. F. habe die Rückkehrpflicht „entwickelt“.484 Fall 90 (BGHSt 14, 194; bestätigt in BGHSt 14, 299): § 86 II StGB a. F. sah bei Staatsschutzdelikten, die zu einer Einziehung von Gegenständen führten, eine angemessene Entschädigung für den an der Straftat nicht beteiligten Eigentümer der Gegenstände vor. Kann der Entschädigungsanspruch einer (staatsfeindlichen) Vereinigung vorenthalten werden? Der BGH zeigt das Problem zutreffend auf: Die Vorschrift sei auf juristische Personen nicht zugeschnitten, da diese nicht Beteiligte einer Straftat sein können (S. 197). Daß dann aber stets eine Entschädigung erfol482

Diese Ansicht hat der BGH allerdings in BGHSt 7, 112 als mit dem „Grundgedanken“ des Analogieverbots unvereinbar aufgegeben; aus demselben Grund abl. auch Jescheck, GA 1955, 97 (108). 483 Küper, in: Heidelberg-FS, S. 458: Der BGH begründe in erster Linie nicht aus der Norm, sondern ergänze das bisherige Richterrecht. – Erneut ein Beispiel, wie sich eine erste wortlautferne Auslegung fortsetzt! (Vgl. Fn. 479.) 484 Eine dogmatische Rechtfertigung hätte allenfalls durch die vom BGH allerdings nicht erwogene Konstruktion eines Unterlassungsdelikts erfolgen können; näher Bindokat, NJW 1966, 1906 f. und Schröder, NJW 1966, 1001 ff. Kritik an der Rechtsprechung zu § 142 StGB a. F. in bezug auf Art. 103 II GG äußern u. a. Roxin, AT I, § 5, Rn. 34 („in sprachlich unmöglicher Weise“), Küper, in: Heidelberg-FS, S. 457 („Richterrecht contra legem“) und Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 92 (Beispiel „wortlautferner Gesetzesauslegung“).

7. An der Wortlautgrenze

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gen müßte, hält der BGH für ein „unsinniges Ergebnis“, für das die Entstehungsgeschichte keinen Anhaltspunkt biete. Vielmehr sei diese Lücke des Gesetzes (!) nach den in § 86 II enthaltenen Richtlinien zu schließen. „In entsprechender Anwendung“ (!!) erhalte somit die juristische Person keine Entschädigung, wenn sie eine staatsfeindliche Vereinigung oder Bestandteil davon ist (S. 197). – Die Auffassung des BGH mag im Ergebnis haltbar sein485, aber das mangelnde Problembewußtsein bei dieser selbstbewußten Lückenschließung zulasten des Einziehungsbeteiligten verwundert. Wenn der BGH der Auffassung gewesen sein sollte, für eine Entschädigungsnorm gelte das Analogieverbot486 von vornherein nicht, dann hätte er dies wenigstens begründen müssen. Fall 91 (BGHSt 14, 291 – „Nachschlüsseldiebstahl“): Wendet derjenige zur Öffnung eines Behältnisses einen „falschen Schlüssel“ an (§ 243 I Nr. 3 StGB a. F.), der sich einen vom Eigentümer eingeschlossenen Schlüssel durch gewaltsames Öffnen des Aufbewahrungsbehälters beschafft und damit das Behältnis öffnet? Nach Ansicht des BGH entscheidet über die „Falschheit“ des Schlüssels allein der Wille des Verfügungsberechtigten, der hier mit dem Einschließen dem echten Schlüssel seine Bestimmung entzogen habe (S. 292). Dagegen läßt der BGH angesichts des Gesetzeswortlauts die Benutzung eines gestohlenen Schlüssels für den „Nachschlüsseldiebstahl“ noch nicht genügen; erforderlich sei, daß der Berechtigte dem Schlüssel die Bestimmung zur ordnungsgemäßen Öffnung entzogen hat (BGHSt 21, 189 f.). Der BGH und die ihm folgende Lehre müssen im weiteren dann einigen Aufwand betreiben, um zu begründen, welche Anforderungen an eine solche Entwidmung zu stellen sind. Aber kann die „Falschheit“ eines Schlüssels wirklich nur vom Willen des Berechtigten abhängen? Der vom BGH verwendete Begriff des „Nachschlüsseldiebstahls“ zielt doch – gerade sprachlich – eher dahin, allein darauf abzustellen, ob ein Schlüssel zur ordnungsgemäßen Öffnung eines Schlosses gefertigt wurde oder nicht.487 Statt also nach der Bedeutung des Adjektivs „falsch“ und den insoweit maßgeblichen Sprachgebrauch – die Umgangssprache würde einen versteckten Schlüssel kaum als „falsch“ bezeichnen! – zu fragen, stellt die Rechtsprechung allein auf die „Bestimmung“ des Schlüssels ab.488 Fall 92 (BGHSt 23, 239; 38, 26; GS 46, 321; StV 2000, 315; JR 2001, 73 = oben Fall 26, „Zweierbande“): Wenig Sensibilität zeigte der BGH zunächst auch in der Frage, ob eine „Bande“ aus mindestens drei Personen bestehen muß. BGHSt 23, 239 (240) erkennt in der Neuformulierung der Diebstahlsqualifikation durch das 1. StrRG 1969 (§ 243 I Nr. 6 StGB a. F.: „mehrere mitwirken“; § 244 I Nr. 3 StGB 485 So Tröndle, GA 1962, 225 (226), dessen alternativer Begründungsansatz aber in Hinblick auf Art. 103 II GG ebenfalls Bedenken erweckt. 486 Genaugenommen wird eine Ausschlußklausel der Entschädigungsnorm (über ihren Wortlaut hinaus) analog angewandt. Stellt man hingegen auf Rechtswirkung der Norm insgesamt ab (Entschädigung), wird ihr Anwendungsbereich zulasten des Betroffenen reduziert, vgl. unten III 7 h. 487 In diesem Sinn auch der wohl „quellennächste“ Kommentar zum RGStGB von Rubo, § 243, Anm. 26: Auch ein nicht mehr gebrauchter, gleich ob freiwillig aufgegeben oder unfreiwillig verloren, sei nicht falsch. 488 Und zwar schon seit RGSt 4, 414 und besonders deutlich in RGSt 5, 17 (19). Die hier vorgebrachten Bedenken teilt offenbar nur die Vorinstanz zu RGSt 4, 414 (siehe dort).

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III. Wortlaut und Wortsinn

n. F.: „als Mitglied einer Bande“) keinen Willen des Gesetzgebers, die Mindestzahl gegenüber der bisherigen Rechtslage zu erhöhen. Der Wortsinn zwinge nicht zu einer solchen Änderung. Für ein entsprechendes Bandendelikt im BtM-Recht kann laut BGHSt 38, 26 (28) nichts anderes gelten; diese Auffassung sei mit dem Wortsinn „vereinbar“. Außer dem Nachweis einer Fundstelle, die diese Wortinterpretation immerhin für „vertretbar“ hält, bringt der BGH keine Begründung für seine Ansicht, obwohl zwischenzeitlich zum Teil vehemente Kritik an BGHSt 23, 239 geäußert worden ist.489 Merkwürdig, daß erst 1999 ein Strafsenat (StV 2000, 315) semantische Zweifel zum Ausdruck bringt und sogar für durchschlagend hält! Was bisher nicht einmal begründungsbedürftig schien, soll sich nach langer Zeit der Latenz490 plötzlich als Verkennung der Wortsinngrenze erweisen! Der Große Senat hat sich das Wortlautargument des 4. Senats491 freilich nicht zu eigen gemacht und ohne Begründung beiden Lesarten die Vereinbarkeit mit dem Wortlaut bescheinigt (S. 328 f.). Das ist insofern bemerkenswert, als daß die vom Großen Senat vollzogene Einschränkung des Bandenbegriffs mit dem Wortlaut doch zumindest hätte gestützt werden können. Warum sollen Zweifel an der Zulässigkeit der Wortauslegung nicht zugunsten einer engeren Auslegung geltend gemacht werden? Fall 93 (BGH NJW 1984, 135 = JR 1984, 337; wistra 1995, 143; BGHSt 45, 97; KG JR 1985, 24; OLG Karlsruhe JR 1989, 210 – „Erfolg der Strafvereitelung“): Mit der Umgestaltung des Begünstigungstatbestandes 1974 hat der Gesetzgeber des EGStGB ungewollt ein Auslegungsproblem verursacht,492 das dem bereits geschilderten zur Hehlerei (BGHSt 27, 45 = oben Fall 19 und Fall 54) sehr ähnelt. Setzt das „Vereiteln“ einer Strafe (§ 258 I StGB) voraus, daß die Strafverfolgung endgültig (erfolgreich) unmöglich gemacht wird? Die Gerichte verneinen das und lassen unter Berufung auf Zweck und Entstehungsgeschichte als Tatbestandserfolg eine erhebliche Verzögerung der Strafverhängung genügen.493 Die Literatur beruft sich hingegen überwiegend auf den eindeutigen Sprachgebrauch, der unter „vereiteln“ 489 Vgl. Dreher, NJW 1970, 1802, dessen Anm. vor allem zeigt, welches Niveau bei einer ernsthaft betriebenen Wortlautanalyse erreicht werden kann. Allerdings ist die Argumentation Drehers sicher nicht die einzig vertretbare: Die soziologisch orientierten Enzyklopädien (Brockhaus) verstünden unter Bande eine bestimmte Form der „Gruppe“, die als Gegensatz zum „Paar“ mindestens drei Bestandteile voraussetze (S. 1803). Der allgemeine Sprachgebrauch nenne zwei zusammenarbeitende Taschendiebe ebenfalls nicht „Bande“; auch der im Duden enthaltene Hinweis auf die „Schar“ spreche dagegen (a. a. O.). 490 Ein schönes Beispiel dafür, wie von der Dogmatik gespeicherte Zweifel doch noch zum Durchbruch gelangen, vgl. allgemein dazu Honsell, Historische Argumente, S. 10. 491 Der 4. Senat hat auf die vom 1. Senat im Anfrageverfahren vorgetragenen Einwände (vgl. oben Fall 26) im Vorlagebeschluß seine Auffassung dezent abgemildert: Heißt es im Anfragebeschluß noch, daß gegen die Zweierbande „zu Recht“ ein Verstoß gegen die Wortlautgrenze vorgebracht werde (StV 2000, 315 [317]), sagt der 4. Senat im Vorlageverfahren, daß dieser Einwand „nicht zu Unrecht“ erhoben werde (JR 2001, 73 [76]). Siehe zu diesem, nicht nur stilistischen relevanten Unterschied auch Walter, Stilkunde, S. 228. 492 Zu diesem und weiteren Problemen der Neufassung eingehend U. Ebert, ZRG 1993, 1 (55–66). 493 Umfassende Darstellung der bisherigen Rechtsprechung bei Wappler, Erfolg der Strafvereitelung, S. 66–85.

7. An der Wortlautgrenze

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„verhindern“ oder „zum Scheitern bringen“ verstehe;494 der Gesetzgeber selbst differenziere zwischen „vereiteln“ und „wesentlich erschweren“ (§§ 917, 935 ZPO)495. Angesichts der naheliegenden sprachlichen Einwände verwundert, daß die Rechtsprechung eine Begründung ihrer Auffassung zur Bedeutung des Ausdrucks „vereiteln“ nie geliefert hat, sondern stets auf Präjudizien verweist, die ebenfalls die Argumente schuldig bleiben.496 OLG Koblenz NStZ 1992, 146 f. verweist sogar auf Vorentscheidungen des RG, die zum alten, anderslautenden (!) Recht ergangen sind! Angesichts der in jedem Fall greifenden Versuchsstrafbarkeit kann auch die Angst vor Strafbarkeitslücken nicht als überzeugendes Motiv für die unzureichende Begründung herhalten.497

Anlaß zur Diskussion bieten auch folgende Fälle, die sich wohl noch im Rahmen des möglichen Wortsinns halten, in denen die Vereinbarkeit der Auslegung mit dem Gesetzeswortlaut zumindest aber näher hätte begründet werden können: Die „Zeugungsfähigkeit“ (§ 224 StGB i. d. F. bis zum 6. StrRG 1998) umfaßt nach Auffassung des BGH auch die Gebär- oder Empfängnisfähigkeit der Frau (BGHSt 21, 194). Ob es sprachlich nicht näher liegt, von der „Zeugungsfähigkeit“ des Mannes, der „Empfängnisfähigkeit“ der Frau und als gemeinsamen Oberbegriff von der Fortpflanzungsfähigkeit zu sprechen498, untersucht der BGH mit keinem Wort. — Mehr zur sprachlichen Auslegung hätte man auch in der Frage erwarten können, ob ein Schuh am Fuß des Täters als „gefährliches Werkzeug“ (§§ 223a I, 250 I Nr. 2 StGB i. d. F. bis zum 6. StrRG) betrachtet werden kann, woran BGHSt 30, 375 nicht zweifelt.499 Das ist insofern merkwürdig, als nach unbefangener Gesetzeslektüre primär das Werkzeug selbst gefährlich sein muß und nicht nur der Umgang damit. Dennoch hat die Rechtsprechung den Gesetzestext immer mehr aus dem Blick verloren.500 BGHSt 3, 105 (109) hält es sogar für möglich, einen Weinschlauch als ge-

494 Seebode, JR 1998, 338 (341) und Wappler, Erfolg der Strafvereitelung, S. 170, beide unter Berufung auf Wörterbücher. 495 Seebode (wie Fn. 494). Dieses sprachlich-systematische Argument ist zwar stark (vgl. oben III 3 g), dürfte hier aber nicht dem Wirkungskreis des Art. 103 II GG unterfallen, zumal es auf außerstrafrechtlicher Ebene liegt. 496 Bezeichnend der Verweis von BGH JR 1984, 337 auf BGH MDR/H 1981, 631, wo lediglich das Ergebnis behauptet wird und weiter auf unveröffentlichte Entscheidungen verwiesen wird! Zum enttäuschenden Argumentationsniveau der Rechtsprechung in dieser Frage siehe die Analyse von Wappler (wie Fn. 493). BGHSt 45, 97 (100) behandelt die Thematik so, als sei sie gar nicht streitig. In der von Seebode (oben Fn. 494) erörterten Entscheidung BGHSt 43, 82 kam es auf die Problematik nicht an, weil der BGH § 258 schon aus anderen Gründen scheitern ließ. 497 Näher dazu und zum historischen Hintergrund des Malheurs unten Fall 311. 498 So jetzt auch § 226 I Nr. 1 StGB n. F.; näher zum Begriff der Zeugungsfähigkeit Scheffler, Jura 1996, 505 (507). 499 Während BGHSt 30, 375 immerhin eine Begründung für die Subsumtion abgibt, bleibt es in OGHSt 1, 11 (18) bei einer bloßen Feststellung. 500 Paradoxerweise hat der BGH selbst die Situation verschärft, indem er entgegen Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 223a StGB (a. F.) das „gefährliche Werkzeug“ zum Oberbegriff erklärte, statt – wie es die Gesetzesverfasser gesehen hatten (vgl. RT-Berichte 1875/76, S. 802) – von einem weiten Oberbegriff der Waffe auszugehen (näher oben Fall 32 und Joerss, Die gefährliche Körperverletzung, S. 55).

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III. Wortlaut und Wortsinn

fährliches Werkzeug zu betrachten, und nach BGH StV 2002, 482 kann auch eine Plastiktüte genügen. Würde der Gesetzgeber diese Entwicklung nachzeichnen, müßte er in § 224 I Nr. 2 StGB n. F. formulieren: „Wer die Körperverletzung mittels eines Werkzeugs begeht, das er in gefährlicher Weise benutzt . . .“ oder „Wer zur Körperverletzung ein Hilfsmittel in gefährlicher Weise gebraucht . . .“. — Nach BGHSt 35, 21 kann Falschgeld auch dadurch „in Verkehr gebracht werden“ (§ 146 I Nr. 3 StGB), daß es vom Täter in einen Abfalleimer geworfen wird, wo es ein Dritter womöglich findet und somit in die Lage versetzt wird, es seinerseits als echt weiterzugeben. Der vom RG entwickelte Begriff des Inverkehrbringens erfasse auch diesen Fall „ohne weiteres“ (S. 25). Schroeder (JZ 1987, 1133) moniert zu Recht die vom BGH vorgenommene Ausweitung, die den Tatbestand in ein Gefährdungsdelikt (Gefahr, daß Dritte das Falschgeld in Verkehr bringen!) umwandle.501

Der BGH prüft nicht selten zu sehr die Vereinbarkeit seiner Auslegung mit den durch die Rechtsprechung entwickelten Definitionen, anstatt das Augenmerk auf den Gesetzestext selbst zu richten oder wenigstens eine Rückkontrolle vorzunehmen. Ungeachtet der Notwendigkeit, die Vielzahl der Präjudizien zu berücksichtigen und in ein stimmiges Konzept einzubinden, dürfen die Definitionen kein Eigenleben gewinnen, das sich vom Gesetz entfernt502 und letztlich immer nur zur Ausweitung der Strafbarkeit führt. gg) Fallgruppe 6: Umgehungsmechanismen, sonstiges Im Bereich der Wortlautgrenze ist besonders auf Taktiken zu achten, die versuchen, einen entgegenstehenden Gesetzeswortlaut auszuhebeln. Damit sind typische Stilmittel gemeint, welche die Sachlage verunklaren oder den Leser in die Irre führen sollen. Gelingen kann das allerdings nur selten. Eher werden die in diesem Zusammenhang verwendeten typischen Formulierungen sofort einen Verdacht erwecken. Zunächst zu erwähnen ist die hin und wieder anzutreffende Aussage, daß der Wortlaut einer bestimmten Auslegungshypothese entgegenzustehen „scheint“ oder zu einer (Fehl-)Annahme „verleitet“. Formuliert der BGH in dieser Weise, muß er den scheinbaren Widerspruch in seiner weiteren Begründung auflösen, um eine in Frage stehende Wortlautüberschreitung auszuräumen. Davon kann man in den Fällen von BGHSt 2, 29 (30: „Nach dem Wortlaut . . . könnte man allerdings annehmen . . .“; vgl. oben Fall 75), BGHSt 37, 147 (150: „Für die Auffassung des GBA scheint der Wortlaut . . . zu sprechen“; oben Fall 62) und BGHSt 42, 123 (125: „deutet bei erster Betrachtung darauf hin“; vgl. oben Fall 78) ausgehen, obgleich das Gericht sich im Anschluß an seine einleitenden Feststel501 BGHSt 44, 62 gibt BGHSt 35, 21 nur bezüglich der „begrifflichen Ausdehnung“ der Tatalternative des „Sichverschaffens“ auf. 502 Zum Beharrungsvermögen der Rechtsprechung, sogar im Fall einer Gesetzesänderung an der ursprünglichen Definition festzuhalten, vgl. oben Fall 53 („Gemeingefahr“).

7. An der Wortlautgrenze

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lungen zum Wortlaut sehr schwer damit tut, die gegenteilige Auslegung überzeugend zu begründen. In BGHSt 25, 10 wird der „scheinbare“ Widerspruch hingegen nicht beseitigt (näher oben Fall 86), was die generell bei dieser Argumentationsfigur bestehende Gefahr belegt, auf die aufgeworfene Frage nicht mehr zurückzukommen und statt dessen die übrigen canones zu erörtern. Fall 94 (BGHSt 14, 55 – „Empfehlungsverbot“): Selbst Steine in den Weg legt sich der BGH in einer Entscheidung zum kartellrechtlichen Umgehungsverbots (Empfehlungsverbot) des § 38 II 2 GWB a. F. Im zugrundeliegenden Fall hatte ein Einzelhandelsverband seine Mitglieder davon „unterrichtet“, welche Preise von einer größeren Anzahl von Händlern am Markt verlangt werde. Daran hatten sich anschließend einige Händler orientiert, weshalb ein Verstoß gegen § 38 II 2 GWB a. F. in Betracht kam. Nach dieser Bestimmung handelt ordnungswidrig, „wer Empfehlungen ausgesprochen hat, die eine Umgehung der in diesem Gesetz ausgesprochenen Verbote . . . durch gleichförmiges Verhalten bewirkt haben“.503 Im Verhalten der Beteiligten konnte eine Umgehung einer durch das Kartellrecht verbotenen Preisabsprache oder Preisbindung liegen. Der Tatbestand des § 38 II 2 GWB (a. F.) bereitet hier zwar einige Schwierigkeiten (z. B. ob die Unterrichtung schon als „Empfehlung“ angesehen werden kann), aber ohne Not problematisiert der BGH die Frage, wer die „Umgehung“ i. S. dieser Vorschrift vornimmt. Nach Auffassung des Senats ist das der Empfehlende, nicht hingegen der Empfänger der Empfehlung, obwohl „Wortlaut und Satzbau“ für das Gegenteil zu sprechen „scheinen“ (S. 59). Im letzteren Sinn dürfe die Vorschrift jedoch nicht verstanden werden. In Wirklichkeit ergebe erst das Zusammenspiel von Empfehlung und gleichförmigem Verhalten die verbotswidrige Wettbewerbslage; mit der Empfehlung beginne die unzulässige Umgehung, das gleichförmige Verhalten vollende sie (S. 60)504. Unabhängig von der Relevanz dieser Ausführungen – Täter der Vorschrift ist ja unzweifelhaft der Empfehlende, auch wenn die Umgehung des Verbots notwendig die Mitwirkung des Empfängers voraussetzt505 – ist die aus Sinn und Zweck hergeleitete Auffassung des BGH mit Wortlaut und Satzbau sicher vereinbar. Das erhellt vor allem, wenn man berücksichtigt, daß die „Umgehung“ im Gesetz gar nicht personengebunden formuliert ist, sondern auf ein Ergebnis oder einen Zustand abstellt: Das Verhalten 503 Fast gleichlautend die bis 1999 geltende Regelung des § 38 I Nr. 11 GWB; etwas weiter § 22 I 1 GWB i. d. F. ab 1.1.1999 („bezwecken oder bewirken“), jedoch ohne Unterschied für vorliegende Problematik. 504 Der Umgehungstatbestand setzt sich also aus dem Verhalten zweier Seiten zusammen, so daß die Ansicht des BGH, die „Umgehung“ werde nur vom Empfehlenden begangen, zumindest „schief“, nach Auffassung von Lieberknecht (GRUR 1960, 355 [357]) sogar widersprüchlich ist. 505 Der Gesetzgeber hat eben nur das Verhalten der einen Seite für strafwürdig erachtet; nur der Initiator ist in diesem Sinn Täter des „Umgehungstatbestandes“. Der BGH hat sich offenbar durch Äußerungen in der Literatur verunsichern lassen; sehr verzerrend z. B. Langen, Kartellgesetz, § 38, Erläuterung B VII 2, der (materiell) den Empfänger als „Haupttäter“, den Empfehlenden als „Anstifter“ einstuft, und dies zu Unrecht aus der Formulierung „bewirkt haben“ schließt; mißverständlich auch Leo, Die Aktiengesellschaft, 97 (98, l. Sp.), der den Adressaten als „Umgehungstäter“ bezeichnet; näher zum Ganzen Hübner, LM 1961, Nr. 4 zu § 38 GWB, unter 4. Die heutige kartellrechtliche Literatur sieht insofern keine Probleme mehr, vgl. Emmerich, Kartellrecht, S. 159 f.

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III. Wortlaut und Wortsinn

der Beteiligten „bewirkt“ die Umgehung eines kartellrechtlichen Verbots, ist also Voraussetzung desselben. Die Frage nach der Vereinbarkeit seiner Auffassung mit Wortlaut und Satzbau hätte der Senat jedenfalls noch einmal aufgreifen müssen, um die von ihm selbst in Betracht gezogene („scheinbare“) Überschreitung des semantischen Rahmens wieder auszuräumen! Fall 95 (BGHSt 16, 210 – „Einziehung im Weinrecht“) behandelt das Verhältnis zwischen den Strafvorschriften des Weinrechts und des allgemeinen Lebensmittelrechts. Grundsätzlich sind die Sonderregelungen des Weinrechts vorrangig, aber § 31 WeinG a. F. bestimmte eine Ausnahme für den Fall, daß die Straftat in anderen Vorschriften mit höherer Strafdrohung belegt ist. Konkret war diese Situation mit § 11 LebMG a. F. gegeben. Nach § 31 WeinG a. F. waren damit alle Strafvorschriften des WeinG, einschließlich ihrer Nebenfolgen verdrängt. Fraglich blieb das allerdings hinsichtlich der Einziehung, denn § 28 II WeinG a. F. sah auch dann die Anwendung der Einziehungsvorschriften des Weingesetzes vor, „wenn die Strafe auf Grund eines anderen Gesetzes zu bestimmen ist“. Gemeint ist damit offensichtlich nur die Konstellation, in der das andere Gesetz überhaupt keine Einziehungsmöglichkeit vorsieht, die Vorrangregelung des § 31 folglich eine Lücke hinterließe; dann soll jedenfalls das WeinG diese Möglichkeit gewährleisten (S. 213). Der Wortlaut des § 28 II geht jedoch (unbeabsichtigt) noch weiter, indem er einen ausnahmslosen Vorrang der weinrechtlichen Einziehungsregelung bestimmt. Für den Täter wäre die Regelung des § 28 günstiger gewesen, weil sie anders als § 13 LebMG a. F. die Einziehung in das Ermessen des Gerichts stellte. Trotz allem verneint der BGH eine Sperrwirkung des § 28 II WeinG. Der Gesetzgeber habe die Norm eingeführt, weil es nach dem damaligen Stand der Rechtsprechung nicht möglich gewesen sei, auch bei Gesetzeseinheit Nebenstrafen und Nebenfolgen aus dem verdrängten milderen Gesetz zu verhängen (S. 214). Ein weitergehender Zweck als die Ermöglichung der Einziehung auch in diesen Fällen komme der Vorschrift nicht zu (S. 215). – Die Erwägungen des BGH sind alle plausibel, aber wie steht es mit dem zu weit geratenen Wortlaut? Der Senat stellt ihn hinter dem Gesetzeszweck zurück: „Zwar könnte eine nur wörtliche Auslegung dieser Vorschrift zu der Annahme verleiten, als richte sich die Einziehung in jedem Falle nach den Vorschriften des Weingesetzes. Nach seinem Zweck will § 28 Abs. 2 WeinG jedoch nur . . .“ (S. 213). Daß hier eine teleologische Reduktion zulasten des Täters (Wortlautunterschreitung!) vorliegen könnte, die unter dem Aspekt des Art. 103 II GG nichts anderes darstellt als eine unzulässige Analogie (näher unten III 7 h), wird vom BGH nicht erwogen.506 Fall 96 (BGHSt 43, 285 – „Pfeilrot“): Auch hier findet der BGH aus einer diffizilen, vom Gesetzgeber ungewollt verursachten Wortlautproblematik kaum heraus. Im Straßenverkehr existieren verschiedene Ampelanlagen, zum einen mit, zum anderen ohne Richtungsangabe. Stets zwingt jedoch das Rotlicht zum Anhalten. Im vorliegenden Fall hatte die Straße mehrere Fahrbahnen. Eine führte geradeaus, die andere war eine Abbiegerspur, auf der die Geradeausfahrt verboten war. Die Ampel der Geradeaus-Spur zeigte „grün“, die Ampel der Abbiegerspur „rot“. Der Betroffene fuhr, da die Geradeausspur blockiert war, auf die Abbiegerspur, hielt nicht an der „roten“ Ampel, wechselte dann aber (hinter der Ampelanlage) direkt auf die Ge506 Aus anderen Gründen für einen Vorrang des § 28 WeinG (a. F.) Koch, NJW 1962, 60 (61, r. Sp.) und GA 1960, 1 (4).

7. An der Wortlautgrenze

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radeausspur.507 Eigentlich ein klarer Rotlichtverstoß des Betroffenen. Jedoch besagt § 37 II Nr. 1 Satz 11 StVO zur Ampel mit Richtungspfeil folgendes: „Schwarzer Pfeil auf Rot ordnet das Halten . . . nur für die angegebene Richtung an.“ Gemeint ist damit offensichtlich nur, daß die „rote“ Ampel mit Richtungszeichen keine Wirkung für die übrigen Spuren zeitigt, nicht aber, daß das Haltegebot bei anschließendem Spurwechsel übergangen werden darf.508 Für die Beteiligten des Straßenverkehrs dürfte sich das vom Gesetzgeber Gewollte schon intuitiv ergeben, aber wie steht es mit dem Gesetzeswortlaut? Der BGH sieht im Verhalten des Betroffenen „entgegen dem Anschein, den der Wortlaut des § 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 11 StVO begründen könnte“ (S. 289), einen Rotlichtverstoß und beruft sich dabei auf den systematischen Zusammenhang der Gesamtregelung (die Norm „darf nicht isoliert betrachtet werden“). Nach Satz 3 der gleichen Vorschrift verbiete sogar eine grüne Ampel mit Pfeil das Geradeausfahren, so daß beim „roten Pfeil“ (erst recht) nichts anderes gelten könne (S. 289). Für alle Rotlichtzeichen gebiete Satz 7 „Halt vor der Kreuzung“ (S. 290).509 Diese Auslegung entspreche auch dem erkennbaren (!) Willen des Normgebers. Eine andere Auffassung führe zu einem „ungereimten Ergebnis“ (S. 290), und letztlich verlange auch die Verkehrssicherheit eine solche Lösung (S. 292). – Der BGH benötigt in einem relativ einfachen verkehrsrechtlichen Sachverhalt erheblichen Aufwand zur Begründung des vernünftigen und auch vom Gesetzgeber sicherlich gewollten Ergebnisses. Man hat fast den Eindruck, der BGH beruhige mit der Ausführlichkeit sein aus dem doch nur scheinbar entgegenstehenden Wortlaut resultierendes schlechtes Gewissen.

Noch bedenklicher ist die Ausschaltung des Gesetzeswortlauts durch das Totschlagsargument, der Gesetzestext sage zwar dies, „meine“ aber etwas anderes. Bei einer solchen Differenz zwischen Gemeintem und Gesagtem verlangt Art. 103 II GG zumindest nach herrschender Auffassung, von einer Rechtsanwendung zulasten des Täters abzusehen. Einen abweichenden Standpunkt zum maßgeblichen Grenzkriterium müßte der BGH dann wenigstens kenntlich machen. Fall 97 (BGHSt 16, 282 – „Wertersatz“): Als Musterbeispiel dieser Argumentationsfigur kann wiederum eine Entscheidung zum Recht der Einziehung gelten. § 414a AO a. F. eröffnete die Möglichkeit des Wertersatzes, wenn die Einziehung beim Täter selbst nicht mehr gegeben war: „Hat der Täter . . . die Sache nach der

507

Vgl. die vom Senat formulierte Vorlegungsfrage (S. 288): „Handelt ein Fahrzeugführer, der auf einem markierten (Linksabbieger-)Fahrstreifen im Sinne des § 37 Abs. 2 Nr. 4 StVO in eine Kreuzung einfährt, obwohl die Wechsellichtzeichenanlage (pfeilförmiges oder volles) Rot zeigt, auch dann ordnungswidrig gemäß . . ., wenn er anschließend in der Richtung eines durch Grünlicht freigegebenen anderen Fahrstreifens weiter fährt?“ 508 Hingegen hält das OLG Hamm mangels Nutzung des geschützten Abbiegebereichs nach Sinn und Zeck der Norm kein Rotlichtverstoß für gegeben und eine Sanktion wegen falschen Überholens für ausreichend, vgl. BGHSt 43, 285 (286); wie das vorlegende OLG auch Lessing, MDR 1998, 771, ohne den Wortlaut als Argument heranzuziehen. 509 Es ist allerdings fraglich, ob Satz 11 insofern nicht die speziellere Vorschrift gegenüber Satz 7 ist.

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III. Wortlaut und Wortsinn

Tat veräußert und wäre ohne die Veräußerung die Einziehung gegenüber ihm zulässig gewesen, fehlen ihre Voraussetzungen aber gegenüber dem Dritten, dem die Sache zur Zeit der Entscheidung gehört, so kann gegen den Täter . . . auf Einziehung des Wertes der Sache in Geld erkannt werden.“ Wie steht es aber, wenn der Dritte die Sache verbraucht hat, ihm die Sache „begrifflich“ also nicht mehr „gehört“? Nach Auffassung des BGH sprechen teleologische Gründe dagegen, § 414a „rein wörtlich“ zu nehmen (S. 294). Für das Erlöschen der Wertersatzstrafe bei Verbrauch der Sache sei kein Grund ersichtlich. Das sei indessen auch „nicht der wirkliche Inhalt der Vorschrift“ (S. 293). „Augenscheinlich gibt der Wortlaut des Gesetzes seinen Sinn nicht ganz zutreffend wieder“ (S. 294).510 Die Wertersatzstrafe solle Lücken im Einziehungsrecht schließen (S. 295) – eine Aufgabe, der die Ansicht des Senats besser gerecht werde als eine „buchstäbliche Auslegung“ der Vorschrift (S. 296). – Die Auffassung des Senats ist vernünftig und gerecht, aber ebenso sicher eine Korrektur des fehlerhaften oder unvollständigen Gesetzeswortlauts.511 Wenn der Senat demgegenüber suggeriert, daß seine Auffassung mit dem Gesetzestext zumindest noch entfernt in Einklang stehe („rein wörtlich“, „buchstäblich“), übergeht er kaum überzeugend die Frage nach der Legitimation seiner „Auslegung“. Eine ähnliche Argumentation bietet BGHSt 6, 213 (oben Fall 39) anläßlich der Frage, ob einen Diebstahl „begangen hat“ (§ 244 StGB a. F. – Rückfalldiebstahl), wer einen solchen lediglich verabredete (§ 49a StGB a. F.). Der BGH löst die mangelnde sprachliche Abstimmung der beiden Normen auf, indem er apodiktisch den Wortlaut der einen beiseite schiebt: „Daß § 244 StGB [a. F.] seinem Wortlaut nach die Begehung des Rückfalldiebstahls voraussetzt, ist ohne Belang; denn es ist in der Rechtsprechung seit jeher anerkannt, daß der erhöhte Strafrahmen auch gegen den anzuwenden ist, der . . . einen Diebstahl nur versucht, dazu angestiftet oder ihn gefördert hat . . . Nach seinem inneren Zusammenhang versteht § 244 StGB [a. F.] unter der Begehung eines Diebstahls allenthalben dasselbe, nämlich die Strafbarkeit als Dieb, d. h. nach den Diebstahlsvorschriften“ (S. 214).512 – Die Entscheidung ist im Ergebnis richtig, aber „ohne Belang“ ist der Wortlaut des strafschärfenden § 244 StGB (a. F.) sicher nicht. Daß die Rechtsprechung „seit jeher“ dieser Auffassung ist, ersetzt keine Begründung, wenn diese schon früher nicht erbracht wurde. Und der „innere Zusammenhang“ besagt ebenfalls nichts. Der BGH hätte ohne weiteres eine inhaltliche Analyse des fachsprachlichen (!) Begriffs der „Begehung“ leisten können, die seine Auffassung rechtfertigen würde.

Recht häufig zu beobachten ist die Tendenz, die auf den Wortlaut gestützte Gegenauffassung zu diskreditieren, indem der Gesetzestext als Argument ver510 Die Formulierung taucht außerdem auf in BGHSt 27, 276 (278): „Der Senat ist indes der Meinung, daß der Wortlaut den erkennbaren [!] Sinn des Gesetzes nicht richtig wiedergibt.“ Die Entscheidung berührt allerdings nicht den Bereich von Art. 103 II GG, da der BGH eine verfahrensrechtliche Norm zugunsten des Betroffenen einschränkt. 511 Sehr großzügig Kohlhaas, LM 1962, Nr. 1 zu § 414a AbgO (Blatt 3): Nicht einfach zu begründende, aber überzeugende Auslegung bei lückenhaftem Gesetzeswortlaut! 512 Ebenso – auch in der Begründung – bereits BGHSt 2, 360 für eine ähnliche Konstellation; laut Savigny (in: Juristische Dogmatik, S. 71) ein Grenzfall in Sachen Wortlautgrenze.

7. An der Wortlautgrenze

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harmlost oder diffamiert wird. Dann „haftet“513 die gegenteilige Auslegung am „bloßen“ Wortlaut514 oder beschränkt sich auf „formale Erwägungen“515; bei „Eigenheiten des Wortlauts“ dürfe eine sinnvolle Auslegung nicht stehenbleiben516. In solchen Formulierungen tritt nicht allein ein spezifisches Problem der Wortlautgrenze zutage, sondern auch die allgemeinere Frage nach dem Verhältnis zwischen formeller und materieller Betrachtungsweise im Rechtsanwendungsprozeß517 oder die Frage nach einer Rangfolge der Auslegungselemente überhaupt. Auch im Strafrecht ist eine „formalistische“ Vorgehensweise unangebracht,518 aber Art. 103 II GG zwingt – in herrschender Lesart – doch immerhin dazu, als „formale“ Grenze den möglichen Wortsinn nicht zu überschreiten. Eine weitere Möglichkeit, den Wortlaut der fallentscheidenden Norm in seiner Bedeutung zu relativieren, besteht darin, sie durch eine höherrangige oder speziellere Norm auszuspielen, oder darin, sie in den weiteren Zusammenhang eines Normgefüges zu stellen und darin elegant aufgehen zu lassen. Im letzteren Fall ist dann typischerweise davon die Rede, daß die Norm nicht „isoliert betrachtet werden“ dürfe.519 Welche Schwierigkeiten es bereitet, wenn verschiedene Gesetze begrifflich nicht aufeinander abgestimmt sind oder wenn Vorschriften innerhalb eines Gesetzes (StGB-AT/BT!) nicht kompatibel zueinander sind, wurde in vorliegender Arbeit bereits mehrfach aufgezeigt.520 Die Strafsenate haben die ihnen aufgebürdeten Aufgaben nicht immer überzeugend gelöst, bei zu großer Differenz im Einzelfall vielleicht auch gar nicht lösen können. Allzu oft lassen sie sich, provoziert von gesetzgeberischer Ungenauigkeit und Untätigkeit, dazu verleiten, fragwürdige Argumente vorzubringen oder das Grenzkriterium des Gesetzeswortlauts ganz aufzugeben. Wie der BGH bei unabgestimmten Normen argumentiert, um das gewünschte (vernünftige) Ergebnis zu erreichen und wie angreifbar solche Begründungen sein können, soll mit folgenden Lehrstücken zur Auslegungsmethodik belegt werden: Fall 98 (BGHSt 31, 226): § 76a I StGB i. d. F. des 2. StrRG ließ die Einziehung von Gegenständen auch dann zu, wenn aus tatsächlichen Gründen keine bestimmte Person verfolgt oder verurteilt werden kann, aber die übrigen Voraussetzungen der Einziehung vorliegen (selbständiges Einziehungsverfahren). Für gefährliche Gegen513

RGSt 58, 312 (314); 74, 47 (49) = unten Fall 353; BGHSt 11, 171 (173). Vgl. BGHSt 10, 333 (335) = oben Fall 77 und BGHSt GS 10, 94 (97) = oben Fall 83. Freilich kann auch einmal eine Auslegung, welche die Strafbarkeit erst ermöglicht, am bloßen Wortlaut kleben und damit abzulehnen sein – so BGHSt 17, 101 (106) gegen eine weitergehende Auffassung des GBA. 515 BGHSt 6, 398 (399) = oben Fall 83. 516 BGHSt 8, 8 (11) – allerdings außerhalb des Bereichs von Art. 103 II GG. 517 Näher dazu unten Fall 350 ff. und Fall 356. 518 Allg. zum (entweder schwachen oder überflüssigen) Formalismusargument Scheuerle, AcP 1972, 396. 519 Vgl. BGHSt 43, 285 (289) = oben Fall 96. 520 Siehe oben III 7 f und dort insbesondere BGHSt 33, 370 = Fall 68. 514

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III. Wortlaut und Wortsinn

stände eröffnete § 76a II 1 diese Möglichkeit darüber hinaus, „wenn aus rechtlichen Gründen keine bestimmte Person verfolgt werden kann und das Gesetz nichts anderes bestimmt“. Etwas „anderes bestimmt“ hat z. B. der unmittelbar folgende § 76a II 2 u. a. für den Fall des fehlenden Strafantrags. Als weitere gesetzliche Ausnahme kam § 78 I StGB (ebenfalls i. d. F. des 2. StrRG) in Betracht, wonach die Verjährung „die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen“ ausschloß. Zu den Maßnahmen i. S. dieser Bestimmung zählte unbestritten auch die Einziehung. Unbefriedigend war eine solche Annahme vor allem für den Bereich der sog. Presseinhaltsdelikte, da dort in aller Regel eine extrem kurze Verjährungsfrist von sechs Monaten vorgesehen war (und ist), gefährliche Schriften demnach kaum je im selbständigen Verfahren hätten eingezogen werden können. Die frühere Rechtslage hätte die Einziehung hingegen zugelassen.521 Aber nach Auffassung des BGH sprechen Sinn und Zweck (S. 229 f.) sowie der Wille des Gesetzgebers, dem offensichtlich ein Versehen unterlaufen sei (S. 228), dafür, daß sich an der bisherigen Rechtslage nichts geändert hat. Aber wie kommt der BGH über den Wortlaut hinweg? Er erreicht das durch einen Rückgriff auf das normtheoretische Verhältnis zwischen § 76a II 1 und § 78 I: Dem Sicherungszweck der Einziehung werde es besser gerecht, § 76a II 1 als Ausnahmevorschrift zu § 78 I anzusehen (S. 227). Und da das Verhältnis beider Vorschriften zueinander nicht eindeutig i. S. eines Vorrangs des § 78 I gedeutet werden könne, dürfe das Versehen des Gesetzgebers berücksichtigt werden (S. 228). – Die Schwäche dieser Argumentation liegt in der fehlenden Analyse des Gesetzeswortlauts, denn daraus hätte einiges zur Bestimmung des Verhältnisses beider Normen zueinander gefolgert werden können.522 Nach Auffassung Lackners stellt der BGH das Verhältnis sogar gegen den völlig eindeutigen Wortlaut auf den Kopf.523 Zu weit geht allerdings Lackners Annahme, der Senat sehe § 76a II 1 als lex specialis gegenüber § 78 I StGB (a. F.), denn der Senat sagt nur, das Verhältnis beider Normen zueinander sei nicht eindeutig i. S. eines Vorrangs des § 78 I zu verstehen.524 Das genügt ihm, um sich den notwendigen Auslegungsspielraum zu schaffen und das Gesetz im Einklang mit einem bereits vorliegenden Änderungsentwurf525 vorzeitig zu korrigieren. 521

Näher Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 44 ff. Nicht wesentlich besser ist die von Lackner (Heidelberg-FS, S. 62) mitgeteilte Begründung eines anderen Strafsenats: Die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis beider Vorschriften ergebe sich nicht ohne weiteres aus deren Wortlaut, wie bereits der Meinungsstreit in Rechtsprechung und Schrifttum zeige (zu diesem Argumentationsmuster vgl. oben III 7 c am Ende); vielmehr müsse die Antwort in einer „Zusammenschau beider Bestimmungen durch Auslegung gefunden werden“. Ähnlich OLG Hamm NStZ 1982, 422 f. mit abl. Anm. Horn: Was mit den anderen Vorschriften gemeint ist, sei bei Berücksichtigung des Zusammenhangs jedenfalls nicht so eindeutig zu beantworten, daß sie keiner Auslegung mehr zugänglich wäre. 523 Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 62 f. und 46. Auch nach Lenzen (JR 1983, 292) spricht der eindeutige Wortlaut hier gegen die Auffassung des BGH, der dem übermächtigen Wunsch nach einer praktikablen Lösung erlegen sei. 524 Siehe Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 63. Die Entscheidung führt nur im Ergebnis zur Annahme eines Vorrangs des § 76a II 1, nicht aber aufgrund von Erwägungen zum normtheoretischen Verhältnis. 525 Das 21. StÄG vom 13.6.1985 (BGBl. I, S. 965) hat die Auslegung des BGH durch Änderung des § 78 I schließlich legitimiert bzw. – nach Ansicht des BGH – die Norm in diesem Sinn klargestellt, vgl. BGHSt 31, 226 (230 f.). 522

7. An der Wortlautgrenze

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Fall 99 (BGHSt 32, 95 – „Gesetzesinterferenz“): Ein rechtstheoretisch interessantes Problem hatte der BGH im Bereich des Steuerstrafrechts zu bewältigen: Die Steuerhinterziehung gemäß § 370 I AO sieht als Strafrahmen „Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe“ vor, bei Vorliegen eines benannten Strafzumessungsgrundes (z. B. Mißbrauch einer Amtsträgerstellung, § 370 III Nr. 2 AO) Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 10 Jahren. Als Spezialvorschrift zur Steuerhinterziehung wird der gewerbsmäßige, gewaltsame oder bandenmäßige Schmuggel (Hinterziehung von „Eingangsabgaben“) gemäß § 373 mit Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 5 Jahren belegt, jedoch fehlt eine dem § 370 III entsprechende Strafzumessungsnorm mit strafschärfenden Regelbeispielen. Das führt zu dem mißlichen Ergebnis, daß etwa der Bandenschmuggel, der außerdem ein strafschärfendes Regelbeispiel des § 370 III erfüllt, aufgrund der Verdrängungswirkung des § 373 gegenüber § 370 nicht aus dem erhöhtem Strafrahmen des § 370 III bestraft werden kann. Denn § 373 verdrängt als lex specialis anerkanntermaßen die allgemeinere Norm des § 370 mitsamt ihren Strafzumessungsregeln.526 Damit würde im Extremfall das Hinzutreten eines strafschärfenden Umstandes (§ 373) zu einer Strafmilderung führen! – eine „sinnwidrige“ Konsequenz, die der Gesetzgeber nach Ansicht des BGH „nicht gewollt haben kann“ (S. 96).527 Deshalb müsse trotz grundsätzlicher Verdrängung des Grundtatbestandes (§ 370 I) die Strafe hier dem § 370 III entnommen werden. Denn der gewerbsmäßige Schmuggel (§ 373 I) bilde „nur einen – wenn formal auch tatbestandsmäßig ausgestalteten – gesetzlichen Strafschärfungsgrund, der nach seinem Gewicht“ zwischen § 370 I und § 370 III anzusiedeln sei (S. 97 f.). – Daß die letztgenannte Erwägung des Senats ergebnisorientiert und dogmatisch „schief“ ist, unterliegt keinem Zweifel. Schwierig ist es allerdings, dem BGH einen Verstoß gegen den Gesetzeswortlaut nachzuweisen, denn der Täter hatte die Voraussetzungen der schärferen Strafnorm (§ 370 I, III) ja unzweifelhaft erfüllt. Welche Norm soll also zu seinen Lasten mißachtet worden sein? In Betracht kommt hierfür allein die ungeschriebene (!) Konkurrenzregel „lex specialis derogat legi generali“, deren hier ausnahmsweise günstige Wirkung dem Täter vorenthalten wird.528 Genau diesem Vorwurf versucht der BGH zu entgehen, indem er die Konstellation der Spezialität im vorliegenden Fall bestreitet („nach seinem Gewicht zwischen“).529 Ob das gelungen ist, kann bezweifelt werden, bedürfte aber näherer rechtstheoretischer Untersuchung.

hh) Verbleibende, im Schrifttum genannte Fälle Die in diesem Kapitel bislang vorgestellten Beispiele decken die „Problemfälle“ der amtlichen Sammlung weitgehend ab. In der Literatur werden weitere 526 Anders läge es beim Verhältnis der Tateinheit, vgl. § 52 II StGB. Montenbruck (wistra 1987, 7 [12]) bezeichnet den vorliegenden Fall als einen der „Gesetzesinterferenz“, die zwischen Tateinheit und Gesetzeseinheit einzuordnen sei. Die Lösung des BGH lasse besorgen, daß dieser eine „neue Strafbestimmung“ geschaffen habe, und bewege sich damit am „Abgrund der Verfassungswidrigkeit“ (S. 7 und 9). 527 Ein Musterbeispiel für ein argumentum ad absurdum, näher unten VI 4. 528 Näher zur Wortlautunterschreitung bei geschriebenen und ungeschriebenen Konkurrenzregeln unten Fall 105 und Fall 106. 529 Weitere – nicht minder problematische – Auswege stellt Montenbruck vor, vgl. wistra 1987, 7 (8 ff.).

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III. Wortlaut und Wortsinn

Entscheidungen des BGH beanstandet oder zur Diskussion gestellt, von denen noch folgende erwähnenswert sind: Fall 100 (BGHSt 6, 131; 11, 228): Vor Einführung des heutigen § 15 enthielt das StGB keine generelle Aussage zur Frage, wann ein Delikt auch in Form der Fahrlässigkeit verwirklicht werden kann. Die Rechtsprechung ging zwar grundsätzlich von der Notwendigkeit einer ausdrücklichen Anordnung der Schuldform aus, ließ es im Einzelfall jedoch auch genügen, daß die Strafbarkeit der fahrlässigen Verwirklichung aus dem Zusammenhang oder aus dem Zweck der Norm „mit Sicherheit erkennbar“ sei (S. 132). Der BGH bejaht das in BGHSt 6, 131 für § 330 StGB a. F. (Verstoß gegen die Regeln der Baukunst). Einen Konflikt mit dem Analogieverbot (Verbot der „rechtsähnlichen Anwendung“) sieht der Senat darin nicht: § 2 StGB (= § 1 StGB g. F.) verbiete nicht die Auslegung eines Strafgesetzes nach den anerkannten Auslegungsregeln, auch wenn das zum Nachteil des Täters wirkt (S. 133). Zur „Ausfüllung von Lücken eines Gesetzes“530 seien neben dem Wortlaut auch die übrigen Auslegungskriterien zu berücksichtigen. Die Teilung der Schuld in die verschiedenen Schuldarten sei erst Ergebnis längerer Rechtsentwicklung und vom Gesetzgeber in früherer Zeit nicht immer beachtet worden. Die Entstehungsgeschichte des § 330 (a. F.) spreche für die Strafbarkeit des fahrlässigen Handelns. Im übrigen seien vorsätzliche Verstöße gegen die Regeln der Baukunst nicht allzu häufig, fahrlässige Zuwiderhandlungen demnach Hauptanwendungsbereich der Vorschrift.531 – Die Behandlung der Thematik unter dem Aspekt des Analogieverbots ist nicht gerechtfertigt; vielmehr stellt sich die Frage, ob die Strafbarkeit wegen fahrlässigen Handelns überhaupt in ausreichender Form „gesetzlich bestimmt“ war532, denn die Delikte des StGB-BT schließen von ihrem Wortlaut her die Erfassung auch fahrlässiger Verwirklichung in der Regel nicht aus. Beachtlich ist allerdings das vom BGH gezeigte Problembewußtsein533, das in BGHSt 23, 167 in Anbetracht der allgemeinen Rechtsentwicklung weitere Verstärkung findet und zu größerer Zurückhaltung führt534.

530 Ein solcher Begriff der Gesetzeslücke weckt aus heutiger Sicht Bedenken. Gemeint ist damit jedoch nur, daß die Frage im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt ist; die Auffassung des BGH kann dennoch mit dem Wortlaut vereinbar sein (vgl. oben BGHSt 8, 66 = Fall 56). 531 Diese Argumentation erscheint – zumindest wenn vorsätzliche Verstöße denkbar sind – zirkulär, denn was Anwendungsbereich der Norm ist, soll gerade ermittelt werden. 532 So zutreffend BGHSt 23, 167 (171) für eine entsprechende Konstellation. Wie BGHSt 6, 131 behandelt wohl auch Tröndle (in: LK-StGB10, § 1, Rn. 50) die Frage zu Unrecht unter dem Gesichtspunkt einer Wortlautüberschreitung. Im Ergebnis mag das keinen Unterschied machen. Zu den Problemen der Abgrenzung zwischen Analogieverbot und Bestimmtheitsgebot siehe unten V 7 e. 533 Anders die überwiegende Kommentarliteratur zu § 330 StGB a. F., vgl. z. B. Werner, in: LK-StGB8, § 330, Anm. X, Mösl, in: LK-StGB9, § 330, Rn. 13 und Schönke/Schröder, StGB8, § 330, Anm. 4; Bedenken aber bei Kohlrausch/Lange, StGB41, S. 598. 534 Vgl. vor allem BGHSt 23, 167 (171 f.). Der Ansatzpunkt von BGHSt 6, 131 (Ermittlung der möglichen Schuldform durch Auslegung) wird allerdings aufrechterhalten (S. 169).

7. An der Wortlautgrenze

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Merkwürdig schwer tut sich der BGH in BGHSt 11, 228 mit dem Verständnis von § 11 OWiG (i. d. F. von 1952). Diese Vorschrift sollte die oben dargestellten Ungewißheiten für den Bereich der Ordnungswidrigkeiten gerade vermeiden, denn danach konnte eine Ordnungswidrigkeit nur bei vorsätzlichem Handeln geahndet werden, „sofern nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist“. Zur völligen Klarheit fehlt dem BGH jedoch der Zusatz „ausdrücklich“ (bestimmt), der bei der Regelung zum Versuch (§ 9 OWiG a. F.) bereits enthalten war.535 Diese feinsinnige Argumentation, die trotz § 11 OWiG die Entscheidung wieder von der Auslegung der jeweiligen Norm abhängig machen würde, verwirft der BGH dann letztlich doch, u. a. mit dem Hinweis auf die Absichten des Gesetzgebers und darauf, daß § 11 OWiG sonst überflüssig wäre (S. 231 f.). Fall 101 (BGHSt 14, 198; vgl. auch BGH MDR/D 1954, 16; RGSt 13, 257; RG JW 1924, 1736 – „Einsteigen“ durch „Einkriechen“?): Wird mittels „Einsteigens“ in ein Gebäude gestohlen (§ 243 I Nr. 2 StGB a. F.), wenn der Täter durch ein Oberlichtfenster ins Haus „kriecht“? Nach Ansicht des BGH ist es allein entscheidend, ob der Täter auf eine dafür nicht vorgesehenen Weise und nach Überwindung eines Hindernisses in den Raum gelangt, nicht aber, ob er dabei kriecht oder aufrecht geht (S. 200). Das Hineinkriechen stehe dem Einsteigen gleich (BGH MDR/D 1954, 16). Das RG, auf das der BGH verweist, führt zu Recht aus, daß es auf die Bewegung des „Steigens“ nicht ankommt (RGSt 13, 257 [258]). Mißverständlich ist allerdings die in RG JW 1924, 1736 enthaltene Äußerung, es komme nicht auf die „wörtliche Bedeutung“ des Begriffs „Einsteigen“ an (statt dessen besser: „engste“ oder „im Begriffskern angesiedelte“). – Mit dieser Auslegung ist der sprachliche Rahmen nicht verlassen.536 Mit „Einkriechen“ ist die Vorgehensweise des Täters zwar phänomenologisch besser umschrieben, aber die Subsumtion dieses Verhaltens unter den umfassenderen Gesetzesbegriff des „Einsteigens“ ist dadurch nicht ausgeschlossen.537 Der Gesetzgeber kann die Wirklichkeit nicht immer mit der höchst möglichen SprachPräzision erfassen. Fall 102 (BGHSt 24, 48; abl. Anm. Dreher, NJW 1971, 1046): Nach früherer Rechtslage kam ein strafbefreiender Rücktritt vom Versuch nur in Betracht, wenn die Tathandlung noch nicht „entdeckt war“ (§ 46 Nr. 2 StGB a. F.). Nach Auffassung des BGH kann „Entdecker“ der Tat auch der Verletzte selbst sein. Für eine Einschränkung der Norm sprächen weder Wortlaut noch Sinn der Norm. Dreher (a. a. O.) rügt die apodiktische Kürze der Entscheidungsgründe und hält dem BGH vor, den Wortlaut beiseite geschoben zu haben. Der deutschen Sprache werde „Gewalt angetan“, wenn man annähme, das mit einem Messer oder einer Waffe angegriffene Opfer „entdecke“, daß man es verletzen oder töten will. Entdeckt werden 535 Seit 1968 auch bei der Vorschrift zum Vorsatz (§ 5 OWiG i. d. F. von 1968; heute: § 10 OWiG). 536 A.A. wohl Schmidhäuser, Strafrecht AT, 5/42 f., der BGHSt 14, 198 als Beleg für seine These aufführt, daß die Rechtsprechung das Unmögliche möglich macht. Der Duden (Großes Wörterbuch, Bd. 2, S. 983) erwähnt als Beispiel für das „Einsteigen“ u. a. das Hineinklettern durch ein Kellerfenster! Auf die Körperhaltung dürfte es dabei wohl nicht ankommen. 537 Fuchs (JW 1924, 1736) meint, „wie bei den meisten Komposita ist auch bei dem Begriff ,Einsteigen‘ die ursprüngliche Bedeutung des Tätigkeitswortes ,steigen‘ verblaßt und umfaßt auch die Tätigkeiten des . . .“.

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III. Wortlaut und Wortsinn

könne nur etwas, was bereits existiert (S. 1047, unter Berufung auf Grimms Wörterbuch). Der Entdecker stehe zur Sache im Verhältnis des Subjekts zum Objekt, könne folglich nicht Objekt der Tat selbst sein; die Entdeckung durch ihn sei begrifflich ausgeschlossen, was bereits das Reichsmilitärgericht (Nachweis a. a. O.) so gesehen habe. Im Ergebnis könne nur ein Dritter die Tathandlung entdecken. Die Ausdehnung auf den Verletzten stelle „im Grunde eine Analogie zuungunsten des Täters dar.538 Eine solche Analogie wäre, wenn nicht verboten, so doch zumindest fragwürdig und könnte nur durch starke“ teleologische Argumente gerechtfertigt werden.539 – Die Erwägungen Drehers zur Wortlautauslegung sind kaum zwingend. Sprachlogisch kann eine Person sehr wohl etwas entdecken, was mit ihr selbst geschieht, z. B. daß eine Warze am Körper wächst, die Haare ausfallen oder daß eine Zecke sich festgebissen hat und Blut saugt. Zudem spricht das Gesetz von der „Handlung“, die noch nicht entdeckt sein darf, womit das Verhalten gemeint ist, mit dem der Täter zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt. Warum soll das Opfer nicht entdecken (erkennen) können, daß es sogleich durch eine solche Angriffshandlung betroffen sein wird oder verletzt werden kann? Richtig ist, daß der Anwendungsbereich des § 46 Nr. 2 StGB a. F. durch eine solche Interpretation unzweckmäßig verengt wird, aber der Begriffshof ist dadurch nicht überschritten. Eine nähere Darlegung dieses Aspekts durch den BGH wäre wünschenswert, in Anbetracht entsprechender Vorentscheidungen des RG aber nicht nötig gewesen.540

ii) Fazit, Empfehlungen Nach diesen umfangreichen Analysen gilt es, auf den Ausgangspunkt der Überlegungen zur Wortlautgrenze zurückzukommen und zu beantworten, ob das durch die Rechtsprechung vermittelte Bild tatsächlich so düster ist wie zuweilen behauptet, ob wirklich Beliebigkeit herrscht und sprachlich Unmögliches möglich gemacht wird. Ist dem BGH (BGHSt 40, 272 [279]) recht zu geben, wenn er die Wortlautschranke aufgrund der „Manipulierbarkeit des Sprachgebrauchs“ nur für begrenzt leistungsfähig hält? In Anbetracht der im Einzelfall auftretenden Schwierigkeiten kann letztgenannte Aussage des BGH vielleicht als Versuch der Entlastung gesehen werden, um die hohen Erwartungshaltungen auf 538 Die genaue Konstruktion ist interessant: Bei § 46 StGB a. F. (und § 24 g. F.) handelt es sich um eine strafbefreiende Norm, so daß eigentlich nur die sprachwidrige Reduktion (Wortlautunterschreitung) verboten wäre. Andererseits handelt es sich bei der „noch nicht entdeckten Handlung“ um ein Merkmal, das beim Vorliegen seiner Voraussetzungen der Anwendung der Norm entgegensteht. Stellt man nur auf dieses Merkmal ab, liegt mithin eine sprachwidrige Wortlautüberschreitung zulasten des Täters vor. Im Hinblick auf die Gesamtwirkung der (günstigen) Norm bleibt es hingegen dabei, daß diese reduziert wird (näher unten III 7 h). – Einen Fall der Reduktion des § 46 Nr. 2 StGB a. F. durch das RG (RGSt 38, 402; 63, 158) behandelt Krey, Studien, S. 167 f. 539 Diese Meinung Drehers zum Analogieverbot (S. 1047, r. Sp.) ist abzulehnen und wird von der (heutigen) Rechtsprechung nicht geteilt. 540 Die Auswertung der reichsgerichtlichen Rechtsprechung durch Dreher (S. 1046 f.) ergibt allerdings ein weniger homogenes Bild als der BGH glauben macht.

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ein realistisches Maß zurückzuführen.541 Aber abgesehen von der Grundsatzfrage nach der Leistungsfähigkeit des Wortlautgrenze sollten zunächst Optimierungen im Detail erwogen werden. Die Rechtsprechung bietet hierfür eine Reihe von Ansatzpunkten und zwar sowohl in Fällen, in denen der BGH – rechtsstaatlich auf den ersten Blick vielleicht begrüßenswert – unter Berufung auf Art. 103 II GG die Subsumtion ablehnt, als auch in den Grenzfällen, in denen eine Gesetzesanwendung zulasten des Täters vorgenommen wird. In der erstgenannten Konstellation muß einer „Bagatellisierung“542 des verfassungsrechtlichen Analogieverbots entgegengetreten werden. Mehrere Entscheidungen, die oben in Fallgruppe 2 erörtert wurden, zeigen eine voreilige Rechtfertigung des Ergebnisses mit dem unüberwindlichen Argument der Wortlautüberschreitung. Mehrfach wurde dabei der semantische Rahmen der Normen vom BGH nicht ausreichend beleuchtet (z. B. Fall 70 – „Niere“, Fall 72 – „Glücksspiel“) und teilweise nicht klargemacht, auf welchen Prämissen (Fachsprache/Alltagssprache/Sprachgebrauch des Gesetzgebers usf.) die Annahme der Sprachwidrigkeit beruht. Einige Anmerkungen zeigen, daß im Bereich der grammatikalischen Auslegung wesentlich mehr geleistet werden kann. So erwecken manche Entscheidungen den Anschein, daß eine insgesamt auf schwachen Füßen stehende Argumentation durch die Behauptung eines Verfassungsverstoßes gegen denkbare Einwände, insbesondere teleologische, resistent gemacht wird.543 Damit soll nicht gesagt werden, daß es in recht klaren Fällen (Fallgruppe 1) nicht doch möglich ist, eine Auslegungshypothese als evidenten Verstoß gegen die Wortlautgrenze zu verwerfen. Aber der Rechtsanwender sollte sich seines Urteils dann in der Tat sicher sein und wenn die Frage schon im Vorfeld strittig behandelt wurde, auch eine auf sprachlicher Ebene angesiedelte Begründung für seine These liefern können. Denn nicht jede Verwerfung einer Auslegungshypothese ist schon per se „erfreulich“, nur weil sie zu einer restriktiven Anwendung des Strafrechts führt.544 Für den Fall, daß der Interpret bzw. das Richterkollegium keine Gründe benennen kann, aber dennoch ernste Zweifel an der Vereinbarkeit einer Interpretation mit der Wortlautgrenze bleiben545, sollte von der Gesetzesanwendung abgesehen werden, und zwar mit der 541 Bezüglich BGHSt 40, 272 ist zudem auf die Besonderheit hinzuweisen, daß es um die Gesetzesauslegung durch Richter der DDR ging. Der Senat hat die Wortlautgrenze insoweit nur halbherzig berücksichtigt (vgl. oben Fn. 255); offenbar paßte dabei die generelle Herabwürdigung des Grenzkriteriums gut ins Konzept. 542 Siehe Küper, JZ 1997, 229 (231), Anm. zu BGHSt 42, 158 = unten Fall 104. 543 Vgl. z. B. den Vorwurf Rengiers gegenüber BGHSt 28, 100 (oben Fn. 425). 544 Deshalb ist es fragwürdig, wenn Roxin (Strafrecht AT I, § 5, Rn. 35) einige Entscheidungen, welche die Subsumtion unter Berufung auf die Wortlautgrenze ablehnen, als „erfreuliche Rückbesinnung auf das Gesetzlichkeitsprinzip“ lobt, ohne zu prüfen, ob der BGH (in sprachlicher Hinsicht!) zu Recht so entschieden hat. Das ist bei einigen der genannten Urteile sehr zweifelhaft (z. B. BGHSt 34, 171 = oben Fall 72 und BGHSt 37, 226 = oben Fall 73).

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(wahrheitsgemäßen!) Begründung, daß in dieser Situation angesichts der Zweifel von einer Bestrafung Abstand genommen wird. Eine solche, einer Beweislastregel nahekommende Argumentationsfigur546 bringt gewisse Entlastung im binären System des Analogieverbots, das nur die Entscheidung der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit mit dem Wortlaut zuläßt. Der BGH selbst hat einmal treffend dafür plädiert, daß eine „richterliche Überdehnung von Straftatbeständen vermieden werden“ muß (BGHSt 28, 147 [148]). Zudem läßt diese Vorgehensweise eher Raum für eine Neubewertung, falls doch noch Gründe auftauchen, wohingegen ein einmal vom BGH behaupteter Verstoß gegen das Analogieverbot nur schwer auszuräumen sein wird.547 Merkwürdigerweise zieht der BGH die Grenzlastigkeit einer Interpretation als Argument selbst dann nicht heran, wenn sie sein nach den übrigen Auslegungskriterien gewonnenes Ergebnis unterstützen würde (Fall 92 – „Zweierbande“). Vor allem muß ein Patt vermieden werden, in dem unbegründete Behauptungen der Vereinbarkeit und Unvereinbarkeit mit dem Wortlaut einander gegenüberstehen, die auf nichts anderem als einem konträren Sprachgefühl basieren.548 Daß in aller Regel und selbst in schwierigen Fällen inhaltlich mehr möglich ist als unreflektierte Äußerungen zur Wortbedeutung, sollte durch die dargestellten Beispiele hinreichend belegt sein.549 Schwerer als das voreilige Heranziehen des Art. 103 II GG zur Ablehnung der Subsumtion wiegen Begründungsschwächen natürlich dann, wenn die Senate sich letztlich doch zur Überwindung aller Zweifel entschließen und eine Gesetzesanwendung (zulasten des Täters) vornehmen. Entschieden zu bekämpfen sind in diesem Bereich Praktiken, die das Wortlautproblem ignorieren oder sich trotz vorgetragener Bedenken in Evidenzbehauptungen flüchten (BGHSt 27, 45 = Fall 19). Wo die Evidenz erschüttert ist, stört ihre (kontrafaktische) Behauptung erheblich! Unbehagen hinterlassen weiterhin Fälle, bei denen es der BGH trotz im Vorfeld erfolgter Kritik und Mahnungen überhaupt an Problembewußtsein vermissen läßt (Fallgruppe 5).550 In Fall 89 („Unfallflucht“) 545 Zur Selbstkontrolle kann es nützlich sein, die eigene Lösung gedanklich dem Fachpublikum vorzustellen, vgl. oben Kap. II, Fn. 59. Zumindest unbewußt wird das in der Regel ohnehin geschehen. 546 Damit soll nicht einer generellen Auslegungsregel „in dubio pro mitius“ das Wort geredet werden. 547 Vgl. einerseits Fall 76 – „Suizid als Unglücksfall“, andererseits aber Fall 19 – „Absatzerfolg“. 548 Insbesondere können solche (unbegründeten) Behauptungen der Vereinbarkeit mit dem Gesetzestext nicht ihrerseits Beleg für die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks und die Zulässigkeit jeder extensiven Auslegung sein, vgl. oben den Text zu Fn. 319. 549 Nicht zugestimmt werden kann deshalb der Annahme Küpers (JuS 1996, 783 [786, Fn. 21]), daß der wissenschaftliche Streit um den möglichen Wortsinn „meist unfruchtbar“ ist. Unfruchtbar ist der Streit nur, wenn er ohne Argumente betrieben wird. Von einem dezisionistischen Standpunkt aus ist allerdings die gesamte Auslegungsprozedur „unfruchtbar“ und auch nicht „wissenschaftlich“.

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hat der BGH letztlich sogar selbst eine Norm kreiert, die dann nachträglich vom Gesetzgeber in geschriebenes Recht umgesetzt wurde. Schon fast ignorant verschließt die Rechtsprechung sich in Fall 93 („Erfolg der Strafvereitelung“) gegenüber den vorgetragenen Argumenten; hier sollte der BGH sich zu einer Nachrationalisierung oder zur Aufgabe seiner Ansicht entschließen. Strafbarkeitslücken sind ebensowenig zu befürchten wie bei BGHSt 27, 45. Daß es sich – solange keine befriedigende Begründung erfolgt ist – lohnt, an Bedenken hartnäckig festzuhalten, zeigt Fall 92 („Zweierbande“), auch wenn der Große Senat sich letztlich bei dem von ihm vollzogenen Rechtsprechungswandel gerade nicht auf die sprachlichen Einwände berufen hat. Für sich steht Fallgruppe 6, denn Methodenehrlichkeit verlangt es, das selbst propagierte Grenzkriterium Gesetzeswortlaut ernst zu nehmen oder es konsequent aufzugeben. Vor allem die häufig zu beobachtende Diskreditierung der Wortlautauslegung als lediglich „förmliches“ Argument („haftet am Wortlaut“, „bloß formale Erwägungen“) ist nicht akzeptabel, besteht doch gerade darin die Stärke als einigermaßen handhabbares und einfaches Abgrenzungskriterium. Die Entscheidungsbegründungen in diesem Bereich machen es dem Kritiker oft leicht, indem sie die möglichen Einwände zumeist gleich mitliefern. Zuweilen scheint die Not der Senate auf dem Weg zum billigen Ergebnis doch so groß zu sein, daß sie von einer ausdrücklichen Preisgabe des Grenzkriteriums „Wortlaut“ nicht mehr weit entfernt sind (Fall 83 – „Entziehung einer nicht existierenden Fahrerlaubnis“). Der Schmerz der Grenze wird hier fühlbar – in gewisser Weise ein Erfolg der herkömmlichen Auslegungslehre, die Begründungsmängel und Verschleierungen zwar nicht ausschließen kann, aber immerhin erkenn- und damit angreifbar macht. Die Gefahr von „Scheinbegründungen“ ist demgemäß gering, denn entscheidend ist allein die methodologische Vertretbarkeit der dargelegten Gründe. Zweifelhafte Lösungen gehen regelmäßig mit fragwürdigen Begründungen einher, während die Einfachheit551 der Lösung oft Indiz für ihre Richtigkeit ist (vgl. z. B. Fall 79 und Fall 83). Noch ein Wort zu den Motiven, die den BGH dazu veranlassen, sich im Grenzbereich weit hervorzuwagen oder die Grenze sogar zu überschreiten. Man darf den Senaten unterstellen, daß sie um gerechte und dogmatisch sinnvolle Lösungen bemüht sind. Nur selten ist es hingegen die Angst um „Strafbarkeitslücken“, die den BGH treibt, denn kaum jemals geht es um die Situation Strafbarkeit oder Freispruch, und sollte es doch einmal so sein (vgl. z. B. Fall 76 und Fall 79), wiegen die Lücken in der Regel nicht schwer. Des öfteren verhelfen die Strafsenate dem gesetzgeberischen Willen bei verunglückter Gesetzesfassung doch zum Durchbruch (Fall 54 – „Absatzerfolg“, Fall 34 –

550

Aus dem Problembereich Wortlautunterschreitung siehe unten Fall 107. Nicht gemeint sind apodiktische Behauptungen („ohne weiteres“ etc.), sondern knappe inhaltliche Begründungen. 551

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III. Wortlaut und Wortsinn

„Geldfälschung“, Fall 93 – „Erfolg der Strafvereitelung“), was vielleicht vom Standpunkt der „subjektiven Theorie“ (je nach Spielart) zu begrüßen ist, aber die Schutzfunktion des Art. 103 II GG unterläuft. Auch die Durchsetzung des gesetzgeberischen Willens findet hier ihre (objektive) Grenze: Der Gesetzgeber muß sich – jedenfalls bei einer Rechtsanwendung in malam partem – beim Wort nehmen lassen!552 Deshalb kann es hier auf sich beruhen, welche Gesichtspunkte den BGH im Einzelfall zu einer zweifelhaften Argumentation im Bereich der Wortlautgrenze verleitet haben553, denn daß es sich dabei (je nach Standpunkt) meistens um starke materielle Gründe handelt, steht außer Frage. Ob wortlautferne Interpretationen daneben auch auf psychologisch-mentalen Faktoren der Richterpersönlichkeit554 beruhen oder vom „Zeitgeist“ beeinflußt sind, mag sein, kann in einer Analyse von Entscheidungsgründen aber nicht untersucht werden. Wenig schlüssig erscheint die in diesem Zusammenhang geäußerte Vermutung von Noll, die ausdehnende Tendenz der Rechtsprechung sei u. a. auf die juristische Ausbildung zurückzuführen, die von den Studenten die Prüfung aller, auch noch so nebensächlicher Tatbestände verlange.555 Aber Prüfung heißt noch nicht Bejahung, und in der Praxis besteht sicher kein Drang zu einer ausufernden, den Wortlaut der Tatbestände mißachtenden Strafverfolgung (man denke auch an §§ 153 ff. StPO und andere Hürden auf dem Weg zur Verurteilung). Interessanter ist die Frage danach, ob rückblickend auf 50 Jahre BGH-Rechtsprechung eine Gesamttendenz in der Frage der Wortlautauslegung festgestellt werden kann, insbesondere ob die Sensibilität in dieser Hinsicht gewachsen ist oder im Gegenteil eine grundsätzlich ausweitende Linie zu erkennen ist. Dabei kann im Anschluß an bereits Gesagtes (Kapitel III 7 a) unterstellt werden, daß der BGH sich selbst (nach anfänglichen Abirrungen) an die Wortlautgrenze gebunden fühlt und dieser theoretische Standpunkt der Strafsenate auch vom ganz überwiegenden Schrifttum so zur Kenntnis genommen worden ist. Schwieriger fällt ein Urteil in der Frage der praktischen Handhabung dieses theoretischen Postulats. Hier gehen die Meinungen sehr auseinander. Schwerlich widersprochen werden kann zunächst einer im Schrifttum geäußerten Ansicht, wonach „gelegentliche Ausrutscher“ die grundsätzliche Bereitschaft der Rechtsprechung zur Respektierung der Wortlautgrenze nicht in Frage stellen.556 Freilich ist damit nicht viel gewonnen, denn der Maßstab, was als Ausrutscher betrachtet wer552

BVerfGE 71, 108 (116). Z. B. prüft Savigny (in: Juristische Dogmatik, S. 60 ff.) die BGH-Rechtsprechung auf Konflikte zwischen Wortlaut und „Billigkeit“ im allgemeinen (allerdings seltsamerweise, ohne zwischen Rechtsanwendung zugunsten oder zuungunsten des Täters zu differenzieren). 554 Vgl. Bruns (oben Fn. 454). 555 Noll, ZStW 1964, 707 (709). Wollte man den Gedanken Nolls konsequent fortsetzen, könnte mit den Eigenheiten der Ausbildung womöglich auch die (theoretische) Geringschätzung der Entstehungsgeschichte als Auslegungshilfe erklärt werden. 553

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den muß, dürfte ein sehr unterschiedlicher sein und von Empfindlichkeiten des jeweiligen Interpreten abhängen. Wem es selbst eher auf materielle Kriterien ankommt, wird die Rechtsprechung als „engherzig“ betrachten, wer das formale Abgrenzungskriterium „Wortlaut“ aus rechtsstaatlichen Erwägungen schätzt und darüber hinaus noch sprachsensibel ist, wird ihr einen zu großzügigen Umgang damit vorwerfen; wem die Wortlautgrenze generell ein Dorn im Auge ist, wird die „gelegentlichen Ausrutscher“ sogar als Belege für eine beliebig verfahrende Rechtsprechung anführen, die das Unmögliche möglich macht. Im Schrifttum stehen deshalb sehr gegensätzliche Positionen nebeneinander: Auf der einen Seite wird eine spürbare Tendenz der Rechtsprechung zu erweiternder Auslegung diagnostiziert557, auf der anderen Seite eine zunehmend stärkere Respektierung der Wortsinnschranke beobachtet558. Das reichhaltige Rechtsprechungsmaterial sperrt sich jedoch gegen eine quantitativ-chronologische Auswertung, die zu viele Faktoren559 berücksichtigen müßte, und kann ohne weiteres in die eine oder andere Richtung aufbereitet werden. Obwohl in vorliegender Arbeit versucht wurde, die „Problemfälle“ der gesamten amtlichen Sammlung weitgehend zu erfassen und in Fallgruppen zu systematisieren, hat sich nur der unsichere Eindruck eingestellt, daß die Rechtsprechung eher zurückhaltender geworden ist. Wenn man eine Grenze oder einen Wendepunkt markieren will, könnte vielleicht auf die Entscheidungen BGHSt 25, 10 (Fall 86); 26, 95 (Fall 87) und 27, 45 (vgl. oben S. 166) verwiesen werden – ein letzter „Schub“ zweifelhafter und zumindest wortlautferner Interpretationen, die viel Widerspruch erfahren haben. Seitdem ist die rechtsstaatliche Funktion des Art. 103 II GG stärker in den Mittelpunkt getreten, auch wenn noch einige „alte Zöpfe“ abzuschneiden sind. Nicht auszuschließen ist, daß das zwischenzeitlich – aber nicht von Beginn an! – erfolgte und wiederholte Bekenntnis des BVerfG zur Wortlautgrenze560, die restriktivere Tendenz der Fachgerichte begünstigt hat. Freilich ist der unmittelbare Einfluß des BVerfG in dieser Frage schwer zu bestimmen. Ein Exempel, etwa durch Aufhebung einer BGH-Entscheidung wegen Über556 So das Urteil Roxins, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 35, das man übrigens auch ohne weiteres auf die Rechtsprechung des RG übertragen könnte! (Vgl. oben III 7 g aa.) Siehe bereits Jescheck (GA 1954, 322 [325]) bei seiner Rückschau auf die Bände BGHSt 1–5: Vereinzelte Wortlautüberschreitungen (z. B. BGHSt 1, 47 = unten Fall 163; 5, 124 = Fall 89) seien Ausnahmen von der Regel, daß rechtsstaatliche Erwägungen selbst dem besten kriminalpolitischen Bedürfnis vorgehen. 557 Eser, in: Schönke/Schröder, StGB26, § 1, Rn. 56 a. E.; zur frühen Rechtsprechung Grünwald, ZStW 1964, 1 (2) und Noll, ZStW 1964, 707 (709). 558 Krey, ZStW 1989, 838 (849 f.) mit Beispielen. 559 Z. B.: Standen vermehrt neue oder alte Gesetze zur Entscheidung? Welche Besonderheiten müssen anläßlich des Zusammenbruchs 1945 für die unmittelbare Nachkriegszeit berücksichtigt werden? Welchen Einfluß auf diese Thematik haben einschlägige Äußerungen des BVerfG? Waren frühere Entscheidungen der gleichen kritischen Prüfungen durch das Schrifttum ausgesetzt wie heute? 560 Siehe die Nachweise oben Fn. 221.

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III. Wortlaut und Wortsinn

schreitung der Wortlautgrenze, hat das BVerfG nicht gesetzt. Aber schon in der ersten Entscheidung zur Sitzblockade (BVerfGE 73, 206 zu § 240 StGB), in der die weite Interpretation des Gewaltbegriffs nur knapp verfassungsrechtlicher Prüfung (Art. 103 II GG) standhielt, kann eine eindringliche Mahnung zur Respektierung der Wortlautgrenze erkannt werden. Ein auf den Wortlaut der Norm gestützter verfassungsgerichtlicher Eingriff in einen dermaßen wichtigen Bereich hätte erhebliche Konsequenzen für das Selbstverständnis der Strafgerichtsbarkeit, so daß bereits die Drohung disziplinierend wirken dürfte.

Bei der Beurteilung des tatsächlichen Umgangs des BGH mit der Wortlautgrenze ist nochmals zu betonen, daß das Grenzkriterium selbst lange Zeit nicht gesichert war (siehe oben III 7 a), weder in Rechtsprechung noch im Schrifttum. Schon deshalb kann es nicht überraschen, daß die frühere Rechtsprechung des BGH im Ergebnis auch praktisch einen großzügigeren Umgang mit dem Gesetzestext an den Tag legte als die jüngeren Urteile und daß daran auch weniger Kritik geübt wurde561. Denn wenn bereits die theoretische Leitlinie unklar ist, kann an die praktische Umsetzung kein hoher Maßstab angelegt werden. Zu kritisieren sind insofern allerdings besonders Entscheidungen, die zu dieser Problematik keine Stellung beziehen, so daß der methodische Standpunkt offen bleibt. Schwer zu sagen ist, ob die Literatur ein besseres Bild abgibt als die Strafsenate des BGH. Im Ergebnis ist das wohl nicht der Fall. Hier wie dort sind die gleichen Schwächen zu finden: Evidenzbehauptungen nach Sprachgefühl562, Begründungsmängel und phantasiereiche Auslegungskunststücke563, die das vernünftige Ergebnis trotz begrifflicher Zweifel durchzusetzen vermögen. Tendenziell ist im Schrifttum allerdings festzustellen, daß in der Nachkriegszeit – gerade in der Kommentarliteratur – die Sensibilität dafür, was sprachlich noch möglich erscheint, spürbar gewachsen ist. Das ist wie bei der Rechtsprechung darauf zurückzuführen, daß sich auch in der Literatur das Grenzkriterium „Wortlaut“ erst im Lauf der Zeit mehr und mehr durchgesetzt hat. So nehmen frühere Auflagen des „Leipziger Kommentars“ und des „Schönke/Schröder“ wortlautferne Interpretationen aus der Rechtsprechung wesentlich großzügiger zur Kenntnis, als dies heute geschieht, jedoch von einem grundlegend anderen methodischen Standpunkt aus.564 Deshalb sind literarische Stellungnahmen aus 561 Zur heute so oft diskutierten Entscheidung „Forstdiebstahl“ (BGHSt 10, 375 = Fall 57) ist keine zeitnahe Anmerkung ersichtlich! 562 Recht auffällig ist z. B. die von Krey mehrfach verwendete Formulierung, eine solche Auffassung sei sprachlich „beim besten Willen“ nicht mehr möglich (siehe Studien, S. 158, 164, 167); im Ergebnis hat Krey in den von ihm geprüften Fällen freilich recht. Ähnlich Roxin, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 34, der einige Fälle von Wortlautüberschreitungen aufzählt, dafür aber – offenbar der Zustimmung des Lesers gewiß – keine Begründungen gibt. 563 Vgl. Welzel, oben S. 149; Küper zu Fall 68, Lackner, oben S. 166, Schroeder zu Fall 43. Ist es Zufall, daß es sich gerade bei den Genannten um ausgewiesene Strafrechtsdogmatiker handelt?

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heutiger Zeit regelmäßig aussagekräftiger, wenn sie auf die Respektierung der Wortlautgrenze hin untersucht werden sollen. Ein echter Vergleich von Literatur und Rechtsprechung unter dem Gesichtspunkt der methodologischen Stimmigkeit läßt sich ohnehin kaum durchführen, denn naturgemäß wird ein Schriftsteller seinen methodologischen Standpunkt widerspruchsfreier praktizieren können, als das bei verschiedenen Strafsenaten (über einen längeren Zeitraum!) der Fall sein kann, während das Schrifttum insgesamt sicher ein heterogeneres Bild abgibt als die Rechtsprechung des höchsten Revisionsgerichts.565 In Anbetracht der zahlreichen hier besprochenen Entscheidungen, die im Grenzbereich zweifelhaft verfahren, ist abschließend noch eine gewisse Relativierung vorzunehmen: Überschreitungen der Wortlautgrenze wiegen schwer, aber in Hinblick auf den durch das Analogieverbot geschützten Bürger im Ergebnis auch nicht schwerer als jede sonstige „unrichtige“ Auslegung zu seinen Lasten, etwa im Bereich der Systematik, Teleologie oder sonstwo. Und schaut man auf den hinter den formalen Abgrenzungskriterium stehenden Zweck des Art. 103 II GG, den Bürger vor überraschenden Entscheidungen zu schützen, dann wird man in den dargestellten Fällen nur selten eine Beeinträchtigung des Vertrauensschutzes erkennen können.566 Nachdenklich stimmt eher, daß die Rechtsprechung gerade in einem Grenzbereich so große Probleme hat und zu Begründungsschwächen neigt, der – jedenfalls nach Auffassung des BVerfG – auch dem Laien zugänglich und aus dessen Perspektive zu bestimmen sein soll. Der richtige Weg führt deshalb nicht dahin, resignativ die „Manipulierbarkeit des Sprachgebrauchs“ zu konstatieren, sondern dahin, sich die Vorteile des formalen Abgrenzungskriteriums „Wortlaut“ zunutze zu machen567 und Begründungsmängel zu vermeiden.

564 Siehe z. B. die sehr vage Abgrenzungsformel bei Schönke/Schröder, StGB8, § 2, Anm. VII (S. 49): „Entscheidend für das Strafrecht ist, daß der Strafrichter niemals etwas bestrafen darf, was sich aus dem Gesetz nicht als strafbar ergibt . . .“. Vgl. außerdem Jagusch, in: LK-StGB7, § 2, Anm. 1 d und Kohlrausch/Lange, StGB41, S. 31 f. 565 Auch ein Großkommentar taugt kaum als Vergleichsmaßstab, denn dessen Bearbeiter erheben gar nicht erst den Anspruch eines einheitlichen methodischen Standpunkts. 566 Es wäre aber verfehlt, deshalb das konkrete Abgrenzungskriterium (Wortlautgrenze) gegen den vagen, hinter Art. 103 II GG stehenden Kontrollmaßstab der Vorhersehbarkeit auszutauschen. 567 Die Vorteile bestehen nach Hassemer (in: AK-StGB, § 1, Rn. 79) gerade in der Verhinderung von Manipulationen, denn der Gesetzestext sei gegenüber der juristischen Auslegung ein „externes“ Kriterium, welches die Rechtsanwendung von außen her begrenze. Die umgangssprachliche Bedeutung könne mit Hilfe von Lexika, der fachssprachliche Begriffsumfang durch Zusammenstellung bisheriger Entscheidungen ermittelt werden. Enttäuschend sei allerdings die praktische Umsetzung dieser Einsichten durch die Rechtsprechung (Rn. 81).

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III. Wortlaut und Wortsinn

h) Wortlautunterschreitungen/Reduktion tätergünstiger Normen Im Bereich der Wortlautgrenze ebenso unzulässig wie eine Ausweitung einer belastenden Norm zum Nachteil des Täters ist eine sog. Wortlautunterschreitung bei Normen, die sich zugunsten des Täters auswirken. Mit Wortlautunterschreitung ist die Nichtanwendung einer tätergünstigen Vorschrift gemeint, obwohl deren Wortlaut im konkreten Fall eindeutig erfüllt ist.568 Methodisch wird diese Konstellation, die am häufigsten bei den Rechtfertigungsgründen auftritt, gemeinhin als „Reduktion“, liegt ihr Anlaß im Zweck der Norm, als „teleologische Reduktion“ bezeichnet. Sie ist in Hinblick auf Art. 103 II GG nichts anderes als eine Analogie auf Tatbestandsebene. Mit systematisch nicht zu übertreffender Klarheit zeigt das die „Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen“ für die Rechtfertigungsgründe, deren Voraussetzungen nach dieser Lehre „negative Merkmale“ des „Gesamtunrechtstatbestandes“, während die „positiven Merkmale“ diejenigen des gesetzlichen Tatbestandes sind. So gesehen macht es für den Täter keinen Unterschied, ob ein positives Merkmal ohne Anhalt im Gesetzestext bejaht (Analogie) oder ein negatives Merkmal, welches der Täter eindeutig verwirklicht, verneint (Reduktion) wird.569 Art. 103 II GG verbietet beide Formen der Rechtsfortbildung in malam partem. Hinsichtlich der Frage, ob eine Wortlautüber- oder -unterschreitung vorliegt, könnte man noch genauer differenzieren: Bei tätergünstigen Normen (z. B. Rechtfertigungsoder Entschuldigungsgründen) finden sich zuweilen Merkmale, die die günstige Wirkung wieder aufheben, typischerweise ausgedrückt mit Formulierungen wie „es sei denn“ oder (§ 35 I 2 StGB) „das gilt nicht, soweit“. Werden diese „Rückausnahmen“ bejaht, ohne daß ihr Wortlaut erfüllt ist, liegt zwar auf den ersten Blick eine Wortlautüberschreitung vor, aber dennoch kann in diesem Fall von einer Reduktion gesprochen werden, wenn man auf die Rechtswirkung der Gesamtnorm (Begünstigung!) abstellt.570 Dem Täter wird entgegen dem Gesetzeswortlaut eine Wohltat verwehrt, der Anwendungsbereich einer ihm günstigen Norm reduziert. Nichts anderes gilt im umgekehrten Fall, in dem ein negativ formuliertes Tatbe568 Bzw. ein „positiver Kandidat“ (im „Begriffskern“) gegeben ist, siehe Kramer, Methodenlehre, S. 162 (Fn. 560). 569 Wichtigster Anwendungsfall dieser Problematik ist die Einordnung der sog. sozialethischen Einschränkungen des Notwehrrechts in § 32 StGB. Die Anerkennung dieser Fallgruppen ist nur möglich, wenn der Gesetzeswortlaut hierfür eine Grundlage bietet (str., vgl. Eser, in: Schönke/Schröder, StGB26, § 1, Rn. 14a). Überwiegend wird eine solche im Merkmal der „Gebotenheit“ in § 32 I StGB erkannt, so wie es auch der Gesetzgeber in Kenntnis der rechtsstaatlichen Anforderungen selbst gesehen hat (siehe BT-Drucksache, V/4095, S. 14). Eine noch nicht abschließend geklärte Frage ist, ob die Rechtfertigungsgründe wie der Tatbestand (§ 15 StGB!) eine subjektive Komponente beim Täter verlangen. Aus den Gesetzestexten ist das nur schwer herzuleiten und eine dem § 15 StGB entsprechende Norm fehlt hier! (Abl. deshalb z. B. Seebode, JZ 1998, 781 [782, r. Sp.].) Nur die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen kann auch die §§ 15, 16 StGB unmittelbar heranziehen. Näher Rinck, Der zweistufige Deliktsaufbau, S. 251 ff. 570 Siehe z. B. BGHSt 24, 48 = oben Fall 102 und insbesondere Fn. 538.

7. An der Wortlautgrenze

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standsmerkmal571 (z. B. „ohne behördliche Erlaubnis“ in § 284 StGB) verneint wird, obwohl dessen Voraussetzungen im konkreten Fall erfüllt waren. Darin läge eine Wortlautunterschreitung auf Tatbestandsebene, für den Betroffenen aber im Ergebnis eine Ausweitung (Analogie) des gesetzlichen Tatbestandes zu seinen Lasten. Abgesehen von diesen methodisch-begrifflichen Aspekten572 kommt es inhaltlich allein darauf an, ob die Rechtsanwendung in malam oder in bonam partem erfolgt. Im weiteren werden ausschließlich Konstellationen vorgestellt, in denen eine tätergünstige Norm nicht angewandt wird, obwohl deren Wortlaut erfüllt zu sein scheint.

Die Rechtsprechung hat die Anwendbarkeit des Art. 103 II GG auf alle Normen (auch solche des StGB-AT) erstreckt, welche die Strafbarkeit des Täters ausschließen.573 Sie ist damit bereits weiter als Teile der Literatur, die entweder den StGB-AT vom Anwendungsbereich des Analogieverbots ausnehmen wollen574 oder wenigstens die Rechtfertigungsgründe (als nicht strafrechtsspezifisch) ausschließen wollen575. Vom Schutzzweck des Analogieverbots her ist auch kein Grund dafür ersichtlich, die wortlautwidrige Reduktion nicht auf alle tätergünstigen Normen des materiellen Rechts zu erstrecken.576 Für eine differenzierende Ansicht, welche die Rechtfertigungsgründe aus dem Anwendungsbereich des Art. 103 II GG ausnehmen will,577 ist von diesem Ansatz her kein Raum, mag der BGH sich auch bislang nicht explizit in diesem Sinn geäußert haben. Im folgenden wird der Standpunkt der Rechtsprechung zugrunde gelegt und lediglich gezeigt, in welchen Fällen der BGH eine täterbelastende „Wortlautunterschreitung“ annimmt (oder übersieht) und wie das Gericht insoweit argumentiert: 571 Siehe dazu Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 16, Rn. 30 f. mit Beispielen. 572 Siehe dazu auch schon Fn. 538 zu Fall 102 sowie unten Fall 103. 573 Siehe BGHSt 42, 158 (161) = unten Fall 104 und BGHSt 42, 235 (241). Zur Anwendbarkeit des Analogieverbots auf die sog. objektiven Bedingungen der Strafbarkeit vgl. oben Fn. 422, zur Anwendbarkeit auf Konkurrenzregeln sogleich Fall 105 und Fall 106. 574 Nachweise bei Jähnke, in: BGH-FS, S. 395. 575 Z. B. Roxin, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 42, Krey, Strafrecht AT I, Rn. 103 und eingehend Thiel, Konkurrenz von Rechtfertigungsgründen, S. 175 ff. 576 Anders Jähnke, in: BGH-FS, S. 400 ff., der aus Sinn und Zweck des Gesetzlichkeitsprinzips folgert, daß dieses zwar für Rechtfertigungsgründe, nicht aber für Vorschriften über die Schuldfähigkeit gelten soll (actio libera in causa!). Aus Art. 103 II GG kann dies freilich kaum schlüssig abgeleitet werden. 577 Diese Ansicht kann zu schwierigen Folgeproblemen führen, wie etwa zur Frage, ob ein vom Wortlaut her erfüllter Rechtfertigungsgrund (z. B. § 34 StGB) durch einen spezielleren, aber nicht erfüllten (z. B. § 904 BGB) zuungunsten des Täters verdrängt werden kann; eingehend dazu Thiel (wie Fn. 575). Abstrakt gesehen ist danach zu fragen, wie sich eine ungeschriebene (!) Konkurrenzregel wie der lex-specialis-Grundsatz im Bereich der Rechtfertigungsgründe zu Art. 103 II GG verhält (vgl. unten BGHSt 1, 152 = Fall 106). Die Thematik ist allerdings nicht sonderlich praxisrelevant, wie sich gerade im Verhältnis von § 34 StGB zu § 904 BGB zeigt: Die h. M. gelangt bei diesen Normen kaum je zu unterschiedlichen Ergebnissen.

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III. Wortlaut und Wortsinn

Fall 103 (BGHSt 34, 221 – „Gläubigerbegünstigung“): Wer im Konkurs Gläubiger zu Unrecht gegenüber anderen Gläubigern begünstigt, wird gemäß § 283c StGB milder bestraft als derjenige, der im Konkursfall Vermögensbestandteile auf sonstige Weise beiseite schafft (§ 283 I Nr. 1). Wie steht es, wenn der Täter als Geschäftsführer einer KG zugleich deren Gläubiger ist und seine Forderung zum Nachteil der anderen Gläubiger vorab befriedigt? Der BGH ist der Ansicht, daß in dieser Konstellation die Privilegierung des § 283c nicht greifen kann. Entsprechend dem Schutzzweck des Tatbestandes sei der Begriff des Gläubigers einschränkend auszulegen (S. 226). Die dem Konkursstrafrecht zugrundeliegenden Prinzipien geböten es, Gläubiger, die nicht zugleich Gemeinschuldner sind oder an dessen Stelle handeln, nicht als „Gläubiger“ i. S. von § 283c anzusehen. Die Gegenauffassung leuchte aus konkursrechtlicher Sicht zwar ein, übersehe aber die „Eigenständigkeit strafrechtlicher Regelung und Auslegung“ (S. 225). – Der BGH hat womöglich den Wortlaut einer Privilegierung zulasten des Täters „unterschritten“ – eine unzulässige teleologische Reduktion auf Tatbestandsebene!578 –, obwohl die Voraussetzungen der Norm eindeutig erfüllt waren. Sowohl schuldrechtlich (Legaldefinition des § 241 BGB) als auch konkursrechtlich bestehen keine Zweifel an der Gläubigerstellung des Geschäftsführers; das Schuldverhältnis würde allenfalls bei einer Konfusion (Identität zwischen Gläubiger und Schuldner) erlöschen.579 Die Rechtfertigung des BGH für sein Vorgehen ist methodologisch allerdings nicht von vornherein ausgeschlossen: Der Begriff des Gläubigers sei aus teleologischen Gründen im Konkursstrafrecht anders zu bestimmen als im Zivil- und im allgemeinen Konkursrecht. Eine solche „Sprachspaltung“ ist im Strafrecht – sogar innerhalb des StGB – möglich; sie darf jedoch den „möglichen Wortsinn“, der hier nur fachsprachlich ermittelt werden kann (siehe oben III 7 b, S. 118 ff.), nicht verlassen. Insofern sind die vom BGH vorgetragenen Gründe für eine eigenständige strafrechtliche Begriffsbildung zu schwach.580 Sie laufen letztlich darauf hinaus, die Privilegierungswirkung des § 283c im konkreten Fall für unangemessen zu erachten, weil der Täter hier „eigennützig“ handele (S. 226).581 Diese eher allgemeinen teleologischen Gesichtspunkte dürften kaum genügen, den fachsprachlich feststehenden Begriff des „Gläubigers“ abzuwandeln (zu unterschreiten).582

578 Siehe auch BGHSt 16, 210 (Fall 95) zum Außerachtlassen einer im Vergleich günstigeren Einziehungsnorm. 579 Siehe Winkelbauer, JR 1988, 33 (35) und Tiedemann, in: LK-StGB11, § 283c, Rn. 11: Gläubigerstellung zivilrechtlich nicht zu bezweifeln. 580 Auch im parallel liegenden Fall des „faktischen Geschäftsführers“ (oben Fall 85) wäre die Konstituierung eines eigenen strafrechtlichen Geschäftsführerbegriffs zwar denkbar, aber kaum überzeugend begründbar. 581 Überzeugend gegen dieses für §§ 283, 283c StGB irrelevante Abgrenzungskriterium Weber, StV 1988, 16 (18) und Winkelbauer, JR 1988, 33 (35). 582 Weber, StV 1988, 16 (18): „Gefährliche Nähe“ zu einem Verstoß gegen Art. 103 II GG; Winkelbauer, JR 1988, 33 (35): Argumente des BGH nicht geeignet, Bedenken aus Art. 103 II GG zu zerstreuen. Zustimmend hingegen Tiedemann, in: LK-StGB11, § 283c, Rn. 11: Von einer Einschränkung des Gläubigerbegriffs „in seinem Kerngehalt“ könne keine Rede sein. Die Argumentation Tiedemanns (a. a. O., am Ende), die auf den Grund der Privilegierung abstellt, erweckt freilich nicht minder den Verdacht einer teleologischen Reduktion.

7. An der Wortlautgrenze

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Fall 104 (BGHSt 42, 158 = oben Fall 14): Eine unzulässige Reduktion eines Strafausschließungsgrundes sieht der BGH in der Ansicht, die einen strafbefreienden Rücktritt (§ 24 StGB) ausschließen will, wenn der Täter eines erfolgsqualifizierten Delikts schon im Versuchsstadium die schwere Folge herbeigeführt hat (z. B. den Tod eines Menschen beim versuchten Raub, §§ 249, 251, 22 StGB). Der Wortlaut des § 24 sei eindeutig; mit dem Rücktritt vom Grunddelikt (Versuch des Raubes, §§ 249, 22) verliere die Qualifikation (Raub mit Todesfolge, § 251) ihren Anknüpfungspunkt (S. 160).583 Die Gegenauffassung dehne die Strafbarkeit unzulässig zulasten des Täters aus (S. 161): „Ebensowenig wie die analoge Anwendung einer strafbegründenden Vorschrift über ihren eindeutigen, einer abweichenden Auslegung nicht mehr zugänglichen Wortlaut hinaus allein im Hinblick auf den Normzweck . . . ist die Einschränkung einer die Strafbarkeit ausschließenden Vorschrift über ihren möglichen Wortsinn hinaus zulässig . . .“. Zunächst ist mit Küper (JZ 1997, 229 [231 f.]) darauf hinzuweisen, daß vorliegend keine Wortlautüber-, sondern eine Wortlautunterschreitung zur Diskussion steht, denn nach Ansicht des BGH läßt die Gegenauffassung § 24 außer Betracht, obwohl dessen Wortlaut eindeutig erfüllt ist. Fraglich ist allerdings, ob der Ausschluß des Rücktritts bei Eintritt der schweren Folge in sprachlicher Hinsicht tatsächlich mit § 24 unvereinbar ist, die Norm also trotz Vorliegens eines „positiven Kandidaten“ verneint würde.584 Diese Schlußfolgerung – das wird aus der Begründung des BGH deutlich – hängt zwar von einigen dogmatischen Vorannahmen bezüglich der Versuchsdogmatik und des Verhältnisses von Grunddelikt und Abwandlung ab; da es jedoch erneut auf die fachsprachliche Bedeutung ankommt, schließen diese juristischen Erwägungen die Annahme einer Wortlautunterschreitung nicht aus. Küper hält es bei einheitlicher Betrachtung der §§ 249, 251 als eine Tat i. S. von § 24 zumindest für vertretbar (kein „gravierender Wortsinnverstoß“, S. 232), daß mit dem Eintritt der schweren Folge die Tat bereits „im wesentlichen“ ausgeführt oder vollendet sei und damit ein Aufgeben nicht mehr in Betracht komme;585 die Argumentation vom „eindeutigen Wortlaut“ stehe jedenfalls auf unsicherem Boden. – Küper zeigt, wie weit ein noch mögliches fachsprachliches Verständnis getrieben werden kann, aber näher liegt es, die Grenzen der Auslegung hier schon als überschritten anzusehen. Denn vom Ausgangspunkt der herrschenden Versuchsdogmatik her ist ein „glatter“ Fall von § 24 I 1 gegeben586, der allenfalls an der mangelnden „Freiwilligkeit“ des Rücktritts scheitern kann (BGH, S. 161). Der „noch mögliche fach-

583 Bereits hier wird deutlich, daß die Annahme des BGH von einigem dogmatischen Vorwissen abhängt (Verhältnis zwischen Grunddelikt und Abwandlung); insofern ähnlich oben Fall 99 („Gesetzesinterferenz“). 584 Gegen die Wortlautargumentation des Senats Anders, GA 2000, 64 (67): Wortsinnauslegung zur Lösung nicht geeignet; Jäger, NStZ 1998, 161 (163): „Überzogen“, das Ergebnis auf das Analogieverbot zu stützen; Küper, JZ 1997, 229 (231 f.); Roxin, Strafrecht AT II, § 30, Rn. 290. 585 Die Argumentation ist spitzfindig („im wesentlichen“) und leuchtet gerade bei einer Gesamtbetrachtung von §§ 249, 251 StGB nicht ein: Folgerichtig müßte dann z. B. bei einem einfachen Raub der Rücktritt ausscheiden, wenn mit der Wegnahme oder der Gewalt bereits „wesentliche“ Komponenten vollendet wären. Küper zust. Roxin, Strafrecht AT II, § 30, Rn. 290.

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III. Wortlaut und Wortsinn

sprachliche Wortsinn“ (siehe dazu oben III 7 b, S. 118 ff.) wäre damit zulasten des Täters unterschritten. Fall 105 (BGHSt 43, 237; 47, 243 – „Subsidiaritätsklausel“): Wegen der Subsidiaritätsklausel des § 125 I StGB („wird . . . bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist“) sieht BGHSt 43, 237 (238) in der Auffassung der Vorinstanz, trotz Vorliegens des schärferen § 223a (a. F.) noch § 125 anzuwenden, einen klaren Verstoß gegen den Gesetzeswortlaut. Die frühere Rechtsprechung, die hiervon unter Hinweis auf Sinn und Zweck Ausnahmen zugelassen habe587, sei in Anbetracht der Auffassung der Gerichte zum „möglichen Wortsinn“ als Grenze jeder Auslegung überholt (S. 239). Ein Wille des Gesetzgebers, § 125 „über seinen Wortlaut hinaus“ anzuwenden588, sei zudem nicht ersichtlich. Noch deutlicher wird BGHSt 47, 243 bei der seit 1998 in § 246 I enthaltenen Subsidiaritätsklausel, die derjenigen des § 125 I entspricht. Im konkreten Fall stand die Unterschlagung in Tateinheit zu einem Totschlag. Da bei Tateinheit „regelmäßig“ nur eine „Tat“ vorliege (a. a. O.), mußte § 246 nach Ansicht des BGH somit zurückzutreten. Der Gegenauffassung, welche – dem Grundgedanken der Subsidiarität entsprechend – die Klausel nur anwenden will, wenn das schwerwiegendere Delikt ebenfalls ein Zueignungs- oder Vermögensdelikt ist,589 erteilt der BGH unter Hinweis auf den entgegenstehenden Gesetzeswortlaut eine Absage (S. 244). Ein möglicherweise anderslautender Wille des Gesetzgebers sei dort (anders als etwa in § 265) nicht zum Ausdruck gekommen und könne folglich nicht Grundlage einer Auslegung zulasten des Angeklagten sein (S. 245). – Die klare Linie des BGH, die sich auf abweichend formulierte Subsidiaritätsklauseln stützen kann (Umkehrschluß) und den Gesetzgeber für die Zukunft zu mehr Sorgfalt zwingt, verdient Beifall.590 Die Gegenansicht mag zu sachgemäßeren Lösungen führen, doch ist das kein ausreichender Grund, um vom sonst in der Konkurrenzlehre üblichen Begriff der „Tat“ abzuweichen, nach dem auch Delikte mit ganz unterschiedlicher Schutzrichtung 586 Wohl ebenso Kudlich, JuS 1999, 349 (355): Einschränkung der klaren Regelung des § 24 sei Bedenken aus Art. 103 II GG ausgesetzt. Martin (JuS 1997, 178) hätte eine genauere Wortinterpretation des BGH erwartet. 587 Schon BGHSt 24, 72 (80 f.) hat sich allerdings gegen einen ähnlichen Einschränkungsversuch gewandt: Der gegenteiligen Auffassung des OLG sei zwar zuzugeben, daß der Gesetzgeber vielleicht besser auf die Subsidiaritätsklausel verzichtet hätte, aber das sei eben nicht geschehen! 588 Es kommt wieder darauf an, wie man konstruiert: In der Einschränkung der Subsidiaritätsklausel (Wortlautunterschreitung) liegt eine unzulässige Reduktion, auf den Tatbestand des § 125 hin gesehen aber eine unzulässige Ausweitung seines Anwendungsbereichs (Analogie). Deshalb ist die Formulierung des BGH („über seinen Wortlaut hinaus“) hier zumindest eher angebracht als im vorhergehenden Fall 104. 589 Z. B. Eser, in: Schönke/Schröder, StGB26, § 246, Rn. 32; Mitsch, Strafrecht BT II 1, § 2, Rn. 75. Entsprechend für § 125 StGB Rudolphi, JZ 1998, 471 (Anm. zu BGHSt 43, 237): Der Begriff der Tat lasse sich auch so verstehen, daß die Tatbestandsverwirklichungen zumindest partiell gegen das gleiche Rechtsgut gerichtet sein müssen. Ebenso Roxin, Strafrecht AT II, § 33, Rn. 197: Man könne den Tatbegriff „ohne weiteres“ in dem eingeschränkten Sinn verstehen. 590 Ebenfalls zust. Otto, NStZ 2003, 87; Heghmanns, JuS 2003, 954 (957 f.); anders die überwiegende Ansicht: Cantzler/Zauner, Jura 2003, 483 (484 ff.); Duttge/Sotelsek, NJW 2002, 3756; Freund/Putz, NStZ 2003, 242; Geppert, JK 2002, StGB § 246/13; Hoyer, JR 2002, 517.

7. An der Wortlautgrenze

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selbstverständlich in Tateinheit stehen und eine „Tat“ i. S. der Klausel bilden.591 Gerade hier offenbart sich der Wert einer formalen Auslegungsgrenze, die auch nicht unter Berufung auf das materiell richtige oder angemessene Ergebnis überwunden werden darf.592 Nicht unproblematisch ist allerdings die Formulierung des BGH, daß bei Tateinheit „regelmäßig“ (!) eine Tat vorliege;593 damit deuten sich doch wieder Relativierungen und Einbruchstellen für Einschränkungsversuche an. Fall 106 (BGHSt 1, 152; RGSt GS 73, 148 – „Sperrwirkung der Mindeststrafe“): Konstruktiv noch interessanter sind folgende Probleme aus dem Bereich der Konkurrenzregeln: § 73 StGB a. F. und § 52 II 1 g. F. bestimmen für den Fall der Tateinheit, daß nur das die schwerste Strafe androhende Gesetz zur Anwendung gelangt. § 52 II 2 g. F. bestimmt zusätzlich, daß die Mindeststrafe der anderen (nicht anzuwendenden) Gesetze nicht unterschritten werden darf. RGSt GS 73, 148 hat diese zwingende „Sperrwirkung der Mindeststrafe“ bereits für das alte Recht anerkannt, obwohl sie dort nicht ausdrücklich angeordnet war. Das RG hat im Text des § 73 trotz des Wortes „nur“ keinen zwingenden Grund für die Gegenansicht erkannt und maßgeblich auf das Rechtsgefühl abgestellt: Dem Täter dürfe es nicht zum Vorteil gereichen, daß er zusätzliche Vorschriften verletze (S. 150).594 BGHSt 1, 152 591 Die „Denkgesetze der Subsidiarität“ (Geppert, wie Fn. zuvor) vermögen daran nichts zu ändern. Hoyer (JR 2002, 517 f.) zeigt zwar zutreffend, daß der Begriff der „Tat“ im StGB mit unterschiedlicher Bedeutung gebraucht wird, aber die von ihm gebrachten Beispiele (§§ 248b, 247, 24, 17 etc.) beweisen nichts, weil sie nicht – wie hier – den Tatbegriff i. S. der Konkurrenzlehre zum Gegenstand haben. Der „noch mögliche“ fachsprachliche Gebrauch ist aber durch den jeweiligen Kontext eingeschränkt (siehe dazu oben III 7 b, S. 118 ff.). Freund/Putz (NStZ 2003, 242 [245]) wollen als „Tat“ eben nur die Unterschlagung ansehen. Daß damit die Klausel gänzlich überflüssig würde, nehmen die Verfasser in Kauf. Zuzugeben ist ihnen nur, daß der BGH in beiden Entscheidungen näher hätte begründen sollen, weshalb der Tatbegriff in §§ 125 I, 246 I im konkurrenzrechtlichen Sinn zu verstehen ist. Merkwürdig ist, daß der BGH insofern nicht auf BGHSt 24, 72 (80) verweist; dort hatte der BGH in einer ganz ähnlichen Frage unmißverständlich Stellung bezogen. Vor allem hätte der Gesetzgeber diese Vorentscheidung zurate ziehen müssen. 592 Eine kuriose Argumentation in Hinblick auf die Wortlautgrenze liefert Mitsch, Strafrecht BT II 1, § 2, Rn. 75, der die Entscheidung BGHSt 43, 237 für „ignorant“ hält (a. a. O., Fn. 264): Es sei zuzugeben, daß der Wortlaut der Klausel die Verdrängung „trägt“ (Hinweis auf BGHSt 47, 243 = NJW 2002, 2188), jedoch brauche der Rechtsanwender sich zu einer entsprechend extensiven Handhabung „nicht gezwungen zu fühlen“. – Diskussionswürdig ist hingegen der Einwand, wonach die Reduktion der Klausel keine gegen Art. 103 II GG verstoßende Rechtsanwendung in malam partem sei, weil nach ständiger Rechtsprechung das verdrängte Delikt gleichwohl bei der Strafzumessung berücksichtigt werden müsse, und es demnach nur um die formale Abfassung des Schuldspruchs gehe (in diesem Sinn Duttge/Sotelsek, NJW 2002, 3756 [3757] und Ernst/Charchulla, DRiZ 2003, 238 [240]; noch weitergehend Freund/Putz, NStZ 2003, 242 [245]: die Wortlautgrenze sei auf Konkurrenzregeln generell nicht anwendbar; dagegen Heghmanns, JuS 2003, 954 [956]). Daß sich die Annahme von Tateinheit (statt Gesetzeseinheit) für den Täter tendenziell ungünstig auswirkt, wird man jedoch kaum ausschließen können. 593 Vgl. nochmals oben Fall 12, wo die Vorinstanz als eine „Tat“ nur Fälle der Gesetzeseinheit ansah. 594 Nach Kohlrausch/Lange (StGB41, S. 230) überzeugt zwar die Verbalbegründung nicht, aber der Hinweis auf das absurde Ergebnis genüge. Bezeichnend zur Behand-

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III. Wortlaut und Wortsinn

hat die Ansicht des RG auch auf den Fall der gesetzlich (nach wie vor) nicht geregelten Gesetzeseinheit erweitert, da dort nichts anderes gelten könne (S. 156).595 – Daß RGSt 73, 148 für den Fall der Tateinheit gegen den Wortlaut des § 73 a. F. verstoßen hat (Wortlautunterschreitung), bedarf keiner näheren Begründung. Schwieriger liegt es im Fall von BGHSt 1, 152, denn die Gesetzeseinheit hat keine gesetzliche Grundlage. Wie bereits in Fall 99 („Gesetzesinterferenz“) liegt der Verstoß allenfalls in der Mißachtung einer ungeschriebenen (!), tätergünstigen Konkurrenzregel.596 In diesem Fall ist es bei sinngemäßer Anwendung des Art. 103 II GG jedoch notwendig, dessen Schutzwirkung auf die ungeschriebene Regel zu erstrecken. Eindeutige Verstöße gegen eine solche Regel sollten wie ein echter Wortlautverstoß als rechtstaatswidrig betrachtet werden. Fall 107 (BGHSt 43, 356 – „eigennützige Strafvereitelung“): Nach den Feststellungen war es nicht auszuschließen, daß die Angeklagte dem Täter der Vortat ein falsches Alibi zugesagt hatte und dieses Versprechen später bei einer Zeugenvernehmung tatsächlich einlöste. Da weiter davon ausgehen war, daß die Angeklagte sich in Anbetracht der Beihilfe zur Vortat mit ihrer Aussage zugleich selbst hat schützen wollen, kam hinsichtlich der falschen Aussage eine Strafbefreiung gemäß § 258 V StGB in Betracht („Wegen Strafvereitelung wird nicht bestraft, wer durch die Tat zugleich ganz oder zum Teil vereiteln will, daß er selbst bestraft . . . wird“). Der BGH lehnt die Anwendung von § 258 V wegen des zugrundeliegenden Normzwecks ab, da die vom Gesetzgeber vorausgesetzte „notstandsähnliche Lage“ hier nicht gegeben sei. Die Angeklagte hätte „die Beweislage hinsichtlich ihrer eigenen Vortat – der Zusage – nicht geändert, wenn sie sogleich die Wahrheit bekundet hätte“; damit fehle es an der vorausgesetzten Zwangslage (S. 359). Es wäre unverständlich, „wenn die Angeklagte für eine nachweislich begangene Strafvereitelung deshalb straflos bliebe, weil nicht ausgeschlossen werden kann, daß sie die Strafvereitelung bereits vor der Vortat zugesagt hat. Der Täter kann nicht Straffreiheit dadurch erlangen, daß er verspricht, sich strafbar zu machen.“ Der Wortlaut der Vorschrift stehe dieser an Sinn und Zweck orientierten Eingrenzung ihres Anwendungsbereichs nicht entgegen. – Das argumentum ad absurdum (Verbesserung der Lage durch Beteiligung an einer weiteren Straftat) klingt eindrucksvoll, kann aber nicht verdecken, daß der BGH eine schulmäßige teleologische Reduktion des § 258 V vornimmt597 und dabei den eindeutig erfüllten Wortlaut einer tätergünstigen Norm lung des Wortlauts durch RGSt 73, 148 Bockelmann, ZAkDR 1941, 293 (294): „mit dieser Aufgabe wurde der Große Senat schnell und leicht fertig“. Siehe auch Hartung, DR 1939, 1484 (1485, r. Sp.): Der Große Senat habe dem Grundgedanken des Gesetzes „gegen den Wortlaut zum Siege verholfen. Das ist eine Tat, die jeder begrüßen wird, dem die Ziele der nationalsozialistischen Rechtsentwicklung in Fleisch und Blut übergegangen sind. Der Geist hat über den Buchstaben gesiegt.“ 595 Bestätigt z. B. von BGH NJW 2003, 1679 f. (1680, r. Sp.). 596 Seit Regelung der Problematik für den Fall der Tateinheit in § 52 II 2 StGB könnte man freilich den Wortlautverstoß auch in der analogen Anwendung dieser Vorschrift sehen (Wortlautüberschreitung), aber das ist analytisch ein Umweg und beantwortet die Ausgangsfrage nicht. Erwägen müßte man auch, ob der Wortlaut des § 52 II 2 den Fall der Gesetzeseinheit sogar mit abdeckt. 597 Paul, JZ 1998, 739 – allerdings unverständlich, weshalb Paul zusätzlich (S. 740) auf den Bestimmtheitsgrundsatz zurückgreift (zu den terminologischen Verwechslungen siehe unten V 7 e); Otto, JK 1998, StGB § 258/12: Argumentation könne in An-

7. An der Wortlautgrenze

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unterschreitet. Die Vereinbarkeit mit dem Wortlaut bejaht der BGH ohne Problembewußtsein598, obwohl die „notstandsähnliche Lage“, von welcher der BGH spricht, im Gesetzestext keinen Ausdruck gefunden hat.

Fazit: Wie Wortlautüberschreitungen bei täterbelastenden Normen sind Wortlautunterschreitungen bei tätergünstigen Normen unzulässig, gleich ob es sich um Privilegierungen, Rechtfertigungs-, Entschuldigungs-, sonstige Strafausschließungsgründe oder Konkurrenzregeln handelt. Daß es auf den dogmatischen Standort nicht ankommt, zeigt der großzügige Ausgangspunkt des BGH (vgl. Fall 104). Zumindest in sinngemäßer Anwendung sollte Art. 103 II GG auch vor der Mißachtung von ungeschriebenen tätergünstigen Regeln schützen (vgl. Fall 99 und Fall 106). Bei den Urteilsbegründungen im einzelnen offenbaren sich die gleichen Schwächen wie bei den Wortlautüberschreitungen. In Fall 103 („Gläubigerbegünstigung“) weicht der Senat ohne ausreichende Grundlage vom gängigen fachsprachlichen Verständnis ab und nimmt dadurch eine ungerechtfertigte „Sprachspaltung“ vor. Beifall verdienen allerdings die Entscheidungen BGHSt 42, 158 (Fall 104 – Rücktritt) und BGHSt 43, 237, 47, 243 (Fall 105 – „Subsidiaritätsklausel“), deren einfache und dem gängigen juristischen Sprachgebrauch folgenden Lösungen überzeugen. In Fall 105 macht es der BGH sich womöglich mit der Annahme der Wortlautunterschreitung zu leicht, aber die angestrengten Bemühungen und umständlichen Erwägungen der Gegenansichten belegen schon fast die Richtigkeit der Senatsmeinung. An Problembewußtsein fehlt es in BGHSt 43, 356 (Fall 107 – „eigennützige Strafvereitelung“) und – in gewisser Weise verständlich – in BGHSt 1, 152 (Fall 106 – „Sperrwirkung der Mindeststrafe“). Mehr oder weniger geschickt versucht BGHSt 16, 210 (Fall 95 – „Einziehung im Weinrecht“), den erfüllten Wortlaut zu umgehen („wörtliche Auslegung könnte . . . zu der Annahme verleiten“). i) Gleichsetzung/Gleichstellung Im Prozeß der Rechtsanwendung verwenden der BGH, aber auch Vorinstanzen und Stimmen aus der Literatur zuweilen die verräterische Formulierung, die Situation sei mit der im Gesetz eindeutig erfaßten „gleichzusetzen“ oder „gleichzustellen“. Damit wird – meist ohne Not – der Verdacht der Analogie geweckt. Diese Formulierungen suggerieren, daß der Fall eigentlich nicht vom Gesetzestext gedeckt sei, aber dennoch in einem Akt richterlicher Dezision mit den ausdrücklich erfaßten Fällen gleichbehandelt wird.

betracht des Wortlauts nur verwundern; auch die Zwangslage sei hier gegeben; Seebode, JZ 1998, 781 (782): BGH „überschreitet“ den Wortsinn und damit die äußerste Grenze zulässiger Interpretation. 598 Kein Problembewußtsein auch in der zust. Anm. von Geerds, NStZ 1999, 31.

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III. Wortlaut und Wortsinn

In BGHSt 28, 129 (130, siehe oben Fall 24) führt das Gericht zu § 142 II Nr. 2 StGB aus, daß das unvorsätzliche Entfernen vom Unfallort dem in § 142 II Nr. 2 genannten „berechtigten“ oder „entschuldigten“ Entfernen „gleichzusetzen“ 599 sei. BGHSt 23, 331 (334, oben Fall 47) hält es mit dem Wortlaut des § 329 I StPO für vereinbar, einen schuldhaft betrunkenen, aber anwesenden Angeklagten mit einem schuldhaft „nicht erschienenen“ Angeklagten „gleichzustellen“. Nach BGH MDR/D 1954, 16 (oben Fall 101) steht das „Hineinkriechen“ dem „Einsteigen“ i. S. von § 243 I Nr. 2 StGB (a. F.) gleich. Zu Recht kritisiert BGHSt 28, 100 (siehe oben Fall 70) allerdings die Formulierung der Vorinstanz, wonach der Verlust einer Niere „gleichbedeutend“ mit dem Verlust eines wichtigen Gliedes sei; diese Begründung erwecke den Verdacht einer unzulässigen Analogie (S. 101). Aus der Literatur können Stellungnahmen zur Entscheidung BGHSt 11, 47 (oben Fall 84) erwähnt werden, in welcher der BGH ein unberechtigtes „in Gebrauch nehmen“ eines Kraftfahrzeuges auch noch während der Fahrt für möglich hält: Laut Hillenkamp600 stelle der BGH zu Recht dem Ingebrauchnehmen das unbefugte Ingebrauchhalten gleich.

Was hier nach Analogie klingt, ist von den Verfassern nicht als solche gemeint, denn die Vereinbarkeit der Gesetzesanwendung mit dem Wortlaut wird von ihnen nicht bezweifelt. Zur Vermeidung von Fehldeutungen sollte auf die erwähnten Formulierungen jedoch verzichtet werden. Dabei geht es nur vordergründig um sprachästhetische Gesichtspunkte, denn hinter der „Gleichsetzung“ verbirgt sich ein Grundlagenproblem der juristischen Methodik, das hier kurz in Erinnerung gerufen werden soll. Vielleicht können damit einige Mißverständnisse vermieden werden. Vor allem gießt die Formulierung vom „Gleichsetzen“ Öl ins Feuer einer hermeneutisch orientierten Lehre, welche die Untauglichkeit des Grenzkriteriums „Gesetzeswortlaut“ aus der nach ihrer Ansicht strukturellen Gleichheit von Auslegung und Analogie beweisen will. Jede Rechtsanwendung setze einen Vergleich des zu lösenden mit den zweifelsfrei vom Gesetz erfaßten Fällen unter Heranziehung eines Vergleichsmaßstabs (dem tertium comparationis) voraus; insofern unterschieden sich „Auslegung“ und „Analogie“ nicht strukturell, sondern nur graduell.601 Vielleicht sind in Engischs „logischen Studien“, die den Prozeß der Subsumtion genauer aufschlüsseln602, einige Schwierigkeiten angelegt. Auch dort ist im Rahmen der Darlegung, worin genau der 599

Nach Rudolphi (JR 1979, 210) ein „lapsus linguae“ des BGH. Wessels/Hillenkamp, Strafrecht BT/2, Rn. 398; ebenso Tröndle/Fischer, StGB51, § 248b, Rn. 4 („nach hM gleichgestellt“). 601 Hassemer, in: Strafen im Rechtsstaat, S. 29 und AK-StGB, § 1, Rn. 97 ff.; Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 77; Stratenwerth, Strafrecht AT I, § 3, Rn. 32. Auf dieser Einsicht beruht auch die „Normalfallmethode“ von Haft (vgl. Strafrecht AT, S. 50 f. und 53), die allerdings didaktisch sehr nützlich ist, weil sie das Problembewußtsein schärft und Orientierung bei der Frage bietet, wann in der Fallösung nähere Ausführungen überhaupt veranlaßt sind. Siehe zum Ganzen auch Charalambakis, Der Unterschlagungstatbestand, S. 64 ff., der die Einwände der „ontologischen Hermeneutik“ als „bloßes Wortspiel“ (S. 66) und als „unerhebliches terminologisches Problem“ (S. 71) ansieht. 602 Engisch, Logische Studien, S. 18 ff. und Einführung, S. 56 (Fn. 17), 64 f. 600

7. An der Wortlautgrenze

199

Vorgang der Subsumtion besteht, mehrfach von „Gleichsetzung“ die Rede (S. 25). Die im Untersatz erfolgende Subsumtion bedeute letztlich nichts anderes als die Gleichstellung des fraglichen Sachverhalts mit den unzweifelhaft vom Gesetz erfaßten Fällen (S. 26). Die Ermittlung der unzweifelhaft betroffenen Fälle sei Aufgabe der Auslegung (S. 30). Das Hauptproblem der Subsumtion bestehe allerdings darin, daß fast nie vollständige Gleichartigkeit beider Fälle festgestellt werden könne, sondern immer ein Rest an Unsicherheit bleibe (S. 30 f.). Den Begriff „Ähnlichkeit“, womit eine nur annäherungsweise Gleichheit in gewisser Hinsicht gemeint sei, will Engisch in diesem Zusammenhang vermeiden (S. 30, Fn. 1). Aber wichtig ist – und hier liegt wohl der wesentliche Unterschied zu den die Wortlautgrenze ablehnenden Autoren603 –, daß der entscheidende Vergleichsmaßstab in der Auslegung des gesetzlichen Tatbestandes gewonnen werde (S. 33). Erst danach könne festgestellt werden, ob die zu vergleichenden Fälle in den wesentlichen, gesetzlich bestimmten Faktoren übereinstimmen oder nicht. Ist insofern Gleichheit (Identität) bei allen Kriterien vorhanden, die das Gesetz verlangt (und in Definitionen erfaßt sind, S. 28 f.), kann die Subsumtion im Untersatz erfolgreich vorgenommen werden.604 Für vorliegenden Zusammenhang sind die Ausführungen Engischs zum Verhältnis Subsumtion und Auslegung in Hinblick auf die Wortlautgrenze als Grenzkriterium von Auslegung und Analogie von besonderem Interesse, denn sie zeigen, daß die Wortlautgrenze unabhängig von dem (zumindest nach Engisch) vorzunehmenden Fallvergleich existieren kann.605 Daß der im Untersatz vollzogene Fallvergleich – der nicht „Auslegung“ ist! – „analogisch“ geschieht606, hat mit dem 603 Auch die hermeneutische Schule kennt natürlich Grenzen der Rechtsanwendung, die im Ergebnis nicht zu einem größeren Bereich der Strafbarkeit führen müssen als die der h. M.; vgl. z. B. die Ausführungen von Hassemer, in: Strafen im Rechtsstaat, S. 33, die allerdings ohne weiteres auch auf Basis der h. M. vertretbar wären; Wohlers, der den hermeneutischen Ausgangspunkt ebenfalls teilt (in: ratio legis, S. 81), befürwortet gleichwohl den möglichen Wortsinn als Auslegungsgrenze (S. 87). Für im Grenzbereich tendenziell weitergehend hält diese Lehre Kim, in: FS für Roxin, S. 132, freilich mit wenig überzeugender Begründung. 604 Das Bild Engischs vom problemgeladenen Untersatz wird allerdings nicht durchweg geteilt, vgl. z. B. Schünemann, in: FS für Klug, S. 178: „Fata Morgana“. Nach anderen (wohl herrschenden) Konzeptionen des „Justizsyllogismus“ als deduktivem Schema spielt der Fallvergleich hingegen nur bei der Herstellung des Obersatzes (bei der Auslegung) eine Rolle, vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 275, 314 und Bydlinski, Methodenlehre, S. 397. Dabei dürfte es letztlich aber nur um terminologische Abweichungen handeln. Den Einwänden der hermeneutischen Schule, die methodologisch den Fallvergleich ganz ins Zentrum rückt, entgeht auch die h. M. nicht, denn auch sie setzt so gesehen Fälle gleich. 605 Siehe auch Engisch, Einführung, S. 196 (Fn. 47). 606 Lebenssachverhalte sind stets allenfalls nur „ähnlich“, in rechtlicher Hinsicht aber eventuell – wenn sie alle notwendigen Begriffsmerkmale des Obersatzes erfüllen – dennoch identisch. Das Erkennen der Ähnlichkeit ist vor allem wichtig, um den Prozeß der Rechtsanwendung überhaupt erst in Gang zu setzen und die einschlägigen Rechtssätze zügig aufzufinden.

200

III. Wortlaut und Wortsinn

Analogieverbot als Grenze der „Auslegung“ des Art. 103 II GG nur bedingt zu tun. Für den Fall BGHSt 1, 1 zu §§ 223a, 250 I StGB a. F. (oben Fall 51) heißt das: Ein Messer ist eindeutig und in § 223a sogar ein ausdrücklich erwähnter Fall einer „Waffe“, und wenn auch das chemische Angriffsmittel (Salzsäure) unter § 223a subsumiert wird, bedeutet das im Ergebnis eine „Gleichsetzung“ beider Fälle. Die Angriffsmittel mögen im Erscheinungsbild (vielleicht) „ähnlich“ sein, aber in Hinblick auf die vom Gesetz verlangten Kriterien doch „identisch“.607 Diese triviale Einsicht kann nicht verbergen, daß die maßgeblichen Vergleichgesichtspunkte erst durch Auslegung der Norm gewonnen werden608 und dabei nicht mehr herausgeholt werden kann, als der Wortlaut zuläßt. Einer unter vielen Faktoren, die bei der Auslegung berücksichtigt werden können, ist natürlich auch, welche Beispiele der Gesetzgeber ausdrücklich aufgeführt hat, denn daraus lassen sich womöglich Kriterien abstrahieren – hier etwa bezüglich der Frage, ob das Angriffsmittel mechanisch wirken muß – und schließlich in einer Definition zusammenfassen. Die Gleichartigkeit von Fällen kann also bei der Auslegung eine Rolle spielen, aber die Kriterien der Auslegung, insbesondere die Wortlautgrenze können der Gleichbehandlung entgegenstehen.609 Völlig „schief“ ist jedoch die Analyse derselben Entscheidung durch Kaufmann: Die Salzsäure werde mit den eindeutig unter den Ausdruck „Waffe“ fallenden Beispielen verglichen und dann subsumiert; diese vergleichende Vorgehensweise sei – wie schon der Name sage – nichts anderes als eine Analogie.610 Mit diesen Ausführungen werden der Prozeß der Rechtsanwendung und 607 Nicht treffend Stratenwerth, Strafrecht AT I, § 3, Rn. 32: „Analogie bedeutet Ähnlichkeit, und ähnlich ist einander nur, was teilweise übereinstimmt, teilweise nicht. Da sich juristisch relevante Sachverhalte niemals völlig gleichen, ist es das eigentliche Geschäft der Juristen, Übereinstimmung und Verschiedenheit aufzudecken, also Analogien festzustellen.“ – Das eigentlich juristische Geschäft ist das durch Auslegung vorzubereitende Urteil, ob im Hinblick auf die gesetzliche Wertung Übereinstimmung (Identität) oder eben nur Ähnlichkeit vorliegt! Der Gesetzeswortlaut setzt dabei Grenzen. Auch in Stratenwerths Beispiel (a. a. O.) werden Entsprechung und bloße Ähnlichkeit zu Unrecht synonym gesetzt: „. . . erfordert die Feststellung, daß dieser Fall den zweifelsfrei gemeinten in wesentlicher Hinsicht . . . entspricht: das heißt analog ist.“ 608 Engisch, Einführung, S. 65: Auslegung des Rechtsbegriffs ist logische Voraussetzung der Subsumtion. 609 Zum Einfluß des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf die Rechtsanwendung siehe unten VI 3. 610 Siehe Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 9, 11, 74, 80, 84, 86. Die Analyse weist weitere Merkwürdigkeiten auf, z. B. (S. 11) soll der Gesetzgeber „anläßlich dieses Urteils“ § 250 StGB geändert haben, obwohl eine Änderung erst durch das EGStGB von 1974, also 24 Jahre später erfolgte und zu einer noch weiteren Textfassung führte („Waffe oder sonst ein Werkzeug oder Mittel“, § 250 I Nr. 2). Belege und Begründungen – etwa für die Behauptung, Salzsäure sei nach dem noch möglichen Wortsinn keine „Waffe“ (S. 74) – finden sich in der Analyse gar nicht, obwohl etwa die Gesetzesverfasser des § 223a StGB a. F. den Waffenbegriff eindeutig untechnisch verstanden, also auch ein Stuhlbein darunter subsumierten (vgl. unten Kap. IV, Fn. 238). Auch daß die h. M. BGHSt 1, 1 als Verstoß gegen die Wortlautgrenze ein-

7. An der Wortlautgrenze

201

der Anknüpfungspunkt des Analogieverbots nicht zutreffend erfaßt und schon gar nicht schlüssig bewiesen, daß jede Auslegung analogisch verfahre! Erkenntnis- oder sprachtheoretisch mag eine „Analogie“ vorliegen, aber juristisch ist damit etwas anderes gemeint.611 Das hier angedeutete Grundlagenproblem kann nicht en passant entschieden werden, aber daß jede Gesetzesauslegung oder Rechtsanwendung „analogisch“ verfahre und einen Fallvergleich beinhalte, ist wenig plausibel, wie ein einfaches Beispiel zeigt: Angenommen, der Gesetzgeber verwendet den Ausdruck „Haft“, und es ist unklar, ob damit nur Untersuchungshaft oder jede Art von Freiheitsentzug gemeint ist. Die Gesetzesmaterialien belegen eindeutig, daß nur U-Haft gemeint war, und das Gericht folgt dieser Auffassung. Inwiefern ist dieses (korrekte) Vorgehen „analogisch“ und inwiefern beruht es auf einer Gleichsetzung ähnlicher Fälle?

j) Zusammenfassung zu III. 7. Im Problemkreis „Wortlautgrenze“ wurde zwischen theoretischen Vorfragen, die mit der Konzeption vom „möglichen Wortsinn“ als Auslegungsgrenze verbunden sind (III 7 a–f), und der praktischen Handhabung dieses Kriteriums (III 7 g) unterschieden. Viele Aspekte, die bereits bei der Ermittlung der Wortbedeutung erörtert wurden (vgl. oben III 1–6), spielen im Grenzbereich der Auslegung wiederum eine Rolle, verdienen dort allerdings erneute Betrachtung. Als Abgrenzungskriterium ist der mögliche Wortsinn nicht das allein denkbare (III 7 a). In der amtlichen Sammlung sind vereinzelte Äußerungen zu finden, die statt dessen maßgeblich auf Sinn und Zweck oder auf die historische Vorstellung des Gesetzgebers abstellen wollen, um das sachlich gebotene Ergebnis zu erreichen. Nicht zuletzt aufgrund verfassungsgerichtlichen Einflusses dürften diese Positionen jedoch überholt sein; die Relevanz einzelner „Ausreißer“ in der Diskussion methodologischer Grundlagen darf freilich nicht unterschätzt werden.612 Als unrealistischer Standpunkt erweist sich die vielfach vertretene These, daß die aus Art. 103 II GG hergeleitete Wortlautgrenze aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen ist (III 7 b). Das gilt nur dann, wenn es tatsächlich um die Auslegung gemeinsprachlicher Begriffe geht, während im übrigen – und so verfährt implizit die Praxis – vom Vorrang der Fachsprache auszugehen ist. In Theorie und Praxis bleibt allerdings unreflektiert, daß auch für die Fachsprache aus Art. 103 II GG Grenzen der Auslegung folgen: Der Bürger ist vor überraschenden, lediglich für den Einzelfall geltenden juristischen Begriffsbildungen geschützt. Ist die Grenze nach dem Sprachgebrauch des Alltags zu ermitteln, zieht die Rechtsprechung nur selten die dafür an sich geeigneten Bedeutungswörterschätze (S. 86), bleibt unbelegt (z. B. vereinnahmt Krey, Studien, S. 166, Fn. 19, die „ganz h. M.“ für das gegenteilige Ergebnis). 611 Vgl. nochmals Busse, oben Kap. II, Fn. 24. 612 Zum Ausreißer-Phänomen siehe auch unten Kap. V, Fn. 158.

7. An der Wortlautgrenze

203

überschreitungen; aufschlußreich sind die mitunter trickreichen Versuche des Schrifttums, die Vereinbarkeit mit dem Wortlaut darzutun. Bei semantischen Zweifelsfällen fällt auf, daß die Senate zuweilen vorschnell eine Wortlautüberschreitung bejahen, ohne den sprachlichen Rahmen tatsächlich auszuloten (cc); Art. 103 II GG kann sich so als „Totschlagsargument“ erweisen, das jeden Einwand im Keim erstickt. Statt dessen sollte bei nicht ausräumbaren Zweifeln, aber erst nach Unternehmung aller begrifflichen Anstrengungen nach Art einer Beweislastregel von der Subsumtion abgesehen werden. In einer Reihe von Grenzfällen müht der BGH sich redlich, um die Vereinbarkeit der Subsumtion mit dem Gesetzestext zu belegen (dd). Belegt werden können jedoch auch eklatante Begründungsschwächen (ee); sie sind besonders ärgerlich, wenn eine sprachliche Argumentation hätte geleistet werden können; sie sind verständlich und leicht aufzuzeigen, wenn an der Überschreitung des semantischen Rahmens nicht ernsthaft zu zweifeln ist. Am bedenklichsten sind Entscheidungen, die es trotz Offensichtlichkeit der Problematik oder entsprechender Mahnungen gänzlich an Problembewußtsein fehlen lassen (ff). Nicht zu rechtfertigen sind typische Argumentationsmuster, mit denen der Wortlaut umgangen oder sein Wert diskreditiert wird (gg). Ergänzend werden einige im Schrifttum genannte Fälle der Wortlautüberschreitung untersucht (hh). Die Frage, welche Gründe die Rechtsprechung zu wortlautfernen Interpretationen treibt, ist ohne Belang; die formale Grenze muß sich gerade gegen die (unzweifelhaft existierenden) stärksten materiellen Gründe behaupten. In einem theoretischen Nachspann werden zwei Sonderprobleme beleuchtet. In der Problematik der Wortlautunterschreitungen bei tätergünstigen Normen (III 7 h) vertritt der BGH hinsichtlich der Anwendbarkeit des Art. 103 II GG eine großzügige Linie. Die Begründungen im Einzelfall bieten die gleichen Angriffspunkte wie bei den Wortlautüberschreitungen. Obgleich besonders hier Normen von hohem Abstraktionsniveau zur Prüfung stehen, kann häufig ein Wortlautverstoß überzeugend dargelegt werden. In einen methodologischen Grundlagenstreit führen die nicht seltenen Formulierungen, wonach ein Fall dem anderen „gleichzusetzen“ oder „gleichzustellen“ sei (III 7 i).

IV. Entstehungsgeschichte 1. Vorüberlegungen/Terminologisches a) Allgemeines Die historische Auslegung spielt in der Rechtsprechung des BGH in Strafsachen eine beträchtliche Rolle. Nicht nur, daß die Strafsenate häufig die Materialien zu Rate ziehen und die geschichtliche Entwicklung der Normen befragen, sondern bemerkenswert ist außerdem das Facettenreichtum entstehungsgeschichtlicher Argumentationsmuster. In Anbetracht des quantitativen Umfangs und der Vielfalt der Argumente1, von der hier ein Einblick gegeben werden soll, verwundert es, wenn der Wert der historischen Auslegung in Rechtsprechung und Literatur immer wieder und zwar von prominentester Seite angezweifelt wird. So ist davon zu lesen, die geschichtliche Auslegung sei „von sehr zweifelhaftem Wert“2 oder ein „Hilfsmittel letzten Ranges“3. Auch das BVerfG hat dieses Auslegungskriterium anfänglich sehr gering geschätzt, dennoch aber selbst nicht selten darauf zurückgegriffen4. Der BGH in Strafsachen hat sich ebenfalls hin und wieder in diesem Sinn geäußert, praktisch aber unbeeindruckt davon Gebrauch gemacht.5 Selbst beim wenig durchdachten 6. StrRG von 1998, das nach fast allgemeiner Ansicht als verunglückt anzusehen ist,6 haben die Strafsenate die Materialien häufig herangezogen, um dem Willen des 1

Honsell, Historische Argumente, S. 128 f. (bezüglich der Rechtsprechung des RG). Jagusch, in: LK-StGB8, § 2, Anm. I 3 a (S. 58) und Tröndle, in: LK-StGB10, § 1, Rn. 44. 3 Maurach, Strafrecht AT, S. 101. 4 Siehe Sachs, DVBl. 1984, 73 (76 ff.), Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 800 und unten IV 2. 5 Larenz, Methodenlehre, S. 330, Fn. 35: Höchstrichterliche Rechtsprechung hat Entstehungsgeschichte immer und maßgeblich herangezogen! Ebenso BGHZ 46, 74 (80), vgl. unten IV 2 am Ende. Siehe auch die Feststellung Tröndles in GA 1962, 226, der BGH in Strafsachen verwende stets besondere Sorgfalt auf die Ermittlung der Entstehungsgeschichte. Rahlf (in: Juristische Dogmatik, S. 27) stellt bei seiner Untersuchung der in NJW 1971 enthaltenen strafrechtlichen BGH-Entscheidungen fest, daß die Berücksichtigung gesetzgeberischer Vorstellungen „in voller Blüte“ stehe; wo immer nur möglich, ziehe der BGH die Materialien heran (S. 37). 6 Vgl. nur Dencker u. a., Einführung in das 6. StrRG, Einleitung, S. 1-4; speziell zu den §§ 306 ff. StGB: Schroeder, GA 1998, 571 („Technische Fehler beim neuen Brandstiftungsrecht“); Fischer, NStZ 1999, 13 („Strafrahmenrätsel im 6. Strafrechtsreformgesetz“). 2

1. Vorüberlegungen/Terminologisches

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Gesetzgebers so weit als möglich zum Durchbruch zu verhelfen7. Angesichts dessen soll es hier zum einen darum gehen, die ausdrücklichen Stellungnahmen der Strafsenate zur Frage der Verwertbarkeit historischer Argumente auszuwerten und die darin möglicherweise enthaltenen Widersprüche zu erklären. Zum anderen soll der Rang historischer Argumente im Kanon der Auslegungskriterien anhand ihrer tatsächlichen Verwendung durch die Strafsenate ermittelt werden. In einer umfangreichen Heranziehung dieser Argumentationsmuster kommt in gewissem Maß auch ihre Wertschätzung zum Ausdruck, zumal wenn konkurrierende Auslegungselemente im Raum stehen. Wie die Strafsenate sich im Streit zwischen objektiver und subjektiver Theorie entscheiden, zeigt sich oftmals in einzelnen historischen Argumentationsmustern, etwa bei der Frage, wie der Wandel tatsächlicher oder rechtlicher Umstände im Prozeß der Auslegung berücksichtigt werden kann. Solche und ähnliche Themen sollen hier veranschaulicht werden. Wenig Erfolg verspricht demgegenüber eine rein statistische Auswertung der in den Urteilen enthaltenen entstehungsgeschichtlichen Argumente. Daraus würde zwar ersichtlich, daß ihre Anzahl in der Rechtsprechung für Strafsachen Legion ist, aber dennoch wären entsprechende Rückschlüsse auf den normativen Rang dieser Argumente problematisch. Gegen eine statistisch verfahrende Auswertung sprechen methodische Gründe: So könnte etwa aus der Tatsache, daß in Band 1–5 der amtlichen Sammlung seltener historische Argumente auftauchen als in Band 23–278 nicht eindeutig auf eine höhere Wertschätzung der Entstehungsgeschichte geschlossen werden, da die Entscheidungen zu einem jeweils unterschiedlichen Normenbestand ergangen sind. Das Alter der zugrundeliegenden Gesetze – so waren in Band 23–27 viele Folgefragen der Reformgesetzgebung der 1960er und 1970er Jahre zu klären – könnte sich somit als intervenierende Variable erweisen und eine Erklärung für die unterschiedlich häufige Nutzung historischer Argumente bieten. Ein Ansteigen oder Abnehmen historischer Auslegung in der amtlichen Sammlung wäre somit nicht ohne weiteres Beleg für eine sich ändernde methodologische Konzeption.9 Eine Suche nach Stichwörtern aus dem Bereich historischer Argumentation mit anschließender quantitativer Auswertung dürfte insgesamt wenig erfolgversprechend sein und allenfalls belegen, daß die Senate seit eh und je auf die Entstehungsgeschichte zurückgreifen. In BGHSt 1–44 verwendet der BGH beispielsweise ca. 540 mal die Ausdrücke „Entstehungsgeschichte“ oder „Materialien“, davon 280 mal in Band 1–22 und 260 mal in Band 23–44. Das Stichwort „amtliche Begründung“ (mit 7 Siehe z. B. BGHSt 45, 131 (133); 45, 211 (217 f.). In BGHSt 47, 243 scheitert die Berücksichtigung am entgegenstehenden Wortlaut. 8 Kein zwingender Beleg, aber ein Indiz hierfür ist, daß in Band 1–5 das Wort „Entstehungsgeschichte“ 46 Mal, in Band 23–27 aber 70 Mal auftaucht, das Wort „Materialien“ in Band 1–5 nur dreimal, in Band 23–27 hingegen 22 Mal verwendet wird. 9 Honsell, Historische Argumente, S. 169.

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IV. Entstehungsgeschichte

Varianten) erscheint 226 mal, davon 137 mal in Band 1–22 und 89 mal in Band 23– 44. Der „Wille des Gesetzgebers“ (gesetzgeberischer Wille u. ä.) taucht ca. 220 mal, 100 mal in den frühen, 120 mal in den späteren Bänden auf. Ein ausgeglichenes Verhältnis über die gesamte amtliche Sammlung hin zeigt sich auch beim historischen Auslegungsmittel der „Entwürfe“, die insgesamt 733 mal herangezogen werden, davon 370 mal in Band 1–22 und 363 mal in Band 23–44. Eine Tendenz ist allerdings beim Rückgriff auf amtliche „Drucksachen“ (u. ä.) zu erkennen: Sie werden ca. 840 mal zitiert, davon jedoch weit überwiegend in den späteren Bänden (154 gegenüber 680, in Band 41–44 sogar insgesamt so häufig wie in Band 1–20!). Schlußfolgerungen aus dieser quantitativen Steigerung bleiben trotzdem schwierig, denn es stellt sich die Frage, ob sich für die frühe Rechtsprechung des BGH die Heranziehung von „Drucksachen“ angesichts des im Durchschnitt sicher älteren Normenbestands im gleichen Maß anbot. Womöglich kann der historische Wille des Gesetzgebers auch – gerade bei älteren Gesetzen – auf andere Art ermittelt werden, und die Entstehungsgeschichte kann auch als maßgeblich zugrunde gelegt werden, ohne zahlreiche Nachweise aus den „Drucksachen“ zu liefern. Zu prüfen wäre daneben, ob die Rechtsprechung der Nachkriegszeit eine gleichmäßige Zitiertechnik verwendet. So ist die Genauigkeit und Quantität der Literaturnachweise in der neueren Rechtsprechung deutlich größer als früher, was für die Gesetzesmaterialien gleichfalls gelten könnte. Schließlich sprechen die bereits genannten historischen Argumentationsmuster („amtliche Begründung“!) dagegen, aus den vermehrten Hinweisen auf die „Entwürfe“ methodisch Relevantes zu schließen. Für die Rechtsprechung des BGH in Zivilsachen in den Jahren 1950–1983 (BGHZ 1–87) gelangt Wedel10 zu dem Ergebnis, daß die Zivilsenate ca. in jedem vierten Fall (23,4 %) entstehungsgeschichtlich argumentieren; die dabei festzustellende leicht steigende Tendenz führt Wedel auf die Vielzahl der Gesetzesänderungen in jüngerer Zeit zurück11. Honsell vergleicht zum BGB ergangene Entscheidungen des Reichsgerichts aus den Jahren 1900–1907 (RGZ 46–65) mit solchen des BGH aus dem Zeitraum zwischen 1968–1978 (BGHZ 51–70): Von den erfaßten Urteilen des RG argumentierten die Hälfte historisch, von denen des BGH nur ein Drittel12; das Interesse an Einzelheiten der Entstehungsgeschichte sei insgesamt stark zurückgegangen13; es liege die Vermutung nahe, daß der Gebrauch historischer Argumente maßgeblich vom Alter der einschlägigen Gesetze abhängt14. Letzteres wird von Muscheler bestätigt, der nach Auswertung der Bände BGHZ 125–135 zu dem Ergebnis gelangt, daß 39 % der Entscheidungen sich der historischen Auslegung bedienen; der Anstieg der Quote gegenüber der Auswertung von Honsell resultiere daraus, daß die Untersuchung nicht auf das BGB beschränkt war und damit erheblich mehr jüngere Gesetze auszulegen waren.15

10 11 12 13 14 15

Wedel, Entstehungsgeschichtliche Argumente, S. 10. Wedel, Entstehungsgeschichtliche Argumente, S. 29 mit Beispielen. Honsell, Historische Argumente, S. 130. Honsell, Historische Argumente, S. 142. Honsell, Historische Argumente, S. 170 f. Muscheler, in: FS für Hollerbach, S. 111 ff.

1. Vorüberlegungen/Terminologisches

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Die These, daß neue Gesetze häufiger auf ihre Entstehungsgeschichte hin untersucht werden als alte, ist kaum zu bestreiten.16 Als willkürlich herausgegriffenes Beispiel kann etwa das 1972 in Kraft getretene BZRG genannt werden: Von den ersten, in BGHSt 24–29 abgedruckten 14 Entscheidungen beschäftigt sich der überwiegende Anteil mit der Entstehungsgeschichte.17 Ob die Materialien herangezogen werden, wird allerdings maßgeblich von ihrer Qualität und Aussagekraft abhängen. Angesichts des wuchernden Präjudizienmaterials wird die Entstehungsgeschichte im Lauf der weiteren Normexegese an Einfluß verlieren, was freilich keine Abweichung vom historischen Willen des Gesetzgebers bedeutet. Fraglich ist bei alldem nur, ob eine Pflicht des Rechtsanwenders besteht, jüngere Gesetze stärker auf ihre Entstehungsgeschichte hin zu untersuchen, und ob die so gewonnenen Erkenntnisse über den Willen des Gesetzgebers bindend sind.18 Gegenüber der Auslegung sonstiger Gesetze besteht die methodologische Besonderheit bei jüngeren Gesetzen wohl nur darin, daß der Topos „Wandel der Verhältnisse“ (siehe dazu unten IV 5) nicht zur Überwindung des gesetzgeberischen Willens in Betracht kommt. Eine statistische Untersuchung – aber nicht nur sie! – müßte sich zudem mit dem grundsätzlichen Einwand von Naucke und anderen auseinandersetzen, wonach die Praxis die subjektive (und objektive) Auslegung nur dazu nutze, um ihr bereits anderweitig gefundenes Ergebnis formulierbar zu machen; könne das Ergebnis subjektiv begründet werden, greife die Praxis darauf zurück, weil dies das „knappste und klarste Verfahren“ der juristischen Begründung sei.19 Dieser Einwand verfängt aber jedenfalls nicht gegenüber den unstreitig existierenden Fällen, in denen die Praxis Konflikte zwischen Auslegungskriterien offenlegt und ausdrücklich darüber entscheidet. Im übrigen ist zu bedenken, ob die „Formulierbarkeit“ eines Ergebnisses nicht auch für seine inhaltliche Richtigkeit spricht!

Siehe neben den bereits Genannten noch Eser, in: Schönke/Schröder, StGB26, § 1, Rn. 44; Jescheck, GA 1954, 322 (325): „naturgemäß“; Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 103 (Fn. 310 m. w. N.); Rahlf, in: Juristische Dogmatik, S. 35; Muscheler, in: FS für Hollerbach, S. 113 (tendenziell größere Rolle); zweifelnd allerdings Hassold, ZZP 1981, 192 (203). 17 BGHSt 24, 378 (380); 25, 19 (23); 25, 24 (26 f.); 25, 81 (83); 25, 97 (99); 25, 100 (104); 25, 301 (305); 29, 252 (255 ff.). In BGHSt 25, 100 (104) und 25, 141 (142) schließen die Senate aus anderen Vorschriften auf einen bestimmten Willen des Gesetzgebers, BGHSt 25, 64 (66) sieht keine Anhaltspunkte für einen gegenteiligen Willen des Gesetzgebers. Keine Erörterung der Historie erfolgt in BGHSt 25, 172 (Zustimmung zu BGHSt 25, 141; beide Entscheidungen aufgegeben von BGHSt 25, 301); 25, 232; 27, 108. 18 Vgl. das schweizerische Bundesgericht, BGE 112 Ia, 97 (114): „Insbesondere bei jungen Gesetzen darf der Wille des historischen Gesetzgebers nicht übergangen werden.“ 19 Naucke, in: FS für Engisch, S. 279 f.; siehe z. B. schon Endemann, DJZ 1910, 18 (22): „Die Berufung auf die . . . Motive macht ohnedem keinen Eindruck mehr, da der Sachkundige weiß, daß sie nur dann als maßgebend hingestellt werden, wenn sie das sagen, was wir gerade wünschen.“ 16

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IV. Entstehungsgeschichte

Eine weitere methodische Schwierigkeit, den Wert der historischen Argumente innerhalb von Gerichtsentscheidungen zu ermitteln, besteht darin, daß Urteilsanalysen nur schwerlich untersuchen können, ob eigentlich in Betracht kommende Argumente gänzlich fehlen bzw. verschwiegen werden. Freilich ist diese Gefahr nicht groß, denn ein Außerachtlassen der sonst ubiquitär verwendeten Entstehungsgeschichte wäre ein Kunstfehler, der die Seriosität der Argumentation in Frage stellte. Zudem ist es unwahrscheinlich, daß ein die Lösung fördernder historischer Aspekt nicht von irgendeiner Seite im Revisionsverfahren vorgetragen würde oder bereits zuvor in der Literatur diskutiert wurde. Ein Unterschlagen solcher Gesichtspunkte in der abschließenden Entscheidung des BGH ist kaum realistisch. Zumindest müßten die Senate sich in dieser Situation dahingehend äußern, daß sie der Entstehungsgeschichte generell keinen Wert im Prozeß der Normkonkretisierung zubilligen. b) Historische, genetische, evolutionäre Auslegung Terminologisch wird im Rahmen historischer Argumentation oftmals zwischen „genetischer“ und historischer Auslegung im engeren Sinn differenziert.20 Während der genetische Aspekt nach den (subjektiven) Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten fragt, geht es bei der historischen Auslegung darum, die Rechtsentwicklung zu betrachten und einen Vergleich zu Vorläufernormen zu ziehen.21 Will man die terminologische Anleihe bei der Biologie vervollständigen, könnte man die entwicklungsgeschichtliche22 Auslegung auch als „evolutionäre“ bezeichnen und der genetischen gegenüberstellen. Die terminologische Differenzierung zwischen historischer und genetischer Auslegung dient nicht nur der besseren Einteilung der verschiedenen historischen Argumentationsmuster, sondern bringt auch nennenswerte auslegungstheoretische Unterschiede zum Ausdruck. Das zeigt sich darin, daß die in der Rechtsprechung zuweilen vorgetragenen Einwände gegen jede Verwendung historischer Hilfsmittel in aller Regel deren „genetischen“ Anteil betreffen. Bedenken und Vorbehalte werden eher gegenüber inhaltlichen Vorstellungen der Gesetzgebungsorgane über die Reichweite der Vorschrift geäußert, während die Sinn20

Z. B. Brugger, AöR 1994, 1 (26); näher F. Müller, Methodik, S. 267–269. Die Terminologie ist keinesfalls zwingend. Ebenso schlüssig spricht etwa Coing (Methodenlehre, S. 26) von genetischer Auslegung als Oberbegriff und faßt darunter einen subjektiv-biographischen (Individualität des Autors) sowie einen objektiv-geistesgeschichtlichen Anteil. Maurer (Staatsrecht, § 1, Rn. 52, 54) differenziert zwischen Entstehungsgeschichte (Vorstellungen des historischen Gesetzgebers) und historischer Auslegung (Leitbilder und Umstände zur Zeit der Gesetzgebung und Rückgriff auf frühere Gesetze). Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang, daß die historische Auslegung subjektive wie objektive Merkmale aufweist. 22 Von der „Entwicklungsgeschichte“ der Vorschrift spricht z. B. BGHSt 13, 219 (221). 21

1. Vorüberlegungen/Terminologisches

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ermittlung mittels Vergleichs von Normen aus unterschiedlichen Zeitschichten weitgehend unkritisch betrieben wird. Trotz dieses relevanten Unterschieds werden beide Varianten hier nicht getrennt untersucht, weil dadurch viele Zusammenhänge auseinandergerissen würden. So enthält z. B. die Berücksichtigung von Gesetzesentwürfen sowohl einen objektiv-historischen Anteil (Was ergibt sich aus einem Vergleich des Entwurfs zur lex lata?) als auch einen subjektivhistorischen (Was haben die Verfasser des Entwurfs gemeint?). Bei der Erörterung der einzelnen Gesichtspunkten sollte hinreichend deutlich werden, um welchen Aspekt historischer Auslegung es gerade geht. Ganz schulmäßig differenziert z. B. BGHSt 6, 304 (306): (1) Die Frage sei im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt, (2) die Gesetzesmaterialien ergäben ebenfalls nichts und (3) auch ein Vergleich mit früheren Fassungen sei hier unergiebig.

c) Objektive versus subjektive Theorie Von allen Problemen der Gesetzesinterpretation ist der Streit zwischen „subjektiver“ und „objektiver“ Theorie wohl das prominenteste. Dahinter verbergen sich begriffliche wie inhaltliche Schwierigkeiten, so daß jede Verständigung in diesem Bereich auf erhebliche Widerstände stößt. Verkürzt gesagt geht es darum, ob bei der Ermittlung der Bedeutung gesetzlicher Bestimmungen die Vorstellungen der Gesetzesverfasser (wer immer darunter fallen mag) zugrunde zu legen sind oder ob es statt dessen auf einen (wie auch immer zu ermittelnden) objektiven, gegenwärtigen Sinn ankommen muß.23 Häufig ist insofern vom „Auslegungsziel“ die Rede, doch trifft diese Formulierung den Sachverhalt nicht präzise, weil „Ziel“ der Auslegung nur die Klärung der Normbedeutung für den konkreten Fall sein kann.24 Die Feststellung eines gesetzgeberischen „Willens“ kann deshalb allenfalls Etappenziel oder leitender Gesichtspunkt, nicht aber Ergebnis der Auslegung sein, da dadurch die fallentscheidende Konkretisierung des Gesetzes noch nicht geleistet ist. Bereits erwähnt wurde, daß die Thematik nicht allein das historische Auslegungskriterium, sondern auch die übrigen Elemente betrifft:25 Beim Wortlaut kann sich die Frage stellen, ob der Sprachgebrauch der Gesetzesverfasser oder ein „objektives“ Sprachverständnis der übrigen Rechtsgemeinschaft entscheidend ist, bei der teleologischen Auslegung können die Zielvorstellungen objektiv oder subjektiv ermittelt werden.

23 Eindeutig z. B. RGSt 77, 176 (177 f.): Der ursprüngliche Zweck der Vorschrift könne dahinstehen, denn entscheidend für die Auslegung sei „der Zweck, der sich aus der . . . gegenwärtigen Fassung des StGB einschließlich der in letzter Zeit neu aufgenommenen Bestimmungen ergibt.“ 24 Anders z. B. H. J. Müller, JZ 1962, 471: Die Klarstellung des Sinngehalts verstehe sich als Interpretationszweck von selbst. Siehe zum Ganzen auch oben II 1 sowie Kap. III, Fn. 17. 25 Siehe Wank, Auslegung, S. 33, 42, 63, 73, 79 und Gern, VA 1989, 415 (421).

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IV. Entstehungsgeschichte

Freilich ist die historische, insbesondere die genetische Auslegung Hauptschauplatz des Streits. Er kommt in zahlreichen Einzelaspekten zur Geltung, die hier erörtert werden. Wichtig ist es allerdings, begrifflich zwischen „historischer“ und „subjektiver“ Auslegung zu unterscheiden. Während mit historischer Auslegung nur das Erkenntnismittel innerhalb des Kanons gemeint ist, das durchaus auch von (gemäßigten) „Objektivisten“ zur Sinnermittelung herangezogen werden kann26, geht es beim Konflikt zwischen objektiver und subjektiver Gesetzesinterpretation um die normative Frage nach dem leitenden Gesichtspunkt des gesamten Auslegungsvorgangs, letztlich also um ein Rangfolgeproblem, dem in Anbetracht von Art. 20 III, 97 I GG sogar verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt. Die Positionen und Argumente im Streit zwischen objektiver und subjektiver Gesetzesauslegung können hier nicht vollständig dargestellt werden, zumal beide Theorien in einer Vielzahl von Varianten vertreten werden.27 Um jedoch den Standpunkt des BGH besser einordnen zu können und Extrempositionen ein wenig zu entkräften, sei auf einige Aspekte hingewiesen, die deutlich machen sollen, daß beiden Theorien nur „Teilwahrheiten“28 zugrunde liegen und beide in reiner Form nicht haltbar sind29. Für den Standpunkt der subjektiven Auslegung spricht zunächst der verfassungsrechtliche Aspekt der Gewaltenteilung, der in Art. 20 III, 97 I GG in der Bindung des Richters an das Gesetz seinen Ausdruck findet.30 Damit ist zwar nicht explizit gesagt, daß auch eine Bindung an die in den Gesetzesmaterialien geäußerten Auffassungen besteht, aber sicher sollte daraus doch ein Vorrang der gesetzgeberischen Wertentscheidung vor der des Richters folgen, der den abstrakten Regelungsrahmen zu realisieren hat. In heute nicht mehr gängiger Terminologie: „Das Gesetz ist seinem Wesen nach Befehl und daher im Sinne dessen auszulegen, der den Befehl gegeben hat.“31 26 Subjektivisten werden den Wert der Entstehungsgeschichte nur höher einschätzen; vgl. Rahlf, in: Juristische Dogmatik, S. 31. 27 Siehe zum Ganzen Engisch, Einführung, S. 112 ff., Hassold, ZZP 1981, S. 192 ff., Kramer, Methodenlehre, S. 96 ff., Liver, Der Wille des Gesetzes, S. 19 ff. und Stratenwerth, in: FS für Germann, S. 257 ff. Mit einem weiteren Vorschlag zum Sprachgebrauch treibt Schwalm (in: FS für Heinitz, S. 52 ff.) das Begriffschaos auf die Spitze. 28 Larenz, Methodenlehre, S. 317. 29 So z. B. Hassold, ZZP 1981, 192 (209). 30 Weder notwendig noch überzeugend ist es, auch aus dem „strengen Gesetzesvorbehalt“ des Art. 103 II GG eine stärkere Berücksichtigung der subjektiven Methode zu fordern; so aber z. B. Nolte, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 103 II GG, Rn. 160 und U. Schroth, Subjektive Auslegung, S. 117; dagegen: Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 103, Stand: 12/1992, Rn. 228. 31 Mayer, Strafrecht, S. 118. Mit dem darin zum Ausdruck kommenden Hierarchieverhältnis zwischen „befehlendem“ Gesetzgeber und „gehorchendem“ Richter tun viele Juristen sich offenbar schwer. Wer diese Probleme vermeiden will, sollte eine rechtspraktische bzw. soziologische Perspektive einnehmen, welche das arbeitsteilige Vorgehen beider Organe auf dem Weg zur abschließende Entscheidung hervorkehrt.

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Warum insoweit nicht maßgeblich auf die Materialien, die am ehesten Aufschluß über die Regelungsabsichten des Gesetzgebers geben dürften, abgestellt werden darf, ist nicht ersichtlich. Auch aus hermeneutischer Sicht wäre es überraschend, bei der Sinnermittlung eines Textes die Motive des Verfassers und die historische Situation außer acht zu lassen. Zu bedenken ist, daß die Legislativorgane die Regelung einer konkreten rechtspolitischen Fragestellung beabsichtigten und mithin der Nachvollzug dieses Vorgangs am ehesten Aufschluß über die gewollte Problemlösung gibt: Um die Antwort zu verstehen, muß man die Frage kennen!32 Deshalb werden auch gemäßigte Varianten einer objektiven Theorie auf entstehungsgeschichtliche Argumente kaum verzichten,33 sondern ihnen allenfalls im Konflikt mit anderen Kriterien einen geringeren Wert zusprechen.34 Als Vorteile der subjektiven Theorie sind die relative Einfachheit ihrer Handhabung und ein recht hohes Maß an der durch sie ermöglichten Vorhersehbarkeit der Entscheidungen35 zu nennen; daneben ergeben sich aus ihr auch für Rechtsfortbildungen klare Leitlinien. Hinsichtlich der subjektiven Theorie sind noch folgende Klarstellungen angebracht: Wenig plausibel ist die gelegentlich anzutreffende Meinung, wonach besonders die demokratische Legitimierung des Gesetzgebers für eine subjektive Auslegungstheorie streite.36 Auf diese staatsrechtliche „Zufälligkeit“ kommt es jedoch nicht an, denn wäre ein Monarch oder Despot der souveräne Gesetzgeber, spräche die Staatsform nicht minder – vielleicht sogar noch eher (dazu sogleich) – für die Durchsetzung des gesetzgeberischen „Willens“ gegenüber „objektiven Kriterien“. Entscheidend ist insoweit allein die staatsrechtliche Trennung zwischen Legislative und Judikative und die damit einhergehende Bindung des Richters an eine fremde (!) Wertentscheidung, mag sie einem demokratischen oder absolutistischen Souverän entspringen.37 Das Mißverständnis beruht darauf, daß uns die demokratische Legitimation des Gesetzgebers heute als verfassungspolitisch und -rechtlich einzig überZudem ist zu berücksichtigen, daß auch die Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers nicht vollkommen ist, sondern durch richterliche Interpretationsfreiheiten eine unvermeidliche Einschränkung erfährt, vgl. Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 302 ff., 305. 32 Burckhardt, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 218; Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 376 (unter Berufung auf Collingwood): „In Wahrheit kann man einen Text nur verstehen, wenn man die Frage verstanden hat, auf die er die Antwort ist.“ 33 Siehe z. B. Zippelius, JZ 1999, 115: Historische Auslegung gibt rationale Hinweise auf den Gesetzeszweck. 34 Eine extrem-objektive Position, die der Entstehungsgeschichte jeden Erkenntniswert abspricht, dürfte kaum noch vertreten werden. Der entscheidende Gesichtspunkt des Streits besteht somit in der Frage, ob ein festgestellter Wille des historischen Gesetzgebers durch andere Kriterien überwunden werden darf, letztlich also in einem Rangfolgeproblem. 35 Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825 (2831). 36 Wank, Auslegung, S. 34. Eher für die objektive Theorie wird die gewaltenteilende repräsentative Demokratie von Zippelius (Methodenlehre, S. 23 f.) vereinnahmt. 37 Deshalb nicht überzeugend Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 708, der die Gesetzesbindung des Richters als „elementaren Bestandteil des Demokratieprinzips“ auffaßt. Rich-

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zeugende Lösung erscheint; aber diese Präferenz ist für den Streit zwischen objektiver und subjektiver Theorie ohne Belang. Merkwürdig ist weiter, daß in diesem Zusammenhang immer wieder die Frage auftaucht, welche von beiden Auslegungstheorien in höherem Maß dazu geeignet ist, der Durchsetzung von Vorstellungen eines (nationalsozialistischen o. a.) Unrechtssystems Hindernisse in den Weg zu stellen. Eine solche Diskussion wird den tatsächlichen Möglichkeiten totalitärer Regimes in keiner Weise gerecht und ist wenig weiterführend. Dem Umbau des Rechtsystems im Sinn einer totalitären Ideologie stehen beide Auslegungstheorien hilflos gegenüber.38 Die subjektive Theorie mag für das ältere Recht wegen ihrer Anlehnung an den historischen Gesetzgeber noch kurzfristig „helfen“, aber schon eine einzige Auslegungsregel im jeweiligen Gesetz oder eine Verfassungsnorm, welche die Auslegung aller Normen im Geist der neuen Ideologie verlangte, würde hier Abhilfe schaffen.39 So hat beispielsweise der nationalsozialistische Gesetzgeber 1935 ausdrücklich das Reichsgericht von der Bindung an frühere Rechtsprechung befreit und es dazu verpflichtet, „darauf hinzuwirken, daß bei der Auslegung des Gesetzes dem durch die Staatserneuerung eingetretenen Wandel der Lebens- und Rechtsanschauung Rechnung getragen wird“.40 Und für das neue (nationalsozialistische) Recht versteht es sich von selbst, daß eine subjektive Auslegungslehre am ehesten im Interesse des neuen Regimes liegen wird.41 Mit Sicherheit wird man aber sagen können, daß jedenfalls eine kombinierte Verwendung beider Auslegungstheorien je nach Bedarf im konkreten Fall (Methodensynkretismus!) der Loslösung vom bisherigen Recht am besten gerecht wird; entsprechende Empfehlungen, in dieser Weise zu verfahren, wurden im Schrifttum nach 1933 auch tatsächlich gegeben.42 Für die Nachkriegszeit kann vermutet werden, daß das „Ansehen“ der subjektiven Theorie durch ihre Verknüpfung mit dem „Führerprinzip“ gelitten hat. Der prononciert objektivistische Standpunkt, den das BVerfG tig daran ist nur, daß eine Demokratie auf das rechtsstaatliche Element der richterlichen Gesetzesbindung kaum wird verzichten können. 38 „Freiheit lebt in den Herzen von Männern und Frauen; wenn sie dort stirbt, kann keine Verfassung, kein Gesetz und kein Gericht sie retten.“ (Learned Hand, zitiert nach Ehmke, F.A.Z. vom 14.8.2001, S. 44.) Siehe auch Strauch, KritVJ 2002, 311 (332 f.) und Looschelders/Roth, Methodik, S. 160 (Fn. 30) zur Diskreditierung der teleologischen Auslegung als „nationalsozialistische Rechtslehre“. Allgemein zur „Logik der Diskreditierung“ in Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus Vogel, ZStW 2003, 638 ff. (643). 39 Methodologisch gesehen (bei Einführung der Verfassungsnorm) im Weg verfassungskonformer Auslegung, vgl. Otte, NJW 1998, 1918 (1919). 40 Art. 2 des „Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes“ vom 28.6.1935, RGBl. I, S. 844. Das RG ist nicht davor zurückgeschreckt, von dieser Möglichkeit bereits vor Inkrafttreten dieses Gesetzes Gebrauch zu machen, siehe unten Fall 162. 41 So am deutlichsten Schwinge/Zimmerl, Wesensschau, 1937, S. 75: „Vor allem aber wird die subjektive Auslegungstheorie durch den Führergedanken gefordert.“ (Hervorhebung i. O.) Ebenso Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 87 und Mayer, Strafrecht, 1936, S. 118: Im Führerstaat bedürfe die Maßgeblichkeit der subjektiv-teleologischen Auslegung keiner weiteren Begründung. 42 Unmißverständlich wiederum Schwinge/Zimmerl, Wesensschau, S. 76; zurückhaltender gegenüber diesem „Dualismus der Methoden“ Engisch, Einheit der Rechtsordnung, S. 88 f.

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gleich zu Beginn seiner Tätigkeit eingenommen hat43, dürfte nicht ganz zufällig gewählt worden sein. Demgegenüber ist klarzustellen: Die subjektive Auslegung kann nicht mit einem Unrechtsregime in Sippenhaft genommen werden; sie hat als Methode allein „dienende“ Funktion44, ist wertneutral und kann vor allem durch die Legislative selbst für maßgeblich oder unmaßgeblich erklärt werden. Wirft man etwa dem Gesetz als Handlungsinstrument an sich vor, daß es auch Ziele der Nationalsozialisten transportierte? Die eigentliche Problematik ist in der bekannten Positivismus-Debatte angesiedelt mit der Frage, ob das durch ein Unrechtssystem gesetzte (ungerechte) Recht tatsächlich als Recht gültig ist. Dies ist weniger ein Thema der Methodenlehre als eines der Rechtsphilosophie und des Verfassungsrechts.

Den verfassungsrechtlichen, hermeneutischen und praktischen Vorzügen der subjektiven Theorie stehen jedoch zum Teil zwingende Einwände entgegen. Der wichtigste ergibt sich aus der Verfassung selbst, denn nach herrschender Lesart des Art. 103 II GG findet die Durchsetzung des gesetzgeberischen Willens ihre Grenze im möglichen Wortsinn.45 Widerspricht der Gesetzeswortlaut der – aus den Materialien erkennbaren – legislativen Vorstellung, so ist jedenfalls im Strafrecht keine Gesetzesanwendung zulasten des Täters möglich. Aus Erwägungen des Vertrauensschutzes erstreckt sich die Gesetzesbindung des Art. 97 I GG in diesem Fall nicht auf die subjektiven Vorstellungen der Gesetzesverfasser. Damit hat der Verfassungsgeber einen Teilaspekt im Streit zwischen objektiver und subjektiver Auslegung selbst entschieden. Daß solche Differenzen zwischen Wille und Erklärung vorkommen können und nicht generell im Sinn eines Vorrangs des Willens zu beseitigen sind, zeigen schon die vergleichbaren Regelungen der §§ 133, 157 BGB. Auch diese Bestimmungen regeln einen Streit zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Auslegung, wenn gemäß § 133 BGB bei Willenserklärungen nicht der buchstäbliche Ausdruck, sondern der wirkliche Wille maßgeblich sein soll, andererseits § 157 BGB für die Auslegung von Verträgen aber auch die Heranziehung objektiver Kriterien verlangt („Rücksicht auf die Verkehrssitte“). In einem ähnlichen Sinn könnte man Art. 97 I, 103 II GG deuten: In der Regel ist zwar der wirkliche Wille des Gesetzgebers entscheidend (Art. 97 I), nicht aber wenn berechtigte Vertrauensschutzinteressen Dritter – zivilrechtlich: der „Empfängerhorizont“ – im Weg stehen (Art. 103 II).

Weitere Argumente sprechen dafür, den Vorrang einer subjektiv-historischen Methode „nur im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten“46 anzuerkennen: Normen stehen in einem Beziehungsverhältnis zu weiteren Bestimmungen, wo43

Siehe BVerfGE 1, 299 (312) und unten IV 2. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, S. 89: „Da die Methode nicht Herrscherin, sondern Dienerin ist . . .“. 45 Noch zu vorsichtig BGHSt 42, 291 (293): „Da bereits nach dem Wortlaut der Norm keine Strafbarkeit besteht, kommt es auf den gesetzgeberischen Willen, wie er sich aus den Materialien ergibt, nicht mehr an.“ 46 Loos, in: FS für Wassermann, S. 129. 44

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mit Rangordnungsfragen aufgeworfen sind.47 Deshalb kann die mit einer Norm verbundene gesetzgeberische Zielvorstellung mit anderen Normen aus anderen Zeitschichten, d.h. auch mit Vorstellungen eines „anderen“ (früheren) Gesetzgebers in Konflikt geraten.48 In solchen Konstellationen kann der gesetzgeberische Wille nicht immer voll verwirklicht, sondern muß mit einem bereits bestehenden Normenbestand in Einklang gebracht werden und sich im Extremfall („verfassungskonforme Auslegung“) sogar gänzlich einer höherrangigen Vorschrift unterordnen.49 Große Schwierigkeiten hat die subjektive Theorie auch dann, wenn die Zielvorstellungen des Gesetzgebers in den Materialien gar nicht zum Ausdruck kommen50, der Gesetzgeber zu einem bestimmten Problem schweigt oder die Lösung ausdrücklich an Wissenschaft und Praxis delegiert oder, was selten sein mag, aber doch in Betracht gezogen werden muß, die Materialien komplett fehlen51. Auch dann kann der „Wille des Gesetzgebers“ möglicherweise erschlossen werden, aber eben nicht auf dem für die subjektive Theorie sonst typischen Weg.52 Problematisch sind außerdem Widersprüche innerhalb der Materialien sowie Fehlvorstellungen, die auf einem unzutreffenden Erkenntnisstand beruhen. Zuletzt zeigen die unvermeidlichen Änderungen der rechtlichen wie tatsächlichen Rahmenbedingungen der subjektiven Theorie Grenzen auf, wobei zu beachten ist, daß dem Gesetzgeber selbst daran gelegen sein wird, Normen an veränderte Umstände anzupassen, um die ursprüngliche Wertentscheidung lebendig zu halten. In gewisser Weise liegt hierin eine Paradoxie: Eine konsequent subjektiv-historische Auslegung könnte gerade zu einer „Verkümmerung“ der ursprünglichen gesetzgeberischen Intention führen, wenn sie nicht an die sich wandelnden Umstände angepaßt würde.

47 Für diese Einsicht muß man nicht die „Seinsschicht des objektiven Geistes“ (Larenz, Methodenlehre, S. 317) bemühen, in welche die anzuwendende Norm zu integrieren ist. 48 Siehe z. B. BGHSt 31, 10 zur Frage, wie nach Umgestaltung des § 258 StGB von einem Unternehmens- in ein Erfolgsdelikt der Beginn der Versuchsstrafbarkeit zu bestimmen ist: Nach Ansicht des BGH scheitert die Durchsetzung der insoweit geäußerten Auffassung der Gesetzesverfasser zum einen am Wortlaut der Norm, zum anderen aber auch an dem in § 159 StGB zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers (S. 13 f.). 49 Vgl. einstweilen BGHSt 13, 102 (117) = unten Fall 249. 50 Stratenwerth, in: FS für German, S. 261. 51 Es existiert keine Gesetzesbegründungspflicht, die der subjektiven Auslegung sicher ein höheres Ansehen verschaffen und die Vorhersehbarkeit der Entscheidungen steigern würde; vgl. Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825 (2827) und Rixecker, in: FS für Ellscheid, S. 132–134. Zur Begründungspflicht von Gesetzesvorlagen der Bundesregierung siehe §§ 42, 43 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GMBl. 2000, S. 526). 52 Hassold, ZZP 1981, 192 (199): Auch die subjektive Theorie muß hier zur objektiven Auslegung übergehen.

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Schon diese kurze Diskussion zeigt, daß zahlreiche Konflikte im Spannungsfeld zwischen objektiver und subjektiver Auslegung denkbar sind, die von den Gerichten letztlich als methodische Rangfolgeprobleme entschieden werden müssen. d) Wille des Gesetzgebers/Wille des Gesetzes Terminologisch scheint sich der Streit zwischen objektiver und subjektiver Auslegungstheorie in den Entscheidungsgründen immer dann anzudeuten, wenn vom „Willen des Gesetzgebers“ auf der einen und – sprachlich zweifelhaft – vom „Willen des Gesetzes“53 auf der andern Seite die Rede ist oder gar die Kompromißformel des „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ (dazu sogleich unter IV 1 e) auftaucht. Gleichwohl ist diese Wortwahl kein Zeichen für eine anstehende Entscheidung über den Konflikt zwischen diesen Grundpositionen oder über den Inhalt der richterlichen Gesetzesbindung. Die Formulierung vom „Willen des Gesetzgebers“ ist nicht einmal sicherer Anhalt dafür, daß die Rechtsprechung subjektiv-historisch verfährt.54 Vom Standpunkt einer subjektiven Auslegungstheorie ist das auch nicht zwingend notwendig. Zumal wenn man den „Willen des Gesetzgebers“ zum eigentlichen Ziel der Gesetzesinterpretation erklärt, ist es konsequent, auch „objektive“ Faktoren wie Wortlaut und Systematik nur als Hilfsmittel zur Feststellung der gesetzgeberischen Intention zu nutzen.55 Vor allem in eindeutigen Fällen wird sich das anbieten und einen Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte erübrigen. BGHSt 7, 198 (201) führt aus: „Zu Unrecht meint das OLG Köln auch, der Gesetzgeber würde, wenn dies seine Absicht gewesen wäre, in § . . . ausdrücklich gesagt haben, . . . Die Absicht des Gesetzgebers ergibt sich [jedoch] schon aus dem Aufbau der Gesetzesbestimmung so deutlich, daß eine weitere Klarstellung nicht notwendig war. Die Richtigkeit dieser Gesetzesauslegung wird auch durch die Entstehungsgeschichte . . . bestätigt.“ – Die Absicht des Gesetzgebers ergab sich nach Ansicht des BGH mithin schon aus dem Aufbau der Norm, also einem objektiven Kriterium; die Entstehungsgeschichte dient allein noch der Bestätigung dieses Ergebnisses.

Freilich wird deutlich, daß die Auslegung hier schnell mit Zuschreibungen arbeitet, denn Wortlaut und Systematik mögen zwar die Annahme eines entspre53 Die Personifizierung ist schon beim Gesetzgeber fragwürdig, erst recht aber beim Gesetz; statt dessen sollte vom „normativen Sinn des Gesetzes“ gesprochen werden, siehe Larenz, Methodenlehre, S. 319, Liver, Der Wille des Gesetzes, S. 19 ff., Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 797, Enneccerus, Bürgerliches Recht, S. 113 (Fn. 6): „höchstens ein Bild“ und Gern, VA 1989, 415 (421): Fiktion, da „denkgesetzlich“ nicht möglich! 54 Nach Rahlf (in: Juristische Dogmatik, S. 33) greift der BGH, wenn er vom „Gesetzgeber“ spricht, nicht automatisch auf die historische Auslegung zurück; ebenso für die Rechtsprechung des RG Honsell, Historische Argumente, S. 128. 55 Rüßmann, in: Elemente einer juristischen Begründungslehre, S. 148: Das eindeutig Gesagte ist Mittel zum Erschließen des Gewollten.

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chenden gesetzgeberischen Willens nahelegen56, aber daß die Gesetzesverfasser sich tatsächlich von ebendiesen Vorstellungen leiten ließen, ist nicht immer sicher. Deshalb dürfte es beim (begründeten oder unbegründeten) Außerachtlassen der subjektiv-historischen Auslegung genauer sein, nicht vom Willen des Gesetzgebers zu sprechen, sondern vom „Sinn“ oder „Inhalt“ des Gesetzes.57 Offensichtlich wird das im Fall einer Diskrepanz zwischen Wortlaut und Entstehungsgeschichte: Dann muß letztlich doch zwischen dem „objektiven“ Kriterium des Wortlauts (oder der Systematik) und dem „subjektiven“ Kriterium der gesetzgeberischen Intention entschieden werden. Es wäre terminologisch wie inhaltlich widersinnig, in dieser Konstellation von zwei unterschiedlichen „Willen des Gesetzgebers“ – hier aus dem Wortlaut, dort aus der Entstehungsgeschichte folgend – auszugehen. Die möglichen Fallstricke deuten sich zumindest an in BGHSt 7, 190 (191): Aus dem klaren Wortlaut sei ein dahingehender Wille des Gesetzgebers erkennbar; die Entstehungsgeschichte gebe keinen Anlaß, daß der Wortlaut dem Willen des Gesetzgebers nicht entspricht. Ähnlich liegt es in BGHSt 26, 156 (161), wo aus Wortlaut und Systematik ein eindeutiger „Wille des Gesetzgebers“ gefolgert wird; aus den Gesetzesmaterialien ergebe sich „nur wenig“ für die Gegenmeinung.

Umgekehrt ist die Formulierung vom „Willen des Gesetzes“ kein sicheres Zeichen für eine „objektiv“ verfahrende Gesetzesinterpretation. Vielfach ermittelt der BGH den „Gesetzeswillen“ anhand subjektiv-historischer Faktoren. Zur Illustration der begrifflich uneinheitlich verfahrenden Rechtsprechung des BGH, die sowohl den „Willen des Gesetzgebers“ mit objektiven Auslegungselementen ermittelt, als auch den „Willen des Gesetzes“ subjektiv-historisch bestimmt, folgende Beispiele: In BGHSt 4, 144 (147) gewinnt der Senat das „Ziel des Gesetzes“ (nicht: den Willen des Gesetzgebers) aus der amtlichen Begründung. BGHSt 6, 385 (388) spricht vom „aus der Entstehungsgeschichte erkennbare[n] Wille[n] des Gesetzes“. In BGHSt 7, 198 (vgl. bereits oben) schließt der Senat vom Aufbau der Norm auf die Absicht des Gesetzgebers. BGHSt 14, 116 – eine subjektiv-historisch vorgehende Entscheidung58, welche den vom Gesetzgeber zugrunde gelegten Sprachgebrauch zu ermitteln sucht – ergründet den „Gesetzeswillen“ zunächst anhand der Entstehungsgeschichte, aus der sich „Anhaltspunkte für die vom Gesetzgeber mit der Schaffung einer Vorschrift verfolgte Absicht . . . in erster Linie“ ergeben (S. 118 f.).

56 Liver, Der Wille des Gesetzes, S. 20 f.: „In der Regel entspricht der Sinn, welchen ein eindeutiger Rechtssatz hat, dem Gedanken, welchen der Gesetzgeber mit diesem Satz zum Ausdruck gebracht hat.“ 57 So schließt BGHSt 11, 189 (193) aus grammatikalisch-systematischen Gründen darauf, daß der „Wille des Gesetzes“ (vgl. nochmals oben BGHSt 7, 198) offensichtlich für eine bestimmte Ansicht spreche, was durch die Entstehungsgeschichte bestätigt werde. 58 Vgl. allerdings unten Fall 134 und insbesondere Fn. 207.

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Scharf zwischen (subjektivem) „Willen des Gesetzgebers“ und (objektivem) „Willen des Gesetzes“ differenziert BGHSt 1, 74 (75):59 Gegenüber dem aus dem Wortlaut sowie dem klaren Sinn und Zweck erkennbaren Willen des Gesetzes sei ein abweichender Wille des Gesetzgebers regelmäßig irrelevant. In BGHSt 1, 293 (296) wird der Wille des Gesetzes aus grammatikalisch-systematischen Kriterien bestimmt; die Entstehungsgeschichte wird nicht ermittelt. Ähnlich liegt es in den Entscheidungen BGHSt 1, 334 (336), wo der Wille des Gesetzes überwiegend dem Wortlaut entnommen wird, und BGHSt 3, 1 (2), wo darüber hinaus Sinn und Zweck, höherrangige Normen und Folgeerwägungen herangezogen werden. Auf logisch-systematischen Argumenten beruht die Feststellung des Willens des Gesetzes in BGHSt 15, 28 (33), und BGHSt 16, 160 (162) findet im Wortlaut für den im konkreten Fall maßgeblichen „Willen des Gesetzes“ keinen sicheren Anhalt. Besonders deutlich wird der Zuschreibungs-Mechanismus bei der Nutzung eines „argumentum ad absurdum“. Die darin liegende „objektive“ Tendenz (Appell an die Vernunft) ordnet BGHSt 3, 377 (380) zutreffend ein: „Eine derartige Begünstigung eines doppelten Rechtsbruchs kann nicht dem Willen des Gesetzes entsprechen.“ Aber während BGHSt 3, 377 auf den „Willen des Gesetzes“ abstellt,60 rekurriert BGHSt 10, 306 (311 f.) in einer parallel liegenden Situation (Rückgriff auf ein argumentum ad absurdum und auf das Rechtsgefühl) auf den Willen des „Gesetzgebers“ – eine wertende Zuschreibung, denn der Entstehungsgeschichte konnte zur entscheidenden Frage offenbar nichts entnommen und statt dessen nur dem Gesetzgeber eine vernünftige Ansicht unterstellt werden. Ähnlich liegt es in einer Entscheidung des Großen Senats (BGHSt 8, 301), der ebenfalls prüfen mußte, ob eine Gesetzesänderung (Verschärfung!) eine verbesserte Stellung des Täters in einem anderen Bereich zur Folge haben konnte, was der historische Gesetzgeber (wohl) übersehen und sicherlich nicht beabsichtigt hatte. In Anbetracht der unerwünschten und systemwidrigen Konsequenzen sieht der Große Senat keinen Anhalt für einen dahingehenden „Willen des Gesetzgebers“. Fragwürdig ist allerdings die sich anschließende rhetorische Bekräftigung: „Es geht nicht an, aus dem Gesetz etwas herauszulesen, was es ersichtlich nicht gewollt hat“ (S. 320).

Über die amtliche Sammlung hin gesehen treten Personifizierungen des Gesetzes häufig auf, wenn es um den Zweck oder das Ziel einer Regelung geht (das Gesetz „will“, „bezweckt“), weniger oft, um das Leitkriterium der Auslegung insgesamt zu bezeichnen („Wille des Gesetzes“, „Gesetzeswille“)61, nur selten, um einen Gegensatz zum „Willen des Gesetzgebers“ aufzuzeigen. Oft59 Ähnlich BGHSt 4, 158 (159 f.). In BGHSt 5, 179 (180) ermittelt der BGH den Willen des Gesetzgebers aus der amtlichen Begründung, den Willen des Gesetzes („das Gesetz will“) aus dem Wortlaut. 60 Ebenso z. B. BGHSt 20, 170 (174), wo nach Auffassung des BGH eine „strenge Wortauslegung“ zu Folgerungen führen würde, die „das Gesetz nicht beabsichtigt haben kann“. 61 Insofern sind nachzutragen: BGHSt 4, 325 (326): Auffassung des Gesetzes; 6, 213 (215); 6, 167 (171); 9, 160 (161); 9, 267 (269): Gesetz hat weiten Anwendungsbereich „als unvermeidlich in Kauf genommen“; 10, 43 (44); 11, 324 (326): Ergebnis widerspricht der Gerechtigkeit und müßte nur hingenommen werden, „wenn es dem ausdrücklich ausgesprochenen Willen des Gesetzes entspräche“; 15, 9 (13); 15, 118 (122); 15, 234 (238); 17, 149 (155); 17, 309 (318 und 320); 25, 313 (315); 42, 1 (12).

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IV. Entstehungsgeschichte

mals ist die Verwendung dieser Formulierungen weder notwendig noch weiterführend, zuweilen eher zweifelhaft: Fall 108 (BGHSt 3, 277): Zu entscheiden war, ob beim Tatbestand der „Verschleuderung der Familienhabe“ (§ 170a StGB a. F.) die analoge Anwendung der §§ 247, 263 V StGB a. F. (Strafantragserfordernis bei Diebstahl, Unterschlagung oder Betrug durch Angehörige) in Betracht kommt. Bezüglich § 266 StGB a. F. ist die Rechtsprechung aufgrund des „zu vermutenden Willen des Gesetzgebers“ tatsächlich so verfahren, während der BGH dies für § 170a ablehnt: „Die entsprechende Anwendung hat aber ihre Grenze dort, wo ihr der erkennbare Wille des Gesetzes entgegensteht“ (S. 278). Das sei bei § 170a der Fall, da diese Tat anders als eine Untreue gemäß § 266 stets durch Angehörige begangen werde, so daß der Gesetzgeber ein Antragserfordernis ausdrücklich ausgesprochen hätte (S. 279). – Der BGH bringt Argumente der Sachlogik vor, die in der Tat eine Regelungslücke als unwahrscheinlich erscheinen lassen, aber ist das der „erkennbare Wille des Gesetzes“?62

Insgesamt verbergen sich hinter den Formulierungen „Wille des Gesetzes“ und „Wille des Gesetzgebers“ keine stringenten methodologischen Positionen. Beide Wendungen können in den Entscheidungsbegründungen oft beliebig ausgetauscht werden, ohne daß sich etwas ändern würde. Beide Formulierungen stehen für das Resultat der gesamten Auslegung und sind auf Zuschreibungen angewiesen, denn auch der „Wille des Gesetzgebers“ kann für den konkreten Fall häufig nicht empirisch (historisch) ermittelt werden, sondern muß aus „objektiven“ Kriterien (Wortlaut, Systematik) wertend hergeleitet werden. Ob ein Konflikt zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Theorie zu entscheiden ist und vom BGH entschieden wurde, ergibt sich allein aus diesen Formulierungen nicht, sondern bedarf der Prüfung im Einzelfall. Voreilig wäre die Annahme, die Rechtsprechung judiziere im Sinn der subjektiv-historischen Auslegungstheorie oder besonders „gesetzestreu“, wenn in den Urteilstexten vom „Willen des Gesetzgebers“ die Rede ist. Unter Umständen soll die Formulierung den Einklang mit der gesetzgeberischen Intention lediglich suggerieren, um der gefundenen Lösung größere Autorität zu verleihen. Zu erwägen ist außerdem ein Entlastungs-Mechanismus: Ein fragwürdiges Ergebnis beläßt man gern im Verantwortungsbereich des Gesetzgebers. e) „Objektivierter“ Wille des Gesetzgebers Neben dem „Willen des Gesetzgebers“ und dem des „Gesetzes“ taucht weiterhin die Formel vom „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ auf, die allerdings einige Schwierigkeiten bereitet.63 Harmlos ist sie zunächst dann, wenn 62 Der Gesetzgeber hat durch das 3. StÄG von 1953 sowohl in § 170a StGB a. F. als auch in § 266 StGB a. F. das Antragserfordernis eingefügt. 63 Zur Frage, was darunter verstanden werden kann, siehe auch H. J. Müller, JZ 1962, 471 (472). Zu pauschal hingegen Bleckmann, JuS 2002, 942 (943).

1. Vorüberlegungen/Terminologisches

219

damit nur die hermeneutische Trivialität gemeint sein soll, daß ein Gedanke, erst recht der des Gesetzgebers, in einer schriftlichen Fixierung einen „objektiven“ Ausdruck erhält, mithin „objektiviert“ wird.64 Problematischer wird es allerdings dann, wenn aus diesem Sachverhalt eine normative Interpretationsregel abgeleitet wird, nach der die subjektiven Vorstellungen der Gesetzesverfasser als Voraussetzung ihrer Heranziehung eines (hinreichenden) Ausdrucks im Gesetzestext bedürfen. Die auf diesen Erwägungen beruhende Interpretationsmaxime wird später unter dem Stichwort „Andeutungstheorie“ erörtert (IV 3). Aber nicht immer meint die Rechtsprechung einen solchen Kompromiß zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Auslegung, wenn sie den „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ zu ergründen sucht. Häufig wird diese Formulierung eher synonym zum Begriff „Wille des Gesetzes“, also im Sinn der objektiven Auslegungstheorie verstanden, und teilweise zur Rechtfertigung oder Verschleierung einer Rechtsfortbildung genutzt. Es ist kein Zufall, daß der „objektivierte Wille“ des Gesetzgebers mit dem „objektiven Geist“, gleich ob Hartmannscher oder Hegelscher Prägung, einhergeht, um auch dem Gesetz einen „übergeschichtlichen“ Sinn beizumessen, d.h. es „dynamisch“ zu verstehen.65 Der BGH hat dies treffend mit der Formulierung zum Ausdruck gebracht, das Gesetz sei „nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepaßt weitergelten will“.66 Das damit verbundene Anliegen ist in Grenzen berechtigt und wird auch durch eine gemäßigt subjektive Auslegungstheorie nicht ausgeschlossen. Aber die bildhafte Rede vom „objektiven Geist“, vom „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ oder „objektiven Willen des Gesetzes“ lenkt meist von inhaltlichen Fragestellungen ab. Das BVerfG hat schon früh die Wendung vom „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ benutzt und darin das Leitkriterium des gesamten Auslegungsprozesses gesehen.67 Während frühe Entscheidungen bei der Ermittlung des objektivierten Willens der historischen Auslegung eine nur geringe Rolle zusprachen (näher unten IV 2), haben jüngere Entscheidungen sich (auch theoretisch) von diesem rigorosen Standpunkt distanziert. Ein Vergleich zwischen methodologischen Äußerungen einer frühen und einer jüngeren Entscheidung des BVerfG zeigt, daß der „objektivierte Wille“ ein Leitbegriff der Gesetzesinterpretation ist, dessen Inhalt und Kriterien einem Wandel unterliegen können: 64 Vgl. Liver, Wille des Gesetzes, S. 14: Der Gehalt der Rechtssätze sei insofern nicht „objektiver“, sondern „objektivierter Geist“. 65 Siehe Schwalm, in: FS für Heinitz, S. 52 ff. 66 BGHSt 10, 157 (160) = unten Fall 149. 67 H. J. Müller (JZ 1962, 471 [473 f.]) bezweifelt für die frühe Rechtsprechung des BVerfG, daß diese sich über den Gehalt ihrer Auslegungsgrundsätze im klaren sei, und konstatiert „eigenartige Unsicherheiten in der Beurteilung methodologischer Grundsatzfragen“.

220

IV. Entstehungsgeschichte

„Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe . . . Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu . . .“ (BVerfGE 1, 299 [312])68

„Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist . . . Hierbei helfen alle herkömmlichen Auslegungsmethoden in abgestimmter Berechtigung. Unter ihnen hat keine einen unbedingten Vorrang vor einer anderen.“ (BVerfGE 105, 135 [157])69

Vereinzelt spricht das BVerfG ferner vom „objektiven Willen des Gesetzgebers“, der mit Hilfe der Auslegungsmethoden zu ermitteln sei (BVerfGE 11, 126 [130]). Auch mit diesem Begriff ist das Leitkriterium der Auslegung im ganzen gemeint und zwar i. S. einer objektiven Auslegungstheorie. Die – soweit ersichtlich – nicht fortgeführte Terminologie70 ist indes fragwürdig und (neben dem „objektivierten“ Willen) überflüssig. Unabhängig davon, ob es einen „objektiven Willen“ einer Person oder Institution überhaupt geben kann, verschleiert die Formulierung, daß die objektive Theorie Entscheidungen gegen den („subjektiven“) Willen des Gesetzgebers ermöglicht. Der BGH in Strafsachen hat die Formel vom objektivierten Willen erst spät rezipiert,71 ist damit jedoch uneinheitlich umgegangen. Sie sollte dem Urteilsleser als „Alarmzeichen“ dienen, denn leicht verbirgt sich hinter dem objektivierten Willen eine methodologisch zweifelhafte Argumentation, zumindest aber eine auslegungstheoretisch interessante Konstellation. Nähere Betrachtung verdienen folgende Entscheidungen: Fall 109 (BGHSt 17, 21): Im berufsrechtlichen Verfahren ist gemäß § 145 I BRAO die Revision zulässig, wenn als Maßnahme die Ausschließung des Rechtsanwalts aus dem Anwaltsberuf verhängt worden ist (Alt. 1) oder wenn die Vorinstanz einem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Ausschließung nicht entsprochen hat (Alt. 2). Kann auch der zu einer anderen Maßnahme verurteilte Rechtsanwalt gestützt auf Alt. 2 Revision einlegen, wenn die Staatsanwaltschaft mit ihrem Antrag auf Ausschließung gescheitert ist? Der BGH verneint (S. 23): „Maßgebend für die Ausle68

Weiter im Zitat unten IV 2. In diesem Sinn bereits BGHZ 46, 74 (76) unter ausdrücklicher Erwähnung von Entstehungsgeschichte und Gesetzesmaterialien. 70 Vom „objektiven Willen des Gesetzgebers“ ist auch in BGH NJW 2003, 3717 (3718, r. Sp.) die Rede. Dabei dürfte es sich jedoch um einen Druckfehler handeln, denn im Original und in der amtlichen Fundstelle BGHSt 48, 354 (357) heißt es „objektiviert“. 71 Soweit ersichtlich in der amtlichen Sammlung erst in BGHSt 17, 21 (23) = Fall 109. 69

1. Vorüberlegungen/Terminologisches

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gung eines Gesetzes ist der in ihm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung, dem Sinnzusammenhang sowie dem erkennbaren Zweck der Vorschrift ergibt (BVerfGE 1, 299, 312; 10, 234, 244; 11, 126, 129 . . .).“72 Aus den in § 145 vorgesehenen Fällen sei die „Absicht des Gesetzes“ ersichtlich, nur der Staatsanwaltschaft die Möglichkeit nach Alt. 2 zu gewähren. Der Wortlaut der Alt. 2 sei offensichtlich „weiter gefaßt . . ., als es dem Willen des Gesetzes entspricht“ (S. 24). Auch die Entstehungsgeschichte (Entwurfsbegründung) ergebe, daß nur eine drohende Existenzgefährdung dem Rechtsanwalt das Rechtsmittel der Revision einräumen soll.

Dem BGH ist zuzustimmen, aber die interpretationstheoretischen Ausführungen waren nicht veranlaßt. Einerseits hätte das Ergebnis ohne weiteres damit begründet werden können, daß zur Ermittlung der Wortbedeutung der Kontext herangezogen werden muß und eine Lektüre beider Alternativen die angestrebte Lösung bereits trägt. Unterstellt man andererseits – davon geht der BGH wohl aus –, der Wortlaut spreche für die Zulässigkeit der Revision, dann war es unumgänglich, nach der Berechtigung für eine Wortlautkorrektur zu fragen. Eine solche Reduktion könnte womöglich sowohl auf den Zweck der Regelung als auch auf ihre Entstehungsgeschichte gestützt werden; da sie sich zudem nicht im Bereich des materiellen Rechts bewegt, bestünden auch in Hinblick auf Art. 103 II GG keine Bedenken. Die Rede vom „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ verdunkelt diesen einfachen methodologischen Sachverhalt. Unklar bleibt im übrigen, welches der genannten Auslegungskriterien (Wortlaut, Zusammenhang, Zweck) für die „Objektivierung“ entscheidend sein soll, wenn nicht der dafür prädestinierte Gesetzestext! Zu klären wäre schließlich, in welchem Verhältnis der „objektivierte Wille des Gesetzgebers“ zur „Absicht“ bzw. zum „Willen des Gesetzes“ steht, denn auch darauf rekurriert der Senat. Fall 110 (BGHSt 31, 128) behandelt – unter Rückgriff auf das gleiche methodische Instrumentarium – eine ähnliche Frage wie BGHSt 17, 21, diesmal für das berufsrechtliche Verfahren gegen einen Steuerberater. Wie § 145 I BRAO bestimmt § 129 I StBerG, daß die Revision nur zulässig ist, wenn die Vorinstanz den Steuerberater aus dem Beruf ausgeschlossen hat (Nr. 1) oder wenn die Staatsanwaltschaft erfolglos die Ausschließung des Steuerberaters aus dem Beruf beantragt hat (Nr. 2). Im vorliegenden Fall hatte die Staatsanwaltschaft zwar erfolglos die Ausschließung beantragt, sich mit der Revision aber nur dagegen gewandt, daß das Berufungsgericht Verjährung angenommen und deshalb keine anderen Maßnahmen getroffen hat. Nach Ansicht des BGH ist jedoch die Weiterverfolgung des Ausschließungsantrags notwendige Voraussetzung einer zulässigen Revision, auch wenn der Wortlaut nur einen erfolglosen Antrag im Berufungsverfahren verlangt. Die s. E. erforderliche „einschränkende Auslegung“ rechtfertigt der Senat unter Berufung auf den „objektivierten Willen des Gesetzgebers“, den er wie BGHSt 17, 21 definiert (S. 130). Bei Zugrundelegung dieses Maßstabs zeige sich, daß die Revision nur bei drohender oder bei verhängter Ausschließung eröffnet sein soll. Auch die weitere Argumentation wird aus BGHSt 17, 21 übernommen: Die Vorschrift sei weiter gefaßt, „als es 72

Ebenso BGHSt 20, 104 (107); 31, 128 (130); bestätigt in BGHSt 36, 192 (195).

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IV. Entstehungsgeschichte

dem Willen des Gesetzes entspricht“, was durch die Entstehungsgeschichte bestätigt werde.

Hier gilt das bereits zu BGHSt 17, 21 Gesagte entsprechend: Die „einschränkende Auslegung“ bedurfte keines Rückgriffs auf den „objektivierten Willen des Gesetzgebers“. Alle Interpretationskriterien außer dem Wortlaut sprachen für die Lösung des BGH und insoweit blieb lediglich die nur noch methodisch interessierende Frage, ob der Wortlaut einschränkend ausgelegt oder korrigiert werden muß.73 Dagegen nimmt der BGH in folgender Entscheidung unter dem Deckmantel des „objektivierten Willens“ eine Gesetzeskorrektur vor, deren Legitimation zweifelhaft ist: Fall 111 (BGHSt 29, 196 – „Überwachungsrichter“): Als ein Produkt der Terrorismusbekämpfung gewährt § 148 II 1 StPO die Möglichkeit, den Schriftverkehr zwischen Verteidiger und Beschuldigtem zu überwachen, wenn der Beschuldigte sich nicht auf freiem Fuß befindet und Gegenstand der Untersuchung eine Straftat gemäß § 129a StGB (Bildung terroristischer Vereinigungen) ist. § 148a I 1 StPO erklärt hierfür den Richter beim Amtsgericht („Überwachungsrichter“) für zuständig, in dessen Bezirk die Vollzugsanstalt liegt. Dieser darf nicht mit dem Gegenstand der Untersuchung (§ 129a StGB) betraut sein, § 148a II 1 StPO. Welches Gericht für eine etwaige Beschwerde gegen Entscheidungen des Überwachungsrichters zu befinden hat, regeln die §§ 148, 148a StPO nicht. Deshalb griffe eigentlich die allgemeine Norm des § 73 I GVG, wonach über Verfügungen und Entscheidungen des Amtsrichters die Strafkammern des LG zu entscheiden haben. Im Bereich erstinstanzlicher Zuständigkeit der Oberlandesgerichte – darunter fallen auch die Taten gemäß § 129a StGB! – bestimmt davon abweichend jedoch § 120 III 1 GVG, daß die Oberlandesgerichte auch die in § 73 GVG bezeichneten Entscheidungen zu treffen haben. Bedenken gegen diese schlüssig scheinende Rechtslage erwachsen freilich aus § 148a II 1 StPO (siehe oben), denn damit würde die Zuständigkeit eben jenes Gerichts konstituiert, das auch im Hauptsacheverfahren zu entscheiden hätte. Trotz dieser Widersprüchlichkeit und anderer praktischer Schwierigkeiten sah das BayObLG zunächst keine Möglichkeit, die Zuständigkeitsbestimmung des § 120 III GVG zu umgehen: „Die Gerichte sind nicht befugt, sich aus bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen über die eindeutige gesetzliche Regelung hinwegzusetzen“ (BayObLG MDR 1979, 862 [863]). Der Wortlaut der Bestimmung sei „klar“. Ganz anders geht der BGH vor, indem er die (inhaltlich) fragwürdige Regelung selbstbewußt korrigiert und dabei zuerst die Wortlautargumentation der Gegenmeinung diskreditiert: Die „bloße Wortauslegung“ könne zwar zur Annahme der OLG-Zuständigkeit führen, doch entspreche dies „weder dem im Gesetz objektivierten Willen des Gesetzgebers noch dem Zweck der Norm“ (BGHSt 29, 196 [198]). Beide Kriterien seien aber „neben dem – hier nicht völlig [!] eindeutigen – Wortlaut zur Auslegung von Gesetzesvorschriften heranzuziehen“. § 148a StPO lasse erkennen, daß die für die Zuständigkeitsbestimmung des § 120 III GVG maßgeblichen „Erwägungen des Gesetzgebers“ für das Überwachungsverfahren „nicht zutreffen“ (!!). Ent73 Daß die Auslegung des BGH in BGHSt 31, 128 mit dem Wortlaut unvereinbar ist, wird man kaum sagen können. Eher schon könnte die gegenteilige Auslegungshypothese als befremdlich oder „spitzfindig“ charakterisiert werden.

1. Vorüberlegungen/Terminologisches

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scheidend sei § 148a II StPO und das daraus ersichtliche gesetzgeberische Bemühen, den Überwachungsrichter von der Befassung mit der Hauptsache fernzuhalten (S. 199). Dem würde die Zuständigkeit der Oberlandesgerichte für die Beschwerde zuwiderlaufen. Maßnahmen der Geschäftsverteilung könnten diesen Schwierigkeiten „nur unvollkommen“ begegnen (möglich wäre es aber!), so daß zumindest ein (!) Zweck des 120 III GVG weitgehend verfehlt würde (S. 199 f.).

Die wiedergegebene Argumentation ist ein Musterbeispiel für eine Gesetzeskorrektur. Die nach Ansicht des BGH für das Verfahren des § 148a StPO unbefriedigende Zuständigkeitsnorm des § 120 III GVG wird aus teleologischen Gesichtspunkten in ihrem Anwendungsbereich reduziert.74 Sehr gequält sind die Ausführungen des BGH zur Wortlautauslegung, die er zunächst herabwürdigt („bloße Wortauslegung“) und dann mit der unbegründeten – wohl auch unbegründbaren – Behauptung fortsetzt, der Wortlaut sei nicht „völlig“ eindeutig. An der Eindeutigkeit der §§ 73, 120 III GVG, 148a StPO kann jedoch nicht gezweifelt werden. Dem Gesetzgeber ist die Problematik (womöglich!) nur entgangen, weshalb es an einer folgerichtigen Zuständigkeitslösung mangelt, die der BGH rechtsschöpferisch nachreicht. Daß der Senat dennoch verkrampft die Noch-Vereinbarkeit seiner Lösung mit dem Gesetzeswortlaut behauptet, mag an Zweifeln bezüglich der Legitimation für eine Gesetzesberichtigung liegen, zumal die Thematik den „gesetzlichen Richter“ des Art. 101 I GG berührt. Völlig unklar bleibt jedoch, was der „objektivierte Wille des Gesetzgebers“ zum Problem beitragen kann, denn in den eigentlich relevanten Zuständigkeitsnormen (§§ 73, 120 GVG) hat diese, vom BGH aus § 148a StPO gefolgerte gesetzgeberische Intention ja offensichtlich keinen Ausdruck gefunden.75 In folgendem Beispiel fungiert der „objektivierte Wille des Gesetzgebers“ als willfähriges Instrument „objektiver“ Gesetzesauslegung: Fall 112 (BGHSt 36, 192; 30, 52; 43, 262 – „Erzwingungshaft“): Gemäß § 304 V StPO ist gegen Verfügungen des Ermittlungsrichters des BGH oder OLG „die Beschwerde nur zulässig, wenn sie Verhaftung, einstweilige Unterbringung, Beschlagnahme oder Durchsuchung betreffen“. Meint „Verhaftung“ nur die Untersuchungsoder auch die Erzwingungshaft? BGHSt 30, 52 hat in einer kurzen Entscheidung die engere Ansicht bevorzugt: § 304 IV, V StPO knüpfe an den in § 310 enthaltenen Begriff der Verhaftung an, worunter der Gesetzgeber – wie aus der Entwurfsbegründung ersichtlich – nur die Untersuchungshaft verstanden habe (S. 53); auch die Rechtsprechung zu § 310 sei diesen Vorstellungen gefolgt (S. 54). Mit § 304 V sei die Entlastung der Beschwerdeinstanz bezweckt gewesen (S. 53). Unter Aufgabe von BGHSt 30, 52 argumentiert BGHSt 36, 192 im gegenteiligen Sinn: Die Geset-

74 Das BayObLG hat sich in MDR 1990, 652 der Auffassung des BGH angeschlossen und die Vorgehensweise des BGH als „einschränkende Auslegung“ des § 120 III GVG charakterisiert. – Interessant ist, daß die teleologische Reduktion des § 120 III GVG auf dem Gesetzeszweck einer anderen Norm beruht! 75 Schon gar keinen „hinreichenden“ Ausdruck, wie es die Senate sonst so oft verlangen (vgl. unten IV 3).

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IV. Entstehungsgeschichte

zesverfasser mögen ein enges Begriffsverständnis verfolgt haben76 (S. 194), doch komme dem gegenüber dem „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ (Hinweis auf BGHSt 31, 128 – siehe oben) keine ausschlaggebende Bedeutung zu (S. 195). Auch eine grundsätzlich eng auszulegende Ausnahmevorschrift wie § 304 V sei nicht formal, sondern nach Sinn und Zweck der gesetzgeberischen Konzeption zu interpretieren. Der Wortlaut lasse die Erfassung der Erzwingungshaft zu, das Grundrecht der persönlichen Freiheit spreche dafür. Eine solche Auslegung widerspreche auch nicht der Intention des Gesetzes, nur Verfügungen zu erfassen, „die besonders nachhaltig in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreifen“ (S. 196, Nachweis aus den Berichten des Sonderausschusses). Insofern „erschiene es ungereimt, wenn nicht systemwidrig, zwar Beschlagnahme und Durchsuchung, nicht aber Erzwingungshaft als beschwerdefähig anzusehen“ (S. 196). In der umgekehrten Situation – die Staatsanwaltschaft wendet sich gegen die Nichtanordnung der Erzwingungshaft – lehnt BGHSt 43, 262 (264) die Anwendung des § 304 V StPO hingegen ab und führt zu BGHSt 36, 192 interessanterweise aus: „Eine erweiternde Anwendung des § 304 Abs. 5 StPO, die die Gleichstellung der Anordnung der Erzwingungshaft mit der in der Vorschrift genannten ,Verhaftung‘ – gemessen an der Entstehungsgeschichte der Regelung (vgl. dazu BGHSt 30, 52, 53/ 54) – bedeutet77, kommt wegen des Ausnahmecharakters der Vorschrift nur dann in Betracht, wenn dies aus verfassungsrechtlichen Gründen und/oder nach dem Regelungszweck unausweichlich gefordert ist.“

Die Heranziehung des „objektivierten Willens“ (in BGHSt 36, 192) dient allein dazu, die subjektiven Vorstellungen der Gesetzesverfasser als irrelevant abzutun; die Formel ist damit Vehikel der objektiven Auslegungstheorie. Dennoch sieht der BGH sich nicht daran gehindert, später den „Willen des Gesetzgebers“ anhand der Gesetzesmaterialien zu ermitteln und daraus Schlußfolgerungen zu ziehen. Die Schlußfolgerungen legen die Motivation des BGH allerdings offen: Wenn der Gesetzgeber den Betroffenen bei besonders nachhaltigen Eingriffen schützen wollte, dann wäre es „ungereimt“ und „systemwidrig“, zwar eine Beschlagnahme, nicht aber die Erzwingungshaft zu erfassen. Ist aber der BGH dazu berechtigt, diese (angebliche) Systemwidrigkeit zu beseitigen, wenn die Gesetzesverfasser mit dem von ihnen zugrunde gelegten Begriffsverständnis

76 Ob das – wie BGHSt 30, 52 annimmt – wirklich aus den Materialien folgt, ist indes nicht ganz sicher (siehe dazu den lehrreichen Schlagabtausch zwischen Wedel und Kutzer in MDR 1990, 786–788). Aber darauf kommt es bei der Analyse von BGHSt 36, 192 nicht an, weil diese Entscheidung der Frage zum einen gar nicht nachgeht (vgl. a. a. O., S. 194 f.: Die Gesetzesverfasser „mögen“ den Begriff so verstanden haben.) und sich ganz unabhängig davon zur Überwindung der (unterstellten!) gesetzgeberischen Vorstellungen berechtigt sieht. Beide Aspekte werden von Kutzer (a. a. O., S. 787) übersehen, der offenbar eine Begründung dafür nachreichen möchte, weshalb die Entscheidung BGHSt 36, 192 doch im Einklang mit der Entstehungsgeschichte steht, damit aber am eigentlichen Thema „vorbeischreibt“. Eine Urteilsanmerkung, die vor allem Methodenkritik betreibt (wie die von Wedel), kann natürlich nur zugrunde legen, wovon das Urteil selbst ausgeht. 77 Der BGH hat sich offenbar der Meinung seines Mitglieds Kutzer (siehe vorstehende Fn.) zur Entstehungsgeschichte nicht angeschlossen!

1. Vorüberlegungen/Terminologisches

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diese Konsequenz womöglich bewußt in Kauf genommen haben? Zudem nimmt der Senat eine unerfreuliche Sprachspaltung bezüglich des Begriffs „Verhaftung“ innerhalb der Beschwerdevorschriften (§ 304 gegen § 310 StPO) sowie die Desavouierung seiner so oft für § 304 IV, V postulierten Auslegungsregel in Kauf, wonach „Ausnahmevorschriften“ eng auszulegen seien78. Von einer restriktiven Auslegung kann man jedoch bei einer Abweichung vom bislang geltenden Sprachverständnis (§ 310 StPO) nicht sprechen. Hier rächt sich die Nutzung einer exegetischen Formalregel, die zwar oftmals bequeme Lösungen erlaubt, hier aber nur schwer zu überwinden ist und auch einem Analogieschluß entgegenstünde79. Wichtiger im vorliegenden Zusammenhang ist allerdings, daß der „objektivierte Wille des Gesetzgebers“ dem BGH überhaupt erst einen Weg zu diesen speziellen Auslegungsproblemen bahnt. Ehrlicher wäre es, sich offen zur objektiven Auslegung zu bekennen, wozu es der tiefgründig klingenden Formel nicht bedürfte, oder den „Willen des Gesetzgebers“ mit der „Andeutungstheorie“ (Wille ist nicht zum Ausdruck gebracht; näher unten IV 3) beiseite zu räumen.80 Dadurch würde wenigstens nicht der Anschein erweckt, im Einklang mit den gesetzgeberischen Vorstellungen zu handeln, so wie es bei der Formel vom „objektivierten Willen“ der Fall ist.81 Die Rechtsprechung rekurriert auch in anderen Konstellationen auf den „objektivierten Willen“, ohne daß eine einheitliche Linie erkennbar würde: BGHSt 27, 205 (206) erschließt den „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ aus einer Gesetzesänderung. Subjektiv-historische Ermittlungen werden nicht angestellt, da offenbar keine Anhaltspunkte für eine Diskrepanz zwischen Gewolltem und Gesagtem vorlagen. Daß der Inhalt des Gesetzes oftmals allein anhand „objektiver“ Kriterien festgestellt werden kann, ist keine Besonderheit. Die Formel vom „objektivierten Willen“ ist hier anders als in den meisten Fällen kein Hinweis auf einen methodischen Problemfall. Irreführend ist der Hinweis auf den „objektivierten Willen“ in BGHSt 44, 145 (150), wo der BGH seine vorwiegend aus der Gesetzessystematik – der Wortlaut

78 Siehe z. B. BGH NJW 2002, 765 zu § 304 V StPO: „Ausnahmevorschrift, die restriktiv auszulegen und einer analogen Anwendung nicht zugänglich ist“ und unten V 4. 79 Eine Analogie scheint sich hier zwar aufzudrängen, kommt aber gleichwohl nicht in Betracht: Vom Standpunkt der „subjektiven“ Auslegungstheorie schon wegen der anderslautenden Vorstellungen der Gesetzesverfasser nicht, während aus Sicht der „Objektivisten“ das Ergebnis ohnehin schon durch „Auslegung“ zu gewinnen war, wie BGHSt 36, 192 eindrucksvoll demonstriert. 80 Als weiterer Ausweg kam eine verfassungskonforme Auslegung der ansonsten gegen Art. 3 I GG verstoßenden Bestimmung in Betracht; näher unten V 8 c. 81 Scharf abl. zur Verwendung dieser Formel in der Rechtsprechung im allgemeinen und im Fall von BGHSt 36, 192 im besonderen Wedel, MDR 1990, 786. Zu weitgehend ist allerdings Wedels Urteil, wonach der BGH „nicht einmal den absoluten Mindestanforderungen, die an eine höchstrichterliche Entscheidungsbegründung in methodischer Hinsicht zu stellen sind, gerecht wird“ (S. 787).

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IV. Entstehungsgeschichte

ließ zwei Deutungen zu – entwickelte Lösung historisch absichert: Das Ergebnis folge „aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes und entspricht dem objektivierten Willen des Gesetzgebers“. Die sich anschließende Analyse der Gesetzesentstehung zeigt dann jedoch deutlich, daß daraus sowohl Argumente für als auch gegen die Auffassung des BGH gewonnen werden können. Es ist legitim, wenn der BGH hier eine der möglichen Deutungen für überzeugender hält; aber inwiefern die gesetzgeberische Intention „objektiviert“ wird, ist nicht ersichtlich, es sei denn der Senat will damit zum Ausdruck bringen, daß er die gesetzgeberische Zielsetzung in eine bestimmte Richtung interpretiert hat, also „produktiv“ damit umgegangen ist. Methodisch unklar bleibt folgende Erwägung aus BGHSt 47, 369 (373): Daß der Verfall keine Strafe, sondern eine Maßnahme eigener Art ist, soll „aus dem objektivierten Willen des Gesetzgebers, der systematischen Stellung sowie dem Wortlaut“ und zugehörigen Bestimmungen folgen. Ist aber der objektivierte Wille ein selbständiger Auslegungsfaktor neben Wortlaut und Systematik, die doch nach herkömmlichen Verständnis Hilfsmittel zu seiner Ermittlung sein sollen?

Insgesamt verbirgt sich hinter der Verwendung des „objektivierten Willens“ nicht stets, sogar nicht einmal überwiegend der Streit zwischen objektiver und subjektiver Auslegung. Oftmals bleibt schlicht unklar, was der BGH mit dieser tiefgründig klingenden Formulierung meint,82 ob vielleicht – ähnlich wie es schon die Berufung auf den „Willen des Gesetzgebers“ vermutet ließ (vgl. im vorstehenden Abschnitt) – nur suggeriert werden soll, im Rahmen der Gesetzesbindung zu judizieren. Die Formel trägt weder zur Aufhellung methodologischer Probleme noch zu vorhersehbaren Fallösungen bei.

2. Ist die Entstehungsgeschichte überhaupt als Erkenntnismittel heranzuziehen? Bereits in den Vorüberlegungen (IV 1 a) wurde darauf hingewiesen, daß die Rechtsprechung des BGH häufig auf historische Argumente zurückgreift. Aus diesem Befund folgt jedoch nicht zweifelsfrei, welcher normative Wert innerhalb der Rechtsanwendung der historischen Auslegung zukommt. Die Strafsenate des BGH haben diese Frage des öfteren behandelt, aber dabei eine merkwürdig schwankende Position eingenommen. Schon früh hat sich hierzu auch das BVerfG geäußert, dessen Stellungnahmen vom BGH zwar rezipiert, aber nur halbherzig befolgt wurden. Das Verfassungsgericht hat den „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ (vgl. oben IV 1 e), so wie er sich aus Wortlaut und Sinnzusammenhang ergebe, für maßgeblich erklärt, der genetischen Auslegung hingegen nur einen beschränkten Wert zugestanden:83

82 Berra (Im Paragraphenturm, S. 112) spricht in diesem Zusammenhang von „juristischer Mystik“, Muscheler (in: FS für Hollerbach, S. 110) von einer „das tatsächliche Vorgehen verschleiernden Oberformel“.

2. Ist die Entstehungsgeschichte als Erkenntnismittel heranzuziehen?

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„Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können.“ (BVerfGE 1, 299 [312] und ähnlich BVerfGE 10, 234 [244]; 11, 126 [130]: Heranziehung von Gesetzesmaterialien nur in begrenztem Umfang.) „Für die Auslegung von § . . . kann es nicht maßgebend sein, welche Meinung in einem Unterausschuß eines Ausschusses des Bundesrats und dessen Mitgliedern und vom Vertreter der Bundesregierung geäußert worden ist, sofern nicht diese Meinung dem Wortlaut und dem Sinn des Vorschrift entnommen werden kann.“ (BVerfGE 20, 238 [253])

Der BGH stellt in BGHSt 1, 74 (76) zunächst fest, daß der „Wille des Gesetzgebers“ jedenfalls dann keine Beachtung finden dürfe, wenn der klare Wortlaut bereits zu einem eindeutigen Ergebnis führt. Zudem gebe es kein „verläßliches Mittel“, um diesen Willen zweifelsfrei festzustellen, zumal nicht bei wenig durchdachten „Gelegenheitsgesetzen“. Dennoch erörtert der BGH, ohne sich dazu verpflichtet zu fühlen, die Entstehungsgeschichte und gelangt zu dem Ergebnis, daß „Wille des Gesetzes“ und „Wille des Gesetzgebers“ im Einklang stünden. BGHSt 2, 99 (103 f.) enthält ein (schwaches) Bekenntnis zur subjektiv-teleologischen Auslegung. Zu den Äußerungen des Berichterstatters im Gesetzgebungsverfahren bemerkt der BGH, es sei zwar fraglich, ob derartige Inhaltsvorstellungen der Abgeordneten bindend seien, jedenfalls aber werde der Zweck der Vorschrift dadurch erhellt. Auch der Große Strafsenat beschäftigt sich in BGHSt 4, 308 eingehend mit der Entstehungsgeschichte des Gesetzes und führt trotz der bereits ergangenen Entscheidung BVerfGE 1, 299 (siehe oben) aus, daß vorliegend angesichts des nicht eindeutigen Wortlauts auch die Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen sei, „um den Willen des Gesetzgebers . . . nach Möglichkeit zum Erfolg zu verhelfen“. (BGHSt GS 4, 308 [310])

Weitaus skeptischer verhält sich BGHSt 11, 171 zum Wert genetischer Auslegung. Im Mittelpunkt stand insoweit eine Äußerung des Berichterstatters im Rechtsausschuß, über deren Reichweite Unklarheit herrschte. Der BGH führt insoweit aus (S. 173), daß bei der Interpretation einer solchen Äußerung wie bei der Auslegung von Gesetzen und Willenserklärung der wirkliche Wille erforscht werden müsse (§ 133 BGB), nicht aber am Buchstaben gehaftet werden dürfe. Aber bemerkenswerter ist die allgemeine Aussage des Senats, in der er es 83 Die späteren ausdrücklichen Aussagen des BVerfG zu dieser Frage sind demgegenüber sehr uneinheitlich und bieten somit ein ähnliches Bild wie die Stellungnahmen des BGH; vgl. unten Fn. 91.

228

IV. Entstehungsgeschichte

dahinstehen läßt, „ob es neben dem Gesetz überhaupt Willens- und Meinungsäußerungen des gesetzgebenden Organs geben kann, die den Richter als ,konkrete Entscheidung‘ des Gesetzgebers binden“ (S. 173). In einem Streit um die Deutung konkreter Gesetzesmaterialien sagt BGHSt 12, 42 (43) unter Hinweis auf BGHSt 1, 74 (siehe oben) und Mezger: Es bestehe Einigkeit, daß der Entstehungsgeschichte im allgemeinen, insbesondere aber Äußerungen von Regierung und Abgeordneten zur Reichweite eines Gesetzes nur ein bedingter Wert zukomme. Jedenfalls lasse sich im vorliegenden Fall „eine unzweideutige, den Richter bindende Willensäußerung des Gesetzgebers . . . entgegen der Meinung des Reichsgerichts der Entstehungsgeschichte nicht entnehmen“. Schon hier deutet sich ein Widerspruch in der methodischen Haltung des BGH an: Zunächst wird der Wert historischer Auslegung herabgesetzt („nur bedingt“), dann aber eine sich aus der – eingehend ermittelten! – Entstehungsgeschichte ergebende „bindende“ Willensäußerung des Gesetzgebers in Betracht gezogen. Im 13. Band der amtlichen Sammlung zeigt sich die ungeklärte Situation bezüglich der subjektiven Auslegung. Auf der einen Seite führt BGHSt 13, 5 (näher unten Fall 150) unter Berufung auf das BVerfG, und obwohl die Entstehungsgeschichte im konkreten Fall nichts für die Gegenauffassung hergab, aus: „Maßgebend für die Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift ist jedoch nicht, wie ihre Urheber oder Verfasser sie verstanden wissen wollten sondern ihr wirklicher Sinngehalt, wie er sich für den unbefangenen Betrachter aus dem Wortlaut des Gesetzes und dessen Sachzusammenhang ergibt (BVerfGE 1, 299).“ (BGHSt 13, 5 [8])

Auf der anderen Seite steht kurze Zeit später derselbe Senat in BGHSt 13, 102 der historischen Auslegung, die in casu allerdings mit einer später erlassenen höherrangigen Norm unvereinbar war, grundsätzlich positiv gegenüber: „Der Sinn, den die Urheber einer bestimmten Gesetzesvorschrift mit ihr verbunden wissen wollten, wird zwar unter der Voraussetzung, daß er zweifelsfrei ermittelt werden kann, häufig ihre Auslegung maßgeblich bestimmen. Das gilt aber nicht ohne Einschränkung. . . .“ (BGHSt 13, 102 [117])

Die letztgenannte methodologische Auffassung dürfte nur schwerlich mit der des BVerfG (vgl. oben) zu vereinbaren sein!84 Aber schon kurz darauf argumentiert der BGH wieder unverblümt „objektiv“, indem er die Vorstellungen des Gesetzgebers über die Reichweite des Begriffs „Gemeingefahr“ wie folgt beiseite räumt (BGHSt 15, 138 [141] = oben Fall 53): Ein etwaiger Irrtum des Gesetzgebers über die wahre (!) Bedeutung des Begriffs würde den Richter nicht dazu berechtigen, den wirklichen (!) Sinn „außer acht zu lassen und nur den – kaum zuverlässig feststellbaren (vgl. BGHSt 1, 74, 76) – Willen des Gesetzgebers zugrunde zu legen . . .“. 84

Vgl. zur Bindungswirkung methodologischer Aussagen unten VII 1 c.

2. Ist die Entstehungsgeschichte als Erkenntnismittel heranzuziehen?

229

Zum Höhepunkt steigerte sich das Hin und Her zwischen objektiver und subjektiver Auslegung im 18. Band der amtlichen Sammlung. Eine starke Tendenz, den Willen des Gesetzgebers als maßgeblich anzusehen, enthält BGHSt 18, 151 (155) in einer Entscheidung zum Absichtsbegriff des § 91 StGB a. F. Die Deutung, die dieser Begriff im Rechtsausschuß des Bundestages erfahren hat, hat in den Gesetzgebungsorganen keinen Widerspruch gefunden und wird deshalb vom BGH zugrunde gelegt: „Das Plenum des Bundestags und der Bundesrat haben keine abweichende Ansicht geäußert. In diesen Vorgängen kommt eine authentische Interpretation des Willens des Gesetzgebers zum Absichtsbegriff des § 91 StGB zum Ausdruck, die die Gerichte bindet.“

Doch nach Lektüre der sich unmittelbar anschließenden Entscheidung eines anderen Senats zu einer nebenstrafrechtlichen Frage reibt man sich die Augen (BGHSt 18, 156 [159]): „Für die in dem Vorlegungsbeschluß vertretene Rechtsansicht spricht schließlich auch die Entstehungsgeschichte des § 2a WiStG 1954, der allerdings nicht die Bedeutung einer selbständigen Erkenntnisquelle zukommt (BVerfGE 1, 299, 312).“

Was auf der einen Seite die Gerichte bindet (BGHSt 18, 151), soll auf der anderen Seite nicht einmal heuristischen Stellenwert besitzen (BGHSt 18, 156). Der auslegungstheoretisch so weitreichende Nebensatz aus der letztgenannten Entscheidung mutet um so merkwürdiger an, als er durch den konkreten Fall nicht veranlaßt war, die Entstehungsgeschichte ja sogar für die Auffassung des Senats sprach.85 Man kann diese Vorgehensweise entweder als Lippenbekenntnis zur Entscheidung des BVerfG oder aber als vorsorgliche Äußerung für die Zukunft – ein Fall, in der die Entstehungsgeschichte im Weg steht, wird in jedem Fall kommen! – deuten. Überzeugen kann beides nicht und so bleibt der Methodenbruch in der Rechtsprechung des höchsten Strafgerichts nicht recht erklärbar. In einer weiteren Entscheidung im 18. Band zum Begriff der „Absicht“ im Staatsschutzrecht86 greift der BGH wiederum eingehend auf die genetische Auslegung zurück, um den Sinn und Zweck der Norm zu ermitteln. Die Entstehungsgeschichte sei gerade im Staatsschutzrecht von besonderer Bedeutung, da hieraus ersichtlich werde, wie weit der Staat sich selbst erkennbar gegen Angriffe schützen wolle (BGHSt 18, 246 [249 f.]). Seitdem ist es in der Rechtsprechung des BGH zur Verwertbarkeit der Entstehungsgeschichte für die Bestimmung des Gesetzesinhalts deutlich ruhiger ge85 Interessanterweise verfährt die Rechtsprechung nie umgekehrt, indem sie z. B. erklärte: Die Entstehungsgeschichte helfe im vorliegenden Fall zwar nicht weiter, würde sie es aber tun, wären die daraus folgenden Erkenntnis bindend! – Eine solche Aussage erscheint nur auf den ersten Blick als absurd. 86 Näher unten IV 4 b, Fall 139.

230

IV. Entstehungsgeschichte

worden.87 Explizit äußern die Strafsenate sich zu dieser Frage nur noch selten und wenn, dann weniger grundsätzlich. BGHSt 22, 282 (285) greift auf die Entstehungsgeschichte und auf die subjektive Vorstellung der Gesetzgebungsorgane zurück, „mag sie auch für die Auslegung nicht entscheidend sein“. In BGHSt 25, 374 (379) macht der Senat den Rückgriff auf die amtliche Begründung lediglich von dem Junktim eines nicht eindeutigen Wortlauts abhängig. BGHSt 26, 73 (75) möchte die bindende Wirkung der Materialien wie folgt beschränkt sehen: „Daß weder der Amtlichen Begründung noch der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO eine dem Richter bindende Gesetzeswirkung zukommt, hindert nicht etwa daran, sie als Auslegungshilfe . . . heranzuziehen.“

Nachdem die extremen Positionen in diesem Streit schon überwunden schienen, führt BGHSt 26, 156 (160) fast schon atavistisch zurück zur objektiven Theorie:88 Die Rechtsfrage müsse anhand des im Gesetz objektivierten Willens des Gesetzgebers beantwortet werden. Und weiter: „Die Gesetzesmaterialien können als ,Argumentationshilfe‘ (vgl. Raisch . . .) unterstützend, zur Behebung von Zweifeln und unter der Voraussetzung herangezogen werden, daß die Vorstellung der an der Gesetzgebung beteiligten Organe im Gesetz selbst einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden haben (vgl. BVerfGE 1, 299, 312; 11, 126, 130; 20, 238, 253; BGHSt 1, 74, 76; 8, 294, 298; 11, 52, 53; RGSt 37, 333, 334). Eine Auslegung, die diese Grenzen verkennt, läuft Gefahr, sich mit dem Gebot der Bestimmtheit der Strafgesetzes (Art. 103 II GG . . .) in Widerspruch zu setzen . . .“.

Dagegen stellt BGHSt 38, 237 (243) maßgeblich darauf ab, ob die Motive des Gesetzgebers im Wortlaut zum Ausdruck gekommen sind; nur dann bestehe die Möglichkeit, ihnen gegenüber den übrigen Auslegungskriterien Gewicht zu verschaffen: „Im übrigen können die Vorstellungen und Motive des Gesetzgebers immer nur eines von mehreren Auslegungskriterien sein; ihre Bedeutung tritt um so stärker zurück, je weniger sie im Wortlaut der Vorschrift ihren Niederschlag gefunden haben.“

Was ist nun von diesem Sammelsurium an Meinungen zu halten? Auffällig ist zunächst, daß die ausdrücklichen methodologischen Aussagen der Strafsenate zu diesem Thema seltener geworden sind, obwohl ein Konsens in dieser Frage keineswegs erzielt worden ist. Womöglich sieht der BGH die Problematik letztlich nicht als aufklärbar an, zumindest nicht in Richtung der einen oder anderen Position. Schwer erträglich sind Äußerungen, die sich diametral widersprechen, so daß man fast geneigt ist, auch zu diesen auslegungstheoretischen 87 Ebenso Muscheler (in: FS für Hollerbach, S. 107) für die Rechtsprechung der Zivilsenate seit 1975: Es herrsche große Vorsicht und Zurückhaltung. 88 Ein ähnliches Phänomen konstatiert Sachs (DVBl. 1984, 73 [75, r. Sp.]) in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, wo sich nach längerer Unterbrechung BVerfGE 48, 246 (260) wieder deutlich im Sinn der objektiven Theorie äußert.

2. Ist die Entstehungsgeschichte als Erkenntnismittel heranzuziehen?

231

Fragen die Durchführung eines Vorlageverfahrens zu wünschen.89 Eine tendenzielle Wirkung zugunsten eines mehr objektiven Standpunkts haben offenbar die methodischen Äußerungen des BVerfG bewirkt (BVerfGE 1, 299; 10, 234; 11, 126; 20, 238)90, ohne damit aber eine subjektiv-historische Position jemals zu verdrängen91. Die tatsächliche Praxis der Strafsenate läßt im Gegenteil sogar eine große Wertschätzung hinsichtlich historischer Hilfsmittel erkennen, auch wenn aus der Heranziehung historischer Interpretationsmittel sich deren normativer Rang noch nicht zwingend ergibt. Allerdings läßt der BGH sich auch dann, wenn er sich maßgeblich auf die subjektiv-historische Methode stützt, nur ganz ausnahmsweise dazu hinreißen, deren Wert explizit in einer grundsätzlichen methodologischen Aussage zu betonen.92 Aus der Rechtsprechung der Zivilsenate ist auf das wichtige Urteil BGHZ 46, 74 hinzuweisen, das eine ungewöhnliche Apologie der historischen Auslegung enthält. Die methodologischen Widersprüchlichkeiten der Praxis werden schonungslos offengelegt: „Welche Bedeutung der Entstehungsgeschichte bei der Auslegung einer Gesetzesvorschrift zukommt, scheint in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nach den dort wiederholt als grundsätzlich formulierten Sätzen allerdings widersprüchlich beurteilt zu werden. Oft ist der Entstehungsgeschichte nur ein bedingter Wert oder überhaupt kein Wert für die Auslegung . . . beigemessen worden [Nachweise]. . . . Trotz mancher gegenteilig klingender Sätze hat die höchstrichterliche Rechtsprechung denn auch in der Tat die Entstehungsgeschichte immer wieder dann maßgeblich herangezogen, wenn aus ihr . . . Wesentliches für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift zu entnehmen war“ (S. 79 f.).93

Die methodologischen Thesen des BGH, die seine tatsächliche Praxis nicht äquivalent abbilden,94 können im Ergebnis nur so gedeutet werden, daß es dem 89

Vgl. oben Kap. I, Fn. 9 und den dazugehörigen Text. Der BGH verweist auf diese Entscheidungen ausdrücklich in: BGHSt 13, 5 (8); 17, 21 (23); 18, 156 (159); 22, 282 (285); 26, 156 (160); 29, 196 (198); 31, 128 (130); 42, 368 (371) – ganz überwiegend also in der mittleren Periode der amtlichen Sammlung. 91 Der interpretationstheoretische Standpunkt des BVerfG wurde im Lauf der Zeit ebenfalls unklar, vgl. Sachs, DVBl. 1984, 73 (75 f., 78 ff.) und Seiler, Methode im Zivilrecht, S. 50–52; nach Ansicht von H. J. Müller (JZ 1962, 471 [473]) gilt dies sogar schon für die frühen Äußerungen; zu pauschal Bleckmann, JuS 2002, 942 (943). Offenbar ebenfalls schwankend und zum Teil widersprüchlich das schweizerische Bundesgericht, siehe Kramer, Methodenlehre, S. 92–95. Zur Rechtsprechung des BGH in Zivilsachen siehe Muscheler, in: FS für Hollerbach, S. 102 ff., 111: Die Äußerungen seien von „tiefgehender Unsicherheit“ geprägt, die Wahl der Standpunkte sei nicht erkenntnis-, sondern ergebnisorientiert. 92 Eine Ausnahme bildet BGHSt 18, 151 (siehe oben). 93 Es folgen nähere Ausführungen, weshalb die Entstehungsgeschichte besonders wertvoll ist. Eine Einigung in Methodenfragen hat BGHZ 46, 74 aber offenbar nicht erzielt, vgl. Muscheler, in: FS für Hollerbach, S. 107 ff. 94 Ebenso z. B. Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825: Der Praktiker wisse, daß die theoretischen Aussagen nicht der Wirklichkeit entsprechen. Siehe auch Muscheler (in: FS für Hollerbach, S. 129) bezüglich „BGHZ“ und Honsell (Historische Argu90

232

IV. Entstehungsgeschichte

BGH darum geht, eine ungenehme Ansicht des historischen Gesetzgebers für den Fall der Fälle beiseite schieben zu können, notfalls durch Diskreditierung des entstehungsgeschichtlichen Auslegungskriteriums schlechthin!95 Unter Hinweis auf die in BVerfGE 1, 299 (312) vertretene Position ist das stets möglich.96 Daß diese Position allerdings methodengeschichtlich überholt ist, zeigt eine bereits zitierte Äußerung aus einer jüngeren Entscheidung des BVerfG (siehe oben IV 1 e), wonach alle herkömmlichen Auslegungsmethoden ihre Berechtigung haben und keine davon eine Vorrangstellung genießt.

3. Die „Andeutungstheorie“ a) Einführung Schon in einigen der soeben zitierten Äußerungen kam eine methodologische Regel zur Sprache, die eng mit dem Streit zwischen subjektiver und objektiver Theorie verknüpft ist. Die sogenannte Andeutungstheorie will den gesetzgeberischen Willen nur dann berücksichtigt sehen, wenn er im Wortlaut (im „Gesetz“97) zumindest andeutungsweise zum Ausdruck gekommen ist, während die bloße Vereinbarkeit mit dem Gesetzestext nicht genügen soll. Auch diese Lehre wird in vielen Spielarten vertreten und zum Teil im Sinn eines generellen Vorrangs des Wortlautkriteriums im Auslegungsvorgang verstanden; demnach soll nicht nur der Wille des historischen Gesetzgebers, sondern jedes Auslegungsergebnis eines Anhaltspunkts im Gesetzeswortlaut bedürfen.98

mente, S. 129) hinsichtlich der Rechtsprechung des RG: Trotz in diese Richtung zielender Äußerungen sei es auszuschließen, daß das RG der Entstehungsgeschichte einen nur subsidiären Wert beimaß. Eine Diskrepanz zwischen theoretischer Wertschätzung historischer Auslegung und tatsächlicher Praxis beim schweizerischen Bundesgericht konstatiert Liver (Der Wille des Gesetzes, S. 17) bereits 1954. 95 Da Bindungen vermieden werden sollen, kommt auch eine an sich mögliche Äußerung, wie sie oben in Fn. 85 geschildert ist, nicht in Betracht. 96 Siehe Wedel, Entstehungsgeschichtliche Argumente, S. 195: Die methodischen Grundsatzentscheidungen des BVerfG seien nützlich, da je nach Bedarf einsetzbar. 97 Mit „Gesetz“ ist in aller Regel ebenfalls der Text, mitunter auch der systematische Zusammenhang von mehreren Vorschriften, jedenfalls aber etwas „Äußeres“ gemeint. Daß der gesetzgeberische Wille auch erst in einer Gesamtheit von Normen („mittelbar“) zum Ausdruck kommen kann, zeigt die Entscheidung BGHSt GS 19, 206 (siehe unten Fall 114). 98 Von Säcker (in: MüKo-BGB, Einl., Rn. 98) als „alte“ Andeutungstheorie bezeichnet, während „moderne Vertreter“ allein auf den möglichen Wortsinn als Auslegungsgrenze abstellten (Rn. 100). Die hier im Vordergrund stehende Variante, die das Verhältnis zwischen Wortlaut und Entstehungsgeschichte zum Gegenstand hat, wird von Säcker nicht erörtert, obgleich gerade sie in der Rechtsprechung häufig auftritt. Vgl. zum Ganzen auch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 734 ff., Engisch, Einführung, S. 100 f. und Muscheler, in: FS für Hollerbach, S. 127 f.

202

III. Wortlaut und Wortsinn

bücher heran, sondern beruft sich auf das eigene Sprachgefühl („Lehnstuhlmethode“, III 7 c); professionelle (linguistische) Hilfe wird nicht in Anspruch genommen. Weitere Probleme der Wortlautgrenze ergeben sich aus dem Wandel der Zeiten, der mit durchlässigen („porösen“) Begriffen ohne weiteres aufgefangen werden kann (III 7 d); unzulässig ist hingegen die Korrektur primärer oder sekundärer Redaktionsfehler zulasten des Täters, denn dort wird der Rahmen des sprachlich Möglichen verlassen. Fraglich ist, ob zwischen dem Phänomen der Porosität (III 7 d) und einem Bedeutungswandel (III 7 e) sinnvoll differenziert werden kann; vereinfacht gesagt liegt im Fall der Porosität lediglich eine Änderung im Begriffsumfang (Extension), im Fall des Bedeutungswandels ein Wandel des Begriffsinhalts (Intension) vor. Im „möglichen Wortsinn“ ist jedoch Raum für ganz verschiedene Intensionen. Ob innerhalb dieses Rahmens ein Bedeutungswandel zulässig ist, erweist sich somit nicht als Frage des Art. 103 II GG, sondern als Problematik der Bindung an die Vorstellungen des Gesetzgebers (Art. 20 III, 97 I GG; näher unten IV 5). Für die Bestimmung der Wortlautgrenze als semantischen Rahmen kommt es auf das gegenwärtige Sprachverständnis an. Bei der Ermittlung des „möglichen Wortsinns“ sind außer grammatikalischen auch Gesichtspunkte heranzuziehen, die in den Bereich der systematischen Auslegung hineinreichen (III 7 f). Logisch-systematische und kontextbezogene Schlußfolgerungen, die direkt Aufschluß über die Wortbedeutung geben, werden so von der verfassungsrechtlichen Wirkung des Art. 103 II GG „geadelt“. Besondere Probleme entstehen, wenn die relevante Textgrundlage erst aus verschiedenen, unter Umständen nicht ausreichend miteinander abgestimmten Normen zusammengestellt werden muß. Trotz aller Fragen, die das Wortlautkonzept schon theoretisch aufwirft (III 7 a–f), steht im Mittelpunkt der Kritik der tatsächliche Umgang der Strafgerichte mit der Wortlautgrenze (III 7 g). Ob diese ein wirksames Hindernis gegenüber einer zur Ausweitung drängenden Praxis darstellt, hängt vom Beurteilungsmaßstab ab (eingehend dazu in III 7 g aa und ii). Der Vorwurf der Beliebigkeit kann – gegenüber Rechtsprechung und Schrifttum – leicht erhoben und belegt werden, ein „düsteres Bild“ leicht gezeichnet werden. Letzte Sicherheit wird im Grenzbereich zwischen Begriffshof und Begriffsumwelt nie zu erreichen sein. Ein realistischer Standpunkt muß statt dessen auf den Mangel an Alternativen verweisen, die verläßlichere Orientierung bieten könnten, und Verbesserungsvorschläge machen, wie dem Vorwurf einer beliebigen Verfahrensweise begegnet werden kann. Dazu wird das umfangreiche Material an Entscheidungen aus der amtlichen Sammlung in Fallgruppen systematisiert, um typische Argumentationsschwächen aufzeigen zu können (III 7 g bb–hh). Argumentationsmuster des Schrifttums werden vergleichend herangezogen. Eine Prämisse, wonach eine engere Auslegung per se rechtsstaatlich vorzugswürdig ist, ist nicht anzuerkennen. In einer stattlichen Zahl von Fällen (bb) verwerfen die Senate, meist überzeugend und knapp, bestimmte Interpretationen als unzulässige Wortlaut-

3. Die „Andeutungstheorie‘‘

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BGHSt 31, 118 (oben Fall 85) spricht nicht vom „Willen des Gesetzgebers“, sondern vom „auf strafrechtlichen Schutz abzielenden Zweck“ der Norm, der im Wortlaut hinreichend Ausdruck gefunden habe (S. 122).99 Ob damit jedoch einer Andeutungstheorie im weiten Sinn das Wort geredet wird, ist zumindest zweifelhaft. Das Analogieverbot hätte lediglich verlangt, daß die Interpretation mit dem „möglichen Wortsinn“ vereinbar gewesen wäre, und hinsichtlich der sonst so hoch geschätzten teleologischen Auslegung bleibt unklar, weshalb diese eines „hinreichenden“ Ausdrucks im Gesetzestext bedarf, wo sie doch maßgeblicher Gesichtspunkt des Auslegungsvorgangs insgesamt sein soll. Daß andere Auslegungsfaktoren als der historische Wille des Gesetzgebers nach Ansicht des BGH keines entsprechenden Rückhalts im Wortlaut benötigen, wird unten anhand von BGHSt 38, 237 (Fall 115) dargestellt. Die eigentliche Schwäche von BGHSt 31, 118 liegt allerdings darin, daß es hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Wortlaut bei einer bloßen Behauptung des BGH bleibt, obwohl die Frage schwierig und strittig war (näher oben bei Fall 85).

Findet die Intention im Gesetz keinen Niederschlag, kommt zu ihrer Durchsetzung nach dieser Lehre – wenn überhaupt – allenfalls eine Gesetzeskorrektur im Weg der Rechtsfortbildung in Betracht. Für vorliegenden Zusammenhang ist jedenfalls entscheidend, daß die Andeutungstheorie im Streit zwischen subjektiver und objektiver Gesetzesauslegung eine vermittelnde Position einnimmt, indem sie den Willen des historischen Gesetzgebers grundsätzlich, allerdings nur unter bestimmten Kautelen für verwertbar erklärt.100 Daß diese Voraussetzungen „formaler“ Art sind, spricht nicht von vornherein gegen diese Position, die sich insoweit – was zu prüfen ist – vielleicht sogar auf das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot stützen kann. Auch das Analogieverbot wird nach ganz überwiegender Auffassung nach einem formalen Kriterium bestimmt. Eine von der Andeutungstheorie zu unterscheidende (Folge-)Frage im Themenkreis subjektive/objektive Theorie ist die nach der Bindungswirkung der gesetzgeberischen Intention für den Fall, daß die legislative Absicht tatsächlich ihren Ausdruck gefunden hat.

b) Abgrenzungen In der Rechtsprechung des BGH taucht die Andeutungstheorie häufig auf. Eine rückläufige Tendenz ist nicht festzustellen; allenfalls ist zu konstatieren, daß explizite Bekenntnisse zu dieser Theorie seltener geworden sind, was an 99 Ähnlich Tiedemann (Anfängerübung, S. 78): Die Andeutungstheorie verlange, daß der vom Gesetzgeber erkennbar verfolgte Regelungszweck im Wortlaut irgendwie zum Ausdruck gekommen ist. 100 Weil es der Andeutungstheorie um die Durchsetzung des historischen Willens, nicht aber des Gegenwartssinns gehe, sieht H. J. Müller (JZ 1962, 471 [472 f.]) darin eine gemäßigt subjektive Auslegungstheorie. Das wird man freilich nur sagen können, wenn die Anhänger der Andeutungstheorie im Ernstfall den im Wortlaut zum Ausdruck gekommenen Willen des historischen Gesetzgebers als bindend und nicht durch „objektiv-teleologische“ Kriterien überwindbar ansähen.

234

IV. Entstehungsgeschichte

der Häufigkeit ihrer tatsächlichen (impliziten) Heranziehung jedoch nichts ändert. Vor Erörterung der eigentlichen Anwendungsfälle der Andeutungstheorie sind zunächst Entscheidungen auszusortieren, in denen die Durchsetzung des gesetzgeberischen Willens nicht an der „Andeutungstheorie“, sondern an einer anderen, ebenfalls problematischen Auslegungsregel, der „sens-clair-doctrine“ (Eindeutigkeitsregel, siehe oben III 3 c), scheitert. Beide Auslegungsregeln sind einander ähnlich und treten in der Rechtsprechung oft vereint auf, obwohl das durch die zugrundeliegenden Fälle meist nicht veranlaßt ist. In Reinform zum Zug kommt die Eindeutigkeitsregel in der bereits erwähnten Entscheidung BGHSt 1, 74, in der die Entstehungsgeschichte in einem obiter dictum untersucht wird: „Führt die Anwendung eines Gesetzes aus sich selbst heraus zu einem eindeutigen Ergebnis, so kann der abweichende sogenannte Wille des Gesetzgebers regelmäßig keine Beachtung finden, zumal es kein verläßliches Mittel gibt, das seine zweifelsfreie Feststellung ermöglicht.“ (BGHSt 1, 74 [76], Hervorhebungen im Original.)

Nach Analyse der Entstehungsgeschichte gelangt der Senat dann zu dem Ergebnis, daß sich der Wille des Gesetzgebers und der des Gesetzes decken. Zuvor hat der Senat den „Willen des Gesetzes“ anhand des (klaren) Gesetzeswortlauts sowie nach (klarem) Sinn und Zweck ermittelt.101 Dagegen konnte die Entstehungsgeschichte von vornherein nicht mehr ankommen. Eher in Richtung Andeutungstheorie bewegt sich allerdings eine weitere Entscheidung aus dem ersten Band der amtlichen Sammlung: Fall 113 (BGHSt 1, 313): Zu prüfen war eine Strafschärfung gemäß § 20a II StGB a. F. („gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“), was die Begehung von mindestens „drei vorsätzlichen Taten“ voraussetzte. Beim Angeklagten war das problematisch, weil seine Einzeltaten zu einer „fortgesetzten Handlung“ (eine Handlung im Rechtssinn) zusammengefaßt wurden. Das RG hatte sich jedoch aus teleologischen Gründen und in Abwendung von seiner früheren Rechtsprechung dazu entschlossen, die Einzeltaten der fortgesetzten Handlung genügen zu lassen (RGSt 77, 24), weil sich bereits darin der verbrecherische Hang offenbare (S. 26).102 Die Entstehungsgeschichte hatte das RG in RGSt 77, 24 nicht erörtert. BGHSt 1, 313 kehrt zur ursprünglichen Ansicht des RG zurück, weil andernfalls von einem feststehenden und grundlegenden Begriff des Strafrechts abgewichen und zudem dem Begriff innerhalb der gleichen Norm ein anderer Inhalt gegeben werde, denn in Absatz 1 seien unstreitig nur selbständige Taten gemeint. Eine andere Auslegung komme selbst dann nicht in Betracht, wenn sie der Gesetzgeber der Novellierung von 1933 vertreten hätte:

101 Es ist allerdings zweifelhaft, ob die „allgemeinen Erwägungen“, die der BGH im Rahmen seiner teleologischen Auslegung anstellt (vgl. a. a. O., S. 75), noch eine Anwendung des Gesetzes „aus sich selbst heraus“ darstellt. 102 Wie RGSt 77, 24 mit ausführlicher Begründung OLG Düsseldorf SJZ 1950, 284.

3. Die „Andeutungstheorie‘‘

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„Die Gerichte könnten einen solchen etwaigen inneren Willen des Gesetzgebers, der im Gesetz keinen Ausdruck gefunden hat, angesichts des klaren Wortlauts der Bestimmung, der einen seinem Inhalt nach festumrissenen und allgemein gültigen Begriff des Strafrechts verwendet, nicht berücksichtigen.“ (BGHSt 1, 313 [316])103 Aber schon im nächsten Absatz entwertet der Senat seine methodologischen Erkenntnisse, indem er feststellt, daß der Entstehungsgeschichte nichts Gegenteiliges entnommen werden könne; sie spreche sogar für seine Auffassung!

Wiederum also überflüssige methodologische Erwägungen, aber ein erstes Bekenntnis in Richtung „Andeutungstheorie“. Ähnlich geht BGHSt 11, 52 (oben Fall 4) vor, wo der Senat zunächst den unzweifelhaften Wortlaut für sein Ergebnis reklamiert, anschließend aber darauf hinweist, daß auch die Entstehungsgeschichte dies bestätige (S. 53). Für einen Irrtum des Rechtsausschusses gebe es keinen Anhaltspunkt. „Im übrigen wäre eine solcher Irrtum [des Rechtsausschusses] angesichts des klar ausgedrückten Willens des Gesetzgebers bedeutungslos.“ (BGHSt 11, 52 [53])

In allen Fällen also eine ähnliche Vorgehensweise: Obwohl die Entstehungsgeschichte für die Auffassung des BGH spricht bzw. für die Gegenauffassung nur schwache Indizien liefert, werden zusätzlich die formalen Interpretationsregeln herangezogen. Notwendig war das nicht, denn es hätte zur Stützung der eigenen Auffassung genügt, sich auf den stark dafür sprechenden Wortlaut und auf die damit übereinstimmende – jedenfalls nicht entgegenstehende – historische Auslegung zu berufen. Zudem ist die Vorgehensweise des BGH aus Sicht der Praxis auch deshalb fragwürdig, weil die Festlegung auf starre Auslegungsregeln den Spielraum in zukünftigen Fällen verringern könnte. Insofern scheint der BGH sich entweder über den Wert von Eindeutigkeitsregel und Andeutungstheorie sehr sicher zu sein oder aber er möchte, taktisch vorgehend, alle Bemühungen der Interpreten, aus der Entstehungsgeschichte doch noch Gegenteiliges zu folgern, im Keim ersticken. Gegen den klaren Gesetzeswortlaut kommt ein womöglich entgegenstehender Wille des Gesetzgebers auch in der Entscheidung BGHSt 6, 25 (oben Fall 12) nicht an: Die seit 1953 in § 49 StVO a. F., § 71 StVZO a. F. enthaltene Subsidiaritätsklausel „wenn die Tat nicht schon nach anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist“ erfaßt – auf Basis der ganz herrschenden Konkurrenzlehre – sicherlich den Fall der Tateinheit. Bei Vorliegen von Gesetzeseinheit wären die straßenverkehrsrechtlichen Übertretungen ohnehin verdrängt, die Klausel insoweit also überflüssig. Dagegen geht (nach Ansicht des BayObLG) die amtliche Begründung davon aus, mit 103 Ebenso bereits OLG Hessen (Kasseler Senat) SJZ 1949, 570: Es gehe nicht an, „dem Wortlaut des Gesetzes Gewalt anzutun, um kriminal-politische Zwecke zu erreichen“ (Sp. 571). Die Entscheidung des BGH ist erneut Beleg dafür, daß die Auslegung ihre Grenze in der üblichen fachsprachlichen Bedeutung findet (vgl. oben III 7 b und – insoweit ähnlich – Fall 105).

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IV. Entstehungsgeschichte

dem Zusatz sei keine Änderung der bisherigen Rechtslage verbunden, somit nur der Fall der Gesetzeseinheit gemeint. Nach Auffassung des BGH wird diese Interpretation – wenn sie denn wirklich geäußert worden sein sollte – dem wirklichen Inhalt der Vorschrift, wie er sich aus dem „klaren Wortlaut“ ergibt, nicht gerecht (S. 26): „Selbst wenn der Bundesverkehrsminister in der Begründung zu der Neufassung . . . seine Meinung hätte erkennen lassen, durch den . . . Zusatz solle das bisherige Recht sachlich nicht geändert werden, käme ihr angesichts des klaren Wortlauts keine entscheidende Bedeutung zu. Sie hat, wenn sie wirklich bestanden haben sollte, im Gesetz keinen Ausdruck gefunden.“

Die Sache war also schon nach dem klaren Wortlaut vorentschieden (sensclair-doctrine). Daß die entgegengesetzte Interpretation im Wortlaut zudem „keinen Ausdruck“ gefunden haben kann, ist offensichtlich und hätte keiner Erwähnung bedurft. Deshalb ist der Hinweis auf die fehlende „Andeutung“ der legislativen Intention im Gesetzestext immer dann überflüssig, wenn der Wortlaut „klar“ oder „eindeutig“ im Sinn der gegenteiligen Auslegungshypothese bzw. mit der Intention nicht zu vereinbaren ist. In solchen Konflikten zwischen Wortlaut und gesetzgeberischer Vorstellung ist eine Rangfolgefrage zu entscheiden, und sieht man den möglichen Wortsinn generell als Grenzkriterium zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung, kommt in einer solchen Konstellation zur Verwirklichung des gesetzgeberischen Willens nur noch eine Rechtsfortbildung (oder Gesetzeskorrektur) in Betracht. Ist darüber hinaus Art. 103 II GG tangiert, kann es ohnehin nur bei einer dem Wortlaut entsprechenden Deutung bleiben. Der BGH hat insofern des öfteren ungenau argumentiert, indem er – für das Ergebnis allerdings unschädlich – sowohl auf die Eindeutigkeitsregel als auch auf die Andeutungstheorie zurückgegriffen hat: So hält BGHSt 42, 30 (34 f.) wegen eines „eindeutigen“ Wortlauts die Schließung einer Strafbarkeitslücke zu Recht aufgrund des Analogieverbots nicht für zulässig. Aber wenig sinnvoll ist die sich anschließende Aussage, daß anderslautende Hinweise in der Entstehungsgeschichte irrelevant seien, „denn solche Vorstellungen haben in Wortlaut und Systematik keinen hinreichenden [?] Ausdruck gefunden. — Ebenso verfährt BGHSt 42, 291 (293): Schon nach dem Wortlaut sei keine Strafbarkeit gegeben; der sich aus den Materialien ergebende gesetzgeberische Wille sei demgegenüber irrelevant, da er nicht „hinreichend“ zum Ausdruck gebracht worden sei. — Überzeugend stellt BGHSt 43, 366 (369) allein auf die Unvereinbarkeit der Gegenauffassung mit dem Wortlaut ab. Ein womöglich anderslautender Wille des Gesetzgebers wird nicht eigens erforscht und dargelegt, sondern insoweit lediglich auf eine Literaturstimme verwiesen: Ebenso „Tröndle . . . unter Hinweis auf die dem Gesetzeswortlaut entgegenstehenden Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren“. — Mißverständlich drückt sich dagegen wieder BGHSt 47, 243 (oben Fall 105) aus: „Da ein solcher Wille des Gesetzgebers im Wortlaut des Gesetzes aber nicht zum Ausdruck gebracht ist . . ., kann er nicht Grundlage einer mit dem Wortlaut des Gesetzes unvereinbaren [!!] Auslegung des Gesetzes zum Nachteil des Angeklagten sein . . .“ (S. 245). Wenn die subjektiv-historische Auslegung mit dem Wortlaut „unvereinbar“ ist, kann sie dort natürlich keinen „Ausdruck“ gefunden haben. Und umgekehrt: Hat sie dort Ausdruck gefunden, kann sie mit dem Wortlaut nicht „unver-

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einbar“ sein. Die Aussage des BGH ist unsinnig! — Außerhalb der Reichweite des Analogieverbots ist auf BGHSt 25, 357 (359) hinzuweisen: § 224 I 2 StPO verlangt, dem Verteidiger das bei einer kommissarischen Vernehmung erstellte Protokoll „vorzulegen“. Der verschiedentlich und „wohl“ (BGH) auch in den Motiven zur StPO vertretenen Auffassung, wonach die Vorlagepflicht nicht bestehe, wenn der Verteidiger von der Vernehmung unterrichtet wurde, erteilt der BGH eine Absage: Eine solche Beschränkung habe im Gesetz keinen Ausdruck gefunden. Da der Wortlaut insoweit eindeutig sei, gebe es keinen Raum für eine „einengende Auslegung“104.

Ebenfalls keine Fälle der Andeutungstheorie liegen folgenden Entscheidungen zugrunde, die gleichwohl in diesem Zusammenhang von Interesse sind: In BGHSt 31, 10 und 34, 138 läßt es der BGH dahinstehen, ob die Gesetzesverfasser andere Vorstellungen hegten, weil eine dementsprechende Auslegung mit dem Wortlaut im Widerspruch stünde (BGHSt 34, 138 [145]) oder unvereinbar wäre (BGHSt 31, 10 [14]). Fragwürdig ist allerdings die Folgerung des BGH aus dieser Situation: Wegen des Widerspruchs seien die Gerichte an diese Vorstellungen „nicht gebunden“ (jeweils a. a. O.). Da die Befolgung des (möglicherweise) entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers in beiden Entscheidungen zu einer den Wortlaut überschreitenden und damit gemäß Art. 103 II GG unzulässigen Rechtsanwendung zulasten des Täters führen würde, ist die vom BGH gezogene Konsequenz nur im Ergebnis zutreffend: Die Gerichte sind in solchen Fällen nicht von der Bindungswirkung (Art. 97 I GG) befreit, sondern sie dürfen den subjektiven Willen aufgrund rechtsstaatlicher Schranken nicht verwirklichen! c) Inhalt und Maßstab Nach Aussonderung der Fälle, für die von vornherein anderes gilt, die von der Rechtsprechung aber gleichwohl mit der Andeutungstheorie in Verbindung ebracht werden, geht es im folgenden um die Bestimmung des eigentlichen Inhalts dieser Lehre. Interessant ist insoweit vor allem die Frage nach dem Maßstab – Wie muß der Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck kommen? („irgendwie“, „noch“, „hinreichend“, „deutlich“, „zweifelsfrei“) – und nach einer inhaltlichen Begründung für die Anforderungen der Andeutungstheorie. Aufschlußreich sind zunächst Ausführungen des Großen Senats in BGHSt 19, 206: Fall 114 (BGHSt GS 19, 206 – „Volkswagen-Aktien“): Zu entscheiden war, ob die Bundesregierung die Zuteilung von Volkswagen-Aktien von bestimmten Auflagen abhängig machen durfte, obwohl der Gesetzgeber selbst in einem Privatisierungsgesetz (BGBl. I 1960, S. 585) bereits einige der beim Verkauf einzuhaltenden Regeln

104 Es kommt allenfalls eine Gesetzeskorrektur (Reduktion) in Frage. Es ist allerdings fraglich, ob der BGH mit seiner Formulierung scharf zwischen einengender Auslegung und teleologischer Reduktion differenziert.

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IV. Entstehungsgeschichte

bestimmt hatte. Da die Regelungen jedoch nur kursorisch waren und eine darüber hinausgehende Beschränkung der Bundesregierung bei der Abwicklung von Rechtsgeschäften eher ungewöhnlich wäre, sieht der Große Senat keinen Anlaß, die Möglichkeiten der Bundesregierung zu beschneiden: Hätten Bundestag und Bundesrat das gewollt, hätte das im Gesetz selbst „einigermaßen deutlichen, jedenfalls erkennbaren Ausdruck“ finden müssen (S. 211). Fraglich war außerdem, ob einige Auflagen der Bundesregierung (Höchsterwerbszahl) sich aus dem Gesetz ergeben. Ein Bundestagsabgeordneter hatte im Gesetzgebungsverfahren eine entsprechende Auffassung vorgetragen, die der Große Senat zumindest im Zusammenhang der einschlägigen Vorschriften (§§ 6–8 des Privatisierungsgesetzes) bestätigt sieht: „Im Gesetz selbst fand diese Ansicht zwar nicht ausdrücklich, aber doch noch hinreichend deutlich mittelbaren Ausdruck“ (S. 213). Im weiteren Verlauf der Argumentation ergibt sich dann aber recht klar, daß der gesetzgeberische Wille durchaus mehr als nur „mittelbar“ im Gesetz zum Ausdruck gekommen ist.105

Der Große Senat stellt in seinen methodenrelevanten Äußerungen nur geringe Anforderungen an die Übereinstimmung von gesetzgeberischer Intention und Gesetzestext. Nach letzterer Formulierung genügt im „Normalfall“ zur Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens schon ein mittelbarer Ausdruck im Gesetz.106 Ein solcher Maßstab ist freilich zu vage, um voraussehbare Ergebnisse zu erzielen. Etwas höhere Hürden („erkennbar“) setzt der Große Senat dann, wenn die im Sinn der Gesetzesverfasser verstandene Regelung ungewöhnlich oder überraschend erscheint bzw. vom sonst Üblichen abweicht. BGHSt 41, 47 (52 = unten Fall 129) verlangt bei weitgehenden Vorstellungen des Gesetzgebers einen „hinreichenden“ Ausdruck, BGHSt 15, 138 (142 = oben Fall 53) sogar, daß der Gesetzgeber seinen Willen „zweifelsfrei“ zum Ausdruck bringt, wenn er vom gesicherten Stand abweichen möchte! Eine solche Abstufung107 klingt bei erster Betrachtung zwar schlüssig, aber eine Grundlage hierfür gibt es nicht. Sie räumt dem Gesetzesanwender zudem, wie die Beispiele zeigen, einen unangemessenen Spielraum ein, indem die formale Hürde des Wortlauts belie105 Davon geht auch der Große Senat aus, der die besagte Auffassung aus einer der Vorschriften „zweifelsfrei“ entnimmt bzw. von einer „aus dem Gesetz selbst klar erkennbaren Regelung“ spricht (S. 214). Die gesamte Beweisführung des Großen Senats wirkt allerdings sehr umständlich. 106 Zum Ausdruck der Intention im „Wortlaut“ oder im „Gesetz“ siehe nochmals oben Fn. 97. 107 Nicht ganz sicher ist, ob auch BGHSt 14, 116 (unten Fall 134) hierher gehört: Aus dem veränderten Wortlaut der Unfallflucht („Fahrzeug“ statt „Kraftfahrzeug“) schließt der BGH nicht auf eine auch Wasserfahrzeuge erfassende Erweiterung dieses Tatbestandes. Aus der amtlichen Begründung ergebe sich ein Änderungswille nur hinsichtlich einer anderen Frage. Eine weitergehende Vorstellung hätte der Gesetzgeber bei einer solch bedeutsamen Erweiterung „klar zum Ausdruck bringen müssen . . . Dem bloßen Schweigen des Gesetzes und seiner Geschichte kann jedenfalls ein so bedeutsamer Änderungswille nicht entnommen werden“ (S. 120). – Hier bleibt offen, ob der Gesetzgeber seinen Willen im Gesetz (Wortlaut) hätte zum Ausdruck bringen müssen oder ob eine entsprechende Äußerung in der amtlichen Begründung genügt hätte.

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big variiert werden kann, je nach dem, für wie ungewöhnlich oder überraschend man die gesetzgeberischen Vorstellungen hält. Wenig aussagekräftig bleibt zudem der vom Großen Senat befürwortete Maßstab des „einigermaßen deutlichen, jedenfalls erkennbaren“ Ausdrucks. Statt dessen sollten Konflikte zwischen Wortlaut und gesetzgeberischen Willen auf einfache Art und nicht mit dem „Formalargument“108 der Andeutungstheorie gelöst werden: Widerspricht die gesetzgeberische Intention dem Wortlaut, kommt ihre Durchsetzung nur im Weg der Rechtsfortbildung in Betracht109, falls dem Art. 103 II GG keine Grenze setzt. Ist die Intention mit dem Wortlaut vereinbar, muß sie maßgeblich sein, wenn nicht andere Faktoren (z. B. die Verfassung) dagegen sprechen. Außerdem ist in solchen Situationen auch ein genauerer Blick auf die subjektiven Vorstellungen der Gesetzesverfasser, also in die Entstehungsgeschichte selbst angebracht: Die Ungewöhnlichkeit einer entsprechenden Äußerung im Gesetzgebungsverfahren läßt womöglich doch Zweifel daran aufkommen, ob es sich dabei wirklich um den „Willen des Gesetzgebers“ handelt!110 In diesen Zusammenhang gehört auch die Entscheidung BGHSt 38, 237, die gewissermaßen eine Weiterentwicklung der Andeutungstheorie enthält und über die ebenfalls schon im vorhergehenden Kapitel berichtet wurde. Der historische Wille ist demnach nur eines von mehreren Auslegungskriterien, dessen Bedeutung davon abhänge, wie stark der Wille im Gesetzeswortlaut seinen Niederschlag gefunden hat (S. 243). Vorstellungen und Motive des Gesetzgebers müssen, um berücksichtigt zu werden, nicht nur irgendeinen Anhalt oder „hinreichenden“ Ausdruck im Gesetzestext finden, vielmehr wird auch ihr Gewicht im Auslegungsprozeß durch das Maß an Übereinstimmung zwischen Intention und Ausdruck bestimmt. Diese Erwägungen erscheinen wiederum auf den ersten Blick plausibel, aber auch hier gilt das eben Gesagte: Für die Rückkoppelung zwischen Wille und Ausdruck gibt es keine Rechtfertigung. Stimmen beide Faktoren überein, so liegt ein erfreuliches Beispiel gelungener Gesetzgebung vor, das den Rechtsanwendungsprozeß stark vereinfacht und die Vorhersehbarkeit der Entscheidung erleichtert. Doch normativ ist das nicht entscheidend. Oder soll wirklich in der Situation, in der ein eindeutiger gesetzgeberischer Wille mit dem Gesetzestext lediglich vereinbar ist, etwas anderes gelten, als wenn dieser Wille zusätzlich noch deutlich zum Ausdruck gekommen ist? Auch die Umsetzung der abstrakten Vorgaben in BGHSt 38, 237 weckt erhebliche Zweifel: Fall 115 (BGHSt 38, 237): Die Vorlegung oder Auslieferung von Akten im Weg der Amtshilfe kann verweigert werden, wenn eine „Sperrerklärung“ der obersten Dienstbehörde vorliegt (§ 96 StPO). Zu entscheiden war, ob eine Beschlagnahme 108 Zur „Überwindung interpretationstheoretischer Formalargumente“ siehe Säcker, in: MüKo-BGB, Einl., Rn. 96 ff. 109 Dazu zählt letztlich auch die Gesetzesberichtigung, vgl. unten IV 8. 110 Näher unten IV 4.

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IV. Entstehungsgeschichte

(§ 94 II StPO) von Behördenakten zumindest dann möglich ist, wenn keine Sperrerklärung abgegeben wird.111 Nach Auffassung des BGH spricht der systematische Zusammenhang der Normen für die Beschlagnahmefähigkeit der Behördenakten, obgleich diese Betrachtung nicht zwingend sei (S. 242). Einem Hinweis darauf, daß der historische Gesetzgeber (in Anbetracht des zur Verfügung stehenden Amtshilfeverfahrens) generell von der Unzulässigkeit solcher Maßnahmen ausgegangen sein soll, begegnet der BGH mit den oben erwähnten allgemeinen Aussagen zur Berücksichtigung der gesetzgeberischen Intention: Selbst wenn der Gesetzgeber dieser Auffassung gewesen sein sollte, „so kann dies mangels eindeutiger und ausdrücklicher Normierung nicht entscheidend sein, wenn andere Gesichtspunkte ohne Widerspruch zum Wortlaut . . . eine entgegengesetzte Auslegung gebieten“ (S. 243). Als letztlich entscheidendes Argument für die Möglichkeit der Beschlagnahme greift der BGH schließlich unmittelbar auf das Verfassungsrecht, nämlich den Grundsatz der Gewaltenteilung zurück.

Unterstellt man die dem historischen Gesetzgeber zugeschriebene Auffassung, dann kann hierfür in § 96 StPO durchaus ein Anhaltspunkt gesehen werden. Die Norm, welche die Herausgabe von Schriftstücken im Amtshilfeverfahren regelt, könnte als lex specialis gegenüber § 94 StPO aufgefaßt werden und eine Beschlagnahme generell ausschließen.112 Die darin liegende Einschränkung der Beschlagnahme muß sich – selbstverständlich – nicht direkt aus § 94 ergeben.113 Der BGH sagt demgegenüber, eine solche Vorstellung sei nicht „eindeutig und ausdrücklich“ normiert, und stellt damit plötzlich höhere Anforderungen, als es zunächst den Anschein hatte. Denn Ausgangspunkt war, daß der historische Wille nur um so stärker zurücktreten soll, je weniger er sich im Gesetzestext widerspiegelt, also eine graduelle Abstufung. Jetzt soll hingegen eine eindeutige und ausdrückliche Normierung notwendig sein, um der gesetzgeberischen Intention gegenüber anderen Gesichtspunkten zum Durchbruch zu verhelfen, die sich ihrerseits nicht einmal aus dem Wortlaut ergeben müssen, sondern diesem lediglich nicht widersprechen dürfen (siehe oben). Die mit dem Wortlaut zumindest vereinbare Intention muß somit gegenüber anderen, ebenfalls mit dem Gesetzestext lediglich vereinbaren Kriterien zurücktreten, wenn diese eine „entgegengesetzte Auslegung gebieten“. Ein schlüssiges methodisches Konzept verbirgt sich hinter all diesen Erwägungen nicht. Schwereres Geschütz gegen den „Willen des Gesetzgebers“ fährt der BGH in der bereits erwähnten Entscheidung BGHSt 26, 156 auf, obwohl dies auf 111 Vorliegend haben Behörde und Dienstherr dem Herausgabeersuchen des GBA nicht entsprochen; der Dienstherr hat gleichwohl keine Sperrerklärung abgegeben. 112 Amelung (NStZ 1993, 48) hält diese Lösung, die auch den Staatsvorstellungen zur Zeit der Abfassung des Gesetzes entspreche, mit dem Wortlaut für vereinbar und weist zu Recht darauf hin, daß es zwar widersinnig sei, jedoch dem Wortlaut am ehesten entspreche, in § 96 StPO überhaupt keine Grenze für eine Beschlagnahme gemäß § 94 II StPO zu sehen, auch nicht für den Fall einer ausgesprochenen Sperrerklärung. 113 Vgl. zur Frage, wie großzügig der BGH bei der Feststellung eines „objektivierten Willens“ sein kann, oben Fall 111 (BGHSt 29, 156).

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Grundlage der Senatsmeinung gar nicht nötig war. Schon die einleitende Bemerkung, daß die Rechtsfrage anhand „des im Gesetz objektivierten Willens des Gesetzgebers“ beantwortet werden müsse (S. 159), läßt nichts Gutes ahnen: Fall 116 (BGHSt 26, 156): Bis zum 4. StrRG haben Rechtsprechung und Lehre für jugendgefährdende Filmvorführungen einen Vorrang der Spezialregelungen des JSchG vor dem schärferen GjS angenommen (BGHSt 15, 153). Die darin liegende Ungereimtheit, daß die Aushändigung jugendgefährdender Schriften eine Straftat nach dem GjS war und dafür automatisch ein strafbewehrtes Werbeverbot gemäß dem GjS galt, während jugendgefährdende Filmvorführungen nur als Ordnungswidrigkeiten nach JSchG (ohne Werbeverbot) geahndet werden konnten, suchte der Gesetzgeber zu beseitigen. Dazu ordnete er in § 15 JSchG an, daß die Strafbarkeit „verbotener Filmvorführungen“ nach dem GjS „unberührt“ bleibe.114 Der BGH ist der Ansicht, daß damit der Vorrang des JSchG vor dem GjS nur bezüglich der „verbotenen Filmvorführungen“ aufgehoben sei, das im GjS angeordnete Werbeverbot somit nicht gelte (S. 160). Vorstellungen der Gesetzgebungsorgane zu dieser Frage seien nur beachtlich, wenn sie im Gesetz selbst „hinreichenden“ Ausdruck gefunden haben. Hier sei der im Gesetz angeordnete „objektivierte Wille des Gesetzgebers“ jedoch eindeutig115, die Entstehungsgeschichte damit irrelevant (S. 161). Gleichwohl geht der Senat näher auf die Gesetzesmaterialien ein, mit dem Ergebnis, daß sich daraus „nur wenig“ für die Gegenmeinung ergebe. Die weitergehend formulierte, dann aber „zur Klarstellung“ geänderte Gesetzesvorlage habe ebenfalls nur die Erfassung der Filmvorführungen bezweckt.116

Zur Erklärung der rigiden Anforderung, daß die gesetzgeberische Intention eines „hinreichenden“ Ausdrucks im Gesetzestext bedürfe, greift der BGH auf ein verfassungsrechtliches Argument zurück: Die Mißachtung der genannten Auslegungsgrenzen widerspreche dem Gebot der Bestimmtheit des Strafgesetzes (Art. 103 II GG).117 Näher erläutert wird das allerdings nicht und deshalb bleibt unklar, welche Auslegungsgrenzen aus dem Bestimmtheitsgrundsatz folgen sollen, der sich ja – anders als das Analogieverbot – vornehmlich an den Gesetzgeber und nicht an den Exegeten wendet (dazu unten V 7 d).118 In der Äußerung des BGH klingt das häufig gegen die „subjektive Theorie“ vorge114 Nach Weides (NJW 1975, 1845) ein Beispiel für eine mißlungene, unklare gesetzliche Außenverweisung. 115 Das Eindeutigkeitsurteil ist in Anbetracht der komplizierten Rechtslage höchst zweifelhaft – die Vorinstanz hält die Norm für „sprachlich nicht ohne weiteres verständlich“, Weides (NJW 1975, 1845 [1846]) für „unklar“. Zudem wäre bei der angeblichen Eindeutigkeit des Ergebnisses der überwiegende Teil der Urteilsgründe schlicht überflüssig. 116 Die „Klarstellung“ hatte jedoch genau den gegenteiligen Effekt, siehe Möhrenschlager, NJW 1975, 399. Anders als der BGH deuten die Entstehungsgeschichte Möhrenschlager (a. a. O.), Uschold, NJW 1976, 226 (227) und die Vorinstanz zu BGHSt 26, 156; dem BGH zust. Weides, NJW 1975, 1845. 117 Vgl. nochmals die wörtliche Wiedergabe oben IV 2, Seite 230. 118 Die Berufung auf RGSt 37, 333 (334) bringt keine Aufklärung. Dort hat das RG zum einen ausgeführt, eine den „Wortlaut ausdehnende Auslegung“ von Strafgesetzen komme wegen § 2 StGB (= § 1 StGB g. F.) nicht in Betracht, zum anderen der Entstehungsge-

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brachte „Vertrauensargument“ an, welches gegen die Heranziehung der Gesetzesmaterialien zu bedenken gibt, daß dem Bürger die Ermittlung dieser – außerhalb des Textes liegenden – Faktoren nicht abverlangt werden dürfe, weil sonst die Voraussehbarkeit der Rechtsfindung nicht gewährleistet sei.119 Stark ist dieser Einwurf freilich nicht, denn es gibt im Rahmen des Auslegungsprozesses eine Reihe weiterer Aspekte (z. B. dogmatische Grundlagen, Präjudizien), die das Ergebnis maßgeblich beeinflussen, dem Gesetzestext und seiner Systematik jedoch nicht ohne weiteres entnommen werden können. Durch das Gesetzlichkeitsprinzip in seiner Ausprägung als Analogieverbot (nicht: Bestimmtheitsgebot!) wird lediglich eine wortlautüberschreitende und täterbelastende Heranziehung des gesetzgeberischen Willens, nicht aber die Berücksichtigung desselben im Rahmen des Wortlauts verboten. Zudem wird der Einwand dadurch neutralisiert, daß gerade die Heranziehung der Entstehungsgeschichte noch am ehesten zu vorhersehbaren Ergebnissen führt. Aber ganz unabhängig von den auslegungstheoretisch zweifelhaften Erwägungen des BGH überrascht der argumentative Aufwand, wenn doch aus der Entstehungsgeschichte nichts Gegenteiliges folgte und der Wortlaut eindeutig war (Art. 103 II GG!). Eine Verbindung zwischen Andeutungstheorie und Bestimmtheitsgebot hatte kurz zuvor bereits BGHSt 25, 151 hergestellt und dabei die Anforderungen an die Erkennbarkeit des gesetzgeberischen Willens im Gesetzestext noch höher gesetzt: Fall 117 (BGHSt 25, 151 – „Benzinpreise“): Nach § 7 der Preisauszeichnungsverordnung von 1969 mußten Inhaber von Tankstellen ihre Kraftstoffpreise grundsätzlich so auszuzeichnen, daß sie innerhalb geschlossener Ortschaften von der Straße her, außerhalb geschlossener Ortschaften für den einfahrenden Kraftfahrer deutlich lesbar waren. Die bußgeldbewehrte Regelung sollte Preisvergleiche ermöglichen und damit für Preisstabilität sorgen (S. 153). Im vorliegenden Fall einer innerörtlichen Tankstelle waren die Preisschilder nur parallel zur Straße, nicht aber schon bei der Zufahrt sichtbar. Das vorlegende Gericht hält das für ausreichend, und der BGH sieht im Wortlaut kein Hindernis für diese Ansicht (S. 154 f.). Auch aus Sinn und Zweck der Vorschrift folgten keine erhöhten Anforderungen an die Auszeichnungspflicht. In der Begründung zur Verordnung sieht der Senat keine „hinreichenden Anhaltspunkte“ für eine „ausdehnende Auslegung“ (S. 156); sie spreche sogar dagegen (S. 157)! „Jedenfalls hat ein dahingehender Wille in der Verordnung keinen sicheren Ausdruck gefunden. Die Bestimmtheit eines Gebots ist aber Grundvoraussetzung jeder für Fälle der Zuwiderhandlung vorgesehenen strafrechtlichen Sanktion“ (S. 156). Darüber hinaus spreche die Ermächtigungsnorm der Verordnung und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gegen die strenge Betrachtungsweise, „weil für sie kein Grund ins Feld geführt werden kann, der im Interesse der Preisstabilität zwingend erforderte, § 7 . . . über seinen Wortlaut hinaus [!!] auszudehnen“ (S. 156 f.).

schichte generell nur geringe Bedeutung zuerkannt. Zum „hinreichenden Ausdruck“ eines Gedankens im Text, sprich zur Andeutungstheorie ist dort nichts zu lesen. 119 Näher Kramer, Methodenlehre, S. 98 f.; Hassold, ZZP 1981, 192 (208).

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Methodisch gesehen bietet diese Argumentation allerlei Anlaß zu Kritik. Zunächst liegt ein Widerspruch darin, daß der Senat in der Verordnungsbegründung Anhaltspunkte für die strengere Meinung sucht, die er „ausdehnende Auslegung“ nennt, schließlich aber keinen Grund sieht, die Vorschrift über ihren Wortlaut hinaus auszudehnen. Wenn aber die schärfere Auffassung eine Wortlautüberschreitung bedeutete, dann erübrigten sich weite Teile der Ausführungen, denn weder der historische Wille des Gesetzgebers noch Sinn und Zweck der Verordnung würden eine Überschreitung des Wortlauts zulasten des Betroffenen rechtfertigen! Die Analyse des gesetzgeberischen Willens überzeugt ebenfalls nicht: Aus der Verordnungsbegründung sollen keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Gegenauffassung folgen, vielmehr soll sie das Ergebnis des Senats stützen. Dennoch muß auch noch – hilfsweise! – die „Andeutungstheorie“ herhalten120 und zwar in verschärfter Form: Jedenfalls habe ein anderslautender Wille in der Verordnung keinen „sicheren“ Ausdruck gefunden. Daß dies der Fall sein muß, schließt der Senat aus dem Bestimmtheitsgrundsatz, womit dessen Einfluß auf die Auslegung von Strafnormen jedoch überschätzt wird. Man mag das Bestimmtheitsgebot als Argument dafür nutzen, von verschiedenen Auslegungsvarianten die am sichersten vorhersehbare zu wählen; den gesetzgeberischen Willen aber nur dann zu berücksichtigen, wenn er sicher verwirklicht wurde, kann aus diesem Verfassungsgrundsatz nicht abgeleitet werden. Andernfalls dürfte etwa eine „objektiv-teleologische“ Auslegung erst recht nicht mehr betrieben werden. Die Andeutungstheorie geht in der Rechtsprechung hin und wieder mit der Formulierung vom „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ einher (vgl. oben BGHSt 26, 156 = Fall 116). Es mag naheliegen, insoweit Bedeutungsgleichheit anzunehmen, denn wenn die subjektiven Vorstellungen der Gesetzesverfasser ihren Ausdruck in Wortlaut und Systematik gefunden haben, könnte man in der Tat von einem „objektivierten Willen“ sprechen. Die Rechtsprechung macht von dieser Formulierung jedoch auch in ganz anderen Konstellationen und uneinheitlich Gebrauch (siehe oben IV 1 e); sie versteht darunter eher den leitenden Gesichtspunkt jeder Auslegung, der aber mangels präzisen Begriffsinhalts einen produktiven Umgang mit dem Gesetz unter dem Schein der Gesetzestreue erlaubt. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sollte bei Übereinstimmung von Wille und Form lediglich auf diese Tatsache hingewiesen werden. Die Formel vom „objektivierten Willen“ kann und muß dem Ergebnis keine zusätzliche Autorität verschaffen.

120 Ebenso verfährt BGHSt 14, 258 (259): Ein solcher Wille des Gesetzgebers sei nicht erkennbar, habe im Gesetz aber jedenfalls keinen Ausdruck gefunden.

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IV. Entstehungsgeschichte

d) Praktische Umsetzung: Wille ist zum Ausdruck gekommen Um den Wert der Andeutungstheorie weiter zu prüfen, soll im folgenden ihre praktische Umsetzung in der Rechtsprechung des BGH untersucht werden. Dabei werden Entscheidungen erörtert, in denen der Wille des Gesetzgebers nach Ansicht des BGH im Wortlaut zum Ausdruck gekommen ist oder in denen das nicht der Fall ist (unten e), darüber hinaus jedoch auch Urteile, in denen die Frage seltsamerweise nicht angesprochen wird, obwohl die Konstellation offensichtlich Gelegenheit dazu bot (unten f). In der ersten Fallgruppe sind folgende Entscheidungen erwähnenswert: Fall 118 (BGHSt 5, 179 – Entzug der Fahrerlaubnis bei „Zechprellereien“?): Der Täter hatte sich u. a. betrügerisch Fahrzeuge verschafft, indem er dem Vermieter seine Fahrerlaubnis vorgezeigt hatte, und Zechprellereien begangen, wobei er seine Kreditwürdigkeit durch den Besitz eines Kraftfahrzeugs vorgespiegelt hatte. Konnte dem Täter deshalb die Fahrerlaubnis entzogen werden? Gemäß § 42m I StGB a. F. war das möglich bei Taten, die „bei oder in Zusammenhang mit der Führung eines Kraftfahrzeuges“ begangen wurden, und der Täter sich durch die Tat als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat. Der BGH schließt aus zwei in der amtlichen Gesetzesbegründung genannten Beispielsfällen – Fortschaffen der Diebesbeute mit einem Fahrzeug bzw. Fahrt zum Tatort – darauf, daß die Maßnahme nicht nur bei Verkehrsverstößen, sondern auch dann in Betracht kommen soll, wenn der Täter eine allgemeine charakterliche Unzuverlässigkeit bewiesen habe (S. 180). Diese Absicht habe im Wortlaut des Gesetzes unmittelbaren (und deutlichen) Ausdruck gefunden, indem das Gesetz den „Zusammenhang mit der Führung“ eines Fahrzeugs genügen läßt. – Der BGH hat recht, wenn er meint, die in den Gesetzesmaterialien genannten Fälle seien vom Wortlaut erfaßt. Aber die daraus folgende Abstrahierung (allgemeine charakterliche Unzuverlässigkeit ausreichend) geht darüber weit hinaus und ist im Gesetzestext nicht „deutlich“ ausgedrückt. Die Abstrahierung dient dem BGH dazu, auch die ihm vorliegenden Fälle noch unter den Gesetzeswortlaut zu fassen, obwohl diese sich doch wesentlich von den in den Materialien genannten Konstellationen unterscheiden. Vor allem das Vorzeigen der Fahrerlaubnis zum Zweck der Besitzverschaffung und der darin liegende Betrug, dürfte kaum im Zusammenhang mit der „Führung“ eines Fahrzeugs begangen worden sein. Vielleicht ist die Auffassung des BGH noch mit dem Wortlaut vereinbar121, aber „unmittelbaren Ausdruck“ hat eine solch weitgehende Deutung dort nicht gefunden.

121 Dagegen Hartung, JZ 1954, 137 (139): Betätigung der Fahrerlaubnis ist notwendig; Schmidt-Leichner, NJW 1954, 159 (162): Auch bei weiter Auslegung des Begriffs „Führen“ nicht mehr von § 42m StGB gedeckt. Anders Bruns, GA 1954, 161 (186, 188) mit einem sehr weiten, vom sonst üblichen Sprachgebrauch abweichenden Verständnis dieses Begriffs; erfaßt sein soll sogar der Fall, in dem der Täter eine Vergewaltigung in einem Wagen vollführt, der geparkt und abgemeldet in der Garage steht! (In BGH JR 1954, 306 hat der Täter das Fahrzeug wenigstens benutzt, bevor es zur Vergewaltigung kam.) Der BGH ist einem so weiten Verständnis später jedoch zu Recht nicht gefolgt, vgl. BGHSt 22, 328 mit knapper und überzeugender Begründung.

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Fall 119 (BGHSt 9, 24; 1, 269): Zu entscheiden war, ob in der Hauptverhandlung die Niederschrift über eine frühere Zeugenvernehmung des ersuchten oder beauftragten Richters gemäß § 251 StPO verlesen werden darf, obwohl es an der nach § 224 I StPO zwingend erforderlichen Benachrichtigung des Angeklagten über die richterliche Zeugenvernehmung fehlte. Die Problematik bestand deshalb, weil nach einer Änderung des § 251 StPO im Jahr 1943 die Verlesung nicht mehr ausdrücklich von der Einhaltung dieser Förmlichkeit abhing. Entsprechend hat BGHSt 1, 269 in einem obiter dictum den Umkehrschluß gezogen und die Verlesung für zulässig gehalten. BGHSt 9, 24 stellt zunächst fest, daß dem Angeklagten ein Anwesenheitsrecht zusteht und er geladen werden muß; dies entspreche dem unmißverständlichen Willen des Gesetzgebers, der in § 224 StPO zum Ausdruck gekommen sei (S. 27 und 28). Auch die Verlesung gemäß § 251 StPO sei somit ausgeschlossen. Der Wille des Gesetzgebers von 1943, der für eine beschleunigte Abwicklung von Strafverfahren in Kriegszeiten habe sorgen wollen, könne wegen rechtsstaatlicher Bedenken nicht mehr entscheidend sein und habe angesichts der Mußvorschrift des § 224 StPO im Gesetz auch „keinen eindeutigen Ausdruck gefunden“ (S. 28 f.). Eine solche Beschränkung der Rechte des Angeklagten hätte der Gesetzgeber im Gesetz klar ausdrücken müssen (S. 29). – Die Lösung des BGH trifft zu, denn das Anwesenheitsrechts würde entwertet, wenn die Verletzung der Benachrichtigungspflicht letztlich ohne Folgen bliebe. Aber die Herleitung des Ergebnisses ist wenig überzeugend. Wenn der Senat die unproblematische Übereinstimmung von Wille und Ausdruck bei § 224 besonders betont, ist damit für die Deutung der eigentlich fallentscheidenden Norm (§ 251) noch nichts gewonnen. Dort aber verlangt der BGH sogar, daß der Wille des Gesetzgebers „eindeutig“ hätte artikuliert werden müssen, um berücksichtigt zu werden. Ein „hinreichender“ Ausdruck, der in der Änderung der Gesetzesfassung gegenüber der Vorläufernorm erblickt werden könnte122 (Umkehrschluß!), soll also nicht genügen. Damit sind die Anforderungen der „Andeutungstheorie“ noch bei weitem überboten. Die Tilgung des gesetzgeberischen Willens mittels der verfassungsrechtlichen Argumente schien dem BGH offenbar nicht zu genügen, so daß er zusätzlich zu einer methodologisch zweifelhaften Regel greifen mußte. Fall 120 (BGHSt 11, 31 – „Prostitution“): Wie der Wille des historischen Gesetzgebers seinen Ausdruck im Gesetz finden kann, zeigt eine Entscheidung zur Frage, ob § 361 Nr. 6a–c StGB (a. F.) die Zulässigkeit der Prostitution, insbesondere in örtlicher Hinsicht, abschließend regelt oder ob daneben polizeirechtliche Reglementierungen möglich sind. Die bis 1927 gültige Fassung des § 361 Nr. 6 hatte ausdrücklich auf die Polizeiverordnungen verwiesen, welche die Voraussetzungen für die Zulässigkeit im einzelnen reglementiert hatten. 1927 erklärte der Gesetzgeber die Prostitution hingegen grundsätzlich für erlaubt, wenn nicht einer der in § 361 Nr. 6 und 6a (ab 1933 Nr. 6a–c) genannten Fälle vorlag (z. B. Nähe zu Schulen oder Kirchen, belästigend oder in kleinen Gemeinden etc.). Unter anderem aus der 122 BGHSt 1, 269 (272) verweist insofern ganz nüchtern darauf, daß § 251 StPO die Verlesung nicht von der Einhaltung der Förmlichkeit des § 224 StPO abhängig macht, wird mit dieser oberflächlichen Analyse der Rechtslage jedoch kaum gerecht. Umgekehrt ist es gleichfalls nicht überzeugend, wenn BGHSt 9, 24 (29) die fehlende Umsetzung des gesetzgeberischen Willens an der Fassung des § 224 StPO (statt § 251 StPO) festmacht.

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IV. Entstehungsgeschichte

Entstehungsgeschichte schließt der BGH auf die Absicht des Gesetzgebers, den Sachverhalt abschließend zu regeln; diese Absicht sei im Gesetz „deutlich“ zum Ausdruck gebracht (S. 37): Ein Vorschlag des Reichsrats, den Ländern das Recht zur Reglementierung explizit zu erhalten, wurde nicht Gesetz; die dieses Recht vorsehende Vorgängervorschrift wurde aufgehoben (S. 37 und 38)123. Der Wille des Gesetzgebers zeige sich zudem in der Differenziertheit der reichsrechtlichen Neuregelung, die alle bislang durch Polizeivorschriften der Länder erfaßten Konstellationen enthalte (S. 38). – Die Indizien sprechen so klar für die Übereinstimmung von gesetzgeberischer Intention und gesetzlichem Ausdruck, daß die umfangreichen Erörterungen des BGH (S. 31–44!) kaum angebracht waren. Fall 121 (BGHSt 19, 109 – „Rädelsführer“): Bei der Frage, was ein „Rädelsführer“ i. S. von § 90a StGB (a. F.) ist, verweist BGHSt 19, 109 (110) auf die parlamentarischen Beratungen. Danach sollten nur die „Drahtzieher“, nicht aber die „Mitläufer“ erfaßt werden. „Dieser klar zum Ausdruck gekommene Wille des Gesetzgebers muß beachtet werden. Es besteht kein rechtspolitischer Grund, den Begriff des Rädelsführers besonders weit auszulegen“ (S. 111). – Die gesetzgeberische Intention spiegelt sich ohne weiteres im Begriff „Rädelsführer“ wider, der natürlich kein „Mitläufer“ sein kann; ein Rückgriff auf die Materialien wäre insofern nicht einmal nötig gewesen. Der BGH hält diesen Gesetzesinhalt zwar für bindend („muß beachtet werden“), doch gibt er in einem – unnötigen und fragwürdigen – Zusatz zu verstehen, daß ein „rechtspolitischer Grund“ womöglich doch den „klar zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers“ überwinden könnte. Fall 122 (BGHSt 24, 369 – „geheimdienstliche Tätigkeit“): Die Ausübung einer „geheimdienstlichen Tätigkeit“ für den Geheimdienst einer fremden Macht (§ 99 I Nr. 1 StGB) setzt nach Auffassung von BGHSt 24, 369 keine organisatorische Einordnung des Täters in den fremden Geheimdienst voraus. Im Gesetzeswortlaut sei der Wille des Gesetzgebers hinreichend zum Ausdruck gekommen, auf jeden Fall alle Personen nach § 99 StGB zu bestrafen, die an der Aktivität des geheimdienstlichen Apparats teilnehmen (S. 371). Viel gewonnen ist damit freilich nicht, und der BGH muß im folgenden zur weiteren Konkretisierung der Norm doch auf die Grundziele des Gesetzgebers – einerseits im Bereich der Landesverteidigung keine Lücken entstehen zu lassen, andererseits den „loyalen“ Bürger vor unangemessener Strafverfolgung zu schützen (vgl. a. a. O., S. 376) – zurückgreifen, zwischen denen letztlich ein Kompromiß gefunden wird. Inwiefern diese Ziele „hinreichenden“ Ausdruck im Gesetzestext gefunden haben, sagt der Senat nicht mehr.

Als Zwischenbilanz kann festgehalten werden: Konstellationen, in denen der gesetzgeberische Wille nach Ansicht des BGH tatsächlich im Wortlaut zum Ausdruck gekommen ist (siehe insbesondere in BGHSt 11, 31 = Fall 120, BGHSt 19, 109 = Fall 121), bieten methodologisch wenig Probleme, was allerdings auch nicht überrascht. Insoweit bringt die Auslegungsregel „Andeutungstheorie“ keinen Erkenntnisgewinn für die Fallösung, und es bleibt offen, ob die gesetzgeberische Intention sich nicht auch dann durchgesetzt hätte, wenn sie 123 Vgl. nochmals den vorhergehenden Fall (BGHSt 9, 24), wo der BGH diesen Umkehrschluß nicht als „deutlichen“ Ausdruck des gesetzgeberischen Willens hat gelten lassen.

3. Die „Andeutungstheorie‘‘

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lediglich mit dem Wortlaut „vereinbar“ gewesen wäre. Allein das verbale Bekenntnis zur Andeutungstheorie schließt diese Möglichkeit jedenfalls nicht aus. Andererseits ist es auch nicht schädlich, wenn der BGH in diesen Fällen auf die Harmonie zwischen subjektiven und objektiven Elementen hinweist.124 Anlaß zur Kritik geben demgegenüber diejenigen Beispiele, in denen der Gerichtshof sich auf die Übereinstimmung zwischen Wille und Ausdruck in einem letztlich nicht maßgeblichen Aspekt beruft, etwa bei einer nicht fallentscheidenden Norm (BGHSt 9, 24 = Fall 119) oder bei einem allgemeinen gesetzgeberischen Ziel, das zur Lösung des konkreten Falls noch nichts beiträgt (BGHSt 24, 369 = Fall 122).125 Womöglich will der BGH mit der Betonung des Einklangs von Wille und Form in einer nebensächlichen Frage suggerieren, daß es beim entscheidenden Aspekt ebenso liegt; überzeugen kann das nicht. Zu kritisieren ist weiterhin der Wechsel des Maßstabs („eindeutig“) in BGHSt 9, 24 (Fall 119): Um einem naheliegenden Umkehrschluß aus einer Gesetzesänderung zu begegnen, werden die Anforderungen an die Erkennbarkeit des gesetzgeberischen Willens ohne Begründung erhöht, was die „Beweglichkeit“ der Andeutungstheorie belegt. Fragwürdig ist die Erwägung des BGH in BGHSt 19, 109 (Fall 121), den im Wortlaut zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers notfalls doch zugunsten rechtspolitischer Erwägungen hintanzustellen. Hier feiert die „objektive Auslegungstheorie“, ohne daß der Fall Anlaß bot, fröhlich Urständ und entwertet den Kompromiß der „Andeutungstheorie“. Denn wenn rechtspolitische Aspekte den (unter Umständen sogar „deutlich“) zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers verdrängen können, hat die Feststellung der Übereinstimmung zwischen Wortlaut und historischem Willen kein großes Gewicht im Auslegungsprozeß. e) Praktische Umsetzung: Wille ist nicht zum Ausdruck gekommen Die Fragwürdigkeit der Andeutungstheorie fällt allerdings weit stärker in den Fällen auf, in denen der BGH den gesetzgeberischen Willen am Wortlaut scheitern läßt: Fall 123 (BGHSt 4, 8): Untersucht wird u. a., ob „minder schwere Fälle“ nur auf äußeren Tatumständen oder auch auf persönlichen Eigenschaften des Täters (Geringfügigkeit der Schuld) beruhen können. Nach Ansicht des BGH weisen die Gesetzesmotive zwar auf die engere Auffassung hin, doch habe das „Gesetz selbst eine derartige Einschränkung nicht ausgesprochen“ (S. 10). Jede Straftat setze „außer der Erfüllung des äußeren Tatbestandes auch eine Schuld des Täters voraus. Ob die Straftat und damit der Fall schwer oder minder schwer zu werten ist, kann daher nur aus der Gesamtheit der äußeren und inneren Tatseite beurteilt werden.“ – Die 124

Als weiteres Beispiel kann BGHSt 30, 285 (292) genannt werden. Sehr deutlich außerdem in BGHSt 46, 238 (253); ansatzweise auch in BGHSt 5, 179 = Fall 118. 125

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IV. Entstehungsgeschichte

Andeutungstheorie erweist sich als bequemer Weg, ein Rangfolgeproblem aus der Welt zu schaffen. Auf Basis einer subjektiven Auslegungstheorie wäre die Lösung nur bei Annahme der Unvereinbarkeit von gesetzgeberischer Vorstellung und Gesetzeswortlaut klar, was hier wohl auch näher liegt: In Anbetracht des Analogieverbots muß die Intention dann zurückstehen; die Gesetzesverfasser wären insoweit einem begrifflichen Fehlverständnis erlegen. Schwieriger läge es bei der Annahme, die Vorstellung des Gesetzgebers komme im Wortlaut zwar nicht zum Ausdruck, sei damit aber zumindest vereinbar. Während sich für Anhänger der Andeutungstheorie diese Frage gar nicht erst stellen kann, müssen „Subjektivisten“ erörtern, in welchem Rangverhältnis die Meinung der Gesetzesverfasser zur möglicherweise entgegenstehenden Systematik oder allgemeinen Dogmatik (Was ist ein „Fall“ bzw. eine „Straftat“?) steht. Zu prüfen wäre auch, ob der gesetzgeberische Wille schon wegen eines etwaigen Irrtums unbeachtlich ist, die Problematik also innerhalb der subjektiv-historischen Auslegung geklärt werden kann. Fall 124 (BGHSt 6, 364 – „Besitz“ eines Führerscheins): Nach der Rechtslage bis 1965 beging nur eine Übertretung gemäß §§ 4, 71 StVZO, wer den Führerschein nicht „bei sich führt“. Ein Vergehen126 gemäß § 24 StVG verwirklichte hingegen, „wer ein Kraftfahrzeug führt, ohne einen Führerschein zu besitzen“ oder „obwohl ihm die Fahrerlaubnis entzogen worden ist“. BGHSt 6, 364 mußte entscheiden, was unter Besitz in diesem Sinn zu verstehen ist. Der Gesetzesentwurf formulierte noch „ohne einen Führerschein . . . zu haben“, womit nur der Fall erfaßt werden sollte, in dem die Fahrerlaubnis noch gar nicht erteilt worden war (vgl. a. a. O., S. 365), nicht aber die Situation, in welcher der Fahrer den Führerschein lediglich nicht bei sich hat. Aus „redaktionellen Gründen“ kam es schließlich zur genannten Fassung. Die h. M. hat den „Besitz“ wie in § 854 BGB verstanden und damit der Norm einen sehr weiten Anwendungsbereich gegeben. Der BGH nimmt eine vermittelnde Position ein: Auf den Besitz im Sinn des bürgerlichen Rechts komme es nicht an, sondern auf die Kontrollmöglichkeit. Deshalb sei die Norm nicht erfüllt, wenn der Fahrer Auskunft über den Verbleib des Führerscheins geben kann (S. 367), wie etwa im vorliegenden Fall, in dem der Führerschein nur vorläufig sichergestellt worden war, nicht aber, wenn der Führerschein verlorengegangen ist oder gestohlen wurde. „Die . . . weitergehenden Einschränkungswünsche der Reichstagskommission [Führerschein noch nicht erteilt] haben im Gesetz keinen erkennbaren Niederschlag gefunden.“ – Der BGH hat zwar einen sachgerechten Kompromiß herbeigeführt, aber inwiefern seine eigene, vermittelnde Ansicht im Gesetz „erkennbar“ zum Ausdruck gekommen ist, ist nicht ersichtlich.127 Insoweit führt die Andeutungstheorie zu einer Diskriminierung des gesetzgeberischen Willens, weil nur dieser einer Spiegelung im Wortlaut bedarf.128 Die Beliebigkeit dieser Argumentationsfigur zeigt noch folgende Erwägung: Angenommen, der BGH hätte sich der weitergehenden Ansicht der h. M. angeschlossen, dann hätte er die von ihm letztlich bevorzugte Meinung ebenfalls 126 Zur Stufenfolge Übertretung/Vergehen/Verbrechen nach altem Recht siehe § 1 StGB i. d. F. bis zum 2. StrRG. 127 Aus einem Vergleich mit den Übertretungsregelungen der StVZO ergäbe sich lediglich, daß es auf das Beisichführen nicht ankommen kann, nicht aber, was im übrigen unter „Besitz“ zu verstehen ist. 128 So gesehen ist die „alte“ Andeutungstheorie (siehe oben IV 3 a und Fn. 98) vielleicht doch konsequenter.

3. Die „Andeutungstheorie‘‘

249

mangels „Andeutung“ im Gesetz verwerfen können. Die verunglückte Gesetzesfassung129 gewährte einen Rahmen, der viele Lösungen erlaubte. Fall 125 (BGHSt 8, 294; 12, 129; 27, 56; 42, 368; GS 48, 189; NJW 2002, 1437 – „Eigenhändigkeit“): Wie es die „Andeutungstheorie“ erlaubt, sich eines unliebsamen Willens des historischen Gesetzgebers zu entledigen, zeigt BGHSt 8, 294 zur Vorschrift der Gefangenenmeuterei. Diese wurde gemäß § 122 III StGB a. F. verschärft bestraft, wenn der Meuterer Gewalttätigkeiten gegen die Anstaltsbeamten verübte. Fraglich blieb, wie Mittäter oder Teilnehmer zu bestrafen sind, die nicht selbst gewalttätig wurden. RGSt 69, 289 hat für den Fall der Mittäterschaft wesentlich auf die Entstehungsgeschichte abgestellt: Die amtliche Begründung zum Gesetzesentwurf für das preußische StGB verlange, daß die Beteiligten persönlich Gewalt verüben (S. 291). Der Entwurf sei so Gesetz geworden, von den Gerichten und dem Schrifttum in diesem Sinn ausgelegt und unverändert in das StGB übernommen worden (S. 292 ff.). Daraus sei zu schließen, daß der Gesetzgeber die vorgefundene Auslegung gebilligt hat und daran nichts ändern wollte (S. 294). Für den Fall der Anstiftung hat das RG die Frage offengelassen. BGHSt 8, 294 sieht im Willen des historischen Gesetzgebers kein Hindernis, auf den Fall des Meuterers, der zusätzlich zu Gewalttätigkeiten anstiftet, aber selbst keine verübt, § 122 III StGB (a. F.) anzuwenden. Denn „im Gesetz selbst“ habe die Absicht des Gesetzgebers keinen Ausdruck gefunden (S. 298).130 BGHSt 12, 129 stimmt dem zu und erstreckt die Anwendbarkeit des § 122 III entgegen RGSt 69, 289 auch auf den Mittäter, der nicht besser behandelt werden dürfe als der Anstifter (S. 131).131 – Wiederum offenbart sich die Willkürlichkeit, die der „Andeutungstheorie“ anhaftet. Der zuvor befolgte Wille der Legislative findet (ohne Gesetzesänderung!) plötzlich im Gesetz keinen Ausdruck mehr. Daß der BGH insoweit sehr variabel argumentiert, zeigt sich in BGHSt 27, 56 zur ähnlich liegenden Problematik, ob eine Strafschärfung gemäß § 125a 2 Nr. 2 StGB das eigenhändige Beisichführen einer Waffe voraussetzt. Der BGH (a. a. O.) ist der Auffassung, bereits der Wortlaut spreche für das Erfordernis der Eigenhändigkeit. Während hier also schon der Wortlaut für diese Auffassung sprechen soll132, hat eine dahingehende Vorstellung des Gesetzgebers nach BGHSt 8, 294 dort nicht einmal Ausdruck gefunden! Für das Erfordernis der Eigenhändig129 Sie wurde – soweit hier relevant – 1965 durch das 2. Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs (BGBl. I 1964, S. 921) in dem Sinn geklärt, daß als Vergehen gemäß § 24 StVG nur noch das Fahren ohne Fahrerlaubnis unter Strafe gestellt wurde. Der Inhalt von BGHSt 6, 364 war damit obsolet. 130 Hierauf beruft sich u. a. BGHSt 44, 13 (18) mit der allgemeinen Aussage: „Entscheidend für die Auslegung eines Gesetzes ist jedoch der in ihm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers“. 131 Zur Fragwürdigkeit dieses Schlusses a minore ad maius siehe die Anm. von Schroeder, NJW 1964, 1113. Nach Auffassung von Hübner (in: LK-StGB9, § 122, Rn. 30) hat der BGH die Entscheidung BGHSt 8, 294 mißverstanden und zu Unrecht auf die Mittäterschaft erstreckt. 132 Das Argument ist unzutreffend, denn der Wortlaut dieser Norm sagt für sich gesehen nichts darüber aus, ob eine Zurechnung der Tatbeiträge gemäß § 25 II StGB erfolgen kann; die Vorschriften des BT sind in aller Regel im Sinn von eigenhändiger Tatausführung formuliert (siehe oben III 7 f). Etwas vorsichtiger argumentiert insoweit BGHSt 42, 368 zu einer analogen Problematik in § 30a II Nr. 2 BtMG; vgl. weiter im Text.

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IV. Entstehungsgeschichte

keit und gegen die Möglichkeit der Zurechnung über § 25 II StGB tritt auch BGHSt 42, 368 für den Tatbestand des § 30a II Nr. 2 BtMG (Mitsichführen einer Waffe) ein, obwohl in den Gesetzesmaterialien gegenteilige Stimmen laut wurden (vgl. a. a. O., S. 370 f.).133 Diese gesetzgeberische Motivation habe im Wortlaut des Gesetzes „keinen ausreichenden Niederschlag gefunden“ (S. 371). Die Andeutungstheorie erweist sich mithin als bequemer Weg, den Willen des Gesetzgebers beiseite zu schieben134, ohne sich in einem Rangfolgekonflikt der Auslegungsmethoden eindeutig vom historischen Willen lösen zu müssen. Welch geringen Wert die Rechtsprechung in Wahrheit der Andeutungstheorie beimißt, zeigt schließlich ein Vorlagebeschluß des 3. Senats (BGH NJW 2002, 1437), der die Entscheidung BGHSt 42, 368 aufgeben will und dabei wiederum „vor allem“ auf den Willen des historischen Gesetzgebers abstellt (S. 1439). Der oben dargelegten Auffassung, daß dieser Wille im Gesetz keinen „ausreichenden Niederschlag“ gefunden hat, begegnet der 3. Senat kühl damit, daß dem Wortlaut auch nichts zu entnehmen sei, was einer Zurechnung gemäß § 25 II entgegensteht!135 Das bedeutet nichts anderes als eine Absage an die Andeutungstheorie. Fall 126 (BGHSt 6, 314 – „in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer“): Daß der BGH ohne weiteres bereit ist, die Beschränkung des gesetzgeberischen Willens durch die Andeutungstheorie fallenzulassen, erhellt auch die Entscheidung BGHSt 6, 314. Der Angeklagte war Geschäftsführer einer GmbH und hatte dabei Gelder unterschlagen. Die Verurteilung wegen betrügerischen Bankrotts (§§ 239 KO a. F., 83 GmbHG a. F.) setzte jedoch voraus, daß er „in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer“ handelte, was nach Ansicht des BGH bei eigennütziger Geldentnahme nicht der Fall ist. Das RG hat allerdings entgegen seiner früheren Rechtsprechung und unter Betonung des Gläubigerschutzes dahingehend argumentiert, eine solche Beschränkung sei im Gesetz selbst nicht zum Ausdruck gekommen (RGSt 73, 68 [70]). Der BGH gibt zu, daß der Wortlaut des § 83 GmbHG (a. F.) insofern zweifelhaft sei, aber gerade deshalb (!) müsse die Entstehungsgeschichte und der Zweck der Vorschrift herangezogen werden (S. 317). Beide Kriterien sprächen für eine enge Auslegung.136 – Die Vorgehensweise des BGH verdient Beifall, widerspricht aber der Andeutungstheorie sogar in ihrer mildesten Variante; „hinreichend“ oder „deutlich“ kommt der gesetzgeberische Wille schon gar nicht zum Ausdruck. Fall 127 (BGHSt 16, 160 – „besondere Sitzgelegenheit“): Merkwürdig kompliziert im Umgang mit der Entstehungsgeschichte zeigt sich BGHSt 16, 160 zur Frage, wie Kinder auf Krafträdern befördert werden dürfen. § 35a III StVZO a. F. (§ 35a IX g. F.) verlangte für die Beförderung eines Beifahrers die Ausrüstung des Kraftrads mit einem zusätzlichen „Sitz“. Bei Kindern unter sieben Jahren galt das nicht, wenn für diese eine „besondere Sitzgelegenheit“ (nach geltender Fassung: ein „besonderer

133

Im Grundsatz also genau die gegenteilige Situation zu BGHSt 8, 294; 12, 129. Daß BGHSt 8, 294 so verfahren ist, sagt auch Schroeder, NJW 1964, 1113. 135 BGHSt GS 48, 189 hat sich dieser Ansicht angeschlossen und BGHSt 42, 368 aufgegeben. 136 Die Interpretation des BGH ist mit dem Wortlaut (wohl) noch vereinbar, so daß eine einschränkende Auslegung, nicht aber eine subjektiv-teleologische Reduktion vorliegt. Positiv zum Ausdruck gekommen ist der gesetzgeberische Wille – so wie ihn der BGH versteht – aber jedenfalls nicht. 134

3. Die „Andeutungstheorie‘‘

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Sitz“) vorhanden war. Im konkreten Fall saß die Mutter auf dem Beifahrersitz und das Kind auf dem Schoß der Mutter. Nach der Verwaltungsvorschrift des Bundesverkehrsministers kam als „besondere Sitzgelegenheit“ nur eine technische Vorrichtung in Betracht, die nach ihrer Bauart zum Sitzen bestimmt ist.137 Der BGH billigt der Verwaltungsvorschrift jedoch keine Bindungswirkung zu und zudem habe der „gesetzgeberische Wille des Bundesministers“ im Gesetz keinen „hinreichend deutlichen Ausdruck gefunden“ (S. 163). Gleichwohl bilde die Verwaltungsvorschrift eine „wertvolle Erkenntnisquelle“, von der abzuweichen der BGH keinen Anlaß sieht, zumal auch die Gefahren des Straßenverkehrs für diese Auslegung sprächen. – Fraglich bleibt zum einen, weshalb der BGH die Heranziehung des gesetzgeberischen Willens überhaupt problematisiert, wenn dieser mit dem Wortlaut zumindest vereinbar ist und mit Sinn und Zweck der Vorschrift harmoniert. Zum anderen ist unklar, woraus sich der Maßstab „hinreichend deutlich“ ergeben soll und was konkret darunter zu verstehen ist. Denn daß mit der „besonderen Sitzgelegenheit“ eine spezielle Vorrichtung gemeint ist, liegt doch um einiges näher am Wortlaut als die Annahme, bereits das Sitzen auf dem Schoß der Beifahrerin genüge.138 Hätte der BGH schlicht erklärt, die Intention des Gesetzgebers (technische Vorrichtung notwendig) sei auch im Wortlaut zum Ausdruck gekommen („besondere Sitzgelegenheit“), hätte sich vermutlich kein Widerspruch erhoben; der abweichende methodische Ansatz – „Ausdruck gefunden“ statt „hinreichend deutlich zum Ausdruck gekommen“! – wäre wahrscheinlich nicht einmal aufgefallen. Insgesamt betreibt die Entscheidung zu hohen methodologischen Aufwand ohne rechtfertigenden Anlaß. Fall 128 (BGHSt 34, 211 – „Hausmüll“): Ein Lehrstück zum Thema Andeutungstheorie enthält BGHSt 34, 211. § 326 I Nr. 4 StGB stellt u. a. die Beseitigung von Abfällen unter Strafe, die geeignet sind, nachhaltig Gewässer, Luft oder Böden zu verunreinigen. Der Rechtsausschuß ging in den Gesetzesberatungen davon aus, daß Hausmüll nicht von der Norm erfaßt sei, obwohl auch von diesem Gefährdungen der Umwelt ausgehen könnten (vgl. a. a. O., S. 212). Eine dahingehende Klarstellung des Gesetzestextes hielt der Rechtsausschuß angesichts der Anlehnung an den Wortlaut einer Vorschrift des Abfallbeseitigungsgesetzes nicht für notwendig. Eine Fehleinschätzung, denn nach Ansicht des BGH hat die Absicht des Rechtsausschusses, nach Abfallarten zu differenzieren, im maßgeblichen Gesetzeswortlaut „keinen Niederschlag gefunden“ (S. 213).139 Zudem widerspreche diese Auffassung dem grundlegenden Gesetzeszweck, möglichst alle gefährlichen Fälle der Abfallbeseitigung zu erfassen (so der Regierungsentwurf). – Der BGH spielt die konkreten Vorstellungen des „Gesetzgebers“ gegen dessen generelle Zielsetzung aus. Entscheidend ist dieses

137 Nach Auffassung von OLG Neustadt DAR 1956, 134 geht auch die amtliche Gesetzesbegründung von diesem Verständnis aus. Die amtliche Begründung könne für die Auslegung des Begriffs zwar „ein Anhalt sein“, entscheidend sei aber, was nach Sinn und Zweck der einschlägigen Vorschriften „sinnvoll ist“. 138 Nach Ansicht des BGH (S. 162) bietet der Wortlaut für keine der Auffassungen einen „sicheren Anhalt“. Die jeweilige Wortauslegung des BGH soll hier jedoch nicht bezweifelt werden. Ähnlich wie BGHSt 16, 160 verfährt die Entscheidung BGHSt 10, 28, die ebenfalls die Andeutungstheorie heranzieht, aber dabei schon ein zweifelhaftes Textverständnis zugrunde legt (näher oben Fall 22). 139 Die in Bezug genommene Vorschrift des Abfallbeseitigungsgesetzes enthält hingegen eine solche Differenzierung, vgl. Schmoller, Anm. JR 1987, 473.

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IV. Entstehungsgeschichte

Argument für den Senat zwar nicht, aber doch hilfreich, um den Vorwurf, sich über den gesetzgeberischen Willen hinwegzusetzen, zu entkräften.140 Im übrigen liegt ein Rangfolgeproblem vor, das wie folgt hätte gelöst werden können: Der Hausmüll ist vom Gesetzestext eindeutig erfaßt (liegt im Begriffskern), so daß ein Ausschluß dieser Fallgruppe zu einem Widerspruch zwischen Wortlaut und Entstehungsgeschichte führt und eine Reduktion des Anwendungsbereichs bedeutet. Für eine solche Rechtsfortbildung (zugunsten des Täters) existiert jedoch in Anbetracht des allgemeinen Gesetzeszwecks keine Rechtfertigung, so daß der Gesetzgeber „sich beim Wort nehmen lassen muß“. Die Formulierung des BGH, die Intention habe im Text keinen „Niederschlag“ gefunden, ist hingegen zu vorsichtig und provoziert wiederum die Frage nach dem Maßstab (irgendeinen, hinreichenden, deutlichen Ausdruck141). Zudem bleibt damit offen, ob eine solche Auslegung nicht zumindest mit dem Wortlaut „vereinbar“ ist und wenn ja, warum das nicht genügen soll. Fall 129 (BGHSt 41, 47 – „Farbsprühaktion mit politischem Inhalt“): Auslegungstheoretisch in vielerlei Hinsicht interessant ist weiterhin BGHSt 41, 47. Die Gründung einer Vereinigung steht unter Strafe, wenn deren Zweck oder Tätigkeit darauf gerichtet ist, „Straftaten zu begehen“ (§ 129 I Alt. 1 StGB). Die Vorschrift ist nicht anzuwenden, „wenn die Begehung von Straftaten nur ein Zweck oder eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung ist“ (§ 129 II Nr. 2 StGB). Trotz dieser Systematik (Regel, Ausnahme) nimmt der BGH wegen des Schutzzwecks, wegen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und wegen der Bedeutung des § 129 als Voraussetzung strafprozessualer Eingriffe eine Einschränkung des § 129 I vor. Die Straftaten müßten in Hinblick auf die öffentliche Sicherheit von einigem Gewicht sein, wofür das Strafmaß nicht entscheidend sei (S. 51). Auch Sachbeschädigungen kämen in Betracht, wenn sie – wie hier bei Farbsprühaktionen mit ausländerfeindlichem Inhalt – geeignet sind, die öffentliche Sicherheit zu beeinträchtigen. Aus einer Äußerung im Gesetzgebungsverfahren, wonach gerade Fälle des Beschmierens von Hauswänden mit politischen Parolen und Verunglimpfungen (§§ 185 ff.) von der Ausschlußklausel des § 129 II erfaßt sein sollen, schließt der BGH nicht, daß § 129 I für Farbsprühaktionen mit Parolen unter keinen Umständen und losgelöst vom Inhalt der Parolen in Frage kommen kann (S. 52). „Eine solche weitgehende Vorstellung wäre jedenfalls deshalb unbeachtlich, weil sie im Gesetz keinen hinreichenden Ausdruck gefunden hat“ (S. 52 f.). – Wieder zeigt sich ein problematischer Umgang mit den Vorstellungen der Gesetzesverfasser.142 Die Äußerung in den Gesetzesmaterialien 140 Es ist fraglich, ob der BGH damit im Sinn der objektiven Auslegungstheorie den „objektiven“ Gesetzeszweck über den Willen des historischen Gesetzgebers stellt, wie es Rudolphi annimmt (NStZ 1987, 324 [325]). Eher liegt ein Widerspruch zwischen konkreter und abstrakter Vorstellung des Gesetzgebers und damit die Frage vor, was davon maßgeblich ist (vgl. unten IV 4 c). 141 Rudolphi (NStZ 1987, 324 [325]) verlangt zur Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens, daß dieser im Gesetzestext „irgendeinen Ausdruck“ gefunden hat. Das ist immerhin noch mehr als die bloße Vereinbarkeit mit dem Wortlaut, denn verlangt ist damit etwas „Positives“, nämlich die Möglichkeit, den Willen aus dem Text herauslesen zu können, während das Kriterium der Vereinbarkeit eher eine getrennte Analyse von Wortlaut und historischem Willen zuläßt. 142 Nach Auffassung von Krehl (JR 1996, 208 [209]) hat der BGH die Vorstellungen des Gesetzgebers „konterkariert“, nach Ansicht von Ostendorf (JZ 1996, 55 [56]) die gesetzgeberische Beurteilung durch eine eigene ersetzt.

3. Die „Andeutungstheorie‘‘

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wird zunächst zugespitzt – eine solche Reichweite hatte sie gar nicht! – und dann gefolgert, daß sie im Wortlaut keinen „hinreichenden“ Niederschlag gefunden habe. Letzteres ist nur insoweit richtig, als das im Gesetzgebungsverfahren genannte Beispiel im Wortlaut nicht auftaucht; aber möglich war die Subsumtion allemal. Im übrigen kommen die in den Gesetzesmaterialien genannten Anwendungsbeispiele im abstrakten Gesetzestext in aller Regel nicht „hinreichend“ zum Ausdruck. Mit der Andeutungstheorie möchte der BGH sich die Vorstellungen des Gesetzgebers vom Hals schaffen. Fall 130 (BGHSt 44, 13 – „längerfristige Videoobservation“): Nicht recht überzeugend ist die „Objektivierung“ des gesetzgeberischen Willens auch in BGHSt 44, 13. Bildaufzeichnungen zu Observationszwecken läßt § 100c I Nr. 1 StPO i. d. F. des OrgKG von 1992 unter bestimmten Voraussetzungen zu. Vor Einführung des § 163f StPO im Jahr 2000 war streitig, ob auch längerfristige Videoüberwachungen von § 100c StPO gedeckt sind oder aber einer speziellen Eingriffsgrundlage bedürfen. In dieser grundrechtsrelevanten Frage ging der Gesetzgeber offenbar von folgender Rechtslage aus:143 § 100c I Nr. 1 regelt aufgrund der Eingriffe in die Rechte am eigenen Wort und Bild nur den Einsatz bestimmter technischer Mittel, während die Observation an sich – auch die längerfristige – bereits durch die allgemeinen Normen der §§ 161, 163 StPO144 abgedeckt ist. Die Frage, ob eine gesetzliche „Klarstellung“ (!) notwendig ist, wurde zwar diskutiert, aber offengelassen. Andererseits gab es sowohl vor als auch nach dem OrgKG Entwürfe, die eine ausdrückliche Eingriffsgrundlage entsprechend dem heutigen § 163f vorsahen, so daß auch der Gesetzgeber (vor und nach dem Gesetzgebungsverfahren zum OrgKG) von einem Regelungs- oder wenigstens Klarstellungsbedarf ausging. Der BGH ist der Ansicht, daß etwaige Bedenken des Gesetzgebers angesichts des Wortlauts in § 100c I Nr. 1 „jedenfalls keinen Niederschlag gefunden“ haben (S. 18). Maßgeblich für die Auslegung sei der objektivierte Wille des Gesetzgebers. – Notwendig war diese „Objektivierung“ nicht, denn die Frage nach der Erforderlichkeit einer expliziten Eingriffgrundlage stellte sich ganz unabhängig von der Diskussion im Gesetzgebungsverfahren anhand verfassungsrechtlicher Kriterien und anderer Normen der StPO. Zudem haben sich etwaige Bedenken im Gesetzgebungsverfahren nicht durchgesetzt, so daß ihr Niederschlag im Wortlaut von vornherein ohne Belang war. Unklar bleibt auch, wie ein sinnvoller Gesetzestext denn wohl aussehen würde, sollte er diese Bedenken widerspiegeln.

f) Außerachtlassen der Andeutungstheorie Gegen die Andeutungstheorie spricht jedoch nicht nur die Art, wie damit verfahren wird, sondern vor allem die Unklarheit darüber, wann sie überhaupt herangezogen wird. In vielen Entscheidungen ist der Wille des Gesetzgebers allenfalls mit dem Wortlaut vereinbar, während zahlreiche andere Gründe für eine 143

Vgl. BGHSt 44, 13 (17 f.) und Rogall, JZ 1998, 796 (797). Ob §§ 161, 163 StPO damaliger Fassung eine Eingriffsgrundlage enthielten, war ebenfalls höchst streitig. Der Gesetzgeber hat dies im StVÄG 1999 (Gesetz vom 2.8.2000, BGBl. I, S. 1253) jedoch im positiven Sinn klargestellt. 144

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IV. Entstehungsgeschichte

gegenläufige Interpretation sprechen. Warum benötigt die Durchsetzung der gesetzgeberischen Intention nicht auch in diesen Fällen eines „hinreichenden“ oder „deutlichen“ oder wenigstens „irgendeines“ Ausdrucks?145 Daß es dieser Floskeln nicht bedarf, zeigt Fall 131 (BGHSt 3, 334; GS 4, 308 – Begriff der „Haft“): Interessant ist insofern die unterschiedliche Beurteilung der Frage, ob der Ausdruck „Haft“ in § 140 I Nr. 5 StPO a. F. (notwendige Verteidigung) nur i. S. von Untersuchungshaft oder umfassend – einschließlich Strafhaft – zu verstehen war. Angesichts des „unklaren Wortlauts“ soll nach Ansicht des Großen Senats auch die Entstehungsgeschichte herangezogen werden, um dem Willen des Gesetzgebers zum Erfolg zu verhelfen (S. 310). Im Gesetzgebungsverfahren wurde zwar der Begriff „Untersuchungshaft“ gegen den Begriff „Haft“ ersetzt. Da aber Ausschüsse und Abgeordnete bis zuletzt von einem engerem Verständnis ausgegangen seien, hält der Große Senat einen Umkehrschluß nicht für gerechtfertigt, zumal damit eine Ausweitung gegenüber dem früheren Rechtszustand verbunden gewesen wäre (vgl. a. a. O., S. 312–316). Demgegenüber hat BGHSt 3, 334 betont, daß Wortlaut und Systematik für die weitere Deutung sprächen. Um davon abzuweichen „müßten andere Umstände, die bei der Ermittlung des Sinnes gesetzlicher Bestimmungen berücksichtigt werden dürfen, schon sehr klare, zweifelsfreie und überzeugende Gegengründe enthalten, . . . zumal wenn es sich um die Einschränkung einer dem Schutze des Beschuldigten dienenden, rechtsstaatlichen Erwägungen entsprungenen Vorschrift handelt“ (S. 336). Aus der Entstehungsgeschichte und auch sonst seien solche Anzeichen nicht erkennbar. – Beide Entscheidungen setzen sich inhaltlich mit den Auslegungskriterien auseinander und kommen letztlich zu unterschiedlichen Ergebnissen. Es verdient Beifall, wenn BGHSt 3, 334 trotz der sich bietenden, sich geradezu aufdrängenden Gelegenheit darauf verzichtet, die Vorstellungen des Gesetzgebers schlicht mit der Andeutungstheorie beiseite zu schieben, etwa mit der Erwägung: „Aus der Entstehungsgeschichte ergeben sich für diese Auffassung keine sicheren Anhaltspunkte; jedenfalls haben dahingehende Vorstellungen keinen (deutlichen, hinreichenden) Ausdruck im Gesetz gefunden.“

Bei unklarem Wortlaut entscheidet der BGH sich (zu Recht) für die Berücksichtigung der gesetzgeberischen Intention selbst dann, wenn dies für den Täter zu einem ungünstigerem Ergebnis führt (z. B. in BGHSt 43, 266). Erstaunlicherweise verhilft der BGH den subjektiven Vorstellungen sogar zum Durchbruch, wenn objektiv-systematische Aspekte stark für die gegenteilige Auffassung sprechen und sogar ein Verstoß gegen das Analogieverbot im Raum steht. So vor allem in BGHSt 29, 311 (oben Fall 34 und Fall 67), wo der „scheinbar“ entgegenstehende Wortlaut mit der Entstehungsgeschichte entkräftet werden soll: Der Gesetzgeber habe den Zweck der Vorschrift in den Gesetzesmaterialien [nicht aber im Gesetz!] „klar zum Ausdruck gebracht“ (vgl. a. a. O., S. 313). Entlarvend wirkt die Bestätigung dieser Ausführungen in BGHSt 35, 21 (23): „Der Senat hat . . . insoweit mit Rücksicht auf die Entstehungsgeschichte keine Bedenken aus dem 145 Siehe z. B. den Vorwurf von Keidel (JZ 1954, 564 [565, r. Sp.]) gegenüber BGHSt 5, 111 (unten Fall 209): Ein solcher Wille des Gesetzgebers ist im Gesetz nicht zum Ausdruck gekommen.

3. Die „Andeutungstheorie‘‘

255

Gesichtspunkt des Analogieverbots gehabt (29, 311 . . . ).“146 Ähnlich ist BGHSt 27, 45 (oben Fall 19 und Fall 54) verfahren. Erstaunlich ist auch die Argumentation in BGHSt 31, 226 (oben Fall 98), wo der Wille des Gesetzgebers zwar mit der Vorläufernorm i. d. F. des EGOWiG im Einklang stand, nicht aber mit der endgültigen Gesetzesfassung nach dem 2. StrRG.147 Obwohl der Wortlaut stark dagegen sprach, hat der BGH dem Willen des Gesetzgebers zum Durchbruch verholfen: Der in den Beratungen zum EGOWiG „deutlich zum Ausdruck gekommene und auch Gesetz gewordene Wille des Gesetzgebers“ habe nach der Gesetzesänderung „keinen eindeutigen gesetzlichen Niederschlag mehr behalten. Unter diesen Umständen ist bei der Auslegung der Vorschriften der gesetzgeberische Wille zu beachten“ (S. 229). – Quasi eine Umkehrung der Andeutungstheorie (in ihrer verschärften Variante): Gerade weil die gesetzgeberische Intention keinen eindeutigen Ausdruck mehr im Gesetz gefunden hat, soll sie herangezogen werden!

Ohne Bedenken greift BGHSt 48, 28 (30 f.) sogar bei der Auslegung eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals („Offenkundigkeit“ bei § 203 II 2 StGB) auf die Gesetzesmaterialien zurück. Auch eine den Wortlaut einschränkende Auslegung auf Basis der Materialien nimmt der BGH oftmals vor, ohne die Zulässigkeit dieser Verfahrensweise – etwa in Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot – überhaupt nur zu erörtern: „Das kommt zwar im Wortlaut des Gesetzes nicht zum Ausdruck. Doch geht aus den Gesetzesmaterialien, namentlich der Begründung zum Entwurf des EGStGB klar hervor, daß . . .“ (BGHSt 42, 230 [234]).148

g) Fazit Konflikte zwischen Gesetzeswortlaut und gesetzgeberischer Intention sind nicht selten. Die Rechtsprechung nutzt die „Andeutungstheorie“, um diese Rangfolgeprobleme149 im Auslegungsprozeß auf bequeme (formale) Weise zu lösen. Gegen die Andeutungstheorie bestehen jedoch erhebliche Bedenken: (1) Ihre theoretische Herleitung ist unklar.150 (2) Sie „diskriminiert“ im Wettstreit verschiedener Gesetzesdeutungen ausgerechnet die Ansicht der Gesetzesverfasser (vgl. BGHSt 6, 364 = Fall 124). (3) Es gibt zahlreiche Entscheidungen, die implizit und explizit gegenteilig verfahren (siehe oben BGHSt 6, 146 Diese Verknüpfung von Analogieverbot und Entstehungsgeschichte ist unhaltbar, vgl. oben III 7 a und dort insbesondere Fall 59. 147 So jedenfalls die Deutung der Entstehungsgeschichte durch den BGH. Dagegen Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 48 und Lenzen, JR 1983, 292 (293); vgl. auch unten den Text vor Fn. 186. 148 Ähnlich BGHSt 30, 328 (329, 331). 149 Als Versuch, das Rangverhältnis der Auslegungsmethoden zu bestimmen, sieht auch Engisch (Einführung, S. 100) die Andeutungstheorie. 150 Vgl. Schneider, MDR 1963, 276 (278): Wissenschaftlich nicht haltbar.

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IV. Entstehungsgeschichte

314 = Fall 126 und die Ausführungen nach Fall 131), ohne einen etwaigen Widerspruch zur Andeutungstheorie zu diskutieren.151 (4) Es bleibt insgesamt unklar, ob und wann auf sie zurückgegriffen wird (vgl. vor allem BGHSt 8, 294 = Fall 125). Auch in Situationen, in denen sich aufgrund „objektiver“ Faktoren (Gesetzestext und Systematik) ein Rückgriff auf diese Lehre offensichtlich anbietet, wird der subjektive Wille des Gesetzgebers mitunter bis in den Grenzbereich des Wortlauts durchgesetzt. „Verlassen“ kann sich der Gesetzgeber darauf jedoch nicht.152 (5) Bei Abweichungen von bisherigen Auffassungen zeigt sich, daß die Andeutungstheorie als bislang tragendes Argument ohne weiteres fallengelassen wird, wenn andere Auslegungskriterien doch vorzugswürdig erscheinen (BGHSt 8, 294 = Fall 125 und BGHSt 6, 314 = Fall 126). (6) Völlig beliebig wechselt die Rechtsprechung den Maßstab, der für die Beachtlichkeit der gesetzgeberischen Intention verlangt wird („hinreichend“, „deutlich“, „noch“, „erkennbar“).153 (7) Plausibel scheint die graduelle Berücksichtigung des Willens je nach dem, wie stark er im Wortlaut zum Ausdruck gekommen ist (siehe u. a. BGHSt 38, 237 = Fall 115). Aber auch hierfür gibt es in Wahrheit keine Grundlage. Regelmäßig ist in diesen Fällen ein näherer Blick in die Entstehungsgeschichte angebracht,154 oder es liegt tatsächlich ein Rangfolgeproblem vor, das inhaltlich und nicht formal entschieden werden muß. (8) Außer dem Maßstab ist zudem unklar, wann etwas im Wortlaut seinen Niederschlag findet (vgl. z. B. BGHSt 5, 179 = Fall 118 und BGHSt 16, 160 = Fall 127). „Wenn sonstige Gründe eine bestimmte Entscheidung fordern, wird sich wohl immer in den Worten dieser Gesetzesstelle oder einer anderen eine ,Stütze‘, eine Andeutung finden lassen.“155 (9) Die bereits bestehenden Probleme der grammatikalischen Auslegung werden vertieft, indem neben der aus Art. 103 II GG folgenden Grenze des „möglichen Wortsinns“ eine weitere hinzugefügt wird, die noch schwieriger zu handhaben ist. (10) An diesem Aufwand bestehen auch deshalb Zweifel, weil unklar bleibt, ob die Rechtsprechung dem

151 Siehe auch Bender, JZ 1957, 593 (594): Praxis verstößt häufig gegen ihr eigenes Dogma; Schneider (wie Fn. 150): Auch die Befürworter nehmen das Dogma nicht ernst. 152 Siehe dazu auch unten IV 7 b mit weiteren Beispielen. 153 Heck, Gesetzesauslegung, S. 154: „Das Reichsgericht wechselt mit den Anforderungen.“ Siehe auch Muscheler, in: FS für Hollerbach, S. 128: „vage und nicht genau nachprüfbare Formulierungen“. 154 Interessanter ist in diesen Fällen, ob ein gesetzgeberischer Wille sich klar oder sicher feststellen läßt, weniger, wie klar dieser Wille im Wortlaut zum Ausdruck kommt. 155 So Heck, Gesetzesauslegung, S. 155. Die Andeutungstheorie gefährde die Rechtssicherheit, ihr Maßstab laufe auf Willkür hinaus (a. a. O.); siehe auch Zimmermann, NJW 1956, 1262 (1263, l. Sp.): „reine Phrase“. Die Beliebigkeit der Behauptung, die Auffassung sei im Wortlaut zum Ausdruck oder nicht zum Ausdruck gelangt, kann mit einfachen Kontrollerwägungen gezeigt werden, siehe z. B. in BGHSt 16, 160 = Fall 127.

3. Die „Andeutungstheorie‘‘

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zum Ausdruck gekommenen Willen Bindungswirkung beimißt. In der Regel wird sie davon nicht abweichen, vereinzelt ist die Bindungswirkung auch explizit festgestellt (BGHSt 18, 151); gleichwohl behält der BGH sich eine Abweichung vor, wenn andere (rechtspolitische, BGHSt 19, 109 = Fall 121) Gründe dazu zwingen. Die Andeutung im Gesetzestext wäre demnach nur Voraussetzung dafür, die gesetzgeberische Intention überhaupt heranzuziehen!156 (11) Der BGH nutzt die Andeutungstheorie generell als bequemes Mittel, ungenehme Vorstellungen des historischen Gesetzgebers beiseite zu schieben157 (vgl. BGHSt 4, 8 = Fall 123 und BGHSt 41, 47 = Fall 129) oder um Konflikte zwischen den Auslegungskriterien gar nicht erst aufkommen zu lassen („. . . kann dahinstehen, denn jedenfalls keinen Ausdruck gefunden . . .“)158, macht es sich damit aber zu leicht. (12) Ein scharfes Schwert gegen jede historische Auslegung ist die „Andeutungstheorie“ in Verbindung mit einer weiteren formalen Interpretationsmaxime: der „Eindeutigkeitsregel“. Das Verhältnis dieser beiden Regeln zueinander und dieser Regeln zum Analogieverbot ist dem BGH jedoch nicht immer klar. (13) Akzeptabel ist der Hinweis auf die Übereinstimmung von Intention und Ausdruck, wenn ein solcher Fall gelungener Gesetzgebung wirklich vorliegt. Methodologisch folgt aus diesen Konstellationen freilich nichts, vor allem keine Rechtfertigung der Andeutungstheorie selbst! (14) Eher verwirrend ist ein solcher Hinweis bei nicht fallentscheidenden Aspekten (vgl. insbesondere BGHSt 24, 369 = Fall 122 und BGHSt 44, 13 = Fall 130). Womöglich will die Rechtsprechung dadurch ihre methodologische Präferenz für die „objektive“ Auslegungstheorie betonen, um im Ernstfall ohne Erklärungsnot von ihr Gebrauch machen zu können. (15) Verwandt ist die Andeutungstheorie mit der Formel vom „objektivierten Willen des Gesetzgebers“, wenn damit nur gemeint ist, daß die legislative Intention einen Ausdruck im Gesetz gefunden und sich damit „objektiviert“ hat; die Rechtsprechung verwendet die Formel jedoch meist in einem anderen, oft fragwürdigen Sinn (näher oben IV 1 e). (16) Insgesamt ist die Andeutungstheorie ein zweifelhaftes Werkzeug einer im wesentlichen „objektiven“ Auslegungstheorie, das zur Rechtssicherheit (Vorhersehbarkeit der Ergebnisse) nur dann beitragen könnte, wenn konsistente Kriterien für seine Nutzung existierten.

156

Vgl. nochmals Fn. 100. Ebenso Wedel, Entstehungsgeschichtliche Argumente, S. 85 f.; Tiedemann, Anfängerübung, S. 78: Die Rechtsprechung gebrauche die Theorie zur Vermeidung „unerwünschter Ergebnisse“. Muscheler (in: FS für Hollerbach, S. 128) zählt sie zum „methodischen Giftschrank“ der Praxis, hält sie aber quantitativ für unbedeutend; diese für „BGHZ“ getroffene Feststellung kann für „BGHSt“ allerdings nicht bestätigt werden. 158 Muscheler (in: FS für Hollerbach, S. 128) sieht in diesem Dahinstehenlassen einen „groben Kunstfehler“. 157

258

IV. Entstehungsgeschichte

4. Die genetische Auslegung a) Allgemeines, Regeln, Paktentheorie „Die theoretische Polemik gegen den ,Materialienkultus‘ hat keinen großen Erfolg erzielt“ konstatiert Heck 1914,159 obwohl gerade seit dem Inkrafttreten des BGB scharfe Einwände gegen die „Kinderkrankheit des Materialienaussagens“, die „blinde Verehrung“ der Gesetzesmaterialien und das „Nachschnüffeln“ nach den Ansichten der Gesetzesverfasser erhoben wurden160. Hecks Urteil trifft noch heute zu, wie ein Blick in die Praxis zeigt, die schlicht alles heranzieht, was nützlich erscheint, um dem Willen des Gesetzgebers auf die Spur zu kommen bzw. die eigene Lösung stützt.161 Läßt man es aber zu, den „Willen des Gesetzgebers“ anhand der Gesetzesmaterialien zu erforschen, dann stellt sich die Frage, nach welchen Regeln dies geschehen soll. Für die Praxis der Strafsenate sind spezifische Regeln oder qualitative Differenzierungen auf den ersten Blick kaum ersichtlich. Theoretische Erwägungen kreisen eher um die Frage, ob die Entstehungsgeschichte überhaupt herangezogen werden darf, weniger um Folgeaspekte. Vielleicht sind mit der Heranziehung der Materialien aber auch keine besonderen methodologischen Probleme verbunden. Einige Gesichtspunkte der Materialienverwertung sollen hier kurz beleuchtet werden. Selbstverständlich ist zunächst, daß keine staatsrechtliche Differenzierung nach dem „Träger“ der Gesetzgebung vorgenommen wird: Bei einer landesrechtlichen Regelung wird der Wille des Landesgesetzgebers ermittelt162, bei einem Gesetz des Kontrollrats dessen Wille163, bei einem Verordnungsgeber dessen Vorstellungen; auch der Wille des nationalsozialistischen Gesetzgebers bleibt nicht von vornherein außer Betracht164; die Vorstellungen des preußischen Gesetzgebers können sich als relevant und auch als maßgeblich erweisen, wenn ein späterer Gesetzgeber dessen Werk übernimmt165. Auf die Materialien eines anderen oder früheren Gesetzes kann zurückgegriffen werden, z. B. wenn es um eine wortgleiche Vorschrift geht166, eine unveränderte Vorläufernorm existiert167 oder der Gesetzgeber in den Materialien auf die Auslegung eines

159

Heck, Gesetzesauslegung, S. 110. Kaum zu übertreffen Endemann, DJZ 1910, 17 (21 f.). 161 Siehe z. B. die eingehenden Darlegungen zu den nach Ansicht des Senats für die Auslegungsfrage „weitgehend unergiebigen“ Gesetzesmaterialien BGHSt 48, 100 (103). 162 Siehe z. B. BGHSt 5, 111 (116); 25, 347 (353); 28, 103 (106). 163 Siehe z. B. BGHSt 4, 24 (30); 20, 81 (85). 164 Siehe z. B. BGHSt 6, 147; 7, 256; 9, 24 und unten IV 4 f. 165 Vgl. z. B. BGHSt GS 1, 158 (162); 8, 294 (296); 22, 260 (261); 28, 224 (230). 166 Z. B. BGHSt 4, 279 (ZPO-StPO). 167 Vgl. z. B. BGHSt 1, 175 (179, zweifelnd); 8, 294 (298); 30, 98 (102). 160

4. Die genetische Auslegung

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anderen Gesetzes verweist168. Mitunter werden auch weit zurückliegende Vorgänge einer erneuten Prüfung und Neubewertung unterzogen.169 Das Gesetzgebungsverfahren selbst bietet vielerlei Quellen170, von denen die Praxis umfangreich Gebrauch macht: Stellungnahmen von Abgeordneten oder Regierungsvertretern vor dem Plenum bei den Lesungen oder in Ausschüssen und Unterausschüssen,171 Äußerungen im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens wie Entwurfsbegründungen oder ministerielle Verlautbarungen. Der Große Strafsenat hat dies wie folgt zusammengefaßt: „Beachtlich sind allerdings in diesem Rahmen nur die ausweislich der Sitzungsniederschriften unmittelbar bei den parlamentarischen Verhandlungen verlautbarten Auffassungen allein oder in Verbindung mit dem der gesetzgebenden Körperschaft zur Erleichterung der Willensbildung unterbreiteten Ergebnis der gesetzgeberischen Vorarbeiten. Von Bedeutung sind somit u. a. der bei den einzelnen Lesungen mitgeteilte Verlauf der Ausschußberatungen sowie der bekanntgegebene Inhalt und die zum Gegenstand der Berichterstattung gemachte Regierungsbegründung der Gesetzentwürfe, die der endgültigen Gesetzesvorlage zugrunde lagen.“ (BGHSt GS 4, 308 [310])

Besonders intensiv genutzt wurden die der Strafrechtsreform vorausgehenden Berichte der von 1954–1959 tagenden „Großen Strafrechtskommission“172 sowie des „Sonderausschusses des Bundestags für die Strafrechtsreform“173 (1966–1969). Bei der Verwertung der Materialien geraten im Einzelfall die Grenzen zwischen der Deutung gesetzgeberischer Äußerungen zu „normalen“ Literaturstimmen durchaus ins Fließen. Einerseits können literarische Stellungnahmen zu „Quasi-Materialien“ aufsteigen, andererseits Äußerungen in den Motiven zu Literaturstimmen degradiert werden:

168

Siehe z. B. BGHSt 17, 149 (151); 43, 266 (268). Z. B. BGHSt GS 1, 158 (162 f.); 12, 42 (44 ff.); 15, 88 (94 ff.). 170 Näher Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825 (2826 f.). 171 Regierungsvertreter: BGHSt 12, 120 (124); 13, 337 (343); 16, 168 (170); 17, 112 (118); 25, 44 (49); 26, 117 (118); 27, 52 (55); 27, 307 (310); 29, 168 (171); 31, 207 (210); 31, 1 (5); 31, 76 (79); 32, 165 (172); 32, 203 (206); 32, 357 (364); 34, 146 (149); 34, 184 (187). Berichterstatter vor Bundestag oder Ausschüssen: 1, 74 (77); 2, 99 (103); 3, 334 (337); GS 4, 308 (314, 315); 5, 211 (213); 6, 394 (397); 7, 198 (201); 9, 142 (145); 9, 285 (289); 11, 171 (180); 11, 233 (234); 12, 120 (125); 12, 197 (201); 13, 32 (37); 15, 40 (44); 18, 246 (250); 20, 100 (102); 20, 342 (360); 22, 14 (18); 32, 165 (179); 43, 370 (378). Die namentliche Benennung einzelner Abgeordneter ist offenbar im Abnehmen begriffen, was vielleicht an der selteneren Diskussion strafrechtlicher Gesetze im Plenum liegt. 172 Siehe z. B. BGHSt 11, 324 (328); 11, 345 (347); 12, 295 (297); 13, 91 (96); 13, 207 (208); GS 14, 38 (47); 14, 68 (73); 14, 89 (95); 14, 353 (357); 16, 282 (295); 16, 374 (377); 20, 342 (358); 21, 334 (365); 21, 377 (380); 22, 282 (287); 22, 375 (379); 24, 213 (215); 28, 26 (27); 28, 129 (132); 29, 204 (207, 210); 29, 300 (304); 31, 185 (187); 31, 226 (228); 34, 4 (8 f.); 34, 59 (60); 40, 218 (232); 42, 230 (234); 44, 355 (359). 173 In Band 23–44 sind über 200 Nachweise enthalten. 169

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IV. Entstehungsgeschichte

„Nirgends [in den Gesetzesmaterialien] kommt auch nur andeutungsweise zum Ausdruck, daß . . . Nichts anderes gilt für die das Gesetzgebungsverfahren begleitenden oder ihm vorausgehenden Wortmeldungen aus Wissenschaft und Praxis, soweit sie Anregungen und Vorschläge zur gesetzlichen Regelung des Verteidigerausschlusses enthielten, . . .“ (BGHSt 36, 133 [135]). — „Nicht beigetreten werden kann allerdings der Ansicht, . . . Hierauf weisen zwar die Motive hin; das Gesetz selbst hat jedoch eine derartige Einschränkung nicht ausgesprochen“ (BGHSt 4, 8 [10]). — „Wie die Begründung zum E 1962 . . . überzeugend darlegt, . . .“ (BGHSt 24, 103 [106]). — BGHSt 28, 272 f.: Die in der Begründung zum Regierungsentwurf enthaltene „Auslegung trifft jedoch nicht zu“.

Die Variationsbreite historisch-genetischer Auslegung erstreckt sich nicht nur auf die Art der herangezogenen Quellen, sondern auch darauf, in welcher Weise die Vorstellungen in den Gesamtvorgang der Gesetzeskonkretisierung eingebracht werden: als maßgebliches und erstes Indiz für den gesetzgeberischen Willen, nur – in der Praxis ein besonders beliebtes Argumentationsmuster – als Bestätigung für das anderweitig gefundene Ergebnis oder bloß als diesem nicht entgegenstehend.174 Feste Regeln für die Verwertung und Interpretation der Gesetzesmaterialien existieren nicht.175 Die bereits im 19. Jahrhundert für die ständische Gesetzgebung entwickelten Anleitungen, wie im Regel- und Konfliktfall mit legislativen Äußerungen zu verfahren ist176, sind eher in Vergessenheit geraten und fanden keine Fortschreibung. Die theoretische Enthaltsamkeit erstaunt, wenn man bedenkt, wie tief die Durchdringung dogmatischer Fragestellungen von geringer Relevanz in der Rechtsprechung gedeihen kann. Andererseits ist diese Entwicklung angesichts des Siegeszuges der objektiven Auslegungstheorie verständlich, denn wenn der Heranziehung der Materialien von vornherein jeder Wert abgesprochen wird, erscheinen Bemühungen, die Voraussetzungen ihrer Verbindlichkeit nach subtilen Regeln zu bestimmen, wenig fruchtbar. Konsequent können dann Äußerungen aus dem Gesetzgebungsverfahren wie sonstige Literaturstimmen, je nach sachlicher Relevanz zum gerade vorliegenden Thema, herangezogen werden; besondere Autorität können sie dann nicht beanspruchen. Argwohn wecken unter diesem Hintergrund auch die nicht seltenen Entscheidungen des BGH, die zunächst die Unbeachtlichkeit der historischen Auslegung behaupten oder zumindest andeuten, anschließend jedoch („selbst wenn . . .“) tief in die Entstehungsgeschichte eintauchen.177

174 Zu den Argumentationsmustern im einzelnen Wedel, Entstehungsgeschichtliche Argumente, S. 54 ff. 175 U. Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung, S. 86. 176 Vgl. die Zusammenstellung bei U. Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung, S. 37 ff., insbesondere zu von Wächter, Krug, Mittermaier, von Mohl. Siehe außerdem die Regeln bei Heck, Gesetzesauslegung, S. 116 f. 177 Z. B. BGHSt 1, 74; 12, 42; 26, 156.

4. Die genetische Auslegung

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Statt selbst positive Regen für die Heranziehung der Gesetzesmaterialien herauszuarbeiten, ist die subjektive Theorie hinreichend damit beschäftigt, die gegen sie erhobenen Einwände auszuräumen. Vor allem unter dem Stichwort „Willensargument“ werden ernstzunehmende Angriffe geführt, welche unmittelbar mit der Frage nach den Regeln zusammenhängen. Die Angriffe verweisen auf die Komplexität des Gesetzgebungsverfahrens, in dem aufgrund der Vielzahl der beteiligten Organe ein einheitlicher „Wille des Gesetzgebers“ kaum feststellbar sein wird und aus Einzeläußerungen von Personen nur schwerlich auf einen „Gesamtwillen“ des Parlaments geschlossen werden kann.178 Der BGH hat mehrfach betont, es gebe „kein verläßliches Mittel“ zur „zweifelsfreien Feststellung“ des gesetzgeberischen Willens.179 Diese Einwände werfen zum einen eine Legitimationsfrage auf, wenn die historische Auslegung nur auf eine – möglicherweise noch so kompetente – Stimme der Ministerialbürokratie gestützt werden kann. Zum andern kann unklar bleiben, ob sich die Äußerungen der beteiligten Personen im Gesetzgebungsverfahren wirklich als „herrschend“ durchgesetzt haben, ob sie sogar – womöglich stillschweigend!180 – zurückgenommen wurden oder ob sie eventuell irrtumsbefangen und fehlerbehaftet sind. All das macht deutlich, daß eine subjektiv-historische Interpretation nicht ohne Zuschreibungen auskommt, der „Wille des Gesetzgebers“ also in einer wertenden Betrachtung aller Indizien ermittelt werden muß, wovon die Gesetzesmaterialien sicher zu den stärksten zählen. Aber auch sie sind kritisch zu betrachten, interpretationsbedürftig181 und einer „würdigenden Behandlung“ (Heck182) zu unterwerfen. So kann beispielsweise eine Abgleichung zwischen subjektiv-historischer (genetischer) und objektiv-historischer (evolutionärer) Auslegung auf Unstimmigkeiten hindeuten, die es als fraglich erscheinen lassen, ob wirklich die Meinung eines Abgeordneten mit dem Willen des historischen Gesetzgebers in eins gesetzt werden darf; auch eine Differenz zwischen „eindeutigem“ Wortlaut und den subjektiven Vorstellungen seiner Verfasser kann zu näherer Prüfung veranlassen, worauf die Diskrepanz beruht. Berücksichtigt werden kann in diesem Zusammenhang auch, ob es sich um gut ausgearbeitete Kodifikationen oder aber um oberflächlich durchdachte „Gelegenheitsgesetze“ handelt, „die aus zufälligem Anlaß, ohne vertiefte Durchbildung zustande kommen“183. Erst bei Beachtung dieser Faktoren ist der Standpunkt der sogenannten Paktentheorie überzeugend, die Folgerungen aus Gesetzesbegründungen und sonstige Äuße178 Siehe zum Willensargument Bydlinski, Methodenlehre, S. 431; Larenz, Methodenlehre, S. 329; Liver, Der Wille des Gesetzes, S. 17 f.; Hassold, ZZP 1981, 192 (207); U. Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung, S. 78 f.; nach Schwalm (in: FS für Heinitz, S. 50) liegt hier der Hauptmangel der subjektiven Theorie. 179 BGHSt 1, 74 (76); 15, 138 (141). 180 Maurer, Staatsrecht, Rn. 52. 181 Loos, in: FS für Wassermann, S. 125. 182 Heck, Gesetzesauslegung, S. 113. 183 RGSt 37, 333 (334); zum „Gelegenheitsgesetz“ auch BGHSt 1, 74 (76).

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IV. Entstehungsgeschichte

rungen auf das gesetzgeberische Ziel bzw. den „Willen des Gesetzgebers“ nur für zulässig hält, soweit diese Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren unwidersprochen geblieben sind.184 Stets ist nach Anhaltspunkten Ausschau zu halten, die gegen die in der Paktentheorie liegende Fiktion oder Vermutung, der Gesetzgeber habe sich die Entwurfsbegründung o. ä. zu eigen gemacht, sprechen könnten und dann zu näherer Prüfung der Entstehungsgeschichte zwingen. Entscheidungen des BGH enthalten häufig die Wendung, diese oder jene Auffassung habe keinen Widerspruch im weiteren Gesetzgebungsverfahren gefunden185, z. B. BGHSt 17, 149 (152): „Gegen diese Auffassung [des Abgeordneten] hat sich im weiteren Gesetzgebungsgang kein Widerspruch erhoben. Der Wille des Gesetzgebers ging also eindeutig dahin, daß . . .“. BGHSt GS 19, 206 (213): Ebenso äußerte sich der Abgeordnete Dahlgrün im Bundestag, „ohne daß ihm jemand widersprach.“ BGHSt 27, 90 (96): „Für einen derart weittragenden Beurteilungswandel im Laufe der Beratungen im Ausschuß liegt kein Anhalt vor.“ BGHSt 29, 168 (172): Dem ist weder im Rechtsausschuß noch im weiteren Verfahren widersprochen worden. BGHSt 31, 309 (313): „Dieser sich aus der amtlichen Begründung ergebende normative Gehalt des damaligen § 9 OWiG . . . ist im Gesetzgebungsverfahren nicht streitig geworden (vgl. Sten. Prot. . . .). Die Zweifel des vorlegenden Gerichts, ob die Begründung des Gesetzes noch dem Willen des Gesetzgebers im Zeitpunkt der Verabschiedung entsprach, finden in den Materialien keine Grundlage.“ Wie groß die Wirrungen eines Gesetzgebungsverfahrens sein können, zeigt BGHSt 31, 226 (oben Fall 98 und S. 255). Der Fall liegt kompliziert, weil im Rahmen der großen Strafrechtsreform unterschiedliche Gesetzesfassungen – eine Übergangsregelung (im EGOWiG) und die endgültige (im 2. StrRG) – verabschiedet wurden. Offenbar kam es im Lauf des Verfahrens zu einer Diskrepanz zwischen dem Inhalt des Abschlußberichts des Sonderausschusses und einer gutachterlichen Stellungnahme des Ausschußvorsitzenden für den Rechtsausschuß. Der BGH stellt allein auf die Darlegungen des Vorsitzenden ab und konstatiert auf dieser Grundlage hinsichtlich der Gesetzesfassung ein Versehen des Gesetzgebers (vgl. a. a. O., S. 228 f.). Nach Ansicht von Lackner und Lenzen hat der BGH die in den Materialien liegende Widersprüchlichkeit übersehen und damit zu Unrecht einen Sinneswandel der Gesetzesverfasser angenommen; das Beratungsergebnis sei eindeutig, der Bericht des Vorsitzenden darüber falsch.186 In jedem Fall hinterließ die Entstehungsgeschichte Zweifel, ob hier die Einzeläußerung des Vorsitzenden als „Wille des Gesetzgebers“ gelten durfte, zumal sie mit dem Wortlaut nicht harmonierte. Zu beachten sind weitere Tücken genetischer Interpretation: Protokolle können unzulänglich sein187, parlamentarische Äußerungen können deshalb unwidersprochen 184 Für die Paktentheorie u. a. Bydlinski, Methodenlehre, S. 432; Engisch, Einführung, S. 120; Loos, in: FS für Wassermann, S. 125; Säcker, in: MüKo-BGB, Einl., Rn. 124; Wedel, Entstehungsgeschichtliche Argumente, S. 199. 185 Siehe außerdem: BGHSt 8, 59 (66); 10, 46 (49); 10, 163 (172); 11, 233 (235); 17, 112 (118); 18, 151 (156); 19, 63 (73); 24, 243 (246 f.); 24, 249 (252); 28, 103 (106); 34, 321 f. 186 Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 47 f.; Lenzen, JR 1983, 292 (293). 187 Näher Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825 (2826, r. Sp.).

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bleiben, weil es sich schlicht um die letzte Stellungnahme im Verfahren handelt; daneben können Versuche der Verzerrung unternommen werden, indem der Redner seine Ansicht als vorherrschend bezeichnet und dies im Protokoll vermerkt wird. Esser hat dem BVerfG dahingehende Versäumnisse hinsichtlich der Entscheidung zur „Fristenlösung“ (BVerfGE 39, 1) vorgeworfen und die Berücksichtigung von handwerklichen „Mindestanforderungen“ historischer Auslegung angemahnt.188

Der BGH folgt im Ergebnis grundsätzlich der Paktentheorie und wird in Fällen, in denen er einen widerspruchsfreien und eindeutigen Willen des Gesetzgebers festgestellt hat, kaum von diesem abweichen. Das besagt freilich noch nichts über den Wert der genetischen Auslegung im Vergleich zu den übrigen Auslegungskriterien, sondern nur, daß die Heranziehung der Gesetzesmaterialien den Anforderungen der Paktentheorie genügen muß. Auch bei eindeutig erkennbarem gesetzgeberischen Willen spricht der BGH nur selten von einer „Bindung“ an das Ergebnis,189 wie er überhaupt bei Verwendung der historischen Auslegung in aller Regel auf die ausdrücklich Heraushebung ihres Wertes im Kanon verzichtet. Der wahre Wert würde sich somit erst in einem echten Konfliktfall der Auslegungskriterien erweisen. Schon das scharfe Schwert der „Andeutungstheorie“ stimmt jedoch hinsichtlich der Gewichtung der gesetzgeberischen Vorstellungen im „Ernstfall“ skeptisch. Es ist allerdings auch fraglich, ob der BGH einen eindeutigen gesetzgeberischen Willen überhaupt besonders hervorkehren würde, falls andere Aspekte für ein gegenteiliges Ergebnis sprächen. Den aus dem Willensargument erhobenen Einwänden gegen die Verwertung der Gesetzesmaterialien kann somit im Ergebnis weitgehend Rechnung getragen werden, ohne daß eine Beseitigung aller „heuristischen Mängel“ (Heck190) möglich wäre: Zunächst sind die Äußerungen aus dem Gesetzgebungsverfahren „redlich“, d.h. insbesondere vollständig sowie wahrheitsgetreu191 und auch dann zu verwerten, wenn sie der anderweitig gewonnenen Lösung entgegenstehen. Widersprüchen, z. B. zwischen abstrakten Zielvorstellungen und Einzeläußerungen der Beteiligten (siehe unten c) oder zwischen objektiv-historischen Umständen und subjektiven Vorstellungen, ist nachzugehen. Soweit möglich sind Diskrepanzen auszugleichen; gelingt das nicht, muß eine Gesamtabwägung der Auslegungsfaktoren entscheiden. Besondere Vorsicht ist unter Umständen 188

Esser, JZ 1975, 555 (556, l. Sp.). Daß der BGH sich nicht festlegen will, zeigt sinnfällig die Formulierung in BGHSt 13, 102 (117), wonach die zweifelsfrei ermittelte Vorstellung der Urheber zum Gesetzessinn „häufig“ die Auslegung bestimmen „wird“! Für eine Bindung freilich BGHSt 18, 151 (156). Zu beiden Entscheidungen oben IV 2. 190 Heck, Gesetzesauslegung S. 113. 191 Unzutreffend wiedergegeben sieht sich z. B. Arndt durch BGHSt 13, 102; der BGH mache sich Legenden zu eigen (NJW 1959, 1230 [1231]). Auch sonst sei die in BGHSt 13, 102 praktizierte Zitiermethode bedenklich (S. 1230). – Zumindest zweifelhaft ist die Heranziehung der amtlichen Begründung z. B. auch in BGHSt 15, 138 (siehe oben Fall 53 und dort insbesondere Fn. 208), denn das letztlich verabschiedete Gesetz lautete anders. 189

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gegenüber der Stellungnahme einzelner Personen geboten (siehe unten b). Irrtümer der Gesetzesverfasser und sonstige Fehler verlangen eine eingehende Prüfung, was als „wahrer“ Wille des Gesetzgebers gelten darf (unten IV 8). Ist der gesetzgeberische Wille aus den Materialien eindeutig erkennbar (und verfassungsgemäß), ist dieser bindend;192 unter Beachtung von Vertrauensschutzerwägungen ist in diesem Fall auch eine Entscheidung gegen den eindeutigen Gesetzeswortlaut möglich. Für die Feststellung des maßgeblichen Willens des Gesetzgebers ist es nicht relevant, ob dieser im Wortlaut „angedeutet“ ist oder sich daraus klar ergibt; entscheidend ist vielmehr, wie eindeutig der Wille selbst erkennbar ist!193 Kein Problem der subjektiven Theorie stellt es dar, daß die Entstehungsgeschichte zuweilen überhaupt keine Anhaltspunkte für die Ansicht des historischen Gesetzgebers liefert und damit das „Nachschnüffeln“ nach legislativen Äußerungen an seine Grenzen stößt; dann ist im Zweifel das gewollt, was die übrigen Interpretationsfaktoren nahelegen.194 Ein fehlender oder nicht widerspruchsfrei feststellbarer historischer Wille spricht jedenfalls nicht gegen eine Bindung für den gegenteiligen Fall.195 Der Vorrang der subjektiven Auslegung gilt eben nur „im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten“ (Loos196). Ein spezielles Problem der genetischen Auslegung ist die Frage, ob die Gerichte dazu berechtigt oder sogar verpflichtet sind, bei Unklarheiten über den „Willen des Gesetzgebers“ Beweis zu erheben, etwa durch Vernehmung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen. G. und D. Reinicke befürworten eine dahingehende Verpflichtung der Praxis als notwendige Konsequenz der subjektiven Auslegungstheorie, und vereinzelt sind einige Gerichte in der Tat so verfahren.197 Das RG hat eine entsprechende Vorgehensweise des KG mit folgender Begründung gebilligt: „Der Richter . . . ist befugt und verpflichtet, sich den zur Erkenntnis und Auslegung des Gesetzeswillens ihm erforderlich oder dienlich erscheinenden Stoff, mag er der Entstehungsgeschichte des Gesetzes oder sonstigen Umständen zu entnehmen sein, in jeder dem richterlichen Feingefühle geeignet erscheinenden Weise zu verschaffen. . . . Er ist bei seiner Tätigkeit nicht beschränkt auf die Gesetzgebungsdrucksachen und sonstige Urkunden, sondern gegebenenfalls auch in der Lage, bestimmte

192

Zum Einfluß sich wandelnder Lebensverhältnisse siehe unten IV 5. Siehe z. B. BGHSt 32, 221 (226): Die Gesetzesmaterialien seien insoweit „eindeutig“. 194 Engisch, Einführung, S. 120: Dann ist der „vernünftige Sinn“ das vom Gesetzgeber Gewollte. Rüßmann, in: Elemente einer juristischen Begründungslehre, S. 148: Auch vom Gesagten kann auf das Gewollte geschlossen werden. 195 Vgl. Liver, Der Wille des Gesetzes, S. 18. Stratenwerth (in: FS für Germann, S. 266) hält es hingegen für willkürlich, den Rechtsanwender an die oft nur zufällig vorhandenen legislativen Äußerungen zu bestimmten Zweifelsfragen zu binden. 196 Loos, in: FS für Wassermann, S. 129. 197 G. und D. Reinicke, MDR 1952, 141 (142, l. Sp.) mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 193

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Vorgänge durch Abhörung von Zeugen oder Auskunftspersonen anderer Art aufzuklären und festzustellen.“ (RGZ 81, 276 [282])

Jedoch dürfte nicht nur das „richterliche Feingefühl“ regelmäßig gegen eine Zeugenvernehmung sprechen, sondern gewichtige Sachgründe: Welche Beteiligten wären zu vernehmen? (Alle?) Wie stünde es um die Zuverlässigkeit der Aussagen? Würde der politische Meinungskampf vor Gericht fortgesetzt? Sollen alle Gerichte oder nur die Revisionsinstanzen hierzu berechtigt sein?198 Entschieden abzulehnen ist eine methodensynkretische Vorgehensweise, welche die Materialien je nach Bedarf und Erwünschtheit des Ergebnisses „dekorativ“ heranzieht, bei Übereinstimmung der Auslegungskriterien von einer Bindung an den historischen Willen ausgeht, bei einem Widerspruch die bindende Kraft bestreitet und bei einem Schweigen der Materialien unterstellt, der Gesetzgeber hätte sich bei anderer Auffassung gegenteilig geäußert!199 b) Einzeläußerungen versus Kollektivwille Schwierigkeiten der genetischen Auslegung können sich insbesondere bei der Heranziehung von Einzeläußerungen aus dem Gesetzgebungsverfahren ergeben, wenn Zweifel bestehen, ob es sich dabei wirklich um die Absicht des Gesetzgebers handelt, ob also von einem Einzel- auf einen „Kollektivwillen“ geschlossen werden darf. Im strengen Sinn „bindend“ sind nicht die konkreten Vorstellungen der Beteiligten,200 sondern die darin zum Ausdruck kommende Regelungsabsicht und Wertentscheidung. In aller Regel wird hier keine Diskrepanz liegen, aber wenn eine parlamentarische Äußerung dem in der Entwurfsbegründung geäußerten Regelungsziel oder der „objektiven“ Entstehungsgeschichte (z. B. Streichung oder Hinzufügung von Gesetzesformulierungen) widerspricht, ist in einer wertenden Betrachtung zu ermitteln, was als Wille des Gesetzgebers gelten darf. Oft können so Fälle, welche die Rechtsprechung mit den Formalregeln „Andeutungstheorie“ und „Eindeutigkeitsregel“ löst, schon im Rahmen der Entstehungsgeschichte entschärft werden. Endet die historische Analyse freilich in einer Aporie, kann ohne weiteres in einer Rangfolgeentscheidung der Auslegungsfaktoren dem klaren Wortlaut oder anderen Kriterien der Vorzug gegeben werden.

198 Diese und andere durchgreifenden Bedenken bei Heck, Gesetzesauslegung, S. 119 f. 199 Ein solches Vorgehen der Praxis konstatiert Schneider, MDR 1963, 368 (369, l. Sp.). 200 Bydlinski, Methodenlehre, S. 433: Bestimmte Vorstellungen sind keinesfalls bindend, „mögen sie auch erklären, warum das Gesetz gerade so erlassen wurde“. Larenz, Methodenlehre, S. 329: Keine „bindende Richtschnur“, aber gleichwohl von „erheblichem Wert für die Auslegung“.

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IV. Entstehungsgeschichte

Der BGH hat sich nur selten in allgemeiner Form über den Wert einzelner parlamentarischer Stellungnahmen geäußert. Verdikte, welche die historische Auslegung generell abqualifizieren, erstrecken sich freilich auch darauf. In BGHSt 12, 42 (43) wird sogar betont, daß „insbesondere Äußerungen von Regierungsvertretern und Abgeordneten bei der Beratung eines Gesetzes für dessen Auslegung nur ein bedingter Wert zukommt“. Im übrigen werden parlamentarische Stellungnahmen aber selbstverständlich verwertet. Welcher Rang ihnen zuerkannt wird und wie ernst die Senate sich damit auseinandersetzen, zeigen einige interessante Entscheidungen: Fall 132 (BGHSt 2, 99 – Vernehmung der Verhörsperson?): Enthält § 252 StPO (= § 251 a. F.) für den Fall, daß ein vor der Hauptverhandlung vernommener Zeuge erst dort von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, nur – wie es der Wortlaut nahelegt – ein Verlesungsverbot oder ein darüber hinausgehendes Verwertungsverbot, das z. B. auch die Vernehmung der Verhörsperson als Zeuge verbietet? Die reichsgerichtliche Rechtsprechung hat auf den klaren Wortlaut abgestellt und der Entstehungsgeschichte nichts Gegenteiliges entnehmen können (z. B. RGSt 5, 142; 48, 246; 70, 6; RGR 3, 449 und 678). Nur RGSt 10, 374 hat in einem ausführlichen obiter dictum eine andere Ansicht vertreten; aus der Entstehungsgeschichte (Beratungen im Plenum u. a.) ergebe sich zweifelsfrei, daß die Gesetzesverfasser in einer Beweisaufnahme über den Inhalt der Aussage eine unzulässige Gesetzesumgehung sahen. Der BGH hat sich dieser Ansicht angeschlossen, soweit es um nichtrichterliche Verhörspersonen geht.201 Der Wortlaut sei „nicht so eindeutig“, als daß er eine der vertretenen Auffassungen ausschlösse (S. 101).202 Besonderes Gewicht mißt der BGH dann der Entstehungsgeschichte bei, mit der sich „bezeichnenderweise“ nur RGSt 10, 374 befasse (S. 102). Eine Aussprache im Reichstag behandelte genau die vorliegende Konstellation, nach Ansicht des BGH mit dem Ergebnis, daß man das Verlesungsverbot als Verbot auffaßte, „die frühere Aussage in irgendeiner Form zu verwerten und zum Gegenstand der Beweisaufnahme (von Schwarze) in der Hauptverhandlung zu machen.“ Der gegenteiligen Auffassung eines Abgeordneten sei der Berichterstatter mit der Bemerkung entgegengetreten, „wenn durch derartige ,Manipulationen‘ der Gedanke und die Vorschrift des Gesetzes ,illusorisch‘ gemacht werden könnten, höre jede Gesetzgebung auf.“ Diese Äußerungen veranlassen den Senat zu methodologischen Erwägungen: „Die Bedeutung dieser Vorgänge liegt weniger darin, daß sie zeigen, welchen Sinn die verantwortlichen Urheber der Vorschrift des § 252 mit ihr verbanden; denn es 201 Diese, noch heute gültige Differenzierung zwischen richterlichen sowie anderen Verhörspersonen stand schon damals auf schwachen Füßen und hat spätestens 1964 mit der gesetzlichen Fixierung von Belehrungspflichten für alle Vernehmungsorgane in § 163a StPO ihre Grundlage verloren. In der Entscheidung RGSt 10, 374, auf die der BGH sich im übrigen stützt, ging es um einen Untersuchungsrichter. 202 Das ist eine sehr fragwürdige Annahme, denn der Wortlaut der Norm spricht nur von „Verlesung“! Das Strafprozeßrecht mag einen darüber hinausgehenden Rechtssatz kennen, der in solchen Fällen auch die (indirekte) Verwertung auf andere Weise als Gesetzesumgehung verbietet, aber das ändert nichts an der klaren und beschränkten Formulierung des § 252 StPO. Unmißverständlich demgegenüber z. B. Meyer-Goßner, StPO, § 252, Rn. 12: „Über seinen Wortlaut hinaus verbietet § 252 . . .“.

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kann zweifelhaft sein, ob reine Inhaltsvorstellungen die Auslegung einer gesetzlichen Bestimmung für alle Zeit zu binden vermögen. Sie beweisen aber, . . . worin der Rechtfertigungsgrund für die Vorschrift liegt, welchen Zweck man mit ihr verfolgt hat, und welche Zweckvorstellungen auch heute allein die Auslegung bestimmen dürfen.“ (S. 103 f.)

Diesen Erwägungen ist zuzustimmen. Es ist nach der aus der Einzeläußerung zu entnehmenden Regelungsabsicht der Gesetzesverfasser zu forschen. Wie diese ihr Werk „auslegen“, ist demgegenüber weniger entscheidend. Daneben sind Einzeläußerungen mit weiteren Indizien wie der objektiv-historischen Auslegung und der Gesetzessystematik203 abzustimmen. Im Extremfall kann ein Irrtum der Urheber vorliegen (dazu unten IV 8). Nachdenklich stimmt das vom Berichterstatter bekundete und vom RG enttäuschte Vertrauen in die zukünftige Rechtsprechung (andernfalls „höre jede Gesetzgebung auf“). Die Gesetzesverfasser sollten daraus die Lehre ziehen, auch das, was ihnen selbstverständlich erscheint, zu kodifizieren. Zumal bei grundlegenden strafprozessualen Fragen wie der Lehre von den Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten war dies wünschenswert und notwendig; es ist bis heute nur rudimentär geschehen. Zurückgewiesen werden Stellungnahmen der am Gesetzgebungsverfahren (indirekt) Beteiligten in folgenden Entscheidungen: Fall 133 (BGHSt GS 9, 385 – Freisler): Nach dem E 1936 sollte § 211 Abs. 1 und 2 StGB lauten: „Wer einen Menschen tötet, wird, wenn er besonders verwerflich gehandelt hat, als Mörder . . . bestraft. Besonders verwerflich handelt in der Regel, wer die Tat aus Mordlust [usf.] begeht.“ Die 1941 verabschiedete, bis auf die Strafandrohung noch heute gültige Fassung formuliert hingegen abschließend: „Der Mörder wird mit . . . bestraft. Mörder ist, wer aus Mordlust [usf.] einen Menschen tötet.“ Gleichwohl hat Freisler als ehemaliges Mitglied der amtlichen Strafrechtskommission, die den E 1936 vorbereitete, angenommen, auch die letztlich verabschiedete Fassung umreiße die Anwendungsfälle nicht abschließend; bereits Abs. 1 enthalte alles, was für die Strafbarkeit mindestens gesagt werden müsse.204 Die im Entwurf enthaltene Formulierung „in der Regel“ sei nur zur Textstraffung gestrichen worden, habe aber nicht das Verhältnis von Abs. 1 zu Abs. 2 ändern sollen; dafür spreche auch die amtliche Begründung.205 Nach Ansicht des Großen Senats fällt angesichts des eindeutig gegenteiligen Wortlauts „die Ansicht eines Mitgliedes der amtlichen Strafrechtskommission nicht ins Gewicht“ (S. 388). „Sie ist ersichtlich unrichtig und läßt sich auch nicht auf den Satz der amtlichen Begründung stützen: . . .“. Fall 134 (BGHSt 14, 116 – „Unfallflucht“ auf Wasserstraßen?): § 139a StGB i. d. F. von 1940 (= § 142 i. d. F. des 3. StÄG 1953) sprach anders als die Vorläu203 Auch die Systematik der §§ 249 ff. StPO sprach für die Ansicht der BGH, vgl. a. a. O., S. 102. 204 Freisler, DJ 1941, 929 (934, r. Sp.). Letzteres ist allerdings nur unter dem Hintergrund der damals propagierten Lehre vom „Tätertyp“ verständlich. Da diese Lehre ohne weiteres gegen das Bestimmtheitsgebot des GG verstößt, ist die Auffassung Freislers eigentlich schon irrelevant. 205 Freisler, DJ 1941, 929 (935, l. Sp.).

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IV. Entstehungsgeschichte

fernorm nicht vom Fahrer eines „Kraftfahrzeugs“, sondern nur von „Verkehrsunfall“ und „Fahrzeug“. War damit eine Normerweiterung auch in bezug auf den Schiffsverkehr verbunden? Zur Feststellung des gesetzgeberischen Sprachgebrauchs ermittelt der Senat die Entstehungsgeschichte. Aus der amtlichen Begründung ergebe sich, daß zwar der Täterkreis erweitert werden sollte (auf Beifahrer, Radfahrer, Fußgänger), aber nicht über den Straßenverkehr hinaus! (Vgl. a. a. O., S. 119 f.) Die Erfassung von Luft- und Schiffsverkehr sei denkbar, aufgrund der Unterschiede zum Straßenverkehr hätte der Gesetzgeber dies jedoch „klar zum Ausdruck bringen müssen“ (S. 120), zumal ein Warten am Unfallort bei Unfällen in der Luft gar nicht, auf dem Wasser nur schwerlich in Betracht komme (S. 121). Daß der damalige Referent im Justizministerium (Rietzsch) im Anschluß an die amtliche Begründung auch den „Flugverkehr“ erwähne und vielleicht auch den Schiffsverkehr habe erfassen wollen, sei nicht entscheidend (S. 121). Denn angesichts der dargelegten Unterschiede bestünden „auch dann . . . gewichtige Bedenken gegen die Annahme, es sei der Wille des Gesetzgebers gewesen, was der seinerzeitige Referent für diesen Willen möglicherweise hielt.“ Eine andere Bewertung sei trotz der Bedenken aus der Entstehungsgeschichte nur bei – hier nicht ersichtlichen – „dringenden kriminalpolitischen Gründen“ gerechtfertigt (S. 122). Fall 135 (BGHSt 27, 52 = oben Fall 43, Videoverleih ist keine „Leihbücherei“): Aus den Gesetzesmaterialien sei ersichtlich, daß die Abgeordneten zwar eine Lücke erkannt und deren Schließung erwogen, letztlich aber darauf verzichtet haben (S. 55). „Die abschließende Bemerkung des Ausschußvorsitzenden, wenn es zu der von ihm erwarteten gewerblichen Vermietung von Filmkassetten und Tonbändern pornographischen Inhalts komme, ,könnten die Gerichte nicht anders, als auch diese Fälle . . . zu erfassen‘ . . ., stellt lediglich eine die künftige Rechtsprechung betreffende Prognose eines Abgeordneten dar, ändert aber nichts daran, daß der Sonderausschuß in Kenntnis der oben bezeichneten Lücke davon abgesehen hat, dem Deutschen Bundestag eine Fassung der Vorschrift vorzuschlagen, die auch die gewerbliche Vermietung pornographischer Filme durch hierauf spezialisierte Unternehmen erfaßt hätte. Inzwischen mag ein Bedürfnis erkennbar geworden sein, den Strafschutz in dieser Richtung zu erweitern. Es wäre dann aber Sache des Gesetzgebers, die Strafvorschriften zu ändern. Deren jetziger eindeutiger Inhalt verwehrt es den Gerichten, jenen Bereich in die Strafbarkeit einzubeziehen“ (S. 55 f.). – Schroeder (JR 1977, 231 [232]) erkennt in dieser Argumentation die typischen Probleme einer subjektiven Auslegung. Der BGH habe zwar die im Sonderausschuß herrschenden Vorstellungen zutreffend wiedergegeben; zu beachten sei aber auch, daß der Vorsitzende sich zuletzt äußerte und niemand widersprach206 (S. 233). Zudem sei gerade im vorliegenden Fall die Distanz zwischen Gesetzesverfasser (Sonderausschuß) und Gesetzgeber zu groß, als daß die Auffassung der Verfasser als Wille des Gesetzgebers angesehen werden könnte.

Im Fall BGHSt 9, 385 widerspricht die Stellungnahme des Kommissionsmitglieds der objektiv-historischen Auslegung (Formulierungsänderung im Gesetzgebungsverfahren) und ist – nach Ansicht des Großen Senats – auch nicht mit der amtlichen Begründung zu vereinbaren. Deshalb kann die Stellungnahme 206 Zur Problematik dieses Argumentationsmusters siehe jedoch oben den Text zu Fn. 188 (Esser).

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nicht mit dem Willen des Gesetzgebers identifiziert werden. Etwas schwieriger liegt es in BGHSt 14, 116, aber auch hier harmoniert die Äußerung des Referenten nach Meinung des Senats nicht mit der amtlichen Begründung und weiteren Umständen. Leider wird die subjektiv-historische Auslegung durch den abschließenden Gedanken entkräftet, wonach kriminalpolitische Interessen ein anderes Ergebnis legitimieren könnten.207 In beiden Fällen hätte zusätzlich darauf verwiesen werden können, daß die Äußerungen nachträglich oder begleitend erfolgten, nicht aber originär aus dem Gesetzgebungsverfahren stammten („halbamtliche Begründungen“208). Auch die Argumentation in BGHSt 27, 52 trifft zu, denn aus der vagen Ansicht des Ausschußvorsitzenden kann nicht auf einen gegenteiligen legislativen Willen geschlossen werden.209 In keinem der genannten Fälle lag ein möglicherweise zu berücksichtigender (Motiv-)Irrtum des Gesetzgebers (dazu unten IV 8), sondern allenfalls ein Irrtum einer Einzelperson vor. Zu großer Verwirrung und methodologisch zweifelhaften Annahmen des BGH hat eine Einzeläußerung aus dem Gesetzgebungsverfahren zur Reichweite des Absichtsbegriffs im Staatsschutzrecht („verfassungsfeindliche Absicht“, „Untergrabungsabsicht“) geführt. Problematisch waren dabei vor allem Konstellationen, in denen der Täter weitere oder andere Ziele (z. B. materielle Vorteile, Verbesserung der Welt) verfolgt. Erschwert wurde (und wird) die Sache durch eine uneinheitliche Begrifflichkeit („zielgerichtetes Handeln“, „Motiv“, „Beweggrund“), bei der unklar war, ob damit wirklich Unterschiedliches gemeint war. Fall 136 (BGHSt 9, 142 – „Absicht I“): Die Angeklagte im Fall von BGHSt 9, 142 wurde als Rädelsführerin der FDJ verurteilt; fraglich war, ob eine Strafschärfung wegen Handelns in „verfassungsfeindlicher Absicht“ (§ 94 StGB i. d. F. des 1. StÄG) vorzunehmen war, obwohl die Angeklagte glaubte, ein für Staat und Volk nützliches Werk zu tun. BGHSt 9, 142 ist der Ansicht, daß der Absichtsbegriff tatbestandsspezifisch zu bestimmen ist (S. 144). Der Schutzzweck der Bestimmung spreche dafür, die Absicht in § 94 nicht als „Beweggrund“, sondern als dolus directus zu deuten (S. 146). Eine gegenläufige Äußerung in den Gesetzesmaterialien wird zurückgewiesen: „Die Bemerkung des Berichterstatters des Rechtsausschusses des Bundestages, daß die verbrecherische Absicht das ,tragende Motiv‘ für die Handlungsweise des Täters sein müsse, vermag dieses Ergebnis nicht zu erschüttern. Die Äußerung könnte Gewicht für die Auslegung nur haben, wenn sie mit den sonstigen 207 Deshalb steht die Einordnung von BGHSt 14, 116 als Entscheidung, die der subjektiv-historischen Methode folgt (so Bindokat, JZ 1969, 541 [542]), unter einem großen Fragezeichen. 208 Luther (NJW 1954, 493 [495]), ebenfalls gegenüber einem Aufsatz von Rietzsch (DJ 1943, 228). 209 Die gegenteilige Ansicht Schroeders überzeugt kaum. Die abschließende Äußerung des Vorsitzenden kann nicht das Beratungsergebnis revidieren. Selbst wenn der „Gesetzgeber“, so wie Schroeder (a. a. O., S. 233) meint, für die zurückhaltende Formulierung andere Gründe hatte als die Gesetzesverfasser, ändert das doch nichts daran, daß auch „er“ keine Textänderung vornahm oder Sinnänderung bezweckte.

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IV. Entstehungsgeschichte

Kundgebungen der gesetzgebenden Organe zum Sinn und Zweck der Vorschriften über die Staatsgefährdung übereinstimmte oder wenigstens näher begründete, weshalb nur die Absicht im Sinne des Beweggrundes das entscheidende Merkmal für die Gefährlichkeit des Angriffs gegen die verfassungsmäßige Ordnung sein soll . . . Das ist nicht der Fall. Der von allen bei der Gesetzgebung beteiligten Organen mit dem [1. StÄG] verfolgte Zweck spricht deutlich gegen die – auch dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht entsprechende – Gleichsetzung der Absicht mit dem Beweggrund. Die Bemerkung des Berichterstatters entbehrt auch jeder näheren Begründung“ (S. 147). Bei der Würdigung seiner Ausführungen dürfe zudem nicht außer acht gelassen werden, daß auch sonst nicht immer klar zwischen dolus directus und Beweggrund differenziert werde.

Arndt hat sich entschieden gegen den methodischen Standpunkt des BGH gewandt, dessen Erwägungen die „Grundfrage des Verhältnisses zwischen parlamentarischer Gesetzgebung und rechtsstaatlicher Rechtsprechung“ aufwerfe (JZ 1957, 206). Zumindest an konkrete Vorstellungen des Gesetzgebers sei die Rechtsprechung gebunden; der BGH habe sich hier zu Unrecht über die Gedanken der Parlamentarier hinweggesetzt.210 Schon kurze Zeit später hat der gleiche Senat auf die Einwände repliziert und an seiner Ansicht festgehalten: Fall 137 (BGHSt 11, 171 – „Absicht II“): „Der Senat läßt es dahingestellt, ob es neben dem Gesetz selbst überhaupt Willens- oder Meinungsäußerungen des gesetzgebenden Organs geben kann, die den Richter als ,konkrete Entscheidung‘ des Gesetzgebers binden.211 Er ist jedenfalls der Meinung, daß er eine solche Schranke nicht überschritten hat, wenn er die Äußerung des Berichterstatters, auf die sich die Gegenmeinung beruft, in ihrem Wortlaut nicht als verbindlich ansah, sondern ihren wirklichen Sinn aus dem Zusammenhang und dem Inbegriff der Erwägungen zu gewinnen suchte, die bei der Beratung der einschlägigen Vorschriften des [1. StÄG] angestellt wurden. Wenn der in § 133 BGB niedergelegte Grundsatz, daß bei der Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften sei, ebenso bei der Auslegung von Gesetzen gilt (vgl. z. B. RGZ 127, 48), so muß er erst recht anwendbar sein, wenn es sich darum handelt, eine im Gesetzgebungsverfahren abgegebene Äußerung aus dem Zusammenhang heraus zu verstehen und zu deuten, in dem sie abgegeben wurde. Das ist in der Entscheidung BGHSt 9, 142 geschehen“ (S. 173). Im Anschluß stützt der Senat sich auf Passagen aus einem Protokoll des Rechtsausschus-

210 Arndt macht allerdings deutlich, daß auch auf Grundlage der Gesetzesberatungen im konkreten Fall Absicht vorlag (JZ 1957, 206 f.). Bockelmann zweifelt angesichts des offensichtlich richtigen Ergebnisses, „ob die Begründung wirklich so schwer war, wie sie der BGH sich gemacht hat“ (JZ 1956, 698); denn daß der Beweggrund nicht das einzige Antriebsmoment zu sein braucht, sei beim Absichtsbegriff nicht streitig (S. 698 f.). Auf die Entstehungsgeschichte geht Bockelmann bezeichnenderweise nicht ein; vgl. zum unterschiedlichen Interesse der Autoren an Methodenfragen oben in Kap. I den Text zu Fn. 34. 211 Obwohl der Senat sich hier offensichtlich gegen Arndt wendet, wird dieser nicht zitiert! Auch die methodische Aussage, mit der er die subjektive Auslegungslehre unter einen Vorbehalt stellt, kann nur als Affront gegen den Abgeordneten Arndt verstanden werden.

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ses, in dem ausdrücklich von „direktem Vorsatz“ die Rede ist, nicht aber von „tragendem Motiv“ oder „Beweggrund“ (S. 174); vorrangig sei es um den Ausschluß des bedingten Vorsatzes gegangen. Die Gegenauffassung sei im übrigen inkonsequent, weil sie – anders als der Berichterstatter – „statt des tragenden Motivs ein tragendes Motiv genügen lassen“ will (S. 178, Hervorhebungen dort).

Der Streit um den Absichtsbegriff nahm seinen Fortgang im 18. Band der amtlichen Sammlung, in dem der BGH seinen Standpunkt aufgibt. Fall 138 (BGHSt 18, 151 – „Absicht III“): Zu entscheiden war über die Bedeutung der „Untergrabungsabsicht“ i. S. von § 91 StGB i. d. F. des 4. StÄG. Der BGH referiert die diesbezüglichen Vorstellungen des Rechtsauschusses, die unter Absicht den „entscheidenden Beweggrund“ des Täters verstanden (vgl. a. a. O., S. 154). „Hiernach hat sich der sachbearbeitende Rechtsausschuß durch einstimmigen Beschluß auf eine bestimmte Auslegung des Absichtsbegriffs im § 91 StGB geeinigt. Das Plenum des Bundestags und der Bundesrat haben keine abweichende Ansicht geäußert. In diesen Vorgängen kommt eine authentische Interpretation des Willens des Gesetzgebers zum Absichtsbegriff des § 91 StGB zum Ausdruck, die die Gerichte bindet“ (S. 155). Dem Täter müsse es somit auf die Herbeiführung der Untergrabung ankommen. Daß er daneben weitere Beweggründe hat oder Nebenzwecke verfolgt, schließe die Absicht nicht aus. Nicht ausreichend sei „direkter Vorsatz“ (S. 156). Fall 139 (BGHSt 18, 246 – „Absicht IV“): Die in BGHSt 18, 151 vertretene Position überträgt der Senat nunmehr auch auf die „verfassungsfeindliche Absicht“ und geht dafür erneut auf die Entstehungsgeschichte des 1. StÄG ein, die zwar keine restlose Klarheit bringe, aber jedenfalls für einen Ausschluß der „zweiten Erscheinungsform“ des direkten Vorsatzes spreche (S. 251); insoweit anderslautende Meinungen gibt der Senat auf (S. 254). Der Ausdruck „Motiv“ sei in den Beratungen benutzt worden (S. 250; anders oben BGHSt 11, 171). Immerhin verlange auch BGHSt 9, 142, daß es dem Täter „darum zu tun“ sein müsse, den verfassungsfeindlichen Zweck zu erreichen. Begrifflich sei Absicht damit weder durch abweichende Ziele noch anderweitige Beweggründe des Täters von vornherein ausgeschlossen (S. 255). Fest hält der Senat hingegen an seiner Position, die es ablehnt, den „Beweggrund“ als entscheidendes Kriterium des Absichtsbegriffs einzustufen (S. 253).212

Die methodologische Vielfalt in den dargestellten Entscheidungen ist frappierend. Nach BGHSt 18, 151 (155) ist die „Auslegung“ der Norm durch die Abgeordneten eine „authentische Interpretation“, die als Verlautbarung des gesetzgeberischen Willens die Gerichte bindet, während BGHSt 11, 171 generelle Zweifel an der subjektiv-historischen Auslegung anmeldet, jedenfalls aber konkrete Äußerungen in den Gesetzesmaterialien für auslegungsbedürftig (§ 133 BGB!) hält. Ohne weiteres zuzustimmen ist BGHSt 9, 142, soweit dort eine Harmonisierung widersprüchlicher legislativer Aussagen verlangt wird, während die Auferlegung einer besondere Begründungspflicht für die Abgeordneten zumindest bedenklich ist. Der BGH präsentiert somit ein ganzes Arsenal von 212 Insoweit sieht Weber (in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 20, Rn. 45 [Fn. 95]) einen Widerspruch zu BGHSt 18, 151, da dort doch auf den „entscheidenden Beweggrund“ abgestellt wurde.

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IV. Entstehungsgeschichte

Hilfsmitteln, um die unbefriedigende Ansicht eines Abgeordneten relativieren zu können. In der eigentlichen Sachfrage – auch Zwischen- oder Nebenziele können von der „Absicht“ erfaßt sein – bestand hingegen weitgehend Konsens. Die in den Materialien genannten Kriterien „tragendes Motiv“ und „entscheidender Beweggrund“ schlossen die Erfassung der hier relevanten Fälle nicht aus. Denn daß es für den Absichtsbegriff nicht auf den „Endzweck“ oder die „letzte Motivation“ des Täters (hier: bessere Welt, materielle Verbesserung) ankommt, dürfte nicht erst beim heute erreichten Stand der Vorsatzlehre klar sein. Auch der Berichterstatter hätte diese Fälle sicher nicht ausschließen wollen.213 Gerade BGHSt 18, 246 (253) macht, indem der „Beweggrund“ als Kriterium nach wie vor abgelehnt wird, doch deutlich, daß womöglich terminologische Wirrungen bzw. die noch nicht ausgereifte Dogmatik zum Begriff der Absicht die Mißverständnisse befördert haben.214 Sicher unrichtig ist die ursprüngliche Rechtsprechung nur insofern, als sie auch die zweite Form des direkten Vorsatzes (Wissentlichkeit) einbeziehen wollte. c) Konkrete Vorstellung versus abstrakte Zielsetzung Aus den soeben dargestellten Fällen wird zum einen deutlich, daß eine Einzeläußerung darauf hin geprüft werden muß, ob sie zum Kollektivwillen erwuchs. Zum anderen ist es jedoch notwendig, die konkreten Vorstellungen einzelner oder gar aller Gesetzesverfasser über den Umfang der Gesetzesbegriffe mit den abstrakten Zielvorstellungen der Gesetzgebungsorgane zu vergleichen. Möglicherweise ist insoweit ein Konflikt gegeben, der im Rahmen historischer Auslegung beseitigt werden kann.215 Die konkrete Vorstellung (Subsumtion) der Gesetzesverfasser216 ist aber jedenfalls dann durchzusetzen, wenn sie mit der abstrakten Zielsetzung zu vereinbaren ist. Daran bestanden in BGHSt 14, 116 Zweifel, da es dem Gesetzgeber bei Ausweitung des § 142 StGB um die Verhältnisse des Straßenverkehrs und nicht um den Flug- oder Schiffsverkehr gegangen war. Im Einzelfall fällt eine Harmonisierung freilich schwerer, und mitunter nutzen die Senate die flexibler handhabbaren abstrakten Zielsetzungen zur

213 Von Winterfeld versucht zu beweisen, daß die Äußerung tatsächlich nicht in diesem Sinn gemeint war (NJW 1959, 745 [748]). Die Interpretation der Stellungnahme (abgedruckt z. B. in DRiZ 1951, 181) fällt allerdings schwer. 214 Klärend z. B. Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 20, Rn. 44, 45. 215 Zur Vermeidung von Mißverständnissen: Hier geht es nicht um einen Konflikt zwischen subjektiv- und objektiv-teleogischer Auslegung, sondern zwischen konkreten und abstrakten Vorstellungen innerhalb der historischen Auslegung. 216 Die Bindung gerade an die „konkrete Entscheidung“ betont Arndt, JZ 1957, 206, während z. B. Beulke (NJW 1979, 400 [405]) gerade Äußerungen der Gesetzesverfasser über den Anwendungsbereich der Regelung für überwindbar hält.

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Überwindung konkreter Ansichten.217 Dann ist schnell der Bereich subjektivhistorischer Auslegung verlassen: So etwa in BGHSt 34, 211, wo der BGH das abstrakte Ziel (Erfassung aller gefährlichen Fälle der Abfallbeseitigung) wohl doch zu sehr strapaziert, um die konkreten Vorstellungen (Hausmüll ist nicht erfaßt) zu überspielen (näher oben Fall 128). Ähnliches gilt für die Entscheidung BGHSt 36, 192, in der das vom Gesetzgeber eindeutig zugrunde gelegte Verständnis des Begriffs „Verhaftung“ dem (angeblichen) Sinn und Zweck der gesetzgeberischen Konzeption weichen muß; freilich geht der BGH bei der Feststellung der gesetzgeberischen Konzeption sehr weit und legt dabei einen „objektivierenden“ Maßstab an (näher oben Fall 112).218 Richtig argumentiert BGHSt 38, 26 (oben Fall 92) zum Bandenbegriff im BtMG. Obwohl die Materialien ausdrücklich die Zweierbande als erfaßt ansahen (BT-Drucks. VI/1877, 10), prüft der Senat noch die Übereinstimmung mit der Zielsetzung des Gesetzgebers: Dieser habe zwar vornehmlich größere Organisationen im Auge gehabt, doch ändere dieser „kriminologische Hintergrund“ nichts daran, daß auch die Zweierbande erfaßt werden sollte (S. 30). Bei dieser Sachlage besteht aus der Perspektive subjektiver Auslegung keine Rechtfertigung für eine Einschränkung des Tatbestandes.219

Dagegen klebt folgende Entscheidung womöglich zu eng an den konkreten Vorstellungen der Gesetzesverfasser, ohne sich ausreichend mit den eventuell entgegenstehenden allgemeinen Absichten auseinanderzusetzen, die mit der Norm verbunden waren:220 Fall 140 (BGHSt 24, 248): Fraglich war, ob der Täter eine „durch ein verschlossenes Behältnis oder eine andere Schutzvorrichtung“ gegen Wegnahme besonders gesicherte Sache stiehlt (§ 243 I 2 Nr. 2 StGB), wenn er ohne größeren Aufwand das gesamte Behältnis wegnehmen kann, das eine andere Sache schützt. Nach Auffas217 Aus der Rechtsprechung der Zivilsenate z. B. BGHZ 67, 339 (341); dazu Muscheler, in: FS für Hollerbach, S. 120 f. 218 Über einen zivilprozeßrechtlichen Fall berichtet Roth-Stielow, NJW 1970, 2057. Es kam darauf an, ob eine Klage- oder Berufungsschrift unterschrieben sein muß. Der Wortlaut war offen, aber die Gesetzesmotive befürworteten das. Das OLG Saarbrücken NJW 1970, 434 hält den historischen Willen aufgrund des Wandels der Verhältnisse jedoch nicht mehr für ausschlaggebend. Roth-Stielow widerspricht dieser Begründung energisch, hält das Ergebnis aber für gerechtfertigt, weil es sich auch bei einer Befragung des „hinter den . . . Erwägungen des Gesetzgebers“ stehenden Sinn und Zwecks ergeben hätte (S. 2058). 219 BGHSt GS 46, 321 (330) hat gleichwohl den Willen des Gesetzgebers selbstbewußt und mit fragwürdiger Begründung – der Gesetzgeber hätte den Bandenbegriff angesichts der lange herrschenden Kontroverse definieren sollen – übergangen; näher unten IV 7 i, nach Fall 208. 220 Eine solche Konstellation erkennt Canaris (in: FS für Fikentscher, S. 11 ff.) in der methodisch sehr interessanten Entscheidung BGHZ 135, 86, in der sich der BGH „in Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG“ an den (konkreten) Willen des Gesetzgebers gebunden sieht (S. 91 f.). Canaris (a. a. O., S. 32) hält demgegenüber den davon abweichenden allgemeinen Normzweck für maßgeblich, während Leenen (Jura 2000, 248 [254]) die Lösung des BGH mit dem Argument stützt, daß in der Norm neben dem Primärziel weitere Ziele angelegt seien, die durchaus die konkreten Äußerungen abdeckten.

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IV. Entstehungsgeschichte

sung des Senats kommt es nicht darauf an, ob auch das Behältnis selbst besonders gegen Wegnahme geschützt ist. Er beruft sich auf die Gesetzesberatungen, in denen gerade das Beispiel, „daß der Dieb die verschlossene Kassette aus einem Haus stiehlt und erst an einem anderen Ort aufbricht“ als Anwendungsfall genannt wurde (a. a. O.). Ob damit aber auch dem generellen Ziel des Gesetzgebers entsprochen wird, mit § 243 I 2 Nr. 2 besonders rücksichtloses Verhalten, das sich über besondere Sicherungsmaßnahmen des Eigentümers hinwegsetzt, zu erfassen (Begründung zum Entwurf 1962, S. 403), erörtert der Senat nicht.221 Auch der Wortlaut gab Anlaß zu Zweifeln, denn wenn das Behältnis selbst mühelos weggenommen werden kann, dürfte es auch der darin befindlichen Sache keinen Schutz gewähren.222

Ist der Konflikt zwischen konkreten Vorstellungen und allgemeinen Zielen nicht auszuräumen, ist zu erwägen, ob nicht ein Motivirrtum vorliegt, der Gesetzgeber also von unzutreffenden Voraussetzungen (in bezug auf den Wortlaut oder auf die Bedeutung anderer Normen) ausging und deshalb einer Fehldeutung hinsichtlich der Extension seiner Vorschrift unterlag.223 Dann muß die allgemeine Zielsetzung den Vorzug erhalten, wenn wenigstens sie außer Zweifel steht.224 Ist der Konflikt auch auf diese Weise nicht aufzulösen, sollten andere Auslegungskriterien den Ausschlag geben. d) Interpretationshilfe Verwaltungsvorschrift/ministerielle Äußerungen Ein recht sicheres Anzeichen dafür, daß der BGH bei der Heranziehung von Gesetzesmaterialien prinzipienlos verfährt und statt dessen ganz auf die Aussagekraft der Quelle für das konkrete Auslegungsproblem abstellt, sind zahlreiche, vornehmlich im Bereich des Straßenverkehrsrechts angesiedelte Entscheidungen, in denen erläuternde Verwaltungsvorschriften, Durchführungsverordnungen und ministerielle Erlasse als Auslegungshilfe verwertet werden. Den Wert dieser Quellen veranschlagen die Senate hoch, weil sie regelmäßig von einer besonders sachkundigen Stelle herrühren; demgegenüber rücken Zweifel an der Legitimation – die Vorschriften stammen von der Exekutive und werden häufig zu einem anderen Zeitpunkt als das auszulegende Gesetz erlassen – in den Hintergrund. Fall 141 (BGHSt 15, 9): Zu prüfen war, ob eine Schienenbahn auch dann auf einem „besonderen Bahnkörper“ im Sinn des § 315 I StGB a. F. verläuft, wenn ihre Gleise zwar innerhalb des Verkehrsraums einer öffentlichen Straße liegen, die Be221 Zudem haben die Gesetzesverfasser sich womöglich nur gegen eine Ungereimtheit des § 243 StGB a. F. gewandt, wonach es darauf ankam, ob der Dieb ein Behältnis noch am Tatort oder erst später aufbricht (siehe oben Fall 5). 222 Vor allem aus teleologischen Gesichtspunkten abl. Krüger, NJW 1972, 648 f., Eser, in: Schönke/Schröder, StGB26, § 243, Rn. 25 und Schröder, NJW 1972, 778 ff., der auch kein kriminalpolitisches Bedürfnis für diese Auslegung sieht (S. 780). 223 Im Fall von BGHZ 135, 86 bezweifelt Canaris (in: FS für Fikentscher, S. 21), daß die Gesetzesverfasser die von ihnen genannten Anwendungsbeispiele gut durchdacht haben und nimmt einen „Wertungsfehler“ an (S. 33). 224 Näher zum Motivirrtum unten IV 8 d.

4. Die genetische Auslegung

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nutzung dieses Bereichs durch den übrigen Verkehr aber ausgeschlossen ist. Aus der Entstehungsgeschichte ließ sich zu dieser Frage nichts entnehmen. Dagegen ergab sich aus einer Durchführungsverordnung des Bundesverkehrsministeriums zu einer Straßenbauordnung (!) eine Antwort. Nach Ansicht des Senats kommt dieser Meinung keine maßgebliche Bedeutung bei der Auslegung eines strafrechtlichen Begriffs zu: „Denn der Minister ist . . . nicht ermächtigt worden, diesen Begriff mit bindender Wirkung für die Gerichte zu umschreiben. Überdies wurde die Durchführungsverordnung erst einige Jahre nach dem Verkehrssicherungsgesetz erlassen. Ihr kann deshalb nicht entnommen werden, was der Gesetzgeber des Jahres 1952 sich darunter vorgestellt hat. Immerhin offenbart jene Stelle der Durchführungsverordnung die Auffassung der auf dem Gebiet des Straßenverkehrs besonders sachkundigen Behörden. Deshalb wird ein Gericht sich bei der Rechtsanwendung nicht ohne weiteres über diese Auffassung hinwegsetzen.“ (BGHSt 15, 9 [12 f.])

Noch stärkere Berücksichtigung findet in BGHSt 16, 160 (oben Fall 127) eine Verwaltungsvorschrift bei der Auslegung der StVO, da sowohl Verordnung als auch erläuternde Verwaltungsvorschrift von der gleichen Instanz erlassen wurden: „An diese Auslegung sind die Gerichte bei der Rechtsanwendung beider Verordnungen, der StVO und der StVZO, zwar nicht gebunden, da der Verwaltungsvorschrift nicht die Kraft einer für die Gerichte verbindlichen Rechtsnorm zukommt . . . Dennoch bietet die Verwaltungsvorschrift eine wertvolle Erkenntnisquelle für die Auslegung des . . . [in der StVO] . . . enthaltenen Begriffs, zumal sie . . . von derselben Stelle, wenn auch mit unterschiedlicher Wirkungskraft, erlassen sind. Es müßten schon triftige Umstände gegen die Auffassung des Bundesministers für Verkehr als des für Verkehrsfragen auch im Bereich der Gesetzgebung besonders sachkundigen Fachministers sprechen, wenn die Gerichte ihr die Gefolgschaft versagen wollten.“ (BGHSt 16, 160 [163])

Auf die besondere Kompetenz der Verfasser eines Runderlasses und die Zeitnähe zum Gesetz hebt auch BGHSt 17, 267 (unten Fall 160) ab: Der Erlaß des Ministeriums sei zwar keine bindende Rechtsnorm, jedoch zeitlich nahe sowie von maßgeblicher Stelle erlassen und damit wichtige Erkenntnisquelle für die Auslegung (S. 269). BGHSt 23, 108 (113) sieht seine zuvor entwickelte Lösung in einem Runderlaß des Bundesverkehrsministers bestätigt225 und betont: „Die Runderlasse haben zwar keine Gesetzeskraft, sind aber eine wertvolle Auslegungshilfe, da sie in gewissem Sinne als authentische Auslegung der ebenfalls vom Bundesverkehrsminister erlassenen Straßenverkehrs-Zulassungsordnung gelten können.“ (BGHSt 23, 108 [113])

Daß der BGH sich jedoch jederzeit als berechtigt sieht, die in Erlassen oder Verwaltungsvorschriften enthaltene „authentische“ Interpretation zurückzustellen, wird klargestellt in BGHSt 17, 69: 225 Bloß unterstützend zieht auch BGHSt 12, 48 (49 f.) die Verwaltungsvorschrift zur StVO heran: Diese hebe „übrigens ausdrücklich hervor, . . .“.

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IV. Entstehungsgeschichte

Fall 142 (BGHSt 17, 69 – „Restgut“): Gemäß § 42 Güterkraftverkehrsgesetz a. F. durfte ein Unternehmer des Möbelfernverkehrs „Restgut bei Ausführung eines Möbeltransports“ auf einem nicht besonders eingerichteten Anhänger auch ohne spezielle Genehmigung befördern. Nach Ansicht des BGH ist weder aus Wortlaut noch Entstehungsgeschichte die Bedeutung des Ausdrucks „Restgut“ klar erkennbar. Die in einem Erlaß des Bundesverkehrsministers vertretene, weite Auslegung dieses Begriffs sei „nicht rechtsverbindlich, weil der Erlaß nicht die rechtliche Natur einer Rechtsverordnung hat . . .“ (S. 72). Sie lasse sich auch nicht mit Sinn und Zweck vereinen, die der Senat u. a. unter Hinweis auf eine Rede des Bundesverkehrsministers im Bundestag ermittelt.

In einer weiteren Entscheidung wirft der BGH sogar die amtliche Begründung des Gesetzes (der Verordnung) mit der Verwaltungsvorschrift in einen Topf: „Daß weder der Amtlichen Begründung noch der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO eine den Richter bindende Gesetzeswirkung zukommt, hindert nicht etwa daran, sie als Auslegungshilfe (vgl. BGHSt 23, 108, 113 – betr. Runderlasse des Bundesverkehrsministers) heranzuziehen.“ (BGHSt 26, 73 [75])

Pragmatisch sieht BGHSt 32, 16 (18) in einem „Beispielkatalog“ des Bundesverkehrsministers lediglich Hinweise für in der Praxis häufig vorkommende Konstellationen. „Insoweit bietet er eine der einheitlichen Rechtsanwendung förderliche Auslegungshilfe.“ BGHSt 37, 266 (275) beschäftigt sich intensiv mit einem, auf einem Gutachten des Bundesfinanzhofs beruhenden Erlaß eines Landesfinanzministers, stellt aber klar, daß Verwaltungsanordnungen „die rechtlich gebotene Auslegung des Gesetzes durch den Strafrichter nicht hindern“ können. e) Nachträgliche Äußerungen der Gesetzesverfasser Daß der BGH legislative Äußerungen oft unterschiedslos zu anderen Stellungnahmen als Auslegungshilfe heranzieht, ohne die Frage nach dem eigentlich legitimierten Gesetzgeber zu stellen, wird daran sichtbar, daß auch nachträgliche Verlautbarungen zur Reichweite und zum Inhalt des geltenden Rechts genutzt werden. Diese Verfahrensweise muß jedoch als Geringschätzung der subjektiven Auslegungsmethode betrachtet werden, weil das Gesetzgebungsverfahren mit Verabschiedung des Gesetzes seinen definitiven Abschluß erfährt. Nachträgliche Interpretationen, Versuche von Klarstellungen und sonstigen Einflußnahmen können keine Beachtung finden. Die Fiktion der „Paktentheorie“ läßt die Bündelung von Einzeläußerungen zu einem gesetzgeberischen Willen ja nur aufgrund der Möglichkeit des Widerspruchs in den Entscheidungsgremien zu, die bei nachträglichen Verlautbarungen zu den Ergebnissen früherer Gesetzgebungsverfahren gerade nicht mehr gegeben ist.226 Nicht alles, was aus dem Bereich der Legislative vernehmbar ist, gehört zur normativ relevanten 226 Ähnliches gilt für abschließende Stellungnahmen zu den Ergebnissen eines Gesetzgebungsverfahrens, vgl. oben den Text zu Fn. 188.

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Sphäre des (zuständigen!) „Gesetzgebers“. Freilich ist die Verfahrensweise der Praxis harmlos, da nachträgliche Stellungnahmen in der Regel nur informativ oder bestätigend herangezogen werden. In BGHSt 2, 317 (319) sieht der BGH sich in seiner Auffassung, wonach eine „große berichtigende Auslegung“ des Unterschlagungstatbestandes (a. F.) nicht in Betracht kommt, durch den Bericht der amtlichen Strafrechtskommission zum E 1936 bestätigt, der von einer zu schließenden Lücke des Gesetzes ausgeht. Allerdings wird man kaum annehmen können, daß der BGH eine gegenteilige Äußerung dieser Kommission – bereits die lex lata lasse eine weite Interpretation zu – zum Anlaß genommen hätte, seine Ansicht zu ändern! — Bedenken wegen des zeitlichen Abstands äußert die bereits erwähnte (oben Fall 141) Entscheidung BGHSt 15, 9 (12 f.): Die Durchführungsverordnung sei einige Jahre nach dem Gesetz ergangen; ihr könne folglich nichts zur Frage entnommen werden, was der damalige Gesetzgeber sich vorgestellt hat. — BGHSt 22, 282 (287) sieht seine restriktive Auslegung des § 140 StGB i. d. F. von 1953 durch die in der Großen Strafrechtskommission 1958 geäußerte Kritik an der Weite des Tatbestandes bestätigt. Fall 143 (BGHSt 12, 42): Kann eine „unzüchtige Handlung“ in der Öffentlichkeit (§ 183 StGB a. F.) auch durch verbale Äußerungen begangen werden? Die Vorläufernorm im preußischen StGB setzte „eine Verletzung der Schamhaftigkeit“ voraus, wurde jedoch wegen ihrer zu allgemeinen Begriffsbestimmungen kritisiert und im StGB für den Norddeutschen Bund im Sinn der oben genannten Formulierung geändert. Das Preußische Obertribunal hat diese Änderung als Einschränkung des Tatbestandes verstanden und mündliche Äußerungen aus dem Anwendungsbereich ausgeschlossen, während andere Obergerichte eine weitergehende Auffassung vertreten haben (Nachweise beim BGH, S. 44 f.). Bei der Novellierung des StGB 1876 wurde über die in einem Regierungsentwurf vorgesehene Einfügung der Worte „oder Äußerung“ diskutiert, welche die Unstimmigkeiten in der Praxis beheben sollte (S. 44). Ein Vertreter des Bundesrats wies dabei auf die Notwendigkeit dieser Änderung hin, da ein „Votum des Hauses, daß der Paragraph so ausgelegt werden solle, wie ihn andere Gerichtshöfe, beispielsweise das Oberappellationsgericht in Dresden und Jena auslegen, niemals das preußische Obertribunal verpflichten kann“ (RT-Berichte 1876, S. 1003)! Dennoch wurde der Antrag abgelehnt.227 Als letzter Redner plädierte der Abgeordnete Lasker dafür, sich nicht „in schwebende Streitigkeiten der Gerichtshöfe einzumischen“, zumal das Reichsgericht abschließend darüber befinden werde (RT-Berichte, a. a. O.). In Anbetracht dieser Vorgänge schließt es der BGH nicht aus, daß der Reichstag mit Ablehnung der Änderung die Interpretation der Rechtsprechung hat überlassen wollen. Dann sei es aber ohne Bedeutung, „welche persönliche Ansicht von der Auslegung des § 183 . . . die Redner bei dieser Beratung äußerten“ (S. 45). Daß es sich bei nachträglichen Äußerungen der Gesetzgebungsorgane (im weiteren Sinn) nur um eine Meinung unter vielen handelt, die keine besondere Legitimation beanspruchen kann, wird auch deutlich in BGHSt 14, 116 (123, oben Fall 134): 227 U. a. wegen des scharfsinnigen Arguments, daß die Einfügung des Wortes „Äußerung“ unbeabsichtigte Rückwirkung auf den Handlungsbegriff in anderen Normen haben könnte; vgl. die Ausführungen des Abgeordneten von Schwarze in RT-Berichte 1876, S. 1002 und allgemein zur Gefahr bei „Klarstellungen“ unten IV 7 h.

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IV. Entstehungsgeschichte

Selbst wenn in der amtlichen Strafrechtskommission „die Auffassung vertreten worden sein sollte, bereits der geltende § 142 StGB erfasse auch den Schiffsverkehr, so vermöchte er [der Senat] sich dieser Meinung aus den dargelegten Gründen nicht anzuschließen.“ Die Erweiterung des Tatbestandes sei Aufgabe des Gesetzgebers.

Was die Rechtsprechung des BGH regelmäßig beachtet und vom Vertreter des Bundesrats (des Deutschen Reichs) so prägnant ausgesprochen wurde, wird allerdings von einer jüngeren und in ihrem Gehalt bedenklichen Entscheidung in Frage gestellt. Fall 144 (BGHSt 46, 17): Dem BGH wurde eine Frage zum Arbeitnehmerentsendegesetz vorgelegt, die der Gesetzgeber zwischenzeitlich zwar eindeutig im Sinn des vorlegenden OLG Naumburg geklärt hat, die aber für einen Altfall noch relevant war. Grundsätzlich ist auch in dieser Konstellation zur Klärung der alten, aber noch entscheidungserheblichen Rechtslage die Durchführung eines Vorlageverfahrens gemäß § 121 II GVG zulässig, wenn nicht eine der von der Rechtsprechung entwikkelten Fallgruppen vorliegt, in denen mangels einer Gefahr sich widersprechender Entscheidungen die Vorlegungsvoraussetzungen gleichwohl entfallen. Hierfür kommen auch Akte des Gesetzgebers in Betracht, wenn dadurch frühere, abweichende Entscheidungen überholt sind. Nach Ansicht des BGH bedarf es hierzu sicherer Anhaltspunkte (S. 21), die im vorliegenden Fall deswegen gegeben seien, „weil der Gesetzgeber durch die Begründung des Entwurfs zum Korrekturgesetz . . . zugleich und offenkundig klargestellt hat, daß in gleicher Weise auch die ursprüngliche Fassung“ zu verstehen sei! (S. 19 und 22 f.) Durch diese gesetzgeberische „Klarstellung“ bestehe kein Bedürfnis mehr für eine Entscheidung des BGH gemäß § 121 II GVG (S. 24). „Die 1998 erfolgte Neufassung der erst 1996 erlassenen Vorschriften hat daher keinen neuen Rechtszustand geschaffen, sondern lediglich das zutreffende Verständnis der alten Fassung verdeutlicht“ (S. 23). Im übrigen liege die abweichende Ansicht des OLG Düsseldorf eher fern (S. 24).

Die Entscheidung ist allein deshalb tragbar, weil die anderslautende Entscheidung des OLG Düsseldorf zum früheren Recht nach Ansicht des BGH bereits damals fernliegend war. Nur deshalb wird sie leichtherzig beiseite geschoben und als überholt eingestuft. Die rechtstheoretische Annahme des BGH, der Gesetzgeber könne den Inhalt einer Vorschrift nachträglich durch eine Äußerung zu einem Gesetzesentwurf228 klarstellen, ist hingegen unhaltbar. Der „neue“ Gesetzgeber (des Korrekturgesetzes) kann nicht auf die Interpretation eines früheren Gesetzes, das in einem anderen Verfahren mit anderen Beteiligten und womöglich anderen Zielvorstellungen zustande kam, Einfluß nehmen. Das frühere 228 Analytisch muß klar unterschieden werden zwischen einer Äußerung in der Entwurfsbegründung zur Reichweite der alten Norm und der Klarstellungswirkung des neuen Gesetzes selbst; beim letzteren Aspekt geht es um den Einfluß der lex ferenda auf die Auslegung der lex lata, worauf später zurückzukommen sein wird (unten IV 7 d). Der BGH stellt vornehmlich auf die Entwurfsbegründung ab, während das BayObLG sich in anderem Zusammenhang von der Vorlagepflicht schon aufgrund eines Gesetzesentwurfs, der einen allgemeinen Wandel der Rechtsauffassung belege, befreit sieht; BayObLGZ 1989, 175 (183) und ähnlich – allerdings für ein bereits verkündetes Gesetz – OLG Frankfurt NJW 1958, 713.

4. Die genetische Auslegung

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Gesetz ist ein anderes! Die Fragwürdigkeit der Ansicht des BGH zeigt sich zudem bei einer leichten Abwandlung der Situation: Angenommen, der BGH selbst hätte zum früheren Recht eine vom neuen (eindeutigen) Rechtszustand abweichende Auffassung vertreten, womöglich mit besseren Gründen als das OLG Düsseldorf: Hätte der BGH auch dann, z. B. bei einer Vorlage durch ein OLG, von seiner Auffassung Abstand genommen, wenn in den Entwürfen zum Korrekturgesetz die Auffassung des BGH als unzutreffende Deutung des alten Rechtszustands bezeichnet worden wäre? Eher läßt sich vermuten, daß die nachträglichen Äußerungen des Gesetzgebers dann mit den dafür bestens geeigneten Formulierungen einer „objektiven“ Auslegungstheorie („Gesetz als lebendiger oder sich entwickelnder Geist“) für unbeachtlich erklärt worden wären. f) Der nationalsozialistische Gesetzgeber Auch Motive des nationalsozialistischen Gesetzgebers zieht die Rechtsprechung grundsätzlich als verwertbare Erkenntnisquelle heran, wenn darin kein spezifisch nationalsozialistisches Gedankengut zum Ausdruck kommt. Fall 145 (BGHSt 7, 256): Mit Verordnung von 1940 wurde für den Bereich der einfachen und fahrlässigen Körperverletzung bestimmt, daß die Verfolgung dieser Delikte grundsätzlich einen Strafantrag voraussetzt, wenn nicht die Staatsanwaltschaft bei berechtigtem öffentlichen Interesse das Einschreiten von Amts wegen für notwendig erachtet (§ 232 StGB a. F., § 230 g. F.). Der BGH mußte entscheiden, ob die Möglichkeit, von Amts wegen einzuschreiten, im Weg der Analogie auf den Bereich der antragspflichtigen Beleidigungsdelikte erstreckt werden kann. Eine dahingehende, bereits 1940 geäußerte Meinung lehnt der BGH ab (S. 258 f.): „Allein es muß schon bedenklich stimmen, daß diese Auslegung zunächst vertreten wurde im Hinblick auf die zur Zeit der Gesetzesänderung geltende Auffassung, daß die sinngemäße Ausdehnung des § 232 Abs. 1 StGB einem allgemeinen, dem ,autoritären Gemeinwesen angemessenen Grundgedanken‘ entspreche (so Nagler . . .). Das ist jedenfalls heute nicht mehr anzuerkennen.“ Bereits behandelt wurde BGHSt 9, 24 (oben Fall 119). Dort ging es freilich nicht um ideologische Fragen, sondern um den Abbau rechtsstaatlicher Garantien zu Zwecken der Verfahrensbeschleunigung in Kriegszeiten. Da dem damaligen Gesetzgeber nichts an rechtsstaatlichen Erfordernissen gelegen habe, könne dessen Wille keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden (S. 29); zudem sei er auch nicht im Wortlaut zum Ausdruck gekommen. – Die Entscheidung überzeugt: Verstößt die Zielsetzung des historischen Gesetzgebers gegen Verfassungsrecht, kann sie ebensowenig herangezogen werden wie ein verfassungswidriges Gesetz selbst.

Eine Gratwanderung mußte allerdings der Große Senat bei der Prüfung vollführen, ob ein Selbsttötungsversuch ein zur Hilfe verpflichtender „Unglücksfall“ ist: Fall 146 (BGHSt GS 6, 147, siehe nochmals oben Fall 76, „Unglücksfall“): Zur Beantwortung der Frage zieht der Große Senat auch den sich aus der Entstehungs-

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IV. Entstehungsgeschichte

geschichte ergebenden Willen des Gesetzgebers von 1935 heran, der den Selbstmordversuch ausdrücklich als Anwendungsbeispiel der Vorschrift nennt (vgl. a. a. O., S. 150). Der Gesetzgeber begründete die Einführung des § 330c StGB mit dem „seit der ,nationalsozialistischen Erhebung‘ eingetretene[n] Wandel der Auffassungen über die Pflicht des einzelnen gegenüber der Volksgemeinschaft und sein Verhältnis zu den einzelnen Volksgenossen“ (S. 150). Das Gefühl der Zusammengehörigkeit verlange das Eintreten für den anderen. Nachdem der BGH die Gültigkeit der Norm in BGHSt 1, 266 und 2, 150 bereits bejaht hatte, prüft der Große Senat lediglich, ob ein „Wandel der Anschauungen“ (S. 151) zu einer abweichenden Auslegung führen muß. Jedoch entspreche die gegenseitige Hilfe in Notfällen einem „Hauptgebot der christlichen Lehre“, und auch der E 1919 habe eine vergleichbare Regelung vorgesehen. § 330c entspringe somit nicht „einem nationalsozialistischen – durch Übertreibung und Zwang entarteten – Gemeinschaftsgedanken“; die Hilfeleistungspflicht sei „nicht etwas dieser Regierungsform Eigentümliches, wenngleich sie unter ihm zum ersten Mal Gesetz geworden ist“ (S. 151).

Die Entscheidung der Großen Senats zeigt: Motive des nationalistischen Gesetzgebers sind nicht per se obsolet, müssen jedoch auf ihre Vereinbarkeit mit der auf dem Grundgesetz basierenden Rechtsordnung hin untersucht werden. Im vorliegenden Fall hat der BGH zu Recht den Willen des historischen Gesetzgebers herangezogen. Ist die amtliche Begründung erst einmal ihrer anstößigen Terminologie entkleidet, zeigt sich, daß der Grundgedanke der Vorschrift mit den „Werten“ des Grundgesetzes, insbesondere den Grundrechten zumindest vereinbar ist. Der Verfassung mag eine eher individualistisch orientierte Werthaltung zugrunde liegen, doch steht die Hilfspflicht des § 330c dazu nicht in unüberwindbarem Gegensatz. Ein allgemeiner Wandel von „Wertvorstellungen“, der im Gesetz keinen konkreten, der Deduktion zugänglichen Anknüpfungspunkt gefunden hat229, kann nicht durch die Behauptung, damit habe sich die „Normsituation“ gewandelt, eine veränderte Auslegung rechtfertigen230.

5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation Ein zentraler und häufig diskutierter Punkt im Spannungsfeld zwischen objektiver und subjektiver Auslegungstheorie ist die Frage, ob der historische Wille des Gesetzgebers für alle Zeit bindend ist, ob insbesondere eine Anpassung des Normverständnisses an veränderte tatsächliche oder rechtliche Gegebenheiten möglich ist.231 In diesem Zusammenhang finden sich die so häufig

229 Art. 2 GG ist natürlich trotz der Allgemeinheit seiner Formulierung einer Deduktion zugänglich, doch ergibt sich daraus nichts Zwingendes gegen die Durchsetzung des gesetzgeberischen Willens im vorliegenden Fall. 230 Näher zum Ganzen Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, S. 15 f. und im folgenden Abschnitt. 231 Kaufmann, Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 82: „Gretchenfrage an die Subjektivisten“.

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zitierten Paradefälle der objektiven Gesetzesauslegung und deren meisterhafte Formulierung in BGHSt 10, 157, wonach das Gesetz nicht „toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist“ sei (vgl. unten Fall 149). Gerade aus diesen Konstellationen meinen Gegner der subjektiven Theorie, entscheidende Argumente gewinnen zu können: Die entstehungszeitliche Interpretation führe durch ein Festhalten an den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers zu einer „Mumifizierung“ des Gesetzes,232 das seine Fähigkeit zur angemessenen Konfliktregelung mit Zeitablauf zwangsläufig verliere. Unbestreitbar sei das Bedürfnis nach einer Fortbildung des Rechts („Ergänzungsargument“).233 Ob diese auf den ersten Blick eindrucksvollen und plausiblen Argumente zutreffen und wie die Rechtsprechung des BGH sich insofern verhält, sollen die folgenden Beispiele zeigen. Dabei wird zwischen drei Fallgruppen differenziert: Zunächst geht es darum, wie die Auslegung durch die in den Gesetzesmaterialien genannten Beispiele beeinflußt wird (unten a). Danach werden mögliche Konsequenzen aus einem Wandel der tatsächlichen (technischen) Verhältnisse diskutiert (unten b) und schließlich werden Auswirkungen aus einer Veränderung der rechtlichen Bedingungen auf die Gesetzesinterpretation erörtert (unten d). Es kann vorweggeschickt werden, daß auch eine subjektiv-historische Auslegung keineswegs auf eine Anpassung an veränderte Umstände verzichten muß,234 womit freilich eine rein empirische Ermittlung der gesetzgeberischen Intention einer normativen (zuschreibenden, hypothetischen) Betrachtung weichen muß. In jedem Fall unzulässig bleibt demgegenüber die Veränderung der ursprünglichen Wertentscheidung, wenn nicht eine Änderung auf Verfassungsebene dazu zwingt. Als einfaches Ausgangsbeispiel dafür, wie die aus der Entstehungsgeschichte ermittelte gesetzgeberische Vorstellung auf neue Umstände übertragen und damit zeitlich verlängert wird, kann folgende Entscheidung gelten: Fall 147 (BGHSt 10, 28 = oben Fall 22, „Pferdekonfiskation“): Darf beim Fahren ohne Fahrerlaubnis das Fahrzeug als Mittel der Tatbegehung eingezogen werden? Bei den Vorarbeiten zur entsprechenden Vorläufernorm wurden Bedenken wegen möglicher Härten der Einziehungsregelung vorgetragen und mit der Fallgestaltung illustriert, daß ein zu schnell gerittenes Pferd konfisziert werden könnte (S. 30 f.). Im Gesetzgebungsverfahren wurden diese Bedenken jedoch zurückgewiesen, da eine solche Ausdehnung weder dem Wortlaut noch dem Sinn des Gesetzes entspreche (S. 31 mit Nachweisen). Nach Ansicht des BGH wurde die Anwendbarkeit auf die vorschriftswidrige Benutzung eines Gegenstandes als solchen damit „eindeutig ohne jede Einschränkung verworfen“. – Der Parallelfall aus den Gesetzesmaterialien läßt Siehe Maurach, Strafrecht AT, S. 102; Tröndle, in: LK-StGB10, § 1, Rn. 44. Vgl. Hassold, ZZP 1981, 192 (209); Kramer, Methodenlehre, S. 99 ff.; Heck, Gesetzesauslegung, S. 176 ff. 234 Für eine „dynamische“ Fortschreibung des gesetzgeberischen Willens auch Looschelders/Roth, Methodik, S. 62 ff. und von Arnauld, Rechtstheorie 2001, 465 ff. 232 233

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sicher die Annahme zu, daß die Gesetzesverfasser auch den aktuellen Fall nicht hätten erfassen wollen. Zu prüfen war freilich, ob der Gesetzgeber sich die Ansichten seines „Vorgängers“ zur Vorläufernorm zu eigen gemacht hat und ob die Äußerungen wirklich eine Zielvorstellung und nicht lediglich eine Interpretation zum Ausdruck brachten (vgl. IV 4 c).

a) Beschränkung der Auslegung auf Fälle, an die der Gesetzgeber gedacht hat? Bereits bei der grammatikalischen Auslegung wurde die Frage behandelt (oben III 5 b), wie die vom Gesetzgeber im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens genannten Anwendungsbeispiele sich auf die Bedeutung der Begriffe auswirken. Daß der BGH sich bei der Begriffsbildung und der Bestimmung des Normbereichs an diesen Beispielen orientiert, ist nicht zu bestreiten und vom Standpunkt einer subjektiv-historischen Auslegungstheorie auch zu begrüßen. Gleichwohl sind solche Schlußfolgerungen nicht immer so klar, wie es scheint. Zum einen kann es sein, daß konkrete Vorstellungen von Beteiligten des Gesetzgebungsverfahrens über den Anwendungsbereich der Norm irrtumsbefangen sind (unten IV 8) oder sich nicht durchgesetzt haben (oben IV 4 b). Weiterhin kann sich aus den genannten Fällen eine Einschränkung ergeben, welche die Gesetzesverfasser gar nicht beabsichtigten. Die Bedenken gegen eine Bindung an die vom Gesetzgeber zugrundegelegten Fälle hat das RG unmißverständlich und selbstbewußt zum Ausdruck gebracht: „Völlig unrichtig ist die Behauptung, daß das Gesetz nur auf die von dem Gesetzgeber direkt erwogenen Fälle angewendet werden dürfe, der Gesetzgeber vermag nicht im voraus die reiche Mannigfaltigkeit des Lebens zu fixieren235, das Gesetz gilt für alle Fälle, auf welche es nach richtiger Auslegung paßt, mag der Gesetzgeber an dieselben gedacht haben oder nicht; und es ist in letzterem Falle keine analoge, sondern eine direkte Anwendung des Gesetzes, welcher der Grundsatz des § 2 St.G.B.’s [§ 1 StGB g. F.] nicht entgegensteht.“ (RGSt 12, 371 [372])

Die Aussage trifft im Kern zu, vereinfacht die Dinge jedoch zu sehr. Aus den vom Gesetzgeber erwogenen Fällen können sich immerhin Anhaltspunkte für die gesetzgeberischen Ziele und Wertvorstellungen ergeben. Argwohn hinterläßt insbesondere die Wendung, wonach es auf „die richtige Auslegung“ ankomme, denn welcher Maßstab hierbei gelten soll (der des RG und je nach Umstän-

235 Montaigne, Essais, Drittes Buch, Abschnitt XIII (zitiert nach Zöllner, in: Tübingen-FS, Fn. 46): „Was haben unsere Gesetzgeber gewonnen, wenn sie hunderttausend besondere Fälle und Taten herausgreifen und hunderttausend Gesetze dafür geschaffen haben? Diese Zahl steht in keinerlei Verhältnis zu der unendlichen Mannigfaltigkeit des menschlichen Tuns. So viel wie wir uns auch ausdenken mögen, es wird nie an die Vielfalt der Erscheinungen heranreichen. Fügt noch hunderttausendmal soviel hinzu: es wird unter den künftigen Vorkommnissen doch nicht auch nur eines eintreten . . .“.

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den?), bleibt fraglich. Den konkreten Fall entscheidet das RG allerdings zutreffend (siehe bereits oben Fall 63): Der Gesetzgeber hatte bei Abfassung der Norm zwar nur dampfbetriebene Eisenbahnen vor Augen, jedoch schlossen es weder Wortlaut („Eisenbahn“) noch gesetzgeberische Wertung aus, auch elektrisch angetriebene Bahnen zu erfassen. Aber nicht alle Fälle sind so unproblematisch:236 Fall 148 (BGHSt 1, 1) Bereits mehrfach unter dem Aspekt grammatikalischer Auslegung erörtert wurde BGHSt 1, 1 zur Frage, ob Salzsäure als „Waffe“ im Sinn des § 223a StGB (a. F.) aufgefaßt werden kann (vgl. oben Fall 51 und Fall 64). Das RG hat das u. a. unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte abgelehnt, da die Gesetzesverfasser ausdrücklich nur mechanisch wirkende Gegenstände als Waffen ansahen und dementsprechende Beispiele aufzählten. BGHSt 1, 1 stellt dies nicht in Abrede, nimmt aber unter Berufung auf den Fortschritt der Technik einen Bedeutungswandel des Waffenbegriffs an (näher Fall 64), der nunmehr auch chemische Angriffsmittel erfasse. Fraglich ist hier nur, ob die Entstehungsgeschichte überhaupt Anlaß zu solch weitreichenden methodologischen Annahmen gab. In der Reichstagskommission wurde diskutiert, weshalb das Gesetz neben der Waffe noch das gefährliche Werkzeug sowie das Messer aufführt („mittels einer Waffe, insbesondere eines Messers oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs“). Letztlich geschah dies, um – auch dem Laien – spezielle Arten von Waffen vorzuführen und zu verdeutlichen, daß nicht nur Waffen im technischen Sinn (Hieb-, Stich-, Stoß- und Schießwaffen) dem Begriff unterfallen (RT-Berichte 1876, S. 802, r. Sp.). Eine Änderung des Waffenbegriffs – jeder Gegenstand, mit dem durch mechanische Einwirkung auf den Körper eines anderen eine Verletzung desselben herbeigeführt werden kann – war damit nicht beabsichtigt (vgl. a. a. O.).

Kann aus diesen Vorgängen wirklich gefolgert werden, daß der Gesetzgeber nur mechanisch wirkende Gegenstände erfassen oder umgekehrt chemisch wirkende Substanzen ausschließen wollte? Zweifel daran sind u. a. deshalb angebracht, weil nicht ersichtlich ist, welche Fallgruppen durch das Adjektiv „mechanisch“ ausgeschlossen werden sollten, ob es sich dabei also nach Meinung der Gesetzesverfasser überhaupt um einen notwendigen Bestandteil der Definition handelte. Ein relevanter Gegensatz zu mechanisch – „elektrisch“ scheidet sicher aus, „chemisch“ wurde im Gesetzgebungsverfahren (wohl) nicht erwogen – ist aus den Materialien nicht erkennbar. Um dem Willen des Gesetzgebers näher auf die Spur zu kommen, könnte man folgende Hilfserwägungen anstellen:237 (1) War die Erörterung der jetzt vorliegenden Konstellation bereits im Gesetzgebungsverfahren veranlaßt und naheliegend? Bejahendenfalls könnte, wenn kein Übersehen der Verfasser vorliegt, auf eine bewußte Entscheidung (De-

236 Noch klarer als RGSt 12, 371 liegt BGHSt 46, 266 („GPS“); siehe bereits oben III 5 a. 237 Voraussetzung ist natürlich, daß der Wortlaut diese Überlegungen überhaupt zuläßt! Aber der mögliche Wortsinn ist bei der Subsumtion eines chemischen Angriffsmittels unter den Begriff „Waffe“ nicht überschritten (vgl. oben Fall 64).

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finition!) des Gesetzgebers geschlossen werden, chemisch wirkende Angriffsmittel vom Anwendungsbereich auszunehmen. Andernfalls: (2) Wie hätten die Verfasser nach den Umständen des Gesetzgebungsverfahrens den vorliegenden Fall hypothetisch entschieden? Gibt die fragliche Konstellation (chemische Mittel) Anlaß, die ursprüngliche Wertentscheidung inhaltlich neu zu überdenken? Wahrscheinlich ist, daß die Gesetzgebungsorgane den vorliegenden Fall angesichts der vergleichbaren Gefährlichkeit ungeachtet der möglicherweise greifenden weiteren Alternativen der Vorschrift hätten erfassen wollen. Und: (3) Hätten die Gesetzesverfasser bei Berücksichtigung des neuen Sachverhalts vermutlich den Wortlaut geändert oder erweitert? (Hier z. B.: „Waffe, insbesondere eines Messers, eines chemisch wirkenden Angriffsmittels oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs“ oder „gefährliche Angriffsmittel jeder Art“.) Kann man das mit einiger Sicherheit verneinen, ist das zumindest ein Indiz für die Annahme, daß auch der nicht erörterte Fall erfaßt sein soll. Die Gesetzesverfasser an ihren konkreten Äußerungen (ihrer Definition) festzuhalten, könnte womöglich zu einer ungewollten Verkürzung ihrer Ziele führen! Im Ergebnis bleibt BGHSt 1, 1 freilich ein Grenzfall, auf den unter dem Stichwort „technischer Fortschritt“ zurückzukommen sein wird. Seine Ergänzung findet BGHSt 1, 1 in folgendem, ebenfalls schon dargestellten Beispiel: Nach Ansicht von BGHSt 22, 235 (siehe oben S. 88) wehrt „das natürliche Sprachempfinden“ sich dagegen, eine Hauswand als „gefährliches Werkzeug“ im Sinn des § 223a StGB (a. F.) aufzufassen (S. 236). Der eindeutige Wortlaut gebiete es, an der Voraussetzung der Beweglichkeit der Gegenstände festzuhalten (S. 237). Auch die Beispiele aus der Entstehungsgeschichte238 sprächen dafür, die Beweglichkeit der Gegenstände vorauszusetzen (S. 236)!

Zu betonen ist zunächst, daß nach Ansicht des Senats – anders als in BGHSt 1, 1 – bereits der eindeutige Wortlaut gegen die Subsumtion spricht. Damit kommt es auf die historische Auslegung nicht mehr maßgeblich an. Ansonsten liegen beide Entscheidungen jedoch durchaus parallel: In BGHSt 1, 1 sprach die in den Materialien enthaltene ausdrückliche Definition, in BGHSt 22, 235 immerhin die Gesamtheit der dort aufgezählten Beispiele gegen die Subsumtion. Gleichwohl steht in beiden Fällen der Schluß von den in den Materialien genannten Beispielen auf den Willen der Gesetzesverfasser auf schwachen Füßen, da in Betracht gezogen werden muß, daß diese Konstellationen in Anbetracht ihres eher marginalen Auftretens im Gesetzgebungsverfahren schlicht nicht erörtert wurden (vgl. nochmals die Kontrollfragen). Das Reichsgericht hat z. B. in siedend heißem Kaffee, der Verbrennungen erzeugt und damit chemisch wirkt, 238 In der Reichstagskommission wurden Hieb-, Stich-, Stoß- und Schießwaffen genannt, außerdem Stuhlbein, Bierflasche, Knüppel, schwere Hausschlüssel, Schlagring, Messer; vgl. RT-Berichte 1876, S. 802.

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ohne weiteres ein „gefährliches Werkzeug“ gesehen (GA 1916, 321), obwohl kein einziger Fall aus der Entstehungsgeschichte damit auch nur im Ansatz vergleichbar war und die in den Materialien zugrundegelegte Definition die Subsumtion ausschloß! Fall 149 (BGHSt 10, 157 – „Gesundheitszeugnis“): Ein weiteres interessantes Beispiel bietet BGHSt 10, 157. Zu entscheiden war, ob der Tatbestand des § 278 StGB – Ausstellen eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses „zum Gebrauch bei einer Behörde“ durch einen Arzt – auch dann erfüllt ist, wenn der Arzt bei der Behörde angestellt ist, bei der das (innerdienstliche) Zeugnis vorgelegt werden soll. Der BGH läßt es dahinstehen, ob dem § 278 „nach den damaligen Lebensverhältnissen“ die Vorstellung zugrunde lag, das Zeugnis werde zur Vorlage bei einer anderen Behörde benötigt (S. 159). Auf diesen „Normalfall“ sei der Anwendungsbereich nicht beschränkt: „Kein Gesetz verträgt eine starre Begrenzung seiner Anwendbarkeit auf solche Fälle, die der vom Gesetzgeber ins Auge gefaßten Ausgangslage entsprechen; denn es ist nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepaßt weitergelten will, solange dies nicht die Form sprengt, in die er gegossen ist (RGSt 12, 371 f; BGHSt 1, 1).“ (BGHSt 10, 157 [159 f.])239

Die grundsätzlichen, übertrieben metaphorischen240 Ausführungen waren durch den Fall nicht veranlaßt. Der „Normalfall“ mag dem Gesetzgeber als Grundlage für die Gesetzesfassung vor Augen gelegen haben, doch gleichwohl kann auch die Einbeziehung eines eher am Rand liegenden Sachverhalts dem Willen des historischen Gesetzgebers entsprechen. Für eine gegenteilige Wertung, etwa durch konkrete Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren, ist jedenfalls nichts ersichtlich.241 Dem zugrundeliegenden „Normalfall“ können auch keine generellen Kriterien entnommen werden, die der Erfassung der vorliegenden Konstellation entgegenstünden.242 Die Entscheidung kann sonach trotz ihrer terminologischen Einkleidung nicht als Prototyp der „objektiven“ Auslegungstheorie herhalten. Auch in folgendem Beispiel versetzt der BGH der subjektivhistorischen Auslegung ohne Not einen Schlag: Fall 150 (BGHSt 13, 5 = oben Fall 31): Fraglich war, ob außer quellfähigen Mitteln auch Phosphate, die bei Gesetzesabfassung noch nicht erprobt waren, als verbotene Bindemittel im Sinn der Wurstwarenverordnung anzusehen sind. Der Wortlaut 239 Das in BGHSt 10, 157 verfolgte Anliegen wird durch BVerfGE 105, 135 (158) vorsichtig anerkannt und als „objektiv-teleologische“ Auslegung charakterisiert. 240 Naucke, in: FS für Engisch, S. 278: Die überzogene, das Gesetz personifizierende Sprache sei dem „Objektivismus“ eigen. 241 Freilich nimmt der BGH keine nähere „genetische“ Auslegung vor. 242 Anders liegt es z. B. in BGHSt 1, 1 und 22, 235, wo die in den Materialien aufgezählten Beispiele für eine mechanische Einwirkung bzw. für die Beweglichkeit der Angriffsmittel sprechen, und deshalb zumindest diskutiert werden müßte, ob damit eine Ausschlußwirkung verbunden sein könnte. In BGHSt 10, 157 gibt es dafür zu wenige Anhaltspunkte.

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(siehe bei Fall 31) schloß die Erfassung der Phosphate zumindest nicht aus. Der Senat sieht in der Entstehungsgeschichte eher eine Stütze für eine weite Auslegung, denn laut Entwurfsbegründung seien unter Bindemitteln für Wurstwaren Bindemittel im weitesten Sinne zu verstehen (S. 8). Daß im Anschluß daran ausschließlich quellfähige Mittel, nicht aber Phosphate aufgezählt werden, sei unerheblich, da es sich dabei nur um Beispiele handele. Unerheblich sei auch, daß Phosphate noch nicht diskutiert wurden, denn diese seien bei Erlaß der Verordnung noch nicht als Bindemittel erprobt gewesen. Bevor der Senat zur systematischen und teleologischen Auslegung übergeht, würdigt er unvermittelt die historische Auslegung herab, obwohl sie seine Auffassung doch angeblich eher stützt: „Maßgebend für die Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift ist jedoch nicht, wie ihre Urheber oder Verfasser sie verstanden wissen wollten sondern ihr wirklicher Sinngehalt, wie er sich für den unbefangenen Betrachter aus dem Wortlaut des Gesetzes und dessen Sachzusammenhang ergibt (BVerfGE 1, 299).“

Offenbar ist der Senat sich doch nicht ganz sicher, für welche Position die Entstehungsgeschichte spricht, weshalb er auf methodologischer Ebene Vorsorge gegen möglich Einwände trifft. Angesichts der überzeugend vorgeführten historischen Auslegung, die trotz der genannten Beispiele die Ansicht des Senats zuließ, schwächt dieses zweigleisige Vorgehen die eigene Argumentation. In einem merkwürdigen Kontrast zu BGHSt 1, 1 und BGHSt 13, 5 steht die Entscheidung BGHSt 41, 219, die bereits (Fall 59) eingehend analysiert und dabei vor allem wegen ihrer Auffassung zum Grenzkriterium des Analogieverbots kritisiert wurde.243 Auch die fragwürdige subjektiv-historische Auslegung, die ohne Notwendigkeit an einem historischen Sprachverständnis festhält und damit den Willen des Gesetzgebers eher in seiner Wirkung begrenzt, wurde bereits erörtert. Die insofern entscheidende Begründungsschwäche sei nochmals kurz benannt: Fall 151 (BGHSt 41, 219 = oben Fall 59): Der BGH lehnt es ab, unter einem „Magazin“ i. S. des § 308 I StGB a. F. (Brandstiftung) auch einen mit Lecithin gefüllten und mehrere Tonnen fassenden Tankbehälter zu subsumieren. Es stehe fest, „daß der Gesetzgeber seinerzeit nicht an Brandobjekte wie Tankbehälter für chemische Produkte gedacht hat. Der – abschließende . . . – Katalog von Angriffsobjekten in § 308 Abs. 1 StGB entstammt einer längst überholten Wirtschaftsordnung . . . Abhilfe kann insoweit nur der Gesetzgeber schaffen“ (S. 221).

An das – nicht näher nachgewiesene – Verständnis des historischen Gesetzgebers sieht der BGH den Interpreten sogar unter dem Aspekt des Analogieverbots gebunden, obwohl der Wortlaut durchaus eine weite Auslegung zuließ, wie der BGH selbst illustriert. Den methodischen Problemen wird die Entscheidung aber vor allem deshalb nicht gerecht, weil sie es ohne Hinterfragen genügen läßt, daß der historische Gesetzgeber an die jetzt vorliegende Konstellation noch nicht „gedacht“ hat. Damit ist zum einen der „Wille des Gesetzgebers“ 243 Zu den Verwechslungen, denen der BGH hier erlegen ist, vgl. nochmals Otto, JK 1996, StGB § 1/15.

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jedoch nur oberflächlich ermittelt,244 und zum anderen fehlt eine Auseinandersetzung mit den methodologisch so klar abweichenden Äußerungen in BGHSt 1, 1 und BGHSt 13, 5. Es ist kein Grund ersichtlich, warum ein Senat sich zwar mit jedem noch so fernliegendem Präjudiz im dogmatischen Bereich, nicht aber mit abweichenden und grundlegenden Entscheidungen auf dem Gebiet der Methodik beschäftigt. Jedenfalls ist eine subjektiv-historische Auslegung keineswegs so eng begrenzt, wie BGHSt 41, 219 Glauben machen will. Die Entscheidung verdient allenfalls unter psychologischen Gesichtspunkten Beifall, nämlich als Anstoß des Gesetzgebers zu einer überfälligen Reform des Brandstrafrechts.245 Eher überzeugend werden die Vorstellungen des Gesetzgebers dagegen in BGHSt 39, 36 (oben Fall 17) genutzt, indem sie neben anderen Faktoren zur Tatbestandsreduktion der §§ 239a, 239b StGB herangezogen werden. Daß die Entscheidung sich im Bereich der Rechtsfortbildung bewegt, spielt für vorliegenden Zusammenhang keine Rolle: Fall 152 (BGHSt 39, 36; vgl. auch BGHSt 39, 330): Der Gesetzgeber erweiterte 1989 die Tatbestände der §§ 239a, 239b StGB (Räuberische Erpressung und Geiselnahme) dahingehend, daß nunmehr auch „Zwei-Personen-Verhältnisse“ erfaßt wurden, d.h. die Einbeziehung einer dritten Person, die in Sorge um das Opfer zu bestimmten Verhaltensweisen genötigt werden soll, nicht mehr Voraussetzung der Tatbestandsverwirklichung war. Ausweislich der Materialien stufte der Gesetzgeber dabei beide Delikte als „typische Erscheinungsformen terroristischer Gewaltkriminalität“ ein, die nicht auf Dreiecks-Verhältnisse begrenzt sei (vgl. a. a. O., S. 39 mit Nachweisen). Auch die genannten Beispiele – Entführung eines Politikers, Fabrikanten oder Diplomaten, um diesen zu Handlungen zu nötigen – bestätigen diese Zielsetzung.246 Allerdings hat der Gesetzgeber nach Ansicht des BGH den Wortlaut so weit gezogen, daß auch klassische Delikte wie Vergewaltigung oder räuberische Erpressung von den neugestalteten und mit einer höheren Mindeststrafe versehenen Tatbeständen erfaßt werden. Da der Gesetzgeber diese systematischen Friktionen nicht gesehen oder diskutiert und sich fast ausschließlich auf die Bekämpfung politisch motivierter Gewaltkriminalität konzentriert habe (S. 39 ff.), nimmt der BGH eine mustergültige Reduktion vor, die sowohl auf die Entstehungsgeschichte als auch auf objektiv-systematische Gründe (Verhältnis zu anderen Vorschriften) gestützt ist. Dabei gewinnt er aus den im Gesetzgebungsverfahren genannten Fällen und Zielen das einschränkende Kriterium der „Außenwirkung“.247 244 Um der Sache zumindest näher zu kommen, könnten wieder die bei BGHSt 1, 1 vorgeschlagenen Hilfserwägungen angestellt werden. 245 Dies ist mit dem 6. StrRG 1998 in enttäuschender Weise geschehen, vgl. Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1, Rn. 952 m. w. N. 246 Tenckhoff/Baumann (JuS 1994, 836 [838 f.]) zweifeln daran, ob der Wille des Gesetzgebers allein aus den im Gesetzgebungsverfahren genannten Beispielen ermittelt werden darf, halten den Weg des BGH insgesamt aber für „bestechend“. 247 Der Große Senat hat diese subjektiv-teleologische Reduktion in BGHSt 40, 350 freilich verworfen: Das Kriterium der „Außenwirkung“ sei zu unbestimmt und stelle doch wieder die gerade beseitigte Dreiecksstruktur her (S. 358). Die in BGHSt 39, 36

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Sowohl die sich aus den Gesetzesmaterialien ergebende Zielsetzung als auch die dort genannten Anwendungsfälle sprachen zumindest für eine enge Auslegung oder sogar, da den Gesetzesverfassern die Auswirkungen auf die übrigen Delikte des StGB offensichtlich entgangen sind, für das Vorliegen einer (verdeckten) Gesetzeslücke. Zwar wurde bereits mehrfach gesagt, daß aus der Nichterörterung von Fällen nicht folgt, diese Fälle seien vom Gesetz (und vom Willen des Gesetzgebers) nicht erfaßt; aber wenn die genannten Beispiele eine Gemeinsamkeit aufweisen und damit eine Generalisierung zulassen, die mit weiteren Indizien (hier dem allgemeinen Ziel der Bekämpfung terroristischer Gewaltkriminalität) übereinstimmt, spricht das für einen „engen“ Willen des Gesetzgebers, daneben keine weiteren Sachverhalte zu erfassen, zumal nicht „Normalfälle“ der Vergewaltigung oder räuberischen Erpressung. Durchaus überzeugend argumentiert der BGH auch in folgender Entscheidung: Fall 153 (BGHSt 39, 249 – „Autofalle“): Verübt auch derjenige einen räuberischen Angriff auf den Führer eines Kraftfahrzeugs (§ 316a StGB), der einen Mofa-Fahrer überfällt? Der BGH sieht keinen Anlaß, von der Legaldefinition des § 248b IV StGB („Fahrzeuge, die durch Maschinenkraft bewegt werden“) abzuweichen und den Anwendungsbereich auf Angriffe auf Autofahrer zu verengen. § 316a wurde 1952 eingeführt, nachdem der Kontrollrat das 1938 erlassene und die Todesstrafe androhende „Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen“ aufgehoben hatte. Obwohl in den Gesetzesmaterialien zu § 316a auch von „Autofallen“ die Rede war, beschränkt der BGH die Reichweite der Norm nicht auf diesen Fall,248 da ausweislich der Protokolle „jeder Kraftfahrer“ und „der Straßenverkehr im allgemeinen“ geschützt werden sollte (S. 250). – In Anbetracht des sonst im Gesetz (§ 248b) üblichen Sprachgebrauchs müßten in der Tat starke Anhaltspunkte für ein enges Begriffsverständnis der Gesetzesverfasser vorliegen. Gerade weil die Vorläufernorm explizit gegen „Autofallen“ gerichtet war, ist nicht ersichtlich, weshalb § 316a – falls ein so enger Anwendungsbereich beabsichtigt war – nicht ebenfalls eine entsprechende Einschränkung enthält. Daß die Autofalle dem Gesetzgebungsverfahren womöglich als Beispiel zugrunde lag, bringt ohne weitere Indizien keine Ausschlußwirkung für andere Konstellationen mit sich.249 aus der Entstehungsgeschichte gezogenen Schlußfolgerungen greift der Große Senat nicht auf, sondern zieht aus der Historie zur Stützung der eigenen Position andere Aspekte heran (S. 356 f.). Ob der Große Senat dem „Willen des Gesetzgebers“ damit näher kommt als BGHSt 39, 36, ist angesichts eines in jedem Fall verunglückten Gesetzes eine müßige Frage. 248 Daraus folgt nicht umgekehrt, daß der BGH „ein bisher unproblematisches Tatbestandsmerkmal weit auslegt“ (so aber Große, NStZ 1993, 525 [527]), denn der Senat versteht den Begriff im üblichen Sinn. 249 Nach Ansicht von Große (NStZ 1993, 525 [527]) dürfe § 316a StGB, „dessen geistige Wurzel eindeutig in der nationalsozialistischen Weltanschauung und Strafrechtspolitik liegt“, nicht kritiklos angewendet werden; andernfalls erscheine das „nationalsozialistische Gedankengut . . . geradezu als Rechtfertigung für alle Fragwürdigkeiten, die der § 316a StGB aufwirft“. Kurioserweise schlägt Große mit der „Autofalle“ aber gerade ein Begrenzungskriterium vor, das die „geistige Wurzel“ des

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Daß Gründe vorliegen müssen, die aus einem im Gesetzgebungsverfahren erörterten Anwendungsfall der Norm auf eine Einschränkung des Tatbestandes schließen lassen, macht der BGH noch in folgenden Entscheidungen deutlich: In BGHSt 1, 175 (179) geht der Senat davon aus, daß ein in der amtlichen Begründung erörterter Fall nur als Beispiel der einschlägigen Norm (§ 61 Nr. 2 StPO) herangezogen wurde, ohne andere Konstellationen damit auszuschließen. — In BGHSt 36, 133 war zu entscheiden, ob der Ausschluß des Strafverteidigers bei dringendem oder hinreichendem Verdacht der Tatbeteiligung gemäß § 138a I Nr. 1 StPO die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens voraussetzt. Der Wortlaut der Norm verlangt das nicht. Während der BGH auch in der Entstehungsgeschichte keinen Anhalt für dieses Erfordernis erkennen kann (S. 134), weist Fezer (JR 1990, 79) darauf hin, daß der Gesetzgeber zwar tatsächlich die Situation des durchgeführten Ermittlungsverfahrens im Auge gehabt habe; doch könne man daraus nicht folgern, daß der Gesetzgeber stets die Durchführung des Ermittlungsverfahrens für notwendig hielt. Eine umfassende und andere Situationen ausschließende Vorstellung sei nicht gegeben. — Zutreffend zurückhaltend gibt sich auch BGHSt 43, 22 (28): Der Gesetzgeber habe in der amtlichen Begründung zwar nur einen bestimmten Fall als Beispiel für den Regelungsgehalt der Norm genannt, das sei jedoch kein Grund für eine einschränkende Auslegung des § 77b OWiG, denn der vorliegende Fall sei im Gesetzgebungsverfahren gar nicht bedacht worden. — BGHSt 43, 370 (376) hält die Entstehungsgeschichte im konkreten Fall für wenig ergiebig: Die vorliegende Konstellation sei zwar in den Gesetzesmaterialien nicht erwähnt, durch die dort enthaltene beispielhafte Aufzählung (vgl. oben BGHSt 13, 5 = Fall 150) allerdings auch nicht ausgeschlossen.

b) Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse Die in den Gesetzesmaterialien genannten Anwendungsfälle können sich weiterhin aufgrund einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse als unvollständig erweisen. Bei solchen nachträglichen „Anschauungslücken“250 oder „sekundären Redaktionsversehen“251 stellt sich die Frage, inwieweit die Auslegung den veränderten Realitäten im Einklang mit den gesetzgeberischen Intentionen angepaßt werden kann. Die Fallgestaltungen ähneln denjenigen im vorhergehenden Abschnitt, so daß auf einige der dort bereits erörterten Beispiele erneut einzuGesetzes von 1938 am Leben hält! Bedenklich an § 316a StGB war bis zur Einfügung des minder schweren Falls im Jahr 1998 (§ 316a II StGB) indes vor allem der hohe Strafrahmen („nicht unter fünf Jahren“), der in Einzelfällen zu Härten führte. Das Bemühen um politische Korrektheit kann nicht verdecken, daß räuberische Angriffe auf Kraftfahrer (einschließlich Mofa-Fahrer) besonders verwerflich sind und harte Strafen verdienen. Daß der Nationalsozialismus daraus die von ihm zu erwartenden Folgerungen zog (Todesstrafe, unbestimmte Gesetzesfassung) und in der ihm eigenen Sprache vertrat („asoziale Parasiten“, vgl. Große, S. 526), ist eine ganz andere Frage, die mit der Auslegung des § 316a StGB nichts zu tun hat. 250 Siehe Heck, Gesetzesauslegung, S. 178. Der Begriff der „Lücke“ soll hier jedoch nicht den Eindruck erwecken, es gehe um „Rechtsfortbildung“ im engeren Sinn. 251 Vgl. oben III 7 d und unten IV 8 b.

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IV. Entstehungsgeschichte

gehen sein wird. Als Ausgangspunkt kann wiederum die Entscheidung des RG zum Begriff der „Eisenbahn“ dienen (RGSt 12, 371): Der Fortschritt der Technik im Bereich der Antriebstechnik bei Eisenbahnen schließt es, obwohl der Gesetzgeber noch von dampfgetriebenen Bahnen ausging, nicht aus, auch die neuen Erscheinungsformen zu erfassen. Dagegen sprachen weder der Wortlaut noch der gesetzgeberische Wille, der auf beide Fälle gleichermaßen zutrifft. Selbst wenn die Gesetzesverfasser in den Materialien ausdrücklich eine Eisenbahn als dampfgetriebenes, schienengebundenes Fahrzeug definiert hätten, würde sich daraus nur Abweichendes ergeben, wenn damit zweifelsfrei eine Ausschlußwirkung beabsichtigt gewesen wäre.252 Mangels „Anschauung“ der damaligen Gesetzesverfasser ist das aber unwahrscheinlich. Diese Erwägungen zeigen, daß der Wille des Gesetzgebers nicht psychologisch (empirisch), sondern normativ (hypothetisch) zu ermitteln ist; doch auch wenn damit eine Zuschreibung erfolgt, weil ein tatsächlicher Wille zur anliegenden Problemstellung notwendigerweise nicht ermittelt werden kann, dient dieses Verfahren dazu, die ursprüngliche Wertung des Gesetzgebers aufrechtzuerhalten, nicht aber dazu, sie abzuwandeln. Deshalb widerspricht diese Vorgehensweise nicht einer subjektiven Auslegungstheorie,253 mögen auch die Gerichte diese Konstellationen gelegentlich in übertrieben objektivistischen Formulierungen („lebendig sich entwikkelnder Geist“) charakterisieren. Fast wie RGSt 12, 371 liegt die Entscheidung des BGH zum Forstdiebstahl (BGHSt 10, 375 = oben Fall 57), jedoch mit dem maßgeblichen Unterschied, daß der Wortlaut der Anpassung an den technischen Fortschritt zwingend entgegenstand.254 Ansonsten hätte es dem Willen des Gesetzgebers sicher entsprochen, auch die neue Konstellation (Kraftfahrzeug statt Fuhrwerk) zu erfassen. Jedoch hat er einen zu engen, „undurchlässigen“ Ausdruck gewählt, der die gesetzgeberische Intention in ein zu enges Korsett preßt und damit in der Tat „mumifiziert“.255 Eine Rechtsfortbildung könnte hier nicht helfen, da sie sich zulasten des Täters auswirken würde (Art. 103 II GG). Hätte der Gesetzgeber „Fahrzeug“ statt „bespanntes Fuhrwerk“ formuliert, so könnte ungeachtet dessen, daß der historische Gesetzgeber naturgemäß nicht an Kraftfahrzeuge den252 Man denke wieder an die berühmte, 223silbige Definition der „Eisenbahn“ durch RGZ 1, 247 (252), vgl. oben Kap. III, Fn. 338. 253 Kramer (Methodenlehre, S. 100 f. [Fn. 301]) ist zuzugeben, daß mit der Normativierung des gesetzgeberischen Willens wie auch bei der „objektiven“ Theorie die Gefahr der Verschleierung besteht, aber hier gilt es, einen Weg zwischen Skylla (Mumifizierung) und Charybdis („objektive“ Theorie) zu finden. 254 Siehe auch das von Liver (Der Wille des Gesetzes, S. 21) geschilderte Beispiel: Wegen Holzmangels wurde eine Vorschrift erlassen, die bei der Erstellung von Zäunen die Verwendung von Steinen vorschrieb (statt die Verwendung von Holz zu verbieten). Wie stand es jedoch mit Eisen, das bei Erlaß der Vorschrift offenbar nicht zur Verfügung stand, jedenfalls aber nicht bedacht wurde? 255 Zum Phänomen der „Porosität“ siehe bereits oben III 7 d.

5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation

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ken konnte, die Subsumtion ohne weiteres und im Einklang mit der gesetzgeberischen Wertentscheidung erfolgen. Größere Schwierigkeiten bereitet erneut BGHSt 1, 1 (Salzsäure als „Waffe“?). Der umgangssprachliche Ausdruck „Waffe“ ist sicher ein sehr weiter Begriff, der viel Raum läßt, um neuen Entwicklungen Rechnung zu tragen, so daß die Wortlautgrenze nicht im Weg steht.256 Im übrigen ist aber zu unterscheiden: (1) Haben die Gesetzesverfasser „mechanisch“ als Gegenbegriff zu „chemisch“ verstanden, woran freilich Zweifel bestehen (vgl. oben Fall 148), darf eine subjektive Auslegung davon nicht abweichen. Sollten die tatsächlichen Umstände sich durch eine um sich greifende Verwendung chemischer Angriffsmittel geändert haben, mag die ursprüngliche Wertentscheidung des Gesetzgebers ihre Grundlage, aber nicht ihre Geltung verloren haben. Die Rechtsprechung ist durch eine solche quantitative „Verschiebung“ der Wirklichkeit nicht zur Vornahme eines Sprachwandels (Definition „Waffe“) legitimiert.257 (2) Konnten die Gesetzesverfasser die Umstände noch nicht berücksichtigen, ist ein am Wandel der Verhältnisse orientierter Sprachwandel möglich. Damit wird die ursprüngliche Wertentscheidung nicht verkehrt, sondern verlängert! Bestehen bei hypothetischer Betrachtung jedoch Zweifel, ob die ursprüngliche Entscheidung die neue Situation überhaupt erfaßt, der Gesetzgeber dafür also die gleiche Lösung gewählt hätte, muß die Anpassung dem Gesetzgeber selbst überlassen bleiben. (3) Der BGH deutet einen weiteren Grund an, weshalb die Veränderung der Wirklichkeit hier berücksichtigt werden dürfe: Das enge Begriffsverständnis (mechanische Einwirkung) sei auf den damals in Technik und Allgemeinheit herrschenden Sprachgebrauch und damit auf Auffassungen zurückzuführen, „die dem Wandel der Zeiten unterworfen sind“ (S. 2). Die in den Gesetzesmaterialien enthaltenen Erläuterung wäre demnach nur eine Zusammenfassung der damals insoweit herrschenden Vorstellungen, ohne daß damit eine Anpassung an eine Weiterentwicklung von Technik und Umgangssprache ausgeschlossen sein würde. Bei letzterer Betrachtung lägen die Probleme nicht im Grundlagenstreit zwischen objektiver und subjektiver Auslegung, sondern in einer Deutung der Motive selbst. Denn schon daraus könnte sich ergeben, daß der Gesetzgeber eine 256

Im einzelnen dazu oben Fall 51 und Fall 64. Unbefriedigend an dieser notwendigen Selbstbeschränkung der Rechtsprechung ist, daß die Legislative darauf mit einer Wortlautänderung (z. B. Legaldefinition) reagieren muß, denn sie kann eine veränderte Interpretation nicht auf anderem Weg erreichen, wie z. B. durch Verabschiedung des gleichen Textes unter Austausch der Motive. Der Gesetzestext muß also vermehrt werden, obwohl u. U. auch der ursprüngliche Text die weitergehenden Zielvorstellungen tragen würde! 257

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IV. Entstehungsgeschichte

Dynamisierung des Begriffsverständnisses im Einklang mit der technischen Entwicklung zugelassen hat. Der dagegen vorgebrachte Einwand von G. und D. Reinicke, der Waffenbegriff sei kein „Blankettbegriff“, trifft nicht, denn jeder abstrakte Gesetzesbegriff (z. B. Fahrzeug) kann angesichts der Porosität als Blankettbegriff bezeichnet werden.258 Eine solche Position gibt dem „Mumifizierungs-Argument“ unnötig Nahrung und wird der Thematik ebensowenig gerecht, wie der pauschale Hinweis in BGHSt 41, 219 (221), der Gesetzgeber habe seinerzeit nicht an diesen Fall „gedacht“. Konsequent im dargelegten Sinn argumentiert BGHSt 24, 136 (oben Fall 50 – „Gaspistole“) hinsichtlich des Begriffs „Schußwaffe“, den der Gesetzgeber in der amtlichen Begründung nicht definiert hat: Im Einklang mit dem Sprachgebrauch sei auch die Wandelbarkeit des Begriffs je nach dem Fortschritt der Waffentechnik zu berücksichtigen.259 Wenn der Gesetzgeber hinsichtlich der Begriffsbedeutung auf den Stand der Technik oder auf den allgemeinen Sprachgebrauch hinweist oder ein solches Verständnis mangels eigener Stellungnahme zumindest nicht ausschließt, bereitet der Wandel der Verhältnisse keine besonderen methodologischen Probleme. Die Entwicklung von Technik oder Sprachgebrauch kann dann bruchlos durch die Porosität der Begriffe aufgefangen werden. Das Stichwort „Blankettbegriff“ gibt Gelegenheit, auf die Variationsmöglichkeiten der Gesetzestechnik hinzuweisen. Die Gefahr des „Absterbens“ der Gesetze ist verständlicherweise um so geringer, je allgemeiner das Gesetz und die gesetzgeberischen Zielvorstellungen gefaßt sind. Am deutlichsten kommt dies bei unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln zum Ausdruck,260 deren Verwendung im Strafgesetz zwar Grenzen gesetzt sind, auf die aber gleichwohl nicht verzichtet werden kann. Auch Veränderungen tatsächlicher Umstände können mit diesen Mitteln am einfachsten aufgefangen werden.261 So prüft BGHSt 42, 1 anläßlich der „Haschisch-Entscheidung“ des BVerfG (BVerfGE 90, 145), ob die Bestimmung der „nicht geringen Menge“ (§ 29a BtMG) von Cannabis aufgrund einer veränderten naturwissenschaftlichen Bewertung der Gefährlichkeit dieser Droge revidiert werden muß, lehnt das jedoch mit eingehender Begründung ab. Aber möglich wäre eine solche Neubestimmung des Grenzwerts – 258 G. und D. Reinicke, NJW 1951, 681 [683]: Die Abweichung von den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers sei verbotene Analogie. 259 Die Erläuterung der Frage, welche Faktoren bei der Begriffsbestimmung maßgeblich sind, bleibt in BGHSt 24, 136 insgesamt allerdings wenig durchsichtig; näher oben bei Fall 50. 260 Zur Diskussion dieser Problematik nach Einführung des BGB siehe Honsell, Historische Argumente, S. 77 m. w. N. 261 Von Arnauld (Rechtstheorie 2001, 465 [484 ff.]) sieht drei Fallgruppen, in denen bereits die Ausgestaltung der Norm für einen auf Dynamisierung gerichteten gesetzgeberischen Willen spreche: Die ausdrückliche Anordnung (z. B. der Verweis auf den „Stand der Technik“), Generalklauseln und die Verwendung von Gattungsbegriffen, wozu etwa auch die „Waffe“ zähle (S. 487 f.).

5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation

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nach Ansicht des BGH ein „notwendig dezisionistischer“ Vorgang (S. 11) – sicher gewesen.262 Eine Anpassung des Normverständnisses an veränderte Lebensverhältnisse hält grundsätzlich auch BGHSt 28, 224 für möglich und nötig. Das Merkmal „frische Tat“ (§ 252 StGB) bedingt nach Auffassung des BGH einen engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang (S. 229); dieses Ergebnis stimme mit der Entstehungsgeschichte überein, die der BGH recht knapp darstellt (S. 230). Und weiter führt der Senat aus: „Es sind seither keine tatsächlichen Veränderungen in den Lebensverhältnissen eingetreten, die es bedenklich erscheinen ließen, der historischen Auslegungsmethode gerade in Bezug auf die hier in Rede stehende Frage erhebliches Gewicht beizumessen.“ (BGHSt 28, 224 [230])

Doch wie so oft, wenn der BGH in Methodenfragen zu generalisierenden Aussagen greift, bleiben Zweifel. (1) War die allgemeine Aussage in Anbetracht der Tatsache, daß eine normrelevante Veränderung der Lebensumstände in vorliegender Frage eher fern lag und der BGH die Entstehungsgeschichte ohnehin nur bestätigend heranzieht, überhaupt veranlaßt? (2) Steht jede historische Gesetzesauslegung unter dem vom BGH genannten Junktim, muß also stets eine Änderung der Lebensverhältnisse in Betracht gezogen werden? Oder spricht nicht eine Vermutung dafür, daß die historische Wertentscheidung unverändert gültig ist? Als schwierigste Fallgestaltung in der amtlichen Sammlung zur vorliegenden Problematik wird man die sogenannte Entmaterialisierung des Gewaltbegriffs sehen müssen, die oben bereits unter dem Gesichtspunkt des Analogieverbots (oben III 7 e) angerissen wurde. In BGHSt 1, 145 (oben Fall 65 – „Betäubungsmittel“) und BGHSt 8, 102 (oben Fall 66 – „Generalstreik“) hat der BGH einen weiten Gewaltbegriff u. a. auf eine lebensnahe, gegenwartsbezogene Betrachtung gestützt und betont, daß „im allgemeinen Leben die Betätigung reiner Körperkraft . . . immer mehr zurückgetreten ist“ (BGHSt 1, 145 [147]). Im vorliegenden Kontext interessiert allein, ob diese Erweiterung des Gewaltbegriffs dem Willen des historischen Gesetzgebers entspricht bzw. ob Änderungen der Wirklichkeit eingetreten sind, die auf die Definition der „Gewalt“ ausstrahlen. Die Senate analysieren die Vorstellungen des historischen Gesetzgebers nicht,263 aber unterstellt man den naheliegenden Fall, die Gesetzesverfasser seien von einem engen (körperlichen) Gewaltbegriff ausgegangen, dann sind folgende Konstellationen zu bedenken, die teilweise schon aus BGHSt 1, 1 bekannt sind: 262 Der Fall paßt freilich deshalb nicht genau in den vorliegenden Zusammenhang, weil der historische Gesetzgeber sehr wahrscheinlich keine konkreten Vorstellungen zu den relevanten Grenzwerten geäußert hat. 263 Ein Beispiel dafür, wie die Auslegung im Dickicht des Präjudizienmaterials an Konturen verliert. In BGHSt 23, 46 (Sitzblockade auf Straßenbahnschienen als Gewalt?) werden weder Wortlaut noch Entstehungsgeschichte erörtert!

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IV. Entstehungsgeschichte

(1) Subtilere Gewaltmittel waren bereits zum Zeitpunkt der Gesetzesabfassung Bestandteil der Realität, traten lediglich seltener auf als die üblichen Formen der Gewalt („quantitative Verschiebung“). Hier gabeln sich die Wege: (a) Die Gesetzesverfasser trafen eine bewußte Entscheidung dahingehend, nur die üblichen Formen der (körperlichen) Gewalt zu erfassen, über die anderen Varianten dagegen nur bei gegebenem Anlaß (bei vermehrtem Auftreten) neu zu entscheiden. (b) Die Gesetzesverfasser übersahen die (damals!) nebensächlichen Erscheinungsformen (Betäubungsmittel, Sitzblokkade etc.) und definierten den Gewaltbegriff nur deshalb eng. In der Variante (a) muß es bei der ursprünglichen Wertentscheidung bleiben, denn es ist unklar, wie der Gesetzgeber in Kenntnis der neuen Umstände entschieden hätte; womöglich hätte er Gewalt sogar ausdrücklich i. S. von körperlich wirkendem Zwang definiert. Schwieriger liegt es in Fall (b). Hier muß eine hypothetische Betrachtung angestellt werden: Wie hätte der Gesetzgeber die Frage geregelt, wären ihm alle Gesichtspunkte bekannt gewesen. In Anbetracht der erheblichen Tragweite der Gewaltdefinition sollte jedoch im Zweifel dem Gesetzgeber Gelegenheit gegeben werden, die Problematik selbst klarzustellen.264 Die Gefahr einer „Mumifizierung“ besteht nicht, da ja gerade offen ist, ob die gesetzgeberische Intention den Fall erfaßt oder nicht.265 (2) Der historische Gesetzgeber legte den Alltagssprachgebrauch zugrunde, der zum damaligen Zeitpunkt zwar vor allem auf den körperlichen Kraftaufwand abstellte, jedoch mit dem Wandel der Umstände (subtilere Angriffsmittel) eine Erweiterung erfuhr.266 Diesen Erweiterungen konnte die Rechtsprechung aufgrund der Maßgeblichkeit des allgemeinen Sprachgebrauchs Rechnung tragen, ohne gegen den Willen des historischen Gesetzgebers zu verstoßen, da dessen Vorstellungen eine Dynamisierung gerade zuließen.267 Ein Wandel der Verhältnisse führt damit im Ergebnis zu einem Wandel des Begriffsinhalts (Bedeutungswechsel268), ohne gegen die Intentionen der Gesetzesverfasser zu verstoßen. Es sei denn, es liegen Anhaltspunkte dafür vor, 264

Mit den in Fn. 257 geschilderten Konsequenzen. In BGHSt 1, 1 dürfte die hypothetische Erwägung leichter fallen, in BGHSt 10, 375 noch leichter, wenn dort nicht der Wortlaut entgegenstünde. 266 Siehe aber RGSt 56, 87 (88) für eine Betäubung, die ohne besondere Körperkraft erfolgt: „Das geltende deutsche Recht versteht, dem gewöhnlichen Sprachgebrauche folgend, in seiner geschichtlichen Entwickelung von den ältesten Bestimmungen an bis zur Gegenwart unter Gewalt ausschließlich die durch Anwendung körperlicher Kraft erfolgte Beseitigung eines tatsächlich geleisteten oder bestimmt erwarteten und deshalb von vornherein durch Körperkraft zu unterdrückenden Widerstandes.“ 267 Das wird nicht in Betracht gezogen von Heinemann/Posser, NJW 1959, 121 (122): Nichts spreche dafür, daß der Gesetzgeber einen anderen als den seit eh und je geltenden physischen Gewaltbegriff zugrunde gelegt hat. 268 Daß die Phänomene „Porosität“ und „Bedeutungswandel“ im Einzelfall eng beieinander liegen, wurde bereits betont, vgl. oben III 7 e. 265

5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation

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die daran zweifeln lassen, daß die gesetzgeberische Zielsetzung beide Fallgruppen (die alte wie die neue) erfaßt. (3) Die Gesetzesverfasser haben am damaligen fachsprachlichen Verständnis angeknüpft. Auch hier gilt jedoch nichts Abweichendes: Es wird darauf ankommen, ob die juristische Begriffsbildung bewußt die subtilen Gewaltformen berücksichtigt hat bzw. überhaupt berücksichtigen konnte. Hat die Fachsprache die erhebliche körperliche Kraftentfaltung als unabdingbares Merkmal verstanden und der Gesetzgeber dies übernommen, kann das eine subjektiv-historische Auslegung kaum ignorieren. Generell dürfte beim juristischen Sprachgebrauch aufgrund schärferer Formung des Begriffsinhalts eine noch stärkere Vermutung dafür sprechen, das historische Verständnis für maßgeblich zu erklären. Eine „Dynamisierung“ ist jedoch auch bei Maßgeblichkeit der Fachsprache nicht gänzlich ausgeschlossen. (4) Die subtileren Erscheinungsformen der Gewalt existierten bereits bei Abfassung des Gesetzes, wurden aber weder vom Gesetzgeber noch sonst als „Gewalt“ aufgefaßt. Im Lauf der Zeit hat jedoch ein Wertewandel stattgefunden, der zu einer Gleichbehandlung von physischer und psychischer Mittel drängt. Einen solchen gesellschaftlichen Wertewandel darf die Rechtsprechung jedoch nicht nachvollziehen, denn welche Angriffsformen strafwürdig sind, muß der Gesetzgeber, nicht aber die Gesellschaft beurteilen (näher unten IV 5 d). Zur Verdeutlichung kann auf eine Entscheidung des schweizerischen Bundesgerichts hingewiesen werden, welche die historische Wertentscheidung über Bord wirft und deshalb auch mit einer „großzügig“ verstandenen subjektivhistorischen Auslegung nicht mehr zu vereinbaren ist. Die rechtliche Situation ist ohne weiteres auf das deutsche Recht übertragbar: Fall 154 (BGE 87 IV, 115 – Unterschlagung von Bankguthaben?): Der Gesetzgeber verstand unter dem Begriff der „Sache“ im Unterschlagungstatbestand nur körperliche Gegenstände und vor BGE 87 IV, 115 sah das auch die Praxis so.269 Aufgrund veränderter wirtschaftlicher Verhältnisse, insbesondere im Bereich des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, meint das schweizerische Bundesgericht, auch Rechte und Forderungen einbeziehen zu müssen (S. 118 f.).270 – Für einen solch weitreichende Bedeutungswandel und Eingriff in das System der Vermögensdelikte fehlt es an einer Rechtfertigung. Es spricht alles dafür, daß der historische Gesetzgeber von einem engen Verständnis des Begriffs ausgegangen ist und Forderungen sowie Rechte bewußt aus dem Anwendungsbereich ausschließen wollte. Die wirtschaftliche Fortentwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs mag zu Wertungswidersprüchen führen und Anlaß bieten, die damalige Entscheidung zu überdenken; aber es ist keineswegs 269

Für das deutsche Strafrecht siehe bereits RGSt 3, 347 (349). Kein Hindernis sieht das Bundesgericht im Gesetzlichkeitsprinzip, welches nur verbiete, „über den dem Gesetz bei richtiger Auslegung zukommenden Sinn hinauszugehen“ (a. a. O., S. 118). 270

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IV. Entstehungsgeschichte

sicher, ob der Gesetzgeber in Kenntnis der neuen Situation tatsächlich die Norm hätte erweitern wollen. Deshalb spricht eine Vermutung für die Fortgeltung der bisherigen Rechtslage.

Der BGH berücksichtigt die Fortentwicklung noch in folgenden Entscheidungen, allerdings eher zur Unterstützung einer Interpretation als konstitutiv zur Rechtfertigung eines Rechtsprechungswandels. Auch hier tun sich allerdings Fragen auf: Fall 155 Der Große Senat mußte in BGHSt 1, 158 (oben Fall 52) entscheiden, ob ein „umschlossener Raum“ (§ 243 I Nr. 2 StGB a. F. – schwerer Diebstahl) ein umgrenzter Teil der Erdoberfläche sein muß oder ob auch ein Wohnwagen darunter fallen kann. Das RG hatte der Entstehungsgeschichte das engere Verständnis entnommen, während der BGH dies nicht als zwingend ansieht (S. 162 f.). Aus den Motiven ergebe sich zudem, daß der allgemeine Sprachgebrauch maßgebend sein sollte, und dieser verlange für einen umschlossenen Raum keine Verbindung zum Erdboden (S. 163 f.). „Diese Auslegung berücksichtigt, daß die wirtschaftliche Entwicklung, die sich seit dem Inkrafttreten des StGB vollzogen hat, den strafrechtlichen Schutz abgeschlossener Räume oder Raumabteilungen im Innern von Gebäuden, aber auch beweglicher, jedoch gegen Diebstahl verstärkt geschützter Raumgebilde sehr viel dringlicher gemacht hat als es etwa im Jahre 1871 oder gar 1851 der Fall war“ (S. 167). Fall 156 (BGHSt 8, 151): § 164 VI StGB a. F. sah ein Verfahrenshindernis für die Verfolgung einer Falschverdächtigung vor, „solange ein infolge der gemachten Anzeige eingeleitetes Verfahren anhängig ist“. Während das RG für das „eingeleitete Verfahren“ eine Verfügung der Staatsanwaltschaft verlangte, genügen dem BGH bereits Ermittlungen der Polizei, wenn der Vorgang mitsamt Anzeige an die Staatsanwaltschaft übersandt worden ist (S. 152). „Die Auslegung des Gesetzes darf nicht an der tatsächlichen Entwicklung vorübergehen, die die Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei in den letzten Jahrzehnten genommen hat“ und die der Polizei wesentlich mehr Raum für selbständige Maßnahmen gebe als zuvor (S. 152). – Ob der BGH damit noch im Einklang mit dem Willen des historischen Gesetzgebers judiziert, ist schwer zu beurteilen. Da die Norm vor Einführung der StPO geschaffen wurde, bestimmte sich der Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens nach den jeweiligen landesrechtlichen Gesetzen271, später nach dem Verständnis der StPO. Wenn sich insofern aufgrund einer veränderten Ermittlungspraxis die Vorstellungen gewandelt haben, verstößt das mangels konkreter und abweichender Vorstellungen des Gesetzgebers nicht gegen dessen Willen, sondern allenfalls gegen die an den damaligen Verhältnissen orientierte frühere Interpretation der Rechtsprechung.272 Fall 157 (BGHSt 14, 233): Wird ein Rechtsmittel „schriftlich“ eingelegt (§ 314 StPO), wenn ein entsprechender Telegramminhalt – ein Telegramm genügt unbestritten – fernmündlich vom Postamt durchgesagt wird?273 Der BGH bejaht das zu271

Rubo, RStGB, § 164, Anm. 10, § 158, Anm. 3. Das RG hat den diesbezüglichen historischen Willen nicht näher ermittelt. 273 Eher in Betracht kam womöglich die Alternative „zu Protokoll der Geschäftsstelle“, vgl. Jagusch, in: LR-StPO21, § 314, Anm. 2b. 272

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mindest für den Fall, daß die Durchsage bei Gericht schriftlich vermerkt wird.274 Diese Ansicht trage „nicht nur den Besonderheiten der fortgeschrittenen Technik in der Nachrichtenübermittlung und den Gepflogenheiten und Bedürfnissen des Verkehrs Rechnung, sondern ist auch im praktischen Ergebnis der Gegenmeinung vorzuziehen. . . . Das starre Festhalten am Wortlaut einer Verfahrensvorschrift wäre daher sinnwidrig, wenn es dem Rechtssuchenden unnötige Schwierigkeiten bereitet und das Verfahren erschwert, ohne daß es für die Durchsetzung des Zwecks der Vorschrift erforderlich ist“ (S. 238). – Vom Standpunkt einer subjektiv-historischen Interpretation her ist das Vorgehen des BGH fragwürdig. Nicht deshalb, weil der Gesetzgeber an diese Konstellation nicht gedacht hat (gedacht haben kann), sondern weil unklar ist, wie er in Anbetracht der technischen Entwicklung die Norm gefaßt hätte. Die Erfassung des Telegramms ist durch die Porosität des Begriffs „schriftlich“275 ohne weiteres gedeckt und steht im Einklang mit der gesetzgeberischen Wertung. Aber der vorliegende Fall liegt doch entscheidend anders. Zunächst muß der Wortlaut im Weg der Analogie überwunden werden, was der BGH nur undeutlich zugibt (das „starre Festhalten am Wortlaut“ ist sinnwidrig!). Und weiter ist zweifelhaft, ob eine solche Erweiterung dem (mutmaßlichen) Willen des Gesetzgebers, der mit dem einfachen und klaren Schriftformerfordernis Praktikabilitätserwägungen im Einzelfall gerade entgegentreten wollte, wirklich entspricht. Fall 158 (BGHSt 48, 278 – „Ladengeschäft“): Die Vermietung pornographischer Schriften ist nicht von § 184 I Nr. 3a StGB erfaßt, wenn sie in einem für Personen unter 18 Jahren nicht zugänglichen und von diesen nicht einsehbaren Ladengeschäft erfolgt. In den Materialien ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, daß in „Ladengeschäften“ Personal tätig ist und dieses die Einhaltung des Jugendschutzes überwacht. Nicht zuletzt in „Hinblick auf inzwischen technisch mögliche und von Personaleinsatz unabhängige Sicherungsmaßnahmen“, die dem Gesetzeszweck gleichermaßen Rechnung tragen können, sieht der Senat keinen Grund, die Anwesenheit von Personal (weiterhin) als zwingende Voraussetzung eines „Ladengeschäftes“ anzusehen (S. 284 f.). – Die Vorstellung der Gesetzesverfasser hat sich an den damaligen realen Umständen orientiert; eine Ausschlußwirkung für zukünftige Gestaltungen muß damit nicht verbunden sein.

Aufschlußreich sind noch drei Entscheidungen des BGH, in denen eine Änderung des Normverständnisses auf Grundlage veränderter Umstände abgelehnt wird: Fall 159 (BGHSt 18, 63 – „Verbreitung“ einer Druckschrift): Wird eine Druckschrift auch durch das wörtliche Verlesen ihres Inhalts „verbreitet“ (§ 3 PresseG a. F.)? Der BGH ist der Meinung, daß eine Druckschrift als verkörperte Gedankenäußerung das körperliche Zugänglichmachen verlangt (S. 64). Die moderne technische Entwicklung, insbesondere der Rundfunk habe dem gesprochenen Wort zwar „gleiche, wenn nicht sogar wirksamere Möglichkeiten der Massenbeeinflussung verschafft als das Verbreiten von Druckschriften. Das könnte aber allenfalls den Ge274 Noch heute ist es h. M., daß die telefonische Einlegung des Rechtsmittels nicht möglich ist, gleich ob darüber ein Aktenvermerk gefertigt oder eine Niederschrift erstellt wird, siehe BGHSt 30, 64 (dort S. 70 zur Abgrenzung gegenüber BGHSt 14, 233) und Meyer-Goßner, StPO, Einl., Rn. 140. 275 Zur Frage, ob für die Schriftlichkeit die Unterschrift nötig ist, vgl. oben Fn. 218.

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IV. Entstehungsgeschichte

setzgeber zur Prüfung veranlassen, ob die öffentliche Rede in rechtlicher Hinsicht der Verbreitung von Druckschriften irgendwie gleichgestellt werden kann, wogegen vieles spricht“ (S. 64). Fall 160 (BGHSt 17, 267 – „Kühltechnik“): Gemäß § 2 II HackfleischVO a. F. war der Verkauf von Hackfleisch nur in Schlächtereien und Fleischereibetrieben erlaubt. Der Wille des Gesetzgebers gehe dahin, den Verkauf von Hackfleisch aus hygienischen Gründen nur dort zuzulassen, wo das Frischfleisch handwerksmäßig bearbeitet wird (S. 269). Für Zweigstellen eines Fleischereibetriebs bedeute dies, daß diese selbst die Voraussetzungen eines Fleischereibetriebes erfüllen müßten, mag auch im Einzelfall keine Gefahr begründet sein (S. 272 f.). Inzwischen erzielte Fortschritte in der Kühltechnik könnten daran nichts ändern: „Allerdings muß eine auf Ermittlung des Gegenwartssinnes einer Rechtsnorm gerichtete Auslegung – im Rahmen des rechtlich Zulässigen – auch den seit Erlaß der Norm veränderten tatsächlichen Umständen Rechnung tragen. Dem sind jedoch aus Gründen, die letztlich auf den Grundsatz der Gewaltenteilung zurückzuführen sind, enge Grenzen gesetzt . . .“ (S. 274). Der Gesetzgeber habe gerade, um eine schnelle Anpassung an veränderte Umstände zu ermöglichen, die Kompetenz dem Verordnungsgeber überantwortet. Fall 161 (BGH LRE 1, 325 – „Honigverordnung“): Den Einwand der Revision, die einschlägige Norm der Honigverordnung habe ihre naturwissenschaftliche Grundlage verloren und sei deswegen unwirksam, weist der BGH mit grundsätzlichen Erwägungen zurück: „Es mag zwar Fälle geben, in denen ein Gesetz . . . durch eine Veränderung der für seinen Erlaß maßgeblichen Umstände so betroffen wird, daß es ohne weiteres als nunmehr unwirksam erachtet werden muß . . . Dies kann indessen allenfalls dann gelten, wenn die Veränderungen der Umstände – mag es sich hierbei um allgemeine Anschauungen oder um Anschauungen wissenschaftlicher Art handeln – derartig offenkundig und in das Bewußtsein der Allgemeinheit eingegangen ist, daß die weitere Geltung des Gesetzes von ihr als Unrecht empfunden wird“ (S. 327). So liege es hier jedoch nicht. Zudem sei bei naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen unklar, wann sie als endgültig betrachtet werden können (S. 328). Bei einer voreiligen Annahme müßte der Richter womöglich einer für unanwendbar erklärten Vorschrift später wieder Geltung verschaffen. Aus Gründen der Rechtssicherheit müsse die Frage, ob eine Norm noch mit neuen Forschungen vereinbar ist, „grundsätzlich dem Gesetzgeber überlassen bleiben“ (S. 328).

In allen Fällen macht der BGH klar, daß wegen eines Wandels der Verhältnisse womöglich Anlaß besteht, die Lage neu zu beurteilen; doch sei dies im Zweifel Aufgabe und Recht des Gesetzgebers, nicht der Rechtsprechung.276 Vor allem BGHSt 17, 267 und BGH LRE 1, 325 arbeiten dieses, auf dem Grundsatz 276 Siehe außerdem BGHSt 11, 304 (314) im Hinblick auf den technischen Fortschritt bei der Arzneimittelherstellung: Ob die Verordnung deshalb veraltet oder besserungsbedürftig, könne „bei der Auslegung keine Rolle spielen. Allein dem Gesetzgeber obliegt die Entscheidung darüber, ob diese Bestimmung beizubehalten ist oder nicht“.

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der Gewaltenteilung beruhende Regel-Ausnahme-Verhältnis, das eine Vermutung für die Weitergeltung der gesetzgeberischen Wertung beinhaltet, heraus. Der Fortschritt der Kühltechnik mag die Risiken der Hackfleischverarbeitung verringert haben, doch ob der Normzweck damit obsolet ist, bedarf einer neuen gesetzgeberischen Bewertung.277 Ebenso liegt es in BGH LRE 1, 325, wo der Senat die Interpretation naturwissenschaftlicher Erkenntnisse der zuständigen Instanz überläßt. Noch klarer ist die Situation in BGHSt 18, 63 und BGE 87, IV 115 (oben Fall 154), denn hier wie dort hat der Gesetzgeber die Problematik schon ursprünglich entschieden; die tatsächliche Entwicklung hat lediglich zu einer quantitativen Veränderung geführt, die nicht zur Abweichung vom ursprünglichen Regelungsgehalt berechtigt. Nicht ausgeschlossen ist es allerdings, daß in Extremfällen durch einen Wandel der Verhältnisse der Zweck einer Norm ersatzlos entfällt und eine Bestrafung somit willkürlich wäre. Dann ist eine verfassungskonforme Auslegung vorzunehmen bzw. die Norm dem BVerfG vorzulegen (vgl. z. B. die „HaschischEntscheidung“ des BVerfG278). Hingegen ist es bei nachkonstitutionellem Recht aufgrund des Entscheidungsmonopols des BVerfG (Art. 100 I GG) nicht möglich, unter Berufung auf den Grundsatz „cessante legis ratione cessat lex ipsa“ schlicht von der Anwendung der Norm abzusehen.279 Eine Vorlage ist natürlich dann nicht notwendig, wenn die soziale Erscheinung wegfällt, auf die sich die Norm bezieht. Die Vorschrift bleibt dann bis zu ihrer Streichung „totes Recht“. c) Zwischenbilanz zu a) und b) Nach dem Bisherigen kann folgendes festgehalten werden: Fälle, in denen aufgrund veränderter Umstände ein Wandel der Norminterpretation nötig ist, sind nicht sehr zahlreich. Die Berücksichtigung neuer Verhältnisse wird auch durch eine „gemäßigt“ subjektiv-historische Auslegung nicht ausgeschlossen, denn der Wille des historischen Gesetzgebers selbst strebt nach Dynamisierung, nicht nach Versteinerung. Eine Anpassung der Norminterpretation an veränderte 277 Vgl. auch BVerfGE 65, 1 (55 f.); 88, 203 (309 f.): Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers, wenn das Gesetz wegen gewandelter tatsächlicher Verhältnisse nachträglich verfassungswidrig wird. 278 Das vorlegende LG hatte die Strafbarkeit des Haschisch-Konsums u. a. deshalb als verfassungswidrig bezeichnet, weil die vom Gesetzgeber zugrundegelegten Einschätzungen aufgrund aktueller Erkenntnisse nicht mehr gültig seien; der Gesetzgeber müsse das Gesetz fortlaufend überprüfen und den neuen Erkenntnissen anpassen, BVerfGE 90, 145 (153, 181 f.). 279 Kramer, Methodenlehre, S. 167 f.; a. A. offenbar Bydlinski, Methodenlehre, S. 588: Die Norm sei bei einem Funktionsverlust unanwendbar, auch ohne förmlichen Aufhebungsakt. Siehe auch die positiv-rechtliche Verankerung des „cessante-Grundsatzes“ in § 4 des sächsischen ZGB von 1863: „Sind die Gründe eines Gesetzes weggefallen, so verliert das Gesetz seine Kraft, wenn es ausschließlich auf den weggefallenen Gründen beruhte.“

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IV. Entstehungsgeschichte

Bedingungen ist damit grundsätzlich kein Musterfall einer „objektiv-teleologischen“ Auslegung, auch wenn diese Charakterisierung häufig anzutreffen ist: „Gegen die Einordnung der Vermögensstrafe in den Katalog der Strafen spricht auch nicht eine objektiv-teleologische Auslegung, die auf den aktuellen Sinn und Zweck einer Norm abstellt und es in gewissen Grenzen zulässt, zur Wahrnehmung von Gegenwartsaufgaben des Strafrechts die in historischer Auslegung gefundene Inhaltsbestimmung anzupassen und abzuändern (vgl. für das Strafrecht insoweit BGHSt 10, 157 . . .). Grundlegend veränderte Bedingungen, die eine Modifizierung der historischen Interpretation rechtfertigen könnten, . . .“ [sind hier nicht ersichtlich]. (BVerfGE 105, 135 [158])

Unvereinbar mit einer subjektiven Auslegungsdoktrin ist allein eine Konterkarierung der ursprünglichen Zielvorstellungen, die nicht synonym zu setzen sind mit den konkreten Äußerungen und Definitionen der Gesetzesverfasser. Letztere bedürfen zwar mitunter einer „Abänderung“ oder „Modifizierung“ (vgl. oben BVerfG), aber damit ist der „Wille des Gesetzgebers“ nicht verändert und die bevorzugte Position der Legislative nicht beeinträchtigt. Freilich wird deutlich, daß die historische Auslegung hier ihren empirischen Ausgangspunkt verläßt und mit normativen Zuschreibungen arbeiten muß, die im Einzelfall nicht immer leicht fallen. Insofern sollte eine Vermutung dafür sprechen, bei verbleibenden Zweifeln darüber, welche Entscheidung der Gesetzgeber in Kenntnis der neuen Umstände getroffen hätte, auf eine Abänderung der Norminterpretation und auf eine Erfassung neuer Fallgruppen zu verzichten. Sowohl die Formulierung des BVerfG („in gewissen Grenzen“) als auch die zuletzt besprochenen Fälle des BGH (BGHSt 17, 267; 18, 63) legen eine solche behutsame Vorgehensweise nahe. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ergibt sich aus den dargestellten Beispielen folgendes: (1) Daß der Gesetzgeber bestimmte Sachverhalte nicht bedacht hat oder hat bedenken können, ist per se nicht aussagekräftig (zu oberflächlich deshalb BGHSt 41, 219 – „Magazin“). (2) Unproblematisch sind Fälle der „Porosität“ (RGSt 12, 371 – „Eisenbahn“; BGHSt 46, 266 – „GPS“), wenn nicht der Gesetzgeber selbst durch einen zu engen Wortlaut ein Hindernis bereitet hat (BGHSt 10, 375 – „Forstdiebstahl“). (3) Bei Beispielsfällen, die im Gesetzgebungsverfahren erörtert wurden, ist Vorsicht geboten: Auf sie ist der Anwendungsbereich der Norm regelmäßig nicht beschränkt; jedoch können sich aus ihnen in einer generalisierenden Betrachtung Hinweise auf die gesetzgeberische Zielvorstellung ergeben (vgl. BGHSt 39, 36 – „Geiselnahme“, BGHSt 39, 249 – „Autofalle“). (4) Den Hinweis der Gesetzesverfasser, ein bestimmter Fall sei erfaßt (BGHSt 38, 26 – „Bande“) oder nicht erfaßt (vgl. BGHSt 10, 28 – „Pferdekonfiskation“), wird man dagegen nur übergehen können, wenn diese Vorstellungen irrtumsbefangen sind. (5) Der Anwendungsbereich einer Norm ist nicht auf ihren „Normalfall“ begrenzt; womöglich hat der Gesetzgeber den „Ausnahmefall“ allein mangels Relevanz nicht in den Materialien diskutiert oder übersehen (BGHSt 10, 157 – „Gesundheitszeugnis“). (6) In solchen Fällen

5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation

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kann die Veränderung der Umstände schon darin bestehen, daß der Ausnahmefall in der Realität zur Regel wird. Ist der Ausnahmefall jedoch von vornherein nicht erfaßt, kann allein eine solche graduelle Verschiebung nicht zu einer veränderten Interpretation führen (vgl. BGHSt 18, 63 – „Druckschrift“). (7) Sowohl bei einer quantitativen Verschiebung (zwischen Normal- und Ausnahmefall) als auch einer qualitativen Veränderung kann sich eine in den Gesetzesmaterialien geäußerte Auffassung (Definition) womöglich unbeabsichtigt als zu eng erweisen (Eisenbahn = dampfbetrieben; Waffe = mechanisch wirkend; Ladengeschäft = von Personal geführt); in dieser Situation sollte es Anhaltspunkte dafür geben, daß die gesetzgeberische Vorstellung in der Tat eine Ausschlußwirkung hinsichtlich der neu oder vermehrt auftretenden oder schlicht übersehenen Fallgruppe zeitigt (vgl. BGHSt 22, 235 – „Hauswand“, BGHSt 13, 5 – „Bindemittel“, BGHSt 48, 278 – „Ladengeschäft“ und am schwierigsten BGHSt 1, 1 – „Salzsäure“). (8) Legt der Gesetzgeber den allgemeinen Sprachgebrauch zugrunde, kann eine auf neuen Tatsachen basierende Veränderung des allgemeinen Sprachgebrauchs zu einer Veränderung der Intension führen.280 Die eventuell in den Gesetzesmaterialien enthaltene Definition gibt in dieser Situation lediglich den letzten Stand der Dinge wieder, der einer Aktualisierung zugänglich ist (vgl. näher bei BGHSt 1, 1; 24, 136). (9) Bei Zugrundelegung des juristischen Sprachgebrauchs gilt grundsätzlich nichts anderes; auch hier ist eine „Dynamisierung“ denkbar. Allerdings spricht in diesem Fall die genauere begriffliche Durchdringung dafür, daß die Intension bewußt und in Abgrenzung zu bestimmten Fallgruppen gewählt wurde. Daraus resultiert jedoch keine Regel, wonach bei fachsprachlichen Begriffen stets das historische, bei alltagssprachlichen Ausdrücken stets das aktuelle Verständnis maßgeblich sei. d) Veränderung der rechtlichen Verhältnisse und Anschauungen Neben einem Wandel der tatsächlichen Verhältnisse kommt ferner eine Veränderung der rechtlichen Verhältnisse als Grund für eine veränderte Norminterpretation in Betracht. Allerdings ist die Situation hier schwieriger. Während ein Wandel der tatsächlichen Verhältnisse die Frage aufwirft, wie die neue Situation sich zu den historischen Zielvorstellungen verhält, geht es bei rechtlichen Veränderungen oft darum, widersprüchliche legislative Vorstellungen („Wertungswidersprüche“) aus unterschiedlichen Epochen in Einklang zu bringen. Freilich ist abzuschichten: (1) Zukünftiges Recht weicht vom gegenwärtigen ab. Diese Situation wird unter dem Stichwort „Gesetzesentwürfe“ aufgegriffen (unten IV 6 und 7 d) und ist 280 Gerade beim „Sprachwandel“ kann sich allerdings die Frage stellen, ob dieser auf veränderten Tatsachen oder auf veränderten Wertvorstellungen beruht (vgl. beim Begriff „Gewalt“).

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IV. Entstehungsgeschichte

nicht weiter problematisch: Die lex ferenda kann die Auslegung nur beeinflussen, wenn dies mit dem Willen des historischen Gesetzgebers zu vereinbaren ist. (2) Es treten echte Normenkonflikte auf, in denen Vorschriften verschiedenen Ranges oder aus unterschiedlichen Zeiten für den gleichen Sachverhalt konträre Lösungen vorsehen. Hier greifen die bekannten, in Teilbereichen nicht unstreitigen Derogationsregeln der allgemeinen Rechtslehre (lex posterior, lex specialis etc.), die hier nicht erörtert werden.281 (3) Es findet ein gesellschaftlicher „Wertewandel“ statt, der noch keinen positiven Ausdruck im Rechtssystem gefunden hat, etwa wenn die Gesellschaft homosexuelle Handlungen nicht mehr als strafwürdig empfindet, psychische Angriffe als „Gewalt“ sehen will oder nichteheliche Lebensgemeinschaften in bestimmten Bereichen der Ehe gleichstellen will. In diesem Sinn geänderte Anschauungen sind nur dann zu berücksichtigen, wenn das Gesetz ausdrücklich auf sie verweist, z. B. durch Generalklauseln (§ 242 BGB) oder unbestimmte Rechtsbegriffe („gute Sitten“).282 Allerdings bietet die Rechtsordnung weitere Einbruchstellen, um solche Entwicklungen zu berücksichtigen: So greifen die meisten Straftatbestände erst bei Überschreitung einer Erheblichkeitsschwelle („minima non curat praetor“), deren Maßstab sich einem Wandel gesellschaftlicher Einflüsse nicht wird entziehen können.283 Weitere Einfallstore bieten die Vorschriften der StPO zur Verfahrenseinstellung (§§ 153 ff.) sowie der Bereich der Strafzumessung mit seinen großen Spielräumen. Gerade die Strafbarkeit der homosexuellen Handlungen (§ 175 StGB a. F.) zeigt hier klar: Zwar kann eine veränderte Wertvorstellung keine begrifflichen Folgen für die Auslegung des Tatbestandes besitzen, aber die konkrete Strafe für das gleiche Verhalten wird 1950 erheblich von derjenigen abweichen, die kurz vor Abschaffung des § 175 ausgesprochen wurde. Daß die Norm ihre rechtspolitische Überzeugungskraft verloren hat, wird so auf einem Umweg auch rechtspraktisch umgesetzt.284 Neben diesen Einbruchstellen ist zu berücksichtigen, daß die Abgrenzung zwischen einem Wertewandel und einer Änderung tatsächlicher Verhältnisse oft schwerfällt.285 So kann die soziologische Ausdehnung der nichtehelichen Lebensge-

281

Siehe z. B. Engisch, Einführung, S. 209 ff.; Kramer, Methodenlehre, S. 81 ff. Zur Homosexualität siehe BGHSt 1, 80 (82): Die Entscheidung über die Strafbarkeit kann nur vom Gesetzgeber getroffen werden. Nach Ansicht von BGHSt 23, 40 (43) unterliegt die Beurteilung, was eine „unzüchtige Schrift“ (§ 184 StGB a. F.) ist, einem zeitbedingten Wandel der Anschauungen und Toleranzgrenzen. 283 Eine veränderte Bewertung körperlicher Gewalt ist 1998 auch positiv-rechtlich im 6. StrRG zum Ausdruck gelangt, z. B. durch eine Verdopplung (!) des Strafrahmens bei der gefährlichen Körperverletzung. 284 Siehe Scheuerle, ZZP 1971, 241 (253): Die Norm (§ 175 StGB a. F.) habe bereits vor ihrer Aufhebung ihre „emotionale Evidenz“ verloren. 282

5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation

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meinschaft durchaus zu einer Neudeutung einer Norm oder zur Rechtsfortbildung führen, wenn die ursprüngliche Wertentscheidung des Gesetzgebers dem nicht entgegensteht.286 Nicht aber können sich ändernde Vorstellungen der Gesellschaft über das, was eine Ehe ist oder sein soll, einen Bedeutungswechsel des Ehebegriffs in Art. 6 I GG bewirken.287 Wie schwierig es für die Gerichte ist, neuen Entwicklungen Rechnung zu tragen, haben die nichtehelichen Lebensgemeinschaften hinlänglich gezeigt.288 Klarer liegt es im bereits erwähnten „Haschisch-Fall“ des BVerfG: Neue medizinische Erkenntnisse werfen andere Fragen auf als die sich ändernde gesellschaftliche Bewertung des Konsums leichter Drogen. Daß letzteres keine veränderte Norminterpretation nach sich ziehen kann, dürfte überwiegend anerkannt sein. (4) Gewandelte „Anschauungen“ dürfen auch dann nicht zu einer Abweichung von einer eindeutigen gesetzlichen Anordnung führen, wenn sie sich in juristischen Fachkreisen unzweifelhaft durchgesetzt haben und ein künftiger Gesetzgeber sie mit Sicherheit in geschriebenes Recht umsetzen würde.289 Hat etwa der Gesetzgeber des StGB von 1871 sich dafür entschieden, das fehlende Unrechtsbewußtsein (Verbotsirrtum) nicht zugunsten des Täters zu berücksichtigen, vermag die im Lauf der Zeit gewonnene „bessere“ Einsicht der Strafrechtswissenschaft die gesetzgeberische Entscheidung nicht zu revidieren.290 285 Ebenso Honsell, Historische Argumente, S. 162 f. – Kaum zutreffend ist es, wenn das OLG Hamm (NJW 2003, 3145) bei der Bestimmung des Wertes einer „geringwertigen Sache“ i. S. von § 248a StGB die „geänderten Wertvorstellungen in der Bevölkerung“ berücksichtigen will. Diese veränderten (und irrelevanten) Vorstellungen sind allein Resultat des objektiv steigenden Wohlstandes, also einer tatsächlichen Entwicklung. 286 Siehe z. B. BGHZ 84, 36 (38). 287 Siehe z. B. Zippelius, DÖV 1986, 805 (808); Vogelsang, in: Das Recht der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, S. 72. Für den Begriff der Familie wird das aber schon wieder anders gesehen, vgl. Zippelius, S. 809 und Vogelsang, S. 72 f. BGHZ 84, 36 (38) läßt offen, ob nach allgemeinem Sprachgebrauch eine nichteheliche Lebensgemeinschaft noch als „Familie“ im weitesten Sinn angesehen werden kann. Das AG Frankfurt (MDR 1993, 116) hat die „traditionelle Auslegung“ des Ehebegriffs (Mann & Frau) für unvereinbar mit Art. 2 I, 3 III, 6 I GG befunden. Das ist nicht haltbar, aber auch nicht völlig abwegig, denn die Rechtsordnung hat sich seit Konstitution des Ehebegriffs vielfältig gewandelt (z. B. Abschaffung des § 175 StGB), was „mehr“ als nur ein Wandel des Zeitgeists und für die Auslegung von Art. 2 und 3 GG nicht ohne Relevanz ist. 288 Siehe die Zusammenstellung von Schreiber, Die nichteheliche Lebensgemeinschaft, speziell zum Strafrecht Rn. 16–27, 28–29. 289 Anders G. und R. Reinicke (MDR 1957, 193) für den Ausnahmefall, daß „die neuen Anschauungen ganz allgemein geteilt werden und so grundlegend sind, daß die unveränderte Anwendung des Gesetzes für das Rechtsempfinden schlechthin untragbar wäre“ (S. 194, l. Sp.). 290 Dazu, wie BGHSt GS 2, 194 sich gleichwohl die Legitimation zur Rechtsfortbildung geschaffen hat, siehe erst unten Fall 345.

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(5) Ein echter „Wertungswiderspruch“ kann auftreten, wenn Normen nebeneinander existieren, die Ausdruck unterschiedlicher Rechtsanschauungen sind und eine gleichgelagerte Rechtsfrage in verschiedenen Normen gegenläufig bewerten.291 Dann stellt sich die Frage, ob die neuere gesetzgeberische Bewertung auf die alten Normen durch eine Neuinterpretation oder eine Rechtsfortbildung übertragen werden dürfen, ob also der Interpret „Wertungsharmonie“292 herstellen darf. Im Grundsatz muß hier jedoch gelten, daß der Gesetzgeber selbst Wertungswidersprüche und sonstige Gesetzesmängel zu beseitigen hat, denn es besteht nicht a priori ein Vorrang der jüngeren gegenüber der älteren Bewertung eines Interessenkonflikts.293 In engen Grenzen wird man freilich einen unerträglichen, der Willkür nahekommenden Wertungswiderspruch beseitigen müssen, wenn es der Wortlaut zuläßt.294 Keinesfalls angängig ist hingegen die Korrektur einer nach Wortlaut und Zielsetzung eindeutigen Gesetzesnorm. (6) Etwas weniger problematisch ist die sogenannte Fernwirkung systematischer Auslegung:295 Die Einführung anderer, insbesondere sachverwandter Vorschriften kann unter bestimmten Voraussetzungen auf eine vom Wortlaut her unveränderte Vorschrift „ausstrahlen“ und zu deren Neudeutung führen. Der BGH verfährt mit der Beseitigung von Wertungswidersprüchen auf Grundlage einer allgemeinen Rechtsentwicklung zu Recht restriktiv, ließ sich in vereinzelten Fällen jedoch nicht davon abhalten, einem „großen Rechtsgedanken“ zum Durchbruch zu verhelfen. Es ist nicht zu bestreiten, daß die Strafsenate dabei vernünftige und gerechte Erwägungen angestellt und im Ergebnis eine Perfektionierung der Strafrechtsordnung vorangetrieben haben. Vieles, was durch die Neuinterpretation erreicht wurde, erscheint uns heute selbstverständlich und ist Bestandteil des in den 1960er und 70er Jahren reformierten StGB geworden. Als Stichworte sollen an dieser Stelle genügen: Die Durchsetzung der „limitierten Akzessorietät“ (unten Fall 163), die Stärkung der Position des durch eine Einziehung betroffenen Eigentümers, der an der Tat selbst nicht beteiligt war (unten Fall 164), die Einsicht, daß ohne gegenteilige gesetzliche Anordnungen nur vorsätzliche Taten strafbar sind (heute: § 15 StGB, unten Fall 168), und schließlich die grundlegende Umgestaltung der Irrtumslehre durch 291 Siehe Larenz, Methodenlehre, S. 337; Engisch, Einführung, S. 212. Im Unterschied zur Konstellation des Normenwiderspruchs, liegt hier keine Konkurrenz von gleichermaßen in Betracht kommenden Vorschriften vor. 292 Bydlinski, Methodenlehre, S. 581. 293 Vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 580. 294 Bydlinski (Methodenlehre, S. 580 f.) befürwortet ein „bewegliches System“, im dem klar zutage liegende Wertungswidersprüche um so eher beseitigt werden dürfen, je leichter die neue Auslegung sprachlich möglich und je größer der drohende Widerspruch ist; zudem müßten Verluste an Rechtssicherheit und Gerechtigkeit mit einem Gewinn an „Wertungsharmonie“ kompensiert werden. 295 Siehe Bydlinski, Methodenlehre, S. 581 und unten IV 7 c.

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die Anerkennung des Verbotsirrtums (BGHSt GS 2, 194)296. Aber bei allem Verständnis, zu dem man aufgrund jahrzehntelanger Untätigkeit auf dem Bereich der Strafgesetzgebung bei unbestrittener Reformbedürftigkeit geneigt sein kann, bleiben dennoch grundsätzliche Fragen: Wie teuer ist dieser rechtsevolutionäre Fortschritt in Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltentrennung erkauft? Kann nicht die ausdrückliche Entscheidung der dazu berufenen Gesetzgebungsorgane abgewartet und bis dahin ein womöglich unbefriedigender Rechtszustand hingenommen werden? Bestätigt die (vor-)eilige Schaffung eines neuen Rechtszustands nicht das Bild des Juristen, der es mit Hilfe der willfährigen Auslegungsmethodik versteht, das Unmögliche möglich zu machen? Diese Fragen sollen anhand einschlägiger Urteile aus der amtlichen Sammlung erörtert werden. Bevor jedoch der BGH zu Wort kommt, soll eine nachdenklich stimmende Entscheidung des RG aus dem Jahr 1935 in die Problematik einführen: Fall 162 (RGSt 69, 273): Das RG hat in ständiger Rechtsprechung § 175 StGB i. d. F. bis 1935 („widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern) restriktiv gehandhabt und nur „beischlafähnliche“ Handlungen, nicht aber z. B. die wechselseitige Masturbation darunter gefaßt (z. B. RGR 4, 493; RGSt 6, 211). Um den insoweit gewandelten Anschauungen Rechnung zu tragen, hat der nationalsozialistische Gesetzgeber die Norm 1935 erweitert und allgemein die „Unzucht unter Männern“ unter Strafe gestellt. Das RG mußte in RGSt 69, 273 noch das alte Recht anwenden, ließ aber dennoch die Bestrafung der gegenseitigen Masturbation durch die Vorinstanz unbeanstandet. Die Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung, die nur darin bestehe, daß dem Tatrichter größeres Ermessen bei Beurteilung der Frage eingeräumt wird, ob die Handlung „beischlafähnlich“ ist297, rechtfertigt der Senat damit, daß die bisherige Praxis widersprüchlich gewesen sowie mit Wortlaut und Sinn des Gesetzes nicht zu vereinbaren sei (S. 273). Zudem berechtige der in § 175 i. d. F. ab 1.9.1935 zum Ausdruck kommende „Wandel der Rechtsanschauungen“ den Senat dazu, den Tatrichter von der Bindung an die bisherige Einschränkung des Tatbestandes zu befreien (S. 274 f.)! Eine Vorlage an die übrigen Senate sei wegen einer ebenfalls am 1.9.1935 in Kraft tretenden Änderung des GVG, die das RG von der Bindung an frühere, mit der „Staatserneuerung“ unvereinbare Entscheidungen befreit, nicht erforderlich (S. 275).298 Daß auch diese Regelung erst am 1.9.1935 in Kraft tritt, stehe dem nicht entgegen, da dieses Datum auf rein äußerlichen Gründen beruhe und der Wandel der Lebens- und Rechtsauffassung bereits eingetreten sei (S. 276). „Es ist daher der Gedanke unannehmbar, das RG. solle bis zum 31. August gezwungen sein, bei der Rechtsfindung noch die frühere Lebens- und Rechtsanschauung zu berücksichtigen . . .“ (S. 276).

Der Hinweis des Senats auf die Widersprüchlichkeit der bisherigen Rechtsprechung299 sowie auf Wortlaut und Zweck der Norm kann nicht darüber hin296

Siehe dazu unten Fall 345 sowie G. und D. Reinicke, MDR 1957, 193 (194 f.). Mit dieser seltsamen Argumentation dürfte der Wandel auf begrifflicher Ebene (gegenseitige Masturbation = beischlafähnliche Handlung) nur unzureichend verschleiert sein. 298 Siehe oben bei Fn. 40. 297

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IV. Entstehungsgeschichte

wegtäuschen, daß die neue Linie des RG nicht nur einen Rechtsprechungswandel, sondern auch die Abkehr vom Willen des historischen Gesetzgebers bedeutet. Die Gesetzesverfasser diskutierten in Anbetracht neuerer medizinischer Erkenntnisse die Abschaffung der Norm, hielten es aufgrund von in der Bevölkerung herrschenden Vorstellungen jedoch für nötig, an der bereits im preußischen StGB vorhandenen Strafbestimmung (§ 143) festzuhalten.300 Diese wurde jedoch eindeutig in einem eingeschränkten, die gegenseitige Onanie nicht erfassenden Sinn verstanden.301 Die Abweichung vom überlieferten restriktiven Verständnis problematisiert der Senat jedoch nicht, und noch deutlicher zeigt der Umgang mit der eigentlich bestehenden Vorlagepflicht, wie der Senat unter Rückgriff auf das zukünftige das geltende Recht großzügig beiseite schiebt. Daß er es für „unannehmbar“ erachtet, für einen kurzen Zeitraum noch die früheren Wertvorstellungen anzuwenden, erscheint als erstaunlich „unjuristische“ Sicht, zumal der nationalsozialistische Gesetzgeber selbst die einschlägigen Fristen bestimmte. Jedenfalls hat das RG sich durch vorliegende Entscheidung als Vorreiter der Staatserneuerung gezeigt. RGSt 70, 277 schließt sich zwar der o. g. Entscheidung an, lehnt aber die Ansicht des LG ab, die Einschränkung der Norm auf „beischlafähnliche Handlung“ für die bis 1935 geltende Fassung des § 175 StGB ganz fallen zu lassen. Richtig sei, „daß selbstverständlich jedes ältere Gesetz vom Standpunkte der nationalsozialistischen Weltanschauung aus verstanden werden muß“ (S. 279). Jedoch könne wegen der Gesetzesbindung des Richters nicht unter Strafe gestellt werden, was nach dem Willen des Gesetzgebers nicht strafbar sein sollte (S. 280). Der Gesetzgeber habe die Möglichkeit gehabt, die seit 1853 gültige Auslegung zu korrigieren, und auch bei einer Veränderung der „allgemeinen Volksanschauung“ bedürfe es dazu einer Gesetzesänderung. – Konsequent ist dieser Mittelweg des RG nicht, denn nach bis RGSt 69, 273 ganz herrschender Rechtsprechung (Nachweise oben) entsprach auch die Erfassung der wechselseitigen Onanie nicht dem „Willen des Gesetzgebers“ und dennoch sehen sich beide Entscheidungen aufgrund der neuen Anschauungen für berechtigt, hier eine Anpassung vorzunehmen. Insofern ist es methodologisch nicht begründbar, weshalb die „nationalsozialistische Weltanschauung“ im vorliegenden Fall durch den Willen des historischen Gesetzgebers eine Einschränkung erfahren soll, zumal der Wortlaut Spielraum ließ.

Der BGH hat sich zuerst in BGHSt 1, 47 in den Dienst der allgemeinen Rechtsentwicklung gestellt:

299 Ähnlich hatte BGHSt 1, 145 (oben Fall 65) seine erweiterte Auslegung des Gewaltbegriffs gerechtfertigt. 300 Siehe die in BVerfGE 6, 389 (435) wiedergegebenen Motive und Sontag, unten Fn. 330. 301 Siehe – mit Ausführungen zur Entstehungsgeschichte – RGR 1, 662 (663); 4, 493; Frank, RStGB, § 175, Anm. 2 (folgt aus „der historischen Tradition“); Oppenhoff, Preußisches StGB, § 143, Anm. 1; Olshausen, RStGB, § 175, Anm. 1; BVerfGE 6, 389 (392 f.).

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Fall 163 (BGHSt 1, 47 – „limitierte Akzessorietät“): Die Hehlerei setzte gemäß § 259 StGB a. F. nicht wie heute eine „rechtswidrige Tat“, sondern eine „strafbare Handlung“ voraus. Das führte zu der Konsequenz, daß Schuldausschließungsgründe (Unzurechnungsfähigkeit u. ä.) beim Vortäter auch zugunsten des Hehlers wirkten. Diese als unbefriedigend empfundene „strenge Akzessorietät“ (durchgehende Abhängigkeit von der Vortat) hatte die Rechtsprechung des RG schon teilweise aufgeweicht („limitiert“), indem sie feinsinnig zwischen Schuld- sowie persönlichen Strafausschließungsgründen differenzierte; dadurch kam Hehlerei zumindest bei strafunmündigen Vortätern in Betracht.302 Zur vollständigen Durchsetzung der limitierten Akzessorietät blieb jedoch der Gesetzgeber aufgerufen,303 der dies 1943 tatsächlich verwirklichte, jedoch nur für den Bereich der Teilnahme. § 50 I StGB (ähnlich heute § 29) bestimmte nunmehr, daß bei Beteiligung mehrerer jeder nur nach seiner Schuld zu bestrafen sei, und §§ 48, 49 knüpften bei Anstiftung und Beihilfe an eine „mit Strafe bedrohte Handlung“ (statt: „strafbarer Handlung“) an. Schuldausschließungsgründe (im weiteren Sinn) beim Haupttäter konnten die Strafbarkeit des Anstifters oder Gehilfen nicht mehr beeinflussen. Freilich tat der Gesetzgeber nur halbe Arbeit und unterließ es trotz gleicher Sachlage, bei den teilnahmeähnlichen Tatbeständen der Begünstigung und Hehlerei (§§ 257, 259 a. F.) eine entsprechende Änderung vorzunehmen. Gleichwohl hat der BGH auch dort im Weg der Auslegung die Limitierung durchgesetzt, denn § 50 sei Ausdruck eines „zur Anerkennung gelangten, großen, allgemeinen Rechtsgrundsatzes“ und könne „deshalb auch bei der Auslegung anderer Rechtsvorschriften, insbesondere des § 259 StGB herangezogen werden, sofern seine Anwendung nicht durch den Inhalt und Zweck der Vorschriften ausgeschlossen wird“ (S. 50). Inhalt und Zweck sprächen aber für die Erstreckung der limitierten Akzessorietät auch auf § 259. Eine andere Auslegung sei mit der Gerechtigkeit nicht zu vereinigen und widerspreche auch der Entwicklung des § 259 aus der Teilnahme an einer anderen Straftat zu selbständigen Straftatbeständen (S. 49). „Es muß daher angenommen werden, daß der Gesetzgeber die entsprechende Änderung der §§ 257, 259 StGB wegen der dem Gedanken des Willensstrafrechts angepaßten Neufassung des § 50 Abs. 1 StGB für überflüssig hielt . . . Nur so läßt es sich auch erklären, daß § 4 JGG 1923 in die Fassung des Jugendgerichtsgesetzes vom 6. November 1943 nicht mitübernommen worden ist“ (S. 49 f.). – Die Argumentation des BGH schiebt den unterschiedlichen Wortlaut von § 50 und § 259 a. F. schlichtweg beiseite.304 Daß der Gesetzgeber eine Änderung des § 259 a. F. (bewußt) „für überflüssig hielt“, ist eine sehr gewagte An302 RGSt 6, 336. § 4 JGG 1923 hat dies dann auch gesetzlich bestimmt, jedoch nur bis 1943: „Die Strafbarkeit des Anstifters und Gehilfen, des Begünstigten und Hehlers wird durch die Vorschriften der §§ 2, 3 [kindliche und jugendliche Strafunmündigkeit] nicht berührt.“ Näher und krit. zum Ganzen Hartung, NJW 1949, 324 ff. (insbesondere S. 325, l. Sp.). 303 Es gab allerdings schon zuvor Stimmen in der Literatur, die auf Basis des damaligen Rechts eine Durchsetzung der limitierten Akzessorietät sowohl für die Teilnahmelehre als auch für §§ 257, 259 StGB (a. F.) für möglich hielten und damit den vom RG nur halbherzig eingeschlagenen Weg vollendet hätten; vgl. Hartung, NJW 1949, 324 (326 f.) und Bockelmann, NJW 1950, 850 (851). Noch weitergehend, aber fernab der lex lata der Volksgerichtshof, DR 1942, 721 (Nr. 2), wonach sogar eine nur irrtümlich vorgestellte Haupttat genügen soll: „Der Senat bricht damit bewußt mit der Lehre von der sog. akzessorischen Natur der Beihilfe.“

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nahme, die großes Vertrauen in die Praxis zeigen würde.305 Gerade der Gesetzestext des § 4 JGG 1923 hätte dazu anhalten müssen, nicht nur die Regelungen zur Teilnahme, sondern auch die teilnahmeähnlichen Delikte der §§ 257, 259 a. F. in diesem Sinn zu reformieren.

Der BGH komplettiert zu Unrecht das unvollständige gesetzgeberische Programm. Der Gewinn an „Wertungsharmonie“ kann den Verlust an Rechtssicherheit, der mit der Änderung des Normverständnisses zulasten des Täters bei unverändertem Wortlaut verbunden ist, nicht aufwiegen.306 So stark ist der „große Rechtsgedanke“ nicht, als daß er den unterschiedlich formulierten Normen den gleichen Inhalt verschaffen könnte. Eine weitere bedeutsame Entscheidung aus dem ersten Band der amtlichen Sammlung gibt ebenfalls unter Hinweis auf die Entwicklung des geltenden Rechts die frühere Rechtsprechung auf, sieht in dem Rechtsprechungswandel allerdings keinen Widerspruch zur Entstehungsgeschichte der Norm: Fall 164 (BGHSt 1, 351; DOG NJW 1950, 652 – „Dritteinziehung“): Das Steuerstrafrecht sah gegenüber den Tatbeteiligten die Einziehung von zur Tat genutzten Gegenständen zwingend vor (§ 401 AO a. F.), gegenüber einem nicht an der Tat beteiligten Dritten („Drittbetroffener“) bestimmte § 414 AO a. F.: „Wo die Strafe der Einziehung vorgesehen ist, kann auf Einziehung erkannt werden, gleichviel, wem die Gegenstände gehören . . .“. Trotz des Wortes „kann“ hat das RG in Anlehnung an die Auslegung von Einziehungsvorschriften anderer Gesetze auch die Einziehung beim Dritteigentümer für zwingend erachtet307 und dabei auftretende Härten hingenommen: „Man mag in dieser Regelung eine in ein neuzeitliches Strafrecht nicht mehr hineinpassende Überspannung der Wahrung der Belange des Fiskus gegenüber den Belangen des gutgläubigen Eigentümers und den Bedürfnissen des Verkehrs erblicken;308 der Gesetzgeber glaubte aber hierauf nicht verzichten zu können“ (RGSt 62, 49 [52]). Der BGH wendet sich anläßlich eines Falls, in dem ein gemietetes Auto ohne Wissen des Eigentümers zu einem Zollvergehen benutzt wurde, von dieser Auffassung, für die weder Wortlaut noch Entstehungsgeschichte sprächen (BGH, S. 352 f.), ab und verlangt eine Ermessensentscheidung des Ge304 Schmidhäuser, in: GedS für Martens, S. 235; Jescheck, GA 1954, 322 (325). Eine Wortlautüberschreitung kann man dem BGH allerdings nur vorwerfen, soweit er den Grundsatz der limitierten Akzessorietät vollständig und zulasten des Täters auf § 259 (a. F.) überträgt, während es im konkreten Fall um einen strafunmündigen Vortäter ging, den das RG ja schon früh als von § 259 erfaßt ansah. 305 Siehe aber Rietzsch, DJ 1943, 309 (311, l. Sp.): „Von dieser Änderung ist im Vertrauen darauf abgesehen worden, daß die Praxis – mindestens unter Heranziehung des § 2 StGB [!!] – die richtige Anpassung an § 50 Abs. 1 n. F. finden werde.“ 306 So die von Bydlinski (Methodenlehre, S. 581) vorgeschlagenen Kriterien für den Fall klar zutage liegender Wertungswidersprüche, wozu man die Konstellation von BGHSt 1, 47 durchaus zählen kann. 307 Die Anlehnung an andere Einziehungsvorschriften stand allerdings aufgrund abweichender Gesetzesformulierungen auf schwachen Füßen; vgl. DOG NJW 1950, 652 f. 308 Zum Fortwirken altdeutscher Rechtsvorstellungen im Recht der Einziehung siehe DOG NJW 1950, 652.

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richts. Aus Gründen der Gerechtigkeit und Billigkeit bedürfe die Haftung des unbeteiligten Eigentümers einer besonderen Rechtfertigung, zumindest eines Fahrlässigkeitsvorwurfs (S. 353 f.). Damit werde das Steuerstrafrecht in Einklang mit der Schuldlehre des allgemeinen Strafrechts gebracht (S. 354; ebenso DOG NJW 1950, 652 [653, l. Sp.]: „elementare Forderung neuzeitlichen Rechtsdenkens“). Das Recht der Einziehung habe sich in anderen haupt- und nebenstrafrechtlichen Vorschriften gleichfalls in diese Richtung entwickelt (S. 354 f.). „Hinter dieser sich in der objektiven Rechtsordnung widerspiegelnden Verfeinerung des allgemeinen Rechtsempfindens darf die Auslegung des § 414 RAbgO nicht zurückbleiben“ (DOG, S. 653). Das DOG, dessen Argumentation der BGH weitgehend zugrunde legt, nimmt den Fall zum Anlaß für eine noch weitergehende Verallgemeinerung: „Das einzelne Gesetz kann nicht losgelöst von seiner Umwelt, sondern nur als Teil des gesamten Rechtssystems und der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Ordnung betrachtet werden. Es können deshalb auch ältere Rechtsvorschriften nur in diesem lebendigen Zusammenhang verstanden und ausgelegt werden. Wenn der Gesetzeswortlaut einer solchen der fortschreitenden Rechtsüberzeugung folgenden Auslegung nicht eindeutig entgegensteht, sondern noch Raum für rechtskonstruktive Lösungen [!!] läßt, ist das Festhalten an veralteten, in das neue Recht nicht mehr hineinpassenden Anschauungen (vgl. RGSt 62, 52) [siehe oben] nicht zu rechtfertigen. Andernfalls könnte der Einzelne, der in eine einheitliche rechtliche und kulturelle Ordnung hineingestellt ist, die Rechtsnorm, nach der er sich richten muß, nicht mehr verstehen. Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit wären gefährdet.“ (DOG NJW 1950, 652 [653, l. Sp.])

Die schöne Gerichtssprache kann nicht überdecken, daß der methodische Standpunkt des DOG zu weit geht. Sicher besteht ein Interesse der Rechtsgemeinschaft an einer einheitlichen Lösung gleichliegender Problemstellungen, aber die „fortschreitende Rechtsüberzeugung“ ist ein zu unbestimmtes Kriterium, um gesicherte Norminterpretationen über Bord zu werfen. Der konkrete Fall mag wenig Anlaß zur Kritik bieten, da der Wortlaut sogar eher für die Neudeutung sprach und der historische Wille des Gesetzgebers dem offenbar zumindest nicht entgegenstand.309 Aber angenommen, der historische Gesetzgeber hätte sich gegenteilig geäußert, würden dann die obigen, wenig faßbaren Ausführungen wirklich zu einem Abweichen von diesem Willen berechtigen?310 Oder ist nicht statt dessen der Gesetzgeber selbst aufgerufen, Rechtsgleich- und Rechtssicherheit zu schaffen? Der BGH tat vielleicht gut daran, diese allgemeinen Erwägungen des DOG nicht unreflektiert zu übernehmen. 309 Anders G. und D. Reinicke, MDR 1957, 193 (195), die angesichts gewandelter Anschauungen, die auch in anderen Gesetzen zum Ausdruck gelangt seien, die Normberichtigung gleichwohl für zulässig halten. 310 Da der historische Wille womöglich gegen Verfassungsrecht (Art. 14 GG) verstößt, könnte man freilich eine verfassungskonforme Auslegung erwägen. Auch diese dürfte allerdings nicht einen eindeutigen gesetzgeberischen Willen in sein Gegenteil verkehren (näher unten V 5). Seltsamerweise berufen sich aber weder der BGH noch das DOG auf das GG. Vgl. zum Einfluß von Art. 14 GG auf das Recht der Einziehung z. B. Zeidler, NJW 1954, 1148 f.

310

IV. Entstehungsgeschichte

Die allgemeine Rechtsentwicklung durfte der BGH – auch maßgeblich – berücksichtigen, weil dem außer der Kontinuität der Rechtsprechung nichts entgegenstand, nicht aber, weil er berechtigt wäre, neue Vorstellungen „rechtskonstruktiv“ i. S. einer objektiven Auslegungstheorie durchzusetzen! Eine im Ausgangspunkt parallel liegende Situation zu BGHSt 1, 351 mußte BGHSt 2, 29 (oben Fall 75) entscheiden. Die einschlägige Vorschrift des WiStG (§ 51) ließ die Einziehung von Mehrerlös auch dann zu („kann“ auch angewendet werden), wenn der Täter zwar den äußeren Tatbestand erfüllte, jedoch ein Verschulden nicht nachzuweisen war. Im Unterschied zur Konstellation von BGHSt 1, 351 erkennt der Senat in BGHSt 2, 29 jedoch aus der Entstehungsgeschichte den gesetzgeberischen Willen, die Vorschrift trotz ihres Wortlauts („kann“) als zwingende Norm zu verstehen (S. 31).311 Die Bedenken aus BGHSt 1, 351 hält der Senat in seinem Fall nicht für durchgreifend, da es vorliegend nicht um einen Drittbetroffenen, sondern um einen Tatbeteiligten gehe (S. 33).312 Während in BGHSt 1, 351 Wortlaut und Entstehungsgeschichte einer Anpassung an die allgemeine Rechtsentwicklung nicht entgegenstanden, hat BGHSt 9, 96 auch diese Hürden in „bewundernswerter Kühnheit gesetzesberichtigender Auslegung“313 überwunden. Wieder ging es um das Recht der Einziehung: Fall 165 (BGHSt 9, 96 – „Dritteinziehung II“): Die Täter nutzten zur Tat Diebeswerkzeug, das sie einer unbeteiligten Person gestohlen hatten. § 245a III StGB a. F. sah auch für diesen Fall die zwingende314 und entschädigungslose Einziehung des Tatwerkzeugs vor – ein offensichtlich unbilliges Ergebnis. Dieses allein berechtige noch nicht dazu, die Norm „nicht in vollem Umfang [!] anzuwenden. Es kommt jedoch hinzu, daß sie dem jetzigen Stand der Gesetzgebung nicht mehr voll entspricht“ (S. 98). In anderen Vorschriften, die in solchen Konstellationen entweder eine Entschädigung vorsehen (§§ 86, 98 II a. F.) oder das Absehen von der Einziehung ermöglichen (§ 295 II a. F.), komme zum Ausdruck, daß Eingriffe in das Eigentum Dritter einer Rechtfertigung bedürfen. „Es ist kein Grund [!!] ersichtlich, aus dem diesem Rechtsgedanken nicht auch im Falle des § 245a Abs. 3 StGB Gel-

311 Die historische Auslegung des Senats (a. a. O., S. 31 f.) ist freilich nicht unproblematisch und zeigt, wie der Gesetzgeber unnötig Schwierigkeiten verursacht: Zunächst galt ab 1941 eine „Kannvorschrift“, die allerdings als „Mußvorschrift“ gedeutet wurde; ab 1944 galt dann eine Mußvorschrift, bis der Gesetzgeber 1949 wieder zur „Kann-Fassung“ zurückkehrte, die er in der amtlichen Begründung jedoch wiederum als zwingende Regelung verstand. Wenn das aber doch so klar ist und Normvorläufer existieren, warum „schaffen“ es die Gesetzesverfasser dann nicht, ihren Willen klar zum Ausdruck zu bringen? Zu den Problemen der Wortlautauslegung in BGHSt 2, 29 siehe oben bei Fall 75. 312 Als Ermessensvorschrift wurde § 51 WiStG hingegen vom BayObLG (NJW 1951, 851) gedeutet, ohne daß BGHSt 2, 29 darauf Bezug nähme. 313 Dünnebier, JR 1956, 306. 314 Anders als in BGHSt 1, 351 kam also nur eine Entscheidung gegen den Wortlaut in Betracht.

5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation

311

tung zu verschaffen wäre. Der Senat hält es daher für zulässig und geboten, hier den § 295 Abs. 2 StGB entsprechend anzuwenden“ (S. 98 f.).

Die apodiktische Kürze der Urteilsbegründung steht in merkwürdigem Kontrast zur methodologischen Schwierigkeit des Falls. In BGHSt 1, 351 und DOG NJW 1950, 652 haben die Richter sich in einer ähnlichen, aber angesichts des dort offenen Wortlauts einfacheren Lage deutlich mehr Mühe gegeben. Beide Entscheidungen werden von BGHSt 9, 96 nicht einmal zitiert. Aber nicht nur das Begründungsdefizit fällt auf, sondern auch inhaltliche Ungereimtheiten: Genügt der „Stand der Gesetzgebung“ zur Überwindung einer eindeutigen gesetzlichen Regelung? Ist die Existenz einer Norm nicht Grund genug für ihre Geltung? (Vgl. oben: „kein Grund ersichtlich“!) Kann eine Einziehungsregelung eines anderen Abschnitts (Jagdwilderei) einfach auf den Diebstahl übertragen werden? Wo soll in Anbetracht der klaren Anordnung in § 245 III a. F. eine Regelungslücke als Voraussetzung einer Analogie liegen? Unter dem Aspekt der Gesetzesbindung des Richters (Art. 20 III, 97 I GG) hinterläßt die Entscheidung letztlich deshalb Zweifel, weil die dem „Stand der Gesetzgebung“ entsprechende Regelung des § 295 II a. F. erst zwei Jahre nach Einführung des § 245a III a. F. eingeführt wurde, was der Gesetzgeber ohne weiteres zur Anpassung des § 245a III a. F. zum Anlaß hätte nehmen können.315 Wenn aber der Gesetzgeber seine eigenen Standards trotz bester Gelegenheit nicht selbst durchsetzt, soll dann der Richter dazu berechtigt sein? Dogmatisch wie methodisch zutreffend und einfach wäre folgende Lösung gewesen, die jedoch eine Reaktion des Gesetzgebers erforderlich gemacht hätte: (1) Die zwingende Anordnung der Einziehung ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls verstößt gegen das Schuldprinzip oder Art. 14 GG. (2) Die Norm ist mithin nichtig bzw. teilnichtig, soweit sie den Tatunbeteiligten betrifft.316 (3) Eine verfassungskonforme Auslegung (Reduktion317) kommt nicht in Frage, da sie dem eindeutigen Wortlaut widerspräche (näher unten V 5). (4) Ist die Norm nichtig bzw. teilnichtig, kommt keine „entsprechende“ Heranziehung einer anderen Einziehungsregelung in Betracht (Art. 103 II GG)! – Insgesamt ist die Durchsetzung der neuen Rechtsentwicklung in BGHSt 9, 96 methodologisch nicht haltbar. Gleiches gilt für eine weitere Entscheidung zum Recht der Einziehung: Fall 166 (BGHSt 18, 279 – „Umdeutung im Wege der Auslegung“): § 401 AO i. d. F. von 1939 sah zwingend die Einziehung vor, während die Neufassung (§ 414 AO i. d. F. von 1961) sowie die Einziehungsregelungen des E 1962 Ermessensregelungen vorsahen. Der Senat hält die alte Norm zwar nicht für verfassungswidrig, sieht aber die Möglichkeit, auch § 401 AO a. F. als Ermessensvorschrift zu deuten. 315

Vgl. Dünnebier, JR 1956, 306. BGHSt 16, 282 und 18, 279 haben freilich die Verfassungsmäßigkeit zwingender Einziehungsvorschriften, die den Tatbeteiligten betrafen, bejaht (näher unten Fall 250). 317 Der BGH scheint seine Lösung nur als Reduktion des § 245a III StGB (a. F.) zu verstehen, den er „nicht in vollem Umfang“ anwendet (vgl. oben im Text). 316

312

IV. Entstehungsgeschichte

Nach „jetziger allgemeiner Rechtsüberzeugung“ seien alle Strafbestimmungen „den Forderungen der sachlichen Gerechtigkeit gemäß“ auszulegen; deshalb müsse geprüft werden, ob „die bezeichneten Vorschriften im Wege der Auslegung in Ermessensvorschriften umgedeutet werden können“ (S. 282). Denn: „Das einzelne Gesetz kann nur als Teil des gesamten Rechtssystems in Verbindung mit der geltenden wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Ordnung betrachtet werden. Deshalb können auch ältere Rechtsvorschriften nur in diesem lebendigen Zusammenhang verstanden und ausgelegt werden. Das legt den Gedanken nahe, die aus den neueren Gesetzen erkennbaren, geläuterten Rechtsanschauungen des Gesetzgebers bei der Auslegung veralteter Bestimmungen, die gleichartige staatliche Interessen regeln, mit heranzuziehen. . . . Für den Rechtsunterworfenen wäre es unverständlich, wenn angesichts dieser allgemeinen, unaufhaltsamen Fortentwicklung des Rechts318 in einem eng begrenzten – steuerrechtlichen – Bereich an einer einzelnen überalterten Regelung um ihres äußeren Wortlauts willen [!] unbekümmert [!!] um die jetzt gemilderten Anforderungen des Gesetzgebers an die Mittel zur Durchsetzung der Steuerhoheit – selbst nur noch für eine kurze Übergangszeit – festgehalten würde und kein Weg gefunden werden könnte, sie im Wege der Auslegung an die allgemeinen neuzeitlichen Rechtsanschauungen anzupassen“ (S. 282 f.).

Obwohl der Senat teilweise Passagen aus DOG NJW 1950, 652 wörtlich übernimmt, zitiert er weder diese Entscheidung noch BGHSt 1, 351. Bei einem Vergleich wird auch deutlich, weshalb: In BGHSt 18, 279 fehlt es an den Voraussetzungen, die das DOG und BGHSt 1, 351 für eine Normanpassung verlangten! Denn dort ließen Wortlaut und Entstehungsgeschichte Raum für eine „rechtskonstruktive Lösung“, während hier der unmißverständlich zum Ausdruck gekommene Wille des Gesetzgebers einem solchen Vorgehen entgegensteht.319 Damit werden methodische Grundsätze auf Situationen übertragen, für die sie offensichtlich nicht vorgesehen waren. Immerhin macht der Senat deutlich, daß er die Norm „umdeutet“, aber wenn er meint, dies geschehe „im Wege der Auslegung“, dann werden Grundlagen der Methodik auf den Kopf gestellt. Eine Umdeutung ist eine Gesetzeskorrektur, mag der Wortlaut auch nur ein „äußeres“ Kriterium und der Wille des ursprünglichen Gesetzgebers veraltet sein. Die Eindeutigkeit der Anordnung steht einer „Auslegung“ i. S. des Senats entgegen. Gerade die Gesetzesänderung zeigt, wer für die Veränderung des status quo zuständig ist und verantwortlich zeichnet. Da § 401 AO a. F. zudem nach Ansicht des Senats nicht verfassungswidrig ist, muß bezweifelt werden, daß die Norm mit „neuzeitlichen Rechtsanschauungen“ nicht zu vereinbaren ist. Die Entscheidung entspricht der Vernunft und Billigkeit, nicht aber dem damals geltenden Recht.

318 Gemeint sind u. a. die Neuregelung der AO, weitere nebenstrafrechtliche Bestimmungen und der E 1962. 319 In BGHSt GS 2, 194 nutzt der Große Senat die Andeutungstheorie, um den (überholten) Willen des Gesetzgebers zu überwinden; siehe unten Fall 345.

5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation

313

Eine Normanpassung im Rahmen einer allgemeinen Rechtsentwicklung mußte der Große Senat (BGHSt 19, 7) in einer weiteren Problematik zum Einziehungsrecht in Betracht ziehen. Freilich bot der Stand der Gesetzgebung hier ein eher inhomogenes Bild, so daß die Durchsetzung eines „großen, allgemeinen Rechtsgrundsatzes“ schwerer fiel: Fall 167 (BGHSt GS 19, 7 – Rechtsmittelbefugnis des „Einziehungsinteressenten“): In der StPO a. F. waren die Rechte des tatunbeteiligten „Einziehungsinteressenten“ nur im sogenannten objektiven („selbständigen“) Einziehungsverfahren (§§ 430–432 StPO a. F.) berücksichtigt, nicht aber im „subjektiven“ Verfahren gegen den Angeklagten. Fraglich war insbesondere die Rechtsmittelbefugnis des Einziehungsbeteiligten (heute § 437 StPO). Das RG hatte anfangs eine Analogie zu den Vorschriften des selbständigen „objektiven“ Einziehungsverfahrens bejaht, später aber davon Abstand genommen, da es sich dabei um Sondergesetze handele.320 Der Einziehungsinteressent war somit auf den umständlichen Weg eines nachträglichen Entschädigungsprozesses angewiesen. Der Gesetzgeber hat das als unbefriedigend empfunden und dies in mehreren nebenstrafrechtlichen Regelungen sowie in Entwürfen zur StPO-Reform zum Ausdruck gebracht (S. 11 ff.);321 zu einer umfassenden Umsetzung dieser Vorstellungen konnte der Gesetzgeber sich jedoch u. a. aufgrund der anstehenden Reformen zum materiellen Einziehungsrecht nicht entschließen (S. 14). Der Große Senat hält es jedoch in Hinblick auf die Entwicklung des Verfassungsrechts (Art. 103 I GG: Anspruch auf rechtliches Gehör) nicht für tragfähig, länger auf eine Regelung des Gesetzgebers zu warten (S. 14), sondern bejaht für seinen, auf dem Gebiet des Weinrechts spielenden Fall eine Analogie zu den relevanten Bestimmungen des OWiG, deren Heranziehung hier am nächsten liege (S. 18). Hingegen lehnt es der Große Senat ab, auf die einheitlichen Regelungen der StPO-Entwürfe zurückzugreifen, da diese zu pauschal seien und den möglichen Interessen nicht voll gerecht würden (S. 16 f.).

Dem BGH ist zuzustimmen, soweit er aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) auf die Lückenhaftigkeit des Weinrechts oder der StPO schließt. Das höherrangige Recht hat insoweit eine Lücke aufgetan, die mit der entsprechenden Anwendung der sachnächsten Bestimmungen geschlossen werden kann.322 Daß allerdings der Gesetzgeber in den Entwürfen die von ihm zu verantwortende Situation für „unbefriedigend“ erachtet, hätte allein zur Feststellung einer Regelungslücke und zu einer Rechtsfortbildung nicht berechtigt.323 Der Große Senat zeigt sich zwar nicht abgeneigt, einer allgemeinen Rechtsentwicklung zum Durchbruch zu verhelfen, jedoch mangelte es offenbar an einer unumstrittenen, analogiefähigen Musterregelung. 320 Nachweise beim Großen Senat, S. 10 und bei K. Schäfer, in: LR-StPO21, vor § 430, Anm. 7 A b. 321 K. Schäfer (wie Fn. 320) folgert aus den Entwürfen, daß der Ausschluß des Einziehungsinteressenten „jedenfalls nicht der Absicht ,des Gesetzgebers‘ entspricht“. 322 Unproblematisch ist das freilich nicht, denn es kamen alternative Lösungen dieses Normenkonflikts in Betracht, vgl. Tiedemann, NJW 1964, 364 (365). 323 Näher Tiedemann, NJW 1964, 364.

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IV. Entstehungsgeschichte

Zurückhaltend gegenüber einer neueren Rechtsentwicklung gibt sich BGHSt 6, 131 (oben Fall 100) hinsichtlich der Frage, ob Straftatbestände (hier: § 330c StGB a. F.) ohne Angabe der Schuldform auch fahrlässig begehbar sind. Heute setzt § 15 StGB dafür eine ausdrückliche Anordnung voraus und zum Zeitpunkt, als BGHSt 6, 131 erging, sahen bereits einige Entwürfe Nämliches vor. Zudem unterschieden die meisten anderen Normen dieses Gesetzesabschnitts zwischen beiden Schuldformen. Ungeachtet dessen und trotz vorgetragener Bedenken aus dem Gesetzlichkeitsprinzip beläßt es der BGH bei der alten, dem Willen des Gesetzgebers entsprechenden Auslegung: „Die Teilung der Schuld in die verschiedenen Schuldarten ist auch erst das Ergebnis einer langen Rechtsentwicklung, auf die der Gesetzgeber in der früheren Zeit nicht so Bedacht genommen hat wie heute“ (S. 133). BGHSt 11, 228 tut sich mit der Durchsetzung dieser rechtsstaatlichen Forderung sogar noch schwer, als der Gesetzgeber im OWiG eine derartige Norm einführte (siehe ebenfalls oben Fall 100). Erst BGHSt 23, 167 trägt der Entwicklung endgültig Rechnung: Fall 168 (BGHSt 23, 167 – „Gewerbsunzucht“): Der 1960 neugefaßte § 361 Nr. 6c StGB (a. F.) enthielt wiederum keine Angabe der Schuldform. Anders als BGHSt 6, 131 meint der Senat jedoch, daß dies wegen des Gesetzlichkeitsprinzips „grundsätzlich“ notwendig sei (S. 171). Unter der „Herrschaft des Grundgesetzes“ sei insofern eine wesentliche Wandlung eingetreten, wie das kommende Recht (§ 15 StGB i. d. F. ab 1973) und § 5 OWiG zeigten (S. 171). Die „Entwicklung der letzten Jahrzehnte“ gehe dahin, Verwaltungsunrecht nur bei vorsätzlichem Handeln zu bestrafen (S. 172). Das künftige Recht bedrohe die „Gewerbsunzucht“ nur noch bei erschwerenden Umständen und auch dann nur bei vorsätzlichem Handeln. Die „Zusammenhänge des geltenden Rechts mit der Rechtsentwicklung und dem künftigen Recht“, im übrigen auch die Tatbestandsfassung selbst rechtfertigten die einschränkende Auslegung (S. 173). Ferner spreche „die grundsätzliche Haltung der gegenwärtigen Rechtsordnung zur Gewerbsunzucht“, welche die weibliche Prostitution nur ausnahmsweise (an bestimmten Orten) unter Strafe stelle, für das Vorsatzerfordernis (S. 175).324

Der Senat müht sich ab, um das erwünschte Ergebnis zu erreichen. Der Wille des historischen Gesetzgebers zur vorliegenden Frage wird nicht ermittelt, dürfte aber, da die Gesetzesänderung von 1960 in diesem Punkt nichts Neues brachte, für die Beibehaltung der bisherigen Rechtslage sprechen, die eben keinen Vorsatz verlangte.325 Deshalb mischt der BGH aus verschiedenen Gesichtspunkten ein Amalgam, das ihm im Ergebnis zur Durchsetzung der neuen Rechtsentwicklung genügt. Überzeugen kann davon nur die verfassungsrechtliche Überlegung, die freilich schon BGHSt 6, 131 zu einem Umdenken hätte veranlassen können: Wenn das Gesetzlichkeitsprinzip die Angabe der Schuldform verlangt bzw. die Strafbarkeit fahrlässiger Tatbegehung von ihrer aus324 Allein mit diesem Argument hat das OLG Frankfurt (NJW 1966, 1527) das gleiche Ergebnis wie der BGH erreicht, ohne die neue Rechtsentwicklung zu erörtern. 325 Werner, in: LK-StGB8, § 361, Anm. VI 8; OLG Dresden JW 1934, 501 f.

5. Wandel der Verhältnisse/Wandel der Normsituation

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drücklichen Erwähnung abhängig macht, dann schlägt das unmittelbar auf die – dann: verfassungskonforme – Auslegung des § 361 Nr. 6c StGB (a. F.) durch. Dagegen ist das künftige Recht ein schwaches Argument, denn eine dort enthaltene Abweichung spricht eher für einen Umkehrschluß bezüglich der Reichweite des geltenden Rechts. Zirkulär ist die Folgerung des BGH aus der gegenwärtigen „Haltung“ der Rechtsordnung zur Prostitution:326 Die nur ausnahmsweise Verfolgung kommt bereits im objektiven Tatbestand zum Ausdruck; aus dieser Einschränkung kann nicht auf eine zusätzliche im Bereich der Schuld geschlossen werden. In einer weiteren Entscheidung zieht der BGH die „neuere Rechtsentwicklung“ unterstützend heran, um eine als unbefriedigend empfundene Rechtsprechung des Reichsgerichts zu korrigieren: Fall 169 (BGHSt 11, 324 – Rücktritt vom untauglichen Versuch): Der Versuch blieb gemäß § 46 Nr. 2 StGB a. F. straflos, „wenn der Täter . . . den Eintritt des zur Vollendung des Verbrechens . . . gehörigen Erfolges durch eigene Tätigkeit abgewendet hat“. Konnte auch der Täter eines untauglichen Versuchs – z. B. Totschlagsversuch mit unzureichender Giftmenge – von dieser Vorschrift profitieren? Das RG hat dies verneint: Der Wortlaut verlange eine Erfolgsabwendung durch den Täter selbst, und das sei beim von vornherein unzulänglichen Versuch nicht möglich; die daraus folgenden Härten könne nur der Gesetzgeber beseitigen (RGSt 68, 306 [309]). Nach Auffassung des BGH muß dieses ungerechte, den ungefährlicheren Täter schlechterstellende Ergebnis nur hingenommen werden, wenn es dem „ausdrücklich ausgesprochenen Willen des Gesetzes entspräche“ (S. 326). Das sei aber nicht der Fall, denn der Gesetzgeber habe nicht einmal ausdrücklich entschieden und entscheiden wollen, ob der untaugliche Versuch überhaupt strafbar ist.327 Dann könne aber der Wortlaut des § 46 Nr. 2 nichts zur (Folge-)Frage des Rücktritts vom untauglichen Versuch besagen (S. 327). Deshalb müsse der Erfolgsbegriff in § 46 Nr. 2 „ergänzend“ ausgelegt328 werden, wie es auch der „neueren Rechtsentwicklung“ (§ 49a StGB damaliger Fassung) und dem E 1958 entspreche (S. 328).

Ein Hinweis auf die neue Rechtsentwicklung sowie die Entwürfe zum künftigen Recht ist sicherlich nicht zu beanstanden und rundet die Argumentation ab. Aber tragen würde die neue Entwicklung das Ergebnis bei einem entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers nicht.329 Daß der BGH sich nicht berechtigt 326 Erstaunlicherweise ist auch BGHSt 6, 131 (oben Fall 100) in diesem Bereich einem Zirkelschluß erlegen, vgl. Kap. III, Fn. 531. 327 Der BGH verweist auf RGSt 1, 349, und auch der Wortlaut des § 43 StGB a. F. spricht für diese Ansicht. Siehe außerdem Rubo, RStGB, § 43, Anm. 17: „Die Streitfrage, ob und inwieweit der Versuch mit untauglichen Mitteln . . . strafbar sei, ist im Deutschen Strafgesetzbuche nicht geregelt worden.“ 328 Näher lag in Anbetracht des Wortlauts von § 46 Nr. 2 StGB a. F. die Bildung einer Analogie, zumal die Regelungslücke offensichtlich ist: Wenn der Gesetzgeber nicht über die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs entscheiden wollte, tat er dies erst recht nicht hinsichtlich der Folgefragen! 329 Lange (JZ 1958, 671) meint hingegen, die neuere Rechtsentwicklung hätte als „Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens“ stärker betont werden müssen und die

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IV. Entstehungsgeschichte

sieht, eine klare Regelung an das zukünftige Recht anzupassen, zeigt folgende Formulierung: „Es geht nicht an, die offenbar dieser Novelle entnommenen Rechtsgedanken, so wie der Nebenkläger meint, als ,vernunftgemäßen Willen des Gesetzgebers‘ vom 20. April 1949 in die bis zum 1. Januar 1952 geltende Fassung des § 410 hineinzulegen, dies um so weniger, als der Wortlaut und der Zweck des § 410 in seiner bisherigen Fassung klar ist“ (BGHSt 3, 373 [374]).

Abschließend ist festzuhalten: Gegenüber einer Anpassung einer Norminterpretation aufgrund veränderter Rechtsanschauungen bestehen größere Bedenken als gegenüber Veränderungen in tatsächlicher Hinsicht. Irrelevant sind zunächst bloße Veränderung allgemeiner Rechtsanschauungen („Haschisch“, „Homosexualität“), denn ob daraus Recht entsteht oder ob es sich dabei nur um eine Erscheinung des Chamäleons „Zeitgeist“ handelt330, entscheidet die Legislative in einem dafür vorgesehenen Verfahren.331 Anderes mag gelten, wenn das Gesetz selbst auf die jeweils geltenden Wertanschauungen der Gesellschaft verweist („Treu und Glauben“, „gute Sitten“ etc.), was allerdings im Strafrecht seltener der Fall sein wird als in anderen Rechtsgebieten.332 Schwieriger liegt es in den Fällen des „Wertungswiderspruchs“, wenn also die neue Rechtsentwicklung bereits objektiv in Erscheinung getreten ist und einer älteren Gesetzesschicht widerspricht. Keine Einwände bestehen gegen eine Neuinterpretation des älteren Rechts im Sinn der neuen Entwicklung, wenn dadurch der Wille des historischen Gesetzgebers nicht konterkariert wird (BGHSt 1, 351 = Fall 164). Begründung bereits getragen; die neue Entwicklung hätte der BGH mit weiteren Vorschriften (außer § 49a StGB) belegen können. 330 Noch sehr lesenswert die Bemerkungen von Sontag (GA 1870, 15 [23 f.]) zur Aufrechterhaltung der Strafbarkeit der Homosexualität (damals „Sodomie“) durch den Gesetzgeber des RStGB, der ausdrücklich der Volksmeinung gegenüber medizinischen Erkenntnissen den Vorzug gab: „Wollte man doch endlich erkennen, wie wenig dieses Chamäleon ,Volksbewußtsein‘ auf juristischem Gebiet zu bedeuten hat; wollte man bedenken, daß der Gesetzgeber nicht immer zu dem Volke hinabsteigen, sondern es in einzelnen Fällen auch zu sich emporziehen soll . . .“. 331 Zippelius (Methodenlehre, S. 25) hält einen Bedeutungswandel des Gesetzes aufgrund gewandelter sozialethischer Vorstellungen für zulässig, weil die Legitimationsgrundlage des anzuwendenden Rechts in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit liege; die heutige Rechtsgemeinschaft könne jederzeit über das geltende Recht verfügen, so daß deren Vorstellungen in einer gegenwartsbezogenen Auslegung zu berücksichtigen seien. – Das überzeugt aber kaum. Denn die Option zur Änderung des Rechts bestätigt, falls davon kein Gebrauch gemacht wird, doch gerade den bisherigen Rechtszustand. Bezeichnenderweise nennt Zippelius (abgesehen von der „Familie“) mit den Begriffen „Sittenwidrigkeit“ sowie „Treu und Glauben“ gerade Beispiele, in denen ein möglicher Normwandel schon im Gesetz selbst angelegt ist. Im übrigen erscheinen auch die von Zippelius (S. 25–27) genannten Kriterien für die Zulässigkeit eines Bedeutungswandels jedenfalls für das Strafrecht als viel zu vage. 332 Die Feststellung Honsells, Historische Argumente, S. 168, daß gewandelte Verhältnisse in der neueren Rechtsprechung des BGH in Zivilsachen eine beachtliche Rolle spielten, kann für die Strafsenate so nicht bestätigt werden.

6. Entwürfe, Änderungen im Gesetzgebungsverfahren

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Andernfalls streiten historische gegen systematische Argumente, und nur in Extremfällen sollte der Richter sich zur Anpassung der älteren Norm entschließen (näher unten IV 7 c). Der BGH verfährt hier zu Recht zurückhaltend, überschreitet im Einzelfall jedoch den Rahmen des Zulässigen (BGHSt 1, 47 = Fall 163; BGHSt 9, 96 = Fall 165 und BGHSt 18, 279 = Fall 166) oder begründet seine Ansicht mit zweifelhaften Argumenten (BGHSt 23, 167 = Fall 168). Auch wenn die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung und die Lebendigkeit einer alternden Kodifikation durch eine großzügige Rechtsprechung, die es „gut meint“, gefördert wird, ist die damit verbundene Überschreitung von Verantwortungsbereichen nicht zu rechtfertigen. Mit der Modernisierung des StGB durch die große Strafrechtsreform sind die „Versuchungen“ für die Rechtsprechung freilich erheblich geringer geworden.

6. Entwürfe, Änderungen im Gesetzgebungsverfahren a) Einführung Gesetzesentwürfe werden als Hilfsmittel historischer Auslegung in der amtlichen Sammlung häufig und in unterschiedlichen Variationen herangezogen. Als Werkzeug einer subjektiv-historischen (genetischen) Interpretation dienen die in den amtlichen Begründungen niedergelegten Motive des Entwurfs, vor allem wenn der Entwurf tatsächlich unverändert zum Gesetz wird. Unter den Voraussetzungen der „Paktentheorie“ sind diese Quellen erstes Hilfsmittel zur Ermittlung des historischen Willens, sozusagen der Normalfall subjektiver Gesetzesauslegung. Eher objektiv-historisch (historisch-systematisch) verfährt die Rechtsanwendung, wenn sie aus divergierenden Textfassungen Honig saugt, indem sie daraus Schlußfolgerungen (Gegenschlüsse) zieht. Beide Formen historischer Auslegung – genetische und evolutionäre – können bei Nutzung von Gesetzesentwürfen auch vereint auftreten, indem etwa anhand der Materialien geprüft wird, ob der Gesetzgeber mit unterschiedlichen Formulierungen wirklich Zweierlei meint. Während die genannten Argumentationsformen üblich und im Grundsatz eher unproblematisch sind, begegnet es erheblichen Bedenken, maßgeblich auf Entwürfe abzustellen, die noch kein Gesetz geworden sind oder von denen sogar feststeht, daß sie nicht mehr zur lex lata werden können333. Dabei handelt es sich entweder um zukünftiges Recht oder um Stellungnahmen von am Gesetzgebungsverfahren in irgendeiner Weise beteiligten Organen, wie sie die Problematik gegenwärtig regeln würden. Ob daraus aber tatsächlich je geltendes Recht wird, ist völlig ungewiß334, so daß es bei der ursprünglichen Wertentscheidung 333 Relativ häufig von der früheren Rechtsprechung des BGH herangezogen: die großen Entwürfe aus der Weimarer Zeit (E 1925, 1927, 1930).

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IV. Entstehungsgeschichte

des Gesetzgebers bleiben muß. Für die Auslegung der lex lata spielen diese Äußerungen somit keine Rolle, allenfalls im Sinn einer „Rechtsvergleichung“, die zum besseren Verstehen einer strittigen Frage beitragen kann. Anders liegt es wieder, wenn der Gesetzgeber selbst auf frühere Entwürfe Bezug nimmt, sie etwa als Vorbild heranzieht.335 Dann können diese Entwürfe und unter Umständen auch deren Materialien zur Sinnermittlung herangezogen werden. Man muß sich jedoch klarmachen, daß die Auslegung sich in diesen Fällen immer weiter vom originären „Willen des Gesetzgebers“ entfernt und der zuschreibende Charakter des Vorgehens immer stärker hervortritt. Das spricht nicht dafür, auf diese Hilfsmittel zu verzichten, sondern lediglich dafür, sie mit größerer Vorsicht zu verwenden. Die Nutzung von Entwürfen durch die Rechtsprechung und die dabei auftretenden Probleme werden im folgenden in verschiedenen Fallgruppen dargestellt. Als Beispiel für die Variationsbreite geschichtlicher Auslegung und für die dabei zurückzulegenden Umwege sei vorweg auf die in BGHSt 31, 309 enthaltene Argumentation hingewiesen: Die einschlägige Norm des OWiG von 1974 entspreche im wesentlichen der von 1968, die ihrerseits auf einen Regierungsentwurf von 1967 zurückgehe, der lediglich redaktionell verändert worden sei (S. 312 f.). Die Begründung zu diesem Entwurf sei davon ausgegangen, daß . . . Dies decke sich mit der Auffassung der Rechtsprechung und mit den Vorstellungen des E 1962 (S. 313). b) Informative Heranziehung zulässig Die Einsicht, daß ein Gesetzesentwurf kein geltendes Recht ist und deshalb allein informativ herangezogen werden darf, teilt der BGH überwiegend: In BGHSt 3, 373 (374) lehnt es der Senat ab, das zukünftige Recht als „vernunftgemäßen Willen des Gesetzgebers“ in die noch gültige und klare Regelung hineinzuinterpretieren. — Apodiktisch ablehnend zeigt sich BGHSt 12, 28 (30): „Die Ausführungen des Urteils zur Strafrechtsreform bedürfen keiner Stellungnahme, weil der Richter das geltende Recht anzuwenden hat.“336 — BGHSt 15, 322 (324) weist bei Beantwortung der Frage, ob ein „Autostraßenraub“ (§ 316a StGB a. F.) auch durch einen Angriff des Fahrers auf einen Mitfahrer erfolgen kann, darauf hin, daß die ungenaue Überschrift des E 1960 („räuberischer Angriff auf Kraftfahrer“) irrelevant sei. — In BGHSt GS 19, 7 (oben Fall 167) sieht der BGH sich aus verfassungsrechtlichen Gründen zur Rechtsfortbildung berechtigt. Daß der Gesetzgeber mit der 334

Darauf verweist völlig zu Recht BGHSt 44, 13 (18), siehe unten Fall 181. Am wichtigsten im Strafrecht natürlich der E 1962, welcher der großen Strafrechtsreform zugrunde lag. Zu den stellenweise mißlungenen Rückgriffen des jüngeren Gesetzgebers auf den E 1962 siehe Kosloh, Das sechste Strafrechtsreformgesetz, 2000. 336 Tröndle (GA 1962, 225 [227]) bemerkt dazu süffisant, der Revisionsführer müsse sich auf einen solchen Hinweis gefaßt machen, wenn der Inhalt des Entwurfs nicht in die Rechtsprechung des BGH paßt. 335

6. Entwürfe, Änderungen im Gesetzgebungsverfahren

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geltenden Regelung unzufrieden ist und dies in vielen Entwürfen zum Ausdruck gebracht hat, hätte zur Korrektur der unbefriedigenden Rechtslage hingegen nicht ausgereicht. — BGH NJW 2002, 3559 f. (siehe oben III 7 g bb, Nr. 15) hält die Regelung zur Sicherungsverwahrung für „bedenklich“, soweit eine „zeitige“, nicht aber eine lebenslange Freiheitsstrafe die Voraussetzungen des § 66 StGB erfüllt. Es gebe zwar bereits eine Gesetzesinitiative der Bundesregierung zur Beseitigung dieses Mißstandes: „Dies ist aber noch nicht Gesetz geworden. Nach dem derzeitig geltenden Gesetz . . .“.

Schwieriger zu beurteilen ist der Standpunkt des BGH in folgenden Fällen: Fall 170 (BGHSt GS 1, 158 = oben Fall 155): Der Große Senat mußte entscheiden, ob ein „umschlossener Raum“ beim schweren Diebstahl (§ 243 I Nr. 2 StGB a. F.) nur solche Räume meint, die unmittelbar ein Stück Erdoberfläche umgrenzen, oder ob auch ein Wohnwagen oder ein Teil eines Gebäudes (abgeschlossene Wohnung) darunter fällt. Der Große Senat befürwortet letzteres, u. a. unter Hinweis auf den Zweck der Norm, besonders gesicherte Gewahrsamsbereiche zu schützen, die vom Dieb nur unter größerer verbrecherischer Energie überwunden werden können und somit einem erhöhten Rechtsfrieden genießen (S. 164 ff.). Dieser Gedanke klinge schon in der Carolina an und „wenn es dafür noch eines weiteren Beweises [!] bedürfe, so würde ihn der Gang der Vorarbeiten zu einem neuen Strafgesetzbuch geliefert haben“ (S. 165). Die Entwürfe 1925, 1927 und 1930 hätten die „Wohnung“ ausdrücklich erwähnt und in den Motiven ausgeführt, daß die neue Fassung den Grundgedanken des geltenden Rechts reiner zum Ausdruck bringe (S. 166). – Es spricht nichts dagegen, darauf hinzuweisen, daß auch die Entwürfe 1925 usf. am Grundgedanken des geltenden Rechts anknüpfen. Aber die Motive zu diesen nicht verwirklichten Gesetzesvorhaben besitzen keinen höheren Erkenntniswert als jede andere literarische Stellungnahme über die Reichweite der lex lata; für eine bestimmte Position „Beweis“ erbringen können sie nicht. Fall 171 (BGHSt 13, 207): Zumindest fragwürdig argumentiert auch BGHSt 13, 207. Danach kann das Herauslassen von Luft aus Autoreifen Sachbeschädigung sein, weil es die Gebrauchsfähigkeit der Sache zu ihrem bestimmungsgemäßen Zweck mindert. Auf diesen Umstand habe das RG im Laufe der Zeit rekurriert, und auch „die gesetzgeberischen Vorarbeiten zur Reform des Strafrechts“ seien dem gefolgt, indem in den einschlägigen Entwürfen das Unbrauchbarmachen ausdrücklich als Fall der Sachbeschädigung auftauche; diese Rechtsauffassung mache der Senat sich „schon für das geltende Recht zu eigen“ (S. 208). – Der BGH hat insoweit recht, als daß der Fassungsunterschied zwischen lex lata und Entwurf nicht zu einem Gegenschluß nötigt, wonach das Unbrauchbarmachen erst in Zukunft strafbar sein soll. Bereits das RG hatte § 303 StGB ja durchaus in einem weiten Sinn verstanden. Nicht zulässig ist es aber, den Inhalt des zukünftigen Gesetzes als Auslegungskriterium zu berücksichtigen und zu dessen Durchsetzung das geltende Recht über Gebühr zu strapazieren. Gut illustriert werden kann das mit den Gesetzesinitiativen, die zur Bekämpfung des „Graffiti-Unwesens“ den Tatbestand der Sachbeschädigung um die Alternative des „Verunstaltens“ erweitern wollen.337 Das berechtigt jedoch nicht, sich diese Auffassung schon für das derzeit gültige Recht „zu eigen zu machen“. Auf der anderen Seite legitimiert die schwebende Gesetzesänderung aller337

Siehe bereits oben Kap. III, Fn. 125.

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IV. Entstehungsgeschichte

dings auch keinen Umkehrschluß, wonach Farbsprühaktionen nicht schon vom geltenden Recht erfaßt werden können – wenn sie dem Begriff des „Beschädigens“ unterfallen.

Ohne weiteres zulässig ist die rein informative Berücksichtigung von Entwürfen (und deren Begründungen), die nicht Gesetz geworden sind oder sich in aktueller Diskussion befinden. Eine solche „rechtsvergleichende“ Betrachtung dient der Verdeutlichung des Problems und der Erweiterung des Horizonts möglicher Lösungen; sie verschafft dem Urteil auch rechtspolitisches „Leben“. Der eigentliche Auslegungsvorgang darf dadurch jedoch nicht beeinflußt werden, es sei denn, es tritt der seltene Fall ein, in dem die relevanten Kriterien zu einem „non liquet“ führen338; dann kann im Sinn des Entwurfs entschieden werden, zumal wenn absehbar ist, daß dieser als Ausdruck einer „allgemeinen Rechtsentwicklung“339 mit hoher Wahrscheinlichkeit auch umgesetzt werden wird340. BGHSt 1, 145 (oben Fall 65) sieht sich in seiner Ansicht, das Beibringen von Betäubungsmitteln stelle „Gewalt“ i. S. des § 249 StGB dar, durch Stimmen aus der Literatur und die Entwürfe 1924/27, 1925 und 1930 bestätigt, die sogar dahingehende Definitionen enthielten (S. 148). – Gegen diesen Hinweis auf die Entwürfe ist nichts einzuwenden. Die Gleichbehandlung mit den Literaturmeinungen zeigt allerdings ihren begrenzten Wert im eigentlichen Auslegungsprozeß. Fall 172 (BGHSt 4, 161): Der Senat schließt sich mit eingehender Begründung der bisherigen Rechtsprechung an, wonach die Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung in § 113 StGB (a. F.) kein Tatbestandsmerkmal, sondern eine objektive Bedingung der Strafbarkeit sei.341 Nebenbei stützt der BGH sein Ergebnis wie folgt: „Diese Auslegung des § 113 entspricht seiner Entstehungsgeschichte, dem berechtigten rechtsstaatlichen Ordnungsbedürfnis . . . und dem Entwurf von 1927“ (S. 164). – Wiederum: Der Hinweis auf die Regelung des E 1927 ist an sich nicht schädlich, aber auch nicht relevant. Störend ist nur, daß der E 1927 in einem Atemzug mit der Entstehungsgeschichte des § 113 StGB genannt wird, so als ob beide Aspekte gleichrangige Erkenntnismittel der Gesetzesauslegung wären. Die gleiche Problematik behandelt mit gleichem Ergebnis BGHSt 21, 334, ohne sich auf den E 1927 zu berufen. Hingewiesen wird lediglich („vgl. zum Vorstehenden“) auf die Begründung zum E 1962 (S. 366). Fall 173 (BGHSt 14, 68, vgl. oben S. 85): Ähnlich wie BGHSt 13, 207 (oben Fall 171), aber etwas vorsichtiger argumentiert BGHSt 14, 68: Der damals geltende § 42m I StGB ließ die Entziehung der Fahrerlaubnis auch dann zu, wenn der Täter wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen wurde. Aber was sollte gelten, wenn Großzügiger Tröndle, in: LK-StGB10, § 1, Rn. 56: Entwürfe seien zu berücksichtigen, wenn das geltende Recht „Auslegungsmöglichkeiten“ läßt; binden könne das den Richter freilich „niemals“. 339 Vgl. oben IV 5 d und dort BGHSt 11, 324 (Fall 169), wo die Argumentation mit der allgemeinen Rechtsentwicklung und mit dem E 1958 gestützt wird. 340 Erst recht, wenn das neue Recht bereits in Kraft, aber im konkreten Fall noch nicht gültig ist; siehe dazu unten IV 7 d. 341 In § 113 StGB g. F. ist die Frage geklärt (vgl. Abs. 3 und 4). 338

6. Entwürfe, Änderungen im Gesetzgebungsverfahren

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die Unzurechnungsfähigkeit bloß zugunsten des Täters unterstellt wurde? Der BGH begründet ausführlich, daß hier § 42m gleichfalls Anwendung finde; die Rechtssprache differenziere nicht zwischen diesen Fällen (S. 71). Abschließend weist der Senat darauf hin, daß auch die Große Strafrechtskommission sich zu dieser Ansicht bekannt und deshalb im E 1959 beide Fälle – erwiesene oder nicht auszuschließende Schuldunfähigkeit – ausdrücklich normiert habe (S. 73). – Die Meinung der Kommission zum geltenden Recht ist nicht maßgeblich. Umgekehrt folgt aus der ausdrücklichen Regelung der Problematik im E 1959 aber auch nicht im Gegenschluß, daß der Fall der unterstellten Schuldunfähigkeit von der lex lata nicht erfaßt ist! Fall 174 (BGHSt 44, 355): Der Senat stellt fest, daß seine Interpretation sowohl mit dem Wortlaut der alten als auch der neuen Fassung (nach dem 6. StrRG), nicht aber mit der im E 1962 vorgesehenen Formulierung im Einklang steht (S. 359). – Der Hinweis stärkt die Wortlautargumentation durch einen Vergleich: Die einschlägige Vorschrift des E 1962 zeigt, daß andere Regelungen möglich sind und dann auch anders formuliert würden. Aber tragender Gesichtspunkt einer historischen Auslegung wäre dieses Argument nur, wenn der Gesetzgeber sich tatsächlich an diesem historischen Vorbild orientiert hätte. Fall 175 (BGHSt 47, 202 – „Opferschutz“): Fragwürdig argumentiert BGHSt 47, 202 zu § 414 II StPO. Nach dieser Norm gelten auch im Sicherungsverfahren „sinngemäß“ die Vorschriften der StPO. Die bisherige Rechtsprechung ließ im Sicherungsverfahren keine Nebenklage zu, weil diese auf die Bestrafung des Täters abziele, das Sicherungsverfahren aber anderen Zwecken diene. Vorliegende Entscheidung distanziert sich von dieser Meinung und beruft sich dabei auf die Stärkung des Opferschutzes durch das Opferschutzgesetz von 1986, obwohl der Gesetzgeber in Kenntnis der Problematik342 dort keine ausdrückliche Regelung der Frage vornahm. In diesem Zusammenhang dürfe schließlich eine neue Gesetzesinitiative des Bundesrats aus dem Jahr 2000 nicht außer Betracht bleiben, welche eine entsprechende Regelung als „Klarstellung“ vorsehe, um den Grundgedanken des Opferschutzgesetzes voll zu verwirklichen (S. 207).343 – Irrelevant ist, ob die Entwurfsbegründung die Neuregelung als „Klarstellung“ der bereits geltenden Rechtslage oder als Abkehr davon versteht, denn zur Auslegung des geltenden Rechts kann der Entwurf, dessen Schicksal zudem oft „ungewiß“ ist344, nichts beitragen. Richtig war es demgegenüber, maßgeblich auf das Opferschutzgesetz selbst abzustellen. Der darin liegende Paradigmenwechsel kann für die Auslegung des vom Wortlaut her offenen § 414 II StPO von Belang sein.

c) Änderungen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens Recht klare Schlußfolgerungen i. S. einer objektiv-historischen Auslegung ermöglichen Fassungsänderungen, die im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens erfolgen. Ob aus einer Fassungsänderung des Gesetzes gegenüber dem Entwurf 342

Zum Argument „in Kenntnis der Problematik“ näher unten IV 7 g. In diesem Sinn hat das Opferrechtsreformgesetz von 2004 (BGBl. I, S. 1354) die Frage schließlich in § 395 StPO geklärt. 344 So die Formulierung in BGHSt 44, 13 = unten Fall 181. 343

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IV. Entstehungsgeschichte

auf eine inhaltliche Abweichung geschlossen werden kann (Umkehrschluß), ist jedoch keineswegs sicher.345 Dann kann unter Umständen die genetische Auslegung Näheres zur Motivation der Gesetzesverfasser ergeben. Umgekehrt kann mit der Fassungsänderung die Heranziehung der Materialien zum Entwurf ihre Berechtigung verlieren oder wenigstens begründungsbedürftig werden. Denkbar ist, daß innerhalb der historischen Auslegung ein Streit zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Theorie ausbricht: Eine äußerliche (historisch-systematische) Betrachtung kann für einen Gegenschluß, eine genetische Auslegung dafür sprechen, daß mit einer Formulierungsänderung keine inhaltliche Modifikation beabsichtigt war.346 Die Erforschung der Entstehungsgeschichte kann weiterhin ergeben, daß Formulierungsänderungen auf einem Fassungsversehen beruhen.347 Schlußfolgerungen sind insbesondere dann müßig, wenn im Gesetzgebungsverfahren ein klarer Entwurf gegen einen unklaren Gesetzestext eingetauscht wird.348 Im bereits bekannten Fall zum Begriff der „Haft“ (BGHSt 3, 334; GS 4, 308 = oben Fall 131) wurde im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens die Formulierung von „Untersuchungshaft“ auf „Haft“ geändert. BGHSt 3, 334 (336 f.) sieht darin immerhin ein Indiz für ein extensiveres Begriffsverständnis, während der Große Senat diesen Umkehrschluß nicht für gerechtfertigt hält, zumal die Ausschüsse und Abgeordneten ungeachtet dieser Änderung bis zuletzt davon ausgegangen seien, daß nur Untersuchungshaft gemeint ist (S. 312 ff.). Damit entkräftet der Große Senat den objektivhistorisch begründeten Gegenschluß mit Mitteln der genetischen Auslegung! Fall 176 (BGHSt 9, 310): Vor Rätsel gestellt sieht sich BGHSt 9, 310 durch Regelungen des Staatsschutzrechts. Trotz enger Zusammengehörigkeit der §§ 90a, 129, und 129a StGB i. d. F. des 1. StÄG hat der Gesetzgeber nur bei § 90a auf eine Regelung der tätigen Reue verzichtet. Ob damit eine Gesetzeslücke vorliegt, die im Weg der Analogie geschlossen werden darf, untersucht der Senat eingehend anhand der sehr wechselhaften Entstehungsgeschichte (S. 313 ff.). In entsprechenden Entwürfen hätten die Gesetzesverfasser zwar Vorschriften zur tätigen Reue vorgesehen, jedoch bei der letzten Überarbeitung habe man ohne Angabe von Gründen nur bei § 90a darauf verzichtet, aber gleichwohl die Zusammengehörigkeit der Vorschriften

345 Unterschiedliche Ansichten über die Tragweite von mehrfach wechselnden Entwurfsfassungen hinsichtlich des Einbruchdiebstahls zeigen sich z. B. in BGHSt GS 1, 158 (161 f.). 346 Siehe neben den sogleich zu erörternden Fällen z. B. noch BGHSt 36, 205, wo der Senat Schlußfolgerungen aus einer Streichung im Entwurfstext mit einer genetischen Auslegung entgegentritt (S. 207); ähnlich BGHSt 13, 178 (181). Über ein negatives Beispiel aus der Rechtsprechung des BVerwG, das eine im Gesetzgebungsverfahren gestrichene Formulierung dennoch ins Gesetz hineinlese, berichtet Esser, JZ 1975, 555 (557). 347 Eine eingehende Analyse liefert z. B. BGHSt 7, 165 mit dem Ergebnis, daß die vom Referentenentwurf abweichende Fassung des Regierungsentwurfs tatsächlich eine inhaltliche Rechtfertigung findet (näher unten Fall 213). Siehe auch sogleich Fall 180. 348 Siehe neben den sogleich folgenden Beispielen auch BGHSt 26, 156 = oben Fall 116.

6. Entwürfe, Änderungen im Gesetzgebungsverfahren

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betont (S. 315 f.). Nach Ansicht des Senats sprechen somit „gewisse Anhaltspunkte“ für die Annahme einer Gesetzeslücke (S. 316). Letztlich müsse die Frage jedoch aus anderen Gründen hier nicht endgültig entschieden werden. – Der Senat tut sich schwer, um gegen ein Wahrscheinlichkeitsurteil bzw. eine Vermutung anzugehen: Streicht der Gesetzgeber eine Regelung im Entwurf, wird man nur ausnahmsweise von einer (unbewußten) Lücke ausgehen können. Fall 177 (BGHSt 25, 35): Ein beeindruckendes Wechselspiel zwischen Gesetzgeber und Gerichten bietet die durch BGHSt 25, 35 behandelte Geschichte des § 239a StGB. Der nationalsozialistische Gesetzgeber sah 1936 für den erpresserischen Kindesraub die Todesstrafe vor, wenn „in Erpressungsabsicht ein fremdes Kind durch List, Drohung oder Gewalt entführt“ wird. Angesichts der extremen Strafandrohung wurde die Norm einschränkend in dem Sinn verstanden, daß der Täter zumindest mit einer Schädigung des Kindes drohen muß.349 Das 3. StÄG von 1953 bedrohte mit einer Mindeststrafe von nicht unter drei Jahren das Entführen eines Kindes zur Erlangung eines Lösegeldes. Weitere Einschränkungen sah das Gesetz nicht vor. Hingegen hatte der zugrundeliegende Entwurf zusätzlich die Absicht des Täters verlangt, die Besorgnis der Angehörigen um das Kindeswohl auszunutzen (vgl. a. a. O., S. 36).350 Der BGH ist der Ansicht, daß der Gesetzgeber trotz dieser Abweichung eine gemilderte Einschränkung im Sinn des Entwurfs nicht habe „ausschließen“ wollen. Die Formulierungsänderung sei lediglich als Vereinfachung ohne Sinnänderung gedacht gewesen. Das 12. StÄG von 1971 bringe mit einer erneuten Änderung des § 239a dieses „bisher ungeschriebene Tatbestandsmerkmal“ durch die Formulierung „um die Sorge eines Dritten um das Wohl des Opfers zu einer Erpressung . . . auszunutzen“ zum Ausdruck (S. 37).351 – Die Argumentation des BGH zur Fassung des § 239a nach dem 3. StÄG ist kaum überzeugend: Der Gesetzgeber streicht die Einschränkung aus dem Entwurf, will sie aber gleichwohl „nicht ausschließen“? Die Folgerung des BGH ist nur deshalb hinnehmbar, weil der Täter eines erpresserischen Kindesraubes wohl in aller Regel die Sorge der Angehörigen um das Wohl des Kindes ausnutzen will, so daß die Frage eher akademischer Art ist. Fall 178 (BGHSt 26, 29): Seltsam umständlich und nicht ohne weiteres nachvollziehbar behandelt der Senat eine kostenrechtliche Frage. Für seine Gesetzesdeutung beruft er sich u. a. auf den Regierungsentwurf, der jedoch anders als das spätere Gesetz formuliert war. Aus der Fassung des Entwurfs schließt der Senat auf eine bestimmte Absicht des Gesetzgebers, die – trotz veränderten Wortlauts! – auch für die lex lata gelten soll: „Dieser Absicht entspricht bei der gegenüber dem Entwurf geänderten Fassung der Vorschrift die Auslegung, daß . . .“ (S. 33). Der BGH mag damit recht haben, aber er müßte wenigstens darlegen, weshalb trotz abweichender Formulierung die Intention des Regierungsentwurfs auch auf das Gesetz übertragen werden darf. Siehe Kohlrausch, StGB37, § 239a, Anm. 2. Eine noch weitergehende Einschränkung, wie sie die Rechtsprechung bei der früheren Fassung vorgenommen hatte, hielt der Entwurf wegen des geringeren Strafrahmens nicht für nötig, vgl. BGH, S. 36. 351 Die damit vorerst zur Ruhe gekommene Entwicklung der Norm hat der Gesetzgeber durch das StÄG 1989 durch eine zweifelhafte Änderung wieder eröffnet und neue Einschränkungsbemühungen der Rechtsprechung entfacht; vgl. bereits oben Fall 152. 349 350

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IV. Entstehungsgeschichte

Fall 179 (BGHSt 27, 307): Eine unterschiedliche Fassung von Entwurf und Gesetz bereitet auch BGHSt 27, 307 (unnötig) Probleme. Nach Meinung des BGH unterfiel das Verhalten des Täters (Weitergabe von Verfassungsschutzunterlagen an den „Spiegel“) schon nicht dem objektiven Tatbestand der verfassungsfeindlichen Sabotage (§ 88 I Nr. 4 StGB). Damit hätte es sein Bewenden haben können.352 Dennoch prüft der BGH, welche Konsequenzen für das geltende Recht daraus folgen könnten, daß in einem Gesetzesentwurf der objektive Tatbestand noch enger gefaßt war, und gelangt dabei zu der Einsicht, die lex lata dürfe jedenfalls „nicht zu ausdehnend ausgelegt werden“ (S. 312). – Diese Einsicht ist wenig erhellend. Sie folgt ohnedies schon aus Art. 103 II GG, denn keine Strafvorschrift darf zum Nachteil des Täters „zu“ ausdehnend interpretiert werden. Zweifelhaft ist der sich zumindest andeutende Kompromiß, wonach die Streichung einer Einschränkung im Gesetzgebungsverfahren durch eine enge Interpretation des letztlich beschlossenen Gesetzes kompensiert werden kann. Ein dahingehender Wille des Gesetzgebers bedürfte eines Beleges in den Materialien, denn die Formulierungsänderung kann gerade für einen (rechtspolitischen) Meinungswechsel innerhalb des Gesetzgebungsverfahrens und damit für eine extensive Auslegung sprechen! Fall 180 (BGHSt 32, 104): Art. 7 I Nr. 4 des 4. StÄG i. V. m. § 99 StGB stellt nach seinem klaren Wortlaut die geheimdienstliche Tätigkeit sowohl gegenüber einem NATO-Vertragsstaat als auch gegenüber dessen in Deutschland stationierten Truppen unter Strafe. Das Art. 7 zugrundeliegende völkerrechtliche Abkommen bezweckte jedoch nur den Schutz der stationierten Truppen, was die Gesetzesentwürfe und die dazugehörigen Begründungen auch noch zum Ausdruck brachten (vgl. a. a. O., S. 109 f.). Eine Änderung im Gesetzgebungsverfahren erweiterte jedoch den Wortlaut, ohne daß der BGH erkennen kann, ob dies gewollt oder ungewollt geschah (S. 110). Der Senat erwägt zwar eine Restriktion der Norm i. S. der Entwürfe oder des Abkommens, sieht sich angesichts des Wortlauts, insbesondere wegen des Nebeneinanders von geschütztem Staat und Truppen aber letztlich dazu nicht in der Lage (S. 112). Abschließend353 nennt der BGH aber objektiv-teleologische Gründe, die den weiten Schutzbereich doch als sinnvoll erscheinen lassen (S. 112 f.). Daraus wird man allerdings nicht schließen können, daß der historische Gesetzgeber sich bei der kurzfristigen Fassungsänderung von diesen Erwägungen leiten ließ. Näher liegt wohl die Annahme eines Versehens, das nur durch eine gesetzeskorrigierende Rechtsanwendung beseitigt werden könnte. Fall 181 (BGHSt 44, 13 = oben Fall 130, „Videoobservation“): Mit einer komplizierten Ausgangslage mußte sich BGHSt 44, 13 beschäftigen. § 100c I Nr. 1 StPO regelte seit 1992 den Einsatz technischer Mittel zum Zweck der Überwachung, sagt aber nichts zur Frage, ob eine längerfristige Observation überhaupt zulässig ist. Der Referentenentwurf hielt insoweit noch eine ausdrückliche Regelung für notwendig und sah eine solche vor (vgl. heute § 163f StPO), während der Gesetzgeber schließlich von einer solchen „Klarstellung“ absah. Der Senat hält Schlußfolgerungen aus der ursprünglich im Referentenentwurf vorgesehenen Regelung nicht für angebracht: Bedenken hinsichtlich der Ermächtigungsgrundlage seien im letztlich verabschiedeten Gesetz nicht zum Ausdruck gekommen (S. 18).354 Irrelevant sei 352 353

Der Senat geht in der Entscheidung noch weitere Umwege. Die gesamte Urteilsbegründung ist an Umständlichkeit kaum zu überbieten.

6. Entwürfe, Änderungen im Gesetzgebungsverfahren

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auch, daß ein neuer Entwurf wiederum eine entsprechende Regelung enthalte, zumal „dessen Schicksal im Gesetzgebungsverfahren . . . ungewiß ist“ (S. 18). Die beabsichtigte Regelung könne nicht zur Auslegung der hier maßgeblichen Vorschrift herangezogen werden! Klar liegt es in BGHSt 44, 233 (oben Fall 74). Während der Gesetzesentwurf die Voraussetzungen des Subventionsbetruges weniger eng und formal abfaßte, lautete das Gesetz wegen befürchteter Auslegungsunsicherheiten strenger und förmlicher (vgl. a. a. O., S. 239). Der BGH weist darauf hin, daß die Gesetzes- gegenüber der Entwurfsfassung zu Strafbarkeitslücken führen kann, daß diese Folge jedoch als klare Entscheidung des Gesetzgebers hinzunehmen sei (S. 240).355

d) Ausdrückliche Bezugnahmen Entwürfe und deren Begründungen können zur Auslegung außerdem dann herangezogen werden, wenn der Gesetzgeber auf einen früheren Entwurf Bezug nimmt oder als Vorbild seiner Regelung nutzt. Fraglich ist allerdings, ob damit auch die Entwurfsbegründungen einbezogen sind. Selbst bei gleichem Wortlaut ist hier Vorsicht geboten und eine Prüfung von Fall zu Fall veranlaßt. Jedenfalls muß der Rechtsanwender sich darüber im klaren sein, daß der „Wille des Gesetzgebers“ in diesen Fällen auf Umwegen erschlossen wird. Fall 182 (BGHSt 24, 198): Der Senat prüft, ob die allgemeine Rückfallvorschrift des § 17 StGB i. d. F. des 1. StrRG nur bei einschlägigen Vorstrafen greift. Dagegen spreche zum einen gerade der Unterschied zwischen dieser allgemeinen Norm und den früher geltenden besonderen Rückfallvorschriften, zum anderen die amtliche Begründung zu einer Regelung des E 1962, die als Vorbild gedient habe (S. 200). Die Begründung führe „zutreffend“ aus, „daß gerade ein ungleichartiger Rückfall kriminelle Neigungen von besonderer Stärke offenbaren kann“ (S. 200). – Merkwürdig ist allein die Bewertung der gesetzgeberischen Vorstellung durch den BGH als „zutreffend“. Wäre sie aus Sicht des BGH unzutreffend, dürfte dann von ihr abgewichen werden? Fall 183 (BGHSt 27, 56 = oben Fall 125): Wenig aussagekräftig ist der Hinweis auf das gesetzgeberische Vorbild der Norm in BGHSt 27, 56. § 125a StGB sieht es u. a. als besonders schweren Fall des Landfriedensbruchs, wenn der Täter eine Schußwaffe bei sich führt (Nr. 1) oder plündert (Nr. 4). Nach Ansicht des BGH spricht bereits der Wortlaut dafür, daß der Täter selbst die erschwerenden Umstände verwirklichen muß, eine Zurechnung über die Regeln der Mittäterschaft (§ 25 II StGB) folglich ausgeschlossen ist. Das ergebe sich auch bei einem Blick auf das gesetzgeberische Vorbild der Norm im E 1962, wo nicht vom „Täter“, sondern vom „Rädelsführer“ die Rede ist (S. 57). Diese Abweichung in der Formulierung ändere aber nichts daran, daß die Handlungsmodalitäten auf den Täter selbst zugeschnitten sind (S. 58). Aus den Materialien zum E 1962 und zum 3. StrRG ergebe sich nichts 354

Was allerdings auch kurios wäre, vgl. oben bei Fall 130. Als weitere Beispiele für eindeutig gerechtfertigte Umkehrschlüsse aus geänderten Textfassungen sind zu nennen: BGHSt 4, 119 (120 f.); 5, 100 (104 f.); 17, 69 (71). 355

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IV. Entstehungsgeschichte

anderes. – Womöglich entspricht die Vorschrift des E 1962 eher den Vorstellungen des BGH, aber die geltende Norm lautete anders! Insofern würde man gern etwas über die Motivation des Gesetzgebers erfahren, aber statt dessen teilt der BGH die belanglose Tatsache mit, wer (z. B. die CDU/CSU-Fraktion) gegen die Änderung Stellung bezog. Fall 184 (BGHSt 26, 176 = oben Fall 23): Problematisch ist der Hinweis auf die Begründung des E 1962 auch in BGHSt 26, 176. Der Widerstand gegen Vollstrekkungsbeamte wird regelmäßig schwerer bestraft, wenn der Täter den Angegriffenen „in die Gefahr des Todes“ bringt (§ 113 II Nr. 2 StGB). Der BGH ist der Auffassung, daß insoweit Vorsatz des Täters notwendig ist, da die Todesgefahr schon sprachlich nicht als „Folge“ der Tat (dann Fahrlässigkeit ausreichend: § 18 StGB) aufgefaßt werden könne (S. 181). Auch die Begründung zu einer im wesentlichen gleichlautenden Vorschrift im E 1962 gehe ausdrücklich vom Vorsatzerfordernis aus (S. 182). Es sei ausgeschlossen, „daß sich das geltende Recht von dieser, der herkömmlichen Auffassung entsprechenden Haltung des Entwurfs abgewandt hätte“ (S. 182). – Für die Auffassung des BGH spricht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, aber letztlich bleibt doch unklar, ob dem „eigentlichen“ Gesetzgeber die Meinung der Entwurfsverfasser zugeschrieben werden kann.356 Voraussetzung dafür wäre, daß auch im übrigen alle (dogmatischen!) Umstände gleich geblieben sind, vor allem die hier relevanten Lehren des Allgemeinen Teils.357 In der Literatur wird die historische Anleihe des BGH beim E 1962 weitgehend abgelehnt, freilich mit Begründungen, über die man gleichfalls streiten kann: Selbst wenn die Verfasser des E 1962 dieser Meinung gewesen sein sollten, „fehlt es an jeder Begründung für eine solche auffallende und überraschende Meinung“.358 Die Rechtslage sei auch für den E 1962 unklar, die Äußerungen in der amtlichen Begründung seien nur beiläufig erfolgt und hätten im Gesetz keinen klaren Ausdruck gefunden.359 Der das Gesetz beschließende 6. Deutsche Bundestag habe nicht über den E 1962 entschieden.360

356 Die Frage kann sich ebenso hinsichtlich der Begründung einer gleich oder ähnlich lautenden Vorläufernorm stellen, siehe z. B. BGHSt GS 1, 158 (162): „Selbst wenn es aber richtig wäre, daß der preußische Gesetzgeber jene engere Vorstellung . . . gehabt haben sollte, fehlt es an einem sicheren Anhalt dafür, daß die Verfasser des StGB sie geteilt haben.“ 357 Meyer-Gerhards, JuS 1976, 228 (232) weist zu Recht darauf hin, daß die Interpretation der lex lata nicht auf der Systematik des E 1962 beruhen dürfe. 358 Heimann-Trosien, in: LK-StGB9, § 113 StGB, Rn. 50. 359 Küper, NJW 1976, 543 (545); anders Backmann, MDR 1976, 969 (975). Bezüglich der von Küper erwähnten Andeutungstheorie kann man dem BGH allerdings nur vorwerfen, daß er von diesem höchst zweifelhaften Instrument nicht konsequent auch hier Gebrauch macht (vgl. oben IV 3 f und g). 360 Insoweit zu pauschal Meyer-Gerhards, JuS 1976, 228 (231). Auch sonst entkräftet Meyer-Gerhards die Argumentation nur zum Teil, denn von den Normen des E 1962, auf die der BGH sich bezieht, haben sehr wohl einige Einzug ins reformierte StGB gefunden (nur nicht die vom Verf. genannten).

6. Entwürfe, Änderungen im Gesetzgebungsverfahren

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e) Sonstiges Der BGH nutzt mitunter auch eher abseits liegende Entwürfe und überschätzt dabei deren Bedeutung für die Auslegung. Fall 185 (BGHSt 5, 40): Der 1943 eingeführte § 170d StGB (a. F.) stellte unter bestimmten Voraussetzungen die Vernachlässigung eines „Kindes“ unter Strafe, ohne den Begriff „Kind“ zu definieren. Dagegen sprachen ähnliche, 1933 zum Schutz der Jugend eingeführte Normen (z. B. § 223b StGB a. F.) von „Kindern“ und „Jugendlichen“. Fest stand, daß es in § 170d wie in den übrigen Jugendschutz-Bestimmungen jedenfalls auf die Altersstufe, nicht aber auf die Abstammung ankommen mußte. Der BGH weist auf die im E 1925 enthaltene Begriffsbestimmung und die dazugehörige Begründung hin: Komme es auf die Altersstufe an, sei danach Kind, wer noch nicht 14 Jahre alt ist (S. 41). Weiter rekurriert der BGH auf den Vorentwurf von 1909, auf die Entwürfe 1927 und 1930 und auf die Begründung des E 1927, die auf die Begriffsbestimmung des RJGG von 1923 hinweise (S. 41 f.).361 Das Vorbild des § 170d im E 1930 habe noch Kinder, Jugendliche und andere sorgebedürftige Personen aufgezählt; daraus folge zum einen, daß bewußt zwischen den Altersstufen „Kind“ und „Jugendlicher“ differenziert wurde, und zum anderen (im Umkehrschluß), daß § 170d einen engeren Anwendungsbereich haben sollte als die Vorschrift im E 1930 (S. 42).362 Auch die übrigen Normen (§§ 223b, 139b, 361 StGB a. F.), die ausdrücklich Kinder und Jugendliche schützen, folgten bewußt diesem Sprachgebrauch (S. 42 f.). Daß im Einzelfall auch Jugendliche schutzwürdig im Sinn von § 170d sind, sei ohne Belang (S. 43).363 – Die sehr „aufgeblähte“ historische Argumentation des BGH versucht, sich dem Willen des historischen Gesetzgebers von 1943 anzunähern. Die Begründung zeigt die Schwierigkeiten einer historischen Auslegung, die zur „Konstruktion“ der gesetzgeberischen Intention allein auf „objektive“ Umstände zurückgreifen muß. Letztlich kann der BGH nur Indizien für den maßgeblichen Sprachgebrauch zusammentragen, die es insgesamt als wahrscheinlich erscheinen lassen, daß der Gesetzgeber bewußt nur „Kinder“, nicht aber auch „Jugendliche“ erfassen wollte.364 Am ehesten überzeugt noch der Hinweis auf die ähnlichen und zuvor eingefügten Jugendschutz-Bestimmungen sowie auf die Abweichung vom E 1930, während der Zusammenhang mit den Entwürfen 1925/1927 immer „indirekter“ („mittelbarer“) wird. Deren ausführliche Wiedergabe durch den

361 Das RJGG 1923 definiert ausdrücklich nur den Begriff „Jugendlicher“ (§ 1), während es Personen unter 14 Jahren lediglich als strafunmündig einstuft (§ 2), aber dabei nicht von „Kindern“ spricht. Deshalb halten z. B. Händel (NJW 1954, 119) und Luther (NJW 1954, 493 [495]) das RJGG für einen untauglichen begrifflichen Orientierungspunkt. 362 Luther (NJW 1954, 493 [495, Fn. 21]) hält insoweit ein Redaktionsversehen für wahrscheinlicher! 363 A.A. z. B. Jagusch, in: LK-StGB8, § 170d, Anm. 3: Das Gesetz schweige zur Altersgrenze; dem Zweck der Norm entspreche am ehesten eine Altergrenze von 16 Jahren. Anders Nagler (in: LK-StGB6/7, § 170d, Anm. 2) unter Hinweis auf das RJGG; ein gegenteiliges Urteil des RG von 1944 enthalte eine Tatbestandserweiterung, „die heute wieder untersagt ist“. 364 Indizien, die gegen die Annahme eines bereits damals eingebürgerten Sprachgebrauchs sprachen, tragen Händel und Luther vor (wie oben Fn. 361).

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IV. Entstehungsgeschichte

Senat war nicht veranlaßt, weil ungewiß bleibt, ob der Gesetzgeber sich darauf bezogen hat. Fall 186 (BGHSt 6, 131 = oben Fall 100): Große Mühe gibt sich BGHSt 6, 131 damit, die einschlägigen Entwürfe als nicht maßgebliches Recht darzustellen. Das damals geltende Recht bestimmte nicht – wie heute § 15 StGB – in einer Generalnorm, ob ein Vergehen auch durch fahrlässiges Verhalten verwirklicht werden kann. Die Rechtsprechung mußte dies folglich von Norm zu Norm durch Ermittlung des gesetzgeberischen Willens entscheiden. Der BGH zieht aus den bereits vorliegenden Entwürfen, die eine dem § 15 StGB heutiger Fassung entsprechende Norm enthielten, keine Schlüsse für den status quo. Die Teilung der Schuld in Vorsatz und Fahrlässigkeit sei „erst das Ergebnis einer langen Rechtsentwicklung, auf die der Gesetzgeber in der früheren Zeit nicht so bedacht genommen hat wie heute“ (S. 133). Die E 1925/1927 sähen für die hier relevante Bestimmung zwar ausdrücklich beide Schuldformen vor, jedoch nur „zur Klarstellung“ (S. 134). Als hilfreiches Argument, nicht aber als Kriterium der „Auslegung“ nutzt BGHSt GS 6, 147 (oben Fall 76) den E 1919, um zu zeigen, daß die in § 330c StGB a. F. (§ 323c g. F.) statuierte Hilfspflicht in Unglücksfällen nicht nur auf nationalsozialistischem Gedankengut beruhen kann.

7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers a) Einführung Ähnliche Fragen, die sich aus der Berücksichtigung von Gesetzesentwürfen ergeben, stellen sich auch bei sonstigen Maßnahmen und Äußerungen der Legislative. Statt von einem Gesetzesentwurf abzuweichen, kann der Gesetzgeber den Text einer Vorläufernorm zum Vorbild nehmen und umgestalten. Oft resultiert daraus das Problem, ob die Gesetzesverfasser mit der Neuformulierung auf eine inhaltliche Änderung abzielten oder ob sie nur die geltende Rechtslage klarer zum Ausdruck bringen und damit streitige Punkte klarstellen wollten. Wie bei den Entwürfen kann diese entwicklungsgeschichtliche (historisch-systematische) Auslegung durch eine genetische Interpretation ergänzt werden, wenn unklar bleibt, ob eine abweichende Formulierung als Umgestaltung der Rechtslage oder als bloße Klarstellung gemeint war. BGHSt 26, 191 (195) hält einen Gegenschluß aus einer veränderten Gesetzesfassung für zwingend: Ein Textvergleich „nötigt . . . zu der Annahme“. Gleichwohl zieht der Senat zur Absicherung seiner Position noch die Materialien mit der Äußerung eines Abgeordneten heran.

Dabei kann – auf den ersten Blick vielleicht kurios – sich innerhalb der historischen Auslegung die für den Streit zwischen objektiver und subjektiver Theorie typische Situation einstellen, in welcher der Wortlaut (im Vergleich zur Vorläufernorm) eindeutig für einen Gegenschluß spricht, die Motive aber für

7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers

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einen anderen Willen des Gesetzgebers streiten. Im Anwendungsbereich des Art. 103 II GG muß dann der Wortlaut maßgeblich sein, während im übrigen allenfalls eine Gesetzeskorrektur zur Verwirklichung des „wahren“ Willens in Betracht kommt. Auch andere Handlungen des Gesetzgebers bieten Anhaltspunkte zur Ermittlung der gesetzgeberischen Intention. Selbst aus der Untätigkeit des Gesetzgebers vermag die Rechtsprechung noch Relevantes für die Interpretation einer unveränderten Norm abzuleiten, was den zuschreibenden Charakter der objektiv-historischen Gesetzesdeutung offenbart. Häufig hinterläßt diese Verfahrensweise jedoch Zweifel, ob dem Gesetzgeber nicht doch zu viel zugemutet wird, etwa mit der Argumentation, er hätte bei entsprechender Absicht leicht anders formulieren können oder er habe „in Kenntnis“ der Problematik von einer Klarstellung abgesehen. Ein „vernünftiger“ Gesetzgeber ist ein Idealbild, das mit den Vorstellungen des „historischen“ Gesetzgebers nicht immer in Einklang zu bringen ist.

b) Klarstellung oder Änderung der Rechtslage bei verändertem Wortlaut Fall 187 (BGHSt 2, 29, oben Fall 75 und Fn. 311): Der BGH sieht sich in der Frage, ob eine Vorschrift zur Abführung des Mehrerlöses (§ 51 WiStG a. F.) trotz des Wortlauts („kann“ angewandt werden) als zwingende Norm zu verstehen ist, durch die Entstehungsgeschichte bestätigt. Die ursprüngliche Norm von 1941 war ebenfalls als Ermessensvorschrift formuliert („kann“), wurde aber als zwingende Bestimmung gedeutet. Die 1944 nachfolgende Norm war als Mußvorschrift formuliert und damit konsequent als „Klarstellung“ der Rechtslage (gemeint als Gesetz in seiner herrschenden Deutung) verstanden worden. 1949 kehrte der Gesetzgeber wiederum zur ursprünglichen Fassung zurück (vgl. a. a. O., S. 31 f.). Der Senat deutet diese Vorgänge nicht „objektiv-systematisch“ – Gegenschluß aus der Rückkehr zur „KannFormulierung“ –, sondern beruft sich auf die amtliche Begründung, die weiterhin von einer Mußvorschrift und außerdem davon ausgehe, daß die neue Bestimmung die alte (von 1944) wiedergebe (S. 31 f.). – Der BGH zeigt sich „freundlich“ gegenüber dem Gesetzgeber, der unverständlicherweise mit der Rückkehr zur ursprünglichen Formulierung eine mittlerweile geklärte Problematik wieder aufgeworfen hat. Ein „Objektivist“ könnte die Entwicklungsgeschichte der Norm anders deuten. Fall 188 (BGHSt 3, 248): § 154 StGB i. d. F. bis 1944 verlangte als Voraussetzung des Meineids, daß der Eid vor einer zur Abnahme von Eiden zuständigen „Behörde“ geleistet wird. Die seit 1944 gültige Fassung bedroht das falsche Schwören mit Strafe, wenn es „vor Gericht oder vor einer anderen zur eidlichen Vernehmung . . . zuständigen Stelle“ erfolgt. Der BGH ist der Ansicht, daß die Neufassung der einschränkenden Auslegung bedarf, nach der auch die Gerichte (nicht nur die anderen „Stellen“) zur Abnahme des Eides zuständig sein müssen (S. 249). Denn die Neufassung habe sich den Zweck gesetzt,365 den Inhalt der bisherigen Vorschriften „gedrängt zusammenzufassen“; hingegen fehle es „an jedem Anhalt dafür, daß diese

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IV. Entstehungsgeschichte

Neufassung etwas so Grundsätzliches gegenüber der bisherigen, seit Jahrzehnten bestehenden Gesetzeslage hätte ändern wollen“ (S. 250). Fall 189 (BGHSt 27, 45, siehe nochmals oben Fall 54): Wiederum als Grenzfall erweist sich BGHSt 27, 45, eine Entscheidung, die den genetischen Anteil der Auslegung gegenüber dem entwicklungsgeschichtlichen stark betont. Nach Ansicht des Senats beabsichtigte der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 259 StGB (Hehlerei) durch das EGStGB 1974 – statt „Mitwirken zum Absatz“ nunmehr „absetzt oder absetzen hilft“ – keine Änderung der Rechtslage, sondern nur die Klarstellung, daß auch der völlig selbständig handelnde Täter erfaßt ist (S. 48 f.). Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs in anderer Hinsicht – hier: Absatzerfolg notwendig – sei nicht gewollt gewesen; die amtliche Begründung gehe von einer nur unbedeutenden Änderung aus (S. 49). „Hätte der Gesetzgeber den gefestigten Stand . . . verlassen wollen, wäre der Entwurf angesichts der immerhin bestehenden unterschiedlichen Meinungen366 in der Begründung darauf eingegangen und hätte eine (gewollte) Änderung hier nicht als nur von untergeordneter Bedeutung bezeichnet“ (S. 49). Den mit seiner Auffassung nicht harmonierenden Wortlaut sucht der Senat u. a. mit der zweifelhaften Auslegungsregel zu entwerten, wonach ein lediglich zur Klarstellung neu gefaßter Tatbestand „nicht so sehr nach dem Wortlaut ausgelegt“ werden dürfe wie ein vollkommen neu gestalteter (S. 50). – Das Anliegen des BGH, der Intention des Gesetzgebers möglichst zum Durchbruch zu verhelfen, verdient grundsätzlich Zustimmung. Hinsichtlich der historischen Argumentation367 ist allerdings folgendes zu bemerken: (1) Wenig überzeugend ist die zuletzt genannte Auslegungsregel. Sollten nicht eher völlig neu gefaßte Tatbestände, mit denen der Gesetzgeber Neuland betritt, weniger nach dem Wortlaut ausgelegt werden? Gerade im vorliegenden Fall hätten die Gesetzesverfasser nämlich durch eine Recherche aller Umstände (siehe oben bei Fall 54) die späteren Interpretationsprobleme verhindern können. (2) Nicht ganz zweifelsfrei ist außerdem die Annahme, der Gesetzgeber hätte eine etwaig gewollte Änderung der Rechtslage in der Entwurfsbegründung erörtert, denn offensichtlich hat der Gesetzgeber bereits die bisherige Rechtslage nicht durchschaut. Die Vorgeschichte der Norm und die vom Senat erwähnte Tatsache, daß die Thematik bereits für die alte Gesetzesfassung strittig war („angesichts der immerhin bestehenden unterschiedlichen Meinungen“), läßt nur auf ein schlichtes Übersehen der Gesetzesverfasser schließen. Jedenfalls kann daraus – so weit geht der BGH allerdings auch nicht – keine allgemeine Regel destilliert werden, wonach nicht eintreten kann, was nicht diskutiert wurde! Dafür sind die logisch-systematischen Zwänge, die sich aus dem Hineinstellen einer Norm in ein Gesamtwerk ergeben, zu stark. (3) Nur am Rand sei auf die Unvereinbarkeit der Argumentation mit der sonst so oft vom BGH herangezogenen „Andeutungstheorie“ hingewiesen: Der fehlende Änderungswille des Gesetzgebers ist durch den neuen Gesetzeswortlaut nicht (hinreichend) zum Ausdruck gekommen.

365 Vgl. zu diesen Personifizierungen des Gesetzes – die Neufassung setzt sich einen Zweck! – oben IV 1 d. 366 Der BGH meint damit vereinzelte Positionen, die bereits zu § 259 StGB a. F. einen erfolgreichen Absatz verlangten, vgl. Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 41. 367 Zur zweifelhaften Wortlautauslegung und anderen Begründungsmängeln in BGHSt 27, 45 siehe bereits oben S. 166.

7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers

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Fall 190 (BGHSt 31, 10): Mit einer ähnlichen Argumentation wie BGHSt 27, 45 zur Neufassung des § 259 StGB versucht die Revisionsführerin in BGHSt 31, 10 zu begründen, daß die Änderung des Tatbestandes der Strafvereitelung (ebenfalls durch das EGStGB 1974) eine rein äußerliche war. Aus der Begründung zum Regierungsentwurf ergebe sich die Intention des Gesetzgebers, es grundsätzlich beim früheren Rechtszustand belassen zu wollen (S. 13 f.). Der BGH geht auf diese Argumentation ein, entkräftet sie aber, indem er auf eine anderweitige Äußerung in der Entwurfsbegründung hinweist (S. 14). „Zudem wären die Gerichte an eine mit dem Gesetzeswortlaut unvereinbare Auslegung des Verfassers des betreffenden Gesetzesentwurfes nicht gebunden“ (S. 14).368 – Am neugestalteten Wortlaut scheitert die Berücksichtigung des fehlenden Änderungswillens des Gesetzgebers bzw. die Beibehaltung des status quo auch in BGHSt 6, 25 (vgl. oben S. 235) und BGHSt 42, 291 (293). Fall 191 (BGHSt 35, 6; 26, 387): BGHSt 35, 6 verlangt als formelle Voraussetzung der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB), daß die Vorverurteilungen rechtskräftig sind. Die Rechtsprechung sei bereits zur Vorläufernorm dieser Meinung gewesen, und die Entstehungsgeschichte belege, daß der Gesetzgeber daran nichts ändern wollte (S. 12). Anders als die frühere Vorschrift bestimme § 66 diese Anforderung zwar nicht mehr ausdrücklich, doch sei damit keine inhaltliche Änderung verbunden gewesen (S. 13). Der Gesetzgeber habe diese Voraussetzung als selbstverständlich angesehen, wie die unwidersprochene Auffassung des Sonderausschusses zeige. Die gegenteilige Schlußfolgerung eines anderen Strafsenats (BGHSt 26, 387 [389]) in einer parallelen Situation berücksichtige nicht die Entstehungsgeschichte der einschlägigen Vorschriften. – Der BGH vermeidet mit Hilfe subjektiv-historischer Auslegungsmittel den objektiv-historisch an sich angezeigten Umkehrschluß. Fall 192 (BGHSt 40, 251) behandelt eine weitere durch das EGStGB aufgeworfene Frage. § 307 Nr. 2 StGB a. F. stufte es als besonders schwere Brandstiftung ein, wenn „die Brandstiftung in der Absicht begangen worden ist, um unter Begünstigung derselben Mord oder Raub zu begehen“. § 307 Nr. 2 i. d. F. bis 1998 formulierte hingegen: Wenn „der Täter in der Absicht handelt, die Tat zur Begehung eines Mordes . . ., eines Raubes . . ., eines räuberischen Diebstahls . . . oder einer räuberischen Erpressung . . . auszunutzen“. Fraglich war, ob damit der Zusammenhang zwischen der beabsichtigten Straftat und der Brandstiftung gelockert wurde, ob also – wie für § 307 Nr. 2 a. F. angenommen – ein räumlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen beiden Taten bestehen muß. Nach Ansicht des Senats brachte die bis 1974 gültige Fassung die notwendige unmittelbare Anbindung deutlich zum Ausdruck (S. 254). Aber auch die Neufassung sei (im Weg einer einengenden Auslegung!) so zu verstehen, denn sie ergänze lediglich zur „Klarstellung“ den Katalog der beabsichtigten Taten. Ein Wille des Gesetzgebers zu einer darüber hinausgehenden sachlichen Änderung sei nicht ersichtlich.369 – Aus dem reinen Wortlaut hätte 368 Zur Fragwürdigkeit dieser Aussage siehe bereits S. 237. Dieses Wortlautargument hätte der BGH wohl auch in BGHSt 27, 45 herangezogen, wenn er der Gegenmeinung gefolgt wäre. 369 Der Gesetzgeber hat im 6. StrRG 1998 durch Verzicht auf das Merkmal des „Ausnutzens“ die Vorschrift noch weiter gefaßt („in der Absicht handelt, eine andere Straftat zu ermöglichen“). Deshalb sieht BGHSt 45, 211 zu Recht keine Möglichkeit mehr zu einer „einschränkenden Auslegung“, gegen die zudem sowohl die Gesetzgebungsgeschichte als auch die Herabsetzung des Strafrahmens sprechen.

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IV. Entstehungsgeschichte

man auf eine Ausweitung der Norm schließen können, aber zu Recht schaut der Senat genauer hin.

Aus den vorgestellten Problemfällen kann auf eine konservative Haltung der Strafsenate gegenüber der Annahme einer Rechtsänderung geschlossen werden. Auch bei abweichender Textfassung neigt die Rechtsprechung zur Vorsicht gegenüber Umkehrschlüssen und bemüht zur Feststellung des gesetzgeberischen Willens zusätzlich subjektiv-historische Argumente (vgl. BGHSt 35, 6). Spricht der Wortlaut hingegen eindeutig für einen Wandel der Rechtslage (vgl. BGHSt 26, 191; 31, 10), kann ein fehlender Änderungswille des Gesetzgebers nur noch im Weg der Rechtsfortbildung durchgesetzt werden, falls Art. 103 II GG nicht entgegensteht. Im Einzelfall zeigt sich die Rechtsprechung sehr großzügig gegenüber den Gesetzesverfassern, muß zur Wahrung der Kontinuität dann aber eine „gequälte“ Wortauslegung vornehmen (vgl. BGHSt 27, 45). Umgekehrt verlangt der Gesetzgeber der Rechtsprechung einiges ab, wenn er Textänderungen, die Umkehrschlüsse provozieren, lediglich als „Vereinfachung“ ohne Inhaltsänderung verstanden sehen will (vgl. BGHSt 3, 248; 35, 6; 40, 251). Darauf, daß ihm die Rechtsprechung insoweit stets behilflich ist, kann der Gesetzgeber sich in Anbetracht des Damoklesschwerts „Andeutungstheorie“ (oben IV 3) allerdings nicht verlassen. c) Änderung oder Bestätigung der Rechtslage ohne Änderung der einschlägigen Norm? (Fernwirkung systematischer Auslegung) Die Rechtsprechung zieht Änderungen der Normbedeutung auch in Betracht, wenn der Text der fallentscheidenden Vorschrift nicht variiert wurde, der Gesetzgeber seine Position jedoch mittelbar zum Ausdruck bringt. Das kann vor allem durch die Neufassung anderer Vorschriften geschehen, insbesondere wenn diese eine verwandte Konstellation regeln und wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, daß der Gesetzgeber damit auch eine Aussage über die andere (nun in Frage stehende) Norm treffen wollte. Eine solche „Fernwirkung systematischer Auslegung“ kam bereits zur Sprache (oben IV 5 d/„Wandel der Normsituation“). Sie ist nicht unproblematisch, weil unter Umständen entgegengesetzte gesetzgeberische Intentionen aufeinandertreffen und fraglich ist, ob und wie der gesetzgeberische Wille, welcher der unveränderten Norm zugrunde liegt, auf diesem Weg durch einen neuen Willen verdrängt werden kann. In begrenztem Umfang wird man dies mit dem BGH für möglich halten müssen.370 Fall 193 (BGHSt 1, 47 = oben Fall 163): Der Senat führt ein unvollständiges Gesetzeswerk zu Ende, indem er die limitierte Akzessorietät auch auf die §§ 257, 259 StGB (a. F.) überträgt, obwohl der Gesetzgeber 1943 trotz gleicher Sachlage nur den Wortlaut der allgemeinen Vorschriften über die Teilnahme (§§ 48–50 a. F.) änderte. 370

Zur Meinung des BGH siehe insbesondere BGHSt 33, 394 = unten Fall 196.

7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers

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Den wegen der unterschiedlichen Formulierungen naheliegenden Umkehrschluß hält der Senat für unvereinbar mit der Gerechtigkeit und mit der rechtshistorischen Entwicklung der §§ 257 ff. aus der allgemeinen Teilnahmelehre (S. 49). „Es muß [!] daher angenommen werden, daß der Gesetzgeber die entsprechende Änderung der §§ 257, 259 wegen . . . der Neufassung des § 50 . . . für überflüssig hielt“ (S. 49 f.).371 – Mit der zitierten Äußerung versucht der BGH dem Gesetzgeber zu Hilfe zu eilen und seine eigene Begründung als im Einklang mit dem gesetzgeberischen Willen auszugeben. Die Annahme, daß der Gesetzgeber eine Änderung der §§ 257, 259 für „überflüssig“ hielt, beruht freilich auf einer zweifelhaften Fiktion, denn alles deutet auf ein schlichtes Übersehen372 bzw. auf ein unvollständig verwirklichtes Programm hin. Richtig ist die Aussage des BGH insoweit, als daß dem Gesetzgeber die genannte Motivation unterstellt werden muß, wenn der Umkehrschluß vermieden werden soll. Fall 194 (BGHSt 5, 211 = oben Fall 15): Komplizierte Erwägungen zur Feststellung des gesetzgeberischen Willens stellt BGHSt 5, 211 an. § 292 II StGB (a. F.) sah eine Strafschärfung für Jagdwilderei vor und formulierte: „In besonders schweren Fällen, insbesondere wenn die Tat . . . unter Anwendung von Schlingen . . . begangen wird“. Die gleiche Gesetzestechnik lag den Erschwerungsgründen in §§ 263 IV, 266 II StGB a. F. zugrunde, die anders als § 292 II jedoch mit dem 3. StÄG 1953 in unbenannte Strafzumessungsregeln umgewandelt wurden. Während das RG die Regelungen der §§ 263 IV, 266 II i. d. F. bis 1953 als nicht zwingend deutete und damit Ausnahmen für den Einzelfall zuließ, sieht der BGH das für den § 292 II angesichts des seiner Meinung nach eindeutigen und klaren Wortlauts anders (S. 214).373 Unterstützend berufen der Senat und das OLG Braunschweig sich auf die Vorgeschichte zum 3. StÄG: Ein Vorschlag zur Abmilderung der Strafandrohung – bei im übrigen gleicher Gesetzestechnik – wurde in Anbetracht des Unrechtsgehalts der Tat abgelehnt (vgl. a. a. O., S. 212 f.). Diese Vorgeschichte lasse die Auffassung des „heutigen Gesetzgebers“ (!) erkennen, daß der mit Schlingen vorgehende Täter die Mindeststrafe stets verdient (S. 214). – Die historische Auslegung des BGH ist eine nur schwache Stütze des Ergebnisses. Zunächst ist zu kritisieren, daß nur der Wille des „gegenwärtigen“ Gesetzgebers ermittelt wird, der eine Änderung des § 292 II erwog, während die Auffassung der „eigentlichen“ Gesetzesverfasser der unverändert gültigen Norm überhaupt nicht mitgeteilt wird.374 Da aus Anlaß des 3. StÄG zudem nur eine Absenkung des Strafrahmens diskutiert wurde, nicht aber die hier relevante Formulierung, bleibt die Verwertung der dabei gemachten Äußerungen zur Strafwürdigkeit des Täters eine sehr mittelbare Beweisführung. Wie hätte der BGH wohl reagiert, wenn bei der genannten Diskussion zum 3. StÄG die Auffassung geäußert worden wäre, der Strafrahmen könne bestehen bleiben, weil die Rechtsprechung im Einzelfall von einer Strafschärfung absehen könne? 371 Eine fast identische Argumentation bei ähnlicher Problematik taucht noch einmal auf in BGHSt 12, 399 = unten Fall 223. 372 Zur Art des Versehens siehe unten IV 8 e (am Ende). 373 Eine ausführlich begründete Gegenansicht bietet OLG Koblenz JZ 1953, 278. 374 Anders das OLG Koblenz (allerdings vor dem 3. StÄG): Aus der Entstehungsgeschichte des § 292 II StGB sei nichts für den zwingenden Charakter der Norm ersichtlich, JZ 1953, 278 (279). Ebenso Maurach, JZ 1953, 279 (280): Genesis des Gesetzes stehe zumindest nicht entgegen.

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IV. Entstehungsgeschichte

Fall 195 (BGHSt 28, 69): Einen Umkehrschluß, der auf der Änderung einer sachverwandten Norm basiert, zieht BGHSt 28, 69: Die Rechtsprechung hat die in § 410 StPO a. F. angeordnete Rechtskraftwirkung eines Strafbefehls („Ein Strafbefehl, gegen den nicht rechtzeitig Einspruch erhoben worden ist, erlangt die Wirkung eines rechtskräftigen Urteils.“) in dem Sinn eingeschränkt, daß die Tat unter bislang noch nicht gewürdigten und straferhöhenden Umständen nochmals verfolgt werden durfte (Nachweise a. a. O.). Begründet wurde diese mit dem Wortlaut kaum vereinbare Auffassung375 u. a. mit dem lediglich summarischen Charakter des Strafbefehlsverfahrens. Die Gegner dieser seit jeher bekämpften Rechtsprechung sahen sich durch den 1974 (EGStGB) neugestalteten § 153a StPO bestätigt, der sogar bei einer Einstellung des Strafverfahrens nach Erfüllung von Auflagen eine Rechtskraftwirkung vorsieht („kann die Tat nicht mehr als Vergehen verfolgt werden“). Dann könne es aber nicht sein, daß der einem Urteil gleichstehende Strafbefehl eine geringere Rechtskraftwirkung besitzt als eine Verfahrenseinstellung (vgl. a. a. O., S. 70). Der BGH folgt diesem Erst-recht-Schluß nicht, sondern hält an seiner bisherigen Auffassung fest, weil die Gegenmeinung zu Unrecht „Rechtsgrundsätze aus dem Bereich eines Rechtsinstituts in den eines anderen“ übertrage (S. 70).376 Der Gesetzgeber habe weder 1974 noch in der Folgezeit § 410 StPO geändert, obwohl die dazu ergangene Rechtsprechung bekannt gewesen sei. „Es ist deshalb davon auszugehen, daß er die Rechtsprechung zu § 410 StPO nach wie vor billigt.“ Auch aus einer ähnlichen Norm des OWiG könne wegen der dort zu beachtenden Besonderheiten nichts für die Auslegung des § 410 gefolgert werden. – Die historische Argumentation des BGH, die aus der Nichtänderung des Normtextes eine Billigung der tradierten Rechtsprechung folgern will, überzeugt nicht. Es bedürfte näherer Anhaltspunkte dafür, daß die Gesetzesverfasser ihren Blick tatsächlich auch auf § 410 StPO richteten und bewußt auf eine Revision der Vorschrift verzichteten. Viel zu weitreichende Folgerungen zieht der Senat aus der (angeblichen) Kenntnis der Problematik durch die Legislative. Überzeugend führt Achenbach aus: Es bedeute eine Überforderung des „völlig überlasteten Gesetzgebers, wenn man in sein Schweigen mehr hineinliest, als was es bedeutet: daß er nämlich den Zusammenhang zwischen §§ 153a und 410 StPO schlichtweg übersehen hat“.377 Fall 196 (BGHSt 33, 394): § 329 I StPO a. F. ließ die Verwerfung der Berufung zu, wenn (neben weiteren Voraussetzungen) der Angeklagte „bei dem Beginn der Hauptverhandlung“ nicht erschienen ist. Die h. M. hielt die Norm für unanwendbar, 375 Siehe z. B. Kleinknecht, JR 1977, 479; K. Schäfer, in: LR-StPO21, § 410, Anm. 2 (S. 151): An sich unzweideutiger Wortlaut. 376 BVerfGE 65, 377 hat hingegen diese unterschiedliche Behandlung von Strafbefehl und Einstellung (jedenfalls bezüglich Vergehen) als Verstoß gegen Art. 3 I GG bewertet und damit der st. Rechtsprechung des BGH den Boden entzogen. Der Gesetzgeber hat die Norm durch das StÄG 1987 geändert, im entscheidenden Punkt aber nichts anderes bestimmt als die Vorläufernorm (steht „einem rechtskräftigen Urteil gleich“, § 410 III StPO). Unter Einfluß des bundesverfassungsgerichtlichen Urteils sowie einer Neuregelung des § 373a, der seit dem StVÄG 1987 für rechtskräftige Strafbefehle ein erleichtertes Wiederaufnahmeverfahren vorsieht, wird § 410 III StPO nunmehr in einem dem Wortlaut entsprechenden, umfassenden Sinn verstanden, vgl. Meyer-Goßner, StPO, § 411, Rn. 11–12. 377 Achenbach, NJW 1979, 2021 (2022); ähnlich Groth, NJW 1978, 197 (198) mit Nachweisen aus den Quellen zum EGStGB.

7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers

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wenn ein Urteil durch das Revisionsgericht aufgehoben und zur erneuten Verhandlung an das Berufungsgericht zurückverwiesen wurde (vgl. BGHSt 17, 188). Ebenso entschied sie für § 74 II OWiG a. F., der die gleiche Thematik für das Bußgeldverfahren regelte, allerdings als Ermessensnorm formuliert war („kann“ verwerfen).378 Durch das 1. StVRG 1974 hat der Gesetzgeber diese sich nicht direkt aus dem Wortlaut ergebende Interpretation ausdrücklich in § 329 I 2 StPO aufgenommen. Hingegen wurde § 74 II OWiG nicht mit der entsprechenden Ergänzung versehen, sondern nur in einem anderen Punkt geändert.379 Konnte daraus der (historisch-systematische) Gegenschluß gezogen werden, daß § 74 II OWiG anders als § 329 I 2 StPO eine Verwerfung trotz revisionsgerichtlicher Entscheidung noch zuließ? Der BGH bejaht das und hält eine Verwerfung nach Ausübung des Ermessens für möglich. Aus den Materialien lasse sich zwar keine Meinung des Gesetzgebers zu dieser Frage erkennen (S. 397). „Dieses Schweigen läßt jedoch nicht den Schluß zu, die Frage sei unentschieden geblieben. Auch ohne Änderung des Gesetzeswortlauts kann der Gesetzgeber über eine bestimmte, rechtlich zu regelnde Frage eine Entscheidung treffen; das kann bei Änderung einzelner Vorschriften eines Gesetzes der Fall sein, wenn sich sein Betätigungswille auch hinsichtlich im Wortlaut unverändert gebliebener Paragraphen aus dem engen sachlichen Zusammenhang zwischen unveränderten und geänderten Normen objektiv erschließen läßt, so wenn ein begrenztes und überschaubares Rechtsgebiet durchgreifend geändert wird und veränderte und unveränderte Normen eng miteinander zusammenhängen . . .“. (S. 397) Die objektiv-systematische Folgerung des BGH überzeugt. Der Sachzusammenhang zwischen § 74 II OWiG und § 329 I StPO sowie die Tatsache, daß beide Normen durch das gleiche Gesetz (1. StVRG) geändert wurden, spricht stark für einen bewußten Verzicht des Gesetzgebers, beide verfahrensrechtliche Normen inhaltlich identisch zu gestalten.380 Im Ergebnis bedeutet das für § 74 II OWiG (a. F.) eine veränderte Interpretation auf Basis eines (im hier relevanten Bereich) unveränderten Gesetzestextes!381 Anders als im vorhergehenden Fall (BGHSt 28, 69) existieren somit Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber auch eine Aussage zur sachverwandten, aber unveränderten Vorschrift treffen wollte.

Als weitere interessante Entscheidungen zu diesem Fragenkreis sind zu nennen: BGHSt 2, 393 sieht in der Umgestaltung des Erpressungstatbestandes 1943 durch den Gesetzgeber eine Bestätigung der h. M. zur Frage, ob zur Abgrenzung von Verbrechen und Vergehen (§ 1 StGB a. F.) eine abstrakte Betrachtungsweise (Höhe der Strafdrohung) oder eine konkrete (die tatsächlich verhängte Strafe) gelten soll. Dies 378 Siehe OLG Hamm MDR 1974, 599; eine dahingehende Entscheidung des BGH ist allerdings nicht ersichtlich. 379 Die Norm sieht erst seit 1998 eine zwingende Verwerfung vor, allerdings auf Grundlage anderer Voraussetzungen. 380 Vom zuständigen Referenten wird diese Deutung bestätigt, siehe Göhler, NStZ 1986, 18 (21). Fezer, JR 1987, 84 (85) stimmt der Folgerung des BGH zu, befürwortet allerdings die Korrektur des § 74 II OWiG (a. F.) im Sinn des § 329 I 2 StPO. 381 Dagegen wird man nicht sagen können, der ursprüngliche gesetzgeberische Wille sei durch einen neuen ausgetauscht worden, denn was die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers zur vorliegenden Frage war, wird nicht erörtert.

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IV. Entstehungsgeschichte

könne aus dem Verzicht, die Versuchsstrafbarkeit ausdrücklich anzuordnen, hergeleitet werden. – Die Ansicht der h. M. zu § 1 StGB a. F. entsprach freilich schon zuvor der Meinung des historischen Gesetzgebers zu dieser Vorschrift, so daß die Umgestaltung des § 253 lediglich einen „objektiven“ Anhaltspunkt dafür gab, daß der Gesetzgeber nach wie vor von dieser Meinung ausging. — BGHSt GS 19, 7 (oben Fall 167 – „Einziehungsinteressent“) versucht, Umkehrschlüsse aus der „Nichtregelung“ einer Problematik zu vermeiden, die gegen eine Analogie sprechen könnten: Das Gesetz von 1950 habe nur den alten Rechtszustand wiederhergestellt, und auch der Entwurf eines StPO-Änderungsgesetzes enthalte nur besonders dringliche Teilverbesserungen (S. 13 f.). — BGHSt 21, 4 betrachtet die naheliegende, aber nicht wahrgenommene Gelegenheit zur Normänderung als Bestätigung des status quo. Trotz „beachtlicher“ Einwände hält der Senat an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, welche die rechtzeitige Absetzung der Urteilsgründe gemäß § 275 StPO (a. F.) als nicht revisible Ordnungsvorschrift einstufte.382 Der Gesetzgeber habe die StPO – darunter eine Fristbestimmung zur Einlegung der Revision – erst 1964 geändert, nicht aber § 275 StPO, „obwohl ihm die Rechtsprechung hierzu und die sich daran anknüpfende Kritik bekannt sein mußten“ (S. 8).383 „Eine Änderung . . . erschien ihm also nicht vordringlich.“ — Eine solche Schlußfolgerung möchte Rengier bezüglich der Entscheidung BGHSt 28, 100 (inneres Organ als „wichtiges Glied“?, siehe oben Fall 70) vermieden wissen: Der Gesetzgeber des 6. StrRG 1998 habe die Norm (§ 224 I StGB a. F./§ 226 I Nr. 2 n. F.) zwar in anderer Hinsicht, aber nicht in diesem Punkt verändert; daraus folge aber nicht, daß er die unzutreffende Ansicht von BGHSt 28, 100 stillschweigend billige.384 Wenn es dafür tatsächlich keine Anhaltspunkte gibt, ist Rengier zuzustimmen. Aber wie wäre es bei einer dahingehenden und mit dem Wortlaut zu vereinbarenden Äußerung in den Materialien?385 Müßte man dann nicht, zumindest als Vertreter einer subjektiven Auslegungstheorie, annehmen, daß der „neue“ Wille des Gesetzgebers den der ursprünglichen Norm zugrundeliegenden Willen verdrängt? Mit einem Hinweis darauf, daß der Gesetzgeber die Norm ja in seinem Sinn hätte klarstellen können, würde man es sich jedenfalls zu leicht machen. — BGHSt GS 40, 138 („fortgesetzte Handlung“): Stand der „Abschaffung“ des Instituts der fortgesetzten Handlung womöglich ihre Anerkennung durch den Gesetzgeber entgegen?386 Der Große Senat verneint das: Die fortgesetzte Handlung habe nie eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage erhalten; der Reformgesetzgeber habe sie nur unausgesprochen berücksichtigt (S. 146). In § 112a StPO sei sie vom Gesetzgeber nur erwähnt worden, um in diesem Fall ihre Rechtswirkungen gerade nicht eintreten zu lassen (S. 147).387

Im Ergebnis ist gegenüber der Möglichkeit, bei unverändertem Wortlaut aus sonstigen Handlungen oder Äußerungen des Gesetzgebers mittelbar auf einen 382

Anders §§ 275 I 2, 338 Nr. 7 StPO seit dem 1. StVRG 1974. Ähnlich argumentiert BGHSt 36, 270 (274) gegen die Annahme eines Analogieschlusses: Der Gesetzgeber habe in Kenntnis der Problematik von einer Regelung abgesehen. 384 Rengier, in: Festgabe 50 Jahre BGH, Bd. IV, S. 472. 385 BGHSt 28, 100 hält die Subsumtion ja bereits für unvereinbar mit dem Wortlaut, so daß sich die Frage nicht mehr stellt (näher oben Fall 70). 386 Strukturell kommt es nicht darauf an, daß es hier um die Bestätigung eines gewohnheitsrechtlichen Instituts oder sogar nur einer st. Rechtsprechung geht. 383

7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers

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veränderten Norminhalt zu schließen, Zurückhaltung angebracht. Besonders bedenklich ist die Konstruktion einer „stillschweigenden Billigung“ der Rechtspraxis388, vor allem wenn diese aus einer Untätigkeit des Gesetzgebers oder aus beiläufigen Äußerungen in anderweitigen Gesetzgebungsverfahren (z. B. BGHSt 5, 211) hergeleitet werden soll. Ob die Legislative tatsächlich eine Kontroverse ins Auge gefaßt und „in Kenntnis“ darüber entschieden hat, bedarf vielmehr näherer Anhaltspunkte. Gerade das Kriterium der „Kenntnis“ ist problematisch, weil es beliebig dehnbare Unterstellungen erlaubt: Eine marginale Textänderung enthält z. B. keine Entscheidung über andere Streitpunkte der Norm i. S. der bisherigen Rechtsprechung (vgl. die vorbeugende Argumentation von Rengier zu BGHSt 28, 100; siehe außerdem BGHSt 21, 4 und unten IV 7 g). Im übrigen kann der Gesetzgeber die Norminterpretation der Judikative auch für unbefriedigend halten, nur gegenwärtig keinen Handlungsbedarf sehen. Wann Anhaltspunkte für eine relevante gesetzgeberische Äußerung auch ohne Änderung des entscheidenden Normtextes vorliegen können, hat BGHSt 33, 394 treffend formuliert und konkret überzeugend dargelegt. Zu weitreichende Schlüsse zieht hingegen in einer ähnlichen Konstellation BGHSt 28, 69, und BGHSt 1, 47 überzeugt noch weniger: ein Versehen des Gesetzgebers wird umgedeutet zu dessen bewußter Entscheidung, auf eine Änderung der Norm verzichten zu dürfen. d) Folgerungen aus der lex ferenda Eine ähnliche Ausgangslage wie bei der Berücksichtigung von Gesetzesentwürfen ergibt sich, wenn die Rechtsprechung bereits in Kraft gesetztes, aber im konkreten Fall noch nicht anwendbares Recht zur Auslegung heranzieht. Die Problematik stellt sich hier verschärft, denn während gegenüber den Entwürfen und Gesetzesinitiativen noch die Ungewißheit besteht, ob sie überhaupt zu geltendem Recht werden, liegt es beim bereits gültigen, aber auf Altfälle noch nicht anwendbaren Recht389 anders. Dieser Unterschied ist jedoch nur gradueller Natur. Das zukünftige Recht läßt keine Schlußfolgerungen auf den Anwendungsbereich des (noch) geltenden Rechts zu, sondern gibt nur Hinweise darauf, wie der Gesetzgeber die Problematik für künftige Fälle gelöst sehen will. Daß in der neuen Regelung eine Klarstellung einer bisher unklaren Situation oder eine Umgestaltung der Rechtslage zum Ausdruck kommt, ist für die Interpretation nicht relevant. Insofern spielt es auch keine Rolle, ob historisch-systematische Schlußfolgerungen aus geänderten Textfassungen noch durch Äußerungen der Gesetzesverfasser bestätigt werden („auch als Klarstellung gemeint“).390 387 BVerfG NStZ 1991, 383 zieht § 112a StPO allerdings immerhin als Argument dafür heran, daß die Anerkennung der fortgesetzten Handlung mit dem (damals) geltenden Recht harmoniert. Vgl. zu diesem Aspekt Keppler, NJ 1994, 530. 388 Grundsätzlich krit. auch Achenbach, NJW 1979, 2021 (2022). 389 Insofern paßt die Bezeichnung „lex ferenda“ nicht ganz genau.

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IV. Entstehungsgeschichte

Anders lag es oben in Fallgruppe (b). Dort waren entsprechende Schlußfolgerungen legitim, weil sich aus einem Vergleich mit dem früheren Recht Anhaltspunkte zur Ermittlung des gesetzgeberischen Willens ergeben können, welcher der jetzt fallrelevanten Norm zugrunde lag. Hier hingegen kommen Urteile zur Sprache, in denen es quasi in umgekehrter Wirkungsrichtung um den Einfluß erst zukünftig relevanter Umstände auf einen bereits abgeschlossenen Vorgang geht. Fall 197 (BGHSt 17, 399) zeigt die begrenzten Möglichkeiten von Umkehrschlüssen. Das Kraftfahrzeugsteuerrecht enthielt eine eigene Definition des Ausdrucks „Anhänger“, die jedoch 1958 gestrichen wurde. Seit 1961 wurde insoweit explizit auf die (allgemeinen) verkehrsrechtlichen Vorschriften verwiesen. Was aber galt für die Übergangszeit? Der BGH bringt eine Reihe von Argumenten dafür vor, daß mit der Streichung der Definition im spezielleren Steuerrecht die allgemeine Definition des Straßenverkehrsrechts gelten sollte (S. 403). Aus der Klarstellung dieser Rechtslage 1961 könne jedenfalls nicht, wie es offenbar ein OLG tat, (im Umkehrschluß) gefolgert werden, daß für die Zeit von 1958–1961 etwas anderes gelten muß. „Nicht selten schließt sich der Gesetzgeber den in der höchstrichterlichen Rechtsprechung gefundenen Ergebnissen an“ (S. 404). – Dem BGH ist zuzustimmen: Die „Klarstellung“ einer schwierigen Rechtslage durch den Gesetzesgeber bedeutet nicht, daß für die vorhergehende Situation das Gegenteil gelten muß! Fall 198 (BGHSt 43, 366, siehe oben III 7 g bb, Nr. 20): Die Verschaffung pornographischer Lichtbilder, die den sexuellen Mißbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, wurde gemäß § 184 V StGB i. d. F. des 27. StÄG 1993 nur bestraft, wenn sie ein „tatsächliches Geschehen“ wiedergeben. Die Gesetzesverfasser des 27. StÄG lehnten eine Streichung dieses Erfordernisses u. a. mit der Begründung ab, daß durch die Norm auch Geschehen erfaßt würden, die wie ein sexueller Mißbrauch von Kindern aussehen.391 Erst 1997 wurde die Norm um das „wirklichkeitsnahe Geschehen“ ergänzt.392 Der BGH hält es in Anbetracht des Wortlauts nicht für möglich, „Scheinwirklichkeiten“ bereits nach dem alten Normtext zu erfassen, und sieht sich durch die im vorliegenden Fall noch nicht greifende Ergänzung durch das Gesetz von 1997 in dieser Meinung „bestätigt“. – Da bereits der eindeutige Wortlaut der Subsumtion entgegenstand, kam es auf die weiteren Umstände eigentlich nicht mehr an. Konsequent geht der BGH deshalb auf den Motivirrtum der Gesetzesverfasser nicht näher ein. Aber umgekehrt folgt auch nichts (kein Gegenschluß!) aus der zukünftig geltenden Gesetzesfassung, so daß die „Bestätigung“ mit Vorsicht zu genießen ist und nicht konstitutiv verstanden werden kann. Daß der Senat so verfährt, mag psychologische Ursachen haben: Die (notwendige) Abweichung vom Willen des historischen Gesetzgebers wird durch die Harmonie mit der künftig greifenden Rechtslage ein wenig kompensiert.

390 Zu (unmaßgeblichen) nachträglichen Äußerungen des Gesetzgebers über die Reichweite bereits erlassener Vorschriften siehe schon oben IV 4 e. 391 Vgl. die Wiedergabe bei Tröndle, StGB48, § 184, Rn. 41a. 392 Durch Gesetz vom 22.7.1997 (BGBl. I, S. 1870). Vgl. heute nach dem Änderungsgesetz vom 27.12.2003 (BGBl. I, S. 3007) § 184b StGB.

7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers

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Fall 199 (BGHSt 43, 370 – „Amtsträger“): Der Senat weist darauf hin, daß die lex ferenda (Korruptionsbekämpfungsgesetz 1997) das Problem ebenso löse wie er und eine Klarstellung enthalte; laut Begründung zum Regierungsentwurf sei die Gesetzesänderung auch nur als Klarstellung des bereits geltenden Rechts zu verstehen (S. 377). – Der Senat möchte den naheliegenden Umkehrschluß aus der abweichenden Formulierung durch das Heranziehen der Entwurfsbegründung vermeiden, obwohl das zukünftige Recht solche Schlußfolgerungen ohnehin nicht zuläßt. Fall 200 (BGH JR 2000, 475): Das Regelbeispiel des § 177 III 2 Nr. 1 StGB i. d. F. des 33. StÄG 1997 setzte voraus, daß „der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt“. Fiel auch der Oralverkehr darunter, den das Opfer am Täter ausführen mußte? Der BGH verneint und verweist auf die Formulierungen des geltenden wie des früheren Sexualstrafrechts, die sämtlich zwischen Handlungen des Täters am Opfer und solchen des Opfers am Täter explizit unterschieden (S. 476, l. Sp.). Das für den vorliegenden Fall noch nicht geltende 6. StrRG 1998 enthalte zwar wieder beide Formulierungen, jedoch handele es sich dabei nicht – wie der Rechtsausschuß meine – um eine „Klarstellung“ der bisherigen Rechtslage. Vielmehr sei die Fassung des 33. StÄG lückenhaft. – Der BGH weist zu Recht Äußerungen des „neuen“ Gesetzgebers über den Inhalt der früheren Regelung als irrelevant zurück.393

Unzutreffend mit dem zukünftig geltenden Recht argumentiert jedoch folgende Entscheidung: Fall 201 (BGHSt 47, 89): § 21 StVG stellt das Fahren ohne die erforderliche Erlaubnis unter Strafe. Wer den Führerschein (als Nachweis über die Fahrerlaubnis) lediglich nicht bei sich führt, begeht nur eine Ordnungswidrigkeit. Für Inhaber einer ausländischen Fahrerlaubnis bestimmte § 4 I 1 c) IntVO i. d. F. bis 1998394, daß Fahrzeugführer, die eine gültige „ausländische Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen (Fahrausweis) nachweisen“, im Umfang „der dadurch nachgewiesenen Berechtigung“ Fahrzeuge in Deutschland führen dürfen. Nach Ansicht des BGH ist das „Nachweisen“ nicht wörtlich zu verstehen, weil andernfalls eine Benachteiligung gegenüber Inhabern einer inländischen Fahrerlaubnis eintreten würde (S. 96). Zudem wären einige Bußgeldvorschriften in der IntVO (a. F.) „sinnlos“, wenn bereits das Nichtmitführen des Führerscheins als Straftat gelten würde (S. 97). Ohnehin sei der Wortlaut des § 4 nicht präzise gefaßt, wie die Gleichstellung von Fahrerlaubnis und Fahrausweis zeige (S. 96). „Die fehlende Tragfähigkeit des Wortlautarguments wird sodann auch durch die neue Fassung der Vorschrift, mit der eine inhaltliche Änderung nicht beabsichtigt war . . ., belegt“ (S. 96). Dort werde nunmehr wie bei der inländischen Fahrerlaubnis differenziert (S. 97). „Da mit der Neufassung . . . keine inhaltliche Änderung beabsichtigt war, erweist sich der Schluß von dem Wortlaut des § 4 IntVO a. F. darauf, daß Inhaber einer ausländischen Fahrerlaubnis bei Scheitern ihres Nachweises – anders als Inhaber einer deutschen Fahrerlaubnis – strafbar sind, als nicht tragfähig“ (S. 97).

393 Zustimmend Kudlich, JR 2000, 476 (477, l. Sp.): Äußerungen in einem späteren Gesetzgebungsverfahren seien allenfalls von „indizieller Bedeutung“. 394 Siehe BGBl. I 1982, S. 1533 (1536 f.).

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IV. Entstehungsgeschichte

Die Neufassung des Gesetzes und die dafür gegebene Begründung können, wie BGH JR 2000, 475 gezeigt hat und von BGHSt 47, 89 übersehen wird, keinen Einfluß auf die Auslegung des früheren Rechts gewinnen, weder im Weg des Umkehrschlusses aus der geänderten Gesetzesfassung noch im Weg der Klarstellung aus dem subjektiven Willen der Gesetzesverfasser („auch nur als Klarstellung gemeint“). Möglich ist die Berücksichtigung des neuen Rechts nur, wenn das noch gültige eine dahingehende Auslegung zuläßt. Zur Feststellung dessen darf jedoch nicht seinerseits auf das neue Recht zurückgegriffen werden; die Auslegungsfaktoren sind insoweit vergangenheitsbezogen395. e) Folgerungen aus der Übernahme/Wiedereinführung von (ähnlichen) Vorschriften Interessante Probleme der historischen Auslegung ergeben sich, wenn der Gesetzgeber bereits aufgehobene Regelungen (ganz oder teilweise) wiedereinführt oder Normen eines früheren Gesetzgebers übernimmt. BGHSt 1, 175 verlangt nähere Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber sich mit der Wiedereinführung einer Bestimmung auch die Begründung zur (wortgleichen) Vorgängernorm zu eigen macht; dafür sei im konkreten Fall nichts ersichtlich (S. 179).396 Solche Anhaltspunkte kann BGHSt 30, 98 finden und zieht daraus noch weitergehende Folgerungen: Der Gesetzgeber habe bei Einführung der Vorschrift zur Rechtsmitteleinschränkung im Jugendstrafverfahren (§ 55 JGG) ausdrücklich auf ein durch Notverordnung 1932 eingeführtes gesetzliches Vorbild zurückgegriffen (S. 102). Deshalb sei davon auszugehen, „daß er sie auch so einführen wollte, wie sie in der Praxis gehandhabt worden war“ (S. 103).397 Der subjektive Wille des Gesetzgebers soll also nicht nur die Vorstellungen „seines“ Vorgängers, sondern auch die darauf aufbauende Rechtspraxis vereinnahmen. Eine solche Fiktion ist jedoch kaum haltbar. Sie hätte zur Konsequenz, daß die Übernahme oder Überarbeitung einer Regelung zugleich die herrschende Deutung zu allen strittigen Einzelfragen zementieren würde. Jede Abweichung von der früheren Rechtsprechung – schon für sich gesehen problematisch genug – würde damit zwangsläufig in Widerspruch zum Willen des historischen Gesetzgebers geraten. Die Übernahme oder Wiedereinführung einer Regelung durch den Gesetzgeber impliziert nicht, daß der Gesetzgeber die mit der Norm verbundenen Probleme geprüft und die bislang herrschende Ansicht (der Rechtsprechung) 395

Bzw. gegenwartsbezogen, wenn die Berücksichtigung von Entwürfen im Raum

steht. 396 Siehe auch BGHSt GS 1, 158 (162): Es fehle „an einem sicheren Anhalt“ dafür, daß der Gesetzgeber des StGB die Vorstellungen des preußischen Gesetzgebers geteilt haben soll. 397 Gleiche Argumentation bei RGSt 69, 289 (294), die jedoch von BGHSt 8, 294 (298) mit der „Andeutungstheorie“ beiseite geschoben wird (siehe oben Fall 125).

7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers

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dazu für richtig befunden hat. Wie auch sonst ist maßgeblich, ob der Entstehungsgeschichte Anhaltspunkte für das konkret vorliegende Auslegungsproblem entnommen werden können. Nimmt der Gesetzgeber in den Materialien etwa zustimmend Bezug auf eine bestimmte Interpretation, wird man dies im Sinn einer (gemäßigt) subjektiven Auslegungslehre durchaus als maßgebend ansehen können. Daß die Übernahme einer früheren Regelung nicht zwangsläufig die Übernahme eines früheren Rechtszustands bedeutet, zeigt der BGH in folgender, freilich nicht überzeugend begründeter Entscheidung: Fall 202 (BGHSt 23, 64): Konnte das aufgrund einer Amnestie eingestellte Strafverfahren als selbständiges („objektives“) Einziehungsverfahren fortgeführt werden? Das StraffreiheitsG 1949 enthielt hierzu keine Regelung, so daß trotz prozeßökonomischer Nachteile die ganz h. M. von der Unzulässigkeit der Fortführung ausging (vgl. a. a. O., S. 66). Dagegen sah das StraffreiheitsG 1954 „im Interesse der Vereinfachung und Kostenersparnis“ eine ausdrückliche Regelung vor (vgl. a. a. O.), während im Gesetz 1968 merkwürdigerweise wiederum eine Regelung fehlte. Aber, so der BGH: „Es kann nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber zu dem früheren unbefriedigenden Zustand zurückkehren wollte.“ Wegen der ausdrücklichen Regelung im Gesetz von 1954 und mangels gegenteiliger Bekundungen in den Materialien zum Gesetz von 1968 sei von einem „allgemeinen Grundsatz“ auszugehen, daß die Verfahren zu diesem Zweck fortgeführt werden dürfen (S. 67). – Wieder einmal springt der Senat dem Gesetzgeber zur Seite, allerdings mit einer zweifelhaften Argumentation. Die ausdrückliche Regelung von 1954 spricht doch gerade für einen Gegenschluß und daß aus den Gesetzesmaterialien nichts Gegenteiliges folgt, ist angesichts der ja fehlenden Regelung nicht weiterführend. Auch die generelle Unterstellung, der Gesetzgeber wolle nicht zu einem unbefriedigenden Zustand zurückkehren, besagt nichts, sondern ist allenfalls als Einfallstor einer objektiven Gesetzesauslegung zu verstehen: Kein Gesetzgeber will „Unvernünftiges“. Unklar bleibt schließlich, auf welchem methodischen Weg der „allgemeine Rechtsgrundsatz“ gewonnen wird. Eine Rechtsfortbildung wäre insoweit denkbar, bleibt im Urteil aber unerörtert.

Anders liegt es in folgendem Beispiel, in dem es der Gesetzgeber – offenbar im Vertrauen auf eine subjektiv-historische Auslegung – versäumte, ein alte Unklarheit zu bereinigen: Fall 203 (BGHSt 30, 328): Die Rechtsprechung hat § 128 StGB a. F. (Geheimbündelei) und § 129 StGB (Bildung krimineller Vereinigungen) einschränkend dahingehend interpretiert, daß die Vereinigung wenigstens eine Teilorganisation im Geltungsbereich des GG haben muß. Auch den 1976 eingefügten Qualifikationstatbestand § 129a interpretiert der BGH in diesem Sinn. Bei den Gesetzesberatungen sei man von diesem eingegrenzten Bereich ausgegangen (S. 329). Daß der Wortlaut (wiederum) eine derartige Einschränkung nicht enthält, lasse angesichts der Entstehungsgeschichte keinen Gegenschluß zu, denn nach der einengenden Auslegung der §§ 128 a. F., 129 habe für den Gesetzgeber kein Anlaß zu abweichender Formulierung bestanden (S. 330 f.). – Ein Gegenschluß war hier in der Tat weder bei objektiv- noch bei subjektiv-historischer Betrachtung veranlaßt. Zur Klarstellung der strit-

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IV. Entstehungsgeschichte

tigen Situation war der Gesetzgeber aber in jedem Fall aufgerufen!398 Das zeigt u. a. die Anmerkung von Rudolphi, der den „objektiven Sinn und Zweck“ der Norm anders bestimmt als der BGH und den entgegengesetzten Willen des Gesetzgebers an der Andeutungstheorie scheitern läßt.399 Eine ähnliche Situation ergab sich in BGHSt 2, 29: Der Gesetzgeber kehrte nach zwischenzeitlich klarer Gesetzesfassung zur ursprünglichen, aber problematischen zurück. Der BGH berücksichtigt den fehlenden Änderungswillen des Gesetzgebers und knüpft – ungeachtet eines „objektiv“ vertretbaren Umkehrschlusses – an seine Rechtsprechung zur früheren Norm an (näher oben Fall 187).

f) Folgerungen aus der Streichung von Vorschriften Logisch-systematische Schlußfolgerungen werden weiterhin durch die Streichung gesetzlicher Vorschriften provoziert: Folgt daraus, daß der Anwendungsbereich der gestrichenen Norm von einer allgemeineren Vorschrift erfaßt werden soll oder daß (im Gegenschluß) das ursprünglich erfaßte Verhalten nunmehr straflos sein soll? Denkbar ist auch, daß der Gesetzgeber mit der Abschaffung einer Norm den vorhergehenden Rechtszustand wiederherstellen will. Wie häufig gibt unter Umständen erst eine subjektiv-historische Auslegung Aufschluß über die Motive des Gesetzgebers. Mit der Streichung einer Regelung und der Anschlußfrage, was dann gelten soll, befassen sich zunächst BGHSt 3, 241 und 5, 295. BGHSt 3, 241 äußert sich ablehnend zur Ansicht eines OLG, den Anwendungsbereich einer 1943 gestrichenen Vorschrift (§ 339 StGB a. F.) im Weg der „Auslegung“ auf eine andere Norm (§ 132 StGB) zu übertragen: „Schon ganz allgemein ist es untunlich, nach Wegfall einer strafrechtlichen Bestimmung ihren bisherigen Anwendungsbereich im Wege richterlicher ,Auslegung‘ einer anderen Vorschrift zuzuweisen“ (BGHSt 3, 241 [245]). Zudem könne § 132 StGB aufgrund seiner Stellung im Gesetz gar nicht in diesem Sinn verstanden werden.

Gegen die letzte Erwägung ist nichts zu erinnern, denn wenn § 132 StGB den Transfer des Anwendungsbereichs von vornherein nicht ermöglichte, stellt sich die allgemeine Frage eigentlich nicht mehr. Der gleichwohl vom BGH aufgestellten Regel wird man allerdings nicht zustimmen können. Denn als Grund des Wegfalls einer Bestimmung ist nicht nur eine Entkriminalisierung, sondern auch die bloße Straffung oder Vereinfachung der Kodifikation denkbar. BGHSt 5, 295 sieht nach Streichung einer Spezialregelung – ebenfalls durch das Gesetz von 1943! – deren Anwendungsbereich als durch die allgemeinere Norm erfaßt an. Mit der Aufhebung der Vorschrift zur „Blankettfälschung“ habe der Gesetz-

398 Dann müßte er allerdings alle sachverwandten Regelungen klarstellen, um unbeabsichtigte objektiv-historisch Gegenschlüsse zu vermeiden (vgl. unten IV 7 h). 399 Rudolphi, NStZ 1982, 198 (199 f.).

7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers

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geber dieses Verhalten nicht für straflos erklären wollen, sondern sei von der Strafbarkeit gemäß § 267 StGB (Urkundenfälschung) ausgegangen (S. 296).

Mit der Streichung von Vorschriften durch den alliierten Kontrollrat beschäftigen sich zwei methodisch wie zeitgeschichtlich interessante Entscheidungen, zum einen zur Problematik der Bestimmungsmensur (BGHSt 4, 24), zum anderen zur Frage, wie die freiwillige Sterilisation strafrechtlich zu behandeln ist (BGHSt 20, 81). Fall 204 (BGHSt 4, 24 – „Bestimmungsmensur“): Das RG hat das Schlagen von Mensuren auch bei Einhaltung von Schutzmaßnahmen als „Zweikampf mit tödlichen Waffen“ (§§ 201/205 StGB a. F.) eingestuft, im Widerspruch zur einhelligen Auffassung in der Wissenschaft und zur Praxis der Untergerichte, die auf die konkrete Verwendung der Schläger abstellten.400 1933 erklärte der Gesetzgeber die Schlägermensur ausdrücklich für straffrei, § 210a StGB a. F. Die Vorschrift wurde jedoch vom Kontrollrat 1946 wieder aufgehoben, woraus der Oberbundesanwalt schließt, daß die Schlägermensur wieder strafbar sein soll (vgl. a. a. O., S. 29). Der BGH folgt dem nur im Ausgangspunkt: „Wenn der frühere Wortlaut des Gesetzes wiederhergestellt wird, so kann das nur dahin verstanden werden, daß auch der frühere Rechtszustand wiederhergestellt werden soll. Dieser Rechtszustand war so beschaffen, daß das Reichsgericht in einigen wenigen Fällen die Bestrafung durchgesetzt hatte, während im übrigen Zehntausende von Mensuren straffrei geblieben waren“ (S. 29 f.). Die darin liegende Ungewißheit habe der Kontrollrat nicht beseitigt, sondern sich lediglich von § 210a distanziert (S. 30). Es sei „durchaus denkbar, daß er die Entscheidung den Gerichten überlassen wollte“.401 Da der Gesetzgeber selbst die Vorschriften über den Zweikampf (implizit) als obsolet angesehen habe, könne die Bestimmungsmensur nicht nach diesen bestraft werden. Hinsichtlich des nach Ansicht des BGH dann allerdings anwendbaren § 223a StGB a. F. (gefährliche Körperverletzung) kam es auf die interessante Frage an, ob die Tat trotz Einwilligung als sittenwidrig zu bewerten war (§ 226a a. F. = § 228 n. F.).402 Da in der Beurteilung der Bestimmungsmensur keine Einigkeit bestehe, könne sie nicht als sittenwidrig angesehen werden (S. 32). – Fraglich ist, ob der Maßnahme des Kontrollrats der Wille zugrunde liegt, die Bestimmungsmensur (wieder) unter Strafe zu stellen oder sogar ganz konkret die Auslegung „Schläger = tödliche Waffe“ zu sanktionieren. Dann würde ein Abweichen von der Rechtsprechung des RG nicht nur einen Recht400

Siehe z. B. Schönke/Schröder, StGB8, vor § 201, Anm. II, S. 732 mit Nachwei-

sen. 401 Eb. Schmidt hält nichts für so unwahrscheinlich wie diese Annahme (JZ 1954, 370; vgl. zur methodischen Haltung Eb. Schmidts auch oben Kap. II, Fn. 101); ebenso Zimmermann, NJW 1954, 1628 (1630, r. Sp.): kühn und gewagt. Auch Hartung, der im Ergebnis dem BGH folgt, hält es für wahrscheinlich, daß die Gesetzesverfasser „geglaubt haben“, die Strafbarkeit wiederherzustellen (NJW 1954, 1225 [1226]). 402 Auf die eigentliche Pointe der Problematik weist deshalb Hartung (NJW 1954, 1225 [1226, l. Sp.]) in Erwiderung auf Eb. Schmidt hin: Das RG habe den eigentlich fernliegenden § 205 a. F. gerade deshalb angewandt, um die ungünstigeren Folgen des § 223a zu vermeiden. Denn erst der ebenfalls 1933 eingeführte § 226a habe zuverlässig die Möglichkeit der rechtfertigenden Einwilligung bei § 223a eröffnet. Da der Kontrollrat jedoch nur § 210a, nicht aber § 226a aufhob, sei der Grund für die „gekünstelte“ Auslegung des § 205 durch das RG entfallen!

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IV. Entstehungsgeschichte

sprechungswandel darstellen, sondern eine Mißachtung des historischen Willens des Gesetzgebers.403 Andererseits steht mit Sicherheit nur fest, daß der Kontrollrat die explizite Billigung dieses Verhaltens durch § 210a StGB a. F. ablehnte.404 Kurios ist, daß der BGH bei der Ermittlung des früheren Rechtszustands nicht die Meinung des RG als entscheidend ansieht, sondern die Praxis der Untergerichte sowie die Ansicht der Wissenschaft heranzieht. Vereinfacht sagt der Senat, der „frühere Rechtszustand“ war nicht gesichert, so daß eine Rückkehr des Kontrollrats zur früheren Rechtslage nur eine Übernahme dieses ungesicherten Zustandes bedeuten kann; die Wiederaufnahme der Streitfrage und ein Rechtsprechungswandel sind damit nicht ausgeschlossen. Daß diese Argumentation mit ihrer Prämisse, wonach die Wiedereinführung des Wortlauts die Wiederherstellung des früheren Rechtszustands bedeutet, vereinbar ist, darf man bezweifeln. Der BGH hat große Mühe, sein Ergebnis zu rechtfertigen.

Noch größeres Kopfzerbrechen bereitete dem BGH eine weitere Gesetzesaufhebung durch das Kontrollratsgesetz Nr. 11 (1946). Wegen der Komplexität der Rechtslage kann die Problematik hier nur angedeutet werden: Fall 205 (BGHSt 20, 81 – „freiwillige Sterilisation“): Vor 1933 gab es im StGB keine Spezialregelung zur Sterilisation. Einer Einwilligung in die Körperverletzung kam nach h. M. nur dann rechtfertigende Kraft zu, wenn besondere Gründe (z. B. Gesundheitsgefahr für die Mutter; streitig bei eugenischen Gründen) für die Maßnahme vorlagen. Der 1933 eingeführte § 226a StGB (§ 228 g. F.) klärte die Situation teilweise. Danach rechtfertigt eine Einwilligung, wenn die Körperverletzung nicht gegen die „guten Sitten“ verstößt. Im selben Jahr führte der Gesetzgeber allerdings mit dem „Sterilisationsgesetz“ eine Spezialregelung ein, aus der sich ergab, daß eine freiwillige Sterilisation ohne zusätzliche Gründe unerlaubt war. 1943 folgte eine besondere Strafbestimmung für genau diesen Fall (§ 226b a. F.), mit der nach Ansicht des BGH die übrigen Körperverletzungstatbestände, insbesondere der mit höherer Strafdrohung belegte § 225 (a. F.) verdrängt wurden (S. 82 f.).405 Der Kontrollrat hob § 226b als typisch nationalsozialistisches Gesetz, das dem Schutz der „Volkskraft“ dienen sollte, auf. Dem BGH erscheint die damit verbundene Rückkehr zur früheren Rechtslage jedoch als untragbar, weil – von seiner Prämisse aus – dadurch wiederum der schärfere § 225 (a. F.) zur Anwendung gelangen könnte (S. 85). Um diese Folge zu umgehen, zieht der BGH eine Regelung aus dem Kontrollratsgesetz Nr. 11 heran (Art. IV), wonach die Aufhebung nicht die früheren Gesetze wieder in Kraft setzt, „die durch die hierdurch aufgehobenen Vorschriften . . . aufgehoben worden sind“. Da nach Ansicht des BGH durch § 226b die übrigen Körperverletzungstatbestände, soweit es die freiwillige Sterilisation betraf, „ihrer Geltung 403 Angesichts der von Hartung (wie Fn. zuvor) geschilderten Umstände, kann man allerdings sagen, der Wille des Kontrollrats sei irrtumsbefangen gewesen, da die Gesetzesverfasser die Hintergründe der reichsgerichtlichen Rechtsprechung sicherlich nicht überschaut haben. Deshalb ist eine Abweichung vom Willen des Kontrollrats womöglich gerechtfertigt. 404 In diesem eingeschränkten Sinn deutet Jescheck (GA 1955, 97 [99]) das Aufhebungsgesetz. 405 Eben diese Prämisse ist zweifelhaft und führt den BGH zu den fragwürdigen Folgeannahmen; näher Engisch, Kritische Bemerkungen, S. 12 ff., Hanack, JZ 1965, 221 (222) und Schultz, MDR 1965, 353 f.

7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers

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entkleidet“ (= aufgehoben) wurden, durften sie wegen Art. IV KRG für diesen Bereich auch nicht mehr in Kraft gesetzt werden (S. 84).406 Die entstehende Gesetzeslücke müsse der Gesetzgeber schließen (S. 85). – Die einfache Regel, wonach mit Aufhebung eines Gesetzes der vorherige Rechtszustand wieder gilt, hätte dem BGH nicht geholfen. Er muß deshalb die dafür vorgesehene Sonderregelung des KRG über Gebühr strapazieren, um die s. E. unhaltbare Konsequenz – härtere Bestrafung als nach NS-Recht! – zu umgehen.

Im Ergebnis bedeutet die Aufhebung einer Norm regelmäßig die Rückkehr zum früheren Rechtszustand. Fraglich ist allerdings, ob damit auch die Rechtsprechung zu den wieder gültigen Vorschriften ihre legislativen („subjektiven“) Weihen erhält, indem sie der historische Gesetzgeber in seinen Willen einbezieht. Dann würde ein Rechtsprechungswandel eine Mißachtung dieses Willens darstellen. Das ist letztlich die gleiche Frage, die sich auch bei der Wiedereinführung einer Norm stellt, und sie kann ebenso beantwortet werden: Mit der Rückkehr zur früheren Norm ist keine pauschale Übernahme der dazu ergangenen Rechtsprechung verbunden. Es kommt vielmehr darauf an, welche gesetzgeberische Intention der Entstehungsgeschichte zum jeweiligen Problem entnommen werden kann. Umgekehrt folgt daraus, daß der Gesetzgeber vor einem Rechtsprechungswandel nicht generell „geschützt“ ist. Der BGH hat mit der „Übernahme-These“ nicht unerhebliche Probleme und muß in den genannten Beispielen zu „Krücken“ greifen, um unliebsame Konsequenzen dieser These zu vermeiden. g) „Klugheit“ des (schweigenden) Gesetzgebers: formuliert sonst so/könnte leicht klarstellen/in Kenntnis Im Abschnitt zur Wortlaut-Auslegung (oben III 3 g) wurden grammatikalischsystematische Argumentationsmuster vorgestellt, die einen Gesetzgeber unterstellen, der seine Formulierungen mit Bedacht wählt und mit den bereits vorhandenen Normen abstimmt. Beliebt ist vor allem die Argumentation: „Wenn der Gesetzgeber etwas anderes gewollt hätte, dann hätte er die Norm anders formuliert (z. B. . . .) oder leicht klarstellen können.“ Die möglichen Schlußfolgerungen (Umkehrschlüsse) aus diesem Vorgehen sowie die dabei auftretenden Zweifel wurden bereits oben erörtert und mit Beispielen illustriert (III 3 g). Hier ist nur noch der Zusammenhang zur subjektiv-historischen Auslegung herzustellen, denn die genannten Argumentationsfiguren arbeiten mit Zuschreibun406 Diese Auslegung des Art. IV KRG Nr. 11 ist auch vom Ausgangspunkt des BGH kaum haltbar: Eine Spezialregelung (§ 226b) „hebt“ nicht die allgemeinen Regeln (§§ 223 ff.) „auf“. Zum wirklichen Sinn des Art. IV KRG siehe Engisch, Kritische Anmerkungen, S. 17. Zudem hätte diese Erwägung konsequent auch in der Entscheidung BGHSt 4, 24, mit der sich der Senat nur sporadisch auseinandersetzt (vgl. a. a. O., S. 86), zu einem anderen Ergebnis führen müssen; siehe Hanack, JZ 1965, 221 (222) und Schwarz/Dreher, StGB29, § 226a, Anm. 2 B.

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IV. Entstehungsgeschichte

gen bzw. mit Konstruktionen eines gesetzgeberischen Willens, dem sie sich mit logisch-systematischen Erwägungen annähern. Das daraus resultierende Wahrscheinlichkeitsurteil überzeugt freilich meist nur in Verbindung mit weiteren Anhaltspunkten, welche die Sicherheit dieses Urteils erhöhen. Im Sinn der subjektiven Auslegung wird das Mosaik „Wille des Gesetzgebers“ letztlich nur komplett, wenn die logischen Schlußfolgerungen einen Rückhalt in den Gesetzesmaterialien finden. Den Zusammenhang macht BGHSt 27, 120 (123) deutlich: Einen anderen Sinn hätte der Gesetzgeber „unschwer“ durch eine Textänderung erreichen können; diese am Wortsinn orientierte Auslegung entspreche auch „dem tatsächlichen Willen des Gesetzgebers“.

Die in der Rechtsprechung auftretenden Argumentationsfiguren haben dementsprechend unterschiedliche Überzeugungskraft. Besondere Zurückhaltung ist gegenüber der „Wenn-dann-hätte-Argumentation“ angebracht, vor allem wenn der BGH selbst die Formulierungen vorschlägt, die der Gesetzgeber (wohl) bei anderer Intention gewählt haben würde407. Damit werden die gesetzestechnischen Fähigkeiten häufig überstrapaziert, denn mit Gewißheit kann nur gesagt werden, daß „klügere“ Gesetzesverfasser die Sachlage besser getroffen hätten. Eher trägt diese Begründung, wenn auf abweichende oder übereinstimmende Gesetzesformulierungen, am besten bei sachnahen Regelungen im gleichen Gesetz, verwiesen werden kann.408 Gerne betonen die Strafsenate in diesem Zusammenhang, daß die Gesetzesverfasser eine andere Ansicht „einfach“, „leicht“ oder „unschwer“ zum Ausdruck hätten bringen können409, daß eine Klarstellung „ohne weiteres“ möglich oder sogar „naheliegend“ gewesen wäre. Auch diese Argumentation läßt mitunter Schlüsse auf die gesetzgeberische Intention zu, enthält aber daneben einen psychologischen Aspekt: Die eigene, womöglich angreifbare Position soll gestärkt werden durch eine Rückverlagerung der Verantwortung: Dem Gesetzgeber geschieht kein „Unrecht“ in Anbetracht der von ihm außer acht gelassenen und naheliegenden Möglichkeiten!410 Ein schwerwiegender Einwand gegenüber solchen Argumentationstypen besteht allerdings darin, daß eine Klarstellung des Gesetzestextes meist sowohl in die eine als auch in die andere Richtung möglich war411; dann aber kann aus einem Versäumnis der Gesetzesverfasser, die Norm klarzustellen, nichts folgen, und andere Kriterien 407 BGHSt 5, 179 (181); 6, 163 (164); 26, 298 (303 f.); 48, 34 (38). „Unschädlich“ sind solche Hinweise, wenn der BGH die Rechtslage oder die anwendbare Norm ohnehin für klar oder eindeutig hält, siehe z. B.: BGHSt 3, 277 (279); 4, 119 (121); 6, 163 (164): andere Ansicht mit dem Wortlaut unvereinbar; 6, 312 (314); 7, 198 (201): weitere Klarstellung war nicht nötig. 408 BGHSt 6, 312 (314); 11, 52 (53); 21, 139 (140); 42, 368 (371). 409 Siehe oben Kap. III, Fn. 137. 410 Z. B. BGHSt 44, 233 (241). 411 Zweifelhaft deshalb die Argumentationen in BGHSt 12, 392 (396) und 44, 145 (152).

7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers

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müssen den Ausschlag geben412. Auf mehr oder weniger plausiblen Unterstellungen und Wahrscheinlichkeiten beruht ein weiteres Begründungsmuster, dessen sich die Rechtsprechung gerne bedient: Ungewöhnliche Regelungen oder einschneidende Folgen413, erhebliche Straferhöhungen414, Strafbegründungen415, Abweichungen vom bisherigen Rechtszustand416, von einer herrschenden Meinung417 oder ständigen Rechtsprechung418 hätte der Gesetzgeber bedacht bzw. deutlicher zum Ausdruck gebracht. Im Zweifel verdient dann das Festhalten am status quo den Vorzug. Mit Unterstellungen arbeitet die Rechtsprechung auch, wenn sie betont, der Gesetzgeber habe „in Kenntnis“ der Problematik (siehe bereits oben IV 7 c am Ende), in Kenntnis der bisherigen Rechtsprechung oder anderer Umstände – z. B. des üblichen Sprachgebrauchs – gehandelt. Dahinter verstecken sich allerdings verschiedene Argumentationsmuster mit je unterschiedlicher Überzeugungskraft. Zunächst kann darin der „Normalfall“ subjektiver Gesetzesauslegung zum Ausdruck kommen: Die nach äußeren Kriterien naheliegende Lösung wird subjektiv-historisch abgesichert. Insbesondere bei unstimmigen („auffälligen“) Regelungen sucht die Rechtsprechung so eine Entlastung: Fall 206 (BGHSt 21, 141 und 334): Bis 1964 mußten die Revisionsgerichte eine aufgehobene Strafsache in der Regel an denselben Spruchkörper zurückverweisen; allein die erneute Befassung mit der Sache konnte demgemäß ohne weiteren Anlaß keine Befangenheit eines Richters begründen. Der darin liegenden Problematik für den Betroffenen wollte der Gesetzgeber des StPÄG gerecht werden, indem er in § 354 II StPO die Zurückverweisung an einen anderen Spruchkörper oder ein anderes Gericht bestimmte. Zu einem generellen Ausschluß von Richtern, die an der Sache in irgendeiner Form (z. B. als Zivilrichter) beteiligt waren, konnte der Gesetzgeber sich hingegen nicht entschließen; ein dahingehender Antrag wurde im Rechtsausschuß abgelehnt (vgl. a. a. O., S. 144). Aus der Entstehungsgeschichte folgt nach Ansicht des BGH auch, daß „andere Kammer“ nicht „anders besetzte Kammer“ meint (S. 144). So kann es in Extremfällen passieren, daß der Angeklagte durch 412 Richtig BGHSt 29, 317 (319) und vor allem BGHSt 25, 97 (98), wo fast mit Bedauern festgestellt wird: „Der Gesetzgeber hat es insoweit an einer Verdeutlichung fehlen lassen, die nach der einen und der anderen Richtung je durch die zusätzliche Verwendung eines Wortes möglich gewesen wäre, wenn nämlich . . .“. 413 BGHSt 25, 109 (114): Solch einschneidende Folgen der Regelung hätte der Gesetzgeber bedacht. 414 BGHSt 42, 368 (371). 415 BGHSt 28, 48 (52). 416 BGHSt GS 4, 308 (316): Ausweitung gegenüber früheren Rechtszustand wäre von grundsätzlicher Natur und daher sicher erörtert worden. 417 BGHSt 26, 358 (361): Gesetzgeber hätte einen von der h. M. abweichenden Standpunkt zumindest erörtert; BGHSt 27, 45 (49), siehe die wörtliche Wiedergabe oben bei Fall 189. 418 BGHSt 7, 153 (156): „Hätte der Gesetzgeber dieser jetzt 100 Jahre alten und gefestigten Rechtsprechung entgegentreten wollen, so hätte er eine solche wichtige und einschneidende Neuerung klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht.“

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IV. Entstehungsgeschichte

Maßnahmen der Geschäftsverteilung wieder denselben Richtern gegenübersteht.419 Den Vorschlag, diese Richter nunmehr (anders als nach früherem Rechtszustand) per se als befangen anzusehen (§ 24 StPO), lehnt der BGH ab. Aus der Neufassung des § 354 folge nichts Gegenteiliges (S. 342).420 Denn wäre der Gesetzgeber in dieser Frage anderer Meinung, hätte er (konsequent) einen Ausschlußgrund (§§ 22, 23) bestimmt, da die „Voreingenommenheit“ dann ausnahmslos vorliegen würde (S. 144 und 342); trotz Kenntnis der Rechtsprechung zu dieser Frage421 habe er dies jedoch nur im Wiederaufnahmerecht getan (S. 343). – Der BGH mißt den Gesetzgeber an seiner eigenen Sachlogik: Die Regelung mag Unstimmigkeiten aufweisen, aber der Gesetzgeber hat sie bewußt in Kauf genommen und mögliche Auswege, die ihm vorgeschlagen und in anderen Bereichen (Wiederaufnahme) verwirklicht wurden, mit Absicht verworfen. Deshalb sieht der BGH keinen Raum für eine Neudeutung der Befangenheitsregelung.422

Nicht immer kann der BGH sich jedoch auf eine tatsächliche Kenntnis der Gesetzesverfasser berufen. Ob diese wirklich derart informiert waren, wie es unterstellt wird, bleibt häufig offen. Dann kommen die bereits bekannten Zuschreibungen zum Zug, die in eine problematische Erwartungshaltung423 münden können, die wie ein Fahrlässigkeitsvorwurf klingt: Selbst wenn es der Gesetzgeber nicht gewußt hat, er hätte es wissen müssen! Er muß seine eigenen Vorgaben einhalten und kann sich mit den gängigen Erläuterungsbüchern die Streitfragen der Kodifikationen stets vor Augen führen. Deshalb kann seinem „Willen“ eine bestimmte Position – am besten die systemgerechte oder vernünftige – unterstellt werden.424 Auch hier taucht der bereits erwähnte psychologische Aspekt auf, daß die Rechtsprechung die Verantwortlichkeit der Gesetzesverfasser für ihr Werk betont.

Nachweise bei Hanack, NJW 1967, 580 und in: LR-StPO25, § 354, Rn. 59. Hier zeigt sich wieder die „Fernwirkung systematischer Auslegung“, vgl. oben IV 7 c. 421 Besser sollte es heißen trotz Kenntnis der „Rechtslage“, denn daß allein die Zurückverweisung an den gleichen Richter noch keine Befangenheit begründen konnte, ergab sich aus der alten Regelung eindeutig (z. B. BGH JR 1957, 68: „ergibt sich von selbst“ aus § 345 II); die Rechtsprechung, auf die der Senat rekurriert (vgl. a. a. O., S. 341), betraf Sonderfälle, die diesen Grundsatz bestätigten. 422 Anders z. B. Hanack, NJW 1967, 580, der Problembewußtsein des BGH für die auftretenden Spannungen vermißt und eher zu einer objektiven Auslegung tendiert: Die Entscheidung zeige „nichts von dem Geist richterlichen Widerspruchs gegenüber einer unzulänglichen gesetzgeberischen Weisung“. Hanack sieht in der Regelung im übrigen einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz, so daß eine verfassungskonforme Auslegung zu erwägen sei (S. 581 f.). 423 Eingängig formuliert in BGHSt 17, 399 (403): Bei anderer Ansicht hätte der Gesetzgeber „gesetzgeberischer Gepflogenheit entsprechend“ eine andere Definition bestimmen müssen. – Aber wer legt die insoweit geltenden Standards fest? 424 Daß es bei Unklarheit über den gesetzgeberischen Willen zulässig ist, ihn aus äußeren Faktoren zu erschließen, ist eine andere Frage; siehe bereits oben IV 4 a und Fn. 194. 419 420

7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers

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BGHSt 6, 304: Die geläufige und differenzierte Terminologie könne dem Gesetzgeber „nicht entgangen sein“, so daß sie auch hier zugrunde gelegt werden könne (S. 307). — BGHSt 10, 28 (oben Fall 22): In Reaktion auf die Rechtsprechung zur Einziehungsvorschrift des StGB (§ 40 a. F.) habe der Gesetzgeber spezielle Einziehungsregelungen im Waffenrecht, nicht aber – trotz mehrfacher Gelegenheit und in Kenntnis der Rechtsprechung zu § 40 StGB – im Straßenverkehrsrecht geschaffen (S. 34). — BGHSt 18, 242 (oben S. 88, „Erwerb“ von Waren durch Diebstahl?): Hätte der Gesetzgeber auch Diebstähle unter Zollstrafe stellen wollen, „so wäre es unerfindlich, weshalb er dafür Begriffe verwandt hätte, die nach dem allgemeinen Sprachgebrauch in der Regel einen rechtsgeschäftlichen Erwerb bezeichnen, und warum er es nicht klargestellt hätte, daß . . . Dies wäre um so mehr nahegelegen, als . . .“ (S. 245). — BGHSt 42, 368 (oben Fall 36): Da dem Gesetzgeber der bisher einheitliche Sprachgebrauch für Strafschärfungen wegen Waffenführens bekannt war, hätte er unschwer eine entsprechende Klarstellung aufnehmen können (S. 371).425 Fall 207 (BGHSt 26, 221): Wie schwierig Folgerungen in diesem Bereich sind, zeigt BGHSt 26, 221: Der Ausschluß eines Strafverteidigers an der Mitwirkung am Strafverfahren gemäß § 138a I StPO (i. d. F. von 1971 bis 1976) schließt auch die (spätere) Verteidigung eines Mitangeklagten in diesem Verfahren aus, ohne daß es darüber gesonderter Beschlüsse bedürfte.426 Die Gesetzesmaterialien sprächen eher für diese Ansicht (S. 226). Sowohl Äußerungen des Rechtsausschusses als auch des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer gingen in diese Richtung (S. 227).427 Dem Gesetzgeber sei dadurch die Problematik nahegebracht worden. Deshalb sei davon auszugehen, daß er eine „eindeutig einschränkende Fassung gewählt haben würde, wenn er eine . . . Beschränkung der Tatbestandswirkung eines Verteidigerausschlusses gewollt hätte“ (S. 227). – Die Begründung des BGH überzeugt kaum. Der Gesetzgeber wird auf viele Probleme hingewiesen und zu erwarten ist sowohl eine Klarstellung in die eine wie in die andere Richtung! Dennoch hat er schlicht eine unklare Gesetzesfassung gewählt.

Bedenken bestehen schließlich gegenüber der bereits erwähnten Annahme, der Gesetzgeber bestätige den status quo, wenn er „in Kenntnis“ der Praxis nichts unternehme, obwohl ihm das möglich war („beredtes Schweigen“). Die Problematik dieser Argumentation liegt vor allem in der Unklarheit darüber, wann der Gesetzgeber wirklich eine Thematik in den Blick genommen und bewußt darüber entschieden hat, zumal wenn der Text der einschlägigen Vorschrift nicht geändert wurde; zu leicht kann den Gesetzesverfassern eine Kenntnis untergeschoben werden.428 Der BGH steht diesem Begründungsmuster freilich positiv gegenüber, muß dann aber einige Anstrengungen unternehmen, um 425 Zur „Kenntnis“ des Gesetzgebers außerdem: BGHSt 17, 149 (153); GS 32, 115 (128 und 130). 426 Die Problematik wurde 1976 mit Einfügung von § 138a V StPO gesetzlich klargestellt (BGBl. I 1976, S. 2182). 427 Allerdings handelt es sich dabei um Stellungnahmen, die sich für eine solche Wirkung des Verteidigerausschlusses aussprachen, nicht aber um Äußerungen der Beteiligten über die Reichweite „ihrer“ Normen.

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IV. Entstehungsgeschichte

sich im Einzelfall dann doch von seiner durch den Gesetzgeber bestätigten Rechtsprechung lösen zu können: BGHSt 47, 202 (siehe nochmals oben Fall 175 – „Opferschutz“): „Allerdings ist die Kenntnis des Gesetzgebers von der bisherigen Rechtsprechung ein gewichtiger Gesichtspunkt bei der Auslegung neuer Gesetze“ (S. 206). Die durch „Nichtregelung“ der Problematik (!) bestätigte Rechtsprechung überwindet der BGH mit einem Hinweis darauf, daß der BGH selbst gegen die damalige Position hin und wieder Bedenken geäußert habe (S. 207). Der Bestätigung des Gesetzgebers wird gewissermaßen die „Geschäftsgrundlage“ entzogen.429

h) Gesetzgeber „wollte nur klarstellen“ Aufschlußreich für das Verhältnis von Gesetzgeber und Rechtsprechung ist die hin und wieder anzutreffende Argumentation, der Gesetzgeber habe nur eine Frage klarstellen, aber keine anderweitigen Veränderungen herbeiführen wollen. Damit helfen die Gerichte dem Gesetzgeber aus, der durch unbedachte oder nicht genügend durchdachte Formulierungen unbeabsichtigt Umkehrschlüsse ermöglicht. In Betracht kommt dies sowohl, wenn der Gesetzgeber Änderungen an der einschlägigen Norm vornimmt,430 als auch, wenn andere, aber sachverwandte Vorschriften geändert werden. Im letzteren Fall muß der Gesetzgeber die „Fernwirkung“ der systematischen Auslegung mit einkalkulieren (siehe oben IV 7 c); die Durchsetzung des historischen Willens gerät sonst im Einzelfall in Konflikt mit der „Einheit der Rechtsordnung“, die zu einer harmonisierenden Auslegung drängt (siehe unten V 8). Ein schönes Beispiel hierzu ist BGHSt 12, 42 (oben Fall 143 – unzüchtiges Reden als „unzüchtige Handlung“?). Die erwogene Klarstellung („unzüchtige Handlung oder Äußerung“) lehnten die Gesetzesverfasser u. a. mit dem Argument ab, daß dies unbeabsichtigte Rückwirkung auf den Handlungsbegriff in anderen Normen haben könnte.431

Zur Vermeidung des nach dem Wortlaut naheliegenden Umkehrschlusses greifen die Senate zuweilen zu zweifelhaften Auslegungsmaximen. So rechtfertigt BGHSt 27, 45 seine fragwürdige Wortauslegung (siehe oben S. 166) u. a. mit folgender Argumentation: „Wird ein Tatbestand . . . nur zur Klarstellung in 428 Vgl. nochmals oben IV 7 c am Ende und dort die Argumentation Rengiers zu BGHSt 28, 100. Krit. zu den übertriebenen Folgerungen aus dem Schweigen des Gesetzgebers Schneider, Logik, S. 191. 429 Ein ähnliches Argumentationsmuster ergab sich in BGHSt 4, 24 (oben Fall 204). 430 Dazu bereits oben IV 7 b, dort insbesondere die Fälle BGHSt 3, 248; 27, 45; 35, 6; 40, 251. 431 Siehe oben Fn. 227. Zu den denkbaren Umkehrschlüssen, die eine im E 1962 vorgesehene teilweise Klarstellung des Gewaltbegriffs (auch Betäubungsmittel, vgl. BGHSt 1, 145 = oben Fall 65) provoziert hätte, siehe instruktiv Stratenwerth, ZStW 1964, 669 (691 ff.).

7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers

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Teilpunkten neu gefaßt, so darf er zudem nicht so sehr nach dem Wortlaut ausgelegt werden, wie ein Tatbestand, der vollkommen neu gestaltet worden ist“ (S. 50). Und BGHSt 35, 21 (24) sucht die zweifelhafte Entscheidung BGHSt 29, 311 (siehe oben Fall 34 und Fall 67) mit der Erwägung zu stützen, es liege möglicherweise nur ein „Scheinproblem“ vor, weil die den Umkehrschluß provozierende Formulierung „lediglich der Klarstellung diente“. Solche Interpretationsmaximen sind jedoch gar nicht notwendig. Denn das Bemühen, der gesetzgeberischen Intention gegen einen verunglückten Wortlaut zum Durchbruch zu verhelfen, bedarf – bei Beachtung des Analogieverbots432 – keiner besonderen methodologischen Rechtfertigung. Die Gerichte sollten in diesem Zusammenhang aber endlich zur Kenntnis nehmen, daß ihre Vorgehensweise implizit eine Absage an die „Andeutungstheorie“ beinhaltet (siehe oben IV 3 f und g). i) Vertrauensschutz des Gesetzgebers?/ Änderungen in anderen Rechtsgebieten Bei den Folgerungen aus der Wiedereinführung oder Streichung von Gesetzen wurde bereits erörtert, ob der Gesetzgeber sich damit zugleich für die Maßgeblichkeit der früheren Rechtsprechung entscheidet. Der BGH nimmt das in der Regel an, aber wohl doch in zu weitem Umfang (näher oben IV 7 e und f). Spiegelbildlich stellt sich (aus Perspektive der Legislative) die Frage, ob der Gesetzgeber vor einer Änderung der Rechtsprechung gefeit ist, mit der womöglich die Grundlage einer gesetzgeberischen Maßnahme beseitigt würde. Herkömmlich wird das Thema „Rechtsprechungswandel“ nur unter der Fragestellung diskutiert, ob der Bürger aus Gründen der Rechtssicherheit dagegen Schutz genießt.433 Im Verhältnis zwischen Legislative und Judikative stellt sich das Problem ebenfalls, allerdings nicht unter dem Gesichtspunkt der Grundrechte, sondern der subjektiv-historischen Auslegung. In der Entscheidung BGHSt 30, 328 (oben Fall 203) hat der Senat z. B. berücksichtigt, daß der Gesetzgeber bei Einführung der Vorschrift die einschränkende Auslegung einer sachverwandten Norm durch die Praxis zugrunde gelegt hat. Auch in folgender Entscheidung will der BGH dem Gesetzgeber nicht durch eine Änderung der Rechtsprechung die Grundlage entziehen: Fall 208 (BGHSt 24, 222, vgl. oben BGHSt 25, 10 = Fall 86): Die Rechtsprechung hat bereits vor Änderung der Einziehungsvorschriften durch das EGOWiG 1968 die Eigentümerstellung („gehört“) nach juristischen, nicht nach wirtschaftlichen Kriterien bestimmt. Bei einer Sicherungsübereignung war demzufolge der Sicherungsnehmer als der von der Einziehung betroffene Eigentümer zu behandeln. Nach Ansicht des Senats hat diese Rechtsprechung mit dazu beigetragen, daß der Gesetzgeber bei 432

Das war in BGHSt 27, 45 und 29, 311 allerdings problematisch. Die Frage wird hier nicht behandelt; siehe dazu Hettinger/Engländer, in: FS für Meyer-Goßner, S. 145 ff. 433

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IV. Entstehungsgeschichte

Neuregelung der Einziehungsvorschriften die Voraussetzungen im einzelnen geregelt hat, wann ein Gegenstand mit Wirkung gegen den tatunbeteiligten Eigentümer eingezogen werden darf (S. 228). Dann aber „kann nicht die Rechtsprechung diese Voraussetzungen über die bisherige Rechtslage hinaus dadurch erweitern, daß sie durch den Übergang zu einem ,wirtschaftlichen‘ Eigentumsbegriff den Sicherungseigentümer in seinem Eigentumsrecht einschränkt.“

Diametral entgegengesetzt hat jedoch der Große Senat in BGHSt 46, 321 zur Problematik des Bandenbegriffs (oben Fall 92) entschieden und damit methodologische Beliebigkeit und Widersprüche demonstriert: Der Gesetzgeber habe zwar bei verschiedenen Änderungen des materiellen Strafrechts den in der Rechtsprechung entwickelten Bandenbegriff (Zweierbande) zugrunde gelegt und bestätigt, aber eben trotz der langjährigen Kontroverse nicht gesetzlich definiert. „Damit hat er es ersichtlich weiter der Rechtsprechung überlassen, den Begriff der Bande inhaltlich zu bestimmen“ und Entwicklungen der Praxis Rechnung zu tragen (S. 330). BGH NJW 1996, 2316 f. hatte hingegen aus dieser Situation auf einen Willen des Gesetzgebers geschlossen, der einer Änderung des Bandenbegriffs zuwiderläuft.

Der Große Senat hat sich mit dieser Argumentation eine Delegation erschlichen, obwohl die Senate sonst – darauf weisen Endriß und Kinzig zu Recht hin434 – in einer unterlassenen Änderung des Textes eine Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung durch den Gesetzgeber sehen. Dies geschieht sogar häufig, wie oben dargestellt (vgl. IV 7 g), mit Hilfe von Unterstellungen („in Kenntnis der Rechtsprechung“), wenn der Gesetzgeber sich zur gerade anliegenden Problematik nicht einmal geäußert hat. Hier jedoch liegt demgegenüber eine ausdrückliche Bestätigung der „Zweierbande“ in den Gesetzesmaterialien vor (BT-Drucks. VI/1877, S. 10). Schwierige Fragen stellen sich dann, wenn das Strafrecht mit anderen Rechtsgebieten gekoppelt ist, in denen Rechtsänderungen oder Meinungswechsel stattfinden. Nimmt dann die Interpretation der strafrechtlichen Bestimmungen an einem solchen Wandel teil? Fall 209 (BGHSt 5, 111 – „Sonderhilfeausschuß“): Durfte im Verfahren der niedersächsischen Sonderhilfeausschüsse, die über die Anerkennung als Opfer des Faschismus und daraus resultierenden Geschädigtenrenten entschieden, der Antragsteller vereidigt werden? Eine Verurteilung gemäß § 154 StGB (Meineid) setzte jedenfalls das Handeln einer „zuständigen Stelle“ voraus. Bezüglich Verfahrensfragen bestimmte das Landesrecht die „sinngemäße Anwendung“ des FGG, dessen § 15 nach damals einhelliger Auffassung eine Parteivereidigung nicht gestattete. Die Strafkammer hat sich jedoch bei der Verurteilung auf eine geänderte Auslegung dieser Vorschrift berufen. Der Senat läßt diese Frage dahinstehen, denn es sei fraglich, was in diesem Zusammenhang unter „sinngemäßer Anwendung“ zu verstehen ist (S. 116). In Anbetracht der 50 Jahre herrschenden Auslegung des § 15 FGG könne „nicht 434 Endriß/Kinzig, NJW 2001, 3217 (3220): Offenbar werde, wie unterschiedlich Strafrichter „auslegen können, selbst wenn sie sich auf dieselben Quellen beziehen“.

7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers

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angenommen werden, daß der Landesgesetzgeber – dessen Wille hier auszulegen ist – den von ihm eingeführten Ausschüssen das Recht zulegen wollte, die Antragsteller zu vereidigen“ (S. 116 f.). Gegen unwahre Anträge seien zudem andere Schutzmaßnahmen als die Vereidigung vorgesehen, und daß ein ohne Juristen besetzter Ausschuß über die Vereidigung entscheiden könnte, wäre „auffällig“ (S. 117). In diese Entwicklung füge es sich folgerichtig ein, daß – nachdem die geänderte Auslegung des § 15 FGG diskutiert werde – der Landesgesetzgeber ausdrücklich durch Gesetz von 1952 die Vereidigung in diesem Verfahren für unzulässig erklärt, allerdings erst mit Wirkung für die Zukunft. – Keidel wendet gegen den BGH ein: Daß der Gesetzgeber bei Anordnung der sinngemäßen Anwendung des FGG auch die damals h. M. zur vorliegenden Frage festschreiben wollte, sei im Gesetz nicht zum Ausdruck gekommen; Änderungen in der Auslegung der in Bezug genommenen Normen müsse der Gesetzgeber in Kauf nehmen.435

Die Kritik von Keidel vermag bei Zugrundelegung einer subjektiv-historischen Auslegung nicht zu überzeugen. Hinsichtlich der Andeutungstheorie versteht sich das von selbst. Aber auch die Erwägung, der Gesetzgeber müsse einen Wandel der in Bezug genommenen Normen hinnehmen, verdient in dieser Allgemeinheit keinen Beifall. Vielmehr wird man die Zulässigkeit einer solchen Dynamisierung nur für den Regelfall bejahen können: Verweist der Gesetzgeber auf ein anderes Rechtsgebiet, läßt das grundsätzlich auf seinen Willen schließen, die Auslegung der Normen an dem Wandel partizipieren lassen, wenn nicht konkrete Anhaltspunkte für einen gegenteiligen Willen vorliegen. Sicher unrichtig wäre demgegenüber die Ansicht, die Bezugnahme erfasse das andere Rechtsgebiet nur in seinem durch die Rechtsprechung geprägten status quo, weil der Strafgesetzgeber die weitere Entwicklung des fremden Gebiets nicht überschauen kann. Zu kurz gegriffen wäre es demnach, wenn der BGH sich nur auf die 50 Jahre bestehende Rechtsprechung zu § 15 FGG berufen würde, aber keine weiteren Gründe für einen gegenteiligen hypothetischen Willen vorbringen könnte. Auch das nächste Beispiel macht deutlich, wie leicht der Gesetzgeber die Kontrolle über den Anwendungsbereich seiner Normen verlieren kann, wenn die Rechtsordnung sich an anderer Stelle ändert. Fall 210 (BGH NJW 2001, 1874 – „Verbraucherkonkurs“): Nach der bis 1998 geltenden KO war die Eröffnung eines Konkursverfahrens gegen eine Privatperson zwar denkbar, praktisch aber kaum relevant. Infolgedessen kam die Vorschrift über den Bankrott (§ 283 StGB) bei Privatpersonen nur selten in Betracht, weil sie regelmäßig die Eröffnung eines Konkursverfahrens (seit 1999: Insolvenzverfahrens) oder die Abweisung eines Eröffnungsantrages voraussetzt, vgl. § 283 VI. Die Insolvenzordnung hat diese Situation durch die Einführung des Verbraucherinsolvenzverfahrens modifiziert, wonach auch Privatpersonen vermehrt von einem Insolvenzverfahren betroffen sein können (und sollen). Der BGH sieht in dieser Ausdehnung des Täterkreises nur eine faktische Erweiterung des Tatbestandes, nicht jedoch eine 435

Keidel, JZ 1954, 564 (565, r. Sp.).

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IV. Entstehungsgeschichte

rechtliche Änderung.436 – Es ist fraglich, ob der Gesetzgeber die mit der Änderung des Insolvenzrechts verbundene Erweiterung des Anwendungsbereichs von § 283 StGB gesehen hat437 und ob er in Erwägung dieser Konsequenzen die Vorschrift bei Einführung der Insolvenzordnung noch immer so ausgestaltet hätte. Deshalb ist eine Reduktion des vom Wortlaut her erfüllten Tatbestandes zumindest zu erwägen.438 Der BGH mußte dazu nicht Stellung beziehen, weil es im konkreten Fall nicht um eine Verbraucherinsolvenz ging.

Abschließend zur Thematik439 Fall 211 (BGHSt 12, 136 – „Branntweinsteuer“): Der Senat schließt eine (mittelbare) Inhaltserweiterung des § 121 Nr. 2 Branntweinmonopolgesetz a. F. durch ein Gesetz des Wirtschaftsrates von 1948 aus. Nach der Begründung zum Gesetz von 1948 habe der Rechtszustand nicht geändert werden sollen (S. 143, 144). „Entscheidend spricht weiter dagegen, daß der Tatbestand des § 121 Nr. 2 . . . unverändert geblieben ist. Sollte er durch eine außerhalb des Branntweinmonopolgesetzes ergangene Gesetzesänderung eine Erweiterung erfahren, so verlangt es das in Art. 103 Abs. 2 GG . . . zum Ausdruck gelangte Anliegen der Rechtssicherheit, daß die Ausdehnung der Strafbarkeit in klarer und eindeutiger Weise erfolgt. Anderenfalls würden die Tatbestände ihre Garantiefunktion verlieren. Die Grenzen strafbaren Verhaltens würden aus ihnen nicht mehr ersichtlich sein“ (S. 145). Zur Ausfüllung etwaiger Strafbarkeitslücken sei nur der Gesetzgeber befugt. – Die Tatsache, daß der Tatbestand unverändert geblieben ist, dürfte hier nicht der entscheidende Aspekt sein. Vielmehr sprach die im Branntweinmonopolgesetz verwandte Begrifflichkeit440 und damit Art. 103 II GG gegen eine Anpassung der Auslegung. Aber auch die gründliche subjektive Auslegung des Senats, die gegen eine Erweiterung sprach, verdient Beachtung.

436 Für die Angeklagten galt noch altes (Konkurs-)Recht, so daß es auf die Frage des milderen Rechts ankam. 437 Dagegen z. B. Lackner/Kühl, StGB, § 283, Rn. 2; Schramm, wistra 2002, 55. 438 Die teleologische Reduktion wäre freilich schwierig zu begründen, denn die Zielsetzung des § 283 StGB (Gläubigerschutz!) umfaßt womöglich auch die Verbraucherinsolvenz, während die soziale Zielsetzung dieses Instituts womöglich dafür spricht, nicht die Härte des § 283 zur Geltung zu bringen; in letzterem Sinn Schramm, wistra 2002, 55 (56, r. Sp.). Aus Perspektive des § 283 läge dann eventuell eine nachträgliche Lücke, verursacht durch eine Weiterentwicklung des Konkursrechts vor, aus Perspektive des Insolvenzrechts eine originäre Lücke, weil konsequent auch das Insolvenzstrafrecht hätte geändert werden müssen. Auf wessen hypothetischen Willen (ursprünglicher oder späterer Gesetzgeber) soll man dann aber abstellen? 439 Siehe außerdem BGHSt 22, 1 (4) zur Rückwirkung einer Rechtsprechungsänderung im Bereich des materiellen Strafrechts auf die Auslegung des Verfahrensrechts und BGHSt 44, 355 (358) zur Frage, ob die dogmatisch veränderte Einstufung des elterlichen Umgangsrechts Auswirkungen auf die Auslegung des § 235 StGB (Kindesentziehung) hat. 440 Die Einzelheiten können hier nicht dargestellt werden.

7. Schlußfolgerungen aus Handlungen oder Untätigkeit des Gesetzgebers

355

j) Delegation an Rechtsprechung Nicht selten sieht sich die Rechtsprechung von einer Bindung an den historischen Willen des Gesetzgebers durch eine in den Gesetzesmaterialien enthaltene Kompetenzzuweisung befreit, welche die nähere Ausgestaltung der Norm der Rechtsprechung überläßt. Eine solche Delegation wirft unter dem Gesichtspunkt historischer Auslegung keine besonderen Probleme auf, eröffnet aber verfassungsrechtliche Fragestellungen. Zum einen muß die Norm gerade im Bereich des Strafrechts ausreichend bestimmt sein (dazu unten V 7), zum anderen muß der Gesetzgeber wesentliche Entscheidungen selbst treffen; das Parlament kann sich nicht der Regelung von wichtigen Sachfragen entziehen. Unter diesem Aspekt sind nicht alle der folgenden Entscheidungen441 unbedenklich: BGHSt 7, 360 (362): Die amtliche Begründung gehe selbst davon aus, daß nicht alle Fälle gesetzlich geregelt werden können und daß offengebliebene Zuständigkeitsfragen im Einzelfall durch die Rechtsprechung gelöst werden müßten; bei Bedarf soll die örtliche Zuständigkeit durch entsprechende Anwendung geschaffen werden. Der Gesetzgeber weist selbst auf die Lückenhaftigkeit seiner Regelung hin! — BGHSt 9, 370 (vgl. BGHSt 1, 47 = oben Fall 163, „limitierte Akzessorietät“): Die neue Textfassung („mit Strafe bedrohte Handlung“) besage nichts zur Frage, ob die Tat vorsätzlich geschehen muß. Der Gesetzgeber habe sich einer Bestimmung des Schuldbegriffs enthalten, die damit Aufgabe der Rechtsprechung nach den jeweiligen Erkenntnissen bleibe (S. 377). — BGHSt 25, 25 (31): Der Ausschuß habe zwar Bedarf für eine weitere Einschränkung des Tatbestandes, aber keine Möglichkeit zu einer Verfeinerung der tatbestandlichen Umschreibung gesehen und deshalb die Auslegung im einzelnen der Rechtsprechung überlassen (Hinweis auf die Protokolle). — BGHSt 30, 1 (6): Der Gesetzgeber habe – anders als im E 1962 angekündigt – die Frage nach dem Anwendungsbereich der §§ 3 ff. StGB auf die DDR im Einführungsgesetz nicht geregelt und ihre Lösung der Rechtsprechung überlassen. — BGHSt 32, 93 (95): Auf den gesetzgeberischen Willen könne bei der Lösung der Probleme nicht zurückgegriffen werden, denn „der Bundestag ist den mit der Einführung des § 57a StGB vom Bundesrat als notwendig erkannten Folgeregelungen bewußt ausgewichen und hat diese Aufgabe der gerichtlichen Praxis überbürdet (vgl. BTDrucks. . . .).“ — BGHSt 39, 353 (359): Die Auswirkungen der in der DDR ergangenen Amnestien seien im Einigungsvertrag ohne spezielle Regelung geblieben und der Auslegung durch Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen worden. — BGHSt GS 40, 138 (146 f., „fortgesetzte Handlung“): „Eine ausdrückliche Anerkennung im Sinne einer positivrechtlichen Festschreibung des Rechtsinstituts hat der Gesetzgeber jedoch vermieden und dessen weitere Entwicklung der Rechtsprechung überlassen (vgl. E 1962, BTDrucks. . . .).“

Angesichts der zum Teil wichtigen Sachgebiete muß die Zurückhaltung des Gesetzgebers überraschen. Nicht zu Unrecht sprechen kritische Literaturstim441 Vgl. außerdem BGHSt 12, 42 (oben Fall 143), wo der BGH aus Äußerungen bei den Gesetzesberatungen auf eine Delegation schließt. In BGHSt 44, 171 (174) sieht sich der Senat durch das BVerfG zur Klärung der unübersichtlichen Gesetzeslage ermächtigt.

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IV. Entstehungsgeschichte

men von „unvertretbarer Flucht“ oder einem „pflichtwidrigen Unterlassen“ des Gesetzgebers.442 Den aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen kann hier jedoch nicht weiter nachgegangen werden. k) Fazit Schlußfolgerungen aus Handlungen oder aus der Untätigkeit des Gesetzgebers bewegen sich im Spannungsfeld zwischen einer objektiv-historischen (systematischen) und einer subjektiv-historischen Auslegung. Ein im Vergleich zur Vorläufernorm veränderter Gesetzeswortlaut kann äußerlich für einen Bedeutungswandel sprechen, der sich bei genetischer Betrachtung als unangebracht erweisen kann (IV 7 b). Die Rechtsprechung hilft in dieser Situation häufig dem „wahren“ Willen des Gesetzgebers zum Durchbruch, allerdings ohne daß darauf Verlaß wäre. Auch bei unveränderter Fassung der entscheidungsrelevanten Norm kann sich aus anderweitiger Tätigkeit des Gesetzgebers eine Änderung des Norminhalts ergeben („Fernwirkung systematischer Auslegung“), wenn es Anhaltspunkte für einen so weitreichenden Regelungswillen gibt (IV 7 c). Freilich unterstellt die Praxis häufig einen zu klugen Gesetzgeber, der „in Kenntnis“ einer Problematik diese en passant mitentscheide; besonders die „stillschweigende Billigung“ der Rechtspraxis wird zu großzügig angenommen (IV 7 c und g). Zu Unrecht zieht die Rechtsprechung Folgerungen (Gegenschlüsse) aus der lex ferenda (IV 7 d). Als schwierig kann sich die Interpretation der Wiedereinführung oder Streichung von Normen erweisen (IV 7 e und f); daß der Gesetzgeber damit die Norm mitsamt ihrer ursprünglichen Handhabung in der Praxis wieder in Geltung setzen will, ist eine plausible, aber nicht immer zweifelsfreie Annahme. Das problemgeladene Zusammenspiel zwischen objektiv-systematischen Argumenten und der genetischen Auslegung wird augenfällig bei den nicht seltenen Argumentationsmustern, wonach der Gesetzgeber bei anderweitiger Vorstellung anders formuliert oder die Problematik klargestellt hätte; auch insoweit wird dem Gesetzgeber zuweilen zuviel zugeschrieben (IV 7 g). Ungewollte Umkehrschlüsse können durch nicht ausreichend bedachte gesetzliche „Klarstellungen“ provoziert werden (IV 7 h). Fraglich ist, ob dem Gesetzgeber, der eine bestimmte Rechtslage zugrunde legt, seine „Geschäftsgrundlage“ entzogen werden kann, indem die Rechtsprechung ihre bisherige Ansicht ändert (IV 7 i). Dem gesetzgeberischen Willen muß es nicht widersprechen, daß eine Norm durch die Entwicklung anderer Rechtsgebiete eine Erweiterung oder Einengung erfährt (IV 7 i). Der Gesetzgeber kann die weitere Ausgestaltung einer Thematik an die Rechtsprechung delegieren, wodurch allerdings verfassungsrechtliche Fragen aufgeworfen werden (IV 7 j). 442 Schroeder, NStZ 1981, 179 (180) und Wengler, JR 1981, 206 (207), beide zu BGHSt 30, 1.

8. Irrtümer und Versehen der Gesetzesverfasser

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8. Irrtümer und Versehen der Gesetzesverfasser a) Einführung Nicht selten muß die Rechtsprechung des BGH sich mit gesetzgeberischen Fehlleistungen und deren Beseitigung beschäftigen. Die sich dabei stellenden Fragen sind vielfältig: Welche Arten von Versehen gibt es? Nach welchen Kriterien ist das Vorliegen eines Gesetzesfehlers zu bestimmen? Wann dürfen die Fehler behoben werden, und kann dabei noch von „Auslegung“ gesprochen werden? Wie verhält sich die Fehlerkorrektur zum Begriff der „Gesetzeslücke“ und damit verbundenen Formen der Rechtsfortbildung? Es ist ersichtlich, daß diese Fragestellungen nicht auf das Auslegungskriterium „Entstehungsgeschichte“ beschränkt sind. Gleichwohl finden sich hier die meisten Bezugspunkte, denn aus der Historie wird sich am ehesten ergeben, ob eine „auffällige“ oder widerspruchsvolle Regelung beabsichtigt war oder nicht, ob also eine Differenz zwischen Gewolltem und Erklärtem vorliegt. Deutlich wird aber schon hier, daß der Blick in die Entstehungsgeschichte meistens erst der zweite Schritt sein wird, der dem Aufspüren einer fehlerhaften Regelung nachfolgt. Das Aufspüren wird in der Praxis aber nicht durch eine historische Analyse der Norm, sondern durch das Aufstellen einer mehr oder weniger intuitiven Auslegungshypothese geschehen: Ergibt sich dabei ein „auffälliges“ oder „sinnwidriges“ Ergebnis443, wird Anlaß zu einer näheren Exegese bestehen. Für alle der gleich zu erörternden Versehen gilt, daß eine Korrektur nur im Rahmen der aus Art. 103 II GG folgenden Grenzen möglich ist, insbesondere keine Überschreitung des möglichen Wortsinns zulasten des Betroffenen erfolgen darf (siehe bereits oben III 7 d). Insoweit besteht kein Unterschied zwischen Gesetzesberichtigung und Rechtsfortbildung. Konzeptionen, die nicht den möglichen Wortsinn als Grenze zwischen Auslegung und Rechtsergänzung ansehen und demzufolge oder aus anderen Gründen die Korrektur eines Versehens zur Durchsetzung des wirklichen Willens oder „wahren Sinns“ noch als „Auslegung“ charakterisieren444, müssen dieses Hindernis gleichfalls beachten. Auch die Art des Versehens spielt für die anzustellenden Vertrauensschutzerwägungen keine Rolle. Offenbar respektiert auch der BGH diese rechtsstaatlichen Grenzen, denn es ist keine Entscheidung ersichtlich, in der ausdrücklich die Kompetenz zur Berichtigung eines Fassungsversehens zum Nachteil des Täters behaup443

Jahr, in: FS für Kaufmann, S. 150: Enttäuschung einer Sinnerwartung. Siehe oben Kap. III, Fn. 333 und 334. Betrachtet man den möglichen Wortsinn hingegen generell als maßgebliche Grenze, ist es nur konsequent, auch Fehlerberichtigungen als Rechtsfortbildung einzustufen, obwohl ein fehlerhaftes Gesetz nicht lückenhaft sein und auch nicht mit Hilfe der üblichen Mittel der Rechtsfortbildung korrigiert werden muß (vgl. unten bei den Nachträgen, IV 8 f). Eine ganz andere Frage ist es, daß zur Feststellung eines Versehens die üblichen Auslegungsmittel herangezogen werden. 444

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IV. Entstehungsgeschichte

tet wird. Eher nehmen die Senate zweifelhafte Wortauslegungen oder sonst angreifbare Begründungen in Kauf. Symptomatisch hierfür ist BGHSt 8, 66 (oben Fall 56), wo es der Senat dahinstehen läßt, ob ein gesetzgeberisches Versehen vorliegt, denn die Antwort auf die im Gesetz nicht ausdrücklich (!) geregelte Frage sei aus dem geltenden Recht „gewinnbar“ (S. 67 f.). Fragwürdige Versuche, die Eindeutigkeit des Wortlauts zu bestreiten, um gesetzgeberische Versehen korrigieren zu können, unternehmen u. a.: BGHSt 27, 45 (Fall 54), BGHSt 29, 311 (oben Fall 34 und Fall 67) und BGHSt 31, 226 (Fall 98).

Näheren Zugang zur Problematik eröffnet ein Blick auf die Varianten möglicher Gesetzesfehler. Grob vereinfacht und parallel zur zivilrechtlichen Bestimmung über die Irrtumsanfechtung (§ 119 BGB) kann zunächst zwischen Erklärungs- und Inhaltsirrtümern differenziert werden. Im ersten Fall ist der Prozeß der Willensbildung zwar fehlerfrei erfolgt, jedoch gibt der Verfasser, etwa aufgrund eines Verschreibens, eine andere Erklärung ab, als er wollte. Beim Inhaltsirrtum irrt der Sprecher hingegen über die Bedeutung seiner Erklärung; er mißt ihr einen anderen Sinn bei, als es bei „objektiver“ Betrachtung naheläge. In beiden Fällen geht es also um die Beseitigung eines sprachlichen Mißgriffs zur Durchsetzung des wirklichen gesetzgeberischen Willens.445 In diesem Zusammenhang wird häufig der Begriff „Redaktionsversehen“ gebraucht, allerdings uneinheitlich, einerseits nur den Erklärungs-, andererseits auch den Inhaltsirrtum umfassend.446 Fehler im „redaktionellen“ Bereich lassen bei unbefangener Betrachtung in der Tat eher an technische Mängel i. S. eines Verschreibens, nicht an inhaltliche Fehlvorstellungen denken. Um Mißverständnisse zu vermeiden, wird deshalb im folgenden der Ausdruck „Fassungsversehen“ als Oberbegriff verwendet. Insofern geht es nicht nur um terminologische Fragen, denn die Behauptung eines „bloßen“ Redaktionsversehens suggeriert zugleich die Offensichtlichkeit des Fehlers und die Berechtigung zu seiner Korrektur: Welcher Gesetzgeber hat kein Interesse an der Berichtigung bloßer Schreibfehler? Mithin besteht die Versuchung, mit der unbegründeten Behauptung eines Redaktionsversehen eine inhaltliche Fehlleistung des Gesetzgebers zu korrigieren.447 In der Praxis der Strafsenate geht es freilich äußerst selten um sprachliche Versehen rein redaktioneller Art, des öfteren um Inhaltsirrtümer. Als weitere Versehen kommen vor allem irrtümliche Rechtsvorstellungen in Be445 Jahr, in: FS für Kaufmann, S. 141. Enneccerus, Bürgerliches Recht, S. 109: „Anwendung des wahren Sinns gegenüber dem fehlerhaften Gesetzesausdruck“. 446 Im ersteren Sinn z. B. Bydlinski, Methodenlehre, S. 393; Krey, Studien, S. 169; Lackner, in: Heidelberg-FS, S. 39, im letzteren Sinn Jahr, in: FS für Kaufmann, S. 142; Riedl, AöR 1994, 642 (645). Ein weites Verständnis legen wohl auch Engisch (Einführung, S. 224: Durchsetzung des wahren Gesetzeswillens gegenüber einem versehentlich fehlerhaften Gesetzesausdruck) und Larenz (Methodenlehre, S. 400: Gesetzesredaktoren haben versehentlich einen anderen Ausdruck gewählt oder im Text belassen als beabsichtigt) zugrunde. Konturenlos weit Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 160: Gesetzgeber hat aufgrund des Übersehens einer Fallgruppe „seinem erkennbaren Willen einen zu engen Ausdruck gegeben“.

8. Irrtümer und Versehen der Gesetzesverfasser

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tracht, insbesondere wenn die Gesetzesverfasser bei ihren Erwägungen eine Rechtslage unterstellen, die so nicht gegeben ist. Dann stellt sich die Frage, ob man die Fehlvorstellung als „Motivirrtum“ außer acht lassen darf oder muß und was in einem solchen Fall überhaupt als „wahrer“ Wille des Gesetzgebers zu gelten hat. Weiterhin kann der Gesetzgeber die systematischen Zwänge seiner Kodifikation mißachten oder sein Werk, gemessen an den zugrundeliegenden Vorstellungen, konstruktiv unvollständig oder fehlerhaft gestalten. Und schließlich bleiben „Wertungsfehler“, gekennzeichnet durch eine unterschiedliche Bewertung von sachlich an sich gleich zu behandelnden Konstellationen. Hier kommt eine Gesetzeskorrektur zur Herstellung von Wertungsgleichheit nur ganz ausnahmsweise in Betracht (dazu bereits oben IV 5 d). An anderer Stelle behandelt wurden bereits die sogenannten Anschauungslücken, d.h. Fälle, in denen der Gesetzgeber bestimmte Sachverhalte entweder von vornherein nicht bedacht („angeschaut“) hat oder aufgrund des späteren Wandels der Lebensverhältnisse nicht hat bedenken können. Insoweit kann man allerdings nur im weiteren Sinn von „Fehlern“ sprechen, denn die nur auszugsweise Verwertung aller Umstände und die Fortentwicklung der Realität sind unvermeidbare Faktoren jeder Gesetzgebung.448 Einen „Vorwurf“ kann dem Gesetzgeber diesbezüglich allenfalls gemacht werden, wenn er seine Gesetze nicht ausreichend „zukunftsfest“ formuliert, um der Fortentwicklung der Umstände Rechnung tragen zu können. Die folgende Darstellung der wichtigsten Fälle aus der amtlichen Sammlung orientiert sich an der oben angedeuteten Reihenfolge und geht von den sprachlichen Mißgriffen, über inhaltliche Fehlvorstellungen der Gesetzesverfasser zu den Wertungsfehlern über. Von Interesse ist dabei vor allem, nach welchen Kriterien die Senate das Vorliegen eines Versehens bestimmen, woraus sie die Berechtigung zur Korrektur ableiten und ob sie in diesen Fragen stringent argumentieren. Die formale Klassifizierung der Gesetzesfehler ist insofern eher zweitrangig. Korrekturen von Versehen kommen in der Praxis häufig in Betracht oder drängen sich geradezu auf. Aber welche methodischen Wege und Umwege werden dabei beschritten? Einigkeit sollte jedenfalls insofern herrschen, als die Berichtigung einer erkennbaren gesetzgeberischen Wertentscheidung oder Zielvorstellung, mögen diese noch so bedenklich sein, nicht in Betracht kommt.

447 Jahr, in: FS für Kaufmann, S. 150. Von einem Fall, in dem das Gericht eine ihm mißliebige Gesetzeslage mit der unbegründeten Behauptung eines Redaktionsversehens überspielt, berichtet Schneider, Rechtspfleger 1998, 499. 448 Engisch (Einführung, S. 175) differenziert zwischen „Fehlern“, die durch „Gesetzesberichtigung“ zu korrigieren seien, und „Lücken“, die durch „Rechtsergänzung“ geschlossen würden; als Oberbegriff könne von „Mangel“ gesprochen werden.

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IV. Entstehungsgeschichte

b) Redaktionsversehen (Erklärungsirrtum) Erklärungsirrtümer i. S. von Textfehlern sollten eigentlich klar erkennbar sein, denn ein Verschreiben o. ä. müßte in der Regel auch zu einem sinnwidrigen oder jedenfalls „auffälligen“ Ergebnis führen449 oder aber umgekehrt ein sinnvolles Resultat nur noch auf Zufall beruhen. Eine solche Evidenz, die von einigen Autoren als wesensmäßige Voraussetzung des Redaktionsversehens und seiner Korrektur verlangt wird450, liegt in den vom BGH unter dem Stichwort „Redaktionsversehen“ diskutierten Fällen allerdings nur selten vor. Fall 212 (BGHSt 3, 259; RGSt 77, 137 – „Geldstrafe“): Beim Ausbau der Geldstrafe in den 1920er Jahren451 bestimmte der Gesetzgeber in § 27c I StGB a. F., daß bei ihrer Bemessung die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters zu berücksichtigen sind. Zusätzlich wurde ein Höchstsatz festgeschrieben, der nur ausnahmsweise überschritten werden durfte. § 27c II 2 StGB i. d. F. von 1923 enthielt eine solche Ausnahme: „Die Geldstrafe soll das Entgelt, das der Täter für die Tat empfangen hat . . ., übersteigen. Reicht das gesetzliche Höchstmaß hierzu nicht aus, so darf es überschritten werden.“ 1924 wurde § 27c II 2 ohne Begründung zu § 27c III umgestaltet. Daraus ergab sich die Frage, ob § 27c III sich nunmehr auch auf Abs. 1 erstreckt, ob also das Höchstmaß der Geldstrafe generell überschritten werden durfte, wenn es die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters geboten. Das RG hat das bejaht und damit einer rechtspolitischen Forderung sowie dem praktischen Bedürfnis Rechnung getragen (RGSt 77, 137). Die Erhebung zu einem neuen Absatz spreche für eine vom Gesetzgeber beabsichtigte weitergehende Bedeutung der Bestimmung (S. 138).452 Der Wortlaut stehe dem nicht entgegen, insbesondere zwinge das Wort „hierzu“ nicht zu der Annahme, § 27c III beziehe sich nur auf § 27c II. Mit der Frage, ob nicht eher ein Fassungsversehen vorliegt453, beschäftigt sich das OLG Düsseldorf (MDR 1952, 180), das im Ergebnis dem RG zustimmt. Für ein Versehen spreche zwar die Beibehaltung des Wortes „hierzu“, jedoch sei nicht auszuschließen, daß nur die Beibehaltung dieses Wortes versehentlich erfolgte (S. 181). „Aus eigener Wissenschaft“ bezeugt hingegen Hartung ein Redaktionsversehen, währenddes449 Aus einem völlig sinnwidrigem Ergebnis schließt BGHSt 39, 353 (356) auf das Vorliegen eines Redaktionsversehens, vgl. unten bei den Nachträgen (IV 8 f). 450 Jahr (in: FS für Kaufmann, S. 150) verlangt die Offensichtlichkeit des Versehens, um die eingangs erwähnten „Lösungserschleichungen“ (verdeckte inhaltliche Korrekturen) zu verhindern. Ähnlich Oetker, Der Gerichtssaal 1919, 472 (477): Nur dann sei der Schluß begründet, „der Gesetzgeber würde anders verfügt haben, wäre er auf den Umstand aufmerksam geworden“. Insbesondere mit dem Kriterium der Offensichtlichkeit differenziert Riedl (AöR 1994, 642 [651 ff.]) zwischen „einfachem“ und „qualifiziertem“ Redaktionsversehen; in beiden Fällen sei eine Korrektur im Wege der „Auslegung“ möglich. 451 Näher hierzu Hartung, SJZ 1950, 102 (105 ff.). 452 Das RG beschränkt sich auf dieses objektiv-historische Argument und prüft nicht, ob der Gesetzgeber damit tatsächlich eine Sinnänderung verfolgte: Es sei nicht nötig, weiter auf die Entstehungsgeschichte einzugehen, denn sie allein könne für die Auslegung nicht entscheidend sein (a. a. O., S. 138). 453 So die h. M. bis zur Entscheidung des RG; Nachweise bei Hartung, SJZ 1950, 102 (106).

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sen Dreher ein non liquet konstatiert: Hartung könne allenfalls das Versehen des Referenten, nicht aber die damalige Ansicht des Gesetzgebers zu dieser Frage bezeugen!454 Der BGH hält es „für wenig fruchtbar“, der Entstehungsgeschichte nachzugehen, denn der Wortlaut lasse die Annahme eines Fassungsversehens in beide Richtungen zu (BGH, S. 260). Entscheidend für einen begrenzten Anwendungsbereich des § 27c III spreche die Gesamtsystematik der §§ 27, 27a–c, aber auch die Wahl des Wortes „hierzu“, „das sprachlich auf einen unmittelbar vorhergehenden Gedanken zu verweisen pflegt“ (S. 262).455

Mit der Umgestaltung der Norm schlich sich womöglich ein redaktioneller Fehler in die Regelung ein. Ein dürftiger Anhaltspunkt hierfür ist die Beibehaltung des Wörtchens „hierzu“, das nicht so recht passen will. Wie das OLG Düsseldorf und der BGH feststellen, läßt der Wortlaut jedoch die Annahme eines Redaktionsversehens in zwei Richtungen zu, so daß sich die Erforschung der Entstehungsgeschichte zur Klärung geradezu aufdrängt. Die gegenteilige Folgerung des BGH („wenig fruchtbar“, der Entstehungsgeschichte nachzugehen) kann deshalb nicht überzeugen. Angesichts der Prämisse – Fassungsversehen in beide Richtungen möglich – überzeugt auch die abschließende Erwägung nicht, die doch wieder auf die regelmäßige Bedeutung des Wortes „hierzu“ abstellt456; denn aufgrund der Möglichkeit eines ambivalenten Redaktionsversehens stand gerade diese Annahme auf unsicherem Boden. Freilich hätte eine subjektiv-historische Auslegung (wohl) keinen näheren Aufschluß über die wahren Hintergründe ergeben außer der nachträglichen und somit unmaßgeblichen Äußerung Hartungs, so daß im Ergebnis doch wieder „objektive“ Kriterien entscheiden mußten. Insofern sprachen in Hinblick auf die Gesamtkonzeption der Geldstrafenregelung wohl die besseren Gründe für einen engen Anwendungsbereich des § 27 III StGB a. F.457 Auf dieser Grundlage ist es zutreffend, wenn man die Vorgehensweise des RG dahingehend charakterisiert, es habe ein Redaktionsversehen zur Durchsetzung einer vernünftigen Regelung „ausgenutzt“.458

454

Hartung, SJZ 1950, 102 (108); Dreher, MDR 1952, 181 (182). Am stärksten dürfte freilich das Argument Hartungs (SJZ 1950, 102 [107]) sein, bei anderer Willensrichtung hätte der Gesetzgeber auf die Bestimmung einer Höchstgrenze ganz verzichtet. Von einem Unentschieden der Argumente geht Hülle aus (LM 1954, Nr. 1 zu § 27c StGB): „Es ist letztlich eine Frage des abwägenden Willensentschlusses, welche Gesichtspunkte man für ausschlaggebend erachten . . . will.“ 456 Das RG hat dem Argument, der Gesetzgeber hätte sprachlich richtig „hierbei“ statt „hierzu“ formuliert, wenn er Abs. 3 auch auf Abs. 1 hätte erstrecken wollen, entgegengehalten: „Die Beachtung oder Nichtbeachtung solcher sprachlichen Feinheiten hängt mehr oder weniger von Zufällen ab und läßt keinen zuverlässigen Schluß auf die Bedeutung einer Bestimmung zu.“ (RGSt 77, 137 [138]) 457 Ein „non liquet“ i. V. m. einer Vermutung, daß im Zweifel kein Versehen vorliegt, hülfe hier nicht, denn der Gesetzestext ließ ja beide Deutungen zu. 458 So Hartung, SJZ 1950, 102 (105), der den Weg des RG aber für zulässig hält. 455

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IV. Entstehungsgeschichte

Fall 213 (BGHSt 7, 165; BGH JZ 1954, 541): § 42m StGB i. d. F. von 1952 ließ die Entziehung der Fahrerlaubnis zu, wenn sich der Täter „durch die Tat als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat“. Fraglich war, ob bereits damit eine Gefährdung der Allgemeinheit vermutet werden konnte oder ob dies besonderer Prüfung bedurfte, wie es andere Maßregelvorschriften und noch der Referentenentwurf zu § 42m ausdrücklich voraussetzten. BGH JZ 1954, 541 (542) wendet sich gegen die Annahme einer gesetzlichen Vermutung und erklärt die unterschiedliche Formulierung mit einem Fassungsversehen: „Erstrebte der Gesetzgeber eine so ungewöhnliche Abweichung von den Grundsätzen des Sicherungsrechts . . ., so hätte er dies . . . im Gesetz oder in der Amtl. Begründung ausgesprochen.“ Zu einer anderen Schlußfolgerung gelangt BGHSt 7, 165 nach eingehender Analyse der „vorparlamentarischen Entstehungsgeschichte“, deren Heranziehung der Senat zur Klärung der Frage „für zulässig“ hält (S. 169): Die jetzt gültige Formulierung sei im Referentenentwurf noch nicht enthalten gewesen, sondern gegen die dort vorgesehene ausgetauscht worden (S. 170). Daß dies nicht auf Absicht beruhte, könne „schlechterdings nicht angenommen werden“. Der Senat beruft sich vorsichtig („vgl. auch“) auf Dreher, der als Beteiligter der zuständigen Ministerialbürokratie dargelegt hat, daß § 42m StGB nicht auf einem Redaktionsversehen beruhe.459 Das zeige auch ein Vergleich der Begründungen zum Referenten- und zum (Gesetz gewordenen) Regierungsentwurf.

Mit dem genaueren Blick in die Entstehungsgeschichte leistet der Senat eigentlich Arbeit, die von der Gegenauffassung (BGH JZ 1954, 541) hätte erwartet werden können.460 Fragwürdig ist bei einem recht klaren, nicht zu unsinnigen Ergebnissen führenden Wortlaut auch die „Beweislastumkehr“, die Anhaltspunkte im Gesetz oder in der Entstehungsgeschichte verlangt, die gegen ein Fassungsversehen sprechen.461 Wenn ein Versehen nicht offenkundig ist, sollte erwartet werden, daß dessen Befürwortern eine Bringschuld obliegt.462 Festzuhalten bleibt jedenfalls die zentrale Rolle der historischen Auslegung für die Thematik „Fassungsversehen“. Die nachträgliche literarische Stellungnahme Drehers kann in diesem Zusammenhang allerdings – wie im vorhergehenden Fall die Äußerung Hartungs – nicht als authentische Stimme verwertet werden. 459 Dreher, JZ 1954, 542 (543, l. Sp.), der sich offenbar durch Hartung (JZ 1954, 137 [138]) zur Stellungnahme provoziert sah. Dieser hatte der neuen Ministerialbürokratie „in alter Kollegialität“ (Dreher) bescheinigt, in die Aufgabe der richtigen Gesetzesformulierung erst noch „hineinwachsen“ zu müssen. 460 Nicht tief genug in die Entstehungsgeschichte bei der Behauptung eines gesetzgeberischen Versehens tauchte nach Ansicht von Lackner und Lenzen auch BGHSt 31, 226 ein, siehe oben Fn. 186 und den dazugehörigen Text. 461 Wie BGH JZ 1954, 541 aber Hartung, JZ 1954, 137 (138), der ebenfalls Anhaltspunkte in der Entstehungsgeschichte verlangt, die gegen ein Versehen sprechen, und selbst keine erkennt. BGHSt 7, 165 hat genauer hingeschaut! 462 Schneider (Rechtspfleger 1998, 499 [500]) sieht bei klarem Gesetzeswortlaut eine „wissenschaftliche Beweislast“ für denjenigen, der ein Redaktionsversehen behauptet. Schünemann (in: FS für Klug, S. 183, Fn. 45) verlangt, daß das Redaktionsversehen durch eine historische Auslegung nachgewiesen und nicht lediglich postuliert wird.

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Andernfalls müßten konsequenterweise die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten als Zeugen vernommen werden!463 Die Maßgeblichkeit der Entstehungsgeschichte zeigt sich auch im folgenden Beispiel: Fall 214 (BGHSt 1, 143; 29, 311; 35, 21 – „Geldfälschung, Teil III“; siehe oben Fall 71 und Fall 135): Nach § 147 Alt. 1 StGB i. d. F. bis 1974 wurde bestraft, wer das „nachgemachte oder verfälschte Geld als echtes in Verkehr bringt“, nach Alt. 2, wer „nachgemachtes oder verfälschtes Geld sich verschafft und solches . . . in Verkehr bringt“. Beruhte das Fehlen des Zusatzes „als echt“ in Alt. 2 auf einem gesetzgeberischen Versehen, das „im Weg der Auslegung“464 zu korrigieren war? Die Frage war von Relevanz, weil RGSt 69, 3 (8) für das Inverkehrbringen „als echt“ (Alt. 1) verlangt hat, daß der Empfänger das Geld für echt halte; die Weitergabe an einen eingeweihten Mittelsmann genügte den Anforderungen also nicht.465 BGHSt 1, 143 (145) sieht in der unterschiedlichen Formulierung von Alt. 1 und Alt. 2 keine Ungenauigkeit oder ein Versehen des Gesetzgebers. Der Senat beruft sich dabei u. a. auf den Wortlaut466 und auf sonst eintretende unsachgemäße Ergebnisse (S. 144). Die Entstehungsgeschichte wird nicht analysiert. Der Gesetzgeber des EGStGB hat die §§ 146 ff. reformiert und seltsamerweise erneut die Frage nach einem Fassungsversehen aufgeworfen: Nach § 146 I Nr. 1, 2 wird nunmehr bestraft, wer Geld in der Absicht nachmacht oder sich verschafft, „daß es als echt in Verkehr gebracht oder daß ein solches Inverkehrbringen ermöglicht werde“. Durch die Alternative des „Ermöglichens“ sollte die oben dargestellte Problematik (gegen RGSt 69, 3!) in dem Sinn geklärt werden, daß auch die Weitergabe an Eingeweihte erfaßt ist.467 Jedoch wurde es versäumt, die „Vollzugsdelikte“ des § 146 I Nr. 3 und § 147 (Gesetzestexte oben vor Fall 34) ebenfalls mit der Variante des Ermöglichens zu versehen, wodurch bei objektiv-systematischer Betrachtung der Umkehrschluß naheliegt, bei diesen Tatbeständen die Weitergabe an den Eingeweihten nicht genügen zu lassen. Genau so hatte ja BGHSt 1, 143 für die unterschiedlich formulierten Varianten in § 147 a. F. argumentiert! BGHSt 29, 311 hilft dem Gesetzgeber, der „unverständlicherweise eine sehr umstrittene Zweifelsfrage des früheren Rechts fortschleppt“468, hingegen aus: Das argumentum e contrario sei angesichts der Entstehungsgeschichte nicht angebracht; der Gesetzesgeber habe in § 146 I Nr. 1 nur eine Klarstellung vornehmen wollen, es jedoch versäumt, auch die §§ 146 I Nr. 3, 147 mit diesem Ziel in Einklang zu bringen (S. 314). Für einen unterschiedlichen Inhalt der Vorschriften sei auch sachlich kein Grund ersichtlich. BGHSt 35, 21 (24) fragt sogar, ob hier nicht nur ein „Scheinproblem“ vorliege, weil der Gesetzgeber mit der Aufnahme der Ermöglichungsabsicht in § 146 I Nr. 1, 2 463

Dazu oben IV 4 a. So die Ansicht der Revision in BGHSt 1, 143. 465 Die Literatur hat hingegen teilweise die Tatbestandsalternativen angeglichen und die Voraussetzungen „als echt“ auch in Alt. 2 hineingelesen, diese aber (wiederum teilweise) in einem weiteren Sinn als die Rechtsprechung verstanden und auch die Weitergabe an einen Eingeweihten erfaßt, z. B. Herdegen, in: LK-StGB9, § 146, Rn. 12; ausführlich dazu Bohne, JZ 1952, 205 (206) m. w. N. 466 Ebenso bereits RGSt 1, 408 (409). Krit. zur unzureichenden Begründung in RGSt 1, 408 und BGHSt 1, 143 Bohne, JZ 1952, 205 (206). 467 So BT-Drucks. 7/550, S. 226 f. 468 Herdegen, in: LK-StGB10, § 146, Rn. 23. 464

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nur eine Klarstellung habe vornehmen wollen. – In der Literatur hat vor allem Wessels mit den oben dargelegten und weiteren Argumenten (nur Klarstellung, kein Sachgrund für unterschiedliche Behandlung, Gesetzesmaterialien, „ungewöhnlicher Zeitdruck“ bei den Beratungen zum EGStGB) die Ansicht vertreten, es liege ein Redaktionsversehen vor; deshalb dürfe das „sachlich Gewollte dem Gesetz im Wege der Auslegung entnommen werden“.469 Den Gegenstandpunkt hat das OLG Stuttgart eingenommen (NJW 1980, 2089 [2090 am Ende]): Das Gesetz sei nicht anders formuliert, als es der Gesetzgeber wollte; daß er „subjektiv von einer anderen Reichweite seiner Regelung ausging“, ändere nichts am objektiven Gehalt der Norm.

Klar ist zunächst, daß eine Wortlautkorrektur – etwa durch ein „Hinzulesen“ der Ermöglichungs-Variante in die übrigen Tatbestände – zulasten des Täters nicht in Frage kommt.470 Die insoweit fragwürdige Begründung des BGH, der eine Auslegung nach der Zielvorstellung des historischen Gesetzgebers mit dem Wortlaut für vereinbar hält, wurde bereits an anderer Stelle erörtert (oben Fall 67). Daß offenbar auch der BGH von der Unzulässigkeit einer solchen Korrektur ausgeht, zeigt die sich anschließende gekünstelte und grammatikalisch-systematisch kaum haltbare Interpretation. Welche Art von Versehen lag aber überhaupt vor? Wenn man fragt, ob eine sprachliche oder eine inhaltliche Fehlleistung des Gesetzgebers vorliegt, fällt die Abgrenzung für den vorliegenden Fall nicht leicht. Sowohl aus der Entstehungsgeschichte als auch aus teleologischen Erwägungen folgt zwar eindeutig, daß auch §§ 146 I Nr. 3, 147 die fragliche Formulierung enthalten müßten, aber das spricht noch nicht, wie das OLG Stuttgart zu Recht sagt, für die Annahme eines Erklärungsirrtums (Verschreiben oder Versprechen). Näher liegt ein Inhaltsirrtum, denn die Gesetzesverfasser sind offenbar davon ausgegangen, daß mit ihrer Regelung für alle Geldfälschungsdelikte das gleiche gelte471; die Redaktoren haben damit ihr Werk anders verstanden, als es sich für die Gemeinschaft der Rechtsanwender nach Wortlaut und Systematik darstellt. Ebenso plausibel kann man allerdings sagen, der Gesetzgeber habe sein Werk nicht vollständig „durchdacht“, nicht alle denkbaren Varianten in seine Erwägungen eingestellt und deshalb das Gesetz falsch oder inkonsequent konstruiert; deshalb bedeutet eine Auslegung im Sinn von BGHSt 29, 311 eine sachliche, nicht bloß eine sprachliche Korrektur472, zumal auch die Gegenauffassung nicht zu einem 469 Wessels, Strafrecht BT/121, Rn. 907 und in: FS für Bockelmann, S. 677 f.; Herdegen (in: LK-StGB10, § 147, Rn. 5) sieht die Fehlleistung des Gesetzgebers „fast“ als Redaktionsversehen. 470 Wessels äußert sich zur Vereinbarkeit seiner Auslegung mit dem möglichen Wortsinn nicht eindeutig: Es erscheine „methodisch zumindest nicht unzulässig, dem Willen des Gesetzgebers hier größere Bedeutung beizumessen als dem . . . Wortlaut“ (in: FS für Bockelmann, S. 678). Dazu, daß es vorliegend überhaupt um eine Rechtsanwendung zulasten des Täters geht, siehe Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1, Rn. 933a. 471 Dafür spricht eine weitere Stelle in den Materialien (BT-Drucks. 7/1261, S. 13), in der die Gesetzesverfasser beim Durchspielen der Möglichkeiten einen „an sich“ problematischen Fall ohne weiteres unter § 147 subsumieren.

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offensichtlich sinnwidrigen Ergebnis führt. Eine trennscharfe Differenzierung nach der Art des Gesetzesfehlers dürfte aber gar nicht nötig sein. Denn, daß der „wahre“ oder hypothetische Wille des Gesetzgebers hier für eine Angleichung der Tatbestände spricht, bezweifelt niemand. Vom Standpunkt einer subjektivhistorischen Auslegung ist das Anliegen des BGH somit berechtigt, wenn nicht der Wortlaut entgegenstünde. Ins rechtstheoretische Kuriositätenkabinett gehört folgende Entscheidung des BGH zu einem Thema, das die frühe Rechtsprechung häufig beschäftigt hat. Ausgangspunkt ist ein offensichtliches Redaktionsversehen: Fall 215 (BGHSt 17, 309 – „Kondomautomat“): Mit dem LadenschlußG von 1956 setzte der Gesetzgeber die Ladenschlußregelung des § 41a GewO außer Kraft, ließ die Norm aber in der Strafvorschrift des § 146a GewO stehen; von den dort enthaltenen Verweisungen ging somit die auf § 41a ins Leere. 1960 erhielt § 41a einen neuen Inhalt, wonach das Feilbieten von Kondomen in Außenautomaten untersagt war. Damit könnte die gegenstandslose Verweisung in § 146a GewO mit neuem Inhalt „aufgefüllt“ worden und der Streit, ob das Aufhängen der Automaten § 184 I Nr. 3a StGB (a. F.) erfüllt, insbesondere „Sitte oder Anstand“ verletzt473, durch eine Spezialregelung obsolet geworden sein. Dem Wortlaut folgend hat das BayObLG in der Tat so entschieden und angenommen, daß der Gesetzgeber die unveränderte Verweisung auf § 41a neu „in seinen Willen“ aufgenommen habe, als er § 146a in anderen Teilen änderte (NJW 1962, 166 [167]). Dagegen hält der BGH, obwohl der Wortlaut für die Ansicht des BayObLG zu sprechen scheine (S. 312), § 41a nicht für strafbewehrt und begründet das mit der Entstehungsgeschichte und normtheoretischen Argumenten: Die Verweisung in § 146a auf § 41a sei mit Aufhebung des § 41a „förmlich außer Kraft gesetzt [worden], mag sie auch nicht buchstäblich aus § 146a entfernt worden sein“, und damit „totes Wort“ (S. 317). Demgemäß sei nichts mehr vorhanden gewesen, „was der Gesetzgeber in seinen Willen hätte aufnehmen können“. Dafür spreche auch eine Norm des Ladenschlußgesetzes, nach der alle diesem Gesetz widersprechenden Vorschriften außer Kraft treten, wozu auch die Verweisung auf § 41a gehöre (S. 316). Der Gesetzgeber hätte § 146a mit der Verweisung neu in Kraft setzen müssen, was ohne Probleme hätte geschehen können (S. 317 f.). Aus den Gesetzesberatungen ergebe sich nichts anderes und selbst dann könnte eine ungültige Norm durch Aufnahme in den gesetzgeberischen Willen keine Gültigkeit erlangen (S. 318). In Anbetracht verwaltungsrechtlicher Folgen werde § 41a mit dieser Auslegung auch nicht sinnlos. Insgesamt sei bei der „Unklarheit im Gesetzesausdruck und bei so viel Ungewißheit über den Gesetzeswillen“ in Anbetracht von Art. 103 II GG keine Bestrafung gemäß § 146a möglich (S. 320).

Bei unbefangener Lesart des Gesetzestext ist die Strafbewehrung des § 41a nicht zu bezweifeln. Daß der Senat am Ende seiner Argumentation von einer „Unklarheit im Gesetzesausdruck“ ausgeht, ist unverständlich und widerspricht den eigenen Ausführungen zu Beginn der Entscheidung. Schwierig ist die 472 Aus Perspektive eines „Objektivisten“ stellt die Umdeutung einer klaren und nicht sinnwidrigen Regelung ohnehin als sachliche Änderung der Norm dar! 473 Bejahend BGHSt 13, 16; 15, 361.

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IV. Entstehungsgeschichte

normtheoretische Annahme des BGH: Die Verweisung sei „förmlich außer Kraft“ getreten, aber „buchstäblich“ nicht entfernt worden; sie muß also als nicht existent behandelt werden. Will der Gesetzgeber die Strafbewehrung des neuen § 41a erreichen, muß er § 146a insgesamt neu in Kraft setzen und nicht lediglich partiell ändern. Das BayObLG argumentiert hingegen: Die Verweisung sei nicht gestrichen, sondern nur gegenstandslos und später mit neuem Inhalt versehen worden. Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Auffassungen ist der „Wille des Gesetzgebers“ zu betrachten, der aus den Gesetzesmaterialien nicht eindeutig hervorgeht. Aus Sicht des BGH ist er letztlich irrelevant, weil der tote Text kein Träger für einen etwaigen, auf Bestrafung zielenden Willen sein kann. Hätte der Gesetzgeber dennoch an diese Worthülse angeknüpft, wäre er demzufolge erneut einem Irrtum unterlegen.474 Vom theoretischen Ausgangspunkt des BayObLG läge ein Versehen des Gesetzgebers hingegen nur vor, wenn dieser keine Strafbewehrung wollte; dann nämlich hätte er die noch vorhandene Verweisung konsequent streichen müssen (so BayObLG NJW 1962, 166 [167]). Insgesamt hängt die Entscheidung somit von der normtheoretischen Prämisse ab, mit der es sich der BGH ersichtlich nicht leicht gemacht hat.475 Hält man sie allerdings für falsch, so sollte die Lösung klar im Sinn des BayObLG ausfallen. Der eindeutige Wortlaut würde dann eine Vermutung für einen auf Strafbewehrung gerichteten Willen des Gesetzgebers476 begründen, was auch zu einem sinnvolleren Ergebnis führen würde als der Weg des BGH. c) Inhaltsirrtümer der Gesetzesverfasser Besonders zurückhaltend geben sich die Strafsenate mit der Korrektur von Inhaltsirrtümern der Gesetzesverfasser, wenn also die Norm in Erwartung einer bestimmten Auslegung erlassen wird, die „objektiv“ aber mit Wortlaut und Systematik unvereinbar ist. Für die Zurückweisung solcher Fehlvorstellungen als unmaßgeblich greift der BGH auf verschiedene Argumentationsmuster zurück: (1) Die Vorstellung widerspricht dem klaren und eindeutigen Wortlaut (sensclair-doctrine), (2) sie hat keinen Ausdruck im Gesetz gefunden (Andeutungstheorie), (3) die Berücksichtigung scheitert an Vertrauensschutzerwägungen (Art. 103 II GG), (4) die Fehlvorstellung einer Einzelperson (oder eines Ausschusses) bedeutet nicht, daß auch der „Wille des Gesetzgebers“ auf diesem Fehler beruht (Paktentheorie, dazu bereits oben IV 4 a). 474

Vgl. Tröndle, GA 1966, 1 (25). Sonderlich überzeugend ist sie allerdings nicht, zumal wenn man den vom BGH gewiesenen Weg mit dem vom Gesetzgeber beschrittenen vergleicht. – Zur Kontrolle sollte auch der umgekehrte Fall erwogen werden, in dem auf oben beschriebenen Weg eine täterbegünstigende Norm erlassen worden wäre. Könnte man dann wirklich durch Außerachtlassung des Gesetzestextes dem Täter Vertrauensschutz versagen? 476 Dünnebier (JR 1961, 387) hält die gegenteilige Annahme (einer lex imperfecta) für „absurd“. 475

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In BGHSt 6, 25 (oben Fall 12) wird die Ansicht des Ministers, mit der Gesetzesänderung sei keine inhaltliche Veränderung verbunden, wegen des klaren Wortlauts als nicht entscheidend angesehen. Die Meinung habe, „wenn sie wirklich bestanden haben sollte, im Gesetz keinen Ausdruck gefunden“ (S. 26). Man kann hinzufügen: Ihre Durchsetzung hätte (auf Basis der herrschenden Konkurrenzlehre) auch einen täterbelastenden Verstoß gegen die Wortlautgrenze bedeutet. — Auch BGHSt 11, 52 (oben Fall 4) beruft sich auf den klaren Wortlaut. Für einen Irrtum des Rechtsausschusses gebe es keinen Anhaltspunkt, aber selbst wenn: Angesichts des klar ausgedrückten Willen des Gesetzgebers wäre ein solcher Irrtum irrelevant (S. 53). Aber einen Irrtum unterstellt: Ist es dann wirklich noch der „Wille des Gesetzgebers“, der klar zum Ausdruck kommt? — BGHSt 23, 36 (oben Fall 54) hält die Schlußfolgerung aus einem veränderten Wortlaut auf einen veränderten Sinn für zwingend, auch wenn dies unverkennbar den Absichten des Gesetzgebers widerspreche.477 Ausdrücklich auf das Analogieverbot beruft der Senat sich dabei nicht, obwohl es möglich gewesen wäre. — BGHSt 31, 10 (oben Fall 190) widerspricht der Auffassung, der Gesetzgeber habe in vorliegender Frage keine Rechtsänderung bewirken wollen. Damit, daß die Gegenposition außerdem mit Art. 103 II GG kollidierte, begnügt der BGH sich nicht: „Zudem wären die Gerichte an eine mit dem Gesetzeswortlaut unvereinbare Auslegung des betreffenden Gesetzesentwurfs nicht gebunden“ (S. 14). — In BGHSt 34, 211 (oben Fall 128) ging der Rechtsausschuß von einem beschränkten Anwendungsbereich der Vorschrift aus (nur „Sondermüll“), hielt aber eine Anpassung des eindeutig weitergehenden Wortlauts („Abfall“) nicht für nötig. Der BGH argumentiert, die Absicht des Rechtsausschusses habe im Wortlaut keinen Niederschlag gefunden; zudem widerspreche sie der allgemeinen Zielsetzung, die der Norm zugrunde lag. Wie wäre es, wenn dem BGH die allgemeine Zielsetzung nicht zum Überspielen der konkreten Vorstellung zur Verfügung stünde? — Auch in BGHSt 43, 366 (oben Fall 198) erwies sich die Vorstellung der Gesetzesverfasser über die Reichweite der Norm als Fehlprognose. Da die Durchsetzung der Vorstellungen dem Analogieverbot widersprach, begnügt der BGH sich hier zu Recht mit einem Hinweis auf den entgegenstehenden Wortlaut.

Als von vornherein unproblematisch erweisen sich somit Fälle, in denen eine Wortlautkorrektur sich zum Nachteil des Täters auswirkt. Ist aber auch sonst die Berichtigung eines eindeutigen Wortlauts unzulässig, um Fehlvorstellungen der Redaktoren Rechnung zu tragen? Aus den genannten Beispielen wird man in der Tat auf eine solche Auffassung des BGH schließen dürfen, zumindest unter der – nicht ausgesprochenen – Voraussetzung, daß der klare Wortlaut zu keinem sinnwidrigem Ergebnis führt.478 Andeutungstheorie und Eindeutigkeitsregel erscheinen den Senaten offenbar als so zwingend, daß sie selbst in den dafür prädestinierten Fällen darauf verzichten, sich zusätzlich auf das sicherlich nicht schwache Argument „Analogieverbot“ zu stützen. Die Berufung auf diese For477 BGHSt 27, 45 hätte konsequent ebenso entscheiden müssen, nimmt statt dessen aber eine höchst zweifelhafte Wortauslegung in Kauf (siehe bereits oben Fall 19 und Fall 54); insoweit liegen BGHSt 27, 45 und 29, 311 völlig parallel. 478 Irrelevant ist es, ob die gegenteilige Ansicht zu sinnvolleren oder besseren Ergebnissen führt, was in BGHSt 11, 52 durchaus der Fall war; vgl. allerdings auch BGHSt 4, 300 (unten Fall 222).

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IV. Entstehungsgeschichte

malregeln ist jedoch problematisch. Zur Unhaltbarkeit der Andeutungstheorie wurde bereits alles Notwendige gesagt.479 Schwieriger liegt es bei der Eindeutigkeitsregel, denn daß eine eindeutige und durchführbare Norm nicht vom Willen des Gesetzgebers getragen sein soll, erscheint wenig plausibel. Dennoch sind Abweichungen vom eindeutigen Wortlaut möglich und zulässig, was durch zahllose Analogien und teleologische Reduktionen belegt wird. Ein relevanter Unterschied zu diesen Formen der Rechtsfortbildung besteht aber bei den Gesetzeskorrekturen grundsätzlich nicht, zumal Reduktionen des Wortlauts – die Nichtanwendung der Norm trotz klarer Erfassung des Falls durch den Text – häufig auf subjektiv-teleologische Erwägungen gestützt werden. Man sollte deshalb „eindeutige“ Vorschriften nicht dem sturen Regime der sens-clair-doctrine unterwerfen, sondern eine widerlegbare Vermutung annehmen, daß sie mit dem Willen des Gesetzgebers in Einklang stehen. Eine Gesetzesberichtigung (zugunsten des Täters) sollte nur in Betracht kommen, wenn (1) eine gegenteilige Vorstellung der Gesetzesverfasser zweifelsfrei aus der Entstehungsgeschichte belegt werden kann480, (2) wenn kein Zweifel daran besteht, daß die Verfasser, hätten sie die Lage durchschaut, eine anderslautende Formulierung gewählt hätten, und (3) wenn mit der Berichtigung keine Widersprüche zu anderen Normen eintreten, denn dann bestünde zum einen Anlaß, nochmals in eine nähere Prüfung der Sachlage einzusteigen, zum anderen Unklarheit, ob der „wahre“ Wille nicht seinerseits irrtumsbefangen ist. Offensichtlichkeit sollte verlangt werden, um die Gesetzeskorrektur im Sinn der Gesetzesurheber von einer eigenmächtigen Verbesserung des Inhalts durch den Rechtsanwender abzugrenzen.481 Mit den genannten Kriterien gelangt man in den oben genannten Fällen wohl zu den gleichen Ergebnissen wie der BGH. In BGHSt 34, 211 liegt, falls die Differenz zwischen konkreter und genereller Zielvorstellung wirklich besteht, die Lösung schon in der Entstehungsgeschichte begründet (siehe oben IV 4 c); andernfalls käme es darauf an, ob ein den Wortlaut einschränkendes Verständnis keinen Widerspruch zu anderen Normen erzeugen würde. Hinsichtlich BGHSt 11, 52 wäre zu prüfen, ob der Rechtsausschuß wirklich gegenteiliger Ansicht war, ob dies auch die Meinung des „Gesetzgebers“ war und wenn ja, ob die Durchsetzung des „wahren“ Willens mit den sonstigen Zuständigkeitsnormen vereinbar war, wogegen einiges sprach. Nicht treffend ist die in BGHSt 31, 10 (14) geäußerte Ansicht, die Gerichte seien an eine mit dem Wortlaut unvereinbare Auslegung der Verfasser nicht „gebunden“. Gebunden ist die Judikative an die Wertentscheidung des Gesetzgebers (Art. 20 III, 97 I GG); was aber bei einem Widerspruch zwischen Wille und Erklärung als Wertentscheidung zu gelten hat, bedarf erst der Prüfung.

479

Siehe oben IV 3 und sogleich Fall 217. Der BGH läßt dies wegen der Formalregeln oftmals offen. 481 Vgl. oben Fn. 450. Nicht entscheidend ist es hingegen, ob das Versehen schon ohne Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte offensichtlich erkennbar ist. 480

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Daß der BGH durchaus bereit ist, eine Norm anders zu verstehen, als es der klare Wortlaut nahelegt, zeigt der Große Senat in folgendem Beispiel. Freilich würde die gegenteilige Auffassung hier zu einem wenig überzeugenden und unpraktikablen Ergebnis führen. Fall 216 (BGHSt GS 5, 323): Der Große Strafsenat mußte über den Inhalt von Art. 103 III GG (ne bis in idem) entscheiden. Dabei leitet er den „Willen des Grundgesetzes“ u. a. aus der rechtgeschichtlichen Entwicklung dieses Grundsatzes ab und gelangt zu dem Ergebnis, daß die Norm nicht erst – wofür der Wortlaut spreche – die zweimalige Bestrafung einer Tat, sondern bereits die erneute Durchführung des Strafverfahrens verbiete (S. 328). Äußerungen des Redaktionsausschusses des Parlamentarischen Rates ließen ebenfalls darauf schließen, daß der Grundsatz in seiner hergebrachten Form übernommen werden sollte (S. 329). – Der Gesetzgeber hat es also nicht erreicht, den Stand der Dinge korrekt wiederzugeben. Gleichwohl hilft der Große Senat ungeachtet des recht eindeutigen Wortlauts aus.

Eine problematische Argumentation zu einem vermeintlichen Inhaltsirrtum liegt in einer weiteren Entscheidung zugrunde, die mit der Andeutungstheorie arbeitet: Fall 217 (BGHSt 15, 138 = oben Fall 53). Nach Ansicht des Senats steht der Inhalt des Begriffs „Gemeingefahr“ sowohl fachsprachlich als auch nach allgemeinem Sprachgebrauch fest und umfaßt nicht die gezielte Gefährdung einer bestimmten Person. Der Gesetzgeber habe sich womöglich bei Einführung der Definition über die „wahre“ Bedeutung des Begriffs geirrt; das berechtige den Richter jedoch nicht, den „wirklichen“ Sinn außer acht zu lassen und nur den Willen des Gesetzgebers zugrunde zu legen (S. 141). Wolle dieser vom allseits anerkannten Begriffsinhalt abweichen, müsse er das zweifelsfrei zum Ausdruck bringen (S. 142). – Der Senat läßt es dahinstehen, ob die Gesetzesurheber wirklich einem Irrtum unterlagen,482 und setzt die Anforderungen der Andeutungstheorie herauf („zweifelsfrei“). Dazu ist er gezwungen, weil der Wortlaut beide Ansichten zuließ, ja sogar eher für die Gegenmeinung sprach. Der Ansicht des BGH wäre nur zu folgen, wenn die Entstehungsgeschichte nicht klar ergäbe, ob die Gesetzesverfasser dem Begriff wirklich einen neuen Inhalt geben wollten; nur dann wäre ein Festhalten am bisher unbestrittenen und dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechenden Verständnis gerechtfertigt.

d) Motivirrtümer Ähnlichkeit mit den Inhaltsirrtümern weisen Konstellationen auf, in denen die Gesetzesverfasser von unzutreffenden tatsächlichen Umständen ausgehen, ihrem Werk fehlerhafte Rechtsvorstellungen zugrunde legen oder Auswirkungen nicht bedenken, welche die Integration einer Norm in das Gesamtgeflecht des Gesetzes haben kann. Man mag in solchen Fällen von einem „Motivirrtum“483 482

Zur fragwürdigen historischen Auslegung des BGH vgl. oben Kap. III, Fn. 208. Zum Begriff u. a. Engisch, Einführung, S. 230; G. und D. Reinicke, MDR 1952, 141 (142) mit Beispiel. 483

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IV. Entstehungsgeschichte

sprechen, weil aufgrund falsch eingeschätzter Umstände bereits der Willensbildungsprozeß fehlerhaft ist. Während beim Inhaltsirrtum der Gedanke klar und fehlerfrei ist, der Ausdruck ihm aber nicht entspricht, ist hier die Vorstellung selbst fehlerbehaftet. Man kann insofern zwischen einem vordergründigen („psychologischen“), aber falschen und einem hintergründigen, „eigentlichen“ („normativen“) Willen differenzieren. Aus diesem Unterschied zum Inhaltsirrtum folgt freilich nicht, daß eine Korrektur des Motivirrtums ausgeschlossen ist, denn maßgeblich ist nicht der psychologische, sondern der normative Wille des Gesetzgebers.484 Demgemäß liegt in der Korrektur keine Verbesserung oder Änderung des gesetzgeberischen Gedankens (allenfalls des vordergründigen!) oder der rechtspolitischen Wertentscheidung485, sondern nur die Durchsetzung des „wahren Willens“. Die Berichtigung des Motivirrtums ist somit zwar grundsätzlich zulässig, sie scheitert aber regelmäßig aus anderen Gründen. Zunächst ist die Annahme unwahrscheinlicher, daß nicht nur einzelne Abgeordnete oder Redaktoren, sondern der Gesetzgeber insgesamt einem solchen Irrtum unterliegt;486 die mit der „Paktentheorie“ verbundene Zuschreibung steht damit auf unsicherer Grundlage. Weiter ist in diesen Situationen oft unklar, welcher Auffassung der nicht irrtumsbefangene Gesetzgeber gewesen wäre.487 Und schließlich würde die Berichtigung eines Motivirrtums oftmals zu einer Neuinterpretation anderer Vorschriften nötigen, folglich die Regelungsziele eines früheren Gesetzgebers variieren und damit womöglich zu erheblichen systematischen Ungereimtheiten führen (vgl. das Kriterium 3 zum Inhaltsirrtum). Es ist deshalb nicht Ausdruck einer „objektiven“ Auslegungstheorie, in der letztgenannten Konstellation die Durchsetzung des „wahren“ Willens in einer Rangfolgeentscheidung am Regelungssystem scheitern zu lassen. Daß es den Gerichten mitunter fast Vergnügen zu bereiten scheint, Rechtsirrtümer und handwerkliche Fehler des Gesetzgebers aufzudecken und darauf hinzuweisen, ist eine andere Frage. Fall 218 (BGHSt 28, 272): Gemäß § 61 Nr. 5 StPO kann von der Vereidigung eines Zeugen abgesehen werden, wenn Staatsanwalt, Verteidiger und Angeklagter darauf verzichten. Wie steht es mit dem Nebenkläger? Der Regierungsentwurf zu § 61 ging davon aus, daß der Nebenkläger nicht verzichten müsse, findet damit aber keine Gefolgschaft beim BGH: „Diese Auslegung trifft jedoch nicht zu“ (S. 273). Gemäß § 397 StPO (a. F.) stünden dem Nebenkläger die Rechte des Privatklägers 484 G. und D. Reinicke, MDR 1952, 141 (142, r. Sp.) weisen zu Recht darauf hin, daß die Gegenauffassung dem Richter nicht zutraut, die wahre Gebotsvorstellung des Gesetzgebers zu ermitteln, so wie man zuvor den Richter an den Wortlaut binden wollte; damit setze sich der gleiche Fehler in einer tieferen Schicht fort. 485 Wedel, Entstehungsgeschichtliche Argumente, S. 206: Keine unerlaubte rechtspolitische Erwägung des Richters. 486 Heck, Gesetzesauslegung, S. 215. 487 Siehe Heck, Gesetzesauslegung, S. 215 und die oben beim Inhaltsirrtum dargestellten Kriterien.

8. Irrtümer und Versehen der Gesetzesverfasser

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zu; dieser müsse hinzugezogen und gehört werden, wenn der Staatsanwaltschaft diese Rechte zustehen (§ 385). Aufgrund der unterschiedlichen Rolle zwischen Privat- und Nebenkläger sei die Verweisung des § 397 zwar nicht „restlos“ durchführbar, hier stehe dem aber nichts entgegen. § 61 StPO sei in Zusammenhang mit den weiteren Vorschriften und so auszulegen, daß er sich bruchlos in das System des Strafverfahrensrechts einfügt (S. 274 f.). – Der BGH düpiert die Gesetzesverfasser, die offenbar die Rechtslage nicht durchschaut haben. Ihr Wille scheitert an der Integration der Norm in das Gesamtgeflecht der StPO. Fall 219 (BGHSt 44, 62 – „Verteilungsgehilfe“): Auch hier erteilt der Senat einer s. E. irrigen Deutung der Gesetzesverfasser eine Absage. Es sei „nicht richtig, wenn in der Begründung zum Regierungsentwurf des EGStGB die Meinung vertreten wird (BTDrucks. 7/550 S. 227), Verteilungsgehilfen . . . seien nur nach § 147 StGB strafbar. Diese Ansicht läßt sich in das System der §§ 146, 147 StGB nicht einordnen . . .“ (S. 67). Fall 220 (u. a. BGH NStZ 1999, 301): Der Gesetzgeber des 6. StrRG 1998 hat eine wesentliche Umgestaltung des qualifizierten Raubes vorgenommen und damit viel Verwirrung gestiftet. Insbesondere die Auslegung des Begriffs „gefährliches Werkzeug“, das der Täter in § 250 I Nr. 1a StGB „bei sich führt“ und in § 250 II Nr. 1 „verwendet“, bereitet seitdem große Schwierigkeiten. Die Gesetzesverfasser waren der Ansicht, daß insoweit auf die hergebrachte, zu § 223a StGB a. F. entwickelte Definition zurückgegriffen werden kann488, wonach es bezüglich der Gefährlichkeit des Werkzeugs auch auf die konkrete Art der Verwendung ankommt. Die Übertragung dieser Definition auf § 250 I Nr. 1a scheitert jedoch an der dort vorausgesetzten Tathandlung des Beisichführens (S. 302 am Ende)489, ein „evidenter gesetzgeberischer Motivirrtum“490. – Es war schon fraglich, ob die in den Gesetzesmaterialien geäußerte Ansicht überhaupt als „Wille des Gesetzgebers“ oder Zielvorstellung zu einer konkreten Frage gelten kann oder ob nicht vielmehr nur eine unverbindliche Auslegungsempfehlung vorlag. Auf der anderen Seite ist auch völlig unklar, wie ein dahingehender Wille noch sinnvoll (korrigierend) berücksichtigt werden könnte. Denn angenommen, den Redaktoren wäre der Mißgriff aufgefallen, wie hätten sie die Norm dann ausgestaltet?

Eine Gesetzesberichtigung kommt jedoch in Betracht, wenn die Gesetzesverfasser offensichtlich aufgrund fehlerhafter Rechtsansichten eine mangelhafte Norm verabschiedet haben, die Korrektur auf diese Norm beschränkt bliebe und unzweifelhaft im Willen der Verfasser läge. Fall 221 (BGHSt 1, 74; OGHSt 3, 44 – „Irrtum im Beweggrund“): Das StraffreiheitsG 1949 schloß Steuervergehen von der Amnestie aus (§ 12). Der Grund hierfür bestand darin, daß Täter dieser Vergehen sich durch Spezialregelungen zur „tätigen Reue“ (Selbstanzeige) Strafbefreiung verschaffen konnten, so daß es ungerecht erschien, auch die übrigen Täter, welche die gegebenen Möglichkeiten außer acht ließen, generell zu amnestieren.491 Freilich wurde übersehen492, daß durchaus nicht 488

BT-Drucks. 13/9064, S. 18. Beim Verwenden (§ 250 II Nr. 1) ist der Transfer dagegen möglich, vgl. BGH StV 1998, 485 und 486. 490 Küper, in: FS für Hanack, S. 577. 489

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IV. Entstehungsgeschichte

alle Steuerdelikte die Möglichkeit der tätigen Reue vorsahen. Der OGH sieht sich deshalb zur Durchsetzung des wirklichen gesetzgeberischen Willens und damit zur „berichtigenden Auslegung“493 berechtigt (S. 47 f.). Für die vom Gesetzeswortlaut abweichenden gesetzgeberischen Absichten seien in der Entstehungsgeschichte sichere Anhaltspunkte erkennbar (S. 49 ff.). Anders der BGH: Angesichts des klaren Wortlauts sei kein Raum, um einen anderslautenden Willen des Gesetzgebers überhaupt zu berücksichtigen (BGH, S. 76). Aber auch bei Heranziehung der Entstehungsgeschichte ergebe sich nichts anderes. Aus den Äußerungen weiterer Abgeordneter sei klar ersichtlich, daß der erklärte Wille der Gesetzesverfasser auf den Ausschluß aller Steuervergehen gerichtet gewesen sei (S. 77 f.). Ein etwaiger „Irrtum im Beweggrund“ sei deshalb unbeachtlich und berechtige, selbst wenn sämtliche Abgeordneten die unrichtige Rechtsauffassung geteilt hätten, nicht zur Gesetzeskorrektur, zumal unklar sei, wie der nicht irrtumsbefangene Gesetzgeber die Frage geregelt hätte (S. 79)494. Zudem bestehe kaum ein Zweifel, „daß der mindestens überwiegend aus Juristen zusammengesetzte Ausschuß im Laufe der Beratung zur Erkenntnis der wirklichen Rechtslage“ gelangte, wofür die Äußerung eines Abgeordneten spreche (S. 80).

Obwohl die Eindeutigkeitsregel dem BGH offenbar schon Grund genug ist, eine Gesetzeskorrektur abzulehnen, läßt er sich auf die subjektiv-historischen Erwägungen des OGH ein. Dabei bezweifelt der Senat zunächst schon das Vorliegen eines Irrtums, zum einen wegen einzelner Äußerungen von Abgeordneten, zum anderen aufgrund eines normativierenden Maßstabs, indem den Gesetzesverfassern ein solcher Rechtsirrtum oder Fehler nicht „geglaubt“ wird.495 Aber ganz ungeachtet dieser Gesichtspunkte versteift der Senat sich noch dazu, etwaige Motivirrtümer des Gesetzgebers (Irrtum im Beweggrund) für gänzlich unbeachtlich zu halten, wenn das Erklärte dem (vordergründig) Gewollten entspricht: Die Gesetzesverfasser wollten alle Steuervergehen ausschließen und erklärten genau dies; ob sie das gleiche Gesetz auch bei zutreffender Rechtskenntnis, beim Überblicken aller Umstände verabschiedet hätten, bleibt irrelevant. Diese Argumentation verdient jedoch keinen Beifall. Auch bei einem „Motivirrtum“, der sich von einem „Inhaltsirrtum“ nicht wesentlich unterscheidet, sollte eine Berichtigung nicht per se ausscheiden, sondern die bereits genannten Kriterien geprüft werden.496 Vorliegend sprechen die stärkeren Gründe 491

Vgl. die Ausführungen des Abgeordneten Arndt, wiedergegeben in BGHSt 1, 74

(79). 492 OGHSt 3, 44 (50 f.) und BGHSt 1, 74 (78 f.) sehen diesen Irrtum insbesondere beim Bundesjustizminister und beim Vorsitzenden des Rechtsausschusses (Arndt). 493 Zur Begrifflichkeit siehe oben Fn. 444 und den dazugehörigen Text. 494 Der BGH (a. a. O., S. 75) macht auf entstehende und nicht geringer wiegende Ungerechtigkeiten aufmerksam, wenn man der Ansicht des OGH folgte. 495 „Klugen Menschen glaubt man ihre Torheiten nicht: welche Einbuße an Menschenrechten!“ (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus 178) 496 Nach Bender (JZ 1957, 593 [595]) korrigiert BGHZ 3, 82 einen Motivirrtum, allerdings ohne sich ausdrücklich zur Berechtigung dieses Vorgehens zu äußern. Weitere Beispiele richterlicher Gesetzeskorrektur aus der Anfangszeit des BGH bei Zim-

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gegen eine Berichtigung, denn einmal bestehen schon Zweifel, ob die gesetzgeberische Entscheidung wirklich irrtumsbefangen war, und im übrigen weist der BGH zu Recht auf die Ungewißheit darüber hin, wie die Gesetzesverfasser die Problematik in Kenntnis aller Umstände geregelt hätten, da auch die Gegenansicht nicht unproblematisch war. e) Sonstige Versehen (Übersehen) Als Gesetzesfehler kommen nicht nur (positive) Fehlvorstellungen der Gesetzesverfasser in Betracht, sondern auch das Übersehen von Situationen oder Folgen, die nach der gesetzgeberischen Konzeption hätten bedacht werden müssen. Freilich verschwimmen hier die Unterschiede zwischen Gesetzeskorrektur und den „Normalfällen“ der Rechtsergänzung, in denen der Richter eine lückenhafte Regelung vervollständigt. Von Fehler wird man eher sprechen, wenn die Verfasser sich überhaupt – wenn auch irrige – Gedanken zu einer Frage gemacht haben, von Übersehen oder Lücke, wenn schlicht keine Regelung zu einer Thematik auszumachen ist. In einem weiteren Sinn kann ein konzeptionell lückenhaftes Gesetz aber natürlich auch als fehlerhaft bezeichnet werden;497 deshalb kann diese Klassifizierung für die Frage nach der Berechtigung zur Fehlerkorrektur (Lückenfüllung) nicht entscheidend sein. Hier wie dort kann die Notwendigkeit bestehen, von einer eindeutigen, unter Umständen nicht einmal sinnwidrigen Regelung abzuweichen, und hier wie dort gelangen die bekannten Mittel der Rechtsfortbildung (Analogie, Reduktion) zum Einsatz. Ein Unterschied dürfte allerdings bezüglich der historischen Auslegung auszumachen sein, denn ob den Gesetzesverfassern ein Fehler unterlaufen oder ob sie einem Irrtum unterlegen waren, dürfte sich aus der Entstehungsgeschichte eher eruieren lassen als bei der Frage, ob eine Regelung unvollständig ist. Fall 222 (BGHSt 4, 300 – „U-Haft-Entschädigung“): Das Gesetz „betreffend die Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft“ von 1904 bestimmte in seinem § 4, daß über die Verpflichtung der Staatskasse das freisprechende Gericht entscheiden sollte. Wie steht es aber, wenn ausnahmsweise das Revisionsgericht aus Rechtsgründen freispricht (§ 354 StPO), die Entscheidung über die Entschädigung aber noch weiterer Tatsachenfeststellungen bedarf? Der BGH geht mit RGSt 39, 291 davon aus, daß im Gesetz der Fall des Freispruchs durch das Revisionsgericht nicht berücksichtigt worden sei und entgegen dem Wortlaut des § 4 der letzte Tatrichter über die Entschädigung entscheiden müsse (S. 301).498 Da das Revisionsgemermann, NJW 1952, 959, mit der etwas voreiligen Einschätzung, daß die Rechtsprechung den Streit zwischen objektiver und subjektiver Theorie „für absehbare Zeit“ zugunsten letzterer entscheiden habe. 497 Auf die Unsicherheit der Abgrenzung weist auch Engisch hin (Einführung, S. 175). 498 Das RG spricht von der notwendigen Ergänzung einer „Lücke“, RGSt 39, 291 (297).

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richt regelmäßig keine Tatsachen zu ermitteln, keine Beweisaufnahme durchzuführen habe, sei nicht anzunehmen, „daß das Gesetz dem Revisionsgericht eine mit seiner Stellung unvereinbare Aufgabe . . . hätte übertragen wollen“ (S. 302). Ähnlich entscheidet der BGH unter Hinweis auf BGHSt 4, 300 für den seit 1971 gültigen § 8 I 1 StrEG („Über die Verpflichtung zur Entschädigung entscheidet das Gericht in dem Urteil oder in dem Beschluß, der das Verfahren abschließt“), zumindest wenn noch tatrichterliche Feststellungen zu treffen sind.499

Der Gesetzgeber hat nach Einschätzung des BGH die Regelungen des Entschädigungsrechts nicht konsequent mit denen der StPO abgestimmt, insbesondere den Fall des § 354 StPO übersehen.500 Der BGH ist sich offenbar sicher, daß die Gesetzesverfasser in voller Kenntnis der Lage die Norm anders ausgestaltet hätten, und sieht sich deshalb berechtigt, die s. E. unstimmige Norm zu korrigieren, obwohl die dem Wortlaut folgende Ansicht ebenfalls zu einem sinnvoll durchführbaren, wenn auch ungewöhnlichen Ergebnis gelangt. Fragwürdig ist jedoch die Übertragung dieser Rechtsprechung auf die neue Rechtslage, denn daß der Gesetzgeber die Problematik erneut übersehen hat, erscheint wenig plausibel, zumal der BGH auch sonst gerne einen Gesetzgeber unterstellt, der sich informiert und „in Kenntnis“ der Lage handelt.501 Zumindest bestand Anlaß, die Frage für das neue Recht nochmals zu erörtern. Es spricht mithin einiges dafür, daß der BGH das Gesetz allzu selbstbewußt umdeutet, eben nicht, weil der Gesetzgeber mit seiner Vorschrift etwas anderes gemeint hat, als er gesagt hat, sondern etwas anderes hätte meinen sollen502. Auch im folgenden Fall „verbessert“ der BGH das Gesetz, allerdings ohne es zuzugeben: Fall 223 (BGHSt 12, 399 – „Amtsrichter“): Gemäß § 153 II StPO a. F. konnte bei Vergehen mit geringer Schuld die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des „Amtsrichters“ von der Klageerhebung absehen. Wie stand es bei der erstinstanzlichen Zuständigkeit eines OLG nach § 120 GVG? Der BGH will den Begriff „Amtsrichter“ i. S. von „zuständiges Gericht“ verstehen. Bei Einführung des § 153 II StPO sei der Amtsrichter für alle Vergehen und damit zwangsläufig auch für die Zustimmung gemäß § 153 II zuständig gewesen. Deshalb stelle der Wortlaut „keinen hinreichenden Grund“ dar, dies auch bei den später eingefügten abweichenden Zuständigkeiten

499 Siehe z. B. BGH MDR/H 1977, 811; NJW 1988, 2483 (2485); 1991, 1839 (1840). Aus mehreren Gründen entschieden a. A. D. Meyer, Strafrechtsentschädigung, § 8, Rn. 37, 38. 500 Eine ganz ähnliche Problematik löst BGHSt 29, 196 (oben Fall 111) unter Berufung auf den „objektivierten Willen des Gesetzgebers“. Deutlicher als im vorliegenden Fall ist der Konstruktionsfehler in BGHSt 17, 21 (siehe oben Fall 109 und unten Fall 225). 501 Siehe oben IV 7 g und außerdem BGHSt 30, 328 (Fall 203), wo der Gesetzgeber bei Neueinführung einer Norm auf die Fortführung einer korrigierenden Rechtsprechung vertraut, anstatt die erkannte Problematik selbst zu bereinigen. 502 Mit diesen Kriterien will Jahr (in: FS für Kaufmann, S. 142) eine nur sprachliche von einer inhaltlichen Gesetzeskorrektur abgrenzen.

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wie § 120 GVG anzunehmen (S. 400). Die Nichtanpassung des § 153 II an die neuen Zuständigkeitsregelungen lasse „nicht auf einen Willen des Gesetzgebers schließen, der Vorschrift eine weitergehende Bedeutung zu geben als sie ursprünglich hatte. Eher deutet die Beibehaltung des bisherigen Wortlauts darauf hin, daß eine Änderung für unnötig angesehen wurde, weil man der Auffassung war, daß angesichts der bisherigen Bedeutung des Wortes ,Amtsrichter‘ in § 153 Abs. 2 StPO auch künftig darunter nur das für das Hauptverfahren zuständige Gericht . . . verstanden werden könne“ (S. 401). Sinn und Zweck der neuen Zuständigkeitsregelungen sprächen aber für die Zuständigkeit des mit der Hauptsache befaßten und sachnahen Gerichts auch für die Zustimmung zur Verfahrenseinstellung.

Die neuen Zuständigkeitsregelungen lassen § 153 II StPO (a. F.) als unzweckmäßig erscheinen. Der Norm fehlt es an der für die neue Rechtslage wünschenswerten Abstraktion, die der Senat gleichwohl in die Norm hineinliest – so als könne über die Bedeutung des Wortes „Amtsrichter“ verhandelt werden! Noch fragwürdiger ist jedoch die lebensfremde Konstruktion des gesetzgeberischen Willens: Statt dem Gesetzgeber ein Übersehen zuzugestehen503 und die Voraussetzungen einer Gesetzeskorrektur darzutun, macht der Senat ihn klüger, als er war, und suggeriert so, im Einklang mit der legislativen Vorstellung zu entscheiden. Kein Problem mit der Anerkennung eines gesetzgeberischen Versehens hat der BGH im folgenden Fall, in dem eine Gesetzesreform zu ungewollten Konsequenzen von großer Tragweite führte: Fall 224 (BGHSt 22, 375, oben Fall 7 – „Verjährung von NS-Verbrechen“): Der Angeklagte hatte Beihilfe zu Vernichtungsmaßnahmen gegen Juden geleistet. Er hatte gewußt, daß die Opfer aus Rassenhaß umgebracht wurden, selbst aber keine entsprechenden Motive. Nach der bis 1968 maßgeblichen Rechtslage war der Angeklagte wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen; die Strafe bestimmte sich nach der Haupttat (lebenslang), konnte gemäß § 49 II StGB a. F. jedoch gemildert werden. Die Akzessorietätslockerung des § 50 II a. F. („Bestimmt das Gesetz, daß besondere persönliche Eigenschaften . . . die Strafe schärfen . . ., so gilt das nur für den Täter oder Teilnehmer, bei dem sie vorliegen.“) half nicht, weil nach Ansicht der Rechtsprechung die Mordmerkmale nicht einen Totschlag „schärften“, sondern die Strafbarkeit des Mordes „begründeten“. Für die Verjährung folgte aus dieser Rechtslage eine Frist von 20 Jahren, denn die Tat war bei nur fakultativer Strafmilderung dennoch mit lebenslangem Zuchthaus „bedroht“ (§ 67 I a. F.). Das EGOWiG änderte 1968 diese Rechtslage, indem es die seit langem als ungerecht empfundene Regelung504 zur limitierten Akzessorietät in § 50 vervollständigte. § 50 II a. F. wurde zu § 50 III n. F. und § 50 II lautete nunmehr: „Fehlen besondere persönliche Eigenschaften . . ., welche die Strafbarkeit des Täters begründen, beim Teilnehmer, so ist dessen Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs zu mildern“. 503 Einfach und zutreffend dagegen der GBA, wiedergegeben vom BayObLG in NJW 1959, 781 (782, r. Sp.): Aus der Entstehungsgeschichte folgt, daß der Gesetzgeber den Fall nicht bedacht hat. 504 Siehe Baumann, NJW 1969, 1279 f.; Tröndle, GA 1973, 289 (300).

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IV. Entstehungsgeschichte

Diese Regelung erfaßte genau den vorliegenden Fall, und die Strafe war – jetzt zwingend! – zu mildern.505 Offenbar übersehen hat der Gesetzgeber dabei eine auch im vorliegenden Fall relevante Auswirkung auf die Verjährung von NS-Verbrechen, denn die zwingende Strafmilderung war nach ganz herrschender Meinung bei der Ermittlung des maßgeblichen Strafrahmens zu berücksichtigen.506 Im Ergebnis betrug deshalb die Verjährungsfrist 15, statt zuvor 20 Jahre (§ 67 I a. F.). Der BGH sieht keinen Weg, dieses unerwünschte Ergebnis zu vermeiden. Der vom GBA, vom Bundesjustizministerium in einer Presseverlautbarung und vom KG507 vertretenen Lösung, niedrige Beweggründe gar nicht erst nicht als „persönliche Eigenschaften“ einzuordnen, widersprachen nach Ansicht des Senats Wortlaut, Entstehungsgeschichte und bisherige Rechtsprechung.508 Auch ein Wechsel zur h. M. in der Literatur, die in den Mordmerkmalen keine strafbegründenden, sondern schärfende Merkmale sah (und sieht) und folglich zur Anwendung des § 50 III gelangt wäre, hätte hinsichtlich der Verjährung zu keinem anderen Ergebnis geführt.509

Die „Amnestie“ ist sicher ungewollt und unbefriedigend, aber die „Gesetzgebungspanne“510 kann nicht korrigiert werden. Insofern ist es auch gleichgültig, ob man das Gesetz als fehlerhaft oder aber als unvollständig einschätzt und daß mit großer Wahrscheinlichkeit ein Interesse des Gesetzgebers an einer Korrektur besteht. Hält man mit dem BGH bereits den Wortlaut hinsichtlich des Merkmals „persönliche Merkmale“ für klar, dann kann der Fehler bereits aus Vertrauensschutzerwägungen nicht berücksichtigt werden, Art. 103 II GG.511 Aber auch im Rahmen des noch möglichen Wortsinns darf eine unbeabsichtigte 505 Gesetzestechnisch ist folgendes interessant: § 50 II ordnet eine zwingende Strafmilderung an, verweist aber auf eine Regelung, die ihrerseits nur eine fakultative Milderung vorsieht (§ 44 I a. F.). Umgekehrt lag es in BGHSt 1, 351 und 2, 29 (vgl. oben Fall 75 und Fall 164), wo eine Kann-Bestimmung auf eine Muß-Vorschrift verwies. 506 Schröder, JZ 1969, 132 (133, r. Sp.); Samson, ZRP 1969, 27 (28, l. Sp.); Stree, JuS 1969, 403 (404 f.). Der GBA plädierte im Verfahren allerdings für eine Revision dieser Meinung, vgl. NJW 1969, 1157; anders auch Dreher, JR 1970, 146 und (sehr konstruiert) Gehrling, JZ 1969, 416. 507 GBA, NJW 1969, 1157; KG JR 1969, 63 (64) mit der ergebnisorientierten Begründung, daß andernfalls § 50 II i. d. F. von 1968 eine nicht gewollte „verschleierte Amnestie“ für Gehilfen von NS-Verbrechen enthielte. Zur Presseverlautbarung des BJM siehe Schröder, JZ 1969, 132 (133, r. Sp.) und Stree, JuS 1969, 403 f. 508 Der GBA (NJW 1969, 1157) hat die bisherige Rechtsprechung allerdings anders verstanden. 509 Koffka, JR 1969, 41 (42); Samson, ZRP 1969, 27 (28); Stree, JuS 1969, 403 (407); unklar hingegen Baumann, NJW 1969, 1279 (1280). 510 Stree, JuS 1969, 403; Samson, ZRP 1969, 27: „grobe gesetzgeberische Panne“. – Davon zu trennen ist die zeitgeschichtlich interessante Frage, ob die „Panne“ womöglich, wie mitunter vermutet, von ministerieller Seite geschickt eingefädelt und im EGOWiG gut getarnt wurde, um ehemaligen Parteifreunden auszuhelfen. Ein solches Schurkenstück wäre freilich schon zu genial, als daß man an seine Existenz wirklich glauben könnte. 511 Auf Art. 103 II GG und eine gesicherte Rechtsposition der Betroffenen verweist Stree, JuS 1969, 403 (406, r. Sp.). Daß der Wortlaut hier allerdings die Position des GBA von vornherein ausschlösse, wird man in Anbetracht der komplex verknüpften Rechtsfragen nur schwerlich sagen können.

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Konsequenz nicht dazu verführen, dogmatisch anerkannte oder gar zwingende Prämissen in anderen Bereichen – hier: Auslegung der allgemeinen Verjährungsvorschriften und der „besonderen persönlichen Merkmale“ – für den Sonderfall „NS-Verbrechen“ über Bord zu werfen.512 Wenn Baumann daraus, daß der BGH sich nicht in der Lage sieht, der Situation durch eine „restriktive Interpretation der Gesetzesänderung“ bzw. durch Schließung einer Regelungslücke Rechnung zu tragen, auf eine generelle Ablehnung der historischen Auslegung durch den BGH schließt513, ist das wenig überzeugend. Sonst müßte man es als Forderung der subjektiv-historischen Auslegung betrachten, unbeabsichtigte Folgen auch unter Hinnahme rechtsstaatlicher Bedenken oder schwerwiegender dogmatischer Brüche an anderer Stelle zu beseitigen.514 Eine andere Situation ist bei einem gesetzgeberischen Wertungsfehler gegeben, wenn also innerhalb der Rechtsordnung unterschiedliche Bewertungen der gleichen Sachlage nebeneinander stehen, weil der Gesetzgeber nicht alle Regelungen auf die Höhe der Zeit gebracht hat. Hier liegen Wertentscheidungen von unterschiedlichen Gesetzgebern vor, die regelmäßig nicht durch die Rechtsprechung beseitigt werden dürfen.515 Andernfalls erhielte sie Befugnisse zur Änderung der Kodifikation, deren Grenzen nur schwer bestimmt werden könnten. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist BGHSt 1, 47 („limitierte Akzessorietät“), wo der BGH das bei wertender Betrachtung unvollständige Werk des Gesetzgebers zu Ende führt und damit die Entscheidung des früheren Gesetzgebers ohne ausreichende Grundlage außer Kraft setzt.516 Dabei sieht der BGH sich – wie in BGHSt 12, 399 („Amtsrichter“) – zu zweifelhaften Spekulationen über den Willen des Gesetzgebers veranlaßt (näher oben Fall 193).

f) Nachträge Die amtliche Sammlung bietet weitere interessante Entscheidungen zum Thema gesetzgeberisches Versehen. In einer Zusammenschau soll auf einige Aspekte hingewiesen werden, zunächst darauf, nach welchen Kriterien die Se512 Mit einer gewissen rechtspolitischen Empörung mag man die Vorgehensweise des Senats als „mechanische Deduktion“ bezeichnen, so Kirn, ZRP 1969, 124. 513 So Baumann, NJW 1969, 1279 (1280), der seinerseits mögliche Auswege (restriktive Auslegung der Gesetzesänderung, Lückenfüllung) nur andeutet, ohne ihre methodische Tragfähigkeit vorzuführen. 514 Eine andere Frage ist, ob der BGH sich mit den Vorschlägen des GBA ausreichend auseinandergesetzt hat; krit. insoweit z. B. Dreher, JR 1970, 146 (r. Sp.) und Tröndle, GA 1973, 289 (300). 515 Näher oben IV 5 d und unten V 8 b. 516 Jescheck/Weigend (Strafrecht AT, S. 160) sehen auf Basis ihres weiten Verständnisses in BGHSt 1, 47 ein Beispiel für ein Redaktionsversehen (vgl. oben Fn. 446). Dadurch wird die Berechtigung zur inhaltlichen Gesetzeskorrektur auf leichtem Weg erschlichen. Von einem „Versehen“ des Gesetzgebers geht Hartung aus, NJW 1949, 324 (326): Nach der Änderung des § 48 StGB „hätte man erwarten sollen . . .“.

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nate das Vorliegen eines Versehens ermitteln und welche Art von gesetzgeberischer Fehlleistung vorliegt: BGHSt 1, 245 (247) sieht in unterschiedlichen Fristbestimmungen in sachverwandten Regelungen angesichts der unmittelbaren Nachbarschaft der Normen keinen Anhaltspunkt für ein Versehen. — Auch BGHSt 4, 158 (oben Fall 3) analysiert objektive Faktoren: Die Regelung sei womöglich auffällig und unzweckmäßig, es sei jedoch in Anbetracht der Umstände, insbesondere des Zusammenhangs zu anderen Vorschriften, unwahrscheinlich, daß dem Gesetzgeber die unterschiedlichen Begriffe entgangen sind (S. 159 f.); jedenfalls existiere kein Beweis für eine vom klaren Wortlaut abweichende Vorstellung der Verfasser (S. 161). – Unter anderen Voraussetzungen würde der Senat also von der Eindeutigkeitsregel, die er zu Recht i. S. einer Vermutung versteht, abweichen! — BGHSt 10, 255 (259) hält ein Versehen (fehlende Erwähnung des § 13a StPO in § 12 II) aufgrund der erst nachträglichen Hinzufügung des § 13a für möglich, läßt dies aber dahinstehen, weil schon ein anderer Grund für eine Analogie spreche. — BGHSt 11, 152 (158) sieht keinen Anlaß, die gemäß § 232 IV StPO notwendige Zustellung des Urteils durch Übergabe an den ausgebliebenen Angeklagten auch auf den gemäß § 233 vom Erscheinen entbundenen Angeklagten zu erstrecken; die unterschiedliche Regelung beruhe nicht auf einem Fassungsversehen und sei auch sinnvoll, so daß eine entsprechende Anwendung nicht in Betracht komme. — BGHSt 18, 75 (76) erkennt darin, daß bei der räuberischen Erpressung (§ 255 StGB) nur bei der Alternative der Drohung, nicht aber bei der Gewaltausübung von einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben des Opfers die Rede ist, entgegen verbreiteter Auffassung keinen Redaktionsfehler. Dagegen spreche schon die wiederholte Änderung des Grundtatbestandes (§ 253), die nicht zu einer Berichtigung genutzt worden sei. – Diese Begründung ist wenig überzeugend, wenn nicht dargetan werden kann, daß den Gesetzesänderungen tatsächlich eine inhaltliche Stellungnahme auch zur vorliegenden Problematik entnommen werden kann; womöglich hat der spätere Gesetzgeber lediglich keinen akuten Korrekturbedarf gesehen. Die Begründung ist ein nicht seltenes Beispiel dafür, wie aus der (Un-)Tätigkeit des Gesetzgebers zu Weitreichendes gefolgert wird.517 — Gemäß § 10 II DAG a. F. konnte auf Ersuchen einer ausländischen Regierung und unter weiteren Voraussetzungen ein Ausländer bereits vor dem endgültigen Auslieferungsantrag in „vorläufige Auslieferungshaft“ genommen werden. Für die Beschlagnahme von Gegenständen sah § 39 DAG a. F. hingegen kein vorläufiges Verfahren vor, sondern verlangte den Eingang eines Herausgabeersuchens. Nach Auffassung von BGHSt 20, 170 (174 f.) sprechen „unabweisbare kriminalpolitische“ Gründe gegen eine „strenge Wortauslegung“. Nichts [Wortlaut ?!] spreche dafür, daß der Gesetzgeber in § 39 und § 10 II bewußt unterschiedliche Regelungen hat treffen wollen (S. 176). Aus der amtlichen Begründung lasse sich hierfür nichts entnehmen; sie lasse eher den Schluß zu, daß der Gesetzgeber die mit einer wörtlichen Anwendung des § 39 DAG verbundenen Schwierigkeiten nicht erkannt habe. – Angesichts der höchst unbefriedigenden Auswirkungen einer wortgetreuen Auslegung verlangt der Senat positive Anhaltspunkte in der Entstehungsgeschichte, die gegen 517 Wie es um die Unterstellung eines klugen Gesetzgebers bestellt ist, zeigt BGHSt 4, 300: Kann angenommen werden, daß den Gesetzesverfassern der gleiche Fehler zweimal passiert? Der BGH hat damit kein Problem (näher oben Fall 222). Siehe außerdem oben IV 7 g.

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ein Versehen sprechen könnten. — BGHSt 39, 353 (356) stellt einen Widerspruch zwischen einer gesetzlichen Überschrift und der dazugehörigen, eindeutigen Regelung fest, die bei Berücksichtigung der Überschrift „in unverständlicher, schwer praktikabler und verfassungsrechtlich zweifelhafter Weise durchbrochen“ würde. Die Überschrift könne deshalb nur als ein „Redaktionsversehen des Gesetzgebers verstanden werden“ (S. 357); ihr komme für die Auslegung der Norm keine Bedeutung zu (S. 356). — In BGHSt 42, 200 (204) erklärt der Senat eine mangelhafte Regelung, der er nur mit Mühe noch Sinn abgewinnen kann, mit der erst spät im Gesetzgebungsverfahren erfolgten Einfügung eines Absatzes, dessen Anpassung an andere Regelungen der Norm versäumt worden sei. — BGHSt 42, 391 hält § 168c II StPO nicht insofern für lückenhaft, als dort kein Anwesenheitsrecht des Beschuldigten bei der Vernehmung eines Mitbeschuldigten vorgesehen ist. Aus Wortlaut und Systematik folge, daß keine Gesetzeslücke vorliege; ein gesetzgeberisches Versehen sei keineswegs naheliegend, denn ein Hinweis in den Gesetzesmaterialien spreche dafür, daß der Gesetzgeber die Problematik gesehen habe (S. 395). — Nach BGHSt 43, 381 (404) ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien, daß die Auswirkungen der lediglich zur Klarstellung eingefügten Regelung nicht bedacht wurden.

Die Beispiele verdeutlichen, daß der BGH sich zur Feststellung eines Versehens regelmäßig an objektiven Faktoren orientiert, in Zweifelsfällen aber durchaus die Entstehungsgeschichte zur Klärung heranzieht. Bei völlig unhaltbarem Ergebnis einer wortgetreuen Auslegung verlangt der BGH allerdings positive Anhaltspunkte in der Historie, daß dies tatsächlich gewollt ist. Kein Gewicht wird der Frage nach der Art des gesetzgeberischen Fehlers beigemessen. Ob ein rein sprachliches (redaktionelles) bzw. inhaltliches (konzeptionelles) Versehen oder das Übersehen einer eigentlich regelungsbedürftigen Situation vorliegt (vgl. vor allem BGHSt 42, 391), spielt keine Rolle: Stets kommt eine Gesetzesberichtigung oder eine Analogie in Betracht, letzteres auch bei sprachlichen Fehlleistungen, wenn sich aufgrund dessen die Regelung als lückenhaft erweist (vgl. z. B. BGHSt 10, 255; 11, 152). Aber nicht nur die Art des Versehens bleibt häufig offen, sondern auch die Frage, ob überhaupt eines vorliegt: BGHSt 1, 255 (258) sieht in der Höhe der Strafdrohung kein Argument für eine enge Auslegung der Norm, denn dabei könne es sich auch um einen „überkommenen Gesetzesfehler“ handeln. — BGHSt 8, 66 (68) erklärt die Frage, ob ein gesetzgeberisches Versehen gegeben ist, für irrelevant, da eine Lösung aus dem geltenden Recht „gewinnbar“ sei. — BGHSt 26, 29 (31 f.) stützt seine Auslegung auf den Gesetzestext, jedoch sei – warum, sagt der BGH nicht – mit der Möglichkeit eines Redaktionsversehens zu rechnen; allerdings spreche auch der Zweck für eine dem Wortlaut folgende Lösung. — BGHSt 28, 213 (216) vermag ein „gesetzestechnisches Versehen bei der Abfassung“ der Norm (GBA: „systemwidrig“) nicht auszuschließen, jedoch sei der Gesetzgeber zur Korrektur aufgerufen. Eine Berichtigung durch den Senat selbst scheiterte wohl an Art. 103 II GG. — BGHSt 29, 37 (40) läßt dahinstehen, ob mit der Neufassung eine Rechtsänderung bezweckt war, denn dieses Ziel sei wegen des Wortlauts, der den bisherigen Rechtszustand bestätige, nicht erreicht worden. In einer solchen Situation einer (äußerlich) eindeutigen Rechtslage sollte der BGH besser damit argumentieren, daß der Entstehungsge-

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schichte keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Gegenansicht zu entnehmen sind. — BGHSt 30, 260 (262) löst den Konflikt zwischen zwei vom Wortlaut her passenden Normen durch die Zurückstellung der einen: Ob der Gesetzgeber die Anpassung aus Versehen unterlassen hat oder den Vorrang der einen Norm ohne Abstimmung als gesichert angesehen hat, sei nicht relevant. — Problematisch liegt BGHSt 32, 104 (siehe oben Fall 180): Der Senat läßt angesichts des eindeutigen Wortlauts dahinstehen, ob die Änderung gegenüber dem Entwurf vom Gesetzgeber gewollt war. Eine korrigierende „Auslegung“ wird wohl deshalb nicht erwogen, weil nach Ansicht des BGH auch die weite Gesetzesfassung Sinn ergab.

Daß gesetzgeberische Fehlleistungen, gleich welcher Art, nicht auf Kosten von Vertrauensschutzpositionen beseitigt werden dürfen, wurde bereits betont. In gewisser Hinsicht ist aus Gründen der Rechtssicherheit jede wortlautkorrigierende Rechtsanwendung bedenklich, denn sie führt zu einer geminderten Vorhersehbarkeit der Ergebnisse. Die Unzulässigkeit einer Wortlautkorrektur ist freilich nur im Bereich des Art. 103 II GG anerkannt, also bei täterbelastenden Über- oder Unterschreitungen des möglichen Wortsinns im materiellen Strafrecht. Nur vereinzelt macht der BGH sich auch bei verfahrensrechtlichen Fragen für die Berücksichtigung von Vertrauensschutzaspekten stark: Fall 225 (BGHSt 17, 21 = oben Fall 109): Der Senat weigert sich, einen gesetzgeberischen Konstruktionsfehler zu beseitigen: § 145 III BRAO knüpft die Rechtsmittelfrist im ehrengerichtlichen Verfahren an die Zustellung des Urteils, obgleich die Zustellung in diesem Verfahren gar nicht vorgesehen ist. Nach Ansicht des BGH scheint dem Gesetzgeber diese Unstimmigkeit entgangen zu sein, indem er zwar eine Parallele zur VwGO gezogen, jedoch die dort vorgesehene zwingende Zustellung übersehen habe (S. 26). Die im Schrifttum geforderte ergänzende oder berichtigende Auslegung (Rechtsmittelfrist ab Verkündung des Urteils) lehnt der BGH ab, denn das „Erfordernis der Rechtssicherheit, das gerade beim Lauf einer Rechtsmittelfrist ganz besonders zu beachten ist, verbietet eine derartige Auslegung entgegen dem klaren Gesetzeswortlaut“.

Die Sensibilität der Strafsenate für diese Frage ist allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt. Das zeigt einmal BGHSt 20, 170 (siehe oben S. 378), wo mit der Beschlagnahme immerhin ein nicht unwesentlicher Grundrechtseingriff im Raum stand, aber auch folgende Entscheidung: Fall 226 (BGHSt 13, 91): Der Senat mußte der Frage nachgehen, ob die Fahrerlaubnis auch im Sicherungsverfahren entzogen werden durfte. Dagegen sprach zum einen der Wortlaut des § 42m StGB i. d. F. von 1952, wonach eine Bestrafung oder ein Freispruch Voraussetzung der Maßnahme war, was beides im Sicherungsverfahren nicht erfolgt, zum anderen aber auch § 429a StPO a. F., der für das Sicherungsverfahren nur den Antrag auf Unterbringung in eine Heilanstalt vorsah und bei Einführung des § 42m StGB anders als andere verfahrensrechtliche Vorschriften nicht geändert wurde. Gleichwohl läßt der Senat sich nicht abhalten, § 42m anzuwenden: Ein anderes Ergebnis wäre „höchst eigenartig“, mit dem Zweck des § 42m unvereinbar und nur hinzunehmen, wenn es der Gesetzgeber aus bestimmten Gründen ersichtlich in Kauf genommen hätte oder durch den überragenden Aspekt der Rechtssicherheit erzwungen wäre (S. 94 f.). Das sei nicht der Fall. Näherliegend sei die in

8. Irrtümer und Versehen der Gesetzesverfasser

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der unterlassenen Änderung des § 429a StPO bei Einführung des § 42m StGB begründete Annahme eines gesetzgeberischen Übersehens (S. 95). – Der BGH schreckt nicht davor zurück, den Wortlaut zweier eindeutiger Normen zu ergänzen, obwohl wegen der in jedem Fall bestehenden Kompetenz der Verwaltungsbehörden zur Entziehung der Fahrerlaubnis auch das gegenteilige Ergebnis zu vernünftigen Ergebnissen geführt hätte.518 Bemerkenswert ist aber außerdem, daß der Senat sein methodisches Vorgehen nicht genau benennt (Analogie?), und keinen Anlaß zu näherer Prüfung der selbst aufgeworfenen Frage nach der Rechtssicherheit sieht. Denn hier standen neben verfahrensrechtlichen womöglich sogar materiellrechtliche Voraussetzungen der Entziehung der Fahrerlaubnis auf dem Prüfstand.519

g) Fazit Mit gesetzgeberischen Fehlern muß der BGH sich häufig beschäftigen. Unabhängig von der Art des Versehens kommt eine Wortlautkorrektur nur bei Beachtung rechtsstaatlicher Schutzpositionen in Betracht. Darüber dürfen Formulierungen, wonach eine Berichtigung „im Wege der Auslegung“ erfolgt, nicht hinwegtäuschen. Ob man darüber hinaus in jeder Fehlerkorrektur eine „Rechtsfortbildung“ sieht, ist eine eher terminologische Frage.520 Beide Formen dienen der Verwirklichung des „wahren“ oder „hypothetischen“ Willens des Gesetzgebers.521 Allerdings wird sich die Heranziehung der Entstehungsgeschichte für den Bereich der Versehen oder Irrtümer eher anbieten als im Bereich der Regelungslücken. Fließend ist die Grenze zwischen sprachlichen und inhaltlichen Fehlleistungen des Gesetzgebers. In beiden Fällen kann eine Korrektur unzweifelhaft im Interesse der Gesetzesverfasser liegen; insbesondere beim „Motivirrtum“ sollte aber mit Sicherheit feststehen, was wirklich beabsichtigt war, denn nur dann ist gewährleistet, daß das gesetzgeberische Programm nicht eigenmächtig „verbessert“ wird. Bei Inhaltsirrtümern sprechen zudem in der Regel weitere inhaltliche Gründe gegen eine Durchsetzung der subjektiven Vorstellungen der Redaktoren (vgl. die dort genannten Kriterien). Die Abstinenz gegenüber Wortlautkorrekturen sollte nicht auf interpretatorische Formalregeln wie die Andeutungstheorie und die Eindeutigkeitsregel gestützt werden, derer sich der BGH vor allem dann gerne (aber nicht regelgeleitet) bedient, wenn es um die Zurückweisung inhaltlicher oder rechtlicher Fehlvorstellungen der Gesetzesver518 Konsequent dagegen i. S. der sonstigen Rechtsprechung (Eindeutigkeitsregel) Armbruster, NJW 1959, 1644: Die Entscheidung widerspreche dem eindeutigen Wortlaut; das Versehen dürfe nicht durch die Gerichte beseitigt werden. 519 Hartung (JZ 1959, 607 [608]) versucht, die Begründung nachzuliefern: Ein Verstoß gegen das Analogieverbot sei nicht gegeben, weil es letztlich allein um die verfahrensrechtliche Frage, ob das Gericht oder die Verwaltungsbehörde zuständig ist, nicht aber um die sachlichen Voraussetzungen des § 42m StGB gehe. 520 Siehe Fn. 444 und 448. 521 Engisch, Einführung, S. 233: Die Gesetzesberichtigung muß „auf den Spuren des Gesetzgebers selbst“ wandeln.

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IV. Entstehungsgeschichte

fasser geht. Vielmehr sollte – unabhängig von der Art des etwaigen Mangels – in einer klaren und nicht völlig sinnwidrigen Regelung eine Vermutung gesehen werden, daß keine Differenz zwischen Wille und Erklärung vorliegt. Die Beweislast tragen dann die Befürworter eines Versehens; ihr kann vor allem mit Hilfe der Entstehungsgeschichte genügt werden. Je nach Sinnwidrigkeit einer textgetreuen Auslegung können die Anforderungen an die Begründungslast allerdings sinken; im Extremfall kann die Fehlerhaftigkeit auch evident sein522. Vorsicht ist gegenüber leichtfertigen Behauptungen eines („bloßen“) Redaktionsversehens angezeigt, denn damit erschleicht der Rechtsanwender sich womöglich die Befugnis zur Gesetzeskorrektur. Sowohl bei Inhalts- als auch bei Motivirrtümern fällt auf, daß der BGH besonders harsch mit rechtlichen Fehlvorstellungen der Gesetzesverfasser über die Reichweite „ihrer“ Norm oder anderer Vorschriften umgeht. Das ist aus mehreren Gründen verständlich. Zum einen kommt darin ein genereller Vorbehalt gegenüber einer „Auslegung“ beschlossener Normen durch die Verfasser selbst zum Ausdruck, die eben nicht ihr Werk interpretieren, sondern Zielvorstellungen äußern sollen; insofern darf der Gesetzgeber sich bei unausgegorenen Werken wie dem 6. StrRG nicht wundern, wenn Äußerungen der Gesetzgebungsorgane in ihrem heuristischen Wert auf eine Stufe mit sonstigen Interpreten gestellt werden. Zum andern enthält die Zurückweisung solcher Meinungskundgaben eine pädagogische Motivation: Der Verzicht auf eine willfährige Berichtigung legislativer Fehler trägt womöglich zu einer technischen Verbesserung zukünftiger Gesetze bei, obgleich man sich hier vor Illusionen bewahren sollte (näher unten VII 3 b). Freilich geht es nicht darum, den Gesetzgeber für seine Fehler abzustrafen, aber gerade vermeidbare technische Versehen stellen eine subjektivhistorische Auslegung auf eine harte Probe!

9. Zusammenfassung Die Entstehungsgeschichte ist in der Rechtsprechung ein zentrales Hilfsmittel der Gesetzeskonkretisierung. Aus der tatsächlichen Heranziehung dieses Mittels ergibt sich allerdings noch nicht sein normativer Wert im Gesamtprozeß der Auslegung, immerhin aber ein Indiz für dessen Wertschätzung (IV 1 a). Als problematisch erweist sich bereits, was unter den häufig verwendeten Begriffen „Wille des Gesetzes“, „Wille des Gesetzgebers“ und „objektivierter Wille des Gesetzgebers“ zu verstehen ist (IV 1 d und e). Wenig Aufklärung darüber, welchen Wert die Rechtsprechung der historischen Auslegung zuerkennt, ergeben die ausdrücklichen Stellungnahmen zu dieser Frage (IV 2), die sich teilweise widersprechen und häufig durch den Fall gar nicht veranlaßt waren. Der im An522 Dann mag die Unterstellung eines Versehens für den Gesetzgeber weniger „kränkend“ sein als die umgekehrte Annahme, vgl. Riedl, AöR 1994, 642 (645, Fn. 16).

9. Zusammenfassung

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schluß an verfassungsgerichtliche Äußerungen vertretene dezidiert „objektive“ Standpunkt wurde zwar abgemildert, aber niemals ganz aufgegeben. Trotz der umfangreichen Verwendung entstehungsgeschichtlicher Auslegung wird ihr Wert nur äußerst selten explizit hervorgehoben. Als schärfstes Schwert gegenüber subjektiv-historischen Erwägungen erweist sich die „Andeutungstheorie“, die zur Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens verlangt, daß dieser im Gesetzeswortlaut zumindest andeutungsweise zum Ausdruck gekommen sei (IV 3). In ihrer praktischen Handhabung offenbart sich die Beliebigkeit dieser häufig herangezogenen523 Formalregel: Weder werden ihre Voraussetzungen einheitlich bestimmt (IV 3 c), noch ist vorhersehbar, wann überhaupt auf sie zurückgegriffen wird (IV 3 f und g). Sie ist ein bequemes Mittel, um legislativen Vorstellungen die Gefolgschaft zu versagen.524 Große Beliebtheit als Hilfsmittel der Normkonkretisierung genießen die Gesetzesmaterialien (IV 4). Angesichts dessen erstaunt, daß insoweit mit Ausnahme der Paktentheorie keine Anwendungsregeln existieren (IV 4 a), zumal die genetische Auslegung einige Tücken hat. Als fraglich kann es sich insbesondere erweisen, ob Einzeläußerungen aus dem Gesetzgebungsverfahren tatsächlich mit dem „Willen des Gesetzgebers“ identifiziert werden dürfen (IV 4 b) und wie konkrete Normvorstellungen sich zur abstrakten Zielsetzung verhalten (IV 4 c). Insoweit können Konflikte, die üblicherweise dem Themenkomplex objektive/subjektive Auslegung zugeordnet oder mit Formalregeln wie der Andeutungstheorie gelöst werden, bereits auf Ebene der historischen Auslegung entschärft oder bereinigt werden. Daß die Rechtsprechung bei Nutzung der Materialien wenig prinzipiell verfährt, sondern deren Aussagekraft im jeweiligen Fall in den Vordergrund rückt, zeigt sich an der großzügigen Berufung auf Verwaltungsvorschriften und ähnliche Hilfsmittel (IV 4 d). Zu Unrecht zieht die Rechtsprechung zuweilen nachträgliche legislative Äußerungen zur Reichweite bereits erlassener Vorschriften als Auslegungshilfe heran (IV 4 e). Interessantester Aspekt im Spannungsfeld zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Theorie dürfte die Anpassung der gesetzgeberischen Zielvorstellung an veränderte tatsächliche oder rechtliche Gegebenheiten sein (IV 5). Zu Unrecht wird darin eine Domäne der objektiven Theorie gesehen, denn die subjektiv-historische Auslegung steht einem dynamischen Verständnis der gesetzgeberischen Wertentscheidung nicht entgegen. Verboten ist allein die Abwandlung oder Umdeutung des gesetzgeberischen Ziels, nicht dessen Fortdenken und Verlängerung in die Gegenwart.525 Der „Mumifizierungseinwand“ trifft nur, wenn äußere Faktoren wie der Gesetzeswortlaut in Verbindung mit 523 Nach Muscheler (in: FS für Hollerbach, S. 127) ist sie das zur Überwindung der Entstehungsgeschichte am häufigsten herangezogene Instrument. 524 Als Beleg dafür, welch wichtige Fragen mit ihr entschieden werden, siehe z. B. BGHSt GS 2, 194 = unten Fall 345. 525 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 333: „Der Richter, welcher das überlieferte Gesetz den Bedürfnissen der Gegenwart anpaßt, will gewiß eine praktische Aufgabe lösen. Aber seine Auslegung des Gesetzes ist deshalb noch lange nicht eine willkür-

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IV. Entstehungsgeschichte

rechtsstaatlichen Vertrauenserwägungen der Anpassung entgegenstehen; das aber ist keine Problematik der historischen Auslegung. Problematischer als der Wandel der tatsächlichen Verhältnisse (IV 5 b) erweisen sich Veränderungen rechtlicher Art (IV 5 d). Die Rechtsprechung paßt nicht selten die Interpretation unveränderter Normen den gewandelten Rechtsvorstellungen an, stellt sich dabei mitunter aber zu großzügig und gegen klare gesetzgeberische Vorgaben in den Dienst einer „allgemeinen Rechtsentwicklung“. Mit der Perfektionierung der strafrechtlichen Kodifikationen hat der Anpassungsdruck nachgelassen. Häufig ziehen die Senate zur Interpretation die Gesetzesentwürfe heran (IV 6). Das überzeugt nur dann, wenn diese im Gesetzgebungsverfahren als Vorbild dienten oder wenn sonst auf sie Bezug genommen wurde. Abweichungen der endgültigen Gesetzesfassung vom Entwurf ermöglichen objektiv-historische Schlußfolgerungen, die bei genetischer Betrachtung als ungerechtfertigt erscheinen können (IV 6 c). Die gleiche Spannung zwischen objektiv- und subjektivhistorischer Auslegung kann sich bei allen übrigen Handlungen (und Unterlassungen) des Gesetzgebers offenbaren (IV 7), wie etwa bei der Abweichung von früheren Normen (IV 7 b), bei der Wiedereinführung (IV 7 e) und Streichung von Vorschriften (IV 7 f) sowie bei lediglich „zur Klarstellung“ neugefaßten Normen (IV 7 h). Oft unterstellt die Praxis einen „zu klugen“ Gesetzgeber, der „in Kenntnis“ eine Problematik entscheide, die Rechtspraxis stillschweigend billige, bei anderer Ansicht anders formuliert hätte oder eine Thematik leicht hätte klarstellen können (IV 7 c und g). Umgekehrt verhilft der BGH häufig dem „wahren“ Willen des Gesetzgebers gegenüber „objektiv“ angezeigten Gegenschlüssen zum Durchbruch, allerdings ohne daß darauf Verlaß wäre. In engen Grenzen ist es möglich, daß eine unveränderte Norm durch den Wandel anderer Bestimmungen einen abweichenden Inhalt erhält („Fernwirkung systematischer Auslegung“, IV 7 c und i). In einer sich wandelnden Rechtsordnung stehen sich unterschiedliche gesetzgeberische Vorstellungen gegenüber, die zwangsläufig nicht alle durchgesetzt werden können und harmonisiert werden müssen.526 Irrelevant für die Interpretation des (noch) geltenden Rechts ist – entgegen einzelner Äußerungen des BGH – das zukünftige Recht (IV 7 d). Zahlreich sind Entscheidungen, die sich mit gesetzgeberischen Versehen beschäftigen müssen (IV 8). Unabhängig von der Art des Versehen (Redaktionsversehen, Inhalts-, Motivirrtum, Übersehen, Wertungsfehler) kommt eine richterliche Gesetzeskorrektur nur bei Beachtung rechtsstaatlicher Schutzpositionen in Betracht. Sie dient der Durchsetzung des „wahren“ gesetzgeberischen Willens, dessen Ermittlung in Irrtumsfällen freilich häufig Probleme bereitet. Die Korrektur darf nicht an Formalregeln wie der „Andeutungstheorie“ scheitern. Allerdings stehen der Berichtigung – insbesondere bei Inhalts- und Motivirrtümern – regelmäßig andere liche Umdeutung. Auch in seinem Falle heißt Verstehen und Auslegen: einen geltenden Sinn Erkennen und Anerkennen.“ 526 Siehe dazu auch unten V 8.

9. Zusammenfassung

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Gründe entgegen (siehe die Regeln in IV 8 c und d). Je nach Sinnwidrigkeit einer textgetreuen Auslegung können die Anforderungen an den Nachweis eines Versehens sinken; die Erforschung der Entstehungsgeschichte erweist sich in bezug auf den Nachweis als Mittel der Wahl. Mit der ungeprüften Behauptung eines Redaktionsversehens darf die Berechtigung zur Gesetzeskorrektur nicht erschlichen werden. Schwer zu sagen ist schließlich, welchen Standpunkt die Rechtsprechung im Streit zwischen subjektiver und objektiver Auslegungstheorie insgesamt einnimmt. Sicher zutreffend, aber auch nicht erhellend ist das Urteil, die Praxis verfolge insofern eine mittlere Linie mit Ausschlägen in beide Richtungen.527 Vorliegend wurden als Mittel oder Gründe zur Überwindung des feststellbaren gesetzgeberischen Willens vor allem untersucht: Die grundsätzliche Abwertung des subjektiv-historischen Erkenntnismittels (IV 2), die Andeutungstheorie (IV 3) und der Wandel tatsächlicher oder rechtlicher Vorstellungen (IV 5). Der letzte Aspekt ist inhaltlich am ehesten berechtigt, wird aber in seiner Tragweite überschätzt, zumal auch die subjektive Theorie dem Anliegen weitgehend Rechnung tragen kann. Die explizite Ablehnung subjektiv-historischer Auslegung kann im wesentlichen (und unter dem Einfluß verfassungsgerichtlicher Äußerungen) als überwunden gelten, obwohl hier jederzeit atavistische Rückschläge drohen. Als Hauptinstrument zur Überwindung gesetzgeberischer Vorstellungen bleibt die Andeutungstheorie, die sich in der Praxis ungebrochener Zustimmung erfreut. Die erheblichen Einwände gegen dieses willfährige Werkzeug wurden hier eingehend vorgetragen. Hinzuweisen ist weiterhin auf den Unterschied zwischen einer quantitativen und einer qualitativen Perspektive: In den weitaus meisten Fällen wird die Praxis dem Willen des Gesetzgebers Folge leisten, ohne aber daraus methodologische Vorrangregeln abzuleiten. Die subjektive Auslegung bedarf fast nie einer Rechtfertigung, selbst wenn die Durchsetzung des historischen Willens überzogen erscheint528. Dagegen sind in den selteneren Anwendungsfällen „objektiver“ Gesetzesauslegung529 theoretische Äußerungen, die diese Vorgehensweise legitimieren sollen, relativ zahlreich. Das ist verständlich, sichert doch die objektive Theorie größeren Spielraum, der in späteren Fällen genutzt werden kann.530 In normativer Hinsicht folgt daraus: Die Überwin527 Jescheck, GA 1959, 65. Nach Ansicht von Tröndle (in: LK-StGB10, § 1, Rn. 46) nimmt der BGH einen vermittelnden Standpunkt mit „deutlichem Übergewicht“ der objektiven Methode ein. 528 Beispiele oben in IV 8. 529 Für selten hält sie z. B. Rahlf, in: Juristische Dogmatik, S. 36. Muscheler (in: FS für Hollerbach, S. 116) kann in der gesamten Sammlung „BGHZ“ lediglich 13 Entscheidungen (aus über 5000) finden, in denen die Senate (abgesehen von Rechtsfortbildungen) sich ausdrücklich über den Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen oder die Möglichkeit der Abweichung einräumen. Für „BGHSt“ erscheint diese Zahl schon in Anbetracht der zahlreichen Fälle, die bei der Andeutungstheorie erörtert wurden, als erheblich zu niedrig.

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IV. Entstehungsgeschichte

dung des ursprünglichen gesetzgeberischen Willens mag nicht oft erforderlich sein, aber er droht jederzeit und kann sich hierzu stets des vorhandenen methodischen Instrumentariums bedienen.

530 Zur Frage, was sich inhaltlich hinter einer objektiv-teleologischen Auslegung verbergen kann, siehe unten VI 1 (am Ende).

V. Systematik 1. Vorüberlegungen Die Argumente, die unter dem Stichwort „systematische Auslegung“ zusammengefaßt werden, sind vielfältig und stark mit den übrigen Auslegungselementen verwoben, denen sie häufig als („objektive“) Hilfsmittel dienen. Auf einen gemeinsamen Kerngedanken lassen sich die systematischen Argumente nicht reduzieren, aber doch – ohne daß eine trennscharfe Unterscheidung möglich wäre – einige Leitgesichtspunkte hervorheben: (1) Argumente aus dem Kontext, (2) „logische“ Schlußformen und (3) konsistenzsichernde Argumente.1 Eine Argumentation aus dem Kontext liegt etwa bei Schlußfolgerungen aus der Stellung der Norm in einem bestimmten Abschnitt vor (unten V 2). Weitere kontextuelle Erwägungen wurden bereits vorgestellt, soweit sie unmittelbar Aufschluß über Wortbedeutungen geben, etwa wenn benachbarte oder verwandte Normen oder Absätze innerhalb einer Norm verglichen werden (vgl. oben III 3 f). Ob es sich um grammatikalische oder logisch-systematische Überlegungen handelt, wenn etwa aus der abweichenden Formulierung zweier Absätze einer Vorschrift auf die jeweilige Wortbedeutung geschlossen wird, ist in Hinblick auf die Reichweite des Art. 103 II GG nicht nur eine akademische Frage (siehe oben III 7 f). Häufig anzutreffen sind Schlußfolgerungen aus gleichlautenden oder abweichenden Formulierungen in anderen Bestimmungen (oben III 3 g): Formuliert der Gesetzgeber in einer vergleichbaren Situation ebenso, spricht das für die Annahme von Bedeutungsgleichheit, formuliert er abweichend, liegt es nahe, im Umkehrschluß eine unterschiedliche Bedeutung anzunehmen. Die Überzeugungskraft solcher objektiv-systematischen Schlüsse hängt freilich von verschiedenen Voraussetzungen ab, insbesondere davon, ob der Gesetzgeber selbst eine konsistente Systematik und Begrifflichkeit durchhält (zusammenfassend unten V 3 b). Oft werden die Gesetzesverfasser die möglichen objektivsystematischen Schlüsse nicht in Betracht gezogen und gegenteilige Ergebnisse beabsichtigt haben. Dann streiten subjektiv-historische gegen objektiv-systematische Argumente (oben IV 7 g). Objektiv-systematisch kann allerdings auch innerhalb der historischen Auslegung argumentiert werden, indem aus Änderun1 Eine weitergehende Aufgliederung in acht Untergruppen nimmt Alexy vor (Recht, Vernunft, Diskurs, S. 86 f.). Zusammenfassend Herdegen, in: LK-StGB11, § 253, Rn. 5: Die systematische Interpretation fragt vor allem nach der inneren Beziehung von Rechtsbegriffen und Rechtssätzen, nach ihrer Deutung in Berücksichtigung eines übergreifenden gedanklichen Zusammenhangs.

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V. Systematik

gen innerhalb eines Gesetzgebungsverfahrens Gegenschlüsse gezogen werden, die wiederum mit einer genetischen Auslegung kollidieren können (oben IV 6 c). Die Durchsetzung der subjektiven Vorstellungen des Gesetzgebers geht unter Umständen auf Kosten einer äußerlich stimmigen Systematik. Als weitere universelle Denkform neben dem Umkehrschluß wird der Erst-recht-Schluß näher betrachtet (V 3 a). Besondere Fragen wirft die auf einem Regel-Ausnahme-Verhältnis beruhende und in der Praxis sehr gebräuchliche Charakterisierung einer Norm als Ausnahmevorschrift auf (V 4). Konsistenzsicherung geschieht vor allem durch den Ausgleich von Rechtsnormen unterschiedlicher Rangordnung; zentrales (systematisches) Hilfsmittel hierzu ist die verfassungskonforme Auslegung (V 5). Eingehend dargestellt wird der Einfluß der Grundrechte (V 6) sowie des Bestimmtheitsgebots (V 7) auf die Auslegung des einfachen Rechts. Übergeordnetes Ideal der Konsistenzsicherung ist die Einheit der Rechtsordnung (V 8), die mit der Relativität der Rechtsbegriffe eine notwendige Einschränkung erfährt (V 8 a), allgemein aber zur Herstellung einer widerspruchsfreien Rechtsordnung drängt (V 8 b); krasse Wertungswidersprüche können sich als Verstoß gegen Art. 3 I GG erweisen (V 8 c), der als höherrangiges Recht zentralen Einfluß auf die Rechtsanwendung ausübt.

2. Stellung der Norm im Abschnitt/gesetzliche Überschriften Eine klassische Form systematischer Auslegung ist die Argumentation aus dem „äußeren System“2 des Gesetzes, insbesondere aus der Stellung der Vorschrift in einem bestimmten Gesetzesabschnitt. Mit der Zusammenfassung von Vorschriften in einem Abschnitt kann der Gesetzgeber die einheitliche Zielrichtung der Normen zum Ausdruck bringen und das geschützte Rechtsgut spezifizieren. Eine vom Wortlaut her passende Bestimmung kann so reduziert werden, eine unklare Norm so an Schärfe gewinnen. Nach § 330a I StGB wird u. a. bestraft, „wer Stoffe, die Gifte enthalten . . ., verbreitet oder freisetzt und dadurch die Gefahr des Todes . . . eines anderen Menschen . . . verursacht . . .“. Fällt darunter auch ein HIV-infizierter Täter, der in böser Absicht möglichst viele Partner ansteckt? Bei isolierter Lektüre der Norm erscheint die Subsumtion zumindest nicht fernliegend, wenn man unterstellt, das Merkmal „Gift“ sei erfüllt. Bedenkt man aber, daß die Norm im Abschnitt „Straftaten gegen die Umwelt“ steht, und vergleicht man sie mit den übrigen der dort geregelten Delikte (Gewässerverunreinigung etc.), dann muß die Frage offensichtlich verneint werden.3 Ähnlich argumentiert BGHSt 43, 346 in einem Fall zu § 311 StGB (= § 311d a. F., „Freisetzen ionisierender Strahlen“). Ein Arzt röntgte seine Patienten ohne medizini2

Zu den Begriffen „inneres/äußeres System“ siehe Kramer, Methodenlehre, S. 67. Anders aber Wisuschil, ZRP 1998, 61 (63 f.): § 330a sei hier anwendbar, auch wenn kein „klassisches umweltstrafrechtliches Geschehnis“ vorliege; der Gesetzgeber habe unbewußt eine „maßgeschneiderte“ Vorschrift für die HIV-Fälle geschaffen. 3

2. Stellung der Norm im Abschnitt/gesetzliche Überschriften

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schen Anlaß exzessiv, aber mit einwandfrei funktionierenden Geräten. Der BGH betont die Stellung der Norm im Abschnitt „gemeingefährliche Straftaten“; der Gesetzgeber habe nur Konstellationen erfassen wollen, in denen der Täter die Auswirkungen seiner Handlungen nicht in der Hand hat und deshalb eine Vielzahl von Personen gefährdet werden (S. 349). Gefährde der Arzt hingegen gezielt nur eine Person, handle er nicht „gemeingefährlich“ (S. 350).4 Auch BGHSt 27, 40 (42) begründet seine Ansicht, daß § 315c StGB nicht anwendbar sei, wenn der Täter nur das von ihm geführte, fremde Fahrzeug gefährdet, u. a. mit der Stellung der Norm im Abschnitt „gemeingefährliche Straftaten“.

Die Argumentation aus der „Stellung im Abschnitt“ ist allerdings mit Vorsicht zu genießen.5 Die Bezeichnung des Abschnitts kann sich als unpräzise, eine bestimmte Norm gewollt oder ungewollt als Fremdkörper im Abschnitt erweisen. Fall 227: Für § 308 I Alt. 1 StGB i. d. F. bis zum 6. StrRG (einfache Brandstiftung) war anerkannt, daß es sich dabei um einen Spezialfall der Sachbeschädigung und somit um ein Eigentumsdelikt, nicht aber um eine „gemeingefährliche Straftat“ handelt.6 Konsequent hielt man bei diesem Tatbestand eine Einwilligung für möglich. Nach überwiegender Ansicht gilt das auch für § 306 I StGB n. F.7 Der Gesetzgeber hätte demnach dem Sachzusammenhang größeres Gewicht verliehen als der „logisch“ zutreffenden Anordnung. Seltsamerweise würde damit die erste Norm im Abschnitt „gemeingefährlicher Straftaten“ nicht unter diesen Sammelbegriff fallen und auch nicht Grunddelikt der Brandstiftungsnormen sein. BGH NStZ 2001, 196 (197) hat demgegenüber angenommen, daß auch § 306 I „ein Element der Gemeingefährlichkeit“ anhaftet, was durch die Stellung der Norm im Abschnitt über die gemeingefährlichen Straftaten bestätigt werde.8 Fall 228 (BGHSt 9, 285): Der Senat weist den Versuch, eine Abschnittsüberschrift zur Tatbestandsreduktion des § 90a StGB i. d. F. des 1. StÄG („Wer eine Vereinigung gründet, deren Zwecke . . . sich gegen die verfassungsgemäße Ordnung . . . richten . . .“) heranzuziehen, recht unwirsch zurück. Die Verteidigung hatte vorgetragen, zur Tatbestandsverwirklichung bedürfe es zusätzlich der Feststellung einer ernstzunehmenden Gefährdung der verfassungsmäßigen Ordnung, wie man der Abschnittsüberschrift „Staatsgefährdung“ entnehmen könne (S. 287). Der Senat sieht nach Analyse der Entstehungsgeschichte keine Rechtfertigung für die Annahme ungeschriebener Merkmale. „Der Hinweis auf die Abschnittsüberschrift beweist gar nichts. ,Staatsgefährdung‘ ist das, was der Gesetzgeber in diesem Abschnitt tatbe4 In der abl. Anmerkung von Götz u. a. (MedR 1998, 505) wird zwar ausführlich zur „systematischen Auslegung“ des § 311 Stellung bezogen (S. 507–509), doch fehlen dort gerade die auf der Hand liegenden systematischen Argumente des BGH. 5 Larenz, Methodenlehre, S. 326: Wegen der sachlichen Zusammengehörigkeit von Normen weiche das Gesetz teilweise von der systematischen Anordnung ab. Siehe auch Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1, Rn. 70 und 71. 6 Statt aller Wessels, Strafrecht BT/121, Rn. 925. 7 Siehe Tröndle/Fischer, StGB51, § 306, Rn. 1, 12 und Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1, Rn. 953, 956. 8 Über die Möglichkeit der Einwilligung mußte BGH NStZ 2001, 196 nicht entscheiden. Ohne weiteres bejahend aber BGH NJW 2003, 1824.

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V. Systematik

standsmäßig erfaßt hat“ (S. 292).9 – Für die vorliegende Konstellation mögen die Einsichten des BGH zutreffen, aber methodisch generalisierbar dürften sie nicht sein.

Neben der systematischen Stellung der Vorschrift in einem Abschnitt10 wird als Auslegungshilfe des öfteren die gesetzliche Überschrift der jeweiligen Vorschrift als Auslegungshilfe herangezogen. Selbst wenn die Überschriften amtlich sind,11 dürfte nicht strittig sein, daß es sich dabei nicht um Bestandteile der Norm selbst handelt und damit auch nicht um Tatbestandsmerkmale, aus denen sich die für Art. 103 II GG relevanten Wortlautgrenze zusammensetzt. Umgekehrt folgt daraus aber nicht die völlige Wertlosigkeit der Gesetzestitel für die Interpretation. Die Bezeichnung einer Norm ist ja kein Resultat freier oder zufälliger Namensgebung, sondern sie soll ihren Gegenstand stark verkürzt zum Ausdruck bringen. Wenn auch mit den Bezeichnungen „Diebstahl“, „Raub“ und „Mord“ nichts für die Auslegung zu gewinnen ist, kann es doch andere Fälle geben, in denen die Überschriften Anhaltspunkte für die gesetzgeberische Intention liefern. Der BGH ist hinsichtlich der Verwertbarkeit allerdings hin- und hergerissen: BGHSt 18, 242 (246) begründet seine Ansicht, der „Erwerb“ von Waren im Sinne des Zollrechts müsse rechtsgeschäftlich erfolgen, während ein Diebstahl nicht genüge, u. a. mit einigen Überschriften der Allgemeinen Zollordnung (a. F.), in denen von „Handel“ die Rede ist. — BGHSt 39, 330 (vgl. oben Fall 152) zieht die gesetzliche Überschrift des § 239b StGB („Geiselnahme“) als eines von mehreren Argumenten heran, um den Tatbestand einzuschränken. In der Überschrift komme der gesetzgeberische Wille zum Ausdruck, nur Fälle zu erfassen, in denen das Geschehen Außenwirkung entfaltet; dadurch sei der Begriff der Geiselnahme seit jeher geprägt (S. 334 mit Hinweisen auf Lexika). Auch die Bezeichnung „Geisel“ spreche für eine einschränkende Anwendung der Norm.

Die Argumentation aus BGHSt 39, 330 ist sehr zweifelhaft. Im Duktus von BGHSt 9, 285 könnte man erwidern: Das, was eine „Geiselnahme“ ist, bestimmt der Gesetzgeber durch die einzelnen Tatbestandsmerkmale. Dann aber ist es unzulässig, der Norm aus Wörterbüchern und einem überkommenen Begriff einen anderen Charakter zu verleihen.12 Sonst ist der BGH wesentlich skeptischer hinsichtlich der Aussagekraft gesetzlicher Überschriften und sieht

9 Zum irreführenden Charakter der Überschrift „Staatsgefährdung“ siehe auch Kohlrausch/Lange, StGB41, S. 247. 10 Ein weiteres Beispiel bietet BGHSt 32, 335 (339), wo der Senat aus der Stellung zweier Vorschriften in verschiedenen Abschnitten Schlußfolgerungen für das Verhältnis zieht, in dem die beiden Normen zueinander stehen. 11 Im StGB-BT haben Vorschriften seit dem EGStGB von 1974, im StGB-AT seit dem 2. StrRG von 1969 amtliche Überschriften, siehe Göhler, NJW 1974, 825 (834 f.). 12 Für eine Tatbestandsreduktion sprachen freilich andere, stärkere Gründe (vgl. Fall 152).

3. „Logisch‘‘-systematische Argumente

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darin häufig eine nur unpräzise oder gar unzutreffende Beschreibung des Norminhalts: Fall 229 (BGHSt 29, 220): § 17 des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes a. F. enthält das Verbot, zum Verzehr nicht geeignete Lebensmittel gewerbsmäßig in Verkehr zu bringen. Aus dem Normtitel „Verbote zum Schutz vor Täuschung“ folgert das OLG über den eigentlichen Gesetzeswortlaut hinaus, daß die konkreten Umstände den Verbraucher über die Eignung des Lebensmittels täuschen müßten (S. 221). Der Senat sieht in Wortlaut und Entstehungsgeschichte keine Anhaltspunkte für diese Auffassung, die außerdem übersehe, „daß die Überschriften gesetzlicher Vorschriften, auch wenn sie vom Gesetzgeber mit beraten sind, nie zusätzliche Tatbestandsmerkmale enthalten, sondern lediglich auf den wesentlichen Inhalt der gesamten Vorschrift hinweisen“ (S. 224). Der Überschrift sei nur zu entnehmen, daß die Alternativen des Tatbestandes überwiegend gegen Täuschungen gerichtet seien. „Andernfalls wäre es in keiner der Einzelvorschriften . . . notwendig gewesen, die Eignung zur Täuschung ausdrücklich als Tatbestandsmerkmal anzuführen.“ – Mit der Überschrift ließe sich auch wie in BGHSt 39, 330 („Geiselnahme“) eine Tatbestandsreduktion begründen. Es kommt insofern ganz auf den wirklichen Willen des Gesetzgeber an, der im maßgeblichen Gesetzestext eventuell nicht eins zu eins zum Ausdruck kommt. Nicht überzeugen kann jedenfalls die abschließende Erwägung des Senats („Andernfalls . . .“), denn der Gesetzgeber könnte so ja nur verfahren, wenn es gesicherter Erkenntnis entspräche, daß die Gesetzesüberschrift zur Interpretation herangezogen werden muß. Das ist aber nicht der Fall. Fall 230 (BGHSt 39, 353): Aus der gesetzlichen Überschrift von § 315a EGStGB (Verjährung für in der DDR „verfolgte und abgeurteilte Taten“) folge nicht, daß die Norm nur bei Taten anwendbar ist, bei denen die Strafverfolgung bereits in der DDR begonnen hatte (S. 356). Eine solche sinnwidrige Einschränkung finde in der Vorschrift, die „selbst eine eindeutige und in sich geschlossene Gesamtregelung“ enthalte, keinen Niederschlag. Die Fassung der Überschrift könne nur „als ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers verstanden werden“ (S. 357). Fall 231 (BGHSt 45, 103 – „Durchschleusen“): Gemäß § 92a AuslG ist nicht nur strafbar, wer Ausländer illegal nach Deutschland einschleust, sondern auch, wer sie illegal durch das Bundesgebiet durchschleust. Das folgt aus den in Bezug genommenen Normen und nach Ansicht des Senats aus Sinn und Zweck der Vorschrift (S. 105). „Dem steht nicht entgegen, daß in der gesetzlichen Überschrift nur der häufigere und die Belange der Bundesrepublik Deutschland stärker berührende ,Normalfall‘ des Einschleusens angesprochen wird, da die Wortlautschranke bei der Auslegung nicht für die Überschrift einer Norm gilt“ (S. 106).

3. „Logisch“-systematische Argumente Häufig trifft man in Urteilsgründen auf logische Schlußformen, vor allem auf Größen- und Umkehrschlüsse. Dabei handelt es sich strenggenommen nicht um Hilfsmittel einer systematischen Interpretation, sondern um „Grundstrukturen juristischen Denkens“13 oder sogar um universelle Denkoperationen, die auch zur juristischen Argumentation herangezogen werden. Im Vordergrund des In-

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V. Systematik

teresses steht nicht die logische Struktur dieser Schlüsse, sondern die Frage, ob sie in der jeweiligen Situation zu Recht gezogen oder verworfen wurden.14 Das aber hängt von juristischen Kriterien ab, insbesondere von der Herausarbeitung der gesetzgeberischen Wertentscheidung als normativen Bezugsrahmen der Schlußformen. Leicht vernebelt das Prestige der Logik die Sachproblematik. Natürlich zu vermeiden sind logische Fehler und Zirkelschlüsse (petitio principii, circulus vitiosus etc.); da sie keine Hilfsmittel der Gesetzeskonkretisierung sind, werden sie hier nicht erörtert.15 a) Erst-recht-Schluß (a fortiori), Größenschlüsse (a minore/a maiore) Gerne greift die Praxis auf den Erst-recht-Schluß (argumentum a fortiori) und als dessen Sonderfälle16 auf die Größenschlüsse (a minore ad maius/a maiore ad minus) zurück. Die Struktur dieser Argumente ist leicht einsichtig: Wenn der Gesetzgeber schon den geringeren Fall erfaßt, muß das für den schwereren erst recht gelten (Schluß a minore). Wenn der Gesetzgeber schon den schwerwiegenderen Fall straffrei läßt, muß dies erst recht auch für den geringeren Fall gelten (Schluß a maiore). Kann dem Täter eines untauglichen Versuchs das Privileg des Rücktritts gewährt werden? Ja, denn ansonsten würde der weniger gefährliche Täter gegenüber dem gefährlicheren schlechter gestellt. Ein anderes Ergebnis könnte nur hingenommen werden, wenn es der Gesetzgeber ausdrücklich ausgesprochen hätte (BGHSt 11, 324 [325 f.] = oben Fall 169).17 — Ist auch der Mofafahrer vom Schutzbereich des § 316a StGB (räuberischer Angriff auf „Kraftfahrer“) erfaßt? Ja, denn die Norm soll vor besonderen Gefahrenlagen des fließenden Verkehrs schützen, und in dieser Hinsicht ist der Mofafahrer noch schutzbedürftiger als der Führer eines PKW (BGHSt 39, 249 [250 f.] = oben Fall 153). — Wird durch Telefonsex eine sexuelle Handlung „vor“ dem Täter vorgenommen? Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich, daß „Distanztaten“ wie Exhibitionismus nicht erfaßt werden sollten; dann aber muß dies für Telefonsex „erst recht“ gelten (BGHSt 41, 285 [287] = Fall 1).

Die Überzeugungskraft der Größenschlüsse resultiert vor allem aus ihrer Evidenz, aus der unmittelbaren Einsicht in die Richtigkeit des Ergebnisses. Mit der Behauptung eines „Mehr oder Weniger“ oder eines „erst recht“ erhält die Beweisführung den Anschein zwingender Logik und Unangreifbarkeit. Sie enthält zudem implizit die Aussage, daß in Anbetracht des offensichtlichen Ergebnisses jede 13 Unter diesem Oberbegriff behandeln Looschelders/Roth (Methodik, S. 99 ff.) die logischen Schlußformen. 14 Vgl. Looschelders/Roth, Methodik, S. 101; Gast, Rhetorik, Rn. 323. 15 Siehe dazu Gast, Rhetorik, Rn. 315 ff.; Schneider, Logik, S. 195 ff.; Scheuerle, ZZP 1965, 32 (43 ff.). 16 Gast, Rhetorik, Rn. 337: „Spielarten“ des argumentum a fortiori. 17 Einen weiteren Schluß a maiore ad minus im Bereich der Rücktrittsregelungen zieht BGHSt 6, 85 (88).

3. „Logisch‘‘-systematische Argumente

393

gegenteilige Annahme absurd sei. Das Zusammenwirken von Erst-recht-Schluß und argumentum ad absurdum ist in folgenden Beispielen besonders deutlich: Fall 232 (BGHSt 4, 279): Gemäß § 338 Nr. 6 StPO liegt ein absoluter Revisionsgrund vor, wenn das Urteil aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind. Gehört zur „mündlichen Verhandlung“ auch die Urteilsverkündung, bei der anders als im vorhergehenden Verfahrensabschnitt gemäß § 173 GVG die Öffentlichkeit in keinem Fall ausgeschlossen werden darf? BGHSt 4, 279 bejaht das u. a. mit folgendem Erstrecht-Schluß:18 „Ist aber die Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit schon in einem Verfahrensabschnitt, in dem die Öffentlichkeit an sich ausgeschlossen werden darf, ein unbedingter Revisionsgrund nach § 338 Nr. 6 StPO, so muß dies erst recht für die Verkündung des Urteils gelten, die niemals in nicht öffentlicher Sitzung geschehen darf“ (S. 282). Andernfalls [argumentum ad absurdum] würde einem vom GVG als besonders bedeutsam eingeschätzter Vorgang geringerer Schutz zuteil. Fall 233 (BGHSt 17, 166): Besonders nachdrücklich auf die Sinnwidrigkeit einer Auslegung, die ein Größenverhältnis (hier: a minore ad maius) außer acht ließe, verweist der Senat in einer Entscheidung zu § 330c StGB a. F. (§ 323c g. F.). Die Pflicht zur Hilfeleistung kann nicht von der Erfolgsaussicht abhängen, denn dann entfiele die Pflicht gerade in den Fällen, in denen die Not am größten ist (S. 171). Fall 234 (BGHSt 9, 67): Gemäß § 151 I 1 GewO a. F. wurde der Bevollmächtigte eines Gewerbetreibenden bestraft, wenn er bei der Ausübung des Gewerbes polizeiliche Vorschriften „übertreten“ hatte. Nach Ansicht des BGH ist der Begriff „Übertretung“ hier nicht im technischen Sinn – als Gegensatz zu den schwerwiegenderen „Vergehen“ und „Verbrechen“19 – gemeint: „Es wäre auch kein Grund ersichtlich, warum die Haftung, die der Gesetzgeber zur Vermeidung sonst möglicherweise straflos bleibender Gesetzesverletzungen für erforderlich gehalten hat, nur bei leichten, nicht jedoch bei schwereren Rechtsbrüchen gelten sollte, bei denen das rechtspolitische Bedürfnis . . . noch dringender ist“ (S. 70).

Häufig in einem Atemzug genannt werden Erst-recht- und Analogieschluß. Aus den eingangs geschilderten Fällen wird der Unterschied zwischen beiden deutlich: Dem Größenschluß liegt ein Wertgefälle oder eine Rangordnung zugrunde (Subalternation), während der Analogieschluß Folgerungen aus der Ähnlichkeit zweier Sachverhalte trifft.20 Wenn die Größenschlüsse (zusammen mit der Analogie) fast ausnahmslos im Bereich der Rechtsfortbildung behandelt werden,21 so hat das insofern seine Berechtigung, als die Größenschlüsse noch

18 Die weiteren Argumente des Senats (Entstehungsgeschichte u. a.) sind allerdings wichtiger. 19 Vgl. oben S. 85. 20 Näher Schneider, Logik, S. 155 f. 21 Bydlinski, Methodenlehre, S. 479 (Größenschluß als „verstärkte Abart des Analogieschlusses“); Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 259; Koller, Theorie des Rechts, S. 234 (Ähnlichkeit mit Analogieschluß); Kramer, Methodenlehre, S. 151; Larenz, Methodenlehre, S. 389 (der Analogie nahe verwandt); Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 897

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V. Systematik

stärker als die Behauptung einer Ähnlichkeit dazu geeignet sind, eine im Weg der Rechtsfortbildung zu schließende Wertungslücke darzutun: Trifft die gesetzgeberische Wertung auf den konkreten Fall noch stärker (erst recht) zu als in der gesetzlich ausdrücklich geregelten Konstellation, ist es ein Gebot der Gleichbehandlung, die gesetzliche Regelung im Weg der Rechtsfortbildung auf diesen Fall zu erstrecken (wenn zusätzlich die übrigen Voraussetzungen der Rechtsfortbildung gegeben sind). Davon abgesehen sind der Erst-recht-Schluß und die Größenschlüsse jedoch universelle Argumentationsformen: Sie können auch dazu dienen, die Sinnwidrigkeit oder Fehlerhaftigkeit einer gesetzlichen Regelung aufzuzeigen, um eine Gesetzeskorrektur vorzubereiten.22 Aber auch bei der herkömmlichen Auslegung secundum legem gelangen die Größenschlüsse zum Einsatz (vgl. oben den „Mofa-Fall“). Stets setzen sie die Ermittlung des Gesetzeszwecks voraus. Erst wenn festgestellt ist, was der Gesetzgeber mit der Norm beabsichtigt, kann gesagt werden, ob das „erst recht“ auch für die Einbeziehung des vorliegenden Falls spricht oder ein konstatiertes „Mehr oder Weniger“ tatsächlich normrelevant ist. Daß ohne die Herausarbeitung der Prämissen (des teleologischen Bezugsmaßstabs) der „logische“ Anteil der hier erörterten Schlüsse ohne Wert ist und nur die teleologischen Erwägungen den Schluß tragen,23 unterliegt denn auch keinem Zweifel. Ohne nähere Prüfung wäre es etwa kaum verständlich, warum der Gesetzgeber in folgender Situation keinen Größenschluß gezogen hat: Gemäß § 243 StGB a. F. wurde der Diebstahl u. a. dann höher bestraft, wenn „Gegenstände der Beförderung“ (z. B. Reisegepäck) gestohlen wurden. Die Wegnahme des ganzen Transportmittels fiel hingegen nicht unter die Strafschärfung. Daß der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Tatbestandes keinen auf den ersten Blick naheliegenden Schluß a minore ad maius gezogen hat, begründet RGSt 6, 394 damit, daß ihm die Gefahr der Wegnahme des ganzen Transportmittels geringer erschien.24

Die Gefahr der Erst-recht- oder Größenschlüsse liegt demgemäß nicht in ihrer logischen Struktur, sondern in der (unberechtigten) Inanspruchnahme von Evidenz, mit der die inhaltlichen Anforderungen überdeckt werden. Ohne nähere Prüfung des Vergleichsmaßstabs – Ist das Größenverhältnis auch für die zu prüfende Norm von Bedeutung? – besteht die Gefahr des Trugschlusses. Bei Rechtsfortbildungen dürfen außerdem deren weiteren Voraussetzungen (Lücke) nicht aus dem Blick geraten.25 (Spezialfall des Analogieschlusses); anders aber Looschelders/Roth (siehe oben Fn. 13). 22 BGHSt 37, 316 hat den vorgebrachten Schluß a maiore ad minus nicht als ausreichenden Beleg für ein gesetzgeberisches Versehen anerkannt und eine Reduktion des § 79 I Nr. 1 OWiG a. F. abgelehnt; ebenso BayObLG NStZ 1990, 497 mit abl. Anm. von Göhler. 23 Sax, JZ 1964, 241 (244, Fn. 27); vgl. auch Looschelders/Roth, Methodik, S. 104 f. 24 Vgl. BGHSt 3, 312 und 314 = oben Fall 2.

3. „Logisch‘‘-systematische Argumente

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Fall 235 (BGHSt 40, 257; BGHZ 154, 205): Nach § 1904 I BGB bedarf die Einwilligung des Betreuers in einen ärztlichen Eingriff, bei dem für den Betreuten die Gefahr des Todes oder eines schweren Schadens besteht, der Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht. BGHSt 40, 257 (261 f.) hat in einem obiter dictum die Ansicht vertreten, daß die vom Wortlaut her nicht passende Norm nach ihrem Sinn und Zweck – erst recht – angewandt werden muß, wenn es um den Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung geht und der Sterbevorgang noch nicht eingesetzt hat. Wenn schon ein Heileingriff wegen seiner Gefährlichkeit der Genehmigung bedürfe, dann müsse dies „um so mehr“ für lebensbeendende Maßnahmen gelten. – Der Schluß a minore ad maius, mit dem die analoge Anwendung des § 1904 BGB begründet wird, wirkt in seiner Evidenz entwaffnend.26 Soll § 1904 BGB besonderen Schutz vor gefährlichen ärztlichen Maßnahmen bieten, dann wäre sein Nichteingreifen im vorliegenden Fall tatsächlich unverständlich. Gleichwohl hat ein Zivilsenat des BGH sich gegen diese Argumentation gewandt und die Gleichheit der Problemlage bestritten: § 1904 BGB wolle Leben und Gesundheit des Betroffenen erhalten, der Behandlungsabbruch das Leben beenden; beide Ziele stünden sich nicht im Verhältnis von „maius“ und „minus“ gegenüber und rechtfertigten mithin keinen Erstrecht-Schluß.27 – Der BGH in Zivilsachen stellt bei der Vergleichbarkeit der Problemlage somit auf das Ziel der Maßnahme ab, BGHSt 40, 257 auf ihre Gefährlichkeit, und je nach dem, was man insoweit für zutreffend hält, trägt der Erst-rechtSchluß oder nicht. Fall 236 (BGHSt 24, 143): Evidenz kann auch das folgende Beispiel nicht beanspruchen: Wird die einwöchige Ladungsfrist des § 217 I StPO nicht eingehalten, gewährt § 217 II dem Angeklagten die Option, einen Aussetzungsantrag zu stellen. Stellt er den Antrag nicht, ist der Fehler geheilt und kann nicht mehr nachträglich gerügt werden. Kann der ausgebliebene Angeklagte bei der Verwerfung seiner Berufung gemäß § 329 I mit der Revision geltend machen, daß die Ladungsfrist nicht eingehalten wurde? Dafür spricht nach einer verbreiteten Ansicht, daß eine Heilung nur dann in Frage kommen kann, wenn der Angeklagte sein Antragsrecht kennt, was beim Ausbleiben nicht der Fall ist. Mit ausführlicher Argumentation vertritt BGHSt 24, 143 die Gegenansicht und beruft sich dabei u. a. auf einen Erst-recht-Schluß: Die Stellung des Ausgebliebenen könne nicht besser sein als die des Anwesenden, der nur keinen Aussetzungsantrag stelle (S. 149). – Der Größenschluß überzeugt nicht auf Anhieb, weil er von zu vielen Vorannahmen abhängt. Fraglich ist insbesondere, ob der Vergleichsmaßstab wirklich zutrifft und in Hinblick auf den Normzweck des § 217 nicht statt eines Mehr oder Weniger etwas Anderes vorliegt: Der anwesende Angeklagte wird über sein Antragsrecht belehrt, der ausgebliebene erfährt davon womöglich nichts.28 25

Auch insofern schulmäßig: BGHSt 37, 316. Röhl (Allgemeine Rechtslehre, S. 594) hält die Begründung der Analogie in BGHSt 40, 257 allerdings schon für handwerklich mangelhaft! 27 BGHZ 154, 205 (220). Im Ergebnis bejaht freilich auch diese Entscheidung die Genehmigungsbedürftigkeit durch das Vormundschaftsgericht, methodisch im Wege richterlicher Rechtsfortbildung aufgrund eines „unabweisbaren Bedürfnisses des Betreuungsrechts“ (S. 221). Eine Vorlage gemäß § 132 II GVG war folglich nicht nötig. 28 Der BGH sieht den Ausgebliebenen durch andere Regelungen (z. B. Wiedereinsetzung) als hinreichend geschützt an. 26

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V. Systematik

Häufig und nicht nur im Bereich der Rechtsfortbildung wird die Wertungsgrundlage für einen Erst-recht-Schluß nicht aus dem Anwendungsbereich der entscheidungsrelevanten Norm selbst, sondern einer anderen, aber vergleichbaren Regelung innerhalb der Kodifikation entnommen. Hat der Gesetzgeber ein sachverwandtes Problem andernorts einer klaren Lösung zugeführt, kann diese Wertentscheidung unter Umständen für eine Erst-recht-Argumentation fruchtbar gemacht werden. Dadurch werden Wertentscheidungen des Gesetzgebers harmonisiert und so die systematische Stimmigkeit der Kodifikation erhöht. Fall 237 (BGHSt 27, 216; 25, 4): Entfernt der Angeklagte sich aus der Verhandlung, so kann diese zu Ende geführt werden, „wenn er über die Anklage schon vernommen war“, § 231 II StPO. Wie steht es, wenn die Vorstrafen noch nicht erörtert wurden? Hinsichtlich der Vorstrafen hat der Gesetzgeber 1964 in § 243 IV 3, 4 StPO bestimmt, daß diese nur bei Relevanz für die Entscheidung festgestellt werden sollen und über den Zeitpunkt der Feststellung der Vorsitzende entscheidet. BGHSt 25, 4 hat mit äußerst knapper Begründung dargelegt, daß die Vernehmung ohne die Feststellung der Vorstrafen noch nicht vollständig sei. Gegenteilig hat BGHSt 27, 216 entschieden und sich durch die Einfügung von § 265 V StPO29 bestätigt gefühlt. Nach dieser Norm sind bei eigenmächtiger Abwesenheit sogar Straferschwerungen gegenüber dem Anklagevorwurf möglich, wenn neue Umstände eintreten und dem Verteidiger der nach § 265 notwendige Hinweis erteilt wird. „Es läge ein innerer Widerspruch in einer Auslegung des Gesetzes, die trotz dieser Regelung die weit weniger ins Gewicht fallende Verlesung des Strafregisterauszuges in Abwesenheit des Angeklagten und seine Verwertung im Urteil ausschließen würde“ (S. 221). Merkwürdigerweise hat BGHSt 28, 69 sich in einer viel klareren Situation, in der die Einführung einer sachverwandten Regelung stark für einen Erst-recht-Schluß sprach und ein Meinungswandel auch dem Wortlaut weit eher entsprochen hätte (näher oben Fall 195), einer solchen Argumentation verschlossen. BVerfGE 65, 377 hat den vom BGH dadurch in Kauf genommenen Wertungswiderspruch sogar als Verstoß gegen Art. 3 I GG gewertet.

Eine Beweisführung wie in BGHSt 27, 216 ist allerdings nicht sonderlich stark, weil der Zusammenhang zur eigentlich fallrelevanten Norm ein nur mittelbarer ist. Sie ist zudem nur legitim, wenn sich zur einschlägigen Norm kein Wille des Gesetzgebers feststellen läßt, das Ergebnis also offen ist. Erst danach kann (subsidiär) eine sachnahe Wertung des Gesetzgebers aus einem anderen Bereich herangezogen werden. In dieser Situation ist das dann immerhin ein rationales Verfahren, das nicht freischwebend objektiv-teleologisch vorgeht, sondern sich am gesetzgeberischen Programm für einen ähnlichen Fall orientiert, mag es auch nicht das für den vorliegenden Fall vorgesehene sein. Abgehoben wird dabei – wie aus dem Bereich der Ergänzung von Gesetzeslücken bekannt – auf die Perspektive eines hypothetischen Gesetzgebers: „Hätte dieser die jetzt zu entscheidende Problematik gesehen und regeln wollen, dann hätte er 29

gen.

Vgl. heute § 234a StPO. BGHSt 25, 4 konnte § 265 V noch nicht berücksichti-

3. „Logisch‘‘-systematische Argumente

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das in folgender Weise getan, wie sich aus jener Regelung ergibt.“ Freilich besteht bei dieser Argumentation die Gefahr, eine für falsch oder unstimmig befundene (aber doch vorhandene!) gesetzgeberische Lösung durch eine sachverwandte und für besser erachtete zu ersetzen. Mit der Übertragung einer sachverwandten Regelung wird in folgendem Beispiel die gesetzliche Regelung überspielt: Fall 238 (BVerfGE 48, 246): § 160a IV 2 SGG i. d. F. vom 30.7.1975 bestimmt für die Nichtzulassungsbeschwerde, daß darüber das BSG „unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluß“ entscheidet. Hingegen differenziert der Gesetzgeber in § 169 SGG für die Revision zwischen deren Zulässigkeit (insofern Entscheidung nur durch die Berufsrichter) und ihrer Begründetheit (dann kompletter Spruchkörper). Das BSG hat trotz des klaren Wortlauts von § 160a IV 2 auch dort eine Differenzierung i. S. von § 169 vorgenommen30 und statt eines Umkehrschlusses einen Erst-recht-Schluß gezogen: Wenn drei Berufsrichter schon eine Revision als unzulässig verwerfen dürfen, dann könne beim weniger starken Rechtsbehelf der Nichtzulassungsbeschwerde nichts anderes gelten.31 Das BVerfG hat diese Rechtsprechung unter dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Richters nicht beanstandet und dabei die systematische Stellung des § 160a im Revisionsrecht betont, den „bloßen Wortlaut“ demgegenüber zurückgestellt (S. 257); die Rechtsmittelregelungen seien nur dann „in sich logisch“, wenn die ehrenamtlichen Richter in jeweils gleichem Umfang beteiligt werden. M. Hirsch hat in einem Sondervotum die Überzeugungskraft des Erst-recht-Schlusses (a maiore ad minus) bestritten (S. 265) und angesichts der unterschiedlichen Regelungen einen Umkehrschluß befürwortet (S. 266). Dem „rechtstheoretisch scheinbar einwandfreien Analogieschluß“ (S. 264) fehle es an den nötigen Voraussetzungen (S. 268 ff.). – Die Lösung des BSG ergibt sicherlich eine stimmigere Gesamtregelung, aber der Erst-recht-Schluß hätte den Gesetzgeber selbst bei der Ausgestaltung der Norm zum richtigen Ergebnis führen müssen. Statt dessen hat er eine andere gewählt, die von der Rechtsprechung eigenmächtig „verbessert“ wird.

b) Umkehrschluß Als weiteres „logisches“ Gebilde, das häufig in Urteilsbegründungen auftaucht, ist der Umkehrschluß (Gegenschluß, argumentum e contrario) zu erwähnen. Viel vom dem, was zum Erst-recht-Schluß gesagt wurde, gilt auch hier: Nicht die logische Struktur dieses Schlusses ergibt inhaltliche Einsichten, sondern die Gesetzesauslegung, an deren Ende ein Gegenschluß stehen kann. Wie die Größenschlüsse wird auch der Umkehrschluß zumeist bei der Rechtsfortbildung behandelt (Analogie oder Umkehrschluß?),32 obgleich sein Einsatzgebiet im Auslegungskanon weit größer ist. Viele Anwendungsfelder wurden in vorlie30

Siehe heute § 160a IV 2, Halbsatz 2 SGG: „. . . § 169 gilt entsprechend.“ Nachweise bei BVerfGE 48, 246 (254 f.). 32 Vgl. z. B. die (wenig verständliche) Umschreibung des argumentum e contrario in Meyers Großem Taschenlexikon: „. . . im Recht der Schluß, daß die analoge Anwen31

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V. Systematik

gender Arbeit bereits aufgezeigt. Sie können hier im Zusammenhang wiederholt und verdeutlicht werden. Besonders häufig und leicht eingängig sind Gegenschlüsse auf der Basis grammatikalisch-systematischer Vergleiche von Gesetzesformulierungen (siehe oben III 3 g). Sie beruhen auf der Annahme, daß der Gesetzgeber seine Formulierungen mit Bedacht wählt, die Begrifflichkeit konsistent durchhält, nichts Überflüssiges sagt und für gleiche Interessenlagen keine unterschiedliche Wortwahl trifft. Setzt Tatbestand X die Merkmale a, b und c voraus, Tatbestand Y jedoch nur a und b, dann folgt daraus im Gegenschluß, daß das Merkmal c nicht in Tatbestand Y oder in dessen Merkmale a und b „hineingelesen“ werden darf. Noch klarer liegt es bei innertatbestandlichen Vergleichen: Enthält Absatz 1 eine bestimmte Voraussetzung, Absatz 2 nicht, dann kann darauf geschlossen werden, daß dies bewußt geschah. So hat der Wortlaut des § 259 StGB a. F. nur Handeln des Täters zu seinem Vorteil erfaßt, andere Vorschriften wie § 263 StGB hingegen auch das Handeln zum Vorteil Dritter, und RGSt 27, 342 schließt daraus, daß dann auch, dem Wortlaut entsprechend, Unterschiedliches gelten müsse. — Von zwei zeitgleich eingeführten Normen des Militärstrafgesetzbuches sah eine die Möglichkeit vor, von Strafe abzusehen, die andere enthielt zusätzlich die Befugnis, die Strafe zu mildern. Dann aber kann die Milderungsmöglichkeit nicht mit der Begründung auf erstere Norm erstreckt werden, das Absehen von Strafe schließe die Befugnis zur Strafmilderung mit ein (BGHSt 21, 139 [140]).

Leider entspricht dieses Idealbild nicht immer der Realität. Oft mangelt es den gesetzlichen Regelungen an der logisch-systematischen Durchdringung, auf welche die Gegenschlüsse angewiesen sind. Dann fehlt dem formal-logischen Schluß die notwendige Grundlage: Bei einigen Tatbeständen bereitet der Rechtsprechung bis heute die Frage große Schwierigkeiten, ob der (Mit-)Täter Qualifikationsmerkmale in eigener Person („eigenhändig“) verwirklichen muß oder ob eine Zurechnung über § 25 II StGB möglich ist (vgl. oben Fall 36 und Fall 125). Ein Gegenschluß wird dadurch möglich, daß einige Vorschriften die Frage ausdrücklich regeln, indem sie formulieren: der Täter „oder ein anderer Beteiligter“ (z. B. §§ 113 II Nr. 1, 121 III, 244 I Nr. 1 StGB, § 373 II Nr. 2 AO; ohne diesen Zusatz hingegen: § 125a 2 StGB, § 30a II Nr. 2 BtMG). Vor allem BGHSt 27, 56 und 42, 368 haben den Vergleich zu anderslautenden Vorschriften herangezogen, um einen Gegenschluß zu ziehen. Überzeugen kann das jedoch nur bei einer entsprechenden begrifflichen Durcharbeitung dieser allgemeinen Frage und einer stringenten Umsetzung durch den Gesetzgeber bei allen Tatbeständen. Ein solches Niveau hat die Gesetzestechnik in dieser Frage jedoch nicht erreicht, worauf der 3. Senat in seinem Vorlagebeschluß zu Recht hinweist.33 Etwaigen Gegenschlüssen fehlt es daher an der notwendigen Grundlage, zumal die dung einer rechtl. Vorschrift wegen erhebl. Abweichung des Tatbestandes unzulässig ist“. 33 BGH NJW 2002, 1437 (1439, r. Sp.).

3. „Logisch‘‘-systematische Argumente

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Formulierung „oder ein anderer Beteiligter“ nicht nur Mittäter, sondern über § 25 II StGB hinaus noch Anstifter und Gehilfen umfaßt.34 Nicht unproblematisch ist auch folgende Deduktion von BGHSt 24, 103 (106) zur Frage, ob Maßregeln vom Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG erfaßt sind: Der Grundgesetzgeber habe eine Strafrechtsordnung vorgefunden, die zwischen „Strafe“ und „Maßregel“ scharf unterscheide; da Art. 103 II GG aber nur die „Strafe“ unter das Rückwirkungsverbot stelle, müsse daraus geschlossen werden, daß der einfache Gesetzgeber hinsichtlich der Maßregeln nicht dieser Beschränkung unterliege. Dieser Umkehrschluß hängt ersichtlich von den begrifflichen Voraussetzungen ab. Ob der Grundgesetzgeber aber den Ausdruck „Strafe“ tatsächlich mit einer Ausschlußwirkung verbunden hat, ist eine Frage der historischen Auslegung.35

Probleme ergeben sich aber nicht nur aus unberechtigten Gegenschlüssen, sondern auch aus dem Verzicht auf einen solchen Schluß. Häufig übersieht der Gesetzgeber die möglichen Konsequenzen einer begrifflich folgerichtigen Gesetzesanwendung. Dann hilft die Praxis den Gesetzesverfassern aus, indem sie auf den „objektiv“ angezeigten, mitunter auf der Hand liegenden Umkehrschluß verzichtet. Der „Preis“ für die Berücksichtigung der gesetzgeberischen Vorstellungen kann hoch sein: Die Einheit der Begriffe (der Rechtsordnung) wird aufgegeben, das Gesetz erhält einen anderen Sinn, als es Wortlaut und Systematik suggerieren und vereinzelt kann sogar ein Konflikt mit Art. 103 II GG entstehen.36 Noch gut verständlich ist der Verzicht auf einen Gegenschluß in BGHSt 8, 8: Der Angeklagte fuhr als Führer einer S-Bahn bei starkem Nebel nicht auf Sicht und verursachte deshalb einen Unfall. Hat er durch das zu schnelle Fahren eine Transportgefährdung (§ 315 StGB a. F.) mittels eines „ähnlichen“ Eingriffs begangen? Der BGH bejaht das, obwohl der benachbarte § 315a I Nr. 4 StGB (a. F.)37 die Variante des zu schnellen Fahrens ausdrücklich enthält. Ein „Gegenschluß“ sei nicht angebracht, weil § 315a erst nachträglich eingeführt38 und auf Besonderheiten des Straßenverkehrs, bei dem es Gründe für die Aufnahme dieser Alternative gebe, abgestimmt worden sei (S. 15). — Auf einen naheliegenden Umkehrschluß verzichtet BGHSt 1, 47 (49) u. a. wegen eines sonst eintretenden Widerspruchs zur Gerechtigkeit. Dabei bestand kein Zweifel, daß der Gesetzgeber den Gedanken der limitierten Akzessorietät nur in einem Teilbereich verwirklicht, es im übrigen aber (aus Versehen) bei der alten Regelung belassen hat (vgl. ausführlich oben Fall 163). — Nicht zu umgehen war der Umkehrschluß in der mehrfach erörterten Entscheidung BGHSt 34

So ein Argument des Großen Senats gegen BGHSt 42, 368, siehe oben Fall 36. Krit. zur Unterstellung, daß die Gesetzesverfasser sich an der „vorgefundenen“ Strafrechtsordnung orientiert hätten, Schroeder, JR 1971, 379 (380). 36 Daß die Rechtsprechung dadurch zudem ihre so geliebte „Andeutungstheorie“ preisgibt, sei nur am Rande erwähnt. 37 I. d. F. des Straßenverkehrssicherungsgesetzes vom 19.12.1952 (BGBl. I, S. 832 ff.). 38 BGHSt 21, 139 hat maßgeblich auf die zeitgleiche Einführung der relevanten Regelungen abgestellt und es deshalb als ausgeschlossen angesehen, daß die Frage nicht bedacht worden sei (S. 140). 35

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V. Systematik

29, 311 (oben Fall 34 und Fall 67). § 146 I Nr. 1 und 2 StGB enthält eine den fraglichen Sachverhalt exakt erfassende Tatmodalität, die in § 146 I Nr. 3 und in § 147 fehlt und dort vermißt wird. Unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte hält der BGH das „argumentum e contrario“ gleichwohl nicht für angebracht: Der Gesetzgeber habe die Angleichung der Tatbestände nur versäumt, und für die sich bei einem Gegenschluß ergebende unterschiedliche Behandlung sei kein Sachgrund ersichtlich (S. 314). Erkennt man in den logisch-systematischen Folgerungen ein Mittel zur Feststellung der für Art. 103 II GG maßgeblichen Wortsinngrenze, dann liegt in der Argumentation des BGH nicht nur ein Widerspruch zu den Regeln systematischer Auslegung, sondern darüber hinaus ein Verstoß gegen das Analogieverbot.39

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber sich nicht darauf verlassen kann, daß die Rechtsprechung auf den objektiv-systematisch angezeigten Gegenschluß verzichtet, um den „wahren“ Willen des Gesetzgebers durchzusetzen. Vorsicht ist deshalb bei „Klarstellungen“ angebracht, die allzu leicht das Potential zu ungewollten Gegenschlüssen bergen.40 Nicht nur bei Schlußfolgerungen aus („horizontalen“) Textvergleichen mit dem geltenden Recht spielt der Gegenschluß eine Rolle, sondern auch bei der objektiv-historischen Auslegung, insbesondere bei einem („vertikalen“) Vergleich zu Vorläufernormen41 oder zu Entwurfsfassungen (oben IV 6 c), nach der zweifelhaften Ansicht des BGH sogar zum künftigen Recht (oben IV 7 d). Die Streichung, Hinzufügung, Übernahme oder Änderung von Formulierungen läßt auf einen bestimmten Willen des Gesetzgebers schließen, die Rechtslage anders als bisher oder als ursprünglich geplant auszugestalten. Aber auch hier können entsprechende Schlüsse sich als trügerisch erweisen, und oft muß der BGH große Mühe darauf verwenden, objektiv-historisch naheliegende Umkehrschlüsse mit Hilfe subjektiv-historischer Auslegung zu entkräften.42 Schließlich bleibt als Anwendungsfeld des Umkehrschlusses43 seine Stellung als Opponent zum Analogieschluß. Gerade hier wird deutlich, daß die formal39 Näher oben Fall 67 und als Gegenbeispiel BGHSt 19, 158 = oben Fall 33. Siehe außerdem BGHSt 37, 147 = Fall 62. 40 Siehe oben IV 7 h mit Beispielen, den Text zu Fn. 57 in Kap. III („generisches Maskulin“) und außerdem BGHSt 42, 294 (oben Kap. III, Fn. 130). 41 Siehe oben IV 7 b und z. B. BGHSt 26, 191 (195): Der Textvergleich zur alten Fassung „nötigt zu der Annahme“. 42 Siehe oben IV 7 b und exemplarisch BGHSt 35, 6 = oben Fall 191. 43 Es wurden nur die wichtigsten Argumentationsmuster des Umkehrschlusses dargestellt. Es gibt weitere, die schwer einzuordnen sind, wie etwa in BGHSt 41, 348 (vgl. oben Fall 88): Nach der „Bausatztheorie“ der Rechtsprechung liegt eine Kriegswaffe auch dann vor, wenn sie in zusammensetzbaren Einzelteilen geliefert wird. Aus der Erweiterung der Kriegswaffenliste auf bestimmte Waffenteile lasse sich nicht auf eine abschließende Regelung von Einzelteillieferungen schließen, zumal diese durch die Bausatztheorie nicht erfaßt würden (S. 355 f.). Nicht besonders durchsichtig ist der von BGHSt 43, 336 (342) erwogene und verworfene Umkehrschluß.

4. Ausnahmevorschriften (singularia non sunt extendenda)

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logische Struktur an sich ohne Erkenntniswert bleibt, denn ob eine „planwidrige Gesetzeslücke“ vorliegt oder ob das Gesetz so zu verstehen ist, wie es Wortlaut und Systematik nahelegen, und der nicht explizit erfaßte Fall außen vor bleiben muß (Umkehrschluß),44 ergibt sich erst bei wertender Gesetzesauslegung. Der Schluß selbst bereitet hingegen keine Probleme. „Ob eine Ausnahmevorschrift ausdehnend auszulegen oder entsprechend anzuwenden oder ob eine abschließende Regelung anzunehmen und damit im Wege des Umkehrschlusses eine ausdehnende Auslegung oder entsprechende Anwendung der Vorschrift auf andere Sachverhalte auszuschließen ist, ist eine Frage der ratio legis . . .“. (BGHSt 39, 112 [117])45

Das argumentum e contrario hilft vor allem dabei, die möglichen Lösungswege aufzuzeigen und die gefundenen Ergebnisse klar zu formulieren. Darüber hinaus kann allenfalls eine Vermutung angenommen werden, daß in der Regel der Umkehrschluß eher in Betracht kommt als eine Analogie; aber diese Annahme beruht lediglich auf statistischer Wahrscheinlichkeit und könnte im Einzelfall nicht zu der qualitativen Entscheidungsmaxime führen, daß angesichts verbleibender Zweifel von einem Analogieschluß abgesehen werden muß („in dubio pro argumentum e contrario“).

4. Ausnahmevorschriften (singularia non sunt extendenda) a) Einleitung Nicht selten tritt in der Rechtsprechung die Interpretationsregel auf, der zufolge Ausnahmevorschriften keiner ausdehnenden oder analogen Anwendung zugänglich sind bzw. restriktiv ausgelegt werden müssen.46 Sie entstammt dem römischen Recht und ist in verschiedenen Rechtsordnungen sogar kodifiziert.47 Die Regel beruht auf dem Gedanken, daß eine Norm, die der Gesetzgeber nur für eine spezielle Situation vorgesehen hat, keiner Verallgemeinerung zugäng44 Schneider (Logik, S. 154) weist darauf hin, daß nicht stets entweder ein Analogie- oder Umkehrschluß bejaht werden muß, sondern als dritte Möglichkeit die freie Rechtsfortbildung in Betracht komme. 45 Instruktive Argumentationen im Spannungsfeld zwischen Analogie und Umkehrschluß bieten z. B. BGHSt 36, 270 (272 f.) und 44, 265 (271). Zur merkwürdigen Situation, daß der Gesetzgeber sich bei einer Gesetzesänderung auf eine erneute Lückenschließung durch die Rechtsprechung verläßt, siehe BGHSt 30, 328 = oben Fall 203. Einzelheiten müssen einer Darstellung zur Methodik der Rechtsfortbildung vorbehalten bleiben. 46 Mit Abweichungen im Detail: BGHSt 3, 377 (380); GS 5, 323 (327); 6, 304 (307); 7, 256 (258); 11, 335 (337); 15, 194 (195); 17, 69 (74); 17, 188 (189); 19, 144 (148); 23, 108 (111); 23, 331 (332); 26, 218 (220); 30, 168 (170); 35, 290 (295 f.); 36, 192 (195); 38, 237 (242); 43, 262 (264); 44, 145 (148); 44, 328 (333); 47, 249 (251); NJW 2002, 765; BVerfGE 45, 363 (374); 103, 142 (153). 47 Nachweise bei Kramer, Methodenlehre, S. 155.

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V. Systematik

lich ist, weil andernfalls ein gesetzliches Regel-/Ausnahmeverhältnis außer Kraft gesetzt würde. Im Schrifttum ist die Untauglichkeit dieser Formalregel einhellig anerkannt und mit zahlreichen Argumenten belegt.48 Vor allem liegt ihr eine vorschnelle Generalisierung zugrunde: Ist eine Regelung einmal als Ausnahmevorschrift erkannt, tritt ein Automatismus (Analogieverbot) in Kraft, der eine Berücksichtigung konkreter Umstände nicht erlaubt. Sie teilt damit – wie etwa die Andeutungstheorie (oben IV 3) – die Schwäche aller Formalregeln und zwingt die Rechtsprechung, in Grenzfällen doch von ihr abzugehen oder zum Schein daran festzuhalten, was oft eine fragwürdige Argumentation nach sich zieht. In Wahrheit steht hinter dem singularia-Grundsatz der einfache Gedanke, daß die Anwendung einer nur für bestimmte Ausnahmesituationen vorgesehenen Vorschrift eben auf diese Situationen beschränkt sein muß49, weil ansonsten die Regelungsabsicht des Gesetzgebers verfälscht würde50. Trifft der (begrenzte) Zweck der Norm dagegen auch auf einen vom Wortlaut nicht erfaßten Fall zu, kommt eine Analogie in Betracht, wenn die zusätzlichen Voraussetzungen für eine Rechtsfortbildung gegeben sind.51 Es ist in der Tat kein Grund dafür ersichtlich, warum es dem Gesetzgeber ausgerechnet bei Ausnahmevorschriften stets gelingen sollte, Zweck und Wortlaut so in Übereinstimmung zu bringen, daß Ausdehnung und Analogie überflüssig würden.52 Entscheidend ist mithin das Motiv, das den Gesetzgeber zur Statuierung einer Ausnahmeregelung bewegt hat. Nur vereinzelt hat das auch der BGH so gesehen: „Es gibt schon keinen Rechtssatz, der es ausnahmslos verbieten würde, Ausnahmevorschriften ausdehnend auszulegen oder entsprechend anzuwenden. Ob eine Ausnahmevorschrift ausdehnend auszulegen oder entsprechend anzuwenden . . . ist, ist eine Frage der ratio legis . . . Im Verhältnis zwischen Ausnahmeregel und allgemeiner Vorschrift kann eine Lückenhaftigkeit der gesamten gesetzlichen Regelung darin liegen, daß die Ausnahmeregelung nicht ausreicht, gleichgelagerte Fälle zu erfassen . . . Dann darf sie entsprechend angewandt werden.“ (BGHSt 39, 112 [117] unter Berufung auf Larenz und Engisch)53

Nicht zutreffend ist neben dem Extensions- und Analogieverbot auch die Annahme, Ausnahmevorschriften seien per se „restriktiv“ auszulegen (Restriktionsgebot). Den BGH hat das zu der Fragestellung geführt, ob § 329 I StPO als 48

Z. B. Bydlinski, Methodenlehre, S. 440; Engisch, Einführung, S. 195 („fragwürdig“); Heck, Gesetzesauslegung, S. 186 ff. („keinen Wert“); Kaufmann, JZ 1958, 9 f. („noch nie eine einigermaßen einleuchtende Begründung“ für dieses Dogma); Kramer, Methodenlehre, S. 155 ff.; Küper, JuS 1972, 127 (130) und JZ 1978, 205 („unzureichend“, „zirkulär“); Säcker, in: MüKo-BGB, Einl., Rn. 102 ff.; Schneider, Logik, S. 151 („Denkfehler“). 49 Engisch, Einführung, S. 194. 50 Larenz, Methodenlehre, S. 356. 51 Bydlinski, Methodenlehre, S. 440; Engisch, Einführung, S. 194. 52 Kramer, Methodenlehre, S. 157. 53 Nachweise zur sonstigen, widersprüchlichen Praxis des BGH im Lauf des Abschnitts.

4. Ausnahmevorschriften (singularia non sunt extendenda)

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Ausnahmevorschrift nicht nur eng, sondern sogar „auf das engste“ zu interpretieren sei.54 Worauf solche Differenzierungen beruhen sollen, ist kaum nachzuvollziehen. b) Wann liegt eine Ausnahmevorschrift vor?/Unterausnahmen Als problematisch erweist sich bereits im Ausgangspunkt, wann überhaupt ein Regel-Ausnahme-Verhältnis gegeben sein soll.55 Die Formulierung des Gesetzes kann Anhaltspunkte dafür geben, aber auch in die Irre leiten. Das, was gesetzestechnisch als Ausnahme scheint, kann sich praktisch als Regel erweisen, die „Ausnahmeregel“ einen weiteren Anwendungsbereich haben als die Grundregel.56 Der Begriff der Ausnahme kann sich somit unterscheiden, je nach dem, ob eine statistische, gesetzestechnische oder normative Sichtweise gewählt wird.57 So zieht der BGH etwa in folgendem Fall (zu Unrecht) Folgerungen aus der gesetzestechnischen Ausgestaltung der Norm: Fall 239 (BGHSt 44, 145): Zu entscheiden war, wie der Bußgeldsenat des Oberlandesgerichts besetzt sein muß, wenn eine Geldbuße von 250 DM und ein Fahrverbot verhängt wurden. § 80a OWiG lautet: Abs. 1: „Die Bußgeldsenate der Oberlandesgerichte sind mit drei Richtern . . . besetzt, soweit nichts anderes bestimmt ist.“ Abs. 2: „Die Bußgeldsenate . . . sind mit einem Richter besetzt 1. in Verfahren über Rechtsbeschwerden in den in § 79 Abs. 1 bezeichneten Fällen, wenn eine Geldbuße von nicht mehr als fünftausend Euro [zehntausend Deutsche Mark] festgesetzt oder beantragt worden ist, 2. . .. Der Wert einer Nebenfolge vermögensrechtlicher Art steht dem Wert einer Geldbuße im Sinne des Satzes 1 Nr. 1 gleich und ist ihm gegebenenfalls hinzuzurechnen.“ Der BGH ist der Ansicht, daß der Wortlaut zwei Deutungen erlaube (S. 147), die Systematik jedoch für die Dreier-Besetzung spreche (S. 148). § 80a I enthalte den Grundsatz, § 80a II die Ausnahme. Da Ausnahmevorschriften eng auszulegen seien, müsse die Einzel-Besetzung ausdrücklich bestimmt sein. Das sei für vorliegende Konstellation nicht geschehen. Eine andere Auffassung würde zudem „zu einer Umkehrung des gesetzlichen Regel-Ausnahme-Verhältnisses führen“ (S. 149). Fälle mit drei Richtern würden dann kaum noch ins Gewicht fallen. Zudem könne der Gesetzgeber die Einer-Besetzung durch eine einfach vorzunehmende Gesetzesänderung anordnen,58 „die allerdings das Regel-Ausnahme-Verhältnis . . . umkehren müßte [würde?!]“ (S. 152).59 54

Näher unten BGHSt 17, 188 = Fall 244 und BGHSt 23, 331 = Fall 245. Vgl. Heck, Gesetzesauslegung, S. 188; Kramer, Methodenlehre, S. 156; Larenz, Methodenlehre, S. 355. 56 Kramer, Methodenlehre, S. 156. 57 Heck, Gesetzesauslegung, S. 187 f. 55

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V. Systematik

Der BGH läßt sich durch die logische Anordnung in die Irre führen. Denn die gesetzestechnische Ausgestaltung der Norm bringt kein normatives RegelAusnahme-Verhältnis zum Ausdruck; vielmehr bilden beide Absätze eine Gesamtregelung.60 Auch wenn man vorliegende Fälle mit dem BGH dem Absatz 1 zuschlägt, dürfte es praktisch (statistisch) dabei bleiben, daß Absatz 2 häufiger zur Anwendung gelangt, wofür auch das gesetzgeberische Ziel sprach, die Oberlandesgerichte zu entlasten. Es ist also von vornherein fraglich, ob Gesetzestechnik und tatsächlicher Anwendungsbereich übereinstimmen. Im übrigen ist es auch nicht selten, daß durch die Vielzahl angeordneter Ausnahmen von einem Grundsatz praktisch kaum etwas übrigbleibt. Daß bei anderer Auffassung die lex generalis des Absatzes 1 kaum noch ins Gewicht fiele, ist eher ein ästhetisches Kriterium als ein sachlicher Auslegungsfaktor. Im Ergebnis legt die formale Einstufung des Absatzes 2 als Ausnahmevorschrift der Gegenmeinung ein auch mit Sachgründen nur schwer überwindbares Hindernis in den Weg. In einer vergleichbaren Situation, in der die Gesetzestechnik das quantitative Verhältnis ebenfalls nicht wiederspiegelt, hat der BGH – entsprechend der gesetzgeberischen Intention – die Formalregel hingegen nicht zum Einsatz gebracht: Fall 240 (BGHSt 44, 361): Gemäß § 76 I GVG (Grundsatz?) sind die großen Strafkammern mit drei Berufsrichtern besetzt. Nach § 76 II GVG (Ausnahme?) beschließt die Kammer bei Eröffnung des Hauptverfahrens, daß sie nur mit zwei Berufsrichtern besetzt ist, wenn sie nicht als Schwurgericht zuständig ist oder wenn die Sache nach Umfang und Schwierigkeit die Mitwirkung des dritten Richters nicht notwendig erscheinen läßt. Nach Ansicht des Senats geht die gesetzgeberische Intention dahin, daß „grundsätzlich“ die Kammer mit zwei Berufsrichtern besetzt sein soll und die Kammern überwiegend dahingehend entscheiden werden (S. 365). Absatz 2 ist mithin in praktischer (quantitativer) Hinsicht Regel, aus logischer (gesetzestechnischer) Sicht aber Ausnahme.

Besonders verwickelt wird es, wenn die Ausnahme ihrerseits eine Ausnahme kennt. Ist eine solche „Unterausnahme“61 als Ausnahmevorschrift eng oder als Wiederherstellung des Grundsatzes weit auszulegen? Hier stößt eine „logische“ Argumentation auf ihre Grenzen, worauf der BGH in folgender Entscheidung aufmerksam macht: Fall 241 (BGHSt 27, 236): Gemäß § 329 I 1 StPO wird die Berufung ohne Verhandlung verworfen, wenn der Angeklagte unentschuldigt nicht erschienen ist. Diese Ausnahme von der Anwesenheitspflicht, die der BGH seit jeher eng ausgelegt 58 Das ist fragwürdig, denn die Norm könnte genauso „einfach“ i. S. des BGH klargestellt werden (näher zu diesem Argumentationsmuster oben IV 7 g). 59 In diesem Sinn wendet sich eine Initiative des Bundesrates (BR-Drucks. 889/02 und 302/99) gegen BGHSt 44, 145. Danach soll § 80a I OWiG lauten: „Die Bußgeldsenate der Oberlandesgerichte sind mit einem Richter besetzt, soweit nichts anderes bestimmt ist.“ 60 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 355, mit einem zivilrechtlichen Beispiel. 61 Siehe Kramer, Methodenlehre, S. 156.

4. Ausnahmevorschriften (singularia non sunt extendenda)

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wissen will62, kennt ihrerseits eine Ausnahme („das gilt nicht“) in § 329 I 2: Das Gericht darf nicht verwerfen, wenn die Sache vom Revisionsgericht zurückverwiesen wurde. Damit soll ein Widerspruch zu einer Sachentscheidung des Revisionsgerichts vermieden werden. Wie steht es aber, wenn bereits das erste Berufungsverfahren zu einer Verwerfung führte und folglich das Revisionsgericht nicht in der Sache entschieden, sondern das Verwerfungsurteil nur aus formalen Gründen aufgehoben hat? Der BGH nimmt für diese Konstellation eine teleologische Reduktion des § 329 I 2 vor, da der Normzweck hier nicht greife. Entgegen der Auffassung des OLG Hamburg (JR 1976, 378) helfe der Grundsatz, wonach Ausnahmevorschriften eng auszulegen vorliegend nicht weiter, da es um eine „Ausnahme innerhalb der Ausnahme“ gehe (BGH, S. 238).63 „Das Verhältnis der beiden Vorschriften zueinander läßt sich nicht mit Hilfe formaler Regeln bestimmen. Entscheidend muß sein, welcher Zweck mit ihnen verfolgt wird.“

In anderen Fällen bleiben allerdings Zweifel: Nach BGHSt 10, 43 (44) ist die enge Auslegung von Straffreiheitsgesetzen geboten. Ob dies freilich aus deren Ausnahmecharakter folgt, sagt der Senat nicht ausdrücklich. § 13 des StraffreiheitsG 1954 nimmt einige ausdrücklich aufgezählte Nebenstrafen von der Straffreiheit aus; nach BGHSt 6, 304 (307) kann diese Ausnahmevorschrift „nicht ohne weiteres ausdehnend ausgelegt werden“. — Angesichts der kurzen Verjährungsfrist von drei Monaten für Übertretungen (§ 67 III StGB a. F.) neigte die Praxis zu einer extensiven Handhabung der Vorschriften zur Verjährungsunterbrechung (§ 68 StGB a. F.).64 Nach Ansicht von BGHSt 11, 335 (337) sind diese Vorschriften jedoch als Ausnahmebestimmungen eng auszulegen und „loyal zu handhaben“.

Wenn Straffreiheitsvorschriften – weshalb auch immer, womöglich aber als Ausnahmebestimmungen – eng auszulegen sind, dann wird man darüber streiten können, ob Rückausnahmen ebenfalls eng auszulegen sind. Ähnliches gilt für die Verjährungsregelungen, die man als ausnahmsweise gewährte „Rechtswohltat“ bezeichnen könnte. Müssen dann aber Normen, welche ihrerseits die Verjährung hinauszögern und damit die Regel wiederherstellen, eng (statt weit oder schlicht nach den üblichen Methoden) interpretiert werden?65 Heck hat auf die Manipulationsgefahren hingewiesen, die aus der häufig bestehenden und willkürlich genutzten Möglichkeit resultieren, einer Regelung durch Gegenüberstellung eines Grundsatzes Ausnahmecharakter zuzusprechen.66 Interessant wä62

Siehe z. B. BGHSt 23, 331 (332). Unter Berufung auf Gollwitzer, JR 1976, 379, der dem OLG Hamburg widersprochen hat. 64 Näher Dünnebier, JR 1959, 267. 65 Die Zielsetzung der Verjährungsregeln, Rechtsfrieden herbeizuführen und der Untätigkeit der Behörden entgegenzuwirken (vgl. Dünnebier, JR 1959, 267), besagt für sich genommen nichts für die Auslegung der Unterbrechungsvorschriften, die gleichfalls auf guten Gründen beruhen. Ob eine der beiden Regelungen von vornherein eng oder weit auszulegen ist, ist deshalb zweifelhaft. 66 Heck, Gesetzesauslegung, S. 188. 63

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V. Systematik

ren in diesem Zusammenhang ganz allgemeine strafrechtstheoretische Fragen, etwa ob Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- und sonstigen Strafausschließungsgründen (wie den Amnestieregelungen) Ausnahmecharakter zukommt67 und sie dementsprechend generell restriktiv zu handhaben sind. Und wie stünde es wiederum mit den Unterausnahmen wie z. B. § 35 I 2 StGB? c) Einsatzgebiet Die Rechtsprechung hat den singularia-Grundsatz in ganz unterschiedlichen Rechtsgebieten angewandt: Die nach § 399 AO a. F. vorgesehene Möglichkeit, eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung zu veröffentlichen, darf als „Ausnahmegesetz“ nicht auf andere Straftaten oder auf Nebenstrafen erweitert werden (BGHSt 3, 377 [380]). — BGHSt GS 5, 323 (327) verneint die Frage, ob Art. 139 GG das verfassungsrechtlich gewährleistete Verbot der Doppelbestrafung einzuschränken vermag: „Ausnahmevorschriften sind in der Regel eng auszulegen. Das gilt in besonderem Maße für Bestimmungen, die verfassungsmäßig gewährleistete Grundrechte einschränken.“ — Nach Ansicht von BGHSt 7, 256 (258) kann § 232 I StGB a. F. (§ 230 I g. F.), der im Bereich der Körperverletzungsdelikte bei Bejahung eines öffentlichen Interesses vom Erfordernis des Strafantrags absieht, nicht auf die Beleidigungsdelikte übertragen werden. Die Norm ziele auf Verkehrsunfallsachen und sei als Ausnahmevorschrift nicht entsprechend anzuwenden. — Eine weite Auslegung des § 42 Güterkraftverkehrsgesetz a. F., der den genehmigungsfreien Transport von „Restgut“ zuläßt, würde nach Ansicht von BGHSt 17, 69 (oben Fall 142) der gesetzgeberischen Zielsetzung widersprechen, Mißbräuche ermöglichen und außerdem gegen den Grundsatz verstoßen, daß Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind (S. 74). — § 96 StPO schränkt die Pflicht zur Herausgabe von Behördenakten bei Vorliegen einer Sperrerklärung ein. Nach BGHSt 38, 237 (oben Fall 115) handelt es sich dabei nach Zweck und Inhalt um eine „echte Ausnahmevorschrift“, die schon deshalb eng auszulegen sei (S. 242). — Die in § 82 II OWiG vorgesehene Überleitung vom Straf- zum Bußgeldverfahren kann nicht auf weitere Fallgestaltungen erstreckt werden, denn in der Regelung komme kein allgemeines, übertragbares Rechtsprinzip zum Ausdruck (BGHSt 35, 290 [295]). Die Vorschrift habe vielmehr Ausnahmecharakter und lasse somit eine analoge Anwendung nicht zu.

In fast allen der genannten Entscheidungen ist der singularia-Grundsatz kein tragendes Argument. Wenn schon das gesetzgeberische Ziel für eine enge bzw. gegen eine weite Auslegung oder Analogie spricht (siehe z. B. BGHSt 7, 256; 17, 69), dann ist die Heranziehung der Formalregel überflüssig. In BGHSt 35, 290 wird erläutert, weshalb ein Analogie inhaltlich nicht in Frage kommt, und erst anschließend wird der Ausnahmecharakter als Argument angeführt. Bedenklich ist allerdings BGHSt 38, 237, wonach bereits („schon deshalb“) aus 67 Was näher zu untersuchen wäre. Statistisch und rechtstechnisch wären es sicher Ausnahmebestimmungen. Interessant ist insoweit auch die (didaktisch motivierte) Regel, bei Erfüllung des Tatbestandes sei die Rechtswidrigkeit „indiziert“.

4. Ausnahmevorschriften (singularia non sunt extendenda)

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dem Ausnahmecharakter der Norm ihre enge Auslegung folgen soll. Möglicherweise hat der Senat aufgrund der inhaltlich unklaren Situation dankbar auf die Formalregel zurückgegriffen, aber seine Argumentation wäre auch ohne sie ausgekommen.68 Aus den genannten Entscheidungen werden darüber hinaus Unsicherheiten in der Frage erkennbar, ob die singularia-Formel wirklich ohne Abstriche gilt. Relativierungen enthalten z. B. BGHSt GS 5, 323 („in der Regel“) und BGHSt 6, 304 (können „nicht ohne weiteres ausdehnend ausgelegt werden“). Halbherzig argumentiert der BGH insoweit auch in folgenden Entscheidungen: Der Einwand einer vorschriftswidrigen Gerichtsbesetzung muß frühzeitig erhoben werden, um gehört zu werden (§ 222b StPO). Nach Ansicht von BGHSt 44, 328 betrifft die Norm nicht nur – wie ursprünglich vorgesehen – die personelle Zusammensetzung des Gerichts, sondern auch die Größe des Spruchkörpers, über die gemäß § 76 II GVG die Strafkammer entscheiden muß. Die Regelung sei zwar als Präklusionsvorschrift eng auszulegen, Normzweck und Interessenlage erfaßten jedoch auch letztere Konstellation, so daß § 222b StPO entsprechend69 anzuwenden sei (S. 333). — Betriebsunfähige Fahrzeuge, die abgeschleppt werden, bedürfen gemäß § 18 I StVZO keiner Zulassung. Aus Interesse der Verkehrssicherheit sieht BGHSt 23, 108 (111 f.) die Norm zwar als eng auszulegende Ausnahmevorschrift, jedoch sei es „nicht einzusehen“, zwischen dem Schleppen zu einer Werkstatt und dem Schleppen zur Verwertung zu differenzieren.

Letztlich kommt es also doch auf Sinn und Zweck der Regelung an. Zielt sie auf eine Ausnahmesituation ab, die konkret nicht gegeben ist, kommt die Normanwendung nicht in Betracht. Ob man dann noch auf den Ausnahmecharakter der Bestimmung hinweist und damit womöglich ohne Not Mißverständnisse begünstigt, ist eine zweitrangige Frage. Die Formulierungen aus BGHSt 5, 323 und 6, 304 geben im Ergebnis recht zutreffend wieder, wie tatsächlich mit dem singularia-Grundsatz verfahren wird. Nicht selten wird versucht, die Plausibilität der singularia-Formel mit einem Hinweis darauf zu verstärken, daß die Ausnahmeregel in die Rechte des Betroffenen eingreife (vgl. z. B. oben BGHSt GS 5, 323). Diese Gesichtspunkte sind jedoch voneinander zu trennen, denn ob eine Norm wegen ihres Eingriffscharakters im Sinne des Grundsatzes „in dubio pro mitius“ eng auszulegen ist, hat mit ihrer Klassifizierung als Ausnahmevorschrift nichts zu tun. Daß etwa materielle Strafbestimmungen keiner Analogie zulasten des Täters zugänglich sind, folgt schon aus Art. 103 II GG, und inwieweit auch strafprozessuale Eingriffe dieser Schranke unterliegen, ist gerade streitig. Der BGH hat auf die Heranziehung dieses Aspekts auch in dafür geeigneten Situationen verzichtet oder beide 68 § 96 StPO selbst läßt eben nicht erkennen, daß die Beschlagnahme von Behördenakten generell ausgeschlossen sein soll, und auch aus dem Zusammenhang zu den übrigen Normen folgt das nicht, vgl. BGH, a. a. O., S. 242. 69 BGHSt 44, 361 (363) hat – offenbar ohne BGHSt 44, 328 zu kennen – sogar eine direkte Anwendung bejaht.

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V. Systematik

Gesichtspunkte nebeneinander herangezogen, wenn sie als zwei Seiten einer Medaille in einer Norm repräsentiert sind: § 247 StPO läßt unter bestimmten Voraussetzungen die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungszimmer zu. BGHSt 15, 194 (195) folgert den Ausnahmecharakter der Norm nicht aus dem Eingriff in das Anwesenheitsrecht des Angeklagten (Art. 103 I GG!), sondern aus der Tatsache, daß sie dessen Anwesenheitspflicht beschränke (§ 230 StPO). — § 231 II StPO ermöglicht die Fortsetzung der Hauptverhandlung u. a., wenn der Angeklagte eigenmächtig ausgeblieben ist. BGHSt 19, 144 (148) hält die ausdehnende Anwendung der Norm, die eine Ausnahme von der Anwesenheitspflicht bedeute, für unzulässig. Im übrigen dürfe eine „derart die Rechte des Angeklagten einschränkende Vorschrift“ nicht ausgedehnt werden. — Die Anordnung von Durchsuchungen bei „Gefahr im Verzug“ durch andere Personen als den Richter hat nach Ansicht von BVerfGE 103, 142 (153) schon wegen Wortlaut und Systematik des Art. 13 II GG Ausnahmecharakter. Aber nicht nur deswegen, sondern „vor allem“ zur Sicherung der Grundrechte sei die Ausnahme „eng auszulegen“.70

d) Handhabung (demonstriert an Regelungen der StPO), Fazit Nicht nur in der Frage, ob überhaupt ein Regel-Ausnahme-Verhältnis vorliegt, sondern auch dann, wenn ein solches tatsächlich gegeben ist, bereitet die singularia-Regel Schwierigkeiten. Immer wieder müssen die Strafsenate davon abgehen. Gut zu demonstrieren ist das an einigen, z. T. schon erwähnten Normen der StPO, die das Anwesenheitsrecht des Angeklagten auf verschiedene Art und Weise einschränken oder aus dessen Nichterscheinen Konsequenzen ziehen (§§ 231 II, 231a, 247, 329 I StPO). Hier gelangt die Formalregel besonders häufig zur Anwendung. Recht konsequent verfährt der BGH noch bei § 247 StPO: Die Durchbrechung des den Strafprozeß beherrschenden Grundsatzes der Anwesenheitspflicht müsse „streng auf den Wortlaut des Gesetzes beschränkt bleiben“, eine erweiternde Auslegung dieser Ausnahmevorschrift sei unzulässig.71 Bei den übrigen Bestimmungen läßt die Rechtsprechung hingegen eine stringente Handhabung der singularia-Formel vermissen: Fall 242 (BGHSt 16, 178; 19, 144): § 231 II StPO ermöglicht als Ausnahme zu § 230 die Fortsetzung der Hauptverhandlung auch ohne Anwesenheit des Angeklagten, wenn dieser sich entfernt oder zu einem Fortsetzungstermin ausgeblieben ist. Nach ganz h. M. erfaßt die Norm nur „eigenmächtiges“ Handeln des Angeklagten. BGHSt 16, 178 hat die Norm bei einem Selbsttötungsversuch mit daraus resultierender Verhandlungsunfähigkeit angewandt und dabei betont, daß der Angeklagte zur Anwesenheit verpflichtet sei (S. 183). Zum Ausnahmecharakter des § 231 II hat die Entscheidung sich nicht geäußert. Im Fall von BGHSt 19, 144 war der Angeklagte

70 Mit der Argumentation versucht das BVerfG, die Ausweitung der Eilanordnungen in der Praxis einzudämmen, vgl. Müller-Christmann, JuS 2002, 63 (64). 71 BGHSt 15, 194 (195); 26, 218 (219), beide gegen das RG.

4. Ausnahmevorschriften (singularia non sunt extendenda)

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nach einem Selbsttötungsversuch nur zeitweilig verhandlungsunfähig; er konnte für 1–2 Stunden der Verhandlung folgen. BGHSt 19, 144 schließt die Anwendung von § 231 II in dieser Situation aus. Das wäre nur bei „ausdehnender Auslegung“ möglich, die bei einer Ausnahme von der Anwesenheitspflicht nicht zulässig sei (S. 148). „Eine derart die Rechte des Angeklagten einschränkende Vorschrift darf nicht ausdehnend ausgelegt werden“. Fall 243 (BGHSt 26, 228): Als Reaktion auf das Verhalten angeklagter Terroristen in Strafverfahren (Hungerstreiks, Störungen) führte der Gesetzgeber 1974 den § 231a StPO ein, der die Durchführung oder Fortsetzung der Hauptverhandlung erlaubt, wenn der Angeklagte sich „vorsätzlich und schuldhaft in einen seine Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt“ hat. Im Fall von BGHSt 26, 228 waren die Angeklagten durch Hungerstreiks so geschwächt, daß sie der Verhandlung nur teilweise folgen konnten72 und unter diesen Umständen eine adäquate Durchführung des Verfahrens unrealistisch war. Der BGH ist der Ansicht, daß § 231a I keine absolute Verhandlungsunfähigkeit voraussetze, sondern daß es auf das jeweilige Verfahren ankomme, dessen ordnungsgemäße Durchführung möglich sein müsse (S. 231 f.). Anders als im Fall von BGHSt 19, 144 sei das hier nicht gewährleistet. Bei der Auslegung sei das Ziel des Gesetzgebers, eine funktionsfähige Rechtspflege aufrechtzuerhalten, zu berücksichtigen (S. 230). Auf den Einwand der Beschwerdeführer, § 231a sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen, erwidert der Senat, daß bei der Ermittlung des Anwendungsbereichs zunächst das gesetzgeberische Ziel zu prüfen sei, dann ob die Verfahrenslage diesem Ziel unterfalle und schließlich ob die Zielsetzung hinreichenden Ausdruck im Wortlaut gefunden habe (S. 229). „Einer Auslegung, die sich in diesem Rahmen hält, steht der Ausnahmecharakter der Norm nicht entgegen.“

Unabhängig davon, ob BGHSt 26, 228 inhaltlich überzeugt und mit BGHSt 19, 144 zu vereinbaren ist, ist jedenfalls der methodische Bruch nicht zu übersehen. Im Ergebnis sagt der Senat, daß eine Auslegung, die sich im Rahmen der herkömmlichen Methodik hält, nicht gegen die singularia-Regel verstoßen kann. Mit der Preisgabe der Regel in Einzelfällen verliert sie jedoch ihren Wert gänzlich.73 Auch bei § 329 I 1 StPO ist des öfteren von der fraglichen Interpretationsregel die Rede. Die Norm bestimmt abweichend von der Anwesenheitspflicht des § 230, daß die Berufung des Angeklagten zu verwerfen ist, wenn er bei Beginn der Hauptverhandlung (unentschuldigt) nicht erscheint. Der BGH hat sich zwar dahingehend geäußert, daß die Norm als Ausnahmevorschrift eng auszulegen ist, praktisch aber gegen diese Maxime verstoßen (siehe sogleich BGHSt 23, 331). Nicht beanspruchen kann man den Gerichtshof allerdings für die Ansicht, die Vorschrift sei „auf das engste“ auszulegen:74 72 Der BGH bleibt hinsichtlich des Sachverhalts freilich sehr ungenau, vgl. Grünwald, JZ 1976, 767 (768). 73 Vgl. Säcker, in: MüKo-BGB, Einl., Rn. 103. 74 So aber Meyer-Goßner, StPO, § 329, Rn. 2 und KG JR 1969, 270, jeweils unter Berufung auf BGHSt 17, 188.

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V. Systematik

Fall 244 (BGHSt 17, 188): Nach Ansicht des Senats ist die Norm nicht anwendbar, wenn das Berufungsgericht in einem früheren Termin bereits zur Sache verhandelt hat. § 329 I beinhalte einen Widerstreit zwischen dem Bedürfnis nach Verfahrensbeschleunigung und dem grundsätzlichen Streben jedes Strafverfahrens nach einer gerechten Entscheidung (S. 189). „Das rechte Verhältnis zwischen beiden muß auch bei der Auslegung dieser Vorschrift gewahrt bleiben. Das meinte wohl schon das Reichsgericht mit seinen Worten, es handle sich um eine Ausnahmebestimmung, die für einen Angeklagten unter Umständen sehr gefährlich werden könne und daher auf das engste auszulegen sei (RGSt 61, 278, 280).“ – Der Senat gelangt zwar für seinen Fall zu einer Reduktion des § 329 I 1, aber aus der distanzierten Wiedergabe der reichsgerichtlichen Auffassung ist ersichtlich, daß er sich den methodischen Standpunkt des RG nicht kritiklos zu eigen macht. Fall 245 (BGHSt 23, 331 = oben Fall 47): Ist der wegen Trunkenheit verhandlungsunfähige (aber anwesende) Angeklagte „nicht erschienen“ i. S. von § 329 I 1 StPO? Der Senat macht sich die Stellungnahme des GBA zu eigen: Es sei allgemein anerkannt, daß die Norm im Interesse des Angeklagten eng ausgelegt werden müsse (S. 332). Im vorliegenden Fall sei jedoch kein Grund gegen die Anwendung der Vorschrift erkennbar (S. 333). Die Ansicht des RG, § 329 sei „auf das engste auszulegen“, bedeute nur eine Mahnung, die gegenläufigen Verfahrensbelange (geschildert in BGHSt 17, 188) ins rechte Verhältnis zu setzen. „Trotz aller hiernach notwendigen Zurückhaltung gegenüber jeder Neigung zu einer erweiternden Auslegung des § 329 Abs. 1 StPO steht seiner Anwendung auf den Vorlegungsfall auch unter diesem Gesichtspunkt nichts im Wege“ (S. 334). Der Normsinn spreche für die Anwendung, mit der Wortfassung sei dies „durchaus vereinbar“. – Schon die methodischen Äußerungen des BGH (GBA) sind widersprüchlich: Zunächst wird behauptet, die Norm sei eng auszulegen, während es später nur noch heißt, gegenüber einer erweiternden Auslegung sei Zurückhaltung angebracht. Diese Aussagen sind nicht in Einklang zu bringen. Daß daneben der Standpunkt des RG zu einer „Mahnung“ relativiert wird, fällt demgegenüber kaum ins Gewicht. Auch die praktische Umsetzung ist wenig nachvollziehbar: Mit viel Wohlwollen mag man die Auffassung des Senats als mit dem Wortlaut „vereinbar“ ansehen;75 aber daß darin ein extensives Verständnis und damit ein Widerspruch zum singularia-Grundsatz liegt, wird man nicht bestreiten können.76

Wohl am häufigsten zur Anwendung gelangt ist die Interpretationsregel bei § 304 IV 2, V StPO. Nach § 304 IV 1, 2 ist gegen Beschlüsse und Verfügungen des BGH und der Oberlandesgerichte grundsätzlich keine Beschwerde möglich. Bei erstinstanzlicher Zuständigkeit des OLG und bei Verfügungen des Ermittlungsrichters macht das Gesetz allerdings Ausnahmen für einzeln aufgeführte Entscheidungen (§ 304 IV 2 Halbsatz 2, V).77 Sowohl BGH78 als auch 75 Dagegen z. B. Küper, JuS 1972, 127 (129 f.). Wie der BGH: OLG Frankfurt NJW 1968, 217 (vgl. oben Kap. III, Fn. 179). 76 Küper, JuS 1972, 127 (130, r. Sp.). Für das Festhalten am Grundsatz „strengster Auslegung“ des § 329 I StPO in vorliegender Konstellation Eb. Schmidt, JR 1969, 270. 77 In methodischer Hinsicht kann für beide Absätze nichts Unterschiedliches gelten, zumal § 304 IV 2 Nr. 1 und V StPO in ihren Katalogen fast deckungsgleich sind.

4. Ausnahmevorschriften (singularia non sunt extendenda)

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BVerfG haben die Bestimmung als Ausnahmevorschrift eingestuft und ihr damit eine Interpretationsregel angeheftet, die der späteren Praxis immer wieder Schwierigkeiten bereitete. Das BVerfG hat apodiktisch und wenig vorausschauend ausgeführt: „Dabei handelt es sich – wie der Wortlaut der Norm und die bei ihrer Formulierung angewendete Gesetzgebungstechnik zeigen – um eine den Grundsatz der Unanfechtbarkeit durchbrechende, die Anfechtungsmöglichkeit abschließend regelnde Ausnahmevorschrift, die einer erweiternden Auslegung oder entsprechenden Anwendung auf ähnlich gelagerte Fälle unzugänglich ist. Daraus folgt, daß eine Beschwerde gegen eine im Katalog des § 304 Abs. 4 Satz 2 StPO nicht ausdrücklich aufgeführte Entscheidung eines Oberlandesgerichts nicht zulässig ist. Diese allein mögliche Deutung entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers (vgl. . . .)“. (BVerfGE 45, 363 [374])

Verboten ist also eine ausdehnende oder entsprechende Anwendung (Extensions- und Analogieverbot), die dann vorliegt, wenn eine „nicht ausdrücklich aufgeführte“ Entscheidung erfaßt wird. Ein Restriktionsgebot hat das BVerfG hingegen nicht ausgesprochen. Anders der BGH, der zusätzlich ein Restriktionsgebot formuliert und außerdem eine Erstreckung auch auf „nicht ausdrücklich aufgezählte“ Fälle für zulässig hält: „Bei dieser . . . Bestimmung handelt es sich um eine die Anfechtungsmöglichkeit abschließend regelnde Ausnahmevorschrift, die restriktiv auszulegen und einer analogen Anwendung nicht zugänglich ist. Sie kann daher nur auf solche nicht ausdrücklich aufgezählten Verfügungen des Ermittlungsrichters erstreckt werden, die nach dem Wortsinn noch als Unterfall einer der in § 304 V StPO ausdrücklich genannten Eingriffsmaßnahmen unter den Wortlaut der Norm subsumierbar sind und nach Sinn und Zweck der zu Grunde liegenden gesetzgeberischen Konzeption der Anfechtung offen stehen müssen“. (BGH NJW 2002, 765)

. . . erstreckt werden, die nach Sinn und Zweck der zu Grunde liegenden gesetzgeberischen Konzeption der Anfechtung offen stehen müssen“. (BGHSt 47, 249 [251])

Diese methodischen Prämissen sind widersprüchlich und mißverständlich. Zumindest mißverständlich ist die Annahme, daß eine nicht ausdrücklich im Gesetz aufgezählte Konstellation gleichwohl noch unter dessen Wortlaut subsumierbar ist.79 BGHSt 47, 249 wird in diesem Punkt durch eine Verkürzung der maßgeblichen Passage noch undeutlicher (vgl. oben). Eine echter Widerspruch liegt zum einen gegenüber der Position des BVerfG vor (keine Anwendung auf 78 79

Vgl. vorerst BGHSt 43, 262 (264) m. w. N. Vgl. dazu bereits oben BGHSt 8, 66 = Fall 56.

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V. Systematik

nicht ausdrücklich aufgezählte Entscheidungen!), zum anderen aber in der Aussage selbst, denn wenn die Norm „restriktiv“ auszulegen ist, dann können ihr nicht Fälle zugeordnet werden, die nach dem Wortsinn lediglich „noch“ subsumierbar sind. Ein weiterer Widerspruch liegt darin, daß es gerade zu § 304 IV 2, V StPO Entscheidungen des BGH gibt, die den Ausnahmecharakter der Norm anerkennen, aber dennoch eine ausdehnende (BGHSt 36, 192) oder analoge (BGHSt 30, 168) Anwendung für zulässig erachten: Fall 246 (BGHSt 30, 168): So ist etwa BGHSt 30, 168 der Ansicht, § 304 IV sei als Ausnahmevorschrift „grundsätzlich“ eng auszulegen, im vorliegenden Fall sei jedoch eine entsprechende Anwendung geboten und auch nicht schlechthin ausgeschlossen (S. 170 f.). Die Norm diene dem Schutz vor besonders nachteiligen Entscheidungen und der vorliegende Fall wiege gleich schwer; deshalb könne der Gesetzeswortlaut allein nicht entscheidend sein, sondern eine sinngemäße Auslegung (S. 171 f.). – Die Entscheidung ist einige Jahre nach BVerfGE 45, 363 ergangen, weicht aber dennoch offensichtlich davon ab.80 Fall 247 (BGHSt 36, 192; 30, 52 = oben Fall 112): Gemäß § 304 V StPO sind u. a. Verfügungen des Ermittlungsrichters beschwerdefähig, welche Beschlagnahme, Durchsuchung oder „Verhaftung“ betreffen. Nach Ansicht des Senats muß bei der Auslegung der Norm dem Grundrecht auf persönliche Freiheit Rechnung getragen werden (S. 195 f.). Vor diesem Hintergrund „erschiene es ungereimt, wenn nicht systemwidrig, zwar Beschlagnahme und Durchsuchung, nicht aber Erzwingungshaft“ zu erfassen (S. 196). Damit weicht der Senat vom Sprachgebrauch des Gesetzgebers (nur U-Haft) ab. Um wenigstens dem Schein nach die singularia-Regel zu wahren, muß BGHSt 36, 192 allerdings tief in die methodische Giftküche greifen (eingehend oben Fall 112). Die dabei vollzogene Subsumtion war mit dem Wortlaut vereinbar, beruhte aber nicht auf einer „engen“ Auslegung, wie sie der Senat bei § 304 V eigentlich für notwendig hält (S. 195). Kurioserweise hat die gegenteilige und vom Senat aufgegebene Entscheidung BGHSt 30, 52 sich bei ihrer restriktiven, der Intention des Gesetzgebers entsprechenden Interpretation nicht einmal auf den singularia-Grundsatz berufen! Fall 248 (BGHSt 43, 262): Der Senat hält sowohl an BGHSt 36, 192 als auch an der Interpretationsregel fest, daß § 304 V StPO wegen seines Ausnahmecharakters eng auszulegen sei (S. 264): „Eine erweiternde Anwendung . . . kommt wegen des Ausnahmecharakters der Vorschrift nur dann [aber immerhin!] in Betracht, wenn dies aus verfassungsrechtlichen Gründen und/oder nach dem Regelungszweck unausweichlich gefordert ist.“81 Eine solche Konstellation habe in BGHSt 36, 192, nicht jedoch hier vorgelegen. 80 Gollwitzer (JR 1983, 85 [86]) versucht die Tragweite von BVerfGE 45, 363 durch die Annahme zu relativieren, daß der dort behandelten Situation die Vergleichbarkeit zu den Fällen des § 304 IV 2 StPO fehlte und damit eine Ausdehnung der Norm nicht in Betracht kam; das kann aber über die Grundsätzlichkeit der Ausführungen des BVerfG nicht hinwegtäuschen. 81 BVerfGE 45, 363 hat den möglichen Eintritt einer solche Situation hingegen nicht erwogen, wie die apodiktische Formulierung (vgl. oben) belegt. Nach Hilger (NStZ 2002, 445) hätte auch BGHSt 47, 249 wegen der Beeinträchtigung von Grundrechten § 304 V trotz des Ausnahmecharakters anwenden sollen.

4. Ausnahmevorschriften (singularia non sunt extendenda)

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Gerade im Bereich des § 304 IV, V StPO zeigt sich die Wertlosigkeit der singularia-Regel. Weder werden ihre theoretischen Voraussetzungen einheitlich gehandhabt, noch werden die methodischen Prämissen praktisch umgesetzt. In Ausnahmefällen wird die Maxime entweder ausdrücklich aufgegeben bzw. eingeschränkt (z. B. BGHSt 30, 168 und BGHSt 43, 262)82, oder sie wird verbal postuliert, aber praktisch umgangen (z. B. BGHSt 36, 192 und oben BGHSt 23, 331 bezüglich § 329 I StPO). Zum Teil wird sie sogar nicht einmal herangezogen, obwohl sie die Lösung stützen würde (z. B. BGHSt 30, 52). Die Strafsenate gelangen denn auch häufig nicht wegen, sondern trotz der singularia-Regel zum „richtigen“, Sinn und Zweck der Ausnahmevorschrift gerecht werdenden Ergebnis.83 In Anbetracht der widersprüchlichen Handhabung kann man nicht sagen, die Praxis nutze die Regel vor allem begründungsökonomisch, nämlich um das aus anderen Gründen als richtig empfundene Ergebnis ohne große Mühe darzustellen.84 Vielmehr kann dem BGH immerhin insofern Methodenehrlichkeit bescheinigt werden, als er die singularia-Formel auch dann nicht „unterschlägt“, wenn sie das sachlich zutreffende Ergebnis nicht trägt. Am singularia-Grundsatz kann im Ergebnis allenfalls in abgewandelter Form festgehalten werden, und zwar mit dem Inhalt, daß Ausnahmevorschriften in der Regel (BGHSt 30, 168: „grundsätzlich“) nicht ausdehnend interpretiert werden dürfen und daß die Frage allein von der ratio legis abhängt (BGHSt 39, 112).85 Von einer Formalregel, die über Zweifelsfälle gerade dadurch hinweghelfen soll, daß inhaltliche Erwägungen zurückgestellt werden, bleibt dann freilich nichts mehr übrig.86 Abfällig kann man die so reduzierte Regel als „hermeneutische Eselsbrücke“ (Heck) charakterisieren.87

82 Beide Entscheidungen sind zumindest mit BGH NJW 2002, 765 (siehe oben) nicht zu vereinbaren, denn dort wird die Noch-Vereinbarkeit mit dem Wortlaut verlangt, während BGHSt 30, 168 und 43, 262 eine entsprechende bzw. erweiternde Auslegung für möglich halten. Daß BGHSt 30, 168 zu § 304 IV, die übrigen Entscheidungen hingegen zu § 304 V ergangen sind, macht in methodischer Sicht keinen Unterschied (vgl. oben Fn. 77). 83 Die Meinung Hecks (Gesetzesauslegung, S. 186), es gebe „keine zweite Formel, die so viel Unheil angerichtet und so viel verfehlte Erkenntnisse verschuldet hat“, trifft auf die neuere Rechtsprechung angesichts der Relativierungen der Formel aber wohl nicht zu. 84 So aber Säcker, in: MüKo-BGB, Einl., Rn. 103. 85 Vgl. die wörtliche Wiedergabe von BGHSt 39, 112 (117) zu Beginn des Abschnitts. 86 Säcker, in: MüKo-BGB, Einl., Rn. 104. 87 Vgl. Heck, Gesetzesauslegung, S. 189.

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V. Systematik

5. Verfassungskonforme Auslegung und verfassungskonforme Rechtsfortbildung Für verfassungswidrig erachtete nachkonstitutionelle Gesetze sind gemäß Art. 100 I GG dem BVerfG vorzulegen, es sei denn, eine „verfassungskonforme Auslegung“ gestattet es, die einfach-gesetzliche Bestimmung mit der höherrangigen Verfassungsnorm in Einklang zu bringen. Die tunliche Aufrechterhaltung des einfachen Rechts obliegt allen Gerichten88 und entspricht dem Ziel systematischer Auslegung, widerstreitende Normen zu harmonisieren89. Regelmäßig wird unter dem Topos verfassungskonforme Auslegung die Situation verstanden, daß von mehreren möglichen Auslegungshypothesen die zu wählen ist, die mit der Verfassung vereinbar ist bzw. der Verfassung am besten entspricht.90 Ist die Norm hingegen eindeutig (und verfassungswidrig), kommt ihre Rettung nicht in Betracht. Fraglich ist allerdings, nach welchen Kriterien sich die Eindeutigkeit bemißt und was im übrigen die genauen Grenzen der verfassungskonformen Auslegung sind. Einigkeit besteht noch insofern, als der mögliche Wortsinn auf diesem Weg nicht überwunden werden darf.91 Sieht man im möglichen Wortsinn generell die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung, liegt hierin ohnehin keine Besonderheit. Schwieriger ist die Frage, inwiefern die übrigen canones der verfassungskonformen Auslegung entgegenstehen. Überwiegend wird verlangt, daß für die verfassungskonforme Auslegung nach den übrigen Auslegungskriterien Raum sein müsse.92 An dieser Stelle bricht erneut der Streit zwischen den Auslegungstheorien auf. Hält man den historischen Willen des Gesetzgebers von vornherein für irrelevant oder für zweitrangig gegenüber anderen Kriterien, wird der nach „objektiven“ Maßstäben zu ermittelnde Sinn und Zweck ein weiteres Hindernis bilden: Verfälschungen des objektiven Normzwecks (der ratio legis) kommen nicht in Betracht.93 Verlangen Gegen88 BVerfGE 48, 40 (45); vgl. auch BGHSt 26, 312 (318); seltsamerweise anders Müller-Dietz, JR 2000, 122 (124): „dem BVerfG selbst vorbehalten“. 89 Des öfteren wird die verfassungskonforme Auslegung auch der teleologischen Auslegung zugeordnet, z. B. Bydlinski, Methodenlehre, S. 455 (im Kapitel „objektivteleologische Auslegung“). 90 Vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 455; Gern, VA 1989, 415 (418); Tiedemann, Anfängerübung, S. 81. 91 Zippelius, in: Festgabe 25 Jahre BVerfG, S. 115; Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1, Rn. 80. 92 BVerfGE 48, 40 (45); Eser, in: Schönke/Schröder, StGB26, vor § 1, Rn. 30; Larenz, Methodenlehre, S. 339; Loos, in: AK-StPO, Einl. III, Rn. 18; Tröndle, in: LKStGB10, § 1, Rn. 51. 93 Das BVerfG spricht hin und wieder davon, daß keine verfassungskonforme Auslegung gegen den eindeutigen Wortlaut und Sinn erfolgen dürfe, BVerfGE 47, 46 (82); 54, 277 (299 f.); 67, 186 (198); ebenso Schneider, MDR 1963, 463; damit ist freilich nicht entschieden, ob der Sinn objektiv- oder subjektiv-telelogisch ermittelt wurde. Nach Jescheck (in: LK-StGB11, Einl., Rn. 9) darf der „erkennbare Gesetzessinn“ nicht überschritten werden.

5. Verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung

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wartsinteressen nach einer Überwindung des historischen Verständnisses, kann dem ein „Objektivist“ Rechnung tragen, ohne das Institut der verfassungskonformen Auslegung bemühen zu müssen (vgl. unten Fall 250). Für die subjektive Theorie liegt es noch einfacher: Die verfassungskonforme Auslegung darf nicht das Ziel des Gesetzgebers konterkarieren oder verfälschen, andernfalls wäre die Gesetzesbindung des Richters (Art. 20 III, 97 I GG) außer Kraft gesetzt.94 Auch der vom reinen Wortlaut her mehrdeutigen Norm kann eine eindeutige Zielvorstellung zugrunde liegen, von der dann nicht abgegangen werden darf. Daß der verfassungskonformen Auslegung jedoch eine Tendenz zur Überwindung der historischen Vorstellungen innewohnt und deshalb Vertretern der subjektiven Theorie generell „suspekt“95 sein muß, ist nicht zu übersehen. In der Rechtsprechung des BVerfG finden sich sowohl Äußerungen, die auf den objektiven Gesetzessinn abstellen, als auch solche, die in der gesetzgeberischen Zielvorstellung die Grenze einer verfassungskonformen Auslegung erkennen.96 Ferner gibt es Urteile, die beide Kriterien nebeneinander als Grenze nennen97 oder auf den „Willen des Gesetzes“ rekurrieren98. Wichtiger als die Frage nach der „subjektiven“ oder „objektiven“ Bestimmung des Gesetzessinns dürfte es allerdings sein, ob dieser eindeutig oder klar erkennbar ist.99 Ist das der Fall, wird selten eine Differenz zwischen objektiver und subjektiver Theorie feststellbar sein.

In diesem Zusammenhang stellt sich weiter die noch wenig geklärte Frage, ob und inwieweit die verfassungskonforme Auslegung eine quantitative Reduzierung der gesetzgeberischen Zielvorstellung (im Rahmen des Wortlauts) erlaubt, ohne den Sinngehalt entscheidend zu verändern. Bei hypothetischer Betrachtung mag dem Gesetzgeber an der teilweisen Durchsetzung seiner Ziele eher gelegen sein als an der Annahme der Verfassungswidrigkeit, und dementsprechend sagt das BVerfG, daß von der Absicht des Gesetzgebers das „Maximum dessen aufrechtzuerhalten“ ist, was mit der Verfassung zu vereinbaren ist.100 Ob man in diesem Fall allerdings noch sagen kann, daß eine solche Aus94 Z. B. BVerfGE 18, 97 (111); 35, 263 (280); 71, 81 (105); Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 763: Norm muß nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte mehrdeutig sein; Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1, Rn. 80: Die verfassungskonforme Auslegung darf nicht den Absichten des Gesetzgebers widersprechen. 95 H. J. Müller, JZ 1962, 471 (474, r. Sp.); vgl. auch Scheuerle, AcP 1967, 305 (330): Gefahr „finaler Subsumtion“ und Zippelius, in: Festgabe 25 Jahre BVerfG, S. 119 unten. 96 Vgl. zur Rechtsprechung des BVerfG: Bleckmann, JuS 2002, 942 (946 f.) m. w. N. und H. J. Müller, JZ 1962, 471 (475, r. Sp.). 97 Nach BVerfGE 54, 277 (299) darf weder der Sinn (normative Gehalt) noch das gesetzgeberische Ziel verfehlt werden. 98 BVerfGE 32, 365 (372). BVerfGE 71, 81 (105) führt alle der genannten Kriterien auf. 99 Betont z. B. in BVerfGE 71, 81 (105). 100 St. Rechtsprechung, z. B. BVerfGE 86, 288 (320); 48, 40 (46) m. w. N. Sehr lesenswert ist das Minderheitsvotum in BVerfGE 33, 52 (78 ff., 82 f.), mit dem der Senatsmehrheit die Überschreitung der Grenzen einer verfassungskonformen Auslegung

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V. Systematik

legung mit den sonstigen Kriterien, insbesondere der subjektiv-historischen Auslegung im Einklang steht, ist zweifelhaft.101 Zu weit ginge es jedenfalls, einen generellen gesetzgeberischen Willen zu fingieren, „in Wahrheit stets nur das Verfassungskonforme zu wollen“102. Der BGH in Strafsachen hat sich insgesamt nur selten mit den Voraussetzungen der verfassungskonformen Auslegung beschäftigt. Gleichwohl gibt es einige Entscheidungen, in denen die angedeuteten Probleme dieses Instituts zum Ausdruck kommen. Fall 249 (BGHSt 13, 102): Das Finanzamt erließ gegen den Betroffenen einen „Strafbescheid“, weil er ohne Erlaubnis geschäftsmäßig Hilfe in Steuerstrafsachen geleistet hatte. Der Betroffene erhob ohne Erfolg Beschwerde (§ 452 AO a. F.) und stellte anschließend gegen Straf- und Beschwerdebescheid Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Dieser wurde in Einklang mit der damals herrschenden Auffassung als unzulässig verworfen, da § 450 II 1 AO a. F. bestimmte: „Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung schließt für den Beteiligten die Beschwerde, die Einlegung der Beschwerde den Antrag auf gerichtliche Entscheidung aus.“ Der BGH sieht in einem solchen Verständnis des § 450 AO einen Widerspruch zu Art. 19 IV GG. Die Strafgewalt der Finanzämter sei zwar materiell Rechtsprechung,103 für Art. 19 IV GG komme es jedoch auf die organisatorische Einordnung an (S. 113). Finanzamt und Oberfinanzdirektion seien aber Verwaltungsbehörden, gegen deren Entscheidungen der Weg zu den Gerichten eröffnet sein müsse (S. 114). Die Vorschrift des § 450 II 1 AO könne freilich „auch so verstanden werden, daß sie mit dem Grundgesetz übereinstimmt (,verfassungskonforme Auslegung‘)“ (S. 116). Der Wortlaut gestatte für sich betrachtet ohne weiteres die Auslegung, daß der Weg zu den Gerichten nur in bezug auf den Ausgangsbescheid, nicht aber hinsichtlich des Beschwerdebescheids ausgeschlossen sei. Diese verfassungskonforme Auslegung begrenze zwar die ursprüngliche Bedeutung der Norm, belasse ihr aber einen vernünftigen Sinn (S. 117). Die Maßgeblichkeit der ursprünglichen Vorstellungen gelte nicht ohne Einschränkung, denn: „Die Auslegung hat auch darauf bedacht zu sein, daß sich die Gesamtheit der gesetzlichen Bestimmungen tunlichst zu einem widerspruchslosen Ganzen zusammenfügt. Ergibt sich, daß eine früher erlassene Vorschrift mit dem Sinn, den ihre Urheber mit ihr verbunden wissen wollten, mit einer späteren Bestimmung von höherem Rang nicht in Einklang zu bringen ist, erlaubt aber der Wortlaut der früheren Vorschrift, ihr einen Sinn zu geben, der der späteren höherrangigen Norm nicht widerstreitet, ist es zulässig, sie in diesem Sinne auszulegen.“

vorgeworfen wird; ähnlich das Sondervotum in BVerfGE 70, 35 (59 ff., 65): „Übergriff in die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit“. 101 Larenz (Methodenlehre, S. 340 f.) sieht hier bereits den Bereich der Rechtsfortbildung (teleologische Reduktion) erreicht. 102 Lerche, in: FS 50 Jahre BVerfG, S. 358. 103 Damit beschäftigt sich der erste Teil der höchst umstrittenen Entscheidung; vgl. dazu die scharf abl. Anm. von Arndt, NJW 1959, 1230.

5. Verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung

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Der BGH erkennt als eine Grenze der verfassungskonformen Auslegung zumindest an, daß sie sich noch im Rahmen des Wortsinns hält. Insofern ist allerdings die praktische Argumentation zur Wortauslegung sehr zweifelhaft, und daß die Vorschrift bis dahin in einem anderen Sinn verstanden wurde, zeigt die Rabulistik des vom BGH vorgeführten Textverständnisses: Was zuvor nicht ernsthaft in Betracht gezogen wurde, soll nunmehr „ohne weiteres“ vom Wortlaut gedeckt sein.104 Hier treten die gleichen Mechanismen zur Überwindung eines theoretisch anerkannten, formalen Kriteriums zutage wie bei der Wortlautgrenze des Art. 103 II GG.105 Dagegen sieht der Senat im entgegenstehenden historischen Willen des Gesetzgebers kein Hindernis für die Neudeutung der Norm.106 Die ursprüngliche Vorstellung der Gesetzesurheber sei zwar regelmäßig maßgeblich, müsse jedoch im Fall des Widerspruchs zu höherrangigem Recht weichen. Im Ergebnis hat der BGH eine nach Wortlaut und Sinn eindeutige Regelung abgewandelt,107 selbst wenn man unterstellt, die Ansicht des BGH sei mit dem Wortlaut noch vereinbar. Im Grenzbereich zwischen verfassungskonformer Interpretation und „objektiver“ Auslegungstheorie bewegen sich folgende Entscheidungen: Fall 250 (BGHSt 16, 282; 18, 279, oben Fall 166 – „Zwingende Einziehung“): Vielfach wurden Zweifel daran geäußert, ob zwingende Einziehungsvorschriften (z. B. § 401 AO a. F.) mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz des schuldangemessenen Strafens zu vereinbaren seien, insbesondere wenn geringfügige Steuervergehen zwingend zur Einziehung einer wertvollen Sache führten. In neueren Einziehungsbestimmungen hatte der Gesetzgeber dem durch Umgestaltung der Normen in Ermessensregelungen Rechnung getragen, jedoch mußte der BGH vorliegend die Frage noch für Altfälle entscheiden. BGHSt 16, 282 wies die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit zurück: Es gebe Möglichkeiten, den Einwänden durch „sinnvolle und gesetzestreue“ Interpretationen gerecht zu werden (S. 286); die Maßnahme diene zudem der Abschreckung (S. 289); Härten könnten bei der Bemessung der Hauptstrafe (S. 288) sowie im Gnadenweg (S. 290) berücksichtigt werden. Sollte die Einziehung im Extremfall gegen die Menschenwürde verstoßen, dürfe der Richter die Norm 104 Abl. zur Wortauslegung des BGH z. B. Menger, JZ 1960, 168 (169, r. Sp.); Hartung, NJW 1958, 809 (810, r. Sp.) erwägt im Vorfeld der Entscheidung lediglich, daß § 450 II 1 AO (a. F.) durch Art. 19 IV GG „außer Kraft gesetzt“ werden könnte. Der BGH hätte sich freilich auf die Entscheidung BVerfGE 9, 194 (199 f.) berufen können, die in einer völlig parallelen Konstellation wie der BGH argumentiert – nach Zippelius (in: Festgabe 25 Jahre BVerfG, S. 116) allerdings in einer „fast listig anmutenden Weise“ und entgegen dem Gesetzessinn. 105 Das „ohne weiteres“ in BGHSt 13, 102 ist ebensowenig überzeugend wie in BGHSt 27, 45 (vgl. oben Fall 19). 106 Der BGH spricht nicht von einem entgegenstehenden Willen, sondern davon, daß eine andere Auffassung der ursprünglichen „Gesetzesabsicht“ näherkomme (a. a. O., S. 117). Das ist jedoch eine Verharmlosung, die – wie schon die Textauslegung – mit unlauteren Mitteln die Eindeutigkeit der gesetzlichen Regelung zu erschüttern sucht. 107 Menger, JZ 1960, 168 (170): Revision eines fehlerhaften Gesetzes.

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V. Systematik

nicht anwenden, aber ein solcher denkbarer Einzelfall könne nicht die Verfassungswidrigkeit der Norm begründen (S. 290). BGHSt 18, 279 hat diese Erwägungen bestätigt, darüber hinaus aber die Möglichkeit bejaht, die alten Bestimmungen in Anpassung an „neuzeitliche Rechtsanschauungen“ in Ermessensvorschriften „umzudeuten“ (vgl. eingehend oben Fall 166).

Die Motivation des BGH ist verständlich: In Anbetracht der zahlreichen Altfälle sowie einer jahrzehntelangen Praxis soll die Norm nicht dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit anheimfallen. Freilich reichte der in BGHSt 16, 282 gewiesene Weg offensichtlich nicht dazu aus, den verfassungsrechtlichen Einwänden in allen Fallkonstellationen gerecht zu werden; der Notanker „Gnadenweg“ macht das deutlich108. Eine Umgestaltung der zwingenden in fakultative Einziehungsvorschriften im Weg der verfassungskonformen (geltungserhaltenden) Auslegung kam angesichts der Eindeutigkeit der Regelungen nicht in Betracht, so daß BGHSt 18, 279 die „Umdeutung“ der veralteten Norm anders – im Ergebnis aber fragwürdig (siehe oben bei Fall 166) – begründen mußte. Interessant ist noch die in BGHSt 18, 279 enthaltene Aussage, wonach eine im Einzelfall gegen die Menschenwürde verstoßende Einziehung zwar nicht erfolgen dürfe, dies aber nicht die Verfassungswidrigkeit der Norm begründe. Dem ist jedoch zu widersprechen: Bietet die zwingende Norm in einem (realistischen) Fall keinen gangbaren Ausweg, um ein verfassungswidriges Ergebnis zu vermeiden, ist sie mit dem GG unvereinbar. Klare Grenzen verfassungskonformer Auslegung zeigt der BGH in folgender Entscheidung auf, obwohl es dort gar nicht darauf ankam: Fall 251 (BGHSt 22, 146): Nach Ansicht des Senats bestimmt das Wehrpflichtgesetz eindeutig, daß eine Strafbarkeit wegen Befehlsverweigerung für einen Kriegsdienstverweigerer solange besteht, bis über seinen Antrag entschieden ist. Dieses Ergebnis werde durch die Entstehungsgeschichte der Norm bestätigt und sei mit dem GG vereinbar. Eine anderweitige Auslegung komme mithin nicht in Frage. „Denn der Gesetzesinterpretation des Richters, der dem Gesetz unterworfen ist (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG), sind da Schranken gesetzt, wo der Boden der mit dem Grundgesetz im Einklang stehenden Vorschrift verlassen wird . . . Selbst die verfassungskonforme Auslegung findet dort ihre Grenze, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde (BVerfGE 18, 97, 111)“ (S. 153).

Problematisch liegt hingegen ein weiterer Fall, in dem der Wortsinn zwar großen Spielraum eröffnet, es aber fraglich ist, ob der Senat die gesetzgeberische Zielsetzung zu Recht modifiziert: Fall 252 (BGHSt 40, 371): In Zusammenhang mit einer Verurteilung wegen einer bestimmten Straftat aus dem Spektrum organisierter Kriminalität ermöglicht § 73d I 1 StGB die Anordnung des erweiterten Verfalls von Gegenständen, „wenn die Um108 Auf diesen Ausweg verweist auch BGH NJW 1978, 1336 (1337) bezüglich der absoluten Strafe des § 211 StGB, vgl. unten BGHSt GS 30, 105 = Fall 255.

5. Verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung

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stände die Annahme rechtfertigen, daß diese Gegenstände für rechtswidrige Taten oder aus ihnen erlangt worden sind“. Nach Ansicht der Gesetzesverfasser sind die rechtfertigenden Umstände bei einer „ganz hohen Wahrscheinlichkeit“ deliktischer Herkunft der Gegenstände gegeben (vgl. a. a. O., S. 372 mit Nachweisen). Obwohl der Gesetzgeber mit dieser Anforderung die Grundrechte der Betroffenen wahren wollte (vgl. S. 373), geht dem Senat die darin liegende zweifache „Unterstellung“ (einer Straftat und eines daraus resultierenden Vermögens) zu weit. Wegen der Unschuldsvermutung und Art. 14 GG nimmt er eine einengende „verfassungskonforme“ Auslegung vor: Der Tatrichter müsse aufgrund „erschöpfender Beweiserhebung und -würdigung . . . die uneingeschränkte Überzeugung gewonnen [haben], daß der Angeklagte die von der Anordnung erfaßten Gegenstände aus rechtswidrigen Taten erlangt hat, ohne daß diese selbst im einzelnen festgestellt werden müßten“ (S. 373). An die richterliche Überzeugungsbildung dürften jedoch keine überhöhten Anforderungen gestellt werden.

Die „einengende“ Auslegung ist mit dem Wortlaut sicher vereinbar.109 Fraglich ist nur, ob der BGH von einem womöglich weitergehenden gesetzgeberischen Ziel abweicht. Katholnigg (JR 1995, 297) sieht in der Ansicht des BGH eine in Hinblick auf die Gewaltenteilung bedenkliche Kompetenzanmaßung. Der BGH habe es verhindert, die Norm ohne einengendes Verständnis vom BVerfG als verfassungsgemäß bestätigen zu lassen.110 Auch in der Sache sei die einengende Interpretation nicht gerechtfertigt. Überzeugend sind die Einwände Katholniggs nur unter zwei Bedingungen. Zunächst muß die gesetzgeberische Intention in der Tat über das hinausgehen, was der BGH der Norm und ihrer Entstehungsgeschichte entnimmt. Im Ergebnis unterscheiden sich die in den Materialien genannten Voraussetzungen („ganz hohe Wahrscheinlichkeit“) von der vom Senat entwickelten Auffassung (richterliche Überzeugungsbildung ohne überhöhte Anforderungen) jedoch allenfalls in Nuancen, letztlich eher in der Formulierung als im Inhalt.111 Geht man allerdings mit dem Senat von einer Einengung des Anwendungsbereichs aus, stellt sich darüber hinaus die Frage, ob diese als verfassungskonforme Auslegung zulässig ist. Das hängt wiederum davon ab, ob der Senat mit seiner Vorgehensweise ein Maximum des Möglichen („suboptimal“) aufrechterhält, also das gesetzgeberische Ziel nur quantitativ reduziert, oder ob die Zielsetzung der Legislative damit verfehlt oder verfälscht wird. Die Problematik des erweiterten Verfalls kann hier nicht näher dargestellt werden, aber anzunehmen ist jedenfalls, daß der Gesetzgeber Siehe aber Eser, in: Schönke/Schröder, StGB26, § 73d, Rn. 15: „Höchst zweifelhaft“, ob die Anforderungen des BGH in der Gesetzesfassung „zum Ausdruck kommen“; ebenfalls zweifelnd Th. Schmidt, JuS 1995, 463 (464). 110 Katholnigg (a. a. O.) sieht den Gesetzgeber angesichts der jederzeit drohenden verfassungskonformen Auslegung faktisch sogar an einer Korrektur der BGH-Rechtsprechung gehindert. Das trifft aber nur zu, wenn man dem Gesetzgeber nicht zutraut, seine Ansicht in einen eindeutigen Wortlaut zu fassen. 111 Siehe Tröndle, StGB48, § 73d, Rn. 4d unter Hinweis auf Entscheidungen des BGH, die andere Kriterien zugrunde legen. 109

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V. Systematik

ein möglichst effektives Instrument zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität schaffen wollte. Die darin gesetzten Erwartungen würden durch eine Reduktion auf das verfassungsrechtlich Machbare zwar zurückgesetzt, aber letztlich wohl nicht verfehlt112 oder so verfälscht, daß man sagen könnte, der Gesetzgeber hätte bei richtiger Einschätzung der Verfassungslage von einer Einführung der Regelung ganz abgesehen. Die Aufrechterhaltung beruht auch nicht nur auf der Fiktion eines gesetzgeberischen Willens, im Zweifel stets das Verfassungskonforme zu wollen. Im Ergebnis wird man schwerlich sagen können, daß die Entscheidung die vom BVerfG vorgezeichneten Grenzen verfassungskonformer Auslegung überschreitet. Einige Entscheidungen des BGH verwenden den Ausdruck „verfassungskonforme Auslegung“ terminologisch mißverständlich in Situationen, in denen es in Wahrheit um Rechtsfortbildung geht und wo statt dessen die Bezeichnung „verfassungskonforme Rechtsanwendung“ zutreffend wäre.113 Das geschieht nicht gezielt, um richterliche Rechtsschöpfung noch als „Auslegung“ zu kennzeichnen, sondern eher aus fehlender begrifflicher Präzision. Fall 253 (BGHSt 25, 252): Das vereinfachte Beschlußverfahren gemäß § 72 OWiG setzt einen Hinweis an den Betroffenen voraus, der dieser Verfahrensweise widersprechen kann. Entscheidet das Gericht ungeachtet eines Widerspruchs durch Beschluß, ist die Rechtsbeschwerde eröffnet, § 79 I 1 Nr. 5 OWiG. Nach BGHSt 24, 293 gilt dies auch, wenn der Hinweis dem Betroffenen nicht zugegangen ist; § 79 I 1 Nr. 5 erfasse diesen Fall zwar nicht ausdrücklich, müsse aber „entsprechend“ angewandt werden. BGHSt 25, 252 ist der Ansicht, daß der in § 72 vorgesehene Hinweis auch an den bestellten Verteidiger ergehen muß; dies folge zwar nicht aus dem Wortlaut der Norm, aber aus der Stellung des Verteidigers und aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs (S. 254 f.). Zu Recht hätten die OLGe auch hier § 79 I 1 Nr. 5 entsprechend angewandt. Das sei keine mit dem gesetzgeberischen Ziel der Rechtsmittelvereinfachung unvereinbare erweiternde Auslegung, sondern eine durch den Grundsatz des rechtlichen Gehörs gebotene „verfassungskonforme Auslegung“ (S. 255 f.). Fall 254 (BGHSt 44, 46): Eine „verfassungskonforme Auslegung“ führt den BGH zur Annahme eines Beschlagnahmeverbots über den Wortlaut des § 97 StPO hinaus, der „analog“ herangezogen wird (S. 48). Methodisch genauer müßte es heißen, daß das Verfassungsrecht die analoge Anwendung des § 97 StPO verlangt. Im übrigen ist aber fraglich, ob es hier und im vorhergehenden Fall um eine Lückenschließung im engeren Sinn oder nicht vielmehr um die direkte Anwendung höherrangigen Rechts geht.114 Fall 255 (BGHSt GS 30, 105; BVerfGE 45, 187): Zu Recht nicht auf eine verfassungskonforme „Auslegung“ stützt der Große Senat seine berühmte Entscheidung, Anders aber Eser, in: Schönke/Schröder, StGB26, § 73d, Rn. 15. Vgl. zur Begrifflichkeit auch Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 268; Krey, Studien, S. 139; zu den Grenzen „verfassungskonformer Rechtsergänzung“ Zippelius, in: Festgabe 25 Jahre BVerfG, S. 121 ff. 114 Vgl. zu dieser Abgrenzung Zippelius, in: Festgabe 25 Jahre BVerfG, S. 123 f. 112 113

5. Verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung

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in der er die absolute Strafdrohung des Mordtatbestandes beim Vorliegen außergewöhnlicher Umstände einschränkt („Rechtsfolgenlösung“). Die Abweichung von der gesetzlichen Regelung sei bei „verfassungskonformer Rechtsanwendung“ geboten (S. 118). Ob diese „verfassungskonforme Rechtsfortbildung . . . im Wege richterlicher Rechtsschöpfung vorgenommen werden kann“, bejaht der Große Senat unter Berufung auf das BVerfG; dieses habe aus verfassungsrechtlichen Erwägungen, insbesondere wegen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einen Wandel der Rechtsordnung festgestellt und die Schließung der daraus resultierenden Regelungslücke dem BGH überlassen (S. 121).

Der Große Senat mußte über die bereits bei den Entscheidungen zur Einziehung (Fall 250) angedeutete Konstellation befinden: Die Norm mit ihrer starren Strafdrohung genügt zwar im Regelfall dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, nicht aber bei außergewöhnlichen Umständen. Das BVerfG hatte dargelegt, daß die von der Rechtsprechung des BGH vorgenommenen Einschränkungen der Mordmerkmale in Ausnahmefällen noch immer zu unverhältnismäßigen Härten führen könnten (BVerfG, S. 266), jedoch eine noch engere Auslegung möglich sei, „die mit dem Wortlaut vereinbar ist“ und dem erkennbaren Sinn der Norm nicht zuwiderlaufe (S. 267).115 Über die Art der einengenden Interpretation müsse der BGH entscheiden. Diese Ausführungen mißbraucht der Große Senat als Ermächtigung zur richterlichen Rechtsschöpfung. Er sieht aus diversen Gründen keinen Raum mehr für die vom BVerfG vorgeschlagenen Auswege (vgl. BGH, S. 114 ff.) und schreitet zur Ergänzung der angeblich vom BVerfG konstatierten „Regelungslücke“. Diese Abweichung vom Urteil des BVerfG116 ist methodisch unhaltbar. Die Herrschaft des GG hat womöglich zu veränderten Wertmaßstäben geführt, jedoch ändert das nichts daran, daß die Wertung des Strafgesetzgebers alle denkbaren Sachverhaltsvarianten eines Mordes berücksichtigt und keine Strafmilderungsmöglichkeit für notwendig erachtet hat.117 Diese Wertung mag – was das BVerfG allerdings verneint hat! – im Lichte der Verfassung als falsch, nicht aber als lückenhaft erscheinen. Kurz vor der Entscheidung des Großen Senats hatte ein anderer Senat noch festgestellt, daß der „eindeutige Wille des Gesetzes“ der Annahme einer Strafmilderung beim Mord entgegenstehe; einen „derart schwerwiegenden Eingriff in das Gefüge unseres Strafrechts . . . kann lediglich der Gesetzgeber vornehmen“.118 Man kann dem Großen Senat zwar zugute halten, daß ihn das BVerfG in ein dogmatisches wie methodologisches Dilemma gestürzt hat, da ihm die gewiesenen Wege als un115 Das BVerfG argumentiert freilich nicht stringent, wenn es u. a. auf den in der Literatur vorgeschlagenen Weg verweist, das „ungeschriebene“ Merkmal der „besonderen Verwerflichkeit“ einzuführen (a. a. O., S. 267), denn diese Lösung (Reduktion) ist nicht mit dem Wortlaut „vereinbar“. 116 Günther, NJW 1982, 353 (357, Fn. 52); Bruns, JR 1981, 358 (362, l. Sp.). 117 Zu beachten ist auch, daß die Strafdrohung des § 211 StGB 1953 an das GG (Abschaffung der Todesstrafe) angepaßt wurde. 118 BGH NJW 1978, 1336 (1337), allerdings für eine andere Sachverhaltskonstellation.

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V. Systematik

haltbar erschienen119, aber mit seiner Gesetzeskorrektur ist er über den Rahmen des Zulässigen hinausgeschossen120. Festzuhalten bleibt: Eine verfassungskonforme Auslegung muß sich im Rahmen des möglichen Wortsinns halten und darf nicht das Ziel des Gesetzgebers verfälschen. Die möglichst weitgehende Aufrechterhaltung des gesetzgeberischen Willens kann leicht in dessen Abwandlung umschlagen. Neben der „verfassungskonformen Auslegung“ im engeren Sinn gibt es eine (wortlautüberoder unterschreitende) verfassungskonforme Rechtsergänzung oder Gesetzeskorrektur. Diese darf jedoch nur unter den üblichen Voraussetzungen (Regelungslücke, Versehen) und nicht entgegen einer erkennbaren Entscheidung des Gesetzgebers erfolgen.121 Insbesondere begründet die etwaige Verfassungswidrigkeit einer Norm nicht deren Unvollständigkeit, etwa mit der pauschalen Erwägung „Hätte der Gesetzgeber die Verfassungswidrigkeit gesehen, hätte er eine andere Regelung gewählt, und zwar die folgende . . .“. Erst wenn die Voraussetzungen für eine Rechtsfortbildung vorliegen, ist es geboten, von den in Frage kommenden Ergänzungsmöglichkeiten eine verfassungskonforme zu wählen; das macht den begrenzten Anwendungsbereich der verfassungskonformen Rechtsergänzung deutlich.

6. Sonstiger Einfluß von Grundrechten auf die Auslegung Höherrangiges Recht spielt nicht nur unter dem Topos „verfassungskonforme Auslegung“ eine Rolle, sondern generell bei der Konkretisierung der Gesetze. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach dem Einfluß der Grundrechte auf die Auslegung der Strafgesetze, die mit den strafrechtlichen Sanktionen und den verfahrensrechtlichen Zwangsmaßnahmen ja die schärfsten aller Grundrechts119 Siehe eingehend Köhler, JuS 1984, 762 (768 f.). Auf Anfrage des BVerfG hatte der BGH noch erklärt, die gelegentlich unbefriedigenden Ergebnisse seien „kein verfassungsrechtliches Problem, sondern ein solches der allgemeinen Gesetzgebung“, so die Wiedergabe durch BVerfGE 45, 187 (202). Daran konnte der Große Senat nach der Entscheidung des BVerfG nicht mehr festhalten. 120 Bruns, JR 1981, 358 (362, r. Sp.): „Unzulässige Gesetzesänderung“; Spendel (StV 1984, 45 [46, r. Sp.]) sieht in der Entscheidung ein „abschreckendes Beispiel für mangelnde richterliche Gesetzestreue“, das den objektiven Tatbestand der Rechtsbeugung erfülle; Tröndle, StGB48, § 211, Rn. 2c und 17: Entscheidung „contra legem“; Frommel (StV 1982, 533) betont den Vorzug der „Methodenehrlichkeit“. Pragmatisch, aber den Ernst der Problematik zu Unrecht nivellierend: Tröndle/Fischer, StGB51, § 211, Rn. 22: „Im Ergebnis erscheint die massive Kritik . . . aus heutiger Sicht teilweise überzogen . . .“. 121 Koch/Rüßmann (Begründungslehre, S. 270) betonen, daß es die verfassungskonforme Rechtsfortbildung nicht erlaube, ein Maximum des gesetzgeberischen Gewollten aufrechtzuerhalten. Das trifft schon deshalb zu, weil in solchen Fällen keine Regelungslücke vorhanden ist. Deshalb kam auch keine „verfassungskonforme“ Reduktion oder Korrektur der Einziehungsvorschriften (oben Fall 250) in Betracht!

6. Sonstiger Einfluß von Grundrechten auf die Auslegung

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eingriffe legitimieren sollen. Obgleich jede Sanktion ein zu rechtfertigender Eingriff zumindest in die allgemeine Handlungsfreiheit des Bürgers (Art. 2 I GG) darstellt, nehmen die Strafgerichte aus verschiedenen Gründen bei einer Verurteilung gleichwohl (von Ausnahmefällen abgesehen) keine „schulmäßige“ Grundrechtsprüfung vor. So wird eine gewöhnliche Verurteilung wegen Diebstahls, Hehlerei oder anderer Delikte dem Richter keine verfassungsrechtlichen Erwägungen abverlangen. Dennoch sind verfassungsrechtliche Einflüsse zumindest implizit vorhanden. Zur Vereinfachung ist vorweg zwischen der Auslegung der tatbestandlichen Voraussetzungen sowie der Sanktion selbst zu unterscheiden.122 Für Art und Umfang der ausgesprochenen Sanktion ist als Mindestanforderung jedes Grundrechtseingriffs der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, insbesondere das Übermaßverbot zu beachten. § 62 StGB bestimmt dies ausdrücklich für die Maßregeln der Besserung und Sicherung, die nicht an die Schuld des Täters, sondern an dessen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit anknüpfen. Aber auch bei einer „Strafe“ findet eine Verhältnismäßigkeitsprüfung statt: „Jede Strafe muß in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Straftat und zum Verschulden des Täters stehen“.123 Was bei der Bemessung der Strafe innerhalb des vorgegebenen Strafrahmens im einzelnen zu berücksichtigen und abzuwägen ist, wird in § 46 StGB erläutert und ist in einer komplexen Strafzumessungslehre differenziert ausgearbeitet worden. Das (Schuld-)Strafrecht stellt damit ein spezielleres und genaueres Programm zur Verfügung als eine allgemeine verfassungsrechtliche Überprüfung des Grundrechtseingriffs anhand der Kriterien Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit.124 Die verfassungsrechtlichen Einwände gegenüber der absoluten Strafdrohung des § 211 StGB beruhen gerade darauf, daß die strikte Rechtsfolgenanordnung keinen Strafrahmen zur Verfügung stellt, innerhalb dessen das Maß der Schuld mit Hilfe der Kriterien des § 46 StGB berücksichtigt werden kann. Da jedoch auch die Strafandrohung selbst den genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen muß,125 führt die Frage nach der Bemessung der Strafe bei § 211 ausnahmsweise zur verfassungsrechtlichen Überprüfung der Rechtsnorm selbst (siehe oben BGHSt GS 30, 105 = Fall 255). Ähnliches galt für § 316a StGB a. F., dessen Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe ohne die Option des minder schweren Falles (heute § 316a II StGB) in Einzelfällen zu erheblichen Härten führen konnte.126 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann somit sowohl zur Überprüfung der Strafe („Wie“) als auch der Norm selbst („Ob“) führen.127 122

Näher Kudlich, JZ 2003, 127 (129). BVerfGE 45, 187 (228 und 260) m. w. N.; siehe auch BGHSt 47, 369 (375): „Insoweit deckt sich der Schuldgrundsatz in seinen die Strafe begrenzenden Auswirkungen mit dem Übermaßverbot . . .“. 124 Vgl. Kudlich, JZ 2003, 127 (133). 125 Auch BVerfGE 45, 187 (260) differenziert zwischen Strafe und Strafandrohung. 126 BGHSt 15, 322 (325) hat eingeräumt, daß die Mindeststrafe in geringfügigen Fällen „hart“ erscheint; dem Richter stehe das Recht zur Gnade jedoch nicht zu. 123

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V. Systematik

Zwischen der Prüfung der Sanktion auf der einen und der Gültigkeit der Norm auf der anderen Seite ist die hier eigentlich interessierende Frage angesiedelt, wie sich die verfassungsrechtlichen Schutzrechte des Bürgers auf die inhaltliche Bestimmung der Normen auswirken. Das BVerfG weist seit dem LüthUrteil (BVerfGE 7, 198) in ständiger Rechtsprechung darauf hin, daß bei der Auslegung grundrechtseinschränkender Gesetze eine zwischen Grundrecht und einschränkendem Gesetz stattfindende „Wechselwirkung“ zu beachten ist. Das allgemeine Gesetz schränkt das Grundrecht zwar ein, muß jedoch so interpretiert werden, daß dem Wertgehalt des Grundrechts Rechnung getragen wird. Der BGH hat diese Position rezipiert: „Ein solches Gesetz muß immer in seiner das Grundrecht beschränkenden Wirkung im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und darf deshalb nur so angewendet und ausgelegt werden, daß der besondere Wertgehalt des Grundrechts gewahrt bleibt . . . Der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit läßt eine Beschränkung von Grundrechtspositionen nur auf das zum Schutz des von der Verfassung anerkannten Rechtsgutes unbedingt Notwendige zu . . .“ (BGHSt 26, 298 [304]).

Gleichwohl ist nicht geklärt, wie dieses Postulat die Auslegung der Strafgesetze im einzelnen beeinflußt. Einerseits gibt es Bereiche, in denen die Normkonkretisierung praktisch zugunsten einer grundrechtsgeleiteten Güterabwägung zurückgetreten ist, wie etwa bei den Beleidigungsdelikten auf dem Gebiet des politischen Meinungskampfes mit der Abwägung von Ehrenschutz und Meinungsfreiheit.128 Andererseits gibt es Felder, die von der „Wechselwirkungstheorie“ nicht betroffen sind, zumal wenn der Täter sich allein auf die bei jeder Verurteilung betroffenen allgemeine Handlungsfreiheit oder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stützen kann. Wollte man hier „grundrechtsoptimierend“ auslegen, wozu sonst sollte das führen als zur pauschalen Regel „in dubio pro mitius“? Konsequent hat der BGH z. B. in folgender Entscheidung die Relevanz von Art. 2 GG für die Auslegung bestritten: Fall 256 (BGHSt 1, 80; NJW 1952, 796): Der nationalsozialistische Gesetzgeber änderte 1935 den Tatbestand des § 175 StGB a. F. (statt „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern nunmehr „Unzucht treiben“ unter Männern), um der Rechtsprechung, die lediglich „beischlafähnliche Handlungen“ als erfaßt angesehen hatte, den Boden zu entziehen (näher oben Fall 162). BGHSt 1, 80 hat die Verfassungsmäßigkeit der Norm bejaht und die Rückkehr zur milderen Auffassung der früheren Rechtsprechung u. a. deshalb abgelehnt, weil damit eine zu weite Entfernung vom Wortsinn verbunden sei129, eine gleichmäßige Auslegung verwandter Vorschriften 127 Ein weiteres Beispiel bietet BGHSt GS 42, 113 (122) mit der Frage, ob es unverhältnismäßig ist, zwischen 1986–1989 durchgeführte unbefugte Ausfuhren in die DDR auch noch nach der Wiedervereinigung zu bestrafen. 128 Siehe Tröndle/Fischer, StGB51, § 193, Rn. 17. Insoweit spielt es keine Rolle, ob man die Wechselwirkungslehre bei § 193 StGB als Rechtfertigungsgrund oder bereits auf der Tatbestandsebene des § 185 StGB zur Geltung bringt.

6. Sonstiger Einfluß von Grundrechten auf die Auslegung

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verfehlt und der Strafschärfung des § 175a StGB (a. F.) ihre kriminalpolitisch unentbehrliche Wirkung genommen würde (S. 82 f.). BGH NJW 1952, 796 ergänzt, daß Art. 2 GG nicht zu einer Einengung des Tatbestandes zwinge: Es sei Sache des Gesetzgebers, darüber zu befinden, ob die Norm gerecht und kriminalpolitisch ausgewogen ist und insbesondere, ob sie die Strafbarkeitsgrenze zu weit ausdehnt. Leitsatz: „Der Art. 2 GG über das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit beeinträchtigt weder die Geltung noch die Auslegung des § 175 . . .“.

Dem ist insoweit zuzustimmen, als daß die Auslegung der Strafnorm nach den üblichen Methoden zu erfolgen hat. Die daraus gewonnene Konkretisierung wird durch Art. 2 GG nicht beeinflußt, muß sich freilich in dem Rahmen halten, den das Grundrecht zuläßt. Geht die Zielsetzung über diesen Rahmen hinaus, ist das nicht nur – wie der BGH in vorliegender Entscheidung anzunehmen scheint – Sache des Gesetzgebers, sondern auch der Gerichte, für die sich in Zweifelsfällen die Frage nach einer verfassungskonformen Auslegung stellt. Eher als die allgemeine Handlungsfreiheit spielen bei der Auslegung des materiellen Strafrechts die speziellen Freiheitsgrundrechte (z. B. Art. 5, 8, 12 GG) eine Rolle, zumindest wenn nach Heranziehung der klassischen Auslegungskriterien noch Spielraum oder Zweifel verbleiben. Ob dabei aber inhaltlich mehr herauskommt, als daß die Grundrechte für eine enge Auslegung sprechen, ist sehr fraglich: BGHSt 4, 161 (oben Fall 172) sieht die von der h. M. vertretene Einordnung der Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung als objektive Bedingung der Strafbarkeit statt als Tatbestandsmerkmal im Einklang mit dem Gesetzeszweck und der Entstehungsgeschichte. Die Grundrechte würden durch diese Auslegung nicht mehr eingeengt, als es das Gemeininteresse gebietet (S. 163). Unvermeidbare Einschränkungen müsse jeder Staatsbürger um der Gesamtheit willen hinnehmen. – Die Unbestimmtheit dieses Maßstabes ist offensichtlich. BGHSt 18, 151 (oben Fall 138) stützt das aus der Entstehungsgeschichte hergeleitete enge Verständnis des Begriffs „Untergrabungsabsicht“ mit grundrechtlichen Argumenten. Art. 4 und 5 GG böten „hinreichende Gründe zu enger Auslegung des § 91 StGB“ (S. 155). Dem Bürger müsse es in Fragen der Verteidigung erlaubt sein, seine Meinung frei zu äußern und für das Recht der Kriegsdienstverweigerung einzutreten. „Erst wenn der Täter, statt für diese Grundrechte einzutreten, den Untergrabungserfolg zum Ziel seines Handels macht, wird sein Tun nach § 91 StGB tatbestandsmäßig.“ – Das bereits mit anderen Kriterien gewonnene Ergebnis wird mit grundrechtlichen Aspekten unterstützt. Nötig war das nicht. Hätte der BGH aus der Entstehungsgeschichte und dem Normzweck eine andere Lösung gefolgert, könnte er wie in BGHSt 4, 161 argumentieren, daß der Bürger „um der Gesamtheit willen“ unvermeidbare Einschränkungen seiner Meinungsfreiheit hinnehmen müsse.

129 Lange (JZ 1951, 562 [563 f.]) weist allerdings zu Recht darauf hin, daß bei „objektiver“ Lesart, die sich von den damaligen Motiven freimacht, sowohl der alte als auch der neue Gesetzestext beide Auffassungen zuläßt; anders freilich RGSt 69, 273 = oben Fall 162.

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V. Systematik

Fall 257 (BGHSt 31, 258): Die Frage, ob „Waschanlagen“ dem LadenschlußG unterliegen, verneint der Senat und sieht seine Auslegung „im Rahmen der Zwecke des Ladenschlußgesetzes, die den im Zwang zum Ladenschluß liegenden Eingriff in die Berufsausübung rechtfertigen können“ (S. 262). Der BGH steigt anschließend in eine Grundrechtsprüfung (Art. 12) ein und behandelt insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Diese Gesichtspunkte seien „nicht nur für die Zulässigkeit der Regelung als solche, sondern auch für ihre Auslegung in Zweifelsfällen von Bedeutung“ (S. 263). Die dem LadenschlußG zugrundeliegenden Zwecke (u. a. Schutz der Belegschaft) sprächen nicht für eine Erfassung der Waschanlagen. – Wenn Sinn und Zweck den Fall nicht erfassen und die übrigen Auslegungskriterien kein klares Ergebnis liefern, ist die Lösung vorgegeben; sie kann durch die Grundrechtsprüfung höchstens noch unterstützt werden. Fall 258 (BGHSt 32, 1): Der Angeklagte fertigte ein Manuskript mit verfassungsfeindlichem Inhalt an, das er zwecks Veröffentlichung an einen Verlag weiterleitete. Er wußte, daß der Text im Verlag noch auf strafbare Passagen durchgesehen werden würde, und wollte auf eine dadurch eintretende inhaltliche Änderung noch unbedingt Einfluß nehmen. Die Strafkammer hat in diesem Sachverhalt das „Herstellen“ einer Schrift zu deren Verbreitung (§ 86 StGB) erkannt. Der Senat sieht hingegen Bedarf zu einer Einschränkung des Tatbestandes: Die Gefahr möglicher Verbreitung müsse „bereits ganz nahe gerückt“ sein, der zu veröffentlichende Text mithin feststehen. Wortlaut und Gesetzesmaterialien ergäben keinen sicheren Aufschluß (S. 4 ff.). Ziel der Neufassung sei es gewesen, der technischen Entwicklung Rechnung zu tragen und die Beschlagnahme bereits vor Verbreitung des Werks zu ermöglichen (S. 6). Die unterschiedslose Erfassung von Manuskripten bedeute jedoch einen zu weitgehenden Eingriff in Art. 2 und 5 GG und würde bereits dann zur Bestrafung führen, wenn die zur Verbreitung vorgesehene, verfassungsfeindliche Schrift den Schreibtisch des Autors nie verlassen hätte (S. 7). „Ein solch weitgehendes Vordringen der Strafverfolgung in die Privatsphäre des Menschen ist durch die moderne technische Entwicklung, auf die der Gesetzgeber Rücksicht nehmen wollte, nicht geboten. Es wäre auch nicht mehr von der recht verstandenen [!] Zielsetzung des Gesetzgebers getragen, dem ein Wille, die Strafbarkeit so weit vorzuziehen, nicht unterstellt werden kann“ (S. 7 f.). – Nach Ansicht des BGH führt die Anwendung aller Interpretationsmittel hier offenbar zu einem non liquet, aus dem die Tatsache der Grundrechtsbeeinträchtigung herausführt. Eher angestrengt wirken die Bemühungen, das Ergebnis auch dem „Willen des Gesetzgebers“ zuzuschreiben. Fall 259 (BGHSt 33, 16): Lag in Farbsprühaktionen, mit denen auf die Situation der RAF-Häftlinge aufmerksam gemacht wurde („Isolationsfolter“, „Freiheit für . . .“), ein „Unterstützen“ einer terroristischen Vereinigung oder ein „Werben“ für diese (§ 129a III StGB)? Der BGH sieht sich u. a. wegen des Bestimmtheitsgebots und Art. 5 GG zur Einschränkung der umfassenden Alltagsbegriffe für den Fall ungefährlicher Sympathiebekundungen gezwungen (S. 18). – Bruns wendet sich gegen das methodische Vorgehen des BGH (NStZ 1985, 22). Der Rückgriff auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, auf das Bestimmtheitsgebot und Art. 5 GG sei in Anbetracht „handfesterer Argumente“ überflüssig gewesen (S. 23). Insbesondere die beliebte Berufung auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit belege die „zahlreichen Bestrebungen, bei der Anwendung normaler Gesetzesbestimmungen voreilig das Verfassungsrecht heranzuziehen und mit seiner Hilfe den Geltungsbereich der

6. Sonstiger Einfluß von Grundrechten auf die Auslegung

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einfachen Normen, auch bei festen Konturen, so aufzuweichen, daß bei der anschließenden Güterabwägung jeder zu dem Ergebnis gelangen kann, das ihm persönlich (rechtspolitisch!) gefällt“ (S. 24). Unter anderem wegen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gelangt BGHSt 41, 47 (oben Fall 129) zu einer restriktiven Auslegung des § 129 I StGB, obwohl der Gesetzgeber diesen Erwägungen schon mit der Erheblichkeitsschwelle des § 129 II Nr. 2 StGB ausdrücklich Rechnung getragen hat.130

In den dargestellten Entscheidungen zum materiellen Recht steht nicht der Einfluß der Grundrechte auf den Inhalt strafrechtlicher Begriffe im Vordergrund, sondern die hilfsweise Heranziehung in Zweifelsfällen. Ergeben die üblichen Interpretationsmittel keine Klarheit, kann die Tatsache der Grundrechtsbeeinträchtigung als Argument dafür dienen, das Tatbestandsmerkmal zu verneinen.131 Ein solches Vorgehen kann immerhin Rationalität für sich beanspruchen. Freilich befreit diese Notlösung nicht von der zunächst zu leistenden begrifflichdogmatischen Kleinarbeit (vgl. oben Bruns zu BGHSt 33, 16). Zweifel über das Vorliegen von Strafbarkeitsvoraussetzungen sind häufig und dürfen nicht vorschnell mit Hilfe der Grundrechte aufgelöst werden. Spricht schon der eingehend zu erforschende Gesetzeszweck nicht für die Erfassung des Falls, ist die Berufung auf Grundrechte als Argument gegen die Strafbarkeit nur noch Beiwerk. Erheblich größeren Einfluß als im materiellen Strafrecht hat die grundrechtsorientierte Auslegung im Bereich des Verfahrensrechts, wenn verfassungsrechtlich abgesicherte Rechte des Beschuldigten im Raum stehen. Dann ist schnell eine enge Auslegung oder eine Analogie zugunsten des Betroffenen geboten. Zu nennen sind vor allem das Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 I 2 GG), das eine enge Anwendung von Zuständigkeitsregelungen verlangt,132 der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG), der Grundsatz „ne bis in idem“ (Art. 103 III GG), der besonders ausgestaltete Schutz vor freiheitsentziehenden Maßnahmen (Art. 104 GG) und weitere Abwehrrechte, die vor allem im Ermittlungsverfahren einschlägig sind (Art. 10 und 13 GG).133 Soweit das Grundgesetz selbst inhaltliche Vorgaben macht, ist es selbstverständlich, dies bei der Auslegung der einfachgesetzlichen Normen zu berücksichtigen; zuweilen steht sogar die direkte Anwendung des prozessualen Grundrechts im Raum. Ob aber aus der Tatsache, daß es sich hier um konkretisiertes Verfassungsrecht handelt, weitergehende inhaltliche Erkenntnisse folgen, ist ebenso fraglich wie hinsichtlich der speziellen Freiheitsrechte beim materiellen Strafrecht. Vernünf130

Krit. dazu z. B. Ostendorf, JZ 1996, 55 (56). Ganz allgemein sagt BGHSt 38, 144 (151): Läßt das Gesetz nach Ausschöpfung aller Auslegungsmöglichkeiten . . . Zweifel offen, dürfen diese nicht zu Gunsten der Strafbarkeit behoben werden.“ 132 BGHSt 26, 382 (383); 10, 179 (181). 133 Zu Art. 13 siehe z. B. BVerfGE 103, 142, oben V 4 c am Ende. 131

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V. Systematik

tig erscheint die schlichte Annahme einer umgekehrten Proportionalität in dem Sinn, daß die Interpretation um so engherziger erfolgen muß, je schwerwiegender in die grundrechtlichen Positionen eingegriffen wird und je unbestimmter die Eingriffsvoraussetzungen geregelt sind. In der Rechtsprechung wird häufig in dieser Weise argumentiert, aber nicht gleichmäßig in allen dafür in Betracht kommenden Situationen. Nach Ansicht des Großen Senat wird der in Art. 103 III GG sanktionierte Grundsatz des „ne bis in idem“ nicht durch Art. 139 GG (Fortgeltung der Vorschriften über Entnazifizierung) eingeschränkt (BGHSt GS 5, 323 = oben Fall 216). Ausnahmevorschriften wie Art. 139 GG seien eng auszulegen, besonders wenn sie „verfassungsmäßig gewährleistete Grundrechte einschränken“ (S. 327). Art. 139 diene einem anderen Zweck, wie Äußerungen aus dem Parlamentarischen Rat belegten. Fall 260 (BGHSt 13, 123): Der Angeklagte sah sich in der Hauptverhandlung aufgrund eines jüdischen Feiertags außerstande, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Er hatte das Gericht im Vorfeld auf die Problematik aufmerksam gemacht. Der Senat geht von einer Verletzung des rechtlichen Gehörs aus (Art. 103 I GG). Dieser Anspruch werde durch die einzelnen Verfahrensordnungen näher ausgestaltet. Die entsprechenden Normen der StPO (§§ 136, 243, 257, 258) habe das Tatgericht in Anbetracht der achtenswerten Beweggründe des Angeklagten nur der „äußeren Form nach“ eingehalten (S. 125), jedoch „ihrem Sinn nach verletzt“ (S. 126). Gleichzeitig liege ein Verstoß unmittelbar gegen Art. 103 I GG vor. – Die dogmatische Einordnung des Falls bereitet Probleme, da keine Norm der StPO recht passen will. Entsprechend unpräzise ist die Annahme des Senats, die genannten Bestimmungen seien „ihrem Sinn nach“ verletzt. Dennoch bedurfte es keiner direkten Anwendung von Art. 103 I i. V. m. Art. 4 GG, denn das Gericht hat die grundrechtliche Position bei seiner Ermessensausübung hinsichtlich der Terminbestimmung (§ 213 StPO) oder der Unterbrechung der Hauptverhandlung (§ 228 I StPO) zu berücksichtigen.134 § 231 II StPO erlaubt die Fortsetzung der Hauptverhandlung bei eigenmächtiger Entfernung des Angeklagten. Darin sieht BGHSt 19, 144 (oben Fall 242) eine Ausnahme vom Grundsatz der ständigen Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung (S. 148). „Eine derart die Rechte des Angeklagten einschränkende Vorschrift darf daher nicht ausdehnend ausgelegt werden“. – Der Senat hätte die Rechte des Angeklagten grundrechtlich absichern können (Art. 103 I). Aus dem rechtseinschränkenden Charakter der Norm folgert der Senat das Verbot einer ausdehnenden Auslegung, nicht das Gebot enger Interpretation. Fall 261 (BGHSt 26, 228): Bei der Prüfung einer weiteren Norm, die das Anwesenheitsrecht des Angeklagten in der Hauptverhandlung beschneidet (§ 231a StPO für die selbst herbeigeführte Verhandlungsunfähigkeit), geht der BGH zunächst schulmäßig vor: Es sei die Regelungsabsicht des Gesetzgebers zu ermitteln und zu prü134 Eine direkte Anwendung des Art. 103 I GG, zumindest aber eine Analogie liegt auch in BGHSt 25, 252 = oben Fall 253 zugrunde; ähnlich BGHSt 44, 46 mit einer Abwägung zwischen dem Gebot effektiver Verteidigung und dem Interesse der Strafverfolgung, die im Ergebnis zur analogen Anwendung des § 97 StPO (Beschlagnahmeverbot) i. V. m. verfassungsrechtlichen Normen führt.

6. Sonstiger Einfluß von Grundrechten auf die Auslegung

429

fen, ob der vorliegende Fall davon erfaßt und die Regelungsabsicht hinreichend im Wortlaut zum Ausdruck gekommen ist (S. 229). „Einer Auslegung, die sich in diesem Rahmen hält, steht der Ausnahmecharakter der Norm nicht entgegen.“ Andererseits erfordere es der Gesetzeszweck nicht, den Angeklagten gegen seinen Willen von der Hauptverhandlung fernzuhalten. „Eine solche Auslegung würde den Anspruch der Angeklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) stärker als unerläßlich beeinträchtigen und damit das Übermaßverbot verletzen“ (S. 234). – Es kommt mithin auf den mit den üblichen Auslegungsmethoden gewonnenen Regelungszweck an, nicht aber – worauf die Beschwerdeführer sich berufen haben – auf den Charakter der Norm als (grundrechtseinschränkende) Ausnahmevorschrift. Fall 262 (BGHSt 26, 298 – „Zufallsfunde“): § 100a StPO läßt die Überwachung des Fernmeldeverkehrs zu, wenn der Verdacht einer Katalogtat besteht. Wie steht es mit dabei gewonnenen „Zufallserkenntnissen“, die eine dritte Person (z. B. den Anwalt) betreffen? Der Senat ist der Ansicht, daß einer Verwertung nichts entgegensteht, wenn ein Zusammenhang zu den in § 100a genannten Katalogtaten besteht. Denn „in einem solchen Fall könnte diese dritte Person auch selbst überwacht und könnten die dabei gewonnenen Erkenntnisse dann unmittelbar gegen sie verwertet werden“ (S. 302). Die enge Auslegung (Beschränkung auf eine Katalogtat) entspreche der Bedeutung des Grundrechts der Unverletzbarkeit des Fernmeldegeheimnisses (S. 303) und den „vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Rechtsgrundsätzen“ zur Wechselwirkung135. „Der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit läßt eine Beschränkung von Grundrechtspositionen nur auf das zum Schutz des von der Verfassung anerkannten Rechtsgutes unbedingt Notwendige zu . . .“ (S. 304). – Die Lösung zeigt den geringen Ertrag und die fehlende Präzision der Wechselwirkungslehre: Zur Verwertung von Zufallsfunden gab es zum damaligen Zeitpunkt keine Bestimmung, vor allem nicht, soweit dritte Personen betroffen waren.136 Nimmt man aber den Grundrechtsschutz ernst, so muß es für den Eingriff in die Grundrechtsposition des Dritten – daß mit der Verwertung der Zufallsfunde ein solcher Eingriff vorliegt, bejaht auch der Senat (siehe oben) – wenigstens eine Eingriffsgrundlage geben.137 Die vom BGH gefundene Kompromißlösung ist zwar vernünftig, aber sie erfolgt freischwebend, wie die hypothetische Erwägung zeigt, wonach die dritte Person überwacht werden „könnte“ (wenn sie selbst verdächtig wäre). BGHSt 36, 192 (oben Fall 112) ist der Ansicht, daß die Anordnung der Erzwingungshaft ein mit der Untersuchungshaft vergleichbarer Eingriff in das Freiheitsrecht des Art. 104 I GG sei und deshalb als „Verhaftung“ i. S. des § 304 V StPO verstanden werden und die Möglichkeit der Beschwerde gegeben sein müsse. Vom Wortsinn her sei das möglich. Zudem müßten Vorschriften, die „das gerichtliche Verfahren einer Freiheitsbeschränkung regeln, . . . so ausgelegt werden, daß das Auslegungsergebnis der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf persönliche Freiheit Rechnung trägt“ (S. 195 f.). Wenn die Beschwerdemöglichkeit schon bei einer

135

Vgl. insoweit oben S. 424. Siehe heute § 100b V StPO, eingefügt durch das OrgKG 1992, der die Frage in Anlehnung an die Rechtsprechung des BGH regelt. 137 Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage, auch wenn „nur“ Art. 2 GG betroffen ist, betont z. B. BGHSt 44, 13 (16) = oben Fall 181 in einer schulmäßigen Grundrechtsprüfung. 136

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V. Systematik

Beschlagnahme bestehe, müsse dies erst recht auch für die Erzwingungshaft gelten (S. 196). Dagegen hatte BGHSt 30, 52 aus grammatikalisch-systematischen und entstehungsgeschichtlichen Erwägungen gegenteilig argumentiert und kein Wort zur verfassungsrechtlichen Situation verloren.

Insgesamt sollte der Einfluß der hier erörterten Grundrechte138 auf die Normkonkretisierung nicht überschätzt werden. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird weitgehend in der Strafzumessung Rechnung getragen, es sei denn, die Norm selbst unterliegt verfassungsrechtlichen Zweifeln. Die speziellen Freiheitsgrundrechte fließen über die Lehre von der Wechselwirkung zwar in die Auslegung ein, aber angesichts vager Maßstäbe ist der inhaltliche Ertrag nicht groß. Zuweilen beschränkt sich die Wirkung der Grundrechte darauf, in Zweifelsfällen ein Argument für eine enge Auslegung oder gegen die Strafbarkeit zu liefern. Nicht selten zeigt sich die Neigung der Gerichte, die „einfachen“ Auslegungskriterien, die konkretere Ergebnisse liefern könnten, zu vernachlässigen. Ein Sonderfall ist der strafrechtliche Ehrenschutz auf dem Gebiet des politischen Meinungskampfes: Insoweit besteht die Aufgabe der Gerichte nicht in einer Normkonkretisierung, sondern in einer nach verfassungsgerichtlichen Vorgaben vorzunehmenden Güterabwägung. Größeren Einfluß auf die Norminterpretation als die speziellen Freiheitsrechte haben die verfahrensrechtlichen Grundrechte des Beschuldigten.

7. Bestimmtheitsgebot a) Einführung Als Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips verlangt das Bestimmtheitsgebot, daß der Gesetzgeber selbst die Voraussetzungen und Folgen strafbaren Verhaltens hinreichend genau regelt. Damit soll zum einen gewährleistet werden, daß die Legislative, nicht aber Exekutive oder Judikative die wesentlichen Entscheidungen trifft, zum anderen soll der Normadressat den Bereich strafbaren Verhaltens erkennen und sich darauf einstellen können.139 Was der Gesetzgeber beachten muß, um den Anforderungen gesetzlicher Bestimmtheit zu genügen, hat das BVerfG – und ihm folgend der BGH – in einer Vielzahl von Entscheidungen zu konkretisieren versucht und herausgestellt, daß (1) auch im Strafrecht auf allgemeine, unbestimmte140 und wertausfüllungsbedürftige Begriffe sowie Generalklauseln zurückgegriffen werden dürfe und müsse, um der Vielgestaltigkeit des Lebens Rechnung zu tragen,141 138 Zum Einfluß von Art. 3 I GG auf die Auslegung siehe unten V 8 c und VI 3; zu Art. 103 II GG im sogleich folgenden Abschnitt. 139 Zu diesem zweifachen Normzweck siehe z. B. BVerfGE 105, 135 (153); 92, 1 (12); 75, 329 (341); 73, 206 (234 f.); BGHSt 42, 79, 83; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 103, Stand: 12/1992, Rn. 179 f.

7. Bestimmtheitsgebot

431

(2) der Anwendungsbereich der Norm durch die üblichen Auslegungsmethoden ermittelbar sein muß142, und zwar in einer für den Bürger vorhersehbaren Weise143, die Auslegungsbedürftigkeit an sich der Bestimmtheit nicht entgegensteht144, selbst wenn die allgemeinen Begriffe in besonderem Maß der Deutung durch den Richter bedürfen bzw. an die Auslegung durch den Richter besondere Anforderungen stellen145, Grenzfälle, in denen über die Strafbarkeit Unklarheit besteht, unvermeidlich sind146, (3) für den Normadressaten Tragweite und Anwendungsbereich der Strafvorschriften „schon aus dem Gesetz selbst“ erkennbar sein müssen147, daß der Normadressat jedenfalls im Regelfall die Strafbarkeit eines Verhaltens vorhersehen, im Grenzfall wenigstens das Risiko der Strafbarkeit erkennen können muß148, daß in Grenzfällen die strafrechtlichen Irrtumsregelungen angemessene Lösungen ermöglichen können149, (4) es wegen der notwendigen Vorhersehbarkeit für die Bestimmung des möglichen Wortsinns auf die Perspektive des Bürgers ankommt (BVerfGE 71, 108 [115]),

140 Daß „unbestimmte“ Begriffe dem Bestimmtheitsgebot genügen können (so z. B. BVerfGE 45, 363 [371]; NStZ 2000, 595 [596]); 1991, 383), erscheint auf den ersten Blick mißverständlich; näher Lampe, JR 1982, 430. 141 Z. B. BVerfGE 92, 1 (12); 75, 329 (341); 45, 363 (371); 37, 201 (208); 28, 175 (183); 26, 41 (42); 4, 352 (358); NStZ 2000, 595 (596); BGHSt 37, 266 (273 f.); 30, 285 (287); 23, 40 (41); 18, 359 (362). 142 BVerfGE 57, 250 (262) m. w. N.; BGHSt 43, 381 (406); 28, 129 (134); 27, 318 (321). 143 BVerfGE 73, 206 (237). Oft wird kumulativ formuliert, daß der Anwendungsbereich für den Bürger erkennbar sein und sich durch Auslegung ermitteln lassen muß (BVerfGE 105, 135 [153] und BVerfGE 57, 250 [262], jeweils m. w. N.; BGHSt 42, 79 [83]). Das läßt aber offen, wie sich die beiden Anforderungen zueinander verhalten. Besser trifft deshalb die Formulierung, daß eine an Wortlaut und Gesetzeszweck orientierte Auslegung die Ermittlung des Anwendungsbereich „in einer für den Bürger hinreichend vorhersehbaren Weise“ ermöglichen muß (vgl. BVerfGE 73, 206 [237]) oder daß der Norminhalt mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden ermittelbar sein muß, damit der Einzelne den Bereich des Strafbaren erkennen kann (vgl. BVerfGE 45, 363 [372]). Die Aussagen des BVerfG hierzu sind nicht auf einen Nenner zu bringen (siehe auch zum nächsten Punkt im Text und am Ende des Abschnitts). 144 BVerfGE 63, 312 (324) für das Steuerrecht; BGHSt 42, 79 (83); 3, 180 (181): Auch ein unbestimmt gefaßtes Tatbestandsmerkmal bindet den Richter! 145 BVerfGE 92, 1 (12); 75, 329 (341); 71, 108 (114 f.); 11, 234 (237); NJW 2003, 1030; BGHSt 42, 79 (83); 37, 266 (273 f.); 23, 40 (41). 146 BVerfG NJW 1995, 2776 (2777); 1998, 2589 (2590). 147 BVerfGE 105, 135 (153); ähnlich BVerfGE 75, 329 (341). 148 BVerfGE 92, 1 (12); 73, 206 (235); NJW 1995, 2776 (2777); ohne Einschränkung Regel-/Grenzfall: BGHSt 34, 171 (178). 149 BVerfGE 75, 329 (343); BGHSt 30, 285 (288).

432

V. Systematik

(5) eine unbestimmte Norm durch eine gefestigte Rechtsprechung die notwendige Bestimmtheit gewinnen kann150, es dem Richter aber versagt ist, ein unbestimmtes Gesetz von sich aus nachzubessern (BVerfGE 105, 135 [153] m. w. N.), (6) die Anforderungen an die Präzisierung mit der Höhe der Strafdrohung steigt151, (7) insgesamt die Anforderungen an den Gesetzgeber nicht übersteigert werden dürfen, weil das Gesetz sonst zu starr und kasuistisch würde152. Die gefundenen, im einzelnen nicht unumstrittenen Kriterien finden sich in der sogleich darzustellenden Rechtsprechung des BGH wieder. Sie haben in der Praxis des BVerfG zu keinen nennenswerten Beanstandungen von Strafgesetzen geführt,153 sondern im Gegenteil den Eindruck erweckt, als würde der Bestimmtheitsgrundsatz dem Gesetzgeber keine ernstzunehmenden Hindernisse bereiten154 und damit leerlaufen. Der großzügige Maßstab ließ auch Extremfälle passieren, wie etwa den gesetzlich kaum konkretisierten Beleidigungstatbestand des § 185 StGB („Die Beleidigung wird . . . bestraft.“, BVerfGE 93, 266 [291 f.])155, die nur beispielhaft benannten „besonders schweren Fälle“ (BVerfGE 45, 363), 150 BVerfGE 93, 266 (292): „. . . hat der Begriff der Beleidigung jedenfalls durch die über hundertjährige und im wesentlichen einhellige Rechtsprechung einen hinreichend klaren Inhalt erlangt . . .“; 73, 206 (243); 57, 250 (262); 45, 363 (372); 37, 201 (208); 28, 175 (185); 26, 41 (43); NJW 2003, 1030 (1031); BGHSt 30, 285 (287) mit vielen Beispielen; zurückhaltend BVerfGE 92, 1 (18 f.); krit.: Kunig, in: von Münch/ Kunig, Art. 103, Rn. 29; abl.: Amelung, NJW 1995, 2584 (2587, l. Sp.); Seebode, JZ 2004, 305 (307); Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1, Rn. 46; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, Art. 103, Stand: 12/1992, Rn. 225: Ein nicht hinreichend bestimmtes Gesetz sei nicht richterlich nachzubessern, sondern verfassungswidrig! Es bestehe kein komplementärer Konkretisierungsauftrag an den Richter. 151 BVerfGE 105, 135 (155); 75, 329 (342); 14, 245 (251); BGHSt 32, 162 (163); 27, 318 (321); abl. z. B. Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 103 GG, Rn. 29; Wassermann, in: AK-GG, Art. 103, Rn. 52; Hanack, JZ 1970, 41 (44, Fn. 40); Schroeder, JZ 1969, 775 (778, l. Sp.). 152 BVerfGE 75, 329 (342 f.); 45, 363 (371); 26, 41 (43); 14, 245 (251); BGHSt 27, 318 (321); 18, 359 (362). 153 Vgl. Gribbohm, in: LK-StGB11, § 1, Rn. 53; Schulze-Fielitz (in: Dreier, Art. 103 II, Rn. 36 und Rn. 38) erwähnt zwei Ausnahmen. 154 Krit. zur Leistungsfähigkeit der Kriterien z. B. Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 103, Rn. 29 f.; Nolte, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 103, Rn. 144; Hanack, JZ 1970, 41 (44); Kühl, StV 1987, 122 (125); Seebode, JZ 2004, 305 (306); SchulzeFielitz (in: Dreier, Art. 103 II, Rn. 38) weist auf die s. E. immerhin bestehende präventive Wirkung des Bestimmtheitsgebots als „regulative Idee“ hin. 155 Bezeichnend LG Freiburg (NJW 2002, 3645 [3646]) bei Beantwortung der Frage, ob sexuelle Belästigungen den Tatbestand der Beleidigung erfüllen: „Wann – allgemein – tatbestandlich eine Beleidigung gegeben ist, läßt sich erst nach Abwägung und Bewertung aller Umstände . . . entscheiden. Ein abstrakter Maßstab für die Bestimmung des in § 185 StGB als ,Beleidigung‘ bezeichneten Verhaltens ist nicht bestimmbar“.

7. Bestimmtheitsgebot

433

der unbenannte besonders schwere Fall des Totschlags (§ 212 II StGB, BVerfG JR 1979, 28)156, obwohl er zur lebenslangen Freiheitsstrafe führt und bereits bei einigen Mordmerkmalen die Bestimmtheit zweifelhaft ist („niedrige Beweggründe“), die nur rudimentär in § 13 StGB geregelten Voraussetzungen des unechten Unterlassungsdelikts157 und – die Seriosität der gesamten Thematik bis heute untergrabend – der ehemalige Übertretungstatbestand des „groben Unfugs“ (BVerfGE 26, 41)158. Ob die Nichtigkeitserklärung der Vermögensstrafe (§ 43a StGB) durch BVerfGE 105, 135 zu einer Trendumkehr führen wird, ist noch nicht abzusehen; die abstrakten Kriterien böten dazu ausreichend Spielraum. b) Verfahrensweise des BGH Wie verfährt nun der BGH bei bedenklichen Normen, die er ebenso wie das BVerfG auf die Einhaltung der Gesetzesbestimmtheit zu prüfen und notfalls – bislang kam ein solcher Fall nicht vor – vorzulegen hat? Ist es ein realistischer und handhabbarer Maßstab oder nur eine Leerformel, wenn BGHSt 38, 138 (140) formuliert: „Das allgemeine Bestimmtheitsgebot verlangt, daß Sanktionen androhende Normen das Erlaubte vom Verbotenen deutlich abgrenzen.“ und BGHSt 17, 309 (320) sogar fordert, daß „das Gesetz die Strafbarkeit klar und zweifelsfrei bestimmt“?159 Entscheidet tatsächlich der Gesetzgeber selbst über den Anwendungsbereich oder statt dessen die Rechtsprechung je nach Einzelfall? BGHSt 4, 24 (oben Fall 204): Die Einschränkung der Einwilligung in eine Körperverletzung durch § 228 StGB (§ 226a a. F.) ist nach Ansicht des BGH aufgrund des Verweises auf die „guten Sitten“ rechtsstaatlich bedenklich; die Norm müsse deshalb eng ausgelegt werden, d.h., es müsse zweifellos kriminelles Unrecht vorliegen (S. 32). 156 Siehe die krit. Anm. von Bruns, JR 1979, 28 (30, r. Sp.): „Bloßes Lippenbekenntnis“ des BVerfG zum Bestimmtheitsgebot. 157 BVerfG NJW 2003, 1030. Mit gutem Grund sieht Schmitz (in: MüKo-StGB, § 1, Rn. 47 f.) im Verzicht des Gesetzgebers, die Voraussetzungen des Unterlassungsdelikts und der fahrlässigen Tat zu umschreiben, einen Verstoß gegen Art. 103 II GG. 158 Das Bestimmtheitsgebot hat mit dem „groben Unfug“ sein Waterloo erlebt wie das Analogieverbot mit dem „Forstdiebstahl“ (BGHSt 10, 375 = oben Fall 57); die psychologische Wirkung dieser (als bedrohlich empfundenen) Einzelfälle kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. BVerfGE 26, 41 wird heute denn auch überwiegend als Fehlentscheidung eingestuft, z. B. Roxin, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 76; Rüping, in: BK-GG, Art. 103, Stand: 5/1990, Rn. 29; Schroeder, JZ 1969, 775 (780): „Wie muß . . . ein Straftatbestand noch aussehen, um vor dem BVerfG nicht bestehen zu können?“ 159 Der in BGHSt 17, 309 formulierte Anspruch ist von vornherein utopisch und droht, die ganze Thematik ins Lächerliche zu ziehen: Enthalten z. B. §§ 185, 266 StGB klare und zweifelsfreie Aussagen darüber, was eine Beleidigung bzw. eine Untreue ist? Die Aussage widerspricht im übrigen der vom BVerfG und BGH sonst geteilten Auffassung, daß Grenz- und Zweifelsfälle oft unvermeidbar sind.

434

V. Systematik

Fall 263 (BGHSt 22, 365): Ist die Tatbestandsalternative des „ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriffs“ in die Sicherheit des Straßenverkehrs (§ 315b I Nr. 3 StGB) ausreichend bestimmt? Der Senat bejaht das angesichts dessen, daß die näher umschriebenen Anwendungsfälle der Norm (Nr. 1 und 2) „maßstabsetzende Beispiele“ böten160; zudem grenze das weitere Erfordernis „ebensolcher Gefährlichkeit“ den Tatbestand „in einer für die richterliche Rechtsanwendung ausreichend klaren Weise“ ab (S. 367). Fall 264 (BGHSt 23, 40 – „Fanny Hill“): Der Senat sieht das Merkmal „unzüchtige Schrift“ (§ 184 StGB i. d. F. bis zum 4. StrRG) als hinreichend bestimmt an. Das Strafrecht könne nicht auf allgemeine Begriffe verzichten, auch wenn sie an die Auslegung durch den Richter besondere Anforderungen stellten (S. 41). Die in der Rechtsprechung gewonnene Konkretisierung beschreibt der Senat wie folgt: Eine Schrift sei unzüchtig, wenn sie das Scham- und Sittlichkeitsgefühl „des normalen Menschen“ in geschlechtlicher Beziehung in erheblicher Weise zu verletzen geeignet sei (S. 41 f.). „Es kommt darauf an, ob der Inhalt der Schrift den auf den Wertvorstellungen unserer Kultur beruhenden sittlichen Grundanschauungen der Gemeinschaft in geschlechtlicher Hinsicht zuwiderläuft“ (S. 42). Die Toleranzgrenze könne sich mit dem zeitbedingten Wandel der Anschauungen verändern. – Ob diese Ausführungen den Anforderungen an eine für den Bürger vorhersehbare Grenzziehung zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten genügen, ist sehr zweifelhaft.161 Fraglich ist auch, warum nicht der gleiche Ansatzpunkt wie in BGHSt 4, 24 gewählt wird: Die Norm ist rechtsstaatlich bedenklich (darüber herrscht kein Streit!), so daß zweifellos kriminelles Unrecht vorliegen und eine restriktive Auslegung gewählt werden muß. Fall 265 (BGHSt 27, 318): Ist die „bei Nässe“ geltende Geschwindigkeitsbeschränkung ausreichend bestimmt? Der BGH sieht für den Verkehrsteilnehmer kein Problem, denn der allgemeine Sprachgebrauch unterscheide zwischen Nässe und Feuchtigkeit; verbleibende Auslegungszweifel seien dem Betroffenen „zumutbar“ (S. 320), zumal andere Verhaltensregeln der StVO noch höhere Anforderungen an die Beurteilung durch den Verkehrsteilnehmer stellten (S. 321). In Anbetracht der Sanktionshöhe dürften die Anforderungen auch nicht überspannt werden. Fall 266 (BGHSt 29, 6): Der angeklagte Arzt verschrieb seinen heroinabhängigen Patienten Methadon, das diese in freier Verantwortung einnehmen konnten. Nach Ansicht des Senats hat der Arzt angesichts der naheliegenden Gefahr des Mißbrauchs gegen § 11 BtMG (a. F., vgl. § 13 I i. V. m. § 29 I Nr. 6 BtMG g. F.) verstoßen, der die Verschreibung von Betäubungsmitteln nur zuläßt, wenn dies „ärztlich begründet“ ist. Nähere Voraussetzungen bestimmt die Norm nicht, sie „ergeben sich jedoch mit der nach Art. 103 Abs. 2 GG gebotenen Bestimmtheit aus der Aufgabe des Arztes“ (S. 8). Auch die BtM-Verschreibungs-Verordnung müsse das Merkmal der ärztlichen Begründetheit nicht „in abschließender Weise verbindlich“ erläutern; vielmehr sei der Begriff „nach dem erweiterten Gesetzeszweck im Wege der Auslegung zu ermitteln“.

160

Ähnlich argumentiert BVerfGE 45, 363 bei den benannten Strafzumessungsgrün-

den. 161

Sehr krit. Hanack, JZ 1970, 41.

7. Bestimmtheitsgebot

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Fall 267 (BGHSt 30, 285): Die Verurteilung wegen Kreditbetrugs setzt u. a. voraus, daß der Täter „unrichtige oder unvollständige Unterlagen . . . vorlegt, die . . . für die Entscheidung erheblich sind“ (vgl. § 265b StGB). Der Senat sieht in diesen allgemeinen Begriffen keinen Widerspruch zu Art. 103 II GG. Es sei zu berücksichtigen, „ob die vom Gesetzgeber verwendeten Begriffe völlig neu sind oder an schon bisher benutzte und durch die Rechtsprechung umschriebene und präzisierte Begriffe anknüpfen können“ (S. 287).162 Daß die Feststellung eines Tatbestandsmerkmals eine „Bewertung“ voraussetze, sei keine Besonderheit des § 265b, sondern im Strafrecht allenthalben anzutreffen (S. 287 mit zahlreichen Beispielen). „In allen diesen Fällen muß der Bürger sein Handeln an der allgemeinen Rechtsüberzeugung und – soweit es um Tatbestände geht, die besondere Lebensbereiche betreffen – an den für diese Bereiche bestehenden besonderen Anschauungen messen; hierbei sind die von Rechtsprechung und Schrifttum gesetzten Maßstäbe von besonderer Bedeutung. So beraten, ist der Bürger in der Lage, mit hinreichender Sicherheit zu beurteilen, ob das von ihm ins Auge gefaßte Handeln die Voraussetzungen eines Straftatbestandes erfüllt“ (S. 288). In Ausnahmefällen hülfen die strafrechtlichen Irrtumsregeln. Hinsichtlich der Begriffe „Unrichtigkeit“ und „Unvollständigkeit“ könne auf bewährte und gefestigte Grundsätze zurückgegriffen werden (S. 289). Fall 268 (BGHSt 37, 266 – „mittelbare Parteienfinanzierung“): Liegt eine Steuerhinterziehung vor, wenn an einen Verband gezahlte Mitgliedsbeiträge der finanziellen Unterstützung von Parteien dienen und als „Betriebsausgaben“ geltend gemacht werden? Der BGH räumt ein, daß der in § 4 EStG definierte Begriff („Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlaßt sind“) zwar durch die Rechtsprechung feste Konturen erlangt habe, aber dennoch zweifelhafte Grenzfälle blieben (S. 273).163 Jedoch müsse auch das Strafrecht Begriffe verwenden, „die nicht eindeutig allgemeingültig umschrieben werden können [!] und die an die Auslegung durch den Richter besondere Anforderungen stellen“ (S. 273 f.). Daß zu vorliegender Konstellation ein Erlaß eines Landesfinanzministeriums und eine unterschiedliche Verwaltungspraxis der Bundesländer existiere, belege nicht die Unbestimmtheit der Norm (S. 274 f.). Fall 269 (BGHSt 42, 1; 33, 8; 32, 162 – „nicht geringe Menge“): Die erhebliche Erhöhung der Strafrahmen im BtM-Recht beim Vorliegen einer „nicht geringen Menge“ gebietet nach Ansicht des BGH eine Präzisierung, da sowohl Rechtsanwender als auch Rechtsunterworfener den maßgeblichen Grenzwert kennen müssen (BGHSt 33, 8 [9]). Nicht ausreichend sei die vom OLG angestrebte „wertende Auslegung mit Rücksicht auf den Einzelfall“ (BGHSt 42, 1 [3]). Vielmehr müßten die Grenzwerte (je nach BtM) zur eindeutigen Gesetzesanwendung „notwendig dezisionistisch“ festgelegt werden (S. 11). Auf den grundsätzlichen Einwand eines OLG, die Anwendung eines Verbrechenstatbestandes bei Cannabisprodukten verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, erwidert der BGH: „Es ist grundsätzlich 162 Besonders krit. zu diesem Argument Lampe, JR 1982, 430 (431, l. Sp.): Allein die Verwendung von Begriffen durch die Rechtsprechung verbürge nicht die verfassungsrechtlich notwendige Bestimmtheit. „Rationale Bedeutung“ könne das Verfahren des BGH nicht beanspruchen. 163 Da § 370 AO (Steuerhinterziehung) eine Blankettvorschrift ist, muß die dieses Blankett ausfüllende Vorschrift des Steuerrechts (§ 4 EStG) den Bestimmtheitsanforderungen genügen.

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V. Systematik

Sache des Gesetzgebers, den Bereich strafbaren Handelns unter Berücksichtigung der jeweiligen Lage im einzelnen festzulegen“ (S. 5). – Daß es sich bei der letzten Aussage um ein Lippenbekenntnis handelt, zeigt sich in der Festsetzung der Grenzwerte durch den BGH: Wenn der Bereich strafbaren Handelns wirklich im einzelnen – nach BGHSt 38, 138 (140): „deutlich“ – vom Gesetzgeber festzulegen wäre, weshalb darf die Rechtsprechung dies stellvertretend für ihn „dezisionistisch“ bei den so wichtigen Grenzwerten des BtM-Strafrechts tun? Fall 270 (BGHSt 43, 336): Fällt eine „Designer-Droge“ unter den Begriff des Arzneimittels gemäß § 2 AMG? Der BGH bejaht das. § 2 beschränke den Anwendungsbereich nicht auf „Heilmittel“ und habe sich damit vom Arzneimittelbegriff des allgemeinen Sprachgebrauchs gelöst (S. 338). Gegen den weiten Begriff bestünden gleichwohl keine Einwände aus dem Bestimmtheitsgebot (S. 342 f.). Der vom LG unternommene Versuch einer einschränkenden Auslegung widerspreche dem Wortlaut des AMG und würde im Ergebnis „statt mehr Rechtssicherheit zusätzliche Unsicherheit mit sich bringen“ (S. 343). Fall 271 (BGHSt 48, 360 – „großes Ausmaß“): Einen Vermögensverlust „großen Ausmaßes“ i. S. von § 263 III 2 Nr. 2 StGB sieht der Senat jedenfalls bei einem Wert von unter 50.000 Euro als nicht erreicht an. Der unbestimmt Begriff erhalte „erst in der Interpretation durch die Gerichte seine den Anforderungen der Rechtssicherheit gerecht werdenden Konturen“ (S. 361). Nur durch „richterrechtliche Konkretisierung im Wege der Auslegung“ sei die Strafzumessungsregel, die dem Bestimmtheitsgebot genügen müsse, für den Normadressaten vorhersehbar. Für die Grenzziehung bei 50.000 Euro, die Rechtssicherheit in der Praxis schaffe (S. 364), greift der Senat maßgeblich auf die Gesetzesentstehung zurück (S. 362 f.).

Der BGH zeigt sich gegenüber dem Gesetzgeber nicht minder großzügig als das BVerfG. Extrem liegen die Fälle, in denen auf außerrechtliche Wertvorstellungen verwiesen wird (BGHSt 4, 24 und 23, 40). Insbesondere die Bemühungen, den Begriff „unzüchtige“ Schrift zu konkretisieren, können kaum als gelungen gelten. Auch bei der Definition dessen, was „ärztlich begründet“ bedeutet (BGHSt 29, 6), erscheint die Umschreibung durch den BGH unbestimmter als das Tatbestandsmerkmal selbst. Hinsichtlich des Verhältnisses Gesetzgeber/ Richter bietet die Rechtsprechung zur „nicht geringen Menge“ im BtM-Recht das frappierendste Beispiel dafür, daß keineswegs die Legislative „deutlich“, „klar“, „im einzelnen“ oder sogar „zweifelsfrei“ festlegt, was strafbar ist. Anders als bei den „minder/besonders schweren Fällen“, bei denen die Vielgestaltigkeit des Lebens eine gesetzgeberische Abstraktion erschwert, wäre dies bei der Fixierung der Grenzwerte im BtM-Strafrecht ohne weiteres möglich.164 Hinnehmbar ist die richterliche Festlegung („Dezision“) nur deshalb, weil außer 164 Entsprechend liegt es bei der so bedeutsamen Grenze der absoluten Fahruntüchtigkeit i. S. von §§ 315c, 316 StGB. Da es sich dabei „eigentlich“ um eine legislative Aufgabe handelt (vgl. z. B. § 24a StVG), ist es kein Zufall, daß die Herabsetzung des Grenzwerts von 1,3 auf 1,1 % durch die Rechtsprechung als Problematik des – an den Gesetzgeber gerichteten! – Rückwirkungsverbot gesehen wird; näher dazu Hettinger/ Engländer, in: FS für Meyer-Goßner, S. 145 ff. Daß diese Vernachlässigung des Bestimmtheitsgebots durch den Gesetzgeber für den Täter von Nachteil sein soll, da

7. Bestimmtheitsgebot

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Zweifel steht, daß bei Überschreitung der großzügig bemessenen Grenzen wirklich erhebliche Mengen vorliegen (bei THC 500 Konsumeinheiten!); Einwände aus dem Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit sind entsprechend fernliegend. Ähnliches gilt für die Konkretisierung des „großen Ausmaßes“ i. S. von § 263 III StGB, wofür BGHSt 48, 360 immerhin Anhaltspunkte in den Gesetzesmaterialien nutzen kann. Aber ist damit der Anwendungsbereich der Norm aus dem Gesetz selbst erkennbar, und wäre die Vorschrift ohne diese Anhaltspunkte verfassungswidrig? Weitere Problemfälle in diesem Zusammenhang bieten die Tatbestandsmerkmale „große Zahl von Menschen“ in § 306b I StGB und „in großem Ausmaß Steuern verkürzt“ in § 370a AO. BGH NJW 2004, 2990 hält in einem obiter dictum § 370a AO mangels Bestimmtheit für verfassungswidrig,165 denn der Normadressat könne „Tragweite und Anwendungsbereich“ der Norm nicht durch „Auslegung . . . ermitteln und konkretisieren“ (S. 2991, r. Sp.). Insbesondere sei unklar, ob es bei einer Vielzahl von Steuerhinterziehungen auf den Einzelfall oder auf eine Gesamtbetrachtung ankommen soll. Die im Strafzumessungsrecht „noch vertretbare Unbestimmtheit“ (Hinweis auf BGHSt 48, 360) sei bei einem Tatbestand „nicht mehr hinnehmbar“. – Der Senat will offenbar im Anschluß an BVerfGE 105, 135 die Zügel enger fassen. Man mag das in der Tendenz begrüßen, aber in Hinblick auf die bereits erörterten Problemfälle erscheint es wenig plausibel, allein § 370a AO für verfassungswidrig zu erklären. Denn auch bei dieser Norm würde es der Rechtsprechung natürlich gelingen, vorhersehbare Grenzen festzulegen und damit Rechtssicherheit „zu schaffen“ (vgl. oben BGHSt 48, 360). Es ist zu bezweifeln, daß der Senat hinreichende Konkretisierungsbemühungen unternommen hat, zumal ein obiter dictum hierfür kaum der geeignete Rahmen ist.166 Nicht überzeugend ist ferner der unterschiedliche Maßstab bei Tatbestandsmerkmal einerseits (§ 370a AO) und Regelbeispiel andererseits (§ 263 III StGB), denn die etwaige Unbestimmtheit benannter Strafzumessungsregeln kann nicht durch die bei der Strafzumessung „gebotene Gesamtwürdigung“ (S. 2991, r. Sp.) kompensiert werden. Schließlich rechtfertigen auch die Besonderheiten der Steuerdelikte (Einzelfall- oder Gesamtbetrachtung?) keine Abweichung von der bisherigen Linie, denn beim Tatbestandsmerkmal der „nicht geringen Menge“ im Betäubungsmittelrecht stellen sich ganz ähnliche Fragen. Aber auf diese Parallele sowie die oben erörterten Präjudizien des BGH zum Bestimmtheitsgebot geht der Senat bezeichnenderweise gar nicht ein. nach h. M. ein Rechtsprechungswandel nicht mit dem Rückwirkungsverbot kollidiert, ist nur schwerlich einzusehen. 165 Ebenso z. B. Park, wistra 2003, 328; Zweifel bereits bei BGH NJW 2004, 1885 (1886, r. Sp.). 166 Die Entscheidung ist sowohl prozeßrechtlich als auch begründungstechnisch ganz fragwürdig: Wegen der „erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken“ hat der Senat mit Zustimmung des GBA die Strafverfolgung nach § 154a StPO auf den Grundtatbestand beschränkt (BGH NJW 2004, 2990 [2991, l. Sp.]), was mit § 154a StPO und der Vorlagepflicht des Art. 100 I GG schwerlich zu vereinbaren ist. Erst gegen Ende teilt der Senat mit, daß das Urteil des LG auch sonst fehlerhaft sei und deshalb auf eine Vorlage an das BVerfG verzichtet werde (S. 2992, l. Sp.). Offensichtlich will der Senat keine Gelegenheit verstreichen lassen, seine rechtspolitische Ansicht zu § 370a AO kundzutun. Mit gutem Urteilsstil hat das nichts zu tun.

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V. Systematik

Als Ertrag aus den dargestellten Entscheidungen hinsichtlich der Anforderungen an den Gesetzgeber bleibt noch zu erwähnen, daß dieser durch das Bestimmtheitsgebot nicht gehindert ist, Begriffe mit einer anderen als der nach der Alltagssprache üblichen Bedeutung zu versehen („Arzneimittel“, BGHSt 43, 336). c) Insbesondere zum Kriterium der Vorhersehbarkeit167 Auf die Vorhersehbarkeit des Anwendungsbereichs für den Betroffenen – der zweite Gedanke, auf dem das Bestimmtheitsgebot beruht – rekurrieren von den genannten Entscheidungen BGHSt 27, 318 („bei Nässe“) und 30, 285 („Kreditbetrug“). Dabei mutet vor allem BGHSt 30, 285 dem Bürger einiges zu, wenn dieser sich bei der Abschätzung des Strafbarkeitsbereichs von den in „Rechtsprechung und Schrifttum gesetzten Maßstäben . . . beraten“ lassen muß. Also nicht der Blick ins Gesetz und sein Verständnis nach dem natürlichen Wortsinn bilden die Grundlage für die Erkennbarkeit des Anwendungsbereichs, sondern das Gesetz in seiner praktischen Anwendung, über die der potentielle Straftäter sich informieren muß. Wenn man die Einsichten aus BGHSt 37, 266 hinzunimmt, daß verbleibende Grenzfälle und eine unterschiedliche Handhabung der Gesetze in der Verwaltungspraxis – für die Rechtsprechung gilt nichts anderes – der Bestimmtheit nicht entgegenstehen, dann bleibt von einer verläßlichen Orientierung für den Betroffenen nicht viel übrig. Einen ganz anderen, freilich wenig lebensnahen Standpunkt zum Kriterium der Vorhersehbarkeit hat verschiedentlich das BVerfG eingenommen: „Prinzipiell muß der Normadressat mithin anhand der gesetzlichen Regelung voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist; in Grenzfällen geht er dann, für ihn erkennbar, das Risiko einer Bestrafung ein. Beides ist nur möglich, wenn in erster Linie der für den Adressaten verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Straftatbestands maßgebend ist.“ (BVerfGE 75, 329 [341]) Der Gesetzgeber muß die „Voraussetzungen der Strafbarkeit so genau umschreiben, daß Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen . . .“. (BVerfGE 105, 135 [153])

Dieser Rekurs auf eine bürgernahe Perspektive bei der Prüfung der Vorhersehbarkeit und Erkennbarkeit des Strafbarkeitsbereichs, insbesondere die propagierte Maßgeblichkeit des Wortsinns aus Sicht des Bürgers ist ein nie eingelöstes und realitätsfernes168 Ideal, das angesichts seiner fehlenden Umsetzung letztlich eine Schimäre bleibt. Das BVerfG sagt an anderer Stelle selbst, daß die Vorhersehbarkeit durch eine tradierte Rechtsprechung gewährleistet sein kann 167 An dieser Stelle geht es nur um die Prüfung der Norm anhand des Bestimmtheitsgebots mit Hilfe des Kriteriums der Vorhersehbarkeit. Zur Frage, ob auch die Rechtsprechung diesen Anforderungen genügen muß, erst unten d, e. 168 Kühl, StV 1987, 122 (124, l. Sp.); Schmidhäuser, in: GedS für Martens, S. 240.

7. Bestimmtheitsgebot

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(z. B. NJW 2003, 1030). Unklar ist auch der Zusammenhang zwischen der Vorhersehbarkeit für den Betroffenen und der Ermittelbarkeit des Anwendungsbereichs durch „Auslegung“. Beide Kriterien nennt des BVerfG oft in einem Atemzug, ohne deren Verhältnis zueinander zu klären.169 Die Erkennbarkeit des Anwendungsbereichs wäre aber kaum gewährleistet, wenn der Bürger wie ein professioneller Gesetzesinterpret erst die üblichen Auslegungsfaktoren heranziehen muß, um die Reichweite der Norm abzuschätzen.170 Jedenfalls hat das BVerfG keine Norm als verfassungswidrig eingestuft, nur weil der potentielle Täter – gleich, ob man hier einen „individualpsychologischen“ Maßstab oder eine „generalisierende“, idealtypische Betrachtungsweise zugrunde legt171 – bei seinem, dem Alltagssprachgebrauch folgenden Wortverständnis die Strafbarkeit nicht hätte vorhersehen können.172 Was soll z. B. bei den zahlreichen Normen gelten, die aufgrund der Verwendung von juristischen Fachtermini von vornherein kein „natürliches“ Verständnis erlauben? Soll der Bürger aus seinem unbefangenen Horizont und „aus dem Gesetz selbst“ erkennen können, was zum geschützten „Vermögen“ i. S. von § 263 StGB gehört oder wann eine „Rechtspflicht“ als Voraussetzung des Unterlassungsdelikts vorliegt?173 Darf einem Alltagsbegriff durch die Rechtsprechung eine fachsprachliche Bedeutung gegeben werden? („Urkunde“174) Was soll gelten, wenn der relevante Normtext erst aus einer Vielzahl von Hilfsnormen und allgemeinen Bestimmungen konstituiert werden muß? (Vom Nebenstrafrecht ganz zu schweigen.) Und wo soll der Bürger ansetzen, wenn wie im Bereich der Beleidigungsdelikte neben den strafrechtlichen Bestimmungen (§§ 185, 193 StGB) noch eine Grundrechtsabwägung (Art. 5 GG) über die Strafbarkeit entscheidet?175 Fall 272 (BGHSt 18, 359): § 7 I 1 StVO a. F. bestimmte, daß jedes Fahrzeug „einen zur selbständigen Leitung geeigneten Führer“ haben muß. Der Fahrzeughalter 169

Vgl. oben Fn. 143 und den dazugehörigen Text. Wenn der Anwendungsbereich erst mit den canones ermittelbar ist, wie kann ihn dann der Bürger schon anhand des Normtextes erkennen? Vgl. etwa BGHSt 44, 175 (177) = Fall 45 zum Merkmal der „großen Zahl von Menschen“: „Dessen Auslegung ist nicht bereits aufgrund des Wortlauts der Norm abschließend möglich“. 171 Vgl. dazu Rüping, in: BK-GG, Art. 103, Stand: 5/1990, Rn. 24. 172 Auch hier kann BVerfGE 105, 135 wieder als Ausnahme gesehen werden, wobei dort der Aspekt, daß der Gesetzgeber die nötigen Voraussetzungen nicht hinreichend bestimmt habe, ganz im Vordergrund steht. „Dadurch“ (S. 152) fehlt es zwangsläufig auch an der Vorhersehbarkeit für den Normadressaten. 173 BVerfG NJW 2003, 1030 konstatiert, daß der „Kreis möglicher Garantenpflichten nicht ohne weiteres dem StGB zu entnehmen“ ist, sieht die Voraussehbarkeit aber durch eine tradierte Rechtsprechung als gewährleistet an. 174 Vgl. auch unten BGHSt 38, 281 („Kreditkarte“) = Fall 274. 175 Was das BVerfG insoweit verlangt, ist schon für die Fachgerichte völlig unklar, vgl. Zaczyk, JR 2003, 36. Aus Sicht des Bürgers ist diese Unsicherheit allein deshalb hinnehmbar, weil das BVerfG nur zu seinen Gunsten eingreifen kann. Ob aber im Beleidigungsrecht von Gesetzesbestimmtheit gesprochen werden kann, ist mehr als zweifelhaft. Unter die Merkmale des § 193 StGB wird praktisch gar nicht mehr subsumiert (Zaczyk, S. 37). Vgl. auch oben Fn. 150 und 155. 170

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V. Systematik

durfte gemäß § 7 I 3 die Inbetriebnahme nicht zulassen, „wenn das Fahrzeug . . . den Vorschriften nicht entspricht“. Der BGH sieht in § 7 I 1 (a. F.) eine selbständige Strafvorschrift, die sich auch an den Fahrzeughalter wende und diesem verbiete, das Fahrzeug einer fahruntüchtigen Person zu überlassen (S. 361). Der Wortlaut sei „so hinreichend bestimmt, daß sich jeder Halter ohne besondere Mühe oder Zweifel danach richten kann“ (S. 362). – Wie soll der Fahrzeughalter anhand der gesetzlichen Regelung erkennen, daß er überhaupt Adressat der Vorschrift ist? Anders als Satz 3, der sich ausdrücklich an den Halter wendet, ist das bei unbefangener Lektüre des Satzes 1 nicht ersichtlich.

Daß zur Überprüfung der Vorhersehbarkeit – ebenso wie bei der Grenze des möglichen Wortsinnes – grundsätzlich auf empirisch-linguistische Erhebungen zurückgegriffen werden könnte, wurde bereits im Kapitel III 7 c dargelegt. Damit würde dem theoretischen Ausgangspunkt des BVerfG zwar Rechnung getragen, andererseits aber ein völlig neues Instrumentarium eingeführt, das seinerseits mit erheblichen methodischen Unklarheiten belastet ist.176 Die Ernüchterung wird noch verstärkt, wenn man sich die weitgehende Wirkungslosigkeit des Verbotsirrtums (§ 17 StGB) in der Praxis vergegenwärtigt. Sowohl BVerfG als auch BGH haben zwar auf die strafrechtlichen Irrtumsregelungen als möglichen Ausweg in Grenzfällen hingewiesen,177 aber selbst bei einer unübersichtlichen und kaum zu durchschauenden Rechtslage hilft die Rechtsprechung dem Betroffenen nicht aus seiner Lage.178 d) Von der Prüfung der Norm zur Prüfung ihrer Auslegung In Anbetracht der weitgehenden Unergiebigkeit der Bestimmtheitsprüfung auf Normebene wundert es nicht, daß die gesamte Problematik in den Bereich der Normkonkretisierung verlagert wird. Schon in der ersten der oben dargestellten Entscheidungen (BGHSt 4, 24) wurde deutlich, daß der BGH in Zweifelsfällen die aus Art. 103 II GG herrührenden Einwände gegen die Strafnorm mit einer bestimmten (hier: restriktiven) Auslegung zu entkräften sucht. Und BGHSt 29, 73 (80) wendet sich gegen eine ausdehnende Gesetzesanwendung mit der allgemeinen Aussage, „daß bei der Auslegung eines Strafgesetzes dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot Rechnung zu tragen ist“. Weshalb aber das Bestimmtheitsgebot, das sich primär an den Gesetzgeber selbst wendet, auch für die Judikative bedeutsam sein soll, ist methodisch nicht leicht zu begründen. Die Frage wird einstweilen zurückgestellt, bis die einschlägigen Beispiele vorgestellt wurden. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang noch auf den Einfluß 176

Vgl. zu den Schwierigkeiten oben III 7 c. BVerfGE 75, 329 (343); BGHSt 30, 285 (288). 178 Vgl. z. B. zu den „Mauerschützen“ Tröndle/Fischer, StGB51, § 17, Rn. 8a mit Nachweisen und Amelung, NStZ 1995, 29 (30). Sehr engherzig auch BGHSt 45, 97 (100 ff.) zu § 258 StGB, siehe dazu Neumann, StV 2000, 425. 177

7. Bestimmtheitsgebot

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des übergeordneten Aspekts der Rechtssicherheit bzw. des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 III GG), der in kaum abgrenzbarer Weise in die Thematik hineinspielt.179 Die Vorhersehbarkeit möglicher Ergebnisse und die klare Abgrenzbarkeit von Tatbestandsmerkmalen sind stets Ideale, von denen die Rechtsanwendung geleitet sein sollte; sie können den Ausschlag geben, wenn die übrigen Auslegungskriterien zu keinem eindeutigem Ergebnis führen. Dementsprechend werden beide Gesichtspunkte – das Bestimmtheitsgebot und die Rechtssicherheit im weiteren Sinn – in der Praxis zuweilen nebeneinander genannt, um eine Auslegungshypothese zu propagieren oder zu verwerfen.180 Das muß nicht notwendig zu einer Restriktion führen, denn auch ein weites (aber vorhersehbares) Normverständnis kann sich als „bestimmt“, eine Restriktion hingegen als „unbestimmt“ erweisen. Bezüglich des Bestimmtheitsgebotes sind in der Praxis vor allem folgende Argumentationsmuster relevant: (1) Das Bestimmtheitsgebot nötigt angesichts einer vagen Norm zu einer spezifischen, regelmäßig restriktiven Interpretation181 oder spricht jedenfalls dafür182. (2) Eine Interpretation wird dem Bestimmtheitsgebot „besser gerecht“, BGHSt 22, 282 (287). (3) Es zwingt – spiegelbildlich zu (1) – zur Zurückweisung anderer Normhypothesen als zu unbestimmt, auch wenn diese womöglich sachgerechtere Lösungen erlauben würden (siehe oben BGHSt 29, 73 und sogleich BGHSt 5, 40; 26, 312; 38, 281; GS 40, 350). (4) Nach Heranziehung der gängigen Auslegungsmethoden verbleiben Zweifel über die Strafbarkeit der zu prüfenden Konstellation, so daß es an einer ausreichenden Grundlage für eine Bestrafung fehlt (siehe sogleich BGHSt 43, 381). BGHSt 5, 40 (oben Fall 185): Bei der Frage, wann ein „Kind“ i. S. von § 170d StGB a. F. vernachlässigt wird, kann es nicht auf die Schutzbedürftigkeit je nach Einzelfall ankommen. Ein solche, womöglich sachgerechte Lösung wäre der Rechtssicherheit abträglich und „mit der rechtsstaatlichen Forderung nach Bestimmtheit der strafrechtlichen Tatbestände kaum vereinbar“ (S. 44). 179

Siehe dazu auch unten VI 9 a. Z. B. in BGHSt 2, 181 (183); 5, 40 (44); 38, 281 (284). 181 Z. B. sieht BGHSt 40, 30 (37) bei § 20 I Nr. 4 VereinsG keine Bedenken aus dem Bestimmtheitsgebot, wenn gewisse Erfordernisse beachten würden. Ähnlich BGHSt 41, 20 (24 ff.) und 41, 278 bei der letztlich von BVerfGE 105, 135 verworfenen Konkretisierung der Vermögensstrafe (§ 43a StGB). Siehe außerdem BGHSt 35, 340 (341 f.): Angesichts der Unbestimmtheit der Begehungsform in § 133 StGB sei ein eindeutiges Abgrenzungskriterium nötig. 182 Z. B. BGHSt 33, 16 (18) = oben Fall 259, wo das Bestimmtheitsgebot neben anderen Aspekten für eine einschränkende Auslegung herangezogen wird. 180

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V. Systematik

BGHSt 26, 156 (oben Fall 116) verlangt zur Berücksichtigung der sich aus den Gesetzesmaterialien ergebenden gesetzgeberischen Vorstellungen, daß diese im Gesetz selbst zum Ausdruck kommen; andernfalls bestehe die „Gefahr, sich mit dem Gebot der Bestimmtheit des Strafgesetzes in Widerspruch zu setzen“ (S. 160; ähnlich BGHSt 25, 151 [156] = Fall 117). Fall 273 (BGHSt 26, 312): Die Kinder der Angeklagten wurden im Weg der Jugendfürsorge in einem Heim untergebracht, weil die Angeklagte ihrer Unterhaltsverpflichtung nicht nachkam. Aus der Tatsache, daß die öffentlichen Träger zu dieser Leistung gesetzlich verpflichtet sind, ändert sich nach Ansicht des BGH nichts an der Strafbarkeit der vorrangig Unterhaltsverpflichteten gemäß § 170b I StGB a. F. (§ 170 I g. F.); die öffentliche Hand greife in diesen Fällen nur subsidiär ein (S. 316 f.). Der Ansicht eines OLG, wonach es für die Strafbarkeit darauf ankommen soll, ob die Jugendhilfe in Ausübung ihres Ermessens den Anspruch des Kindes auf sich überleitet, widerspricht der Senat: Die Strafbarkeit könne nicht davon abhängen, ob die Behörde ihr Ermessen ausübt; andernfalls wären die Strafbarkeitsvoraussetzungen nicht genügend gesetzlich bestimmt (S. 318). „Gesetze sind aber verfassungskonform auszulegen“. Zudem sei die Option der Überleitung Folge der Straftat nach § 170b, nicht deren Voraussetzung. Fall 274 (BGHSt 38, 281): Nach Ansicht des Senats ist eine Kundenkarte im „Zwei-Partner-System“ bereits nach dem Wortlaut keine „Kreditkarte“ i. S. von § 266b StGB, weil der Aussteller nicht „zu einer Zahlung veranlaßt“ wird (S. 282).183 Die entgegenstehende Begriffsverwendung durch die Beteiligten könne die Strafbarkeit nicht begründen; das widerspräche den „Erfordernissen der Bestimmtheit und Rechtssicherheit“ (S. 284). Die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Kartensysteme dürfe nicht zur Anwendung des § 266b auf nicht erfaßte Fälle führen. BGHSt GS 40, 350 weist die Einschränkungsbemühungen des 1. Senats (BGHSt 39, 36 = oben Fall 152) zu §§ 239a, 239b StGB mit Hilfe des Kriteriums der Außenwirkung zurück: Das Gesetz biete dafür keine Stütze; dem Kriterium fehle es schon an der notwendigen Bestimmtheit (S. 357 f.). Freilich ist zu bezweifeln, daß der vom Großen Senat gewiesene Weg ein höheres Maß an Bestimmtheit aufweist.184 — BGHSt 32, 104 (oben Fall 180) verwirft eine einschränkende Auslegung, da es dafür verschiedene Möglichkeiten gebe, die Tatbestandsabgrenzung aber Aufgabe des Gesetzgebers sei (S. 111). Zudem stehe der Wortlaut entgegen (S. 112). Fall 275 (BGHSt 43, 381 – Fall „Zwick“): Gemäß § 1 III 1 AO sind auf steuerliche Nebenleistungen (z. B. Säumniszuschläge, Zwangsgelder) die Vorschriften der AO „sinngemäß“ anzuwenden. Gilt das auch für die steuerstrafrechtlichen Vorschriften der §§ 370 ff. AO, wenn etwa der Täter durch eine Täuschung erreicht, daß das Finanzamt keine Säumniszuschläge erhebt? Nach Ansicht des BGH bleibt der Umfang der „sinngemäßen Anwendung“ zu undeutlich, die Verweisung bei Berücksichtigung anderer Vorschriften der AO inkonsequent (S. 403). Der Gesetzgeber habe die Auswirkung der Verweisung auf die Strafvorschriften nicht bedacht (S. 404). Sinn und Zweck des § 370 AO sprächen ebenfalls nicht für die Anwend183 184

Krit. zur Wortlautargumentation des BGH Otto, JZ 1992, 1139. Krit. z. B. Tröndle/Fischer, StGB51, § 239a, Rn. 8a.

7. Bestimmtheitsgebot

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barkeit auf Nebenleistungen.185 Eine „erweiternde Auslegung“ der §§ 370 ff. über § 1 III komme aufgrund des Bestimmtheitsgebots nicht Betracht, denn eine klare Abgrenzung zwischen Erlaubtem und Strafbarem sei auch unter Heranziehung der üblichen Auslegungsmethoden nicht möglich (S. 406).186

Aus den dargestellten Entscheidungen ist ersichtlich, daß die Senate in Betracht gezogene oder vorgeschlagene Gesetzesinterpretationen insbesondere dann als zu unbestimmt verwerfen, wenn die Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen von zu vagen Faktoren abhängt (Schutzbedürftigkeit im Einzelfall, Ermessen einer Behörde, Sprachgebrauch der Beteiligten). Oftmals ist dieses Argument freilich gar nicht entscheidend, weil die eigene Position schon aus anderen Gründen für richtig erachtet wird. In diesen Fällen wird die eigene Auffassung indirekt durch den Hinweis auf die Unbestimmtheit der Gegenansicht gestärkt (siehe z. B. BGHSt 26, 312).187 Abzulehnen ist in jedem Fall die Heranziehung des Bestimmtheitsgebots als Stütze der „Andeutungstheorie“ (BGHSt 26, 156), denn gerade die subjektiv-historische Auslegung – als eines der üblichen Auslegungsmittel – ist dazu geeignet, die Vorhersehbarkeit der Ergebnisse im Rahmen des Wortlauts zu fördern.188 Allenfalls wird man sagen können, daß der Gesetzgeber die Voraussetzungen der Strafbarkeit im Gesetz selbst, nicht aber in den Materialien anordnen muß, aber ab wann soll diese Forderung mißachtet sein? Vorsicht ist weiter gegenüber der voreiligen Annahme angebracht, aus Bestimmtheitsgründen spreche der Gesetzeswortlaut gegen eine Einschränkung des Tatbestandes (vgl. BGHSt 32, 104), denn konsequent würde dann jede Rechtsfortbildung mit dem Bestimmtheitsgebot kollidieren.189 Ohne weiteres begrüßt werden kann demgegenüber der in BGHSt 43, 381 anklingende Standpunkt, daß keine Bestrafung erfolgen darf, wenn nach Heranziehung der gängigen Auslegungsmethoden nicht gesagt werden kann, ob das Verhalten strafbar sein soll oder nicht.190 Freilich bleiben Zweifel, ob der Senat in seinem Fall wirklich alle Konkretisierungsanstrengungen unternommen hat.191 Ähnlich argumentiert auch folgende Entscheidung: 185 Näher und verständlicher dazu BayObLG NStZ 1981, 147 mit dem gleichen Ergebnis wie der BGH. 186 Gribbohm (NStZ 1998, 572 [573]) stimmt dem BGH zu, sieht aber in einer abweichenden Auslegung „wohl“ keinen Verstoß gegen Art. 103 II GG. Müller-Horn (Die steuerlichen Nebenleistungen und der Tatbestand der Steuerhinterziehung, S. 132) erkennt in der Erfassung der Nebenleistungen keinen Verstoß gegen Art. 103 II GG, hält aber eine Differenzierung nach Sinn und Zweck des § 370 AO für nötig. 187 Zur Struktur des indirekten Beweises siehe unten VI 4 b. 188 Näher oben Fall 116 und Fall 117. Ähnlich wie der BGH allerdings auch BVerfGE 105, 135 (162). 189 Plausibel ist allerdings die Ansicht, daß (insbesondere verdeckte) Lücken im Recht der Rechtssicherheit im allgemeinen abträglich sind; in diesem Sinn Herschel, JZ 1967, 727 (729 f.). 190 Unmißverständlich in diesem Sinn BGHSt 38, 144 (151), oben Fn. 131. 191 Vgl. nochmals Fn. 186.

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V. Systematik

Fall 276 (BGHSt 38, 138): Das Anwaltsgericht hat gegen den Betroffenen ein Vertretungsverbot „auf dem Gebiete des . . . Strafrechts und der damit zusammenhängenden Rechtsgebiete“ verhängt. Gilt das auch für das Ordnungswidrigkeitenrecht? Nach Ansicht des Senats sprechen das „allgemeine Bestimmtheitsgebot“ und § 260 II StPO dafür, eine genaue Bezeichnung des betroffenen Rechtsgebiets zu verlangen (S. 140 f.). Angesichts der Besonderheiten des Ordnungswidrigkeitenrechts gegenüber dem Strafrecht sei das hier nicht geschehen (S. 141).

e) Irrungen und Wirrungen/Verhältnis zum Analogieverbot Kaum zu bestreiten ist, daß ein Strafgesetz nicht schon deshalb unbestimmt ist, weil dazu eine unbestimmte Auslegungshypothese erwogen oder vertreten wird. Auf welche Weise genau das Bestimmtheitsgebot die Auslegung beeinflußt und wann eine Hypothese als verfassungswidrig verworfen werden muß, ist damit jedoch noch immer nicht geklärt. Insbesondere stellt sich die Frage, wie das Bestimmtheitsgebot sich zum Analogieverbot verhält, das ja eigentlich für die Begrenzung richterlicher Macht „zuständig“ ist. Ist es überhaupt denkbar, daß eine Auslegung, die sich im Rahmen des möglichen Wortsinns hält und damit nicht gegen das Analogieverbot verstößt, dennoch mit Art. 103 II GG unvereinbar ist, obwohl andererseits auch gegen die Norm selbst keine verfassungsrechtlichen Einwände bestehen? Die Rechtsprechung hebt die weithin akzeptierte Differenzierung zwischen den beiden Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips zuweilen ganz auf: BGHSt 14, 55 (oben Fall 94): „§ 38 Abs. 2 Satz 2 GWB umreißt den Umgehungstatbestand mit hinreichender Bestimmtheit.192 Daher verstößt die Vorschrift auch nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG, wie eine im Schrifttum vertretene Meinung ihr als einem gesetzwidrigen Analogietatbestand zum Vorwurf macht“ (S. 62). BGHSt 34, 171 (oben Fall 72): Der Gesetzgeber habe den allgemein bekannten und deshalb nicht umschreibungspflichtigen Begriff des „Glücksspiels“ vorausgesetzt (S. 175). Ordne die Rechtsprechung völlig andersartige Verhaltensweisen (hier: Kettenbriefaktion) unter diesen vorgegebenen Begriff, verstoße sie gegen das Analogieverbot (S. 178).193 „Eine solche Auslegung würde den Begriff des Glücksspiels in dieser Vorschrift so unbestimmt machen, daß § 284 StGB mit dem aus Art. 103 Abs. 2 GG folgenden Bestimmtheitsgebot unvereinbar wäre; dieses Gebot verlangt, daß jedermann vorhersehen kann, welches Handeln mit welcher Strafe bedroht ist, um sein Verhalten entsprechend einrichten zu können“. BVerfGE 71, 108: Seiner Pflicht zur Übernahme des Ehrenamts als Wahlhelfer „entzieht“ sich nicht, wer zwar erscheint, aber durch unkorrektes (politisches) Verhalten den Wahlvorsteher zum Ausschluß zwingt (S. 111, 121). Eine andere Auffassung lasse sich mit dem möglichen Wortsinn aus Sicht des Bürgers nicht vereinbaren (S. 121). 192 In Anbetracht der höchst komplizierten Ausführungen des BGH (vgl. oben Fall 94) konnte man daran zumindest aus Sicht der Betroffenen mit gutem Grund zweifeln. 193 Krit. zu dieser Argumentation bereits oben Fall 72.

7. Bestimmtheitsgebot

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„Wäre dies der Inhalt [der Norm], so würde diese Bußgeldbestimmung den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nicht genügen und damit einem wesentlichen Zweck dieses Grundrechts, dem rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten, zuwiderlaufen. Sie wäre verfassungswidrig.“

Dieser Rechtsprechung zufolge verstößt somit jede Auslegung, die über den Wortlaut aus Sicht des Bürgers hinausgeht, zugleich gegen das Bestimmtheitsgebot!194 Damit werden die beiden Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips ohne Not in eins gesetzt. Wenn der Richter bereits außerhalb des möglichen Anwendungsbereichs judiziert, verstößt er nicht gegen weitere Verfassungssätze. Vor allem verstößt damit nicht die Norm selbst gegen Art. 103 II GG, wie es BGHSt 34, 171 und BVerfGE 71, 108 aber annehmen wollen. Die Verurteilung beruht in diesen Fällen nicht auf einer unbestimmten Gesetzesnorm, sondern auf gar keiner. Zu den Verwechslungen und Unschärfen in der Praxis kommt es zum einen wohl wegen des gemeinsamen Schutzzwecks aller Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips, den Bürger vor überraschenden, unvorhersehbaren Eingriffen zu bewahren: Unter diesem gemeinsamen Ziel tritt eine genaue Differenzierung zwischen Bestimmtheitsgebot und Analogieverbot leicht in den Hintergrund.195 Zum anderen gelingt es oftmals nicht, Bestimmtheitsgebot und Gesetzlichkeitsprinzip scharf zu unterscheiden, woran u. a. der Wortlaut des Art. 103 II GG „schuld“ ist („gesetzlich bestimmt“): BVerfGE 73, 206 (234) führt zutreffend aus, aus Art. 103 II [Gesetzlichkeitsprinzip!] folge ein an den Gesetzgeber gerichtetes Bestimmtheitsgebot sowie „ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes“ Analogieverbot. Aber schon die weitere Annahme, eine Analogie werde durch das „Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit“ ausgeschlossen196, trifft die Sache nur wegen der Hervorhebung des Attributs „gesetzlich“. Unzutreffend wäre es hingegen zu sagen, das Analogieverbot leite sich aus dem Bestimmtheitsgebot ab.197 Hier sollte die Praxis schärfer differenzieren, denn die gängige Klassifizierung, wonach das Analogieverbot den Bürger vor Gesetzesüberschreitungen (Willkürhandlungen) des Richters, das Bestimmtheitsgebot hingegen vor in ihrer Tragweite unkalkulierbaren

194 Erstaunlicherweise wird auch in umgekehrter Richtung argumentiert: Die tatbestandsausweitende Interpretation des Gewaltbegriffs verstoße (nach Ansicht des BVerfG) gegen das Bestimmtheitsgebot und „damit auch“ gegen das Analogieverbot; siehe Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103, Rn. 70. 195 Auch BGHSt 40, 272 (279) hebt die Erkennbarkeit und Verstehbarkeit für den Normadressaten als maßgeblich hervor, während Analogieverbot und Bestimmtheitsgebot nebeneinander als Argumente für diese Kriterien herhalten müssen. 196 So mit Hervorhebung im Original BVerfGE 71, 108 (115); 73, 206 (235); in BVerfGE 92, 1 (12) ohne Hervorhebung des Beiworts „gesetzlich“. 197 Zu einer entsprechenden Fehldeutung seiner Ausführungen hat BVerfGE 92, 1 (12) durch den Verzicht auf die Hervorhebung Anlaß gegeben. Amelung (NJW 1995, 2584 [2586, r. Sp.]) meint etwa, der Senat leite „das Analogieverbot aus dem Bestimmtheitsgebot“ ab; ebenso Mittelsdorf, JuS 2002, 1062 (Fn. 3).

446

V. Systematik

Strafnormen des Gesetzgebers schützen soll, ist jedenfalls in den oben genannten Fällen durchführbar.198 In seiner ersten Sitzblockaden-Entscheidung ist das BVerfG (E 73, 206 – „Mutlangen“) noch mit der strikten Trennung zwischen abstrakter Normprüfung (Bestimmtheitsgebot) und Überprüfung der Auslegung (Analogieverbot) ausgekommen.199 Nach Auffassung der vier maßgeblichen Richter hält die Ausweitung des Gewaltbegriffs sich im Rahmen des möglichen Wortsinns, verstoße mithin nicht gegen das Analogieverbot (S. 242). Auch der Zweck dieses Verbots stehe dem nicht entgegen, denn das „Risiko einer Bestrafung war . . . für den Staatsbürger zumindest aufgrund der im Schrifttum weithin anerkannten Rechtsprechung vorhersehbar“ (S. 243).200 Die vier unterlegenen Richter haben dagegen einen Verstoß gegen das Analogieverbot bejaht, da die Ausweitung des Gewaltbegriffs jedenfalls zum Zeitpunkt des Gesetzeserlasses nicht vorhersehbar gewesen sei (S. 244) und sich angesichts der erhobenen Kritik auch keine „für die Vorhersehbarkeit durch den Staatsbürger wesentliche . . . gefestigte Rechtsauffassung“ entwickelt habe (S. 245).

Leider hat das BVerfG die Lage in einer weiteren Sitzblockaden-Entscheidung201 zusätzlich verkompliziert, indem es die Auslegung der Fachgerichte an Bestimmtheitskriterien gemessen hat, ohne eine Begründung für diesen methodischen Ansatz zu geben: Fall 277 (BVerfGE 92, 1 – „Sitzblockade“): Hinsichtlich der Bestimmtheit der Norm verweist die Senatsmehrheit zunächst auf BVerfGE 73, 206. Die Auslegung des Gewaltbegriffs wird hingegen für unvereinbar mit Art. 103 II GG erklärt (S. 14, 16). Angesichts der Stimmengleichheit sei die Frage der Vereinbarkeit der Auslegung mit dem Bestimmtheitsgebot in BVerfGE 73, 206 unentschieden geblieben;202 sie sei nunmehr im Sinn der Unvereinbarkeit zu beantworten (S. 14). Art. 103 II 198 Verwechslungen und Ungenauigkeiten in dieser Frage sind auch im Schrifttum nicht selten. Zu Unrecht auf das „Bestimmtheitsgebot“ stellen etwa ab: Geppert, JK 2002, § 246/13 (Anm. zu BGHSt 47, 243 = Fall 105) und Paul, JZ 1998, 739 (vgl. oben Kap. III, Fn. 597). 199 Ebenso z. B. die Kommentierung von Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1, Rn. 39 ff., 55 ff. 200 Bereits mit diesen Darlegungen wird der Unterschied zwischen Analogieverbot und Bestimmtheitsgebot verwässert, denn das Analogieverbot erhält neben dem Kriterium des möglichen Wortsinns aus dem allgemeinen Zweck des Art. 103 II GG noch das der Vorhersehbarkeit. Man sollte sich aber entscheiden: Das Ziel des Art. 103 II ist es, vorhersehbare Entscheidungen des Richters zu gewährleisten, Kriterium hierfür ist der mögliche Wortsinn. Ist dieses Kriterium aber eingehalten, kann nicht durch Rückgriff auf die Vorhersehbarkeit ein anderes Ergebnis erzielt werden. – Scharf abl. zu den vagen Ausführungen des Senats bezüglich der Vorhersehbarkeit Calliess, NStZ 1987, 209 (211): Mit Art. 103 II GG habe das nichts mehr zu tun. Ebenfalls abl. Meurer/Bergmann, JR 1988, 49 (51, l. Sp.). 201 Zwischenzeitlich wurde BVerfGE 73, 206 durch BVerfGE 76, 211 bestätigt. 202 Nach Ansicht von BVerfGE 92, 1 (14) hielten die vier unterlegenen Richter in BVerfGE 73, 206 (244, 247) die Auslegung für „unvereinbar mit dem Bestimmtheitsgrundsatz“. Tatsächlich sprachen diese Richter aber vom Analogieverbot, einem Begriff, den BVerfGE 92, 1 zwar im theoretischen Vorspann erwähnt (S. 12), merkwürdigerweise in der entscheidenden Passage (ab S. 13) aber ganz meidet.

7. Bestimmtheitsgebot

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GG setze auch einer tatbestandserweiternden Interpretation Grenzen (S. 16). Die Auslegung dürfe nicht dazu führen, daß die gesetzgeberische Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben werde. Das sei aber der Fall, wenn die Rechtsprechung das Tatbestandsmerkmal „Gewalt“ durch einen weitgehenden Verzicht auf das Element der Kraftentfaltung entgrenze (körperliche Anwesenheit genügt) und statt dessen entscheidend auf das Gewicht der psychischen Einwirkung auf das Opfer rekurriere (S. 17). Die Ausübung von Zwang sei aber bereits durch das Merkmal „nötigen“ erfaßt. Wenn die Rechtsprechung auf das Kriterium der psychischen Zwangswirkung abstelle und unbefriedigende Ergebnisse erst mit der Verwerflichkeitsprüfung nach § 240 II korrigiere, lasse sich der Bereich strafbaren Verhaltens nicht vorhersehen (S. 18). Die Strafbarkeit werde dann nicht mehr generell und abstrakt vom Gesetzgeber, sondern vom Richter aufgrund seiner Überzeugung von der Strafwürdigkeit bestimmt. Die unterschiedliche Behandlung von Blockadeaktionen belege den beträchtlichen Spielraum. Die Ungewißheit sei auch nicht durch ein im Laufe der Zeit gefestigtes Verständnis des Gewaltbegriffs entfallen, wie die fortbestehenden Divergenzen belegten.203 Die erforderliche Bestimmtheit folge nicht schon daraus, daß zumindest das Risiko der Strafbarkeit erkennbar war. Dieses Kriterium könne nur hinsichtlich der Prüfung der Norm, nicht jedoch „in bezug auf ihre Auslegung herangezogen werden“ (S. 19).204 Andernfalls würde die Unbestimmtheit einer unvermeidlich vagen Norm weiter erhöht und das Ziel des Art. 103 II GG noch weiter aus dem Blick geraten. Die Senatsminderheit läßt dahinstehen, ob eine mit dem Wortsinn und den sonstigen Methoden in Einklang stehende Auslegung überhaupt gegen das Bestimmtheitsgebot verstoßen könne (S. 23). Jedenfalls hätten die Täter aufgrund der gefestigten Rechtsprechung zu § 240 StGB die Strafbarkeit von Sitzblockaden erkennen können. Die Strafbarkeit habe – auch in Anbetracht kritischer Literaturstimmen – außer Zweifel gestanden (S. 24 f.).

Die Senatsmehrheit prüft – anders als BVerfGE 73, 206 – die richterliche Normkonkretisierung nicht am Maßstab des Analogieverbots mit dem Kriterium „möglicher Wortsinn“, sondern anhand des Bestimmtheitsgebots.205 Daß hier nicht nur eine terminologische Verwechslung vorliegt,206 zeigt die weitere Prü203 Angesichts der ständigen Rechtsprechung der Fachgerichte hält Schroeder (JuS 1995, 875 [876, r. Sp.]) diese Erwägungen für „völlig unverständlich“. Der Senat desavouiere mit seiner weiteren Argumentation seine bisherige Auffassung zum Kriterium der Vorhersehbarkeit bei Art. 103 II GG. 204 Schroeder (wie Fn. zuvor) charakterisiert diese Unterscheidung als „schwer nachvollziehbar“. 205 Vgl. nochmals Fn. 202. Für eine Prüfung der Normanwendung anhand des Bestimmtheitsgebots z. B. auch Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103, Rn. 70 und SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 II, Rn. 39, ohne daß klar würde, ob überhaupt noch zwischen Bestimmtheitsgebot und Analogieverbot differenziert werden müßte und, wenn ja, nach welchen Kriterien. Schulze-Fielitz (a. a. O.) erörtert etwa die gemeinhin dem Analogieverbot zugeordneten Kriterien (möglicher Wortsinn) unter dem Aspekt des Bestimmtheitsgebots. 206 Man könnte allerdings erwägen, ob das BVerfG (a. a. O., S. 14) nicht das Bestimmtheitsgebot, sondern das Gesetzlichkeitsprinzip gemeint hat, vgl. oben den Text nach Fn. 195.

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V. Systematik

fung, denn dort kommen die auch sonst beim Bestimmtheitsgebot erörterten Faktoren zum Einsatz (vgl. oben: „erforderliche Bestimmtheit“). In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung mag die Überprüfung der richterlichen Normkonkretisierung (neben der Norm selbst) anhand von Bestimmtheitskriterien eine Novität sein;207 überraschen kann das angesichts der oben dargestellten Entscheidungen des BGH aber nicht. Worin allerdings die Rechtfertigung für diese Vorgehensweise liegt, sagt der Senat nicht; der theoretische Vorspann zum Inhalt des Art. 103 II GG (BVerfGE 92, 11–13) bleibt eine Antwort hierfür schuldig.208 Womöglich beruht der Ansatz auf einer Art Kompromiß, der an die Einsicht anknüpft, daß die Wirksamkeit des Analogieverbots mit seinem Grenzkriterium „möglicher Wortsinn“ davon abhängt, wie ernst der Gesetzgeber das Bestimmtheitsgebot nimmt.209 Wenn einerseits das Analogieverbot aufgrund der Weite der gesetzlichen Formulierungen der Rechtsanwendung keine erkennbaren Hürden errichtet, andererseits aber aus dem großzügigen Maßstab bei der abstrakten Überprüfung der Norm ebenfalls – von Extremfällen abgesehen (BVerfGE 105, 135) – keine nennenswerten Eingrenzungen folgen, stellt sich zwangsläufig die Frage nach einem weiteren Schutzmechanismus für den Bürger. Dieser wird dadurch verwirklicht, daß die Konkretisierung selbst Bestimmtheitskriterien genügen und zu kalkulierbaren Lösungen gelangen muß. Auch die Rechtsprechung muß auf vorhersehbaren Bahnen wandeln. Ist eine Norm auslegungsbedürftig, dann muß sich ihr mittels der herkömmlichen Auslegungsmethoden ein für den Adressaten erkennbarer Anwendungsbereich entnehmen lassen.210 So sieht etwa in BGHSt 28, 129 (134 f.) der Senat in der von ihm vertretenen Auslegung keinen Verstoß gegen das Analogieverbot, „weil sie keinen neuen Tatbestand schafft, sondern den Willen des Gesetzgebers aus dem Wortlaut der Norm, ihrem Zusammenhang, ihrem Zweck und ihrer Entstehungsgeschichte ermittelt . . . Damit . . . ist die Strafbarkeit der hier vorliegenden Handlungsweise auch so bestimmt um207 Einen durch BVerfGE 92, 1 eingeleiteten Wandel konstatieren z. B. Roxin, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 79 und Amelung, NJW 1995, 2584 (2587): Die Senatsmehrheit gewinne die Möglichkeit, die Schwierigkeiten des Analogieverbots durch einen Hinweis auf das Bestimmtheitsgebot zu überspielen. Weber (in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 9, Rn. 13) ist der Auffassung, daß BVerfGE 92, 1 besser von „unzulässiger Analogie“ hätte sprechen sollen. Mittelsdorf (JuS 2002, 1062 [Fn. 3]) meint, „genau genommen“ gehe es um eine Frage des Analogieverbots. Zu Unrecht behauptet M. Graßhoff (NJW 1995, 3085 [3086, l. Sp.]), die Entscheidung habe einen Verstoß gegen das Analogieverbot festgestellt. 208 Nach Amelung (NJW 1995, 2584 [2587]) gewinnt das BVerfG die Prüfungsmöglichkeit aus seiner These, wonach das Analogieverbot sich aus dem Bestimmtheitsgebot ableite. Es ist aber schon zweifelhaft, ob BVerfGE 92, 1 wirklich diese „Ableitungsthese“ (Amelung) vertritt, vgl. oben Fn. 197. Näher liegt die Annahme, daß eine theoretische Herleitung des Prüfungsansatzes schlicht fehlt. 209 Vgl. zu dieser Korrelation Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 15. 210 Dazu, daß Art. 103 II GG eine willkürliche Handhabung der Auslegungskriterien verbietet, bereits oben Kap. III, Fn. 253 und den dazugehörigen Text.

7. Bestimmtheitsgebot

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schrieben (Art. 103 Abs. 2 GG), daß grundsätzlich berechenbar ist, ob das geplante Handeln strafbar ist.“

Bei einer jungen Vorschrift muß der Adressat eine Antizipationsleistung hinsichtlich der späteren Rechtsprechung erbringen, während er sich bei älteren Gesetzen an den gewonnenen Ergebnissen orientieren kann. Interessant ist insoweit ein zeitlicher Aspekt: Gelingt der Rechtsprechung die Präzisierung der Norm mit Hilfe der üblichen Methodik, hat sich sozusagen im nachhinein die Bestimmtheit der Norm erwiesen, während eine erfolglose Konkretisierungsarbeit (z. B. die „Entgrenzung“ des Gewaltbegriffs!211) die Unbestimmtheit der Vorschrift belegt.212 Konsequent müßte das zur Erklärung ihrer Verfassungswidrigkeit führen, aber ein Ausweg besteht darin, von den diffusen Anwendungsmöglichkeiten, die der weite Wortlaut eröffnet, eine vorhersehbare Auslegung zu wählen. Dieses Verfahren kann, wie BGHSt 26, 312 (oben Fall 273) zeigt, als eine Art verfassungskonforme Auslegung charakterisiert werden:213 Die Norm selbst kann nur unter der Voraussetzung unbeanstandet bleiben, daß ihr die Fachgerichte einen erkennbaren, im Zweifel oftmals restriktiven Anwendungsbereich geben.214 So muß man das BVerfG vielleicht verstehen, wenn es sagt, eine unbestimmte Norm könne durch eine gefestigte Rechtsprechung die notwendige Bestimmtheit gewinnen.215 Damit dürfte nicht gemeint sein, daß die Bestimmtheit durch die Fachgerichte (anstelle des Gesetzgebers) originär hergestellt, sondern durch sie unter Beweis gestellt wird. Man kann das BVerfG natürlich auch beim Wort nehmen und ganz pragmatisch argumentieren: Es mache „keinen praktischen Sinn“, die Norm nach erfolgter „richterrechtlicher Konkretisierung unter Berufung auf den ursprünglichen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot aus dem Gesetz zu entfernen“.216 Aber verfassungsrechtlich ist diese Position kaum hinnehmbar, und zudem: Warum soll dies dann lediglich für den Gewaltbegriff nicht gelten?

Ob die oben vorgestellte Konzeption allerdings wirklich trägt, bleibt fraglich. Sie läßt sowohl in methodischer als auch in materieller Hinsicht vieles offen. 211 Ein weiteres Beispiel ist die Rechtsprechung zur „fortgesetzten Handlung“, vgl. unten im Fazit (f). 212 Vgl. nochmals oben die Ausführungen von BGHSt 34, 171 (Text nach Fn. 193). Allerdings wäre der Senat dort ohne weiteres mit dem Analogieverbot ausgekommen. 213 Küper, JuS 1996, 783 (785, Fn. 11) unter Hinweis auf den regelmäßig erfolglosen Einwand der Unbestimmtheit der Norm. Vgl. auch Roxin, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 77: „In anderen Fällen läßt sich die Verfassungsmäßigkeit einer Vorschrift nur bei einer sehr restriktiven Auslegung noch bejahen. . . . Eine Vorschrift darf also erst dann wegen Unbestimmtheit für gänzlich nichtig erklärt werden, wenn es nicht möglich ist, sie auf einen bestimmbaren Kern zu reduzieren.“ 214 In diesem Sinn die Minderheitsauffassung in BVerfGE 105, 135 (172): Die Vermögensstrafe verstoße „jedenfalls in der Auslegung durch den Bundesgerichtshof“ nicht gegen Art. 103 II GG. 215 Nachweise oben Fn. 150. 216 Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 28.

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V. Systematik

Zunächst ist der Rückgriff auf die verfassungskonforme Auslegung problematisch,217 denn dort geht es darum, einen verfassungsrechtlich zu weitgehenden, aber doch bestimmten Gesetzesinhalt auf das Zulässige zu beschränken, während hier schon der Gesetzesinhalt selbst unklar ist. Inhaltlich bleibt die Schwierigkeit, was das maßgebliche Kriterium für die Prüfung sein soll: Wann genau verstößt eine spezifische Auslegung gegen den Bestimmtheitsgrundsatz? Wann ist eine Rechtsprechung bestimmt genug, damit der Normadressat218 den Bereich des Strafbaren erkennen kann? Wie verhält es sich bei neuen Vorschriften, zu denen sich noch keine feste Meinung gebildet hat?219 Kann z. B. eine schwankende Rechtsprechung überhaupt jemals vorhersehbare Ergebnisse liefern, oder ist es nicht doch richtig, ein gröberes Raster anzulegen und nur auf die Erkennbarkeit des Strafbarkeitsrisikos abzustellen? Was ist, wenn womöglich die erste Auslegung unvorhersehbar war, sie sich aber mangels verfassungsrechtlicher Rüge zu einer ständigen und vorhersehbaren Rechtsprechung entwickelt? Im Ergebnis hat BVerfGE 92, 1 die unveränderte Problematik des „vergeistigten Gewaltbegriffs“ durch ein „Überlaufen“ vom Analogieverbot zum Bestimmtheitsgebot abweichend beurteilt. Nach BVerfG 73, 206 liegt kein Verstoß des Richters gegen das Analogieverbot vor, weil das Risiko der Bestrafung durch eine ständige Rechtsprechung vorhersehbar war; nach BVerfGE 92, 1 soll dies aber zur Wahrung des Bestimmtheitsgebots nicht genügen. Methodisch mag die Prüfung der Auslegung anhand des Bestimmtheitsgebots gangbar sein, aber die Umsetzung in BVerfGE 92, 1 erscheint doch sehr fragwürdig.220 Die unbefriedigende Situation beruht letztlich auf einem zeitlichen Moment: Die unterlassene Beanstandung der ursprünglichen „Sündenfälle“, mit denen der Gewaltbegriff erweitert wurde („Laepple“ usw.), macht das nachträgliche Eingreifen durch das BVerfG so unglaubwürdig und schwer begründbar. Erst zu einem Zeitpunkt, als die Strafbarkeit der Sitzblockaden für jedermann außer Zweifel stand, will das Gericht die Vorhersehbarkeit bestreiten.221 „Zu spät“ kam BVerfGE 92, 1 auch, um eine Überschreitung des möglichen Wortsinns und damit einen Verstoß gegen das Analogieverbot zu behaupten; nach BVerfGE 73, 206 wäre das kaum ernst zu nehmen gewesen. Statt auf Art. 103 II GG hätte das BVerfG seine Auffassung mit Art. 8, Art. 2 GG222 oder dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begründen sollen.223 Denkbar war es auch, die Entfer217

Krit. z. B. Schroeder, JZ 1969, 775 (778, r. Sp.). BVerfG NJW 2003, 1030 (1031, l. Sp.) rekurriert insoweit auf den „konkreten Normadressaten“; abl. Seebode, JZ 2004, 305 (309). 219 So hat BVerfGE 105, 135 der Rechtsprechung vielleicht nur zu früh den Weg verbaut, die Bestimmtheit der Vermögensstrafe unter Beweis zu stellen. 220 In diese Richtung auch Roxin, Strafrecht AT I, § 5, Rn. 79. 221 Konsequent deshalb, aber kaum zutreffend die Minderheitsauffassung in BVerfGE 73, 206 (244), die hinsichtlich der Vorhersehbarkeit auf den Zeitpunkt des Gesetzeserlasses abstellen will (siehe bereits oben III 7 e). 222 Die Prüfung von Art. 8 GG steht in der jüngsten Entscheidung des BVerfG zu politisch motivierten Blockadeaktionen ganz im Vordergrund der Prüfung, vgl. BVerfGE 104, 92 (103 ff.). 218

7. Bestimmtheitsgebot

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nung vom ursprünglichen Gewaltbegriff als Auflehnung gegen die Gesetzesbindung (Art. 20 III, 97 I GG) zu sehen, was freilich eine unter Umständen folgenreiche Absage an die „objektive“ Auslegungstheorie verlangt hätte. In der Dogmatik zu § 240 StGB hat die Entscheidung BVerfGE 92, 1 jedenfalls einen Scherbenhaufen hinterlassen. Der BGH ist sichtlich darum bemüht, die Reichweite der Entscheidung so weit wie möglich einzudämmen, nimmt dabei jedoch erhebliche Wertungswidersprüche in Kauf. Im Fall von BGHSt 41, 182 hatten die Angeklagten sich auf die Fahrbahn einer Autobahn begeben, um das Anhalten des Verkehrs zu erzwingen. Nach Ansicht des BGH (S. 184 f.) wird gegenüber den Fahrern der als erstes herannahenden Fahrzeugen womöglich nur psychischer Zwang ausgeübt, anders sehe es aber bei den darauffolgenden Fahrzeugen aus, denn für diese bildeten die zuerst anhaltenden Fahrzeuge ein physisches Hindernis (sog. ZweiteReihe-Rechtsprechung). Zu einer absurden Differenzierung greift BGH StV 2002, 360: Erzwingt der Täter, indem er sich auf die Straße stellt, das Anhalten eines Fahrzeugs, liege keine „Gewalt“ vor, da die Zwangswirkung lediglich psychischer Natur sei. Legt er sich dagegen auf die Motorhaube des PKW, um die Weiterfahrt zu verhindern, soll ein physisches Hindernis und damit Gewalt vorliegen. Über die Vereinbarkeit mit BVerfGE 92, 1 streiten kann man auch bezüglich BVerfGE 104, 92 (Blockade durch „Menschenkette“). Dort hatten die Beschwerdeführer sich aneinander gekettet und die Enden der Menschenkette an die Pfosten eines Tores befestigt. Der Senat sieht in der Beurteilung dieses Verhaltens als Gewalt i. S. von § 240 keinen Widerspruch zu Art. 103 II GG und BVerfGE 92, 1. Nach Auffassung der Senatsminderheit (S. 125) entfernt eine solche Auslegung sich jedoch „zu weit vom Normtext“ und verstoße damit gegen die aus Art. 103 II GG folgenden Grenze.224 Im Ergebnis ist der Bereich der strafbaren Nötigung nach der Intervention durch BVerfGE 92, 1 etwas kleiner, vorhersehbarer sind die staatlichen Reaktionen aber nicht geworden.

f) Fazit Die Thematik „Bestimmtheitsgebot“ hinterläßt insgesamt ein trauriges Bild. Weder sind die theoretischen Voraussetzungen geklärt, noch befriedigt die praktische Handhabung. Vor allem das Leitkriterium der „Vorhersehbarkeit“, gleich ob man es beim Analogieverbot oder beim Bestimmtheitsgebot zum Ansatz 223 Die Parallele zu den Freiheitsgrundrechten spricht ebenfalls dafür, das Bestimmtheitsgebot im Wege verfassungskonformer Auslegung in die Gesetzesauslegung einzubringen. 224 Ob die Minderheitsauffassung damit einen Verstoß der Auslegung gegen das Analogieverbot (i. S. der unterlegenen Richter in BVerfGE 73, 206) oder gegen das Bestimmtheitsgebot (i. S. der Mehrheitsmeinung in BVerfGE 92, 1) annehmen will, bleibt unklar. Womöglich soll die Entscheidung BVerfGE 92, 1 zwar inhaltlich fortgesetzt werden, ohne aber an deren methodisch zweifelhaften Weg anzuknüpfen. Betrachtet man in einer Zusammenschau die in BVerfGE 73, 206, 92, 1 und 104, 92 vertretenen Mehrheits- und Minderheitsvoten in Hinblick auf methodische Konsistenz und bedenkt man, daß die Minderheits- jederzeit zur Mehrheitsansicht werden kann et vice versa, stellt sich kein gutes Gefühl in bezug auf die Vorhersehbarkeit verfassungsgerichtlicher Entscheidungen ein.

452

V. Systematik

bringt, ist seinerseits völlig unbestimmt.225 Die nach BVerfGE 92, 1 ergangene Rechtsprechung des BVerfG prüft zwar nunmehr in manchen Fällen – nach der Bestimmtheit der Norm und der Beachtung des Analogieverbots durch die Fachgerichte – in einem dritten Punkt die Bestimmtheit der Auslegung, fällt dabei aber in den alten Trott zurück, indem sie das Risiko einer möglichen Bestrafung durch eine gefestigte Rechtsprechung genügen läßt.226 Unvorhersehbar ist allein, wann das BVerfG auf Grundlage von Art. 103 II GG in die Rechtsprechung der Fachgerichte eingreift.227 Frappierender Beleg hierfür ist die Aufgabe der „fortgesetzten Handlung“ durch BGHSt GS 40, 138. Der Große Senat hat hierbei u. a. auf Bestimmtheitskriterien abgestellt und konstatiert, daß der Begriff der fortgesetzten Handlung „seinem Inhalt nach von Anfang an stetem Wandel unterworfen und . . . in seiner Abgrenzung fließend geblieben“ sei; die höchstrichterliche Rechtsprechung habe nie ein einheitliches Bild ergeben (S. 167). Wenige Jahre zuvor hatte BVerfG NStZ 1991, 383 gegen die Zusammenfassung fortgesetzter Handlungen zu einer „Tat“ i. S. von § 78a StGB keine Bedenken aus Art. 103 II GG und dabei vor allem die Vereinbarkeit der Rechtsprechung mit dem möglichen Wortsinn geprüft. Ob die Rechtsprechung der Strafgerichte Bestimmtheitskriterien genügte und vorhersehbar war – Fragen, die der Große Senat freimütig verneint –, hatte das BVerfG nicht einmal erwogen. Hätte der methodische Ansatz aus BVerfGE 92, 1 – Prüfung der Rechtsanwendung anhand von Bestimmtheitskriterien – zu einem anderen Ergebnis oder zumindest zum Erkennen des Problems geführt?

Für die Rechtsprechung des BGH ergibt sich keine wesentlich bessere Situation: Daß sie sich um voraussehbare Lösungen bemüht und unbestimmte Hypothesen verwirft, ist aus rechtsstaatlicher Sicht zu begrüßen, aber im Ergebnis bleibt auch hier offen, wann diese Argumente zum Einsatz kommen und unter welchen Voraussetzungen eine Interpretation tatsächlich mit dem Bestimmtheitsgebot unvereinbar ist.

8. Einheit der Rechtsordnung Sowohl Gesetzgebung als auch Rechtsanwendung müssen vom Ideal widerspruchsfreier Aussagen geprägt sein, denn andernfalls sind Verläßlichkeit und Glaubwürdigkeit des Rechts gefährdet, staatliches Handeln wird unvorhersehbar.228 Die Rechtsordnung darf zum einen nicht für denselben Sachverhalt sich widersprechende Rechtsfolgen anordnen bzw. widersprüchliche Verhaltens225

Sehr krit. zum Kriterium der Vorhersehbarkeit Calliess, NStZ 1987, 209 (211). So vor allem BVerfG NJW 2003, 1030 (1031); scharf abl. Seebode, JZ 2004, 305 (307 f.). 227 Rüthers, F.A.Z. vom 9.6.1995, S. 10, bezüglich BVerfGE 92, 1; allgemein Seebode, JZ 2004, 305 (307, l. Sp.): „Die Rechtsprechung zu Art. 103 II ist für jede Überraschung gut.“ 228 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 775. 226

8. Einheit der Rechtsordnung

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erwartungen formulieren (Normenwiderspruch), sie darf zum anderen nicht gleichliegende Sachverhalte unterschiedlich bewerten (Wertungswiderspruch).229 Sie ist darüber hinaus dazu angehalten, Identisches einheitlich zu bezeichnen und die etablierte Terminologie konsequent durchzuführen. Freilich sind Widersprüche weder in der komplexen Gesamtrechtsordnung noch innerhalb einer Kodifikation zu vermeiden, deren Vorschriften oftmals aus unterschiedlichen Epochen stammen.230 Die Rechtsanwendung kann solche Ungereimtheiten nur in begrenztem Umfang mit „ordnender Hand“ ausgleichen und zur Herstellung von Konsistenz beitragen, da sie grundsätzlich auch an ein widersprüchliches, aber durchführbares Normprogramm gebunden bleibt, solange kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG festgestellt werden kann. Deshalb kann die Einheit der Rechtsordnung – hier in ihrer Ausprägung als Widerspruchsfreiheit – nur als Postulat oder Ideal verstanden werden, dem es sich anzunähern gilt. Entsprechend formuliert der BGH: „Die Auslegung hat auch darauf bedacht zu sein, daß sich die Gesamtheit der gesetzlichen Bestimmungen tunlichst zu einem widerspruchslosen Ganzen zusammenfügt.“ (BGHSt 13, 102 [117])

a) Relativität der Rechtsbegriffe, Begriffsspaltung Eine unvermeidliche Einschränkung erfährt die Einheit der Rechtsordnung in der sogenannten Relativität der Rechtsbegriffe. Es ist ein alltägliches Phänomen jeder sprachlichen Verständigung, daß ein und derselbe Ausdruck je nach Zusammenhang eine unterschiedliche Bedeutung transportieren kann. Bedeutungswörterbücher belegen das ausgiebig. Es wäre überraschend, wenn es in der Rechtssprache, die sich ja ganz überwiegend der Alltagssprache bedient, anders aussähe. In der Praxis der Gerichte ist die Relativität der Rechtsbegriffe seit jeher anerkannt. Erstaunlich ist sie vielleicht nur insoweit, als daß sie selbst bei juristisch geprägten Alltagsbegriffen (Besitz, Beteiligung, Verletzter, Kind etc.) und sogar bei rein juristischen Fachbegriffen (Gläubiger, Fahrlässigkeit) in Erscheinung tritt, obwohl die Fachsprache dem Begriff doch gerade Kontur verleihen und eine einheitliche Verwendung sichern soll. Der juristische Terminus der Fahrlässigkeit hat strafrechtlich eine andere Bedeutung als zivilrechtlich, mit der Konsequenz, daß ein ärztliches Verhalten womöglich keine fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) darstellt, aber dennoch zu Schadenersatz verpflichtet.231 Das Strafgesetz kann, je nach Zusammenhang, als Kind sowohl eine Person unter 14 Jahren als auch einen leiblichen Abkömmling ohne Altersbegren229

Zur Terminologie Engisch, Einführung, S. 208 ff. Treffend die Kathedralen-Metapher von Engisch (Einführung, S. 208 [Fn. 73]), wonach die Einheit der Rechtsordnung ebenso beeinträchtigt sein kann wie die architektonische Einheitlichkeit einer in vielen Jahrhunderten erbauten Kirche. 231 Beispiel nach Engisch, Einführung, S. 209. 230

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V. Systematik

zung verstehen (siehe BGHSt 5, 40 = oben Fall 185); die Legaldefinition in § 176 I StGB (Person unter 14 Jahren) ist auf diesen Tatbestand beschränkt.232 Darüber hinaus kann ein Ausdruck in einer Situation in seiner fachsprachlichen Bedeutung („Übertretung“ i. S. von § 1 StGB a. F.), in einer anderen Situation in seinem umgangssprachlichen Verständnis („Übertreten von Vorschriften“) gebraucht werden.233 Das „Besitzen“ eines Führerscheins i. S. des Straßenverkehrsrechts kann anderes meinen als die einschlägigen sachenrechtlichen Vorschriften des BGB (siehe BGHSt 6, 364 = oben Fall 124).

Die Zulässigkeit der Begriffsspaltung ist in der Rechtsprechung der Strafgerichte ausdrücklich anerkannt, wenngleich mit unterschiedlicher Betonung: RGSt 70, 251 (254 f.) räumt ein, „daß derselbe sprachliche Ausdruck, in verschiedenen Strafgesetzen verwendet, nicht überall in demselben Sinn verstanden werden muß“, will im konkreten Fall aber Parallelität wahren. BGHSt 9, 67 (69) konstatiert, daß „eine verschiedene Sinngebung im Hinblick auf denselben Ausdruck . . . keine seltene Erscheinung“ sei. BGHSt 25, 97 (99) hält die gleiche Auslegung zweier Absätze einer Norm „allein wegen der Gleichheit des Wortlauts“ nicht für zwingend geboten. BGHSt 34, 221 (225) betont die Eigenständigkeit strafrechtlicher Auslegung gegenüber anderen Rechtsgebieten234, und BGHSt 48, 360 (364) weist auf die Notwendigkeit „tatbestandsspezifischer Auslegung“ hin. Dementsprechend sind in der Praxis der Strafgerichte Beispiele für ein unterschiedliches Verständnis desselben Ausdrucks Legion. Sie kommen sowohl innerhalb eines Gesetzes als auch bei Normen unterschiedlicher Gesetze vor. Innerhalb des StGB hat der BGH z. B. bei folgenden Begriffen ein unterschiedliches Verständnis bejaht: „Absicht“ (BGHSt 4, 107), „Kind“ (BGHSt 5, 40, siehe oben), „Gegenstand“ (BGHSt 5, 263), „Gebäude“ (BGHSt 6, 107), „unzüchtige Handlung“ (BGHSt 15, 118), „Inland“ (BGHSt 30, 1), „Eindringen“ (BGHSt 45, 131). Innerhalb der StPO: „Verletzter“ (BGHSt 4, 202). Abweichungen bei gleichlautenden Ausdrücken in unterschiedlichen Gesetzen wurden z. B. bei folgenden Ausdrücken angenommen: „Untersuchung“ in StGB und StPO (BGHSt 1, 255), „Besitz“ in StVG und BGB (BGHSt 6, 364 = oben Fall 124), „Verwandtschaft“ in StGB und BGB (BGHSt 7, 245 und 383)235, „Übertretung“ in StGB und GewO (BGHSt 9, 67 = oben Fall 234), „Beteiligung“ in StGB und StPO (BGHSt 10, 65), „Vereinigung“ in StGB und GG (BGHSt 28, 147), „Gläubiger“ in StGB und BGB bzw. Konkursrecht (BGHSt 34, 221 = oben Fall 103). 232 Deshalb ist die Frage in § 221 II Nr. 1 StGB seit dem 6. StrRG 1998 strittig; siehe zu den kuriosen Folgen Tröndle/Fischer, StGB51, § 221, Rn. 14. 233 Vgl. BGHSt 9, 67 (69) = oben Fall 234. 234 Ebenfalls BGHSt 7, 245 und 383 gegenüber dem zivilrechtlichen Begriff der Verwandtschaft. 235 § 11 I Nr. 1a StGB i. d. F. des 2. StrRG hat diese Rechtsprechung später bestätigt und entgegen dem damaligen bürgerlichen Recht (§ 1589 II BGB a. F.) klargestellt, daß Verwandtschaft im strafrechtlichen Sinn auch dann besteht, „wenn die Beziehung durch eine uneheliche Geburt vermittelt wird“.

8. Einheit der Rechtsordnung

455

Gründe für solche „Begriffsspaltungen“ sind vor allem, daß die Ausdrücke in einem unterschiedlichen Kontext verwendet werden, daß die jeweiligen Normzwecke für ein unterschiedliches Verständnis sprechen (teleologische Begriffsbildung) und daß der Gesetzgeber in den verschiedenen Gesetzen keine einheitliche Terminologie gebraucht, zumal bei Gesetzen aus unterschiedlichen Epochen. BGHSt 1, 255 (257) versteht den Ausdruck „Untersuchung“ im StGB anders als in der StPO: Die Übernahme der Begrifflichkeit der StPO auf das StGB sei „innerlich“ nicht gerechtfertigt, zumal das StGB das ältere Gesetz sei.236 — Nach BGHSt 6, 107 (näher oben Fall 45) kann ein mit Wänden und Dach versehener Rohbau schon ein „Gebäude“ i. S. des Brandstrafrechts sein, während der andersartige Schutzzweck des schweren Diebstahls für ein engeres Verständnis spricht.237 — BGHSt 4, 202 f. sieht es nicht als Selbstverständlichkeit, daß der Begriff des „Verletzten“ in verschiedenen Bestimmungen der StPO gleich auszulegen ist; entscheidend seien Zusammenhang und Zweck der jeweiligen Norm. — Als geringwertige „Gegenstände“ kommen beim „Notbetrug“ (§ 264a StGB a. F.) nach Ansicht von BGHSt 5, 263 (266) auch nichtkörperliche Vermögenswerte in Betracht, während dies bei der „Notentwendung“ (§ 248a StGB a. F.) anders liegt; denn dort kommen als Tatobjekte in aller Regel von vornherein nur körperliche Gegenstände in Frage. Hingegen besteht keine Rechtfertigung für eine unterschiedliche Interpretation der „Geringwertigkeit“ in den beiden genannten Vorschriften (BGHSt 6, 41). — BGHSt 10, 194 (196) ist der Ansicht, daß der Begriff der Öffentlichkeit im StGB nicht einheitlich ausgelegt werden muß; entscheidend sei der Schutzzweck der jeweiligen Norm.238 Der Tatbestand der Unzucht mit Kindern (§ 176 StGB a. F.) hat ein anderes Schutzobjekt als der Tatbestand der „Erregung geschlechtlichen Ärgernisses“ in der Öffentlichkeit (§ 183 StGB a. F.), so daß unzüchtiges Reden trotz des identischen Tatbestandsmerkmals „unzüchtige Handlung“ nicht von beiden Normen gleichermaßen erfaßt sein muß; zum Schutz des unpersönlichen Rechtsguts des § 183 (a. F.) genüge die Ahndung schwerwiegender Angriffe auf das Sittlichkeitsgefühl (BGHSt 15, 118 [123]). — Schon aus dem Kontext ergibt sich, daß mit dem „Eindringen in den Körper“ beim sexuellen Mißbrauch von Kindern (§ 176a I Nr. 1 StGB) nicht das gleiche gemeint sein kann wie mit dem Eindringen in ein Gebäude oder eine Wohnung in §§ 123, 243 StGB; deshalb kommt es bei § 176a I Nr. 1 StGB nicht auf den entgegenstehenden Willen des Berechtigten an (BGHSt 45, 131 [132]).

Ungeachtet dessen existieren jedoch Entscheidungen, die in gegenläufiger Tendenz die Einheitlichkeit der Rechtsbegriffe wahren wollen. Stets hat der BGH betont, daß eine Begriffsspaltung innerhalb einer Vorschrift kaum in Frage kommt oder zumindest sehr ungewöhnlich wäre.239 Darüber noch hinausgehend formuliert BGHSt 13, 178 (180) folgende Vermutung: 236 Eine weitere terminologische Abweichung zwischen StPO und StGB sieht BGHSt 10, 65 im Begriff der „Beteiligung“ (vgl. § 60 Nr. 2 StPO, § 28 II StGB). Zur (trotz § 28 II) unklaren Situation innerhalb des StGB siehe oben III 3 a. 237 Ebenso bereits BGHSt 3, 300 (303). 238 Eine Sprachspaltung aufgrund des Schutzzwecks der Norm vollführen außerdem oder halten zumindest für möglich: BGHSt 28, 213 (217); 34, 221 (225 f.); 38, 138 (139 f.); GS 48, 189 (195).

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V. Systematik

„Nach gesetzgeberischen Gepflogenheiten versteht ein Gesetz, wenn es an mehreren Stellen denselben Begriff wörtlich verwendet, in der Regel dasselbe.“

Die Tendenz zu einem einheitlichen Begriffsverständnis zeigt sich weiter in BGHSt 18, 246 (249): Wenn der Gesetzgeber eine bestimmte Deliktsgruppe neu regelt, läßt das auf ein einheitliches Verständnis des dort mehrfach verwendeten Begriffs („Absicht“) schließen. BGHSt 1, 80 (82 f.) hält es für evident, daß das Tatbestandsmerkmal „Unzucht“ in §§ 174, 175, 175a StGB (a. F.) jedenfalls im fraglichen Punkt sinngleich zu verstehen sei, denn andernfalls würde demselben Wort in so verwandten Vorschriften ein ganz verschiedener Sinn beigelegt.240 Nach BGHSt 31, 348 (352) folgt aus dem „Gebot der einheitlichen Auslegung der Tötungstatbestände“, daß der Schutzbereich der vorsätzlichen Tötung nicht anders bestimmt werden kann als bei der fahrlässigen. Ungeachtet des unterschiedlichen Ziels von § 146 und § 259 StGB sieht BGHSt 44, 62 (66) keinen Grund dafür, die Anforderungen an den Begriff des „Sichverschaffens“ in § 146 abzusenken, zumal die Norm unter höherer Strafdrohung stehe. Und BGHSt 45, 211 (217) argumentiert hinsichtlich des 1998 eingeführten § 306b II Nr. 2 StGB, daß insoweit auf die Auslegung der §§ 211 II, 315 III StGB zurückgegriffen werden kann, weil der Wortlaut der neuen Norm dem der bereits bekannten Vorschriften entspricht. Auch über die Grenzen der Kodifikation hinaus verwirklicht die Rechtsprechung die Einheit der Rechtsordnung, so etwa in BGHSt 17, 399 (402 f.): Verzichtet das Steuerrecht auf die Definition des Ausdrucks „Anhänger“, ist insoweit auf das (allgemeinere) Verkehrsrecht zurückzugreifen. Ähnlich argumentiert BGHSt 26, 12 (15): Wenn das WaffenG nicht definiert, was es unter der „Ausübung tatsächlicher Gewalt“ versteht, erscheint es notwendig, auf gleichartige Formulierungen in anderen Gesetzen (hier: § 854 BGB) zurückzugreifen.241 Nach Ansicht von BGHSt 43, 370 (374) läßt der Begriff der „öffentlichen Ver-

239 Siehe BGHSt 1, 313 (316) = oben Fall 113; BGHSt 7, 245 (247); BGHSt 45, 92 (94): einheitlicher Waffenbegriff in § 250 I, II StGB naheliegend. Besonders deutlich BGHSt 7, 240 (244): „Daß damit die Grenzen der vertretbarer Gesetzesauslegung überschritten werden, bedarf keiner weiteren Begründung.“ Anders wiederum BGHSt 25, 97 (99): „Eine Übertragung dieser Auslegung [zu § 60 II BZRG] auf Absatz 3 allein wegen der Gleichheit des Wortlauts mag nahe liegen, ist jedoch nicht zwingend geboten.“ 240 Ein abweichendes Verständnis des Wortes „Unzucht“ in §§ 174, 175, 176 StGB (a. F.) hält BGHSt 1, 80 (83) allerdings insoweit für möglich, als daß eine Handlung an einem Kind bereits als „Unzucht“ erscheinen kann, während die gleiche Handlung unter erwachsenen Männern diese Einstufung noch nicht erlaubt. Ebenso BGHSt 7, 231 (233) unter Hinweis auf die unterschiedlichen Schutzgüter der Vorschriften und BGHSt 15, 118 (123) für §§ 176 I Nr. 3, 183 StGB a. F. 241 Daß der BGH dabei den mittelbaren Besitz (§ 868) nicht uneingeschränkt mit einbeziehen will (a. a. O., S. 16), ist jedenfalls vom Wortlaut her nicht zu beanstanden, denn von „tatsächlicher Gewalt“ spricht das BGB nur beim unmittelbaren Besitz (§ 854).

8. Einheit der Rechtsordnung

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waltung“ in § 11 I Nr. 2c StGB keine eigenständig strafrechtliche Inhaltsbestimmung zu, sondern ist „in seiner verwaltungsrechtlich geprägten Bedeutung und Tragweite auch für das Strafrecht maßgebend“. Besonders deutlich wird die Problematik beim Eigentumsbegriff. An der Maßgeblichkeit der bürgerlichrechtlichen Bestimmung dieses Begriffs will der BGH grundsätzlich nicht zweifeln: So hat BGHSt 24, 222 (oben Fall 208) Auffassungen zurückgewiesen, die bei den Vorschriften zur Einziehung eine wirtschaftliche Betrachtungsweise zugrunde legen wollten, um zur Sicherung übereignete oder unter Eigentumsvorbehalt stehende Sachen zu erfassen: „Der Begriff des Eigentums hat im Strafrecht grundsätzlich keinen anderen Inhalt als im bürgerlichen Recht. Es kann in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob . . . im Einzelfall im Gesetz verwendete Ausdrücke in diesen beiden Rechtsgebieten verschieden ausgelegt werden. In der Regel ist jedenfalls die bürgerlichrechtliche Betrachtungsweise auch für das Strafrecht maßgebend (vgl. z. B. RGSt 61, 336, 337; BGHSt 6, 377, 378). Das gilt vor allem für das verfassungsrechtlich gewährleistete (Art. 14 GG) Eigentum,242 dessen bürgerlichrechtliche Wirkungen das Strafrecht grundsätzlich hinnehmen muß. Auch für die Frage der Zulässigkeit der Einziehung ist vom bürgerlichrechtlichen Eigentumsbegriff auszugehen und es besteht kein Anlaß, diesen in ,formales‘ und ,wirtschaftliches‘ Eigentum aufzuspalten“ (S. 227).

So überzeugend es erscheint, die begriffliche Parallelität in den beiden Rechtsordnungen zu wahren, so unmißverständlich sind die Andeutungen des BGH, daß er sich insoweit keine Bindung auferlegen will: Die Bedeutungsgleichheit bestehe „grundsätzlich“, die zivilrechtliche Perspektive entscheide „in der Regel“ und vorliegend bestehe „kein Anlaß“ für eine Begriffsspaltung. Würde der Senat hingegen ein Bedürfnis oder einen Anlaß für die selbständige Auslegung im Strafrecht sehen, würde er womöglich anders vorgehen, wie das vom BGB abweichende Verständnis der „Verwandtschaft“ zeigte. Nur so erklärt sich in BGHSt 24, 222 auch die eingehende Auseinandersetzung mit der Gegenansicht und der Entstehungsgeschichte. Der gleiche Vorbehalt gilt auch gegenüber BGHSt 43, 370 („öffentliche Verwaltung“, siehe oben), denn selbstverständlich hat der BGH im Verhältnis von Strafrecht und Verwaltungsrecht ebenfalls Begriffsspaltungen zugelassen, wenn Sachzwänge dies s. E. geboten, etwa durch einen eigenständigen strafrechtlichen Begriff der „rechtswidrigen“ Diensthandlung in § 113 III StGB.243 Wie häufig besteht der Verdacht, daß ein methodischer Grundsatz (Einheit der Rechtsordnung) besonders in dem Fall postuliert wird, in dem er problemlos eingehalten werden kann. Realistischer und treffend bringt der BGH die Sachlage in einer weiteren Entscheidung auf den Punkt, die

242 Was das Verfassungsrecht, das anerkanntermaßen einen anderen Eigentumsbegriff kennt, in diesem Zusammenhang für eine Rolle spielen soll, ist unklar. 243 Zu den Problemen der im Umweltstrafrecht anerkannten Verwaltungsakzessorietät siehe Lackner/Kühl, StGB, vor § 324, Rn. 3.

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V. Systematik

es ablehnt, für das Verkehrsstrafrecht einen vom Zivilrecht abweichenden Eigentumsbegriff zu statuieren: „Wenn Hartung . . . es für möglich hält, im letzten Fall durch eine auf das Verkehrsstrafrecht beschränkte, umfassendere Auslegung des im bürgerlichen Recht geltenden Eigentumsbegriffs zu helfen, so muß darauf hingewiesen werden, daß dadurch eine Unterscheidung in die Rechtsordnung hineingetragen würde, die zu der Bedeutung der mit ihr gelösten Rechtsfrage nicht in einem angemessenen Verhältnis stünde und zu einer allgemeinen Unsicherheit über einen grundlegenden Begriff unserer Rechtsordnung führen könnte“ (BGHSt 12, 282 [287]).

Der Ertrag der Begriffsspaltung (Lösung der konkreten Rechtsfrage) muß also mit der damit verbundenen Gefahr (Rechtsunsicherheit) abgewogen werden. Dabei kann nach dem bereits Gesagten für ein einheitliches Verständnis sprechen, daß es sich um denselben Ausdruck innerhalb eines Abschnitts oder sogar innerhalb einer Norm handelt oder daß derselbe Terminus in verwandten Vorschriften auftaucht244. Ein starkes Argument für die Annahme von Sinnkonstanz liegt auch vor, wenn der Gesetzgeber in einer Novellierung mehrfach denselben Ausdruck verwendet. Anerkannt werden sollte grundsätzlich auch eine Prärogative der jeweils einschlägigen Kodifikation für ihre Materie, z. B. des BGB in Fragen des Eigentums und der Verwandtschaft.245 Ein davon divergierendes Verständnis sollte grundsätzlich der Gesetzgeber kenntlich machen.246 Begriffsspaltungen durch den Rechtsanwender sind damit allerdings nicht ausgeschlossen, auch wenn für den Laien die Verständlichkeit der Gesetze darunter leidet. Sie sind nötig, wenn dies bereits aus dem Kontext folgt, in dem die Begriffe gebraucht werden (z. B. „Kind“, „Eindringen“, „Übertretung“)247, sie sind zulässig, wenn dies aus der Eigenheit oder dem besonderen Zweck des jeweiligen Tatbestandes begründbar ist:

244 Nicht überzeugend ist es deshalb, wenn OVG Saarlouis ZfS 2001, 92 (93, r. Sp.) unter „Fahrzeug führen“ im Sinn der FeV etwas anderes verstehen will als der BGH zu § 316 StGB (oben Kap. III, Fn. 412). 245 „Im Zweifel“ für einen Rückgriff auf den „relativ feststehenden Begriffsinhalt“ auch Bydlinski, Methodenlehre, S. 447 f. 246 So wie beim Begriff der Verwandtschaft durch das 2. StrRG (oben Fn. 235) geschehen und beim Ausdruck „Kind“ in § 221 II Nr. 1 StGB durch das 6. StrRG (oben Fn. 232) sträflich unterlassen. 247 Das hat der Gesetzgeber des 6. StrRG z. B. übersehen, als er davon ausging, daß das „gefährliche Werkzeug“ beim neugefaßten § 250 StGB so verstanden werden kann wie in § 223a StGB a. F. (§ 224 I Nr. 2 g. F.). Da es danach auf die konkrete Verwendung ankommt, paßt die Definition nicht, wenn der Räuber die Waffe nur bei sich führt (§ 250 I Nr. 1a); näher oben Fall 220. Der Rechtsprechung bleibt deshalb nur der Weg der Begriffsspaltung innerhalb von § 250 oder der Neukonstitution eines einheitlichen Begriffsinhalts für § 250, dann aber in Abweichung zu § 223a a. F. (§ 224 I Nr. 2 g. F.). BGHSt 45, 92 (94) ist der Ansicht, daß der Waffenbegriff in den Absätzen 1 und 2 des § 250 „naheliegender Weise“ einheitlich zu verstehen ist. Eingehend zu diesem Fragenkreis Demko, Relativität der Rechtsbegriffe, S. 276 ff.

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Aus dem unterschiedlichen Zweck der Diebstahls- und der Brandstiftungsdelikte kann die unterschiedliche Bedeutung des Wortes „Gebäude“ gerechtfertigt werden. Aus den unterschiedlichen Schutzgütern der §§ 175, 183 StGB a. F. einerseits und der §§ 174, 176 a. F. andererseits kann sich eine abweichende Interpretation der „unzüchtigen Handlung“ erklären.248 Beim Begriff der Verwandtschaft konnte die Abweichung von § 1589 II BGB a. F. („Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten als nicht verwandt.“) vielleicht mit den ausschließlich im Zivilrecht liegenden Besonderheiten dieser Fiktion begründet werden. Schwierig wäre es allerdings, aus teleologischen Besonderheiten des Betäubungsmittelstrafrechts abzuleiten, daß der Begriff der „Bande“ dort anders definiert werden muß als in anderen strafrechtlichen Bestimmungen; BGHSt 38, 26 (28 ff.) lehnt das ab, hält eine gegenteilige Lösung aber offenbar methodisch für denkbar. Nicht überzeugend sind die Gründe für eine Sprachspaltung in folgender Entscheidung:249 Fall 278 (BGHSt 30, 1: DDR als „Inland“?): Nach § 3 StGB gilt deutsches Strafrecht für im Inland begangene Straftaten. Die wichtige Frage, was unter „Inland“ zu verstehen ist, hat der Gesetzgeber des 2. StrRG der Rechtsprechung überlassen und auch das EGStGB von 1974 hat diese Fragen nicht geklärt. Der BGH ist der Ansicht, daß es nach dem Grundlagenvertrag von 1972 nicht mehr vertretbar ist, das Gebiet der DDR als „Inland“ anzusehen (S. 3). Zwar betrachte das BVerfG die DDR staatsrechtlich nach wie vor nicht als „Ausland“, doch setze die Anwendung von § 3 eine funktionierende Staatsgewalt voraus; die Bundesrepublik übe auf dem Gebiet der DDR jedoch keine Staatsgewalt aus (S. 4). Seinen „funktionellen Inlandsbegriff“ will der BGH freilich auf § 5 Nr. 6 nicht anwenden. § 5 dient dazu, Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter zu erfassen. Nach § 5 Nr. 6 gilt das deutsche Strafrecht für eine im Ausland begangene politische Verdächtigung (§ 241a StGB), „wenn die Tat sich gegen einen Deutschen richtet, der im Inland seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat“. Im vorliegenden Fall wurden die Taten jedoch in der DDR begangen und richteten sich gegen deren Bürger. Daß der gleichlautende Begriff „Inland“ in beiden Vorschriften eine unterschiedliche Bedeutung hat, erklärt der BGH u. a. mit dem Schutzzweck des 1951 eingeführten § 241a, mit dem der Gesetzgeber auch Bürger der DDR vor politischen Verdächtigungen habe schützen wollen (S. 5). Auch nach dem Grundlagenvertrag seien Bürger der DDR deutsche Staatsangehörige, gegenüber denen die Bundesrepublik Schutzpflichten habe. Mit dem Grundlagenvertrag habe sich die Bundesrepublik dem nicht entziehen wollen. Zudem spreche der Gesetzgeber, wenn er das Staatsgebiet der DDR nicht miteinbeziehen wolle, sonst in § 5 vom „räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes“ (S. 7).250 Auch die Verschiedenheit des Regelungszusammenhangs rechtfertige das abweichende Verständnis: § 3 diene der räumlichen Ein- und Abgrenzung des deutschen Strafrechts, § 5 der Ausdehnung zum Schutze eines bestimmten Personenkreises (S. 7 f.). Diese Auslegung bedeute keinen Eingriff in die Hoheitsgewalt der DDR und verstoße somit auch nicht gegen den Grundlagenvertrag.251 – Trotz aller Bemühungen des BGH überzeugt die Be248

Vgl. BGHSt 1, 80 (83), oben Fn. 240 und BGHSt 15, 118 (123). Ebenfalls in BGHSt 36, 192 = oben Fall 112 („Erzwingungshaft“). 250 Das Argument trägt allerdings kaum, weil der Gesetzgeber – auch nach Auffassung des BGH – die Definition des Inlandsbegriffs ja gerade der Rechtsprechung überlassen hat; siehe H.-J. Schroth, NJW 1981, 500 f. 249

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V. Systematik

griffsspaltung kaum.252 Nachvollziehbar und wohl auch notwendige Konsequenz des Grundlagenvertrages ist die Emanzipation des strafrechtlichen („funktionellen“) vom verfassungsrechtlichen Inlandsbegriff, während die Differenzierung zwischen § 3 und § 5 Nr. 6 schwerlich einleuchtet. Schon innerhalb des § 5 führt die Auslegung des BGH zu einem Widerspruch, denn die in der DDR begangene Tat soll einerseits als „Auslandstat“ gelten, das dort lebende Tatopfer jedoch andererseits als „Inländer“ zu behandeln sein.253

Sprachspaltungen sind in jedem Fall abzulehnen, wenn sie lediglich dazu dienen, als strafwürdig erkannte Einzelfälle oder Sonderkonstellationen noch „einfangen“ zu können, wenn sie also als offensichtliche Zweckkonstruktionen zur Vermeidung von Strafbarkeitslücken erscheinen. Eine scharfe Abgrenzung zur erlaubten teleologischen Begriffsbildung ist zugegebenermaßen kaum zu leisten, aber oftmals sind die allein kriminalpolitisch motivierten ad-hoc-Lösungen leicht erkennbar: Fall 279 (BGHSt 31, 348 – „fahrlässige Abtreibung“): Für die Abgrenzung zwischen vorsätzlicher Tötung und Abtreibung stellt die Rechtsprechung auf den Zeitpunkt der Einwirkung des Täters ab. Führt eine Abtreibungshandlung erst nach der Geburt zum Tod des Kindes, wird aus dem Schwangerschaftsabbruch kein Totschlag. Nach Ansicht des Senats muß dies auch für fahrlässige Handlungen gelten, denn der Schutzbereich der Tötungsdelikte könne nur einheitlich bestimmt werden (S. 352). Zu Recht nimmt der Senat in Kauf, daß diese Rechtsprechung die Straflosigkeit des fahrlässigen Schwangerschaftsabbruchs impliziert und damit „zu rechtspolitisch bedenklichen Strafbarkeitslücken“ führen kann (S. 353).254 Überzeugend erteilt BGHSt 42, 235 (240) dem Versuch, die actio libera in causa durch die Ausdehnung des Tatbegriffs in § 20 StGB zu legitimieren („Ausdehnungsmodell“), eine deutliche Absage: Nichts [außer dem Ziel dieser Konstruktion!] spreche für ein unterschiedliches Verständnis dieses in §§ 16, 17 und 20 StGB gebrauchten Ausdrucks. Um einen anderen Tatbegriff geht es in BGHSt 47, 243 (oben Fall 105). Auch dort weist der BGH zu Recht Auffassungen zurück, die aus Zweckmäßigkeitserwägungen vom sonst üblichen (konkurrenzrechtlichen) Tatbegriff abweichen wollen. Nach BGHSt 7, 245 (247) kann der Rechtsbegriff „Angehöriger“ nicht innerhalb derselben Norm unterschiedlich ausgelegt werden, „je nachdem, welches Ergebnis im Einzelfalle wünschenswert ist; das wäre nicht mehr Rechtsanwendung, sondern freies Ermessen“. Die daraus folgende Rechtsunsicherheit wäre in der vorliegenden Frage des Strafantragserfordernisses „besonders unerträglich“.

Die Aufhebung der Begriffseinheit ist vor allem dort problematisch, wo es um die Einhaltung der Wortlautgrenze (Art. 103 II GG) geht. Es sollte selbstA.A. Lackner, StGB17, § 5, Anm. 3 und Dreher/Tröndle, StGB43, § 5, Rn. 6. Schroeder, NStZ 1981, 179 (180): „Einigermaßen kurioses Ergebnis“; H.-J. Schroth, NJW 1981, 500. 253 Diese Aufspaltung des Inlandsbegriffs nach Opfer- und Täterperspektive kritisiert vor allem H.-J. Schroth, NJW 1981, 500 (r. Sp.). 254 Die Entscheidung wird von Rengier (in: Festgabe 50 Jahre BGH, Bd. IV, S. 473) als „methodisch vorbildlich“ gelobt. 251 252

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verständlich sein, daß nicht vom sonst üblichen schen) Verständnis abgerückt werden darf, nur um ten Einzelfall unter vermeintlicher Wahrung der können. Vor diesem Hintergrund zweifelhaft sind scheidungen, die bereits erörtert wurden:

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fachsprachlichen (dogmatiden als strafwürdig erkannWortlautgrenze erfassen zu insbesondere folgende Ent-

Nicht überzeugend begründet BGHSt 34, 221 unter Berufung auf die „Eigenständigkeit strafrechtlicher Regelung und Auslegung“, weshalb unter „Gläubiger“ i. S. von § 283c StGB etwas anderes zu verstehen sein soll als nach bürgerlichem Recht und Konkursrecht (eingehend oben Fall 103). Daß im konkreten Fall nach Ansicht des BGH der Schutzzweck der Privilegierungsnorm nicht greift, wird kaum ausreichen, um einem derart grundlegenden Begriff einen abweichenden Sinn zu geben. Mit den Worten von BGHSt 12, 282: Durch seine Vorgehensweise trägt der Senat eine Unterscheidung in die Rechtsordnung, die zu der Bedeutung der mit ihr gelösten Rechtsfrage nicht in einem angemessenen Verhältnis steht und zu Unsicherheiten über einen grundlegenden Begriff unserer Rechtsordnung führen könnte.255 Zumindest zweifelhaft ist weiterhin BGHSt 28, 129 (oben Fall 24 und Fall 61): Der Senat verzichtet auf die trennscharfe fachsprachliche Differenzierung zwischen Vorsatz, Rechtswidrigkeit und Schuld, indem er unvorsätzliches Verhalten mit einem „berechtigten“ oder „entschuldigten“ gleichsetzt. In der Rechtssprache fänden diese Wörter auch auf nicht vorsätzliches Verhalten Anwendung.

Im Ergebnis bleibt festzuhalten: Die „Relativität der Rechtsbegriffe“ ist nötig und von der Rechtsprechung seit jeher anerkannt. Kann im konkreten Fall dennoch an einem einheitlichen Verständnis festgehalten werden, ist das nicht nur unter rechtsästhetischen Gesichtspunkten erfreulich; vielmehr wird dadurch die Durchschaubarkeit des Rechts und letztlich die „Einheit der Rechtsordnung“ gefördert.256 Umgekehrt leidet die Verständlichkeit des Rechts und die Vorhersehbarkeit von Gesetzesanwendungen unter Bedeutungsunterschieden,257 die keine offensichtliche Erklärung im Kontext finden. In gewissen Grenzen spricht 255 Mit einer Sprachspaltung hätte der BGH auch in der Thematik des „faktischen Geschäftsführers“, der abweichend von der gesellschaftsrechtlichen Bedeutung verstanden wird, argumentieren können (siehe ausführlich oben Fall 85). Dieser Weg wäre angreifbar, aber „ehrlicher“ als der des BGH gewesen. 256 Demko (Relativität der Rechtsbegriffe) sieht im Begriffsrelativismus keinen Gegensatz zur Einheit der Rechtsordnung, sondern ein notwendiges Mittel, um die Widerspruchsfreiheit des Rechts zu gewährleisten (S. 153 f., 160); nicht zuletzt die Menschenwürde spreche gegen die schablonenhafte Annahme von Begriffsgleichheit (S. 159). Die Rechtsordnung bewähre sich in ihrer Gesamtheit nur, wenn der Norminhalt je nach Spezialgebiet verstanden werde (S. 158). – Damit wird aber ein einfacher Sachverhalt verdreht: Das Ideal der Einheit der Rechtsordnung erfährt durch die Relativität der Rechtsbegriffe durchaus eine Einschränkung, die allerdings gerechtfertigt oder sogar nötig sein kann. Für das unterschiedliche Verständnis der Ausdrücke „Gebäude“ oder „Inland“ innerhalb des StGB mögen Sachgründe (Kontext, Zweck) sprechen, aber die „Widerspruchsfreiheit des Rechts“ oder gar Art. 1 GG werden durch solche Begriffsspaltungen nicht gefördert. 257 So auch das Handbuch der Rechtsförmlichkeit (Rn. 48) mit Empfehlungen an den Gesetzgeber zur Vermeidung der Bedeutungsunterschiede. Siehe außerdem Zippe-

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V. Systematik

durchaus eine Vermutung für die Annahme von Bedeutungsgleichheit, die generell in geringerem Maß begründungsbedürftig ist als eine Begriffsspaltung.258 Insbesondere innerhalb einer Norm oder bei verwandten Vorschriften müssen gute Gründe für die unterschiedliche Bedeutung desselben Ausdrucks vorliegen, wobei solche aus dem Kontext leichter überzeugen als solche aus Schutzzweckerwägungen. Die Abgrenzung zwischen zulässiger „teleologischer Begriffsbildung“ und kriminalpolitisch motivierten „ad-hoc-Lösungen“ ist im Einzelfall allerdings schwierig. Im größeren Zusammenhang der Kodifikation und vor allem kodifikationsüberschreitend verliert die genannte Vermutung freilich an Kraft, obwohl auch dann oftmals ein Interesse an einem einheitlichen Verständnis besteht, etwa beim Eigentums- und Sachbegriff im bürgerlichen Recht und im Strafrecht. Nicht nur intuitiv erscheinen Gerichtsurteile, welche die Sinneinheit der Begriffe wahren, meistens ohne weiteres als überzeugend. Schließlich ist noch zu betonen, daß die Einheit der Rechtsordnung in erster Linie als Gebot an den Gesetzgeber zu verstehen ist, für eine konsistente Terminologie zu sorgen, unterschiedliche Sachverhalte möglichst mit unzweideutigen Ausdrükken zu bezeichnen und – im vertretbaren Rahmen – Mißverständnisse durch Legaldefinitionen auszuräumen. Nur eine konsistente Begrifflichkeit ermöglicht auch die typischen Umkehrschlüsse, die eine abweichende Formulierung als Beleg für einen abweichenden Inhalt betrachten oder darauf verweisen, daß der Gesetzgeber bei anderer Zielsetzung eine andere Formulierung gewählt hätte.259 b) Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung Die „Einheit der Rechtsordnung“ drängt zu einer einheitlichen Terminologie, verlangt aber außerdem die Widerspruchsfreiheit des Rechtssystems.260 Am empfindlichsten fallen insoweit echte Normwidersprüche ins Gewicht, bei denen für ein und denselben Sachverhalt divergierende gesetzliche Anordnungen greifen. Sie werden mit den üblichen Derogationsregeln (lex posterior, lex specialis etc.) aufgelöst, die hier nicht behandelt werden.261 Im Konflikt zwischen Verfassungs- und einfachem Strafrecht vermag die verfassungskonforme Auslegung (oben V 5) einige Härten einer Derogation abzumildern. Weiter können lius, Methodenlehre, S. 49: Das „Bedürfnis nach Orientierungsgewißheit“ lasse es als wünschenswert erscheinen, gleiche Wörter gleich auszulegen. 258 Für eine Vermutung von „Sinn-Identität“ im gleichen Gesetz Tettinger, Einführung, S. 133. Demko (Relativität der Rechtsbegriffe, S. 325) hält sowohl Gleich- als auch Verschiedenheit der Bedeutungen für begründungsbedürftig. 259 Vgl. oben III 3 g und IV 7 g. 260 BVerfGE 98, 83 (97); 98, 106 (118 f.); 98, 265 (301) leiten aus dem „Rechtsstaatsprinzip“ ab, „daß den Normadressaten nicht gegenläufige Vorschriften erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen“ (betr. inhaltliche Konflikte zwischen bundes- und landesrechtlichen Regelungen). 261 Vgl. die Nachweise oben in Kap. IV, Fn. 281.

8. Einheit der Rechtsordnung

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für denselben Sachverhalt aber auch verschiedene Vorschriften nebeneinander einschlägig sein, die durch ausgefeilte und zum Teil kodifizierte Regelungen der Konkurrenzlehre zum Ausgleich gebracht werden. Auch dabei stehen keine methodischen Probleme der Gesetzesauslegung im Vordergrund. Unter diesem Gesichtspunkt interessanter sind die im Gesetz vorhandenen „Systemwidrigkeiten“ oder „Wertungswidersprüche“. Damit ist zum einen gemeint, daß der Gesetzgeber ohne Anlaß von einem selbst vorgegebenen Prinzip (systemwidrig) abweicht, zum anderen, daß er das gleiche Rechtsproblem oder eine gleiche Interessenlage in verschiedenen Bestimmungen (wertungswidrig) einer unterschiedlichen Lösung zuführt. Diese gesetzesimmanenten Widersprüche262 wurden hier bereits insoweit behandelt, als sie Ergebnis einer im unterschiedlichen Maß fortgeschrittenen Rechtsentwicklung sind (oben IV 5 d). Der BGH hat solche Divergenzen zuweilen durch „Auslegung“ begradigt: So ist es ein Wertungswiderspruch innerhalb der Kodifikation, wenn der Gesetzgeber im Bereich der Teilnahme die limitierte Akzessorietät durchsetzt, es bei den „teilnahmeähnlichen“ Delikten (Begünstigung, Hehlerei) aber bei der strengen Akzessorietät beläßt (vgl. BGHSt 1, 47 = oben Fall 163).263 Unter anderem aus Gründen der Gerechtigkeit hat der BGH dem neuen Rechtsgrundsatz der „limitierten Akzessorietät“ auch bei den unveränderten Normen zum Durchbruch verholfen. Ähnlich lag es lange Zeit im Recht der Einziehung, das erst nach und nach „neuzeitlichen“ Rechtsvorstellungen angepaßt wurde, indem zwingende Normen zu Ermessensvorschriften umgestaltet und die Interessen tatunbeteiligter Dritter angemessen berücksichtigt wurden. Da die Harmonisierung der in der Strafrechtsordnung weit verstreuten Einziehungsregelungen nicht auf einen Schlag erfolgte, standen sich Regelungen unterschiedlichen Inhalts gegenüber. Der BGH hat solche Wertungswidersprüche nicht selten gegen den klaren Gesetzeswortlaut beseitigt.264

Die Unstimmigkeit der Regelungen kann auf einem schlichten Übersehen des Gesetzgebers beruhen, der eine Harmonisierung verwandter Vorschriften versäumt hat. Auch dann drängt die systematische Auslegung den Rechtsanwender dazu, das Versäumte nachzuholen: Fall 280 (BGHSt 45, 261): Gemäß § 33 I 1 Nr. 9 OWiG a. F. wurde die Verjährung durch Erlaß des Bußgeldbescheides unterbrochen. Zur Beschleunigung des Verwaltungsverfahrens änderte der Gesetzgeber die Norm 1998 dahingehend, daß der Erlaß des Bescheides die Verjährung nur dann unterbricht, wenn er binnen zwei Wochen zugestellt wird. Unverändert blieb jedoch die speziellere Regelung des § 26 III StVG, wonach ein Bußgeldbescheid die Verjährung unterbricht, sobald er „ergangen“ ist. Die Norm wurde verstanden wie § 33 I 1 Nr. 9 OWiG a. F., so daß für den großen Bereich des Straßenverkehrsrechts das Ziel der Gesetzesänderung verfehlt worden wäre (S. 264). Nach Ansicht des Senats ist deshalb in Hinblick auf § 33 I 1 262

Engisch, Einführung, S. 213. Da hier strafrechtliche Grundgedanken in Konflikt geraten, kann man hier auch von einem „Prinzipienwiderspruch“ sprechen; vgl. dazu Engisch, Einführung, S. 215. 264 Siehe oben IV 5 d und dort vor allem BGHSt 9, 96 = Fall 165 sowie BGHSt 18, 279 = Fall 166. 263

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V. Systematik

Nr. 9 OWiG n. F. eine Änderung der Auslegung zu § 26 III StVG „erforderlich“, um die Rechtsfolgen der beiden Vorschriften sinnvoll miteinander abzustimmen. Deshalb könne die Auslegung „nur dahin gehen“, auch bei § 26 III eine Zustellung binnen zwei Wochen zu verlangen. Eine vom BayObLG vorgeschlagene Lösung lehnt der Senat u. a. mit dem Argument ab, sie finde im Wortlaut „keine Stütze“.265 – Der Senat transferiert die Zielsetzung der Gesetzesänderung auf den „hinterherhinkenden“ § 26 III StVG und vervollständigt damit das gesetzgeberische Programm. Freilich korrigiert er eine eindeutige Norm, so daß nähere Ausführungen zur Berechtigung der Gesetzeskorrektur bzw. Lückenfüllung erwartet werden durften.266

Die Herstellung konsistenter Wertungen bleibt in erster Linie Aufgabe der Legislative.267 Sie stößt in der Rechtsanwendung unweigerlich auf Grenzen. Aufgrund seiner Gesetzesgebundenheit kann der Richter eine veraltete, aber eindeutige Anordnung eines früheren Gesetzgebers nicht umgestalten, wenn kein echter Normwiderspruch vorliegt, der mit der lex-posterior-Regel aufgelöst werden könnte. Selbst die verfassungskonforme Auslegung kann eine nach Wortlaut und Sinn eindeutige Regel nicht abwandeln. Die Herstellung von Wertungsharmonie268 kollidiert hier mit rechtsstaatlichen Erwägungen. Der Wertungskonflikt führt auch nicht zu einer „nachträglichen Regelungslücke“, die unter Umständen zur Rechtsfortbildung berechtigte. Lassen Wortlaut und „Wille des Gesetzgebers“ hingegen die Anpassung der älteren an die jüngere Norm zu, entspricht es dem Gebot systematischer Auslegung und dem Gleichbehandlungsgrundsatz, die Einheit der Wertungen durch Auslegung herbeizuführen.269 Erheblich geringerer Druck zur Herstellung von Wertungsgleichheit besteht bei einer unterschiedlichen Bewertung eines Sachverhalts in verschiedenen Rechtsgebieten. Bereits erwähnt wurde der in Zivil- und Strafrecht divergierende Fahrlässigkeitsbegriff, der zur unterschiedlichen Bewertung eines Verhaltens (nicht strafbar, aber Schadensersatz begründend) führen kann. Ein Verwaltungsakt kann nach den Grundsätzen des Verwaltungsrechts rechtswidrig sein, ohne daß dies im Strafrecht ebenso sein müßte (z. B. § 113 III StGB). Die 265 Sarkastisch dazu König, JR 2000, 345 (346 f.): Wenig plausibel angesichts eigenen Judizierens contra legem. 266 König (wie Fn. zuvor) legt näher dar, daß die Voraussetzungen zur Rechtsfortbildung s. E. nicht vorlagen. 267 Daneben ist es natürlich Aufgabe der Dogmatik im weiteren Sinn und des Präjudizienrechts, eine gleichmäßige Bewertung von Fällen zu ermöglichen. 268 Vgl. Bydlinski, oben Kap. IV, Fn. 292 ff. 269 Larenz (Methodenlehre, S. 334 ff.) sieht in dem Ausgleich von Wertungswidersprüchen eine Aufgabe „objektiv-teleologischer“ Auslegung. In der Sache dürfte damit nichts anderes gemeint sein. Allerdings wird der Ausgleich von Widersprüchen dadurch zu Unrecht den sonst gegen eine „objektiv-teleologische“ Interpretation erhobenen Vorwürfen ausgesetzt, denn mit den gesetzesfernen allgemeinen Argumenten der Vernunft, Billigkeit und Natur der Sache hat die geschilderte Verfahrensweise nichts gemein.

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Wertungsdifferenzen können, müssen aber nicht zwangsläufig in „relativen Rechtsbegriffen“ (Begriffsspaltungen) zutage treten. Die „Ungleichbehandlungen“ erklären sich zumeist aus den sachlichen Unterschieden der betroffenen Rechtsgebiete, so daß sich die Frage nach der Einhaltung des allgemeinen Gleichheitssatzes (dazu sogleich) mangels Vergleichbarkeit in aller Regel gar nicht stellt.270 Gleichwohl besteht verschiedentlich Anlaß, „Wertungsgleichklang“ zwischen den verschiedenen Rechtsgebieten herzustellen, insbesondere wenn eines für das andere „vorgreiflich“ ist, wie etwa das Umweltverwaltungsrecht für das Umweltstrafrecht.271 Dann ist die Rechtsanwendung bemüht, die „Einheit der Rechtsordnung“ durch ein akzessorisches Verständnis zu wahren und abweichende Bewertungen zu vermeiden. Für den Betroffenen wäre es unverständlich, wenn sein Verhalten verwaltungs- oder dienstrechtlich erlaubt ist, ihm aber dennoch eine strafrechtliche Ahndung droht: Fall 281 (BGHSt 47, 295 – „Drittmittelforschung“): Die vielfach geforderte Einschränkung der Bestechungsdelikte (§§ 331 ff. StGB) für den Bereich der durch Drittmittel geförderten Forschung nimmt der Senat am Merkmal der Unrechtsvereinbarung vor. „Aus systematischen Gründen und im Interesse der Einheit der Rechtsordnung“ sei dieses Tatbestandsmerkmal zu verneinen, wenn der Amtsträger die beamten- und hochschulrechtlichen Vorschriften zur Mitteleinwerbung einhält (S. 307 f.). Auf diese Weise könne „Wertungsgleichklang“ zwischen Hochschulrecht, das den Hochschullehrer sogar zur Einwerbung von Geldern verpflichtet, und Strafrecht hergestellt werden (S. 308).

c) Verstoß gegen Art. 3 I GG? In Einzelfällen kann die Verletzung der „vom Gesetz selbst statuierten Sachgesetzlichkeit“ allerdings einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) begründen.272 Das setzt jedoch nicht nur die Feststellung der Systemwidrigkeit, sondern zusätzlich voraus, daß die Normadressaten ohne sachlichen Grund und trotz gleicher Sachlage ungleich behandelt werden. Führt die Auslegung zu einem solchen Ergebnis, muß nach Wegen einer verfassungskon270 Ganz fernliegend ist z. B. die Argumentation des hessischen Justizministeriums, wonach die „Einheit der Rechtsordnung“ dafür spreche, die Sonderbehandlung von Heranwachsenden im Strafrecht abzuschaffen, weil die Volljährigkeit auch auf anderen Gebieten die entscheidende Grenze sei (siehe F.A.Z., Rhein-Main-Zeitung, 1. August 2003, S. 58). Maßgeblich ist doch nur, ob es für diese Sonderbehandlung sachliche Gründe gibt, was bislang fast einhellig bejaht wurde. Oder soll es gegen die Einheit der Rechtsordnung verstoßen, daß der Bundespräsident – anders als z. B. der Bundeskanzler – mindestens 40 Jahre alt sein muß? Es wäre auch kein Wertungswiderspruch, wenn Bundestagsabgeordnete ein Mindestalter aufweisen müßten, während das aktive Wahlrecht an die Volljährigkeit anknüpft. 271 Vgl. oben Fn. 243. 272 BVerfGE 45, 363 (375); 34, 103 (115); zurückhaltend: BVerfGE 59, 36 (49); siehe zum Ganzen und zur neueren Entwicklung in der Rechtsprechung des BVerfG Sendler, NJW 1998, 2875 und Sodan, JZ 1999, 864.

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V. Systematik

formen Auslegung gesucht werden, die aber den dargelegten (siehe oben V 5) Beschränkungen unterliegt. Ist ein verfassungskonformes Verständnis nicht möglich, muß die Norm dem BVerfG vorgelegt werden. Obschon der Gleichbehandlungsgrundsatz im allgemeinen eine erhebliche Rolle in der Rechtsanwendung spielt (vgl. unten VI 3), dürften Konstellationen, die zu einer verfassungskonformen Auslegung oder zu einer konkreten Normenkontrolle zwingen, im Strafrecht nicht häufig sein. Zu Recht hat aber z. B. BVerfGE 65, 377 in der Rechtsprechung des BGH, welche – mit dem Wortlaut des § 410 StPO a. F. kaum vereinbar – dem Strafbefehl eine nur eingeschränkte Rechtskraftwirkung zusprach, einen Verstoß gegen Art. 3 I GG erblickt (siehe oben BGHSt 28, 69 = Fall 195). Es sei kein Unterscheidungsmerkmal zwischen Strafbefehl und Urteil erkennbar, das eine Ungleichbehandlung rechtfertige; auch andere, dem Strafbefehlsverfahren ähnelnde Regelungen sprächen dagegen (S. 385 f.). Da dem Gesetzgeber aufgrund Art. 3 I GG eine solche Differenzierung verwehrt sei, dürften auch die Gerichte nicht im Wege der Auslegung zu diesem Ergebnis gelangen (S. 384).

Die Frage nach einer Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes stellt sich nicht nur, wenn innerhalb einer Kodifikation die gleiche Interessenlage durch verschiedene Normen unterschiedlich behandelt wird, sondern vor allem dann, wenn eine Norm so ausgestaltet ist, daß sie – gemessen an ihrem Zweck – keine gleichmäßige Erfassung gleichgelagerter Sachverhalte erlaubt.273 In der bereits mehrfach erwähnten Entscheidung BGHSt 36, 192 hat der Senat auf eine Systemwidrigkeit hingewiesen, die entstünde, falls man den Sprachgebrauch des historischen Gesetzgebers zugrunde legte: BGHSt 36, 192 (oben Fall 112): Nach § 304 V StPO sind u. a. Verfügungen des Ermittlungsrichters beschwerdefähig, welche Beschlagnahme, Durchsuchung oder „Verhaftung“ betreffen. Der Gesetzgeber hat unter „Verhaftung“ wohl274 nur Untersuchungshaft, nicht aber auch Erzwingungshaft verstanden. Unter Berücksichtigung des Grundrechts auf persönliche Freiheit „erschiene es ungereimt, wenn nicht systemwidrig, zwar Beschlagnahme und Durchsuchung, nicht aber Erzwingungshaft“ zu erfassen (S. 196).

Hält man es für einen Verstoß gegen Art. 3 I GG, die Erzwingungshaft nicht mit einzubeziehen, obwohl sie schwerer wiegt als eine Beschlagnahme, dann kommt eine verfassungskonforme Auslegung in Betracht. Mit dem Wortlaut wäre ein weiter Haftbegriff zu vereinbaren, aber fraglich bliebe, ob damit nicht eine klare gesetzgeberische Entscheidung ohne Rechtfertigung modifiziert würde.275 Ließe der gesetzgeberische Wille indes noch Raum für die Erfassung der Erzwingungshaft, dann wäre dieses Verständnis angesichts der sonst vorlie273 Sodan, JZ 1999, 864 (871, r. Sp.): Die materiale Richtigkeit der Rechtsordnung verlange die „Widerspruchsfreiheit der Rechtssätze gegenüber den Sachverhalten“. 274 Vgl. oben Fall 112 und Kap. IV, Fn. 76. 275 Näher zu den Voraussetzungen der verfassungskonforme Auslegung oben V 5.

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genden Verletzung des Art. 3 I GG zwingend. Freilich ist zweifelhaft, ob die vom Senat konstatierte „Systemwidrigkeit“ wirklich eine Verletzung des Art. 3 I GG impliziert. Die spezifischen Voraussetzungen der Grundrechtsprüfung (Art. 3 I GG) können hier nur skizziert werden. Nach der Praxis des BVerfG hängt die Kontrolldichte davon ab, ob Personengruppen oder Sachverhalte ungleich behandelt werden („Neue Formel“).276 Im ersteren Fall wird als Maßstab nicht nur das Willkürverbot277 zugrunde gelegt, sondern darüber hinaus geprüft, ob es unter Berücksichtigung des Normzwecks rechtfertigende Gründe für die Differenzierung gibt. Aber auch bei sachverhaltsbezogenen Unterscheidungen findet eine strengere inhaltliche Kontrolle statt, wenn diese sich auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirkt. Für BGHSt 36, 192 bedeutet das: Mißt man § 304 V StPO lediglich am Willkürverbot, dann ist angesichts eines weiten Spielraums des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung seiner Normen ein Verstoß gegen Art. 3 I GG zumindest nicht evident. Es ist nicht willkürlich, wenn der Gesetzgeber das nur ausnahmsweise gewährte Beschwerderecht den s. E. wichtigsten Fallgruppen vorbehält. Zudem ist es nicht ausgeschlossen, daß zwischen Untersuchungs- und Erzwingungshaft sachliche Unterschiede vorliegen, die eine Ungleichbehandlung in bezug auf das Beschwerderecht rechtfertigen. Sieht man hingegen in der Ausübung des Beschwerderechts ein grundrechtlich geschütztes Verhalten, ist strenger zu prüfen: Unter Berücksichtigung des Normzwecks, bei besonders schwerwiegenden Eingriffen ein Beschwerderecht einzuräumen, wird sich schwerlich ein überzeugender Sachgrund finden lassen, die Beschlagnahme einzubeziehen, die Erzwingungshaft hingegen nicht.278

Der Gleichheitssatz spielt nicht nur eine Rolle, wenn der Betroffene von einer im Gesetz vorgesehenen Vergünstigung ausgeschlossen ist, sondern auch, wenn er von einer Strafnorm erfaßt ist, während andere, vom Gesetzeszweck her gleich strafwürdige Konstellationen wegen der Ausgestaltung der Norm dieser nicht unterfallen. Die unvollkommene Strafbestimmung führt zu den berühmten und zum Teil offensichtlichen „Strafbarkeitslücken“, die zu schließen Art. 103 II GG verbietet: So gelangt etwa BGHSt 19, 158 (oben Fall 33) bei der Auslegung von § 86 StGB a. F. zu dem Ergebnis, daß die Norm nur die Einziehung körperlicher Gegenstände (z. B. Bargeld), nicht aber sonstiger Vermögenswerte (z. B. Bankguthaben) erlaubt. Daß dadurch „eine empfindliche Lücke entsteht“, sei klar, aber angesichts der klaren Gesetzesfassung nicht zu ändern (S. 162). — Der Katalog des § 243 StGB a. F. führte zu fragwürdigen Ungleichbehandlungen von Fällen: Stiehlt der Dieb aus einem Kraftfahrzeug, indem er zuvor die Scheiben einschlug, dann erfüllt er die Qua276 Siehe (auch zum folgenden) Bergmann, in: Seifert/Hömig, GG, Art. 3, Rn. 5; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3, Rn. 18 ff., je m. w. N. 277 Dazu z. B. BGHSt 7, 198 (201 f.): Gleichartige Tatbestände dürfen nicht willkürlich (ohne Sachgrund) ungleich behandelt werden. 278 Erwägen könnte man allerdings, ob die Tatsache, daß es der Betroffene in der Hand hat, die Erzwingungshaft durch eigenes Verhalten zu beenden, eine Unterscheidung rechtfertigt.

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V. Systematik

lifikation des § 243 I Nr. 2 a. F., schlägt er hingegen die Scheibe ein, um im Fahrzeuginneren die Verriegelung des Kofferraums zu lösen und aus diesem zu stehlen, dann scheitert die Anwendung. BGHSt 13, 81 konnte der Problematik entgehen, weil (zufällig) eine weitere Alternative des § 243 a. F. griff, aber der Wertungswiderspruch wird dadurch nicht beseitigt. — Auch durch einen „sekundären Redaktionsfehler“ kann die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung eintreten, wie etwa im „Forstdiebstahls-Fall“ (BGHSt 10, 375 = oben Fall 57): Es ist kein Sachgrund dafür ersichtlich, weshalb der ein „bespanntes Fuhrwerk“ nutzende Forstdieb bestraft wird, der einen LKW verwendende und damit in Hinblick auf den Gesetzeszweck noch gefährlichere Täter hingegen nicht.

In all diesen Fällen besteht ein Bedürfnis, den materiell „unrichtigen“ Obersatz wenigstens im Wege der Analogie auf die vom Wortlaut nicht erfaßte Konstellation zu übertragen, denn der Gesetzeszweck trifft auf diese gleichermaßen oder noch eher279 zu. Jedoch setzt in dieser Situation das Analogieverbot dem Gleichbehandlungsgrundsatz Grenzen:280 Der Richter darf die Norm nicht erweitern, obwohl der nicht geregelte Fall dem ausdrücklich geregelten wertungsmäßig gleicht. Der straffrei ausgehende Beschuldigte kann darin naturgemäß keine Verletzung seiner Grundrechte erblicken, aber wie steht es mit demjenigen, der – mehr oder weniger zufällig – der Strafbarkeit unterfällt und damit eine Art „Sonderopfer“ erbringen muß? Zunächst kann man darauf hinweisen, daß der Betroffene letztlich eine Gleichheit im Unrecht – eine Gleichbehandlung mit den zu Unrecht nicht erfaßten Gruppen – begehrt, denn der Gesetzgeber müßte nicht ihn von Strafe freistellen, sondern andere Fallgruppen in die Vorschrift aufnehmen: Hinsichtlich des veralteten und Unbilligkeiten provozierenden § 243 StGB a. F. weist BGHSt 3, 314 (316) darauf hin, daß die tatsächliche Entwicklung zu einer Verschärfung der Norm dränge. „Dann aber kann die Revision den Gesichtspunkt der Unbilligkeit nicht zum Zwecke einer Einengung beanspruchen, soweit der geltende Wortlaut des Gesetzes die erforderliche Bestrafung heute schon teilweise zuläßt.“

Allerdings würde man es sich zu leicht machen, die Position des Betroffenen schon aus diesem Grund als irrelevant abzutun, denn die Frage lautet allgemein, ob eine Norm, die keine gleichmäßige Bewertung gleichliegender Sachverhalte ermöglicht, überhaupt Grundlage für eine Bestrafung sein kann.281 Aufgrund 279 Zur kriminalpolitisch größeren Gefährlichkeit des Giral- gegenüber dem Bargeld (BGHSt 19, 158) vgl. Maurach, JZ 1964, 529 (536, l. Sp.). 280 Einen Vorrang des Art. 103 II GG gegenüber dem Gleichheitssatz bejaht Bockelmann, JZ 1959, 653 (654, r. Sp.). 281 Zur verfassungsprozeßrechtlichen Situation BVerfG NJW 1959, 1579 (Leitsatz b): „Wird mit einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht, daß eine belastende Norm den Gleichheitssatz verletze, weil sie nicht auf andere, gleiche Verhältnisse ausgedehnt worden sei, so fehlt ihr das Rechtsschutzinteresse dann nicht, wenn die Möglichkeit besteht, daß die Gleichheit verfassungsrechtlich eindeutig durch Nichtigkeit der belastenden Regelung herbeizuführen wäre.“

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des fragmentarischen Charakters des Strafrechts wird man das in der Tat bejahen müssen, falls die Regelung nicht evident willkürlich ist. Der Gesetzgeber ist überfordert, wenn er alle in Hinblick auf den Gesetzeszweck gleich strafwürdigen Fälle in der abstrakten Rechtsnorm erfassen soll oder die aufgrund veränderter Verhältnisse unzureichend gewordenen Vorschriften ständig vervollständigen müßte. Er trifft eine Auswahl, die niemals frei von Ungereimtheiten sein kann und die zuweilen das gleichermaßen Strafwürdige nur punktuell erfaßt:282 BGHSt GS 14, 38 (47 f.) weist bei der Auslegung des Tatbestandes der Amtsunterschlagung (§ 350 StGB a. F.) darauf hin, daß sich angesichts der Gesetzeslage nicht alle denkbaren Ungereimtheiten in den Ergebnissen vermeiden ließen. „Das liegt an der einseitigen Wahl des Gesetzgebers“, zwar die Amtsunterschlagung, nicht aber einen Diebstahl oder Betrug im Amt unter verschärfte Strafandrohung zu stellen. BGHSt 13, 287 (289) kann den in § 250 Nr. 3 StGB a. F. (bis EGStGB) geregelten Strafschärfungsgründen – u. a. der auf einem öffentlichen Weg oder Platz begangene Raub – keine „klare Linie“ entnehmen. Die Norm lasse nicht erkennen, „weshalb die dort aufgeführten Verstöße schwerer als andere nicht erwähnte Raubtaten bestraft werden müssen“. Es sei kaum verständlich, weshalb der Raub in einer Bahnhofshalle weniger schwer wiege als der auf dem Weg zum Bahnhof begangene.

Da es zudem in aller Regel um die Ungleichbehandlung von Sachverhalten, nicht aber von Personengruppen geht283, ist die Überprüfung auf eine Willkürkontrolle beschränkt (vgl. oben). Vor diesem Hintergrund wäre es überzogen, eine Norm schon deshalb für verfassungswidrig zu erklären, weil sie – womöglich sogar offensichtliche – Strafbarkeitslücken enthält. Eine dahingehende verfassungsgerichtliche Entscheidung zum materiellen Strafrecht ist nicht ersichtlich. In der Praxis werden die begrifflichen Ungereimtheiten der Tatbestände womöglich in Hinblick auf die Weite der Strafrahmen ein wenig vernachlässigt: Da zumeist andere Strafvorschriften oder Grundtatbestände mit ebenfalls erheblichen Strafandrohungen greifen, ist – wenn man auf das Ergebnis schaut – eine schuldangemessene Bestrafung nur selten in Frage gestellt.284 Zu berücksichtigen ist weiter, daß der Bezugspunkt für eine gleichmäßige Rechtsanwendung der vom Gesetzgeber selbst vorgegebene Gesetzeszweck ist, an dem sich die Frage der sachwidrigen Gleich- oder Ungleichbehandlung entscheidet. Sind erst komplexe Überlegungen zur Ermittlung des Gesetzessinnes vonnöten, wird die Problematik der Gleichbehandlung zusätzlich erschwert, zumal dem Gesetzgeber weiter Spielraum bei der Formulierung seiner Ziele bleibt

282 Bydlinski, Methodenlehre, S. 348: Nicht jede Ungerechtigkeit führt zur Verfassungswidrigkeit. 283 Unter diesem Gesichtspunkt hat BVerfGE 6, 389 die Ungleichbehandlung von Männer und Frauen bei der Strafbarkeit der Homosexualität geprüft, jedoch sachliche Gründe für die Differenzierung erkannt. 284 Gerade BGHSt GS 14, 38 (47) belegt das: „Der Schuldspruch wegen Betruges ermöglicht stets ausreichende Bestrafung.“

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V. Systematik

(vgl. oben BGHSt 13, 287).285 Daraus wird zugleich deutlich, daß die gleichmäßige und widerspruchsfreie Behandlung von Fällen in erster Linie Aufgabe einer teleologisch geprägten Dogmatik ist, die vom Gleichbehandlungsgrundsatz geleitet wird. Auf die Thematik wird im Rahmen der teleologischen Auslegung zurückzukommen sein (unten VI 3).

285 Ein Trugschluß aufgrund fehlerhafter Ergründung des Gesetzeszwecks wäre z. B. die Annahme, § 243 StGB a. F. müsse nicht nur das Stehlen von Gegenständen aus einem Fahrzeug, sondern auch (erst recht) die Wegnahme des ganzen Fahrzeuges erfassen (vgl. oben V 3 a).

VI. Sinn und Zweck 1. Vorüberlegungen/Terminologisches Als entscheidendes Kriterium des Auslegungskanons, gar als „Krone der Auslegungsverfahren“1, wird gemeinhin die teleologische Gesetzesinterpretation gesehen. Auch die Rechtsprechung sieht sie als maßgeblich an: Nach BGHSt 3, 300 (303) und 4, 144 (148) ist innerhalb des sprachlich Möglichen jeder Begriff nach Sinn und Zweck auszulegen. BGHSt 14, 152 (155) konstatiert, es entspreche den Grundsätzen heutiger Rechtsauslegung, den Zweck des Gesetzes in den Vordergrund zu stellen. Und BGHSt 30, 98 (101) sagt lapidar, daß es bei der Auslegung entscheidend auf Sinn und Zweck ankommt.2

In terminologischer Hinsicht ist zunächst danach zu fragen, ob mit den Ausdrücken Sinn und Zweck Unterschiedliches gemeint ist oder ob es sich dabei um eine „stereotype Formel“3, um eine Tautologie handelt. Mehrdeutig und problematisch ist insoweit vor allem der Begriff „Sinn“, während mit dem Ausdruck „Zweck“ (telos) – abgesehen von den Schwierigkeiten seiner Ermittlung – wohl meist Ähnliches assoziiert wird, nämlich die Frage nach den legislativen Absichten und Zielen, die einer Regelung zugrunde liegen. Darin kann zugleich die erste und damit synonyme Bedeutung des Ausdrucks „Sinn“ gesehen werden,4 denn in dem, was die Norm bezweckt, steckt zugleich ihr Sinn. Mit § 176 StGB zielt der Gesetzgeber etwa auf den Schutz Minderjähriger vor sexuellen Einwirkungen durch Dritte. An dem Beispiel kann eine weitere mit dem „Sinn“ verbundene Bedeutung demonstriert werden, die man als „Grund“, „Grundgedanken“ oder „ratio“ bezeichnen kann. Hinter § 176 StGB steht der Grundgedanke (die Idee), Minderjährigen eine ungestörte Entwicklung zu ermöglichen, die durch sexuelle Einflüsse anderer Personen erheblich gefährdet werden kann. Das ist der Sinn der Norm. Als dritter und umfassendster Begriffsinhalt bleibt das Verständnis des Normsinns als Inhalt oder Bedeutung der Regelung. Der Gesetzeszweck erscheint dann nur als ein, wenn auch zentrales Mittel, um den Sinn der Vorschrift (Normgehalt, Norminhalt) und ihrer Begriffe zu ermitteln.5 1 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 156. Dezidiert auch Tröndle, in: LK-StGB10, § 1, Rn. 46. 2 Der Senat beruft sich auf BGHSt 27, 236 (238), wo es allerdings zurückhaltender heißt, daß die anhand des Wortlauts gewonnenen Ergebnisse an Sinn und Zweck zu messen sind. 3 Höhn, Gesetzesauslegung, S. 217; Drüen, JuS 1997, L 81 (82, r. Sp.). 4 Zu den verschiedenen Bedeutungen des „Sinns“ Bleckmann, JuS 2002, 943 (944 f.).

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VI. Sinn und Zweck

So ist es auch gemeint, wenn vom möglichen „Wortsinn“ die Rede ist, worunter in Hinblick auf Art. 103 II GG die noch zulässige semantische Bedeutung zu verstehen ist, die den Wörtern beigelegt werden kann. In der Praxis werden die Begriffe „Sinn und Zweck“6 weitgehend synonym gebraucht oder der „Sinn“ zusätzlich als Grundgedanke oder ratio verstanden. Die Formel mag großteils unreflektiert verwendet werden, aber nennenswerte Verständnisprobleme resultieren daraus nicht. Aufmerksamkeit verdienen weiterhin die Ausdrücke „Grundgedanke“, „ratio“ und „Rechtsgut“. Grundgedanke der Norm, ratio legis7 oder der Gesetzessinn in der zweiten der oben dargelegten Bedeutungen ist der tragende Gedanke der Vorschrift, die Idee, die hinter der Norm steht, oder der Grund, weshalb sie existiert. Der Grundgedanke des § 176 StGB wurde oben aufgezeigt. Entsprechend sagt BGHSt 7, 48 (52) zu § 174 StGB, daß der „Grundgedanke“ der Norm, „wonach das Überwachungs- und Betreuungsverhältnis von geschlechtlichen Einflüssen reingehalten und die geschlechtliche Unantastbarkeit der abhängigen Person vor Angriffen geschützt werden soll“, für eine weite Auslegung spreche.

Daß der Grundgedanke sich zumeist nicht bereits aus einem einzelnen Tatbestandsmerkmal ergibt,8 sondern unter Umständen erst durch einen Blick über die Einzelnorm hinaus (Sinnzusammenhang) erkannt werden kann, ist keine Besonderheit. Aus dem Grundgedanken wird in der Regel verständlich, welche konkreten Zwecke und Absichten der Gesetzgeber mit der Vorschrift verfolgt und oft liegt in der Verwirklichung des Grundgedankens auch ihr einziger Zweck.9 Ist der Grundgedanke erkannt, leitet er die Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale10 und bestimmt die Reichweite der Norm; er ist zudem zentraler Anknüpfungspunkt für Analogien und teleologische Reduktionen11. 5 Für dieses Verständnis Höhn, Gesetzesauslegung, S. 217 f.; Kramer, Methodenlehre, S. 114 (Fn. 351); Drüen, JuS 1997, L 81 (82, r. Sp.). Vgl. auch Engisch, Einführung, S. 88: Die teleologische Methode erforsche Zweck und Grundgedanken der Norm und ermittle von da her ihren Sinn; ähnlich Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 155. 6 Auch von „Zweck und Sinn“ ist mitunter die Rede, ohne daß daraus Abweichendes folgen würde: BGHSt 2, 53 (54); 5, 153 (154); 6, 131 (133); 9, 310 (312, 316); 10, 182 (183); 12, 166 (172); 18, 246 (249). 7 Von der „ratio legis“/„ratio“ sprechen die Senate allerdings nur selten, in jüngerer Zeit allerdings vermehrt: BGHSt 14, 258 (260 – nur zitiert); 27, 260 (265); 39, 112 (117); 43, 8 (12); 43, 31 (34); 43, 112 (119); 43, 129 (142); 45, 41 (43); 45, 131 (134); 46, 212 (220); GS 46, 321 (333); 47, 55 (61); 47, 369 (374). 8 BGHSt 21, 196 (199): „Für sich allein drückt keines von ihnen schon den Grundgedanken der Vorschrift aus . . .“. 9 Grundgedanke und Zweck werden z. B. von BGHSt 12, 335 (341) in einem Atemzug genannt; ähnlich BGHSt 24, 208 (210 f.). 10 BGHSt 46, 212 (220): Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „muß sich an der ratio legis des . . . ausrichten. Nach dem Grundgedanken der Vorschrift soll . . .“. BGHSt 5, 280 (282): „Aus diesem von dem Gesetz verfolgten Zweck ergibt sich der Umfang seines Schutzbereiches.“

1. Vorüberlegungen/Terminologisches

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Gegenüber dem Rückgriff auf den Grundgedanken ist allerdings auch Vorsicht angebracht, denn der teleologischen Auslegung wohnt die Tendenz zur Vereinfachung und Generalisierung inne. Unabhängig davon, ob man „subjektiv-“ oder „objektiv-teleologisch“ verfährt: Schnell ist ein abstrakter Normzweck erkannt, aus dem sich leicht deduzieren und eine Ausweitung der Strafbarkeit begründen läßt (dazu unten VI 2).12 Deshalb darf zum einen die konkrete Ausgestaltung der Norm nicht aus dem Blick geraten, denn dadurch hat der Gesetzgeber seine Ziele womöglich selbst eingeschränkt; zum anderen ist darauf zu achten, ob in der Norm eventuell verschiedene und gegenläufige Zwecke zum Ausgleich gebracht wurden. Als zu unspezifisch erweist sich in der Regel der Begriff des „Rechtsguts“, auf den im Rahmen der teleologischen Auslegung ebenfalls hingewiesen wird13. Die Frage danach, welche Rechtsgüter und Interessen der Gesetzgeber schützen will14, läuft auf nichts anderes als auf die bereits erwähnten Gesichtspunkte hinaus. Deshalb kann z. B. das „Rechtsgut“ – oder auch der „Schutzzweck“ – des § 176 StGB darin gesehen werden, die ungestörte Entwicklung des Kindes zu ermöglichen.15 Daß der Begriff des Rechtsguts darüber hinaus zur Systematisierung strafrechtlicher Normen taugt und sich daraus relevante Aspekte für die (systematische) Interpretation ergeben können, ist nicht zu bestreiten. Hinsichtlich der ratio legis ist schließlich noch auf ein mögliches Begriffsverständnis hinzuweisen, das vor allem im schweizerischen Rechtskreis üblich ist und in der ratio legis nicht nur den Zweck im Sinn der teleologischen Auslegung, sondern den „Oberbegriff für die Gesamtheit der Auslegungselemente“ oder als deren Ertrag betrachtet16. In der deutschen Rechtspraxis dürfte dieses Verständnis seine Parallele im „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ finden. Weiter stellt sich die Frage, wie der Gesetzeszweck zu ermitteln ist. Zunächst ist auf den Unterschied zwischen deduktiven und induktiven Anteilen der teleologischen Rechtsanwendung hinzuweisen. Zum einen kann der Gesetzeszweck unabhängig vom konkreten Fall ermittelt werden, etwa durch das Aufgreifen 11 Mustergültig z. B. BGHSt 27, 236 (242): Bei dieser Verfahrenslage greife § 329 I 2 StPO „nach seinem Grundgedanken nicht mehr ein“. 12 Dem ermittelten Grundgedanken kann es allerdings auch „nur“ an Aussagekraft fehlen, etwa wenn BGHSt 19, 109 (110) bei der Auslegung des Begriffs „Rädelsführer“ in § 90a StGB a. F. unter Berufung auf die Gesetzesmaterialien den „Grundgedanken“ der Norm darin sieht, nur „Drahtzieher“, nicht aber „Mitläufer“ zu erfassen. 13 Siehe z. B. Tiedemann, Anfängerübung, S. 79: Der Zweck im Strafrecht sei, jedenfalls im Besonderen Teil, weitgehend identisch mit dem geschützten Rechtsgut. 14 Unter anderem darin sieht etwa Gern (VA 1989, 415 [419]) den Gehalt teleologischer Auslegung. 15 So ausdrücklich Tröndle, StGB48, § 176, Rn. 1 und Tröndle/Fischer, StGB51, § 176, Rn. 2. 16 Richli, in: ratio legis, S. 39, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BG; für praktisch unbrauchbar hält ein solches Verständnis dagegen Dubs, in: ratio legis, S. 22 (Fn. 3).

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VI. Sinn und Zweck

genereller Zielvorstellungen aus den Gesetzesmaterialien. Zum andern kann der Grundgedanke einer Norm aus den von ihr klar erfaßten Fällen, die dem Gesetzgeber womöglich vor Augen lagen, abstrahiert und so für die Anwendung der Vorschrift auf neue Fälle fruchtbar gemacht werden. Ob die Rechtsanwendung sich ferner so vollzieht, daß direkt aus der Ähnlichkeit von Fällen in Verbindung mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz auf die Anwendung der Norm geschlossen werden kann, bedarf näherer Betrachtung (siehe VI 3). Zentrale Thematik, die bei der Ermittlung des Gesetzessinnes diskutiert wird, ist der Widerstreit zwischen subjektiv- und objektiv-teleologischer Auslegung. Was es im allgemeinen mit dem Streit zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Theorie auf sich hat, wurde bereits eingehend erörtert (oben IV 1 c). Insoweit wird hier der Standpunkt vertreten, daß angesichts der Gesetzesbindung des Richters die subjektiv-historische Sinnermittlung im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten den Vorrang genießt. Daß bei der Frage nach den Zwecken, Zielen sowie dem Grundgedanken einer Vorschrift die Motive der Gesetzesverfasser erforscht werden, die bestimmte Problemlagen lösen wollten, sollte unmittelbar einleuchten. Auch (gemäßigte) Anhänger der objektiven Theorie bestreiten den Ertrag der subjektiv-teleologischen Methode nicht.17 Die Rechtsprechung macht selbstverständlich und seit jeher von ihr Gebrauch.18 Besonders eindrucksvoll hat BGHZ 46, 74 den Erkenntniswert der subjektiv-historischen Auslegung für die Ermittlung des Gesetzeszwecks hervorgehoben: Die im Gesetzgebungsverfahren erfolgten Äußerungen ließen die mit der Regelung verfolgten gesetzgeberischen Zwecke und die maßgebenden Beweggründe hervortreten (S. 80). Aus den Gesetzesmaterialien folgten wertvolle Anhaltspunkte, „worin der Rechtfertigungsgrund für eine Vorschrift liegt, welchen Zweck man mit ihr verfolgt hat und welche Zweckvorstellungen auch heute noch die Auslegung bestimmen müssen“ – „konkreter: welche wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse die Gesetzesverfasser vor Augen hatten, von welchem Rechtszustand man ausging und welchen Reformbestrebungen der Gesetzgeber Rechnung tragen wollte“. Erkennbar werde, „welchen Interessenkonflikt der Gesetzgeber hat ausgleichen wollen“ (S. 80) und „schließlich: auf welche Fallgestaltungen das Gesetz anwendbar sein soll“ (S. 81). Gesichtspunkte dieser Art rechtfertigten die Heranziehung der Entstehungsgeschichte in besonderem Maß.

Schwierig zu beantworten ist demgegenüber, was unter einer „objektiv-teleologischen“ Auslegung verstanden werden darf. Man wird nicht übertreiben, 17 Siehe vor allem Zippelius, Methodenlehre, S. 50: Auch nach der objektiven Theorie sei maßgeblich, was der Gesetzgeber mit der Regelung bezweckte; ders., JZ 1999, 112 (115): „Zwar läßt sich in der Regel keine exakte Bestimmung des Gesetzeszwecks mit rationalen Kriterien gewinnen. Doch liefert das ,historische‘ Auslegungskriterium immerhin rationale Hinweise auf den Gesetzeszweck . . .“. 18 Siehe als Beispiele nur BGHSt 2, 99 (104) = oben Fall 132, BGHSt 24, 72 (80): Sinn und Zweck, „wie sie sich aus der Entstehungsgeschichte ergeben“ sowie BGHSt 24, 153: Gesetzeszweck folgt aus der Entstehungsgeschichte und den Absichten des Gesetzgebers.

1. Vorüberlegungen/Terminologisches

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darin den unklarsten Begriff der Methodenlehre überhaupt zu sehen. Eine Annäherung gelingt am ehesten, indem man sich die „Schwächen“ der subjektiven Auslegungslehre vergegenwärtigt.19 (1) Zunächst gibt es Fälle, in denen sich aus der Entstehungsgeschichte nichts für das zu lösende Rechtsproblem ergibt. Dann bleibt dem Rechtsanwender oftmals nur die Möglichkeit, den Grundgedanken der Norm aus äußeren Kriterien (Wortlaut, Systematik, vergleichbare Regelungen) zu ermitteln, also vom Gesagten auf das Gewollte zu schließen.20 Auch ohne historisches Material kann nach den Motiven und Absichten gefragt werden, die mit der Regelung wohl verbunden waren.21 Hierin liegt das unverdächtigste Anliegen einer objektiv-teleologischen Auslegung, denn dadurch wird die Gesetzesbindung nicht in Frage gestellt. Schlimmstenfalls endet die Suche in der Vermutung, daß der Gesetzgeber das der Sache „Angemessene“ oder die „vernünftigste“ Lösung gewählt haben dürfte.22 (2) Ein weiterer und zentraler Aspekt, den Befürworter einer objektiven Auslegung vorbringen, ist der Einwand der „Mumifizierung“, die mit dem Festhalten an der historischen Wertentscheidung notwendig verbunden sei: Das Gesetz werde ohne Anpassung an veränderte Umstände seinen Aufgaben nicht gerecht. Dieser Einwand ist zwar „materiell“ berechtigt, doch wäre es mit dem Postulat der Gesetzesbindung unvereinbar, hieraus die Legitimation zur Überwindung einer eindeutigen gesetzgeberischen Anordnung herzuleiten. Wie ausführlich dargelegt wurde (oben IV 5), vermag zudem auch eine subjektiv-historische Auslegung den Veränderungen der Verhältnisse großteils gerecht zu werden. (3) Unvermeidbare Einschränkungen muß die subjektive Theorie ferner dadurch hinnehmen, daß die Norm in ein Gesamtgefüge von Rechtsvorschriften integriert werden muß und dort mit anderen Normen (mit anderen gesetzgeberischen Vorstellungen, mit anderen Normzwecken) kollidieren kann. Der gesetzgeberische Wille kann deshalb nicht immer voll verwirklicht werden, sondern bedarf der Harmonisierung im System. Die Vermeidung von Wertungswidersprüchen, einschließlich der verfassungskonformen Auslegung, kann deshalb als Aufgabe objektiv-teleologischer Gesetzesauslegung verstanden werden.23 Vorliegend wurden diese Fragen als solche der systematischen Auslegung behandelt (oben V 5 und V 8 b). (4) Als weitere Bestandteile objektiv-teleologischer Auslegung werden übergreifende Gesichtspunkte genannt, die als „objektive Zwecke des Rechts“24 19 Eingehend zu den Problemen der subjektiv-historischen Auslegung oben in Kapitel IV. 20 Vgl. oben IV 4 a und dort Fn. 194. 21 Bydlinski, Methodenlehre, S. 454. Siehe aus der Rechtsprechung BGHSt 3, 334 (337 f.), wo der Senat aus der Entstehungsgeschichte nicht ersehen kann, „von welchem rechtfertigenden Grundgedanken sich der Gesetzgeber hat leiten lassen“, und anschließend versucht, dem Grundgedanken auf andere Weise näher zu kommen. 22 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 334, der aber den Vorrang der gesetzgeberischen Entscheidung vor solchen Kriterien betont. 23 Vgl. z. B. Bydlinski, Methodenlehre, S. 454 f. und oben Kap. IV, Fn. 269.

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VI. Sinn und Zweck

oder als abstrakte Normzwecke, „die allen Gesetzen gemeinsam sind“25, bezeichnet werden und die im weiteren Sinn zu den Bestandteilen der Rechtsidee gerechnet werden können. Davon werden hier insbesondere Gerechtigkeit und Rechtssicherheit (VI 9) sowie Praktikabilitätserwägungen (VI 10) erörtert. Ferner können das argumentum ad absurdum (VI 4), die Ergebniskontrolle (ebenda) und die Folgenberücksichtigung (VI 12) als objektiv-teleologische Kriterien betrachtet werden,26 obgleich sie häufig (wie auch der Grundsatz der Gleichbehandlung, VI 3) den subjektiv-historisch ermittelten Gesetzeszweck als Bezugspunkt haben. (5) Am problematischsten erweist sich die „objektive“ Gesetzesauslegung, wenn sie von vornherein und unter Außerachtlassen der klassischen Kriterien behauptet, einen „objektiven Gesetzessinn“ ermitteln zu können, und dabei auf gesetzesferne und wenig faßbare Kriterien wie Vernunft, Natur der Sache oder das Wesen der Dinge rekurriert. Daß damit leicht das erwünschte Ergebnis erzielt werden kann, bedarf keiner Darlegung.27 (6) Ob man auch die kriminalpolitische Argumentation (VI 5) dem soeben Gesagten zurechnen darf, kann offen bleiben. Dabei handelt es sich zwar um einen außergesetzlichen und damit unzulässigen Maßstab, aber er dient nicht der Verschleierung „wahrer“ Gründe. Insgesamt wäre in der Diskussion um die objektiv- und subjektiv-teleologische Auslegung schon viel gewonnen, wenn klar benannt würde, von welcher der genannten Konstellationen jeweils die Rede ist. Ein „Objektivist“ wird sich nicht mit allen der aufgezählten Möglichkeiten objektiver Auslegung einverstanden erklären, während umgekehrt eine Kritik an einer objektiven Gesetzesauslegung klar benennen sollte, worin genau die Mißachtung des gesetzgeberischen Willens liegen soll. Wie unklar eine sich auf den objektiven Gesetzessinn stützende Argumentation sein kann, zeigt BGHSt 45, 131 (näher sogleich Fall 282). Der Senat hält den Wortlaut für eindeutig und sieht weder in der Entstehungsgeschichte noch in Sinn und Zweck sowie dem Willen des Gesetzgebers Anlaß zur Einschränkung (S. 133 f.). Offenbar steht dieses Ergebnis aber noch unter einem Vorbehalt objektiver (kriminalpolitischer?) Gesetzesauslegung: „Auch die ratio legis erfordert eine derartige Einschränkung nicht. Der umfassende Gesetzeswortlaut ist durchaus sachgerecht.“ – Weder ist klar, worin der Unterschied zwischen „ratio legis“ einerseits sowie „Sinn und Zweck“ andererseits liegen soll, noch wer den Maßstab für die „Sachgerechtigkeit“ der Lösung festlegt.28 24

Larenz, Methodenlehre, S. 334. Wank, Auslegung, S. 79. 26 Für das argumentum ad absurdum ausdrücklich Bydlinski, Methodenlehre, S. 457. 27 Siehe Loos, in: AK-StPO, Einl. III, Rn. 17: „Verhüllende Berufung“ auf den objektiven Gesetzeszweck; Hassemer, in: AK-StGB, § 1, Rn. 114: Einen „objektiven Gesetzessinn“ gebe es nur im Kopf des Richters; die objektiv-teleologische Auslegung könne dem erwünschten Ergebnis nie im Weg stehen; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 813– 815: Der„objektiven“ Gesetzesauslegung fehle es an Methodenehrlichkeit; mangels Kontrollierbarkeit sei sie keine wissenschaftliche Methode; vgl. auch oben Kap. III, Fn. 244. 25

2. Ausweitungs- und Vereinfachungstendenzen

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2. Ausweitungs- und Vereinfachungstendenzen Eine Gefahr teleologischer Gesetzesauslegung liegt in ihrer Tendenz zu einem ausweitenden Verständnis der Norm durch die einseitige Betonung des vom Gesetzgeber verfolgten Ziels. In den Entscheidungsgründen der Gerichte ist dann davon zu lesen, daß der Gesetzgeber einen umfassenden Schutz eines bestimmten Rechtsgutes angestrebt habe29, daß er möglichst alle gefährlichen Fälle eines bestimmten Bereichs habe erfassen wollen oder daß er eine „schlagkräftige Waffe“ bzw. ein „wirksames Instrument“ zur Bekämpfung eines Phänomens habe schaffen wollen30. Ist eine solche Tendenz erst einmal festgestellt, fällt die Subsumtion des gerade zur Entscheidung stehenden Falles unter den Normzweck nicht mehr schwer. Belege für ein so weitreichendes gesetzgeberisches Ziel findet der BGH – da konkrete Vorstellungen des Gesetzgebers zur entscheidungsrelevanten Konstellation in der Regel nicht existieren – auf verschiedenen Wegen, unter Heranziehung aller Interpretationsmittel. Keine Probleme hat die telelogische Auslegung natürlich, wenn es sowohl Anzeichen für einen generell weiten Schutzzweck gibt als auch dafür, daß der Gesetzgeber gerade den vorliegenden Fall erfassen wollte. So liegt es z. B. in BGHSt GS 6, 147 zur Frage, ob ein Selbsttötungsversuch als ein zu Hilfe verpflichtender „Unglücksfall“ anzusehen ist. Der Große Senat entnimmt der amtlichen Begründung sowohl die allgemeine Zielvorstellung des Gesetzgebers, die Hilfeleistungspflicht möglichst weit auszudehnen, als auch den konkreten Willen, den Fall des Suizidversuchs zu erfassen (siehe a. a. O., S. 150 und oben Fall 146). Einen Konflikt zwischen generellem Ziel und konkreter Vorstellung konstatiert hingegen BGHSt 34, 211 (Hausmüll als „Abfall“?): Der grundlegende Gesetzeszweck spreche dafür, möglichst alle Fälle gefährlicher Abfallbeseitigung zu erfassen, während nach den Gesetzesberatungen nur Sonderabfall erfaßt sein sollte (S. 212 f.). Ein solcher Konflikt führt insbesondere zur Frage, ob ein Motivirrtum der Gesetzesverfasser vorliegt, und ist innerhalb der subjektiv-historischen Auslegung aufzulösen (siehe oben IV 4 b und IV 8 d).

Anhaltspunkte für einen universellen Schutzzweck ergeben sich vor allem aus den Gesetzesmaterialien, aber auch aus der Fassung des Tatbestandes oder – wenn es offensichtlich scheint – aus einem nicht näher erläuterten „Willen des Gesetzes“.31 Die Generalisierung des gesetzgeberischen Ziels ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, wenn die weite Schutzrichtung nur indirekt belegt werden 28 Berechtigt ist die Kritik von Bauer (StraFo 2000, 196 [198]), soweit sie die bloße Behauptung des Senats über die Sachgerechtigkeit betrifft. Die Anmerkung zeigt aber, wie ein anderer „Objektivist“ zu Werk geht, um dem Gesetzgeber nachzuhelfen. 29 Siehe z. B. BGHSt 24, 352 (354); 29, 311 (314); 45, 131 (133). 30 BGHSt 3, 1 (2): „schlagkräftige Waffe“; BGHSt 31, 317 (322): „wirksames Instrument“. 31 Gesetzesmaterialien: BGHSt GS 6, 147 (150); BGHSt 24, 352 (354); 34, 211 (213); 45, 103 (107); 45, 253 (259 f.). Fassung des Tatbestandes: BGHSt 3, 314 (315). Wille des Gesetzes: BGHSt 3, 1 (2).

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VI. Sinn und Zweck

kann, etwa mit der Ausweitung der Norm in einem anderen Aspekt oder mit der Einführung zusätzlicher Vorschriften, welche die ausweitende Gesamttendenz einer Novellierung zum Ausdruck bringen soll.32 Auch daraus, daß der Gesetzgeber entgegen ursprünglicher Absicht oder abweichend von der bisherigen Rechtslage eine zusätzliche Fallgestaltung (unstreitig) erfassen wollte, läßt sich noch nicht ohne weiteres folgern, daß alle ähnlichen (streitigen) Konstellationen erfaßt sein sollten: Fall 282 (BGHSt 45, 131, siehe zunächst oben Fall 10): Nach Ansicht des Senats ist § 176a I Nr. 1 StGB auch dann erfüllt, wenn der Täter das Geschlechtsteil eines Jungen in den Mund nimmt. Es sei unerheblich, ob in den Körper des Opfers oder den des Täters eingedrungen wird (S. 134); eine besonders nachhaltige Beeinträchtigung sei in beiden Fällen gegeben. Die Gesetzesmaterialien belegten, daß der Gesetzgeber „eine umfassende Regelung treffen wollte“ (S. 133): Der Gesetzesentwurf habe zunächst nur die Variante „[dem Beischlaf] ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt“ enthalten, die später um die Alternative „oder an sich vornehmen läßt“33 ergänzt worden sei. Damit habe man klargestellt, daß auch der Fall, in dem das Kind den Oralverkehr beim Täter ausführt, erfaßt werden sollte. – Insgesamt dürfte die Lösung des BGH zutreffen, aber die Beweisführung hinsichtlich des umfassenden Schutzziels überzeugt wenig.34 Die Motivation des Gesetzgebers für die Klarstellung der Norm ist unmittelbar einleuchtend, betrifft aber letztlich doch einen anderen Fall als den hier vorliegenden. Deshalb hätte es näherer Darlegung bedurft, ob unter der Berücksichtigung des Normzwecks die nunmehr zu beurteilende Konstellation der in den Gesetzesmaterialien erörterten entspricht, der Zweck der Ausweitung also auch dort greift. Daß die Beeinträchtigung des Opfers in beiden Fällen gleich groß ist, wie der Senat pauschal behauptet, versteht sich nicht von selbst.35

Um vorschnelle Generalisierungen zu vermeiden, ist stets nach Anhaltspunkten zu suchen, die für eine Relativierung des weitverstandenen Normzwecks sprechen. Womöglich sind in einer Norm gegenläufige Ziele zum Ausgleich gebracht, was sich auch in der Auslegung widerspiegeln muß,36 oder die gerade in Frage stehende Norm verfolgt ein anderes Ziel als ein ganzer Gesetzesabschnitt, in der sie (als Ausnahmevorschrift) steht, oder eine Gesetzesnovelle, mit der sie eingefügt wurde.37 In vielen Fällen berücksichtigen auch die Strafsenate diese gegenläufigen Tendenzen: 32

BGHSt 24, 352 (354); 29, 311 (314). Vgl. dazu auch BGH JR 2000, 475 = oben Fall 200. 34 Abl. Hörnle, NStZ 2000, 210 (211) und (scharf) Bauer, StraFo 2000, 196 (197 und 198). 35 Nach Bauer (StraFo 2000, 196 [197]) führt die Ansicht des BGH zu absurden Ergebnissen, da danach sogar ein Zungenkuß den Wortlaut des Tatbestandes erfülle. Das trifft jedoch schon deshalb nicht zu, weil es sich dabei nicht um eine beischlafähnliche Handlung handelt. 36 Leenen, Jura 2000, 248 (250, r. Sp.). 37 Herzberg (NJW 1990, 2525 [2528]) sieht ein „Grundgebrechen“ der teleologischen Auslegung darin, daß die in der Norm oftmals enthaltenen gegenläufigen Ziele in der Rechtsanwendung häufig verkürzt oder einseitig dargestellt werden. 33

2. Ausweitungs- und Vereinfachungstendenzen

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BGHSt 4, 161 (163) betont einerseits den mit § 113 StGB bezweckten Schutz der Vollzugsbeamten bei ihrer Tätigkeit, andererseits aber auch die grundrechtlich gesicherte Position des Täters. Nach BGHSt 9, 142 (145) wollten die Gesetzgebungsorgane mit den Staatsschutzbestimmungen modernen Umsturzmethoden wirksam begegnen, ohne jedoch die verfassungsgemäße Opposition zu bekämpfen. Ähnlich argumentiert BGHSt 31, 317 (321 f.): Mit einem bewußt weit gefaßten Spionagetatbestand habe der Gesetzgeber ein „wirksames Instrument zur Abwehr fremder Agententätigkeit schaffen“, andererseits aber Personen, die nur von dritter Seite ausgeforscht werden, heraushalten wollen. Fast schon überraschend stellt BGHSt 44, 145 (Einer- oder Dreierbesetzung der OLG-Senate gemäß § 80a OWiG bei Entscheidungen über ein Fahrverbot, oben Fall 239) das generelle Ziel des Gesetzgebers, durch die Novellierung des OWiG die Gerichte zu entlasten, zurück. Für die Dreierbesetzung spreche „auch das Anliegen des Gesetzgebers, Vereinfachungen im Bußgeldverfahren dort ihre Grenzen finden (zu lassen), wo überwiegende Belange des Bürgers entgegenstehen“ (S. 151).38 Dem Entlastungsziel werde bereits in anderer Hinsicht Rechnung getragen (S. 152). – Wie schon die grammatikalische ergibt auch die teleologische Auslegung Argumente für beide Deutungsmöglichkeiten. Entscheidend ist allerdings, daß der Senat nicht einseitig auf die Entlastungsabsicht der Novellierung abhebt.39 Des öfteren vermögen erst außerteleologische Gesichtspunkte, die freilich noch vager sein können, dem weiten Gesetzeszweck Grenzen zu setzen: BGHSt 32, 1 (siehe oben Fall 258) zieht zur Begrenzung des weitreichenden gesetzgeberischen Ziels, möglichst frühzeitig gegen die „Herstellung“ verfassungsfeindlicher Buchmanuskripte vorgehen zu können, grundrechtliche Gesichtspunkte heran (S. 6 f.). BGHSt 26, 228 (oben Fall 261) bestimmt den Zweck des anläßlich der Terrorismusbekämpfung eingeführten § 231a StPO großzügig dahin, eine funktionsfähige Rechtspflege zu gewährleisten; die Auslegung dürfe diese gesetzgeberische Absicht nicht vereiteln (S. 230). Andererseits dürfe der Regelungsbereich der Vorschrift „nicht willkürlich überschritten werden“.

Für Generalisierungen des Normzwecks sind einige Rechtsgebiete besonders prädestiniert. Gerade wenn Vorschriften dem Schutz einer besonders hilfsbedürftig erscheinenden Personengruppe oder der Bekämpfung eines besonders anstößigen Verhaltens dienen, finden die rechtspolitischen Zielsetzungen aufgrund ihrer Evidenz offenbar auch beim Rechtsanwender leicht Gefolgschaft: Zur Pauschalisierung bietet sich etwa das Sexualstrafrecht an: Minderjährige, Abhängige, Betreute und körperlich Unterlegene sind stets in weitem Umfang zu schützen. So spricht z. B. nach BGHSt 7, 48 (52) der Grundgedanke des § 174 StGB a. F. (Unzucht mit Abhängigen), das Betreuungsverhältnis von geschlechtlichen Einflüssen reinzuhalten und die geschlechtliche Unantastbarkeit der abhängigen Person vor Angriffen zu schützen, für die weite Auslegung eines Tatbestandsmerkmals. § 177 I 38 Erneut erfolgt die Beweisführung nur indirekt, denn die zitierte Äußerung wandte sich gegen einen Gesetzesentwurf, der das Beschwerderecht des Betroffenen noch weiter einschränkte, betraf aber nicht die vorliegende Konstellation. 39 Daß die Interpretation des BGH dieses Ziel verfehlt, konstatiert z. B. Deutscher, NZV 1999, 186 (188), der dem BGH im Ergebnis aber zustimmt.

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VI. Sinn und Zweck

Nr. 3 StGB n. F. dient nach Ansicht von BGHSt 45, 253 (255, 259) der Schließung von Strafbarkeitslücken und dem umfassenden Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. — Zu einem weitreichenden Verständnis des Schutzbereichs tendiert der BGH ferner z. B. bei der Auslegung des Opferschutzgesetzes, das die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren „umfassend“ verbessern will (BGHSt 38, 93 [95] mit Nachweisen aus den Gesetzesmaterialien), oder auch bei Vorschriften, welche die Gesundheit der Bevölkerung schützen sollen wie die AMVO und das BtMG40. — Zur Ausdehnung neigt grundsätzlich auch der das Jugendstrafrecht beherrschende „Erziehungsgedanke“. In BGHSt 36, 27 (29) hat es der Senat freilich abgelehnt, eine s. E. eindeutige kostenrechtliche Vorschrift des JGG so zu verstehen, daß dem Erziehungsgedanken Rechnung getragen werden könnte.41 — Keine Nachsicht verdient das „in hohem Maß verwerfliche und sozialschädliche“ (Nachweis aus der Gesetzesbegründung) „Schlepperunwesen“, das der Gesetzgeber nach Auffassung von BGHSt 45, 103 (107) zum Schutz der geschleusten Ausländer „möglichst weitgehend“ erfassen wollte.

Ist die Generalisierung des gesetzgeberischen Ziels schon innerhalb der teleologischen Auslegung mitunter problematisch, wenn sie gegenläufige Tendenzen unberücksichtigt läßt, besteht eine weitere Problematik in einem Ablenkungsmechanismus: Neben dem so eindeutig belegten, auch im zu beurteilenden Fall passenden Schutzzweck der Norm gerät die Prüfung der Tatbestandsmerkmale oftmals aus dem Blick. Die direkte Deduktion aus einem weit verstandenen Normzweck entfernt sich von der tatsächlichen Ausgestaltung der Norm;42 auf diese Weise wird die begrifflich-dogmatische, handwerkliche Arbeit von der Eindruckskraft des teleologischen Arguments überschattet. Auf der anderen Seite werden die Erwägungen zum Gesetzeszweck über Gebühr ausgedehnt und erscheinen angesichts des auf der Hand liegenden Ergebnisses redundant. Häufig wird der Eindruck erweckt, also könne die ausgiebige Betonung des umfassenden Normzwecks die Probleme der Wortlautgrenze kompensieren. Besonders deutlich wird das in einigen Entscheidungen zum Straßenverkehrsrecht, insbesondere zu § 142 StGB: Fall 283 (BGHSt 18, 114 = oben Fall 89) verlangt von demjenigen, der erst nachträglich Kenntnis von einem Verkehrsunfall erlangt, die Rückkehr zum Unfallort. Mit dem Wortlaut des § 142 StGB a. F. (siehe oben bei Fall 89) ist das kaum in Einklang zu bringen, aber der Senat läßt sich maßgeblich vom Gesetzeszweck leiten, der zu einer ausweitenden Normanwendung drängt: Den Unfallbeteiligten soll Gelegenheit gegeben werden, Feststellungen zum Unfallgeschehen zu treffen, um die sich daraus 40 BGHSt 11, 304 (313 ff.) zur AMVO, BGHSt 29, 6 (10 f.) zum BtMG. Auf ein ausdehnendes Verständnis des Opiumgesetzes verzichtet hingegen BGHSt 1, 130, obwohl der zugrundeliegende Fall durchaus Anlaß bot. 41 Abl. die jugendstrafrechtlich orientierten Autoren, die anders als der BGH die Kostenvorschrift nicht für eindeutig halten, vgl. Brunner, NStZ 1989, 239 (240), Eisenberg, JR 1990, 41 f. und Ostendorf, StV 1989, 309 (310). 42 Auch dazu Herzberg, NJW 1990, 2585 (2530), der aus seiner durchaus berechtigten Kritik an der teleologischen Auslegung aber wohl doch zu weitreichende Schlüsse bezüglich ihres Wertes im allgemeinen zieht.

2. Ausweitungs- und Vereinfachungstendenzen

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ergebenden zivilrechtlichen Ansprüche klären zu können (S. 120).43 Daneben beruft der Senat sich auf seine frühere Rechtsprechung, mit der vorliegende Konstellation gleich zu behandeln sei (S. 119 ff.). Gegenüber der Erörterung des Gesetzeszwecks und der Einordnung des Falls in die – ihrerseits bedenklichen! (siehe oben Fall 89) – Präjudizien wird der neuralgische Punkt der Problematik außer acht gelassen, indem schlicht behauptet wird, die Rückkehrpflicht stelle keine unzulässige Ausweitung des Tatbestandes dar (S. 119, unter 4.). Was der BGH anschließend als Begründung aufführt, hat mit der Frage nach der rechtsstaatlichen Zulässigkeit der Subsumtion nicht einmal etwas zu tun. Insgesamt ein krasse Fehlgewichtung in den Entscheidungsgründen: Das Eindeutige (Gesetzeszweck und Präjudizien) wird wortreich dargetan, das Unklare und eigentlich Relevante vernachlässigt.44 Fall 284 (BGHSt 28, 129 = oben Fall 61): Etwas weniger problematisch stellt sich die Sachlage bei § 142 StGB g. F. dar, mit dem der Gesetzgeber die nachträgliche Meldepflicht desjenigen bestimmt, der sich „berechtigt oder entschuldigt vom Unfallort entfernt hat“ (§ 142 II Nr. 2). Fraglich ist nur, ob das auch den ohne Vorsatz handelnden Täter betrifft, der erst später Kenntnis vom Unfall erlangt. BGHSt 28, 129 hat das bejaht und die begrifflichen Schwierigkeiten zumindest vertretbar und mit angemessenem Aufwand gelöst (siehe oben Fall 61). Aufschlußreich ist allerdings erneut die Argumentation zum Gesetzeszweck, mit der die Leitlinie der Interpretation feststeht: Auch die Neufassung diene der Sicherung zivilrechtlicher Ansprüche; aus diesem Zweck folge eindeutig, daß „der Gesetzgeber darauf bedacht war, möglichst alle Fälle des . . . zunächst erlaubten Sich-Entfernens vom Unfallort durch die nachträgliche Meldepflicht zu erfassen“ (S. 133). Daß es aus dieser Perspektive nicht darauf ankomme, aus welchem Grund der Täter sich entfernt, bedürfe keiner Darlegung (S. 133 f.). – Unter dem Eindruck des so verstandenen Schutzzwecks gerät ein genauer Vergleich der vorliegenden Konstellation mit den eindeutig vom Gesetz erfaßten Fallgruppen (§ 142 II Nr. 2) zu knapp. Womöglich hätten sich dabei Unterschiede gezeigt, die gegen die Gleichbehandlung sprachen.45 Der schutzzweckbezogene Fallvergleich kann sich als probates Mittel gegen voreilige Deduktionen aus einem allgemeinen Normzweck erweisen. Ähnlich wie BGHSt 28, 129 geht BGHSt 11, 47 bei Beantwortung der Frage vor, ob ein Fahrzeug unberechtigt „in Gebrauch genommen wird“, wenn der Täter erst im Lauf der Fahrt bösgläubig wird (oben Fall 84). Nachdem die begrifflichen Hürden – wenig überzeugend – überwunden sind, kennt die teleologische Auslegung kein Halten: Nur ein weites Verständnis entspreche dem gesetzgeberischen Ziel, „jedweder Schwarzfahrt entgegenzuwirken“ (S. 50). 43 Noch deutlicher BGHSt 9, 267 (269): „Die dem § 142 StGB zugrunde liegende Feststellungspflicht dient dem Schutze jedes im Bereiche der Möglichkeit liegenden Interesses des Verletzten an der Aufklärung des Unfalls.“ 44 Krit. z. B. Bindokat, JZ 1969, 541 (545): Die Rechtsprechung zu § 142 StGB leide an einer Überbewertung des Zwecks gegenüber dem Tatbestandsmerkmal der „Flucht“. Bestimme der Zweck den Umfang der Strafbarkeit, dann ließen sich Verhaltensweisen bestrafen, die mit dem objektiven Tatbestand nur noch wenig gemein hätten. 45 Abl. deshalb Rudolphi, JR 1979, 210 (211) mit ausführlicher Analyse; vgl. unten nach Fn. 59. Eine unzulässige Vereinfachung durch den BGH konstatiert auch Beulke, NJW 1979, 400 (403); den Schutzzweckerwägungen hingegen zust. Berz, Jura 1979, 125 (132).

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VI. Sinn und Zweck

Fall 285 (BGHSt 24, 352): Nach § 21 I Nr. 2 StVG wird u. a. bestraft, wer es als Kraftfahrzeughalter „zuläßt“, daß jemand das Fahrzeug führt, der keine Fahrerlaubnis hat. Gemäß § 21 II Nr. 1 wird auch die fahrlässige Begehung bestraft. Muß der Fahrzeughalter aber bezüglich des „Zulassens“ nicht wenigstens bedingten Vorsatz haben? Der Senat verneint: Die Gesetzesmaterialien sagten zu dieser Frage unmittelbar zwar nichts, doch folge aus der inhaltlichen Erweiterung der Bestimmung durch eine Gesetzesänderung von 1964 eine Ausweitung des Schutzzwecks: „Der Gesetzgeber strebte einen umfassenderen Schutz der Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern an“ (S. 353 f.). – Unter dieser Prämisse ist die Lösung vorgegeben und alle weiteren Ausführungen des Senats redundant. Natürlich erfordert der so bestimmte Schutzgedanke, die fahrlässige Verwirklichung aller Tatbestandsmerkmale genügen zu lassen (S. 354), und natürlich verfehlt die Gegenauffassung des BayObLG dieses gesetzgeberische Ziel.

Insgesamt ist festzuhalten: Der teleologischen Auslegung wohnt die Tendenz inne, den Anwendungsbereich von Normen auszudehnen.46 Das kann zwar mit dem Willen des Gesetzgebers im Einklang stehen, und die Rechtsprechung ist nicht abgeneigt, entsprechend umfassende Vorstellungen aus den Gesetzesmaterialien aufzugreifen.47 Jedoch muß der Rechtsanwender zwei Probleme berücksichtigen: Er muß zum einen (innerhalb der teleologischen Auslegung) nach konkurrierenden, gegenläufigen Normzwecken suchen, welche die weitgehende Annahme in Frage stellen. Zum anderen darf er sich durch das offensichtliche Schutzziel der Norm nicht von der tatsächlichen Ausgestaltung der Norm durch deren Tatbestandsmerkmale ablenken lassen. Die dargestellten Gefahren belegen nochmals die Vorzüge einer auf den „möglichen Wortsinn“ als Auslegungsgrenze abhebenden Konzeption.

3. Der wertungsbezogene Fallvergleich und der Grundsatz der Gleichbehandlung Ein zentrales Hilfsmittel zur Verwirklichung des festgestellten Gesetzeszwecks in der Rechtsanwendung ist der Vergleich von Fällen. Er beruht auf der einfachen Erwägung, daß Sachverhalte, die den unzweifelhaft vom Gesetz erfaßten Konstellationen in allen wesentlichen Aspekten entsprechen, gleichfalls der Norm unterfallen müssen. Verbindende Klammer für diese „Gleichsetzung“ (vgl. oben III 7 i) ist das Gebot gleichmäßiger Rechtsanwendung, ihr notwendiger Bezugspunkt (Vergleichsmaßstab) der Gesetzeszweck bzw. das gesetzgeberisch Gewollte: Nicht das, was sich phänomenologisch, sondern das, was sich in Hinblick auf den Gesetzeszweck bzw. die gesetzgeberische Wertung entspricht, muß gleichbehandelt werden. Im eigentlichen Sinn handelt es sich bei dieser 46 Tiedemann, Anfängerübung, S. 80: Die teleologische Auslegung führe meist zu einer Ausweitung der Bedeutung eines Rechtssatzes. 47 Einem ängstlichen Gesetzgeber kann man deshalb den zynischen Rat erteilen, pauschale Ansichten über das Ziel der Strafbestimmung in den Materialien festzuhalten.

3. Wertungsbezogener Fallvergleich und Grundsatz der Gleichbehandlung

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Vorgehensweise nicht um die teleologische Auslegung, also um die Ermittlung des Gesetzeszwecks, sondern um die Übertragung des bereits festgestellten Zwecks auf eine neue Fallkonstellation. Der Fallvergleich bietet sich nur deshalb an, weil das gesetzgeberische Ziel im Ausgangsfall – das kann ein im Gesetz ausdrücklich genanntes, aber auch ein eindeutig unter die Norm fallendes Beispiel sein – besonders gut zum Ausdruck kommt und der Transfer deshalb leicht fällt: Der Forstdiebstahl stand unter verschärfter Strafandrohung, wenn er mittels eines „bespannten Fuhrwerks“ oder „Lasttieres“ begangen wurde. Offensichtlich sollte dadurch dem Wegschaffen größerer Mengen begegnet werden (BGHSt 10, 375), und offensichtlich trifft dies auch für die Nutzung eines Kraftfahrzeuges zu, das der damalige Gesetzgeber bei Abfassung der Norm noch nicht berücksichtigen konnte.

In Hinblick auf den Gesetzeszweck müssen beide Fälle (Fuhrwerk, KFZ) gleichermaßen von der Norm erfaßt werden. Das verlangt der in Art. 3 I GG enthaltene Grundsatz der Gleichbehandlung als Ausprägung der Gerechtigkeit.48 Die Gesetzesanwendung könnte vorliegend freilich in Anbetracht des Gesetzeswortlauts nur im Wege eines Analogieschlusses geschehen, dessen zusätzlichen Voraussetzungen (planwidrige Lücke) hier zwar ohne weiteres gegeben sind, der aber aufgrund des aus Art. 103 II GG folgenden Verbots wortlautüberschreitender Rechtsanwendung zulasten des Betroffenen unzulässig ist.49 Auch in der folgenden Entscheidung bereitete allein der Wortlaut Probleme, während der Grundsatz der Gleichbehandlung unter Berücksichtigung des Gesetzeszwecks recht eindeutig für die Erfassung des Falls sprach: Fall 286 (BGHSt 26, 95 = oben Fall 87): Verübt der auf frischer Tat betroffene Dieb Gewalt gegen eine Person, wird er wie ein Räuber bestraft (§ 252 StGB). Wie steht es mit demjenigen, der seiner Entdeckung zuvorkommt, indem er das nichtsahnende Opfer niederschlägt? Nach Ansicht des Senats liegt der Grund für § 252 in der gesetzgeberischen Annahme, daß dieser Täter vermutlich auch Gewalt angewandt hätte, wenn er vor Vollendung des Diebstahls ertappt worden wäre (S. 96). Mit dem Merkmal „auf frischer Tat betroffen“ habe lediglich der zeitliche Rahmen bestimmt werden sollen, in dem die Gleichstellung mit einem Räuber noch erfolgen soll. Ausgehend von dieser Sinnbestimmung vergleicht der BGH die denkbaren Konstellationen (S. 97): Betritt das Opfer die Wohnung noch während des Diebstahls und wird es daraufhin niedergeschlagen, liegt ein Raub vor (§ 249). Kommt es später hinzu und bemerkt den Täter, der es sodann niederschlägt, ist § 252 gegeben. „Es leuchtet nicht ein und ist mit dem Sinn des § 252 StGB kaum vereinbar, daß der Angeklagte bloß deswegen nicht als Räuber . . . behandelt werden soll, weil er dem Bemerktwerden durch schnelles Zuschlagen zuvorgekommen ist. Ein Dieb, der Gewalt übt, unmittelbar bevor er bemerkt wird, muß genau so behandelt werden wie einer, der zuschlägt, nachdem er bemerkt wurde.“

48 Daß die unterschiedliche Behandlung gleichermaßen strafwürdiger Fälle gegen das „Gebot der Gerechtigkeit“ verstieße, sagt z. B. BGHSt 2, 362 (363). 49 Zum Verhältnis von Art. 3 I zu Art. 103 II GG siehe bereits oben V 8 c.

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VI. Sinn und Zweck

Stellt man den wertenden Fallvergleich in den Mittelpunkt der Überlegungen, kann mit gutem Grund behauptet werden, daß zwischen (ausdehnender) teleologischer Rechtsanwendung und Analogie kein struktureller Unterschied besteht.50 Gerade BGHSt 10, 375 macht deutlich, daß der Gesetzeszweck zur Anwendung der Norm drängt, gleich ob dies im Einklang oder im Widerspruch zum Gesetzeswortlaut geschieht. § 315b I Nr. 3 StGB veranschaulicht die Zusammenhänge, indem er neben den in Nr. 1 und 2 ausdrücklich genannten Tathandlungen „einen ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriff“ zur Verwirklichung des Tatbestandes genügen läßt. Der wertende Fallvergleich soll auf diese Weise von seinen semantischen Fesseln befreit werden, was freilich Bedenken in Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot weckt. Ungeachtet der bestehenden Strukturgleichheit zwischen teleologischer Rechtsanwendung und Analogie würde es hingegen zu weit gehen, in jeder Auslegung einen analogischen Vorgang zu erkennen, denn Auslegung und Subsumtion beruhen nicht stets auf einem Vergleich sich ähnelnder Fälle. Erneut zu betonen ist auch, daß die Strukturgleichheit einer formalen Grenzziehung (Wortlautgrenze) innerhalb des Bereichs ähnlicher Fälle nicht grundsätzlich entgegensteht.51 Die Argumentation aus dem Fallvergleich ist noch eingängiger, wenn die Lebensvorgänge sich nicht nur ähneln, sondern sogar in einem Größenverhältnis stehen, das einen Erst-recht-Schluß rechtfertigt. Auch insoweit kann BGHSt 10, 375 als Beleg dienen: Ist mit der Regelung beabsichtigt, das Wegschaffen größerer Mengen Materials härter zu bestrafen, dann trifft das auf die Nutzung eines LKW noch eher zu als auf die Verwendung eines bespannten Fuhrwerks (a minore ad maius). Bereits im Kapitel V 3 a wurde eingehend dargelegt, daß die Größenschlüsse nur tragen, wenn zuvor ihr teleologischer Bezugspunkt zutreffend herausgearbeitet wurde. Ansonsten besteht die Gefahr, daß die Evidenz des logisches Gebildes zu Unrecht in Anspruch genommen wird. Sowohl beim Größen- als auch beim Ähnlichkeitsschuß darf der Gesetzeszweck als Bezugspunkt nicht aus dem Blick geraten, der Fallvergleich sich nicht verselbständigen.52 Auch beim ähnlichsten oder (scheinbar) wesentlich schwerwiegenderen Fall kann es gesetzgeberische Gründe für dessen Nichterfassung und die daraus folgende Ungleichbehandlung geben:53 Auf Anhieb erscheint es unverständlich, weshalb der Diebstahl von Ersatzreifen verschärft bestraft wurde, nicht aber – als ähnlicher Fall – die Wegnahme der an der Achse befestigten Reifen (BGHSt 3, 312 und 314). Letztere sind keine „Gegenstände der Beförderung“, die der Gesetzgeber in § 243 I Nr. 4 StGB a. F. als beson50

So z. B. Bindokat, JZ 1969, 541 (542, l. Sp.). Eingehend zu diesen Fragen bereits oben III 7 i. 52 Bei einer bloßen Behauptung, daß in der fraglichen Konstellation „dasselbe gelten“ müsse wie in der unproblematischen, beläßt es etwa BGHSt 7, 37 (39). 53 Das belegt nebenbei, daß der Begriff des „Rechtsguts“ ein zu unspezifischer Maßstab für den Fallvergleich wäre; vgl. allgemein oben VI 1. 51

3. Wertungsbezogener Fallvergleich und Grundsatz der Gleichbehandlung

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ders schutzwürdig ansah, sondern tragen selbst zur Beförderung bei. Das erklärt auch, weshalb zwar der Diebstahl unbedeutender Gegenstände des Reisegepäcks verschärft bestraft wurde, nicht aber – erst recht – die Wegnahme des gesamten Transportmittels (KFZ).54 BGHSt 3, 314 (316) merkt an, daß diese Ergebnisse angesichts der tatsächlichen Entwicklung der Verhältnisse unbillig seien, sieht aber angesichts der klaren Gesetzeslage keinen Ausweg.55

Daß eine Norm, in der von vornherein – in BGHSt 3, 312 und 314 sowie BGHSt 10, 375 traten die Ungereimtheiten erst durch die Fortentwicklung der Verhältnisse ein – Inkonsistenzen angelegt sind, sich für einen wertungsbezogenen Fallvergleich nicht gut eignet, ist leicht einsichtig. Solange die Regelung nicht willkürlich ist oder aus anderen Gründen gegen Art. 3 GG verstößt56, muß sie als Entscheidung des Gesetzgebers allerdings hingenommen werden: BGHSt 34, 138 muß sich damit abfinden, daß der Täter, gegen den zwei gesamtstrafenfähige lebenslange Freiheitsstrafen verhängt wurden, gegenüber einem Täter, der zu zwei zeitigen Strafen verurteilt wurde, in Hinblick auf Sicherungsverwahrung und Führungsaufsicht besser stehen kann. Das sei „eine durch die Rechtsprechung nicht vermeidbare Auswirkung“ der gesetzlichen Regelung (S. 145).57 BGHSt 22, 375 (oben Fall 224 – Verjährung von NS-Verbrechen) zitiert den GBA, der einen einleuchtenden Grund dafür vermißt, „weshalb derjenige, der als Gehilfe bei einer aus Rassenhaß begangenen Tötung mitwirkt und dabei weiß, daß sie ein Beitrag zur Ausrottung einer ganzen Volksgruppe ist, besser gestellt werden soll [Verjährung!] als der Teilnehmer z. B. am heimtückisch begangenen Mord“ (S. 381). Auch der Senat sieht das nicht ein und findet den Grund für das „ungereimte Ergebnis“ in einem gesetzgeberischen Versehen bei der Neuregelung der Beihilfe, so daß die „ungleichen Folgen . . . bei der Auslegung nicht berücksichtigt werden“ könnten. – Darüber hinaus kann allerdings schon die Stimmigkeit des § 28 StGB (§ 50 a. F.) selbst bezweifelt werden. Denn wem leuchtet es in Hinblick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung ein, daß der Gehilfe eines heimtückischen Mordes einem schärferen Strafrahmen unterliegt als der Gehilfe eines aus Rassenhaß begangenen Mordes?58

Induktiver Fallvergleich und die Verwertung des abstrakten Gesetzeszwecks können in der Fallanwendung in komplizierter Weise zusammenwirken. Der Fallvergleich kann im Einzelfall dazu beitragen, die mit der teleologischen Aus54 Dazu, daß diese Regelung (ursprünglich) durchaus nicht unsinnig und willkürlich ist, siehe bereits oben V 3 a, S. 394. 55 Ausführlich vorgeführt werden die Unbilligkeiten des § 243 StGB a. F. in Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz von Bockelmann, JZ 1959, 653 ff. 56 Siehe dazu oben V 8 c am Ende. 57 Als „sachlich bedenklich“ bezeichnet die Regelung BGH NJW 2002, 3559. Daß sie gleichwohl nicht willkürlich und damit verfassungswidrig ist, dürfte sich aus den Besonderheiten der lebenslangen Freiheitsstrafe ergeben, bei der dem Gesetzgeber die anschließende Sicherungsverwahrung womöglich als Fremdkörper erschien (vgl. BGHSt 33, 398 [400]). 58 Vorausgesetzt, der Gehilfe kennt die Motive des Haupttäters, erfüllt aber selbst kein Mordmerkmal.

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VI. Sinn und Zweck

legung einhergehenden Ausweitungstendenzen einzudämmen59 oder zumindest vorschnelle Vereinfachungen zu erschweren: Zu leicht hat es sich womöglich BGHSt 28, 129 bei der „Gleichsetzung“ von vorsatzlosem mit dem berechtigten oder entschuldigten Entfernen (§ 142 II Nr. 2 StGB) vom Unfallort gemacht. Das gesetzgeberische Ziel, die zivilrechtlichen Ansprüche des Unfallgegners zu wahren, sprach pauschal für die Erfassung aller denkbaren Konstellationen (siehe oben Fall 284). Rudolphi wirft dem Senat deshalb vor, keinen genaueren Blick auf die vom Gesetz unzweifelhaft erfaßten Situationen geworfen zu haben, um sie mit dem vorliegenden Fall zu vergleichen (JR 1979, 210 [211]). Dabei träten so viele Differenzen zutage, daß nicht mehr von der Gleichheit der Interessenlage ausgegangen werden könne, die eine Gleichsetzung nach dem Schutzzweck erfordere (S. 211 f.). – Von den Merkmalen, die nach Ansicht von Rudolphi die unvorsätzliche von der berechtigten oder entschuldigten Flucht unterscheiden, ist am markantesten wohl die Unklarheit über den Zeitpunkt, wann die Korrektur der Fehlvorstellung eintritt. Das zwingt den BGH zu der angemessenen, aber aus dem Gesetz kaum herzuleitenden Einschränkung, wonach zwischen nachträglicher Kenntniserlangung und dem Unfallgeschehen noch ein zeitlicher und räumlicher Zusammenhang bestehen muß (S. 135).

Ob in BGHSt 28, 129 die Unterschiede insgesamt der Gleichsetzung wirklich entgegenstanden,60 kann hier dahinstehen, aber der möglicherweise einschränkende Charakter eines alle Umstände berücksichtigenden Fallvergleichs sollte deutlich geworden sein. Das allgemeine gesetzgeberische Ziel muß mit den Wertungen abgeglichen werden, die in den unzweifelhaft erfaßten Anwendungsfällen zum Ausdruck kommen. In der Praxis wird der Fallvergleich nicht nur in bezug auf den Gesetzeszweck einer einzelnen Norm vorgenommen, sondern auch in Hinblick auf die Gesetzessystematik oder das gesetzgeberische Programm insgesamt. Mit dem Durchspielen von Fällen soll gewährleistet werden, daß die vertretene Gesetzesauslegung konsistente Lösungen erlaubt und nicht zu Wertungswidersprüchen führt:61 Fall 287 (BGHSt 39, 128): Der Senat hält eine Verurteilung wegen Herbeiführung einer Brandgefahr (§ 310a StGB a. F.) auch dann für möglich, wenn der Täter vom Versuch der Brandstiftung zurücktritt (§ 24) oder die Brandstiftung wegen tätiger Reue (§ 310 a. F.) straflos bleibt. Das eigenständige Unrecht des an sich subsidiären Gefährdungsdelikts bleibe in diesen Konstellationen bestehen (S. 130). Zudem würde es „der Gerechtigkeit widersprechen, wenn der Brandstifter straflos bliebe, falls es ihm gelingt, den Brand alsbald wieder zu löschen, während derjenige, der nur eine Brandgefahr herbeiführt, ohne daß ein Brand entsteht, nach § 310a StGB bestraft würde“ (S. 131). – Statt übertrieben von der Gerechtigkeit sollte der Senat besser von einem drohenden Wertungswiderspruch sprechen. In Hinblick auf das ge-

59 60 61

Siehe oben VI 2 und dort insbesondere BGHSt 45, 131 = Fall 282. Zu den weiteren Differenzen siehe Rudolphi, JR 1979, 210 (211, r. Sp.). Weitere Beispiele unten VI 4 d (ab BGHSt 6, 394).

3. Wertungsbezogener Fallvergleich und Grundsatz der Gleichbehandlung

487

setzgeberische Programm wäre die Besserstellung (Ungleichbehandlung) des erstgenannten Täters nicht zu rechtfertigen. Zu erwägen wäre allerdings, die Ungerechtigkeit in umgekehrter Richtung zu kompensieren, indem auch dem Täter des § 310a – bei entsprechenden Rücktrittsbemühungen – die Regelung zur tätigen Reue (§ 310) in analoger Anwendung zugute gehalten wird.62 Freilich sprachen auch gegen die Analogie gute Gründe (vgl. a. a. O., S. 131 f.).

Insoweit ist der Gleichbehandlungsgrundsatz entscheidendes Moment jeder dogmatischen Tätigkeit, die um die gleichmäßige und widerspruchsfreie Behandlung von Fällen des Normbereichs (oder Präjudizien) bemüht sein muß. Zur Thematik ist abschließend noch auf einen Aspekt der Begründungstechnik hinzuweisen, der zugleich zum nächsten Abschnitt überleitet. Häufig argumentieren die Gerichte nicht (positiv) damit, daß der konkret zu beurteilende Fall aufgrund seiner Ähnlichkeit mit dem eindeutig vom Gesetz erfaßten der Norm unterfallen muß, sondern legen dar, daß die Gegenauffassung zu einer ungereimten oder systemwidrigen Ungleichbehandlung gleichliegender Fälle und damit zu einem sinnwidrigen, vielleicht sogar absurden Ergebnis führe. Oftmals handelt es sich insoweit nur um zwei Seiten einer Medaille, wie leicht zu zeigen ist: BGHSt 36, 192 (oben Fall 112): „Im Hinblick auf diesen auch für § 304 Abs. 5 StPO maßgeblichen Regelungszweck63 [Rechtsschutz bei besonders intensiven Eingriffen] erschiene es ungereimt, wenn nicht systemwidrig, zwar Beschlagnahme und Durchsuchung, nicht aber Erzwingungshaft als beschwerdefähig anzusehen“ (S. 196). Positiv gewendet könnte man auch formulieren: Im Hinblick auf den Regelungszweck verlangt es der Grundsatz der Gleichbehandlung, neben Beschlagnahme und Durchsuchung auch (erst recht) die Erzwingungshaft zu erfassen. BGHSt 42, 123 (oben Fall 82): Zu einem ungereimten, im Wertungswiderspruch zur Systematik stehenden Ergebnis würde es führen, wenn der Täter, der eine nicht geringe Menge Betäubungsmittel ausschließlich zum Zweck des Eigenverbrauchs einführt, ohne weiteres der Qualifikationsnorm unterfiele, während derjenige, der eine Hälfte einer nur insgesamt nicht geringen Menge zum Eigengebrauch, die andere zur Weiterveräußerung einführt, der Norm nicht unterfiele (S. 127). Dann würde die Tat milder bestraft, obwohl der Täter eine zusätzliche (und gefährlichere) Handlungsmodalität erfüllt hat. – Anders formuliert: Der vorliegende Fall wiegt unter Berücksichtigung des Gesetzeszwecks gegenüber dem unzweifelhaft geregelten noch schwerer. Die Vorschrift ist deshalb erst recht anzuwenden.

Der teleologische Fallvergleich kann demnach sowohl die befürwortete Ansicht positiv stützen als auch die Sinnwidrigkeit der Gegenauffassung belegen. Beide Argumentationsformen können sich als gleichwertig erweisen, wenn es nur um die Frage der Darstellung ein und desselben Problems geht. Die Praxis 62 Vgl. Geppert, JR 1994, 72 (73), der den vom BGH angeführten Wertungswiderspruch deshalb als „Scheinargument“ bezeichnet (S. 75). 63 Hier wird der Regelungszweck als notwendiger Bezugspunkt des Fallvergleichs noch einmal deutlich herausgestellt.

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VI. Sinn und Zweck

greift freilich gern auf die indirekte Beweisführung (dazu sogleich) zurück, weil mit ihr – vor allem mit dem argumentum ad absurdum – besonderer Eindruck gemacht werden kann.

4. Sinnwidriges Ergebnis/argumentum ad absurdum/ Untragbarkeitsargument a) Ausgangspunkt Die im folgenden vorzustellenden Argumentationsmuster haben gemein, daß sie nicht die Richtigkeit der eigenen Lösung, sondern die Unrichtigkeit anderer Ansichten behaupten. Im Mittelpunkt stehen dabei Entscheidungen, in denen die Ergebnisse der Gegenauffassung als „unsinnig“ oder deren Konsequenzen als „absurd“ verworfen werden. Abweichende Standpunkte werden mit scharfen rhetorischen Mitteln gebrandmarkt und als „widersinnig“, „sinnwidrig“, „eigenartig“, „ungereimt“, „untragbar“, „unhaltbar“, „unerträglich“, „absonderlich“, „unverständlich“, „absurd“ und mit ähnlichen Attributen bezeichnet.64 In der Praxis erfreut sich diese Verfahrensweise, die vorwiegend unter der Bezeichnung „argumentum ad absurdum“ behandelt wird, großer Beliebtheit. Eine Analyse dieser Argumentationsform muß verschiedene Aspekte auseinanderhalten. Zum einen ist ihre Struktur und der daraus folgende Beweiswert zu betrachten, zum anderen stellt sich die Frage, welches Kriterium (Logik, Gesetzeszweck, Vernunft) Maßstab dafür sein soll, eine Auffassung als „unhaltbar“ oder „widersinnig“ bezeichnen zu dürfen, und schließlich ist ein Blick auf das rhetorische Element und die damit einhergehenden Gefahren zu werfen. b) Der indirekte Beweis Das argumentum ad absurdum wird nicht oder nur äußerst selten als echte Beweisform genutzt, die darauf gründet, mit der Widerlegung der Gegenmeinung die Richtigkeit der eigenen Position darzutun.65 Dieser „indirekte (apagogische) Beweis“66 setzt voraus, was in der juristischen Normkonkretisierung kaum je der Fall sein wird, nämlich daß die Gegenauffassung die (logisch) exakte Verneinung der eigenen Ansicht ist.67 Das läßt sich an jedem einzelnen 64 Das harte Wort „absurd“ taucht in der amtlichen Sammlung (BGHSt 1–47) allerdings nur in BGHSt 17, 360 (363) auf. Nachweise zu den übrigen Formulierungen erfolgen im Lauf der Darstellung. 65 In diesem Sinn aber wohl Enneccerus, Bürgerliches Recht, S. 118 (Fn. 10): Auf dem Wert des Ergebnisses für die Auslegung „beruht auch das sog. argumentum ad absurdum, der Nachweis, daß ein bestimmte Auslegung richtig sei, weil die sonst noch möglichen töricht sein würden.“ 66 Schneider, Logik, S. 180 ff.; Gast, Rhetorik, Rn. 339 f.

4. Sinnwidriges Ergebnis/argumentum ad absurdum/Untragbarkeitsargument 489

Auslegungskriterium illustrieren: Wird eine Auffassung als gegen den Wortlaut verstoßend oder der Entstehungsgeschichte widersprechend verworfen, heißt das noch nicht, daß die eigene Ansicht mit diesen Kriterien vereinbar ist. Ein dahingehender Beweis kann nur direkt geführt werden. Gleichwohl ist die Widerlegung der Gegenauffassung von erheblichem praktischen Nutzen für die Rechtsanwendung. Häufig soll mit einer neuen Auslegungshypothese ja lediglich eine herrschende Lehre bekämpft werden, die an sich keiner erneuten positiven Begründung bedarf; dann ist mit der Widerlegung der Gegenauffassung die bisherige Ansicht ausreichend verteidigt. Aber selbst wenn zum ersten Mal über die maßgebende Normbedeutung gestritten wird und sich zwei oder mehrere Positionen gegenüberstehen, wird doch die Suche nach der „richtigen“ Lösung durch den Ausschluß einzelner Standpunkte als „sinnwidrig“ oder „absurd“ erleichtert.68 Kommen nur zwei Auslegungsvarianten in Betracht und führt eine davon zu absurden Konsequenzen, wird die Befolgung der anderen Ansicht immerhin naheliegen: BGHSt 7, 240 (243): „Wäre nun die Ansicht des OLG richtig, . . . so wären . . . Die Unannehmbarkeit eines solchen Ergebnisses zwingt allein schon zu der Rechtsauffassung, daß . . .“.

Freilich ist in dieser Situation zu berücksichtigen, daß angesichts etwaiger Gesetzesfehler auch alle Auslegungshypothesen zu sinnwidrigen Ergebnissen führen können, die gesetzliche Anordnung also jeder Sachlogik entbehrt. Dann kann eine Auswahl zwischen mehr oder weniger großen Übeln notwendig sein. Weiterhin gibt es Konstellationen, in denen es schlichtweg einfacher sein kann, die Sinnwidrigkeit der Gegenauffassung zu begründen als die Sinnhaftigkeit der eigenen Position; die evidente Unrichtigkeit der gegenteiligen Position vermag dann die eigene Ansicht zumindest psychologisch zu stärken. Und häufig verfahren die Gerichte auch zweigleisig, indem sie die bevorzugte Auffassung direkt begründen und zusätzlich andere Meinungen entkräften.69 Zu beachten ist schließlich, daß in der Praxis die Sinnwidrigkeit des Ergebnisses zwar in aller Regel zur Widerlegung der Gegenpositionen genutzt wird, daß aber natürlich auch die eigene Auffassung nicht zu (vermeidbaren) sinnwidrigen Konsequenzen führen darf. Der Wert des Ergebnisses ist generell ein wichtiger Aspekt der Rechtsanwendung,70 und auch die eigene Ansicht muß sich in einer Ergebniskontrolle bewähren. Auf entsprechende Einwände oder prophylaktisch setzen die Strafsenate sich mit den möglicherweise unerwünsch67

Diederichsen, in: FS für Larenz, S. 174. Bydlinski (Methodenlehre, S. 457) spricht von einem „Eliminationsverfahren“. 69 So auch die Empfehlung von Schneider, Logik, S. 189; siehe auch Diederichsen, in: FS für Larenz, S. 158 (Fn. 28). Aus der Rechtsprechung z. B.: BGHSt 24, 352 (354). 70 Enneccerus, Bürgerliches Recht, S. 118. 68

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VI. Sinn und Zweck

ten Folgen71 ihrer Ansicht auseinander, insbesondere dann, wenn Strafbarkeitslücken drohen: BGHSt 6, 25 (27): Die Auslegung führe keineswegs, wie das BayObLG meint, zu „unerträglichen Ergebnissen“, denn die verdrängten Delikte seien bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. — BGHSt 29, 300 (305): Die sich aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte ergebende Interpretation führe nicht zu „unvertretbaren Ergebnissen“, denn sie eröffne keine erheblichen strafrechtlichen Lücken.

c) Die Sinnwidrigkeit des Ergebnisses Die Unrichtigkeit der Gegenauffassung kann mit unterschiedlichen Kriterien bewiesen werden. Sie kann anhand der klassischen Auslegungskriterien überprüft werden und z. B. mit dem Gesetzeswortlaut unvereinbar sein oder der Entstehungsgeschichte oder der Gesetzessystematik widersprechen. Sie kann vor allem dem Gesetzeszweck zuwiderlaufen und deshalb zu einem nach den Maßstäben der teleologischen Auslegung „sinnwidrigen“ Ergebnis führen, das natürlich zu vermeiden ist.72 BGHSt 36, 133 (136): „Gegen die Ansicht, daß . . ., sprechen aber nicht nur Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Systematik des Gesetzes, sondern darüber hinaus Gesichtspunkte der Vermeidung zweckwidriger und unangemessener Folgen.“

Die Sinnwidrigkeit kann jedoch auch auf anderen als teleologischen Gründen beruhen, wie etwa auf allgemeinen Erwägungen der Gesetzessystematik, der Vernunft, der Natur der Sache, der Billigkeit, der Kriminalpolitik, der Rechtsidee.73 Wider Erwarten keine Rolle spielt allerdings der Widersinn nach den Kriterien der Logik.74 Das setzte den Nachweis voraus, daß eine Ansicht in sich widersprüchlich ist, weil sie die gleichzeitige Geltung zweier sich ausschließender Inhalte behauptet (b ist a und non-a).75 Das nach „juristischer Logik“ Unsinnige kann nach den Regeln der formalen Logik durchaus fehlerfrei sein. Von der Frage des Kriteriums, nach dem die Sinnwidrigkeit zu bestimmen ist („Wann ist ein Ergebnis unhaltbar, untragbar, sinnwidrig?“), ist die Frage zu unterscheiden, wie offensichtlich oder in welchem Maß die Sinnwidrigkeit zutage tritt. Die Formulierungen sind steigerbar von „eigenartig“, „ungereimt“ oder „nicht einleuchtend“ über „sinnwidrig“ bis zur Kennzeichnung als „unhalt71 Zum Verhältnis von „Folgenberücksichtigung“ und „Ergebniskontrolle“ siehe unten VI 12. 72 Säcker, in: MüKo-BGB, Einl., Rn. 128: Widersinnige, d.h. mit dem Gesetzeszweck (!) unvereinbare Ergebnisse sind zu vermeiden. 73 Im Mittelpunkt der folgenden Erwägungen stehen die Kriterien Gesetzeszweck und -systematik. 74 Schneider, Logik, S. 186; Scheuerle, ZZP 1965, 32 (60 ff.). 75 Näher Diederichsen, in: FS für Larenz, S. 177.

4. Sinnwidriges Ergebnis/argumentum ad absurdum/Untragbarkeitsargument 491

bar“, „unerträglich“ oder „absurd“. Die Sinnwidrigkeit ist demnach graduell abstufbar, wenn sie nicht in einem logischen Widerspruch besteht.76 Widersprüche zum Gesetzeszweck können sich als dermaßen evident erweisen, daß sich zur Darstellung das argumentum ad absurdum, mit dem die Unrichtigkeit des Ergebnisses besonders eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht werden kann, geradezu aufdrängt. Die Darlegung der absurden Konsequenzen einer Auffassung arbeitet zwar mit einem Appell an das Rechtsgefühl oder den gesunden Menschenverstand,77 kann (und muß) jedoch trotz der rhetorisch übersteigerten Ausdrucksweise auf einem rationalen Fundament beruhen, wenn etwa der Gesetzeszweck das zugrundeliegende Kriterium ist. Bei offensichtlicher Sachwidrigkeit kann es gerechtfertigt sein, auf die Darlegung des rationalen Fundaments weitgehend zu verzichten.78 Andererseits kann auch appelliert werden, ohne daß Sachgründe Pate stehen; dann soll womöglich die Zustimmung des Fachpublikums durch die unberechtigte Inanspruchnahme von Evidenz erschlichen werden. d) Argumentationsmuster im einzelnen Sehr häufig tritt das argumentum ad absurdum als teleologisches Argument in Erscheinung, insbesondere in Umkehrung zum oben geschilderten wertungsbezogenen Fallvergleich (VI 3). Verlangt der Gesetzeszweck in Verbindung mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz, daß der fragliche wie der eindeutig von der Norm erfaßte Fall zu behandeln ist, würde ein anderes Ergebnis „nicht einleuchten“ oder wäre „ungereimt“.79 Indes dürfte das Rechtsgefühl sich selbst bei offensichtlich gegebener Ähnlichkeit kaum in einem Maß ansprechen lassen, das die schärfste Rhetorik („unhaltbar“, „untragbar“, „sinnwidrig“) rechtfertigt. Immerhin von einem „unannehmbaren Ergebnis“, aus dem die Unrichtigkeit der Auslegung der Strafkammer unmittelbar erhelle, spricht BGHSt 14, 240 (249). Der Senat belegt das mit einem direkten Vergleich zweier Mitangeklagter, von denen einer mit Sicherheit nicht dem Tatbestand der Falschverdächtigung unterfiel. Für eine unterschiedliche Behandlung der beiden sieht der Senat aber keinen Grund, zumal sie dienstrechtlich zur gleichen Handlungsweise angehalten waren (S. 250).

Größere Eindruckskraft hat das (teleologische) argumentum ad absurdum, wenn es mit einem Erst-recht-Schluß einhergeht.80 Verlangt der Gesetzeszweck 76

Siehe Horak, Rationes decidendi, S. 267. Schneider, Logik, S. 186. 78 BGHSt 4, 316 (320): „Daß der Gesetzgeber einen solchen Fall . . . nicht hat treffen wollen, bedarf keiner näheren Darlegung.“ BGHSt 7, 240 (244): „Daß damit die Grenzen vertretbarer Gesetzesauslegung überschritten werden, bedarf keiner weiteren Begründung.“ BGHSt 13, 46 (51): „Daß dies nicht dem Sinn und Zweck der Vorschrift gerecht würde, versteht sich von selbst.“ 79 BGHSt 26, 95 (97) = oben Fall 286: „leuchtet nicht ein“; BGHSt 36, 192 (196) = oben Fall 112: „ungereimt“. 77

492

VI. Sinn und Zweck

die Einbeziehung des zu entscheidenden Falls, weil er auf diesen noch eher (erst recht) zutrifft als auf den sicher vom Gesetz erfaßten Fall, dann wäre es sinnwidrig, unhaltbar oder absurd, gegenteilig zu verfahren. Das argumentum ad absurdum ist auch hier nichts anderes als die Kehrseite einer teleologischen Argumentation, mit der das Ergebnis auch positiv begründet werden könnte (vgl. oben VI 3 am Ende). Daß die Praxis gleichwohl (zusätzlich) die indirekte Begründung wählt, liegt daran, daß das teleologische Argument dadurch rhetorisch besonders eindringlich ausgedrückt werden kann.81 Nach BGHSt 13, 46 verlangt der Tatbestand des § 100e StGB (a. F.) nicht, daß der Täter eine Treuepflicht gegenüber der Bundesrepublik verletzt. Denn dann wären nur Inländer strafbar und gerade die gefährlichsten Täter (auswärtige Agenten) nicht erfaßt. „Daß dies nicht dem Sinn und Zweck der Vorschrift gerecht würde, versteht sich von selbst“ (S. 51). — Auf einen Schluß a maiore ad minus beruft sich BGHSt 25, 10: Es sei „nicht einzusehen“, daß eine Sache des Eigentümers eingezogen werden kann, nicht aber das Anwartschaftsrecht an der Sache (S. 12).82 Fall 288 (BGHSt 10, 355): Begeht ein Täter eine „mit Strafe bedrohte Handlung“ i. S. von § 42b StGB (a. F.), wenn er aufgrund seiner Wahnvorstellungen irrtümlich eine rechtfertigende Situation annimmt (Erlaubnistatumstandsirrtum) oder wegen seines Wahns keinen Vorsatz hat. Der Senat will das zumindest dann bejahen, wenn der Irrtum Ausfluß der geistigen Erkrankung ist (S. 357). „Die gegenteilige Auffassung würde bedeuten, daß grundsätzlich gerade die Geisteskranken, die erfahrungsgemäß besonders gefährlich sind, nämlich die Kranken, die an Verfolgungswahn leiden, von einer Unterbringung nach § 42b StGB ausgenommen wären. Das kann nicht der Sinn des Gesetzes sein“ (S. 357 f.). – Die Frage besteht für § 63 StGB g. F. fort, und entsprechend hat sich an den teleologischen Argumenten nichts geändert: Solange der Dualismus zwischen Strafen und Maßregeln bestehe, sei es „teleologisch nicht zu begründen, sondern führt im Gegenteil zu ganz sinnwidrigen Ergebnissen, ausgerechnet die krankheitsbedingten Motivationen, die zu der rechtswidrigen Tat geführt haben, der Kompetenz des Strafrichters zu entziehen; § 63 würde auf diese Weise in seinem Schwerpunkt sinnwidrig unterlaufen“.83 – Näherer Prüfung bedürfte freilich, ob die teleologische Rechtsanwendung und die damit verbundene „Sprachspaltung“ begrifflichen und dogmatischen Anforderungen genügt84 oder ob nicht doch der Wunsch, das vernünftige Ergebnis zu erreichen, übermächtig war.

In teleologischer Hinsicht geradezu absurd wäre es, wenn auf Basis der Gegenauffassung der Täter besser wegkäme, obwohl er gegenüber dem Vergleichsfall erschwerende Faktoren erfüllt. Ein solches Ergebnis kann nicht dem 80

Siehe bereits oben V 3 a. Vgl. Schneider, Logik, S.186. 82 Dazu, warum der Größenschluß in BGHSt 25, 10 auf schwachen Füßen steht, siehe oben Fall 86. 83 So Hanack, in: LK11-StGB, § 63, Rn. 29; anders Tröndle/Fischer, StGB51, § 63, Rn. 2a. 84 Prüfungsmaßstab wäre das noch mögliche fachsprachliche Verständnis (siehe oben III 7 b, S. 118 ff.). 81

4. Sinnwidriges Ergebnis/argumentum ad absurdum/Untragbarkeitsargument 493

Willen des Gesetzgebers entsprechen, kann nicht Sinn des Gesetzes sein, ist sinnwidrig oder ungereimt: BGHSt 3, 377: Die Möglichkeit, eine Steuerstraftat zu veröffentlichen (§ 399 AO a. F.), kann nicht deshalb entfallen, weil der Täter ein zusätzliches, in Tateinheit stehendes Delikt verwirklicht. „Eine derartige Begünstigung eines doppelten Rechtsbruchs kann nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen“ (S. 380). — BGHSt 6, 398 (oben Fall 83): Kommt eine Entziehung der Fahrerlaubnis noch in Betracht, wenn sie dem Täter bereits entzogen wurde? Nach Ansicht des Senats kann es nicht Sinn des § 42m StGB (a. F.) sein, den Täter deshalb besser zu stellen, „weil er seine verkehrsfeindliche Haltung schon vorher deutlich offenbart hat“ (S. 399). — BGHSt 32, 95 (oben Fall 99): Es wäre „sinnwidrig“, wenn beim Hinzutreten strafschärfender Umstände (gewerbsmäßiges Handeln) ein milderer Strafrahmen gelten würde. „Das kann der Gesetzgeber bei der Einführung des § 370 Abs. 3 AO nicht gewollt haben“ (S. 96). — Ähnlich liegt die Entscheidung BGHSt 42, 123 (Fall 82), in der ein entsprechendes Ergebnis als „ungereimt“ bezeichnet wird. — RGSt GS 73, 148 (150) stellt auf einen Widerspruch zum „Rechtsgefühl“ und BGH NJW 2003, 1679 (1680) auf einen drohenden „Wertungswiderspruch ab“ (oben Fall 106).

Die drohenden Ungereimtheiten für den Fall, daß kein Erst-recht-Schluß gezogen wird, können mit Beispielen drastisch veranschaulicht und die Argumentation so „auf die Spitze getrieben“ werden: BGHSt 11, 324 (oben Fall 169) beweist die Notwendigkeit, auch beim untauglichen Versuch das Rücktrittsrecht (gemäß § 46 StGB a. F.) zu gewähren, mit folgender Fallabwandlung: Hätte die Angeklagte ihrem Kind statt der zu geringen (untauglichen) Dosis Gift eine tödliche Menge gegeben, so bliebe sie straflos, wenn ein durch sie herbeigerufener Arzt das Kind noch hätte retten können (S. 326). „Dann aber widerspricht es der Gerechtigkeit85, der entsprechenden Handlung der Angeklagten deswegen die strafbefreiende Wirkung zu versagen, weil sie dem Kinde zuwenig Gift gegeben hat.“ Ähnlich verfährt BGHSt 9, 67 (siehe zunächst oben Fall 234), um darzulegen, warum der Gewerbebevollmächtigte nicht nur für die geringfügigsten Delikte (damals: Übertretungen) haftet. „Offenbar sinnwidrig wäre eine Auslegung, nach der der verantwortliche Leiter eines Betriebes bei der Überladung eines LKW von 5 bis 10 % nach § 151 GewO verantwortlich wäre, weil es sich um eine Übertretung handelt, nicht aber bei einer solchen von über 10 %, die ein Vergehen ist“ (S. 70).

Das „Operieren mit Extremfällen“ 86 ist ein zentrales Hilfsmittel des argumentum ad absurdum. Führt eine Auffassung in letzter Konsequenz zur offensichtlich zweckwidrigen Erfassung oder Nichterfassung eines Sachverhalts, ist die Sinnwidrigkeit der Auffassung belegt: Fall 289 (BGHSt 4, 316) Der Senat lehnt die Ansicht des LG ab, der Tatbestand der Zuhälterei (§ 181a StGB a. F.) sei schon dann erfüllt, „wenn der Mann nur über85 Man kann die Wertung beliebig ersetzen: Es wäre „ungereimt“, „sinnwidrig“, „nicht einzusehen“, „unhaltbar“ etc. Von einem „Widerspruch zur Gerechtigkeit“ spricht in ähnlicher Konstellation auch BGHSt 1, 152 (156). 86 Horak, Rationes decidendi, S. 267; Diederichsen, in: FS für Larenz, S. 159.

494

VI. Sinn und Zweck

haupt mit der Dirne eine gemeinsame Wirtschaft geführt habe“ (S. 319). Dem stehe bereits der eindeutige Wortlaut entgegen, denn danach müsse der Mann den unsittlichen Erwerb der Dirne ausbeuten und dadurch den Lebensunterhalt beziehen. Allein das Führen einer gemeinsamen Kasse genüge hierzu nicht. „Die folgerichtige Durchführung der Ansicht des Landgerichts würde zu unhaltbaren Ergebnissen führen. Danach wäre ein Mann auch dann wegen Zuhälterei strafbar, wenn der Zuschuß der Dirne zu dem gemeinsamen Haushalt nur einen geringen Teil des Wertes ihres Verbrauchs und der Zuschußleistung des Mannes ausmachte, wenn also das Gegenteil einer Ausbeutung der persönlichen Beziehungen durch den Mann vorläge. Daß der Gesetzgeber einen solchen Fall mit der Strafdrohung des § 181a StGB nicht hat treffen wollen, bedarf keiner näheren Darlegung“ (S. 320).

Freilich darf das Durchdenken einer Auffassung nicht mit Fällen geschehen, die extrem konstruiert erscheinen. Der absurde Fall kann eine Hypothese nur dann erschüttern oder ins Lächerliche ziehen, wenn er nicht nur denkbar, sondern auch realitätsnah ist.87 Redlicherweise ist zudem zu prüfen, ob die Gegenauffassung ihre (angeblich) unerwünschten Konsequenzen mit naheliegenden Argumenten entkräften kann, auf die man sich bei etwaigen Einwänden selbst berufen würde. In der Praxis wird die Unzulänglichkeit der Gegenposition auch häufig in Hinblick auf die Gesetzessystematik belegt. Dann liegt die Absurdität weniger in der evidenten Verfehlung des Gesetzeszwecks einer Vorschrift als in der Systemwidrigkeit der Ergebnisse.88 Das gesetzgeberische Programm wird auf Basis der Gegenansicht exemplarisch „durchgespielt“ und auf drohende Wertungswidersprüche hin untersucht: BGHSt 6, 394 (oben Fall 55) sieht „unerträgliche Folgerungen“, falls man die jugendstrafrechtlichen Zuchtmittel nicht als „Strafe“ i. S. von § 42m StGB (a. F.) auffaßte.89 Dann dürfte das Gericht die Fahrerlaubnis zwar dann entziehen, wenn es den Jugendlichen mangels Reife freispräche (§ 3 JGG), nicht aber, wenn es verurteilte und ein Zuchtmittel verhängte (S. 397). „Dieses Ergebnis kann der Gesetzgeber nicht gewollt haben.“90 BGHSt 43, 22 (29) und BGHSt 43, 285 (290) demonstrieren mit Anwendungsbeispielen der entscheidungsrelevanten Norm, daß die Gegenansicht zu einem „ungereimten“ (systemwidrigen) Ergebnis führen würde. Zweckwidrigkeit im teleologischen Verständnis und Wertungswidrigkeit sind insoweit freilich kaum trennscharf zu unterscheiden,91 wie BGHSt 26, 29 (32) zeigt: Der Zweck der kostenrechtlichen Bestimmung könne „nicht darin gesehen werden, die Entscheidung in dem Neben87

Vgl. Looschelders/Roth, Methodik, S. 109. Siehe auch Scheuerle, ZZP 1965, 32 (63 f.): Das Argument des Unsinnes oder der Sinnwidrigkeit könne den Wertungswiderspruch meinen. 89 BGHSt 6, 394 (397) unter Hinweis auf Bruns und Lackner. 90 Potrykus, MDR 1955, 72 (73, l. Sp.): „absurdes Ergebnis“; Kohlrausch/Lange, StGB41, S. 127: „sicheres arg. a maiori“. 91 Zumal, wenn man im Ausgleich von Wertungswidersprüchen ohnehin ein Element „objektiv-teleologischer“ Interpretation sieht, vgl. oben Kap. V, Fn. 269. 88

4. Sinnwidriges Ergebnis/argumentum ad absurdum/Untragbarkeitsargument 495 punkt der Kosten und Auslagen in weiterem Umfang rechtsmittelfähig zu machen als die Entscheidung zur Hauptsache. . . . Sonst käme man zu dem schwer erträglichen Ergebnis“, daß die tatsächlichen Feststellungen in der Kostenfrage, nicht aber in der Hauptsache angegriffen werden könnten. – Die Zweckwidrigkeit des Ergebnisses wird nur bei Heranziehung der Systematik der Rechtsmittel verständlich. Bei anderer Auffassung drohte ein Systembruch, ein ungereimtes bzw. systemwidriges Ergebnis,92 das im weiteren Sinn auch zweckwidrig sein mag.

Unerträgliche Folgerungen und unhaltbare Ergebnisse lassen sich besonders gut unter Zuhilfenahme zusätzlicher Normen der gesamten Strafrechtsdogmatik illustrieren, etwa mit den Regelungen zu Täterschaft und Teilnahme oder zur Verjährung: „Unstimmigkeiten“ einer bestimmten Auffassung zum Konkurrenzverhältnis zwischen §§ 153, 154 StGB konstatiert BGHSt 9, 131, weil in deren Konsequenz die erfolglose Anstiftung unter Umständen strenger bestraft würde als die teilweise erfolgreiche (S. 133 f.). Daß diese Rechtsansicht „zu kaum erträglichen Folgerungen“ führen würde, die auch nicht mehr in der Strafzumessung kompensiert werden könnten, zeige sich gerade im vorliegenden Fall (S. 134). Um dies zu belegen, zieht der Senat zusätzlich Vorschriften zur Verjährung heran. — BGHSt GS 39, 100 weist mit einem Vergleich zwischen der Situation des Haupttäters und der des Anstifters darauf hin, daß die zu § 251 StGB (a. F.) vertretene Exklusivitätsthese (vgl. oben Fall 41) zu einem „unhaltbaren Ergebnis“ führe (S. 108).

Das Durchspielen des Systems kann Wertungswidrigkeiten zutage fördern, verliert aber an Überzeugungskraft, wenn die Sachnähe der in Bezug genommenen Materie schwächer wird. Dem argumentum ad absurdum geht die Evidenz verloren: BGHSt 24, 352 (oben Fall 285) nimmt an, daß der Fahrzeughalter auch dann § 21 StVG (a. F.) verwirklicht, wenn er es nur fahrlässig zuläßt, daß jemand ohne Fahrerlaubnis das Fahrzeug führt. Es sei „nicht einsichtig“, daß der Halter aufgrund der Überlassung wegen eines fahrlässigen Erfolgsdeliktes (z. B. § 222 StGB) bestraft werden kann, nicht aber aus § 21 StVG (S. 354). – In dieser Konsequenz läge womöglich ein Wertungswiderspruch, der freilich kaum zwingend oder schwerwiegend erscheint. Zu Recht bedient der Senat sich einer zurückhaltenden Rhetorik.

Auch in anderen Fällen stellt das Evidenzerlebnis sich nicht ein, wenn etwa die Zweck- oder Systemwidrigkeit nicht auf der Hand liegt. Der Appell an das Rechtsgefühl geht dann ins Leere und offenbart womöglich Begründungsschwächen: Fall 290 (BGHSt 2, 390): Ein OLG hat die in § 8 StVO (a. F.) enthaltene Anordnung, wonach Fahrzeuge die Fahrbahn zu nutzen haben, dahingehend verstanden, daß damit lediglich die Nutzung zur Fahrt gemeint sei; das Parken dürfe demnach auch auf Gehwegen erfolgen (S. 391). Nach Ansicht des BGH hätte das zur Konsequenz, daß das Parken auf Gehwegen grundsätzlich erlaubt wäre, soweit nicht die allgemeine Regel des § 1 StVO (Gefährdungsverbot) eingriffe. Das aber könne 92 Diese Terminologie („ungereimt“) verwendet BGHSt 8, 383 (387) in einer ähnlichen Situation.

496

VI. Sinn und Zweck

„unmöglich der Sinn der Straßenverkehrsordnung sein. Als sie erlassen wurde, war kein Verkehrsteilnehmer ernstlich in Zweifel darüber, daß Fahrzeuge nicht auf dem Bürgersteig halten durften.“ Eine besondere Hervorhebung des Verbots sei deshalb nicht notwendig gewesen (S. 391 f.). Der Straßenverkehr bedürfe fester Regeln, um Sicherheit und Leichtigkeit zu gewährleisten (S. 392). Ausnahmen vom Parkverbot auf Gehwegen seien in besonderen Konstellationen gleichwohl denkbar. – Viele Gründe sprachen für die Ansicht des BGH, aber offen zutage lag die Sinnwidrigkeit der Gegenmeinung nicht. Die dargelegten Ausnahmen zeigen, daß auch eine differenzierende Ansicht durchführbar wäre. Fall 291 (BGHSt 5, 312): Noch heftiger appelliert der BGH bei Beantwortung einer Frage zum Verbot der Schlechterstellung. Der Tatrichter hatte zu Unrecht auf Unterbringung in eine Heil- oder Pflegeanstalt (§ 42b StGB a. F.) entschieden. Durfte der neue Tatrichter statt dessen eine Strafe und die Maßregel der Sicherungsverwahrung anordnen (§ 42e StGB a. F.), wie es auch der Angeklagte, der das Zusammenleben mit Geisteskranken als besonders schwere seelische Belastung empfand, mit seiner Revision beantragte? Dagegen sprach der Wortlaut des § 358 II 2 StPO (a. F.), denn danach war die Sicherungsverwahrung anders als andere, ausdrücklich genannte Maßregeln nicht vom Verbot der Schlechterstellung ausgenommen.93 Nach Ansicht des Senats würde die Wortlautauslegung somit zu dem Ergebnis führen, „daß ein vom Angeklagten als Beschwer empfundener und zutreffend gerügter Rechtsfehler nicht beseitigt werden könnte“ (S. 316 f.). „Der Zweck der Vorschrift, die dem Angeklagten eine Rechtswohltat gewähren will, würde damit genau in ihr Gegenteil verkehrt.94 Dieser Widersinn kann nicht Rechtens sein“ (S. 317). Für vorliegende Konstellation sei deshalb das Verbot der Schlechterstellung nicht anwendbar. – Der kräftigen Rhetorik fehlt es an der Grundlage, denn der Widersinn läge allenfalls in der gesetzlichen Regelung selbst.95 „Es sind starke Worte, die der Senat gebraucht“; das Ergebnis der Entscheidung sei zwar sinnvoll, „deren Begründung aber unhaltbar“ (Bruns, JZ 1954, 730 [732 f.]). Zu Recht weist Jagusch darauf hin, daß der Senat sich mit der Behauptung des Widersinns über die Regelung des § 358 II hinwegsetze; zudem werde angesichts der verbleibenden Strafe (ohne zusätzlicher Sicherungsverwahrung) die Rechtswohltat auch nicht in ihr Gegenteil verkehrt.96 Das 93 Ebenso BGHSt 25, 38 (39 f.) für das geltende Recht, in dem die Problematik prinzipiell fortbesteht: Unmißverständliche und eindeutige Entscheidung des Gesetzgebers. 94 Das dürfte die schärfste Rhetorik des teleologischen argumentum ad absurdum sein. Etwas zurückhaltender geben sich z. B. BGHSt 43, 22 (29): „Das Gegenteil hiervon würde bewirkt, wenn . . .“ und BGHSt 10, 157 (160): „Es würde den Gesetzeszweck auf eine seltsame Weise verfehlen, wenn . . .“. 95 Daß es hinsichtlich der Folgen einer generell tätergünstigen Norm nicht auf die persönlichen Wünsche des Angeklagten ankommt, zeigt BGHSt 20, 77 (80): „Diesen aber fragt das Gesetz nicht.“ 96 Jagusch, in: LR-StPO21, § 331, Anm. 3. Mit deutlichen Worten gegen den BGH auch Eb. Schmidt, Lehrkommentar StPO II, § 331, Rn. 23. Vorsichtig distanzierend: BGHSt 25, 38 (40). Dallinger (MDR 1954, 333 [334]) hält hingegen nur die Begründung des Senats für „mißverständlich“; unter „Zurückstellung formaler Bedenken“ sei ihm aber im Ergebnis zuzustimmen. Bruns (JZ 1954, 730 [737]) meint, das „interessante und mutige“ Urteil des BGH verdiene angesichts des Bemühens um eine sinnvolle Anwendung des Verschlechterungsverbots Anerkennung.

4. Sinnwidriges Ergebnis/argumentum ad absurdum/Untragbarkeitsargument 497 Ergebnis des Senats könnte allenfalls durch die Annahme eines Verzichts des Revisionsführers97 oder dadurch, daß die Staatsanwaltschaft ebenfalls und zuungunsten des Angeklagten Revision einlegt, erreicht werden.

Wie ein zunächst vom BGH als befremdlich eingestuftes Ergebnis später von ihm als geltendes Recht anerkannt wird, zeigt folgender Fall 292 (BGHSt 15, 203; 16, 115; 22, 213; BayObLG NJW 1953, 1402): Muß ein Verfahrenshindernis wie die Verjährung auch dann vom Revisionsgericht berücksichtigt werden, wenn die Revision zwar rechtzeitig eingelegt, aber nicht form- und fristgerecht begründet wurde (vgl. §§ 345, 346 StPO)? Und ist insoweit zu differenzieren, ob das Hindernis bereits anfänglich bestand oder erst nach Erlaß des ersten Urteils eintrat? Das BayObLG (a. a. O.) hat sich dafür ausgesprochen, nur die nachträglichen Verfahrenshindernisse zu berücksichtigen. BGHSt 15, 203 verwirft diese Differenzierung und will das Hindernis stets berücksichtigen: Die Verschiedenheit der Ergebnisse des BayObLG müsse „befremden“, könne einem „unbefangenen Betrachter . . . kaum einleuchten“ und „würde dem Gebot der Gerechtigkeit widerstreiten“ (BGH, S. 206). Seine eigene Position begründet der Senat wie folgt: „Die Gerichte haben das Recht zu wahren. Es wäre daher eigenartig, wenn ein Gericht . . . dem schwerwiegenden Rechtsmangel nicht sollte abhelfen können“ (S. 207). Der Stellung der Revisionsgerichte werde der Verweis auf den Gnadenweg nicht gerecht. Ein „solches Ergebnis müßte nur dann hingenommen werden, wenn es die Prozeßgesetze zwingend vorschreiben würden.“ BGHSt 16, 115 (116) weist für die anfänglichen Verfahrenshindernisse diese Ansicht, die auf „Billigkeitserwägungen“ beruhe, zurück. Die Berücksichtigung eines Rechtsfehlers sei daran geknüpft, daß das Rechtsmittelgericht überhaupt in zulässiger Weise mit der Sache selbst befaßt wird (S. 117). Für die nachträglich auftretenden Hindernisse setzt BGHSt 22, 213 den von BGHSt 16, 115 eingeschlagenen Weg jedoch nicht fort98 und will diese wiederum berücksichtigt wissen. Damit ist die differenzierende Ansicht des BayObLG wiederhergestellt, die BGHSt 15, 203 noch als „befremdlich“ und „kaum einleuchtend“ bezeichnet hat. Erstaunlich ist auch, daß der 4. Senat (BGHSt 15, 203) trotz der „eigenartigen“ Konsequenzen der Gegenansicht auf Anfrage von seinem Standpunkt abgerückt ist. Den Appell an das Rechtsgefühl („eigenartig“) hat BGHSt 15, 203 allerdings ohnehin nur durch die Einführung der unpräzisen und für vorliegende Frage unergiebigen Aussage ermöglicht, wonach die Gerichte das Recht zu wahren hätten; dieser merkwürdig unjuristischen Vereinfachung99 kann nur schwerlich widersprochen werden.

Außer mit Gesetzeszweck und -systematik wird das argumentum ad absurdum nicht selten auch mit ganz allgemeinen Kriterien wie Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und Einheit der Rechtsordnung verknüpft, mit denen es sich gut appellieren läßt. Wenn damit keine vorrangigen Gesichtspunkte überspielt werden und das hinter dem rhetorischen Appell stehende Sachargument überzeugt, kann diese Argumentation sich durchaus als tragfähig erweisen: 97

BGHSt 25, 38 läßt dahinstehen, ob diese Möglichkeit besteht. Nach Hanack (JZ 1971, 218 [220, r. Sp.]) hat BGHSt 22, 213 eine inhaltliche Divergenz zu BGHSt 16, 115 zu Unrecht geleugnet. 99 In ähnlicher Weise „unjuristisch“ auch RGSt 69, 273 (276) = oben Fall 162. 98

498

VI. Sinn und Zweck

BGHSt 24, 52 (54) betont den Wert des Grundsatzes ne bis in idem: „Es wäre allerdings unerträglich und mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit nicht vereinbar, wenn ein deutsches Staatsorgan eine Geldbuße verhängen würde, ohne dabei“ eine bereits verfügte Geldbuße einer europäischen Behörde zu berücksichtigen. — BGHSt 2, 393 (395) befürwortet bei der Bestimmung dessen, was ein Verbrechen, Vergehen oder eine Übertretung i. S. von § 1 StGB a. F. ist, die abstrakte Betrachtungsweise; bei der Gegenauffassung ergäbe sich eine „unerträgliche Unsicherheit“. — BGHSt 12, 129 (134 f.) weist auf das „widersinnige Ergebnis“ der Gegenauffassung hin, da die Anwendung der Strafschärfung des § 20a StGB (a. F.) danach von der Reihenfolge der Aburteilung, mithin vom Zufall abhinge. — Differenzierende Ansichten, für die der BGH keinen rechtfertigenden Grund erkennt, führen nach seiner Meinung zu „befremdlichen“ oder „merkwürdigen“ Ergebnissen.100 — BGHSt 7, 240 (243 f.) betont die Einheit der Rechtsordnung: Die Auffassung des OLG sei „in sich selbst unhaltbar“, denn sie gebe dem Begriff in Absatz 1 einen anderen Inhalt als in Absatz 3. „Daß damit die Grenzen vertretbarer Gesetzesauslegung überschritten werden, bedarf keiner Begründung.“101

Weiterhin nutzt die Praxis die Absurdität der Konsequenzen häufig dazu, ein gesetzgeberisches Versehen oder eine Gesetzeslücke zu belegen. Die Offensichtlichkeit des Ergebnisses kann unter Umständen von der näheren Darlegung der Voraussetzungen einer Gesetzesberichtigung oder einer Rechtsergänzung befreien: Fall 293 (BGHSt 13, 41): Nach §§ 331 I, 358 II 1 StPO gilt das Verbot der Schlechterstellung, wenn der Angeklagte oder die StA zugunsten des Angeklagten Rechtsmittel eingelegt hat. Gemäß § 301 StPO führen Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft allerdings stets auch zur Prüfung des angegriffenen Urteils zugunsten des Angeklagten. Gilt auch in dieser Konstellation das Verbot der Schlechterstellung, obwohl der Wortlaut der §§ 331, 358 diesen Fall nicht erwähnt? Der Senat bejaht das, denn ansonsten würde sich die eigentlich begünstigende Norm des § 301 zum Nachteil des Angeklagten auswirken (S. 42). „Das kann nicht Sinn des Gesetzes sein.“ Deshalb sei das Verbot der Schlechterstellung entgegen dem Wortlaut anzuwenden. – Der Senat wendet § 358 II 1 StPO zu Recht analog an. Die planwidrige Lücke bzw. das gesetzgeberische Übersehen liegt auf der Hand und bedarf keiner näheren Erörterung. Fall 294 (BGHSt 14, 240): § 164 V StGB a. F. stellte die falsche Anschuldigung auch für den Fall unter Strafe, daß sie nicht wider besseren Wissens, aber vorsätzlich oder leichtfertig begangen wurde.102 Der Senat legt dar, weshalb der bedingte Vorsatz in § 164 V nicht im herkömmlichen Sinn verstanden werden könne: Andernfalls wäre auch derjenige erfaßt, der den Betroffenen nur möglicherweise für unschuldig hält, den Verdacht aber nicht verschweigen will und deshalb anzeigt. „Daß dies nicht rechtens sein kann, liegt auf der Hand und zwingt dazu, das Merkmal des Vorsatzes . . . einschränkend auszulegen“ (S. 256).103 Es komme darauf an,

100 101 102

BGHSt 15, 203 (206); 42, 196 (199). Das ist allerdings eine Übertreibung! Vgl. oben V 8 a und dort Fn. 239. Die merkwürdige Regelung wurde 1969 durch das 1. StrRG aufgehoben.

4. Sinnwidriges Ergebnis/argumentum ad absurdum/Untragbarkeitsargument 499 ob der Täter die Anzeige auch dann erstattet hätte, wenn er deren Unwahrheit erkannt hätte. BGHSt 22, 375 (oben Fall 224 – Verjährung von NS-Verbrechen) sieht den Grund für das „ungereimte Ergebnis“ in einem gesetzgeberischen Versehen, das vorliegend jedoch nicht durch die Rechtsprechung korrigiert werden könne (S. 381). — BGHSt 13, 91 (oben Fall 226) weist darauf hin, daß es oftmals vom Zufall abhänge, ob ein Sicherungs- oder ein Strafverfahren durchgeführt wird. Es wäre „höchst eigenartig und mit dem Sinn des § 42m StGB [a. F.] unvereinbar“, wenn die Möglichkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis von dieser Verfahrensfrage abhinge (S. 94 f.). Näherliegend sei die Annahme eines gesetzgeberischen Übersehens (S. 95).

Im Bereich der Rechtsergänzung und Gesetzesberichtigung liegt die Gefahr des argumentum ad absurdum darin, daß die Eindeutigkeit womöglich dazu instrumentalisiert wird, von dogmatischen Problemen, einem „störrischen“ Wortlaut oder von einer eindeutigen Gesetzeslage abzulenken. Wie mit der starken Rhetorik vom „Widersinn“ eine Entscheidung contra legem herbeigeführt werden kann,104 wurde bereits in BGHSt 5, 312 (oben Fall 291) deutlich. Es dürfte kein Zufall sein, daß die Untragbarkeit der Ergebnisse gerade dann betont und mit Beispielen auf die Spitze getrieben wird, wenn die Wortlautgrenze des Art. 103 II GG Schwierigkeiten bereitet: Das betrifft viele der oben dargestellten Beispiele.105 Zu erwähnen ist außerdem BGHSt 43, 356: Die Angeklagte hatte dem Haupttäter möglicherweise im Vorfeld der Tat zugesagt, ihm später ein (falsches) Alibi zu geben. Der Senat versagt der Angeklagten den Strafaufhebungsgrund des § 258 V StGB, denn ansonsten könnte sie weder wegen Beihilfe zur Haupttat noch wegen versuchter Strafvereitelung bestraft werden. Der Täter könne aber „nicht Straffreiheit dadurch erlangen, daß er verspricht, sich strafbar zu machen“ (S. 359). – Das wäre in der Tat absurd, aber die entscheidende Frage war die nach der Vereinbarkeit der Lösung mit dem Wortlaut des § 258 V StGB und insofern bleibt es bei einer apodiktischen Behauptung des Senats (näher oben Fall 107). — Ähnlich liegt es in BGHSt 14, 194 (oben Fall 90): Der Gesetzgeber hat eine Ausnahmevorschrift zur Entschädigung bei der Einziehung auf natürliche Personen zugeschnitten. Die textgetreue Auslegung hätte mithin zu einer unbegründeten Besserstellung von juristischen gegenüber natürlichen Personen geführt. „Daß dies nicht angeht, liegt auf der Hand. Ein solches unsinniges Ergebnis hat der Gesetzgeber ohne Zweifel nicht beabsichtigt“ (S. 197). – Problematisch war aber, ob der BGH zur Schließung der Gesetzeslücke zulasten der juristischen Person berechtigt war. Sehr bedenklich ist insoweit auch BGHSt 20, 170 (oben S. 378): Die damaligen Bestimmungen des Auslieferungsrechts ließen bei wörtlichem Verständnis in der konkreten Situation keine Beschlagnahme zu. Der Senat hält das für eine „untragbare Folge, die das Gesetz nicht beabsichtigt haben 103 Von einer offensichtlich notwendigen Restriktion der Norm, deren rechtliche Zulässigkeit nicht fraglich sei, geht auch Bockelmann aus (NJW 1959, 1849 [1854, r. Sp.]). 104 Vgl. Scheuerle, ZZP 1965, 32 (61, 65): Das Argument der Sinnwidrigkeit könne dazu dienen, eine Entscheidung contra legem zu verdecken. 105 Besonders eindrucksvoll: BGHSt 6, 398 und BGHSt 32, 95 (vgl. oben S. 493).

500

VI. Sinn und Zweck

kann“ (S. 174). – Die Beschlagnahme muß möglich sein, also verschafft der Senat sich die notwendige Rechtsgrundlage! Außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 103 II GG ist auf BGHSt 26, 228 (oben Fall 243) hinzuweisen. Einwände der Betroffenen gegen die Anwendung des § 231a StPO, der die Fortführung der Hauptverhandlung bei schuldhaft herbeigeführter Verhandlungsunfähigkeit erlaubt, weist der Senat zurück und treibt die etwaigen Konsequenzen auf die Spitze: „Die Argumentation der Verteidigung . . . läuft auf die Zumutung hinaus, den Angeklagten entweder durch entsprechende Haftbedingungen die Fortsetzung ihrer kriminellen Vereinigung einschließlich der Vorbereitung ihrer Befreiung zu erleichtern oder auf die Durchführung einer Hauptverhandlung gegen sie zu verzichten. Das kann nicht rechtens sein“ (S. 239 f.). – Gegen diese Rhetorik kann keine Dogmatik bestehen.

Häufig wird eine Verbindung zwischen dem Untragbarkeitsargument und dem Willen des Gesetzgebers oder Gesetzes hergestellt, die auf der Unterstellung eines zweckmäßig und vernünftig handelnden Gesetzgebers beruht. Unzweckmäßige, unsinnige oder unhaltbare Ergebnisse kann er nicht gewollt haben, können ihm nicht zugeschrieben werden. Entsprechende Formulierungen wurden bereits mehrfach erwähnt.106 Sie haben allein rhetorische Funktion, denn sie setzen voraus, daß die Unhaltbarkeit des Ergebnisses mit den üblichen Kriterien (Zweck, Systematik, höherrangiges Recht usf.) belegt werden kann. Führt eine Auslegungshypothese nach diesen Maßstäben zu absurden Konsequenzen, ist sie schon deshalb zu verwerfen, ohne daß es einer zusätzlichen Legitimation des Gesetzgebers bedarf. Ist ein konkreter Wille der Legislative zu einem Problem erkennbar, ist (im Rahmen des verfassungsrechtlich Möglichen) ohnehin dieser vorrangig, mag seine Durchsetzung auch zu „objektiv“ sinnwidrigen Ergebnissen führen. Eine andere Frage ist, was gelten soll, wenn sich keine Vorstellung des Gesetzgebers ermitteln läßt. In gewissem Rahmen hat hier eine „objektivteleologische“ Vorgehensweise ihre Berechtigung.107 Dann sollte dem Gesetzgeber in der Tat nichts „Unvernünftiges unterstellt werden“,108 aber auch hier ist der Rechtsanwender nicht frei, sondern muß sich so eng als möglich am gesetzgeberischen Programm (z. B. an verwandten Problemlösungen in der Kodifikation) orientieren.

106 Z. B. BGHSt 3, 377 (380): „Eine derartige Begünstigung eines doppelten Rechtsbruchs kann nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen“ oder BGHSt 8, 383 (388): „Ein so unzweckmäßiges Verfahren kann der Gesetzgeber nicht gewollt haben“. 107 Coing (in: Staudinger, BGB, Einl. Rn. 150) sieht das argumentum ad absurdum in Zusammenhang mit dem Gedanken, „daß dem Gesetz eine innerlich vernünftige Ordnung abgewonnen werden müsse“. 108 Siehe BGHSt 26, 221 (224): „Es hieße, dem Gesetzgeber Unvernünftiges unterstellen, wollte man annehmen, er verlange für solche Fälle eine Reihe gleichartiger Beschlüsse und nehme sie trotz der damit verbundenen, unter Umständen schwerwiegenden Verfahrensverzögerungen in Kauf.“

4. Sinnwidriges Ergebnis/argumentum ad absurdum/Untragbarkeitsargument 501

e) Fazit Die Besonderheit des argumentum ad absurdum besteht darin, die Unrichtigkeit einer verworfenen Auslegungshypothese dadurch zu belegen, daß diese zu sinnwidrigen oder unhaltbaren Ergebnissen führe. Das geschieht vor allem durch das Durchspielen dieser Ansicht mit Anwendungsfällen der fraglichen Norm109 und mit systematischen Fallvergleichen. Das folgerichtige Ausdenken darf freilich nicht mit Extremfällen auf die Spitze getrieben werden, denen es an Realitätsnähe mangelt. Häufig wird das argumentum ad absurdum lediglich als Darstellungsform genutzt, um das bereits direkt begründete Ergebnis eindrucksvoll zu präsentieren: Verlangt etwa der Gesetzeszweck offensichtlich (erst recht) die Erfassung des vorliegenden Falls, dann führt die Gegenauffassung notwendig zu sinnwidrigen oder unhaltbaren Ergebnissen. Die mögliche Rhetorik leitet so die Argumentation. Gegenansichten können mit übertriebenen Formulierungen diskreditiert werden: BGHSt 2, 262 (265) schließt sich der Kritik Henkels an der Rechtsprechung des RG an, die dem Hehlergewerbe die „herrlichste Möglichkeit einer Arbeitsteilung“ eröffnet habe. BGHSt 29, 37 (42) meint Ergebnisse vermeiden zu können, die „den Ernst einer wesentlichen Strafbestimmung des Steuerstrafrechts infrage stellen“ könnten. BGHSt 37, 226 (231) übernimmt ebenfalls eine Formulierung aus der Literatur: Eine andere Interpretation treffe nur den ungeschickten Täter und laufe auf eine „Privilegierung von Komödien“ hinaus.

Seine besondere Eindruckskraft bezieht das argumentum ad absurdum aus der Evidenz der zugrundeliegenden Sachargumente.110 Nur dann ist der Appell an das Rechtsgefühl und die Verkürzung der Argumentation gerechtfertigt. Bestehen hingegen Zweifel, ist der Evidenz und der darauf gründenden Rhetorik der Boden entzogen; die Entscheidung muß notfalls auch ohne sie auskommen und eine rationale Begründung nachliefern können. Als Sachkriterien, mit denen die Untragbarkeit des Ergebnisses belegt werden kann, kommen alle Faktoren der Gesetzeskonkretisierung in Betracht. Am häufigsten werden freilich die Kriterien Gesetzeszweck („sinnwidrig“) und Gesetzessystematik („ungereimt“) als Bezugspunkt des argumentum ad absurdum herangezogen. Je nach dem, wie erheblich die Konsequenzen der Gegenansicht gegen den jeweiligen Sachgesichtspunkt verstoßen und wie gewichtig dieser selbst ist, kann die Schärfe der Rhetorik graduell variieren. Trägt hingegen schon das Sachkriterium nicht, geht der Appell ins Leere:

109 Bydlinski (Methodenlehre, S. 457) sieht das Wesen des argumentum ad absurdum in der Prüfung, welche Auswirkungen die Auslegungshypothese auf die typischen Fälle einer Norm hat und ob die Konsequenzen gegen „selbstverständliche Erwartungen in der Rechtsgemeinschaft“ verstoßen. 110 Auch in den soeben genannten Entscheidungen begründen die Senate ihr Ergebnis mit den üblichen Kriterien der Auslegung.

502

VI. Sinn und Zweck

Als Beispiel für ein offensichtlich untragbares Ergebnis i. S. des argumentum ad absurdum wird etwa genannt, daß einer Norm bei dem zugrunde gelegten Verständnis kein sinnvoller Anwendungsbereich mehr bliebe oder daß eine Auslegung zu unhaltbaren kriminalpolitischen Folgen führen würde.111 Ob diese Argumentationen überzeugen, hängt davon ab, ob kriminalpolitische Erwägungen zulässig sind (dazu unten VI 5) bzw. ob der Gesichtspunkt der „wirkungsmächtigen Auslegung“ relevant ist (dazu unten VI 7). Ebenso liegt es z. B. beim Gesichtspunkt der „Praktikabilität“ der Ergebnisse (unten VI 10).112

Nicht selten wird mit der Absurdität der Ergebnisse im Bereich der Rechtsfortbildung und der Gesetzesberichtigung argumentiert. Die Gefahr besteht dann darin, die näheren Voraussetzungen dieser Institute elegant unter Hinweis auf die Evidenz zu überspielen. Im Ergebnis ist das argumentum ad absurdum ein wirkungsvolles Instrument, das juristisch durchaus korrekt sein kann.113 Ob Ergebnisse wirklich untragbar oder widersinnig sind, entscheidet sich am jeweiligen Sachkriterium.114 Der Appell an das Rechtsgefühl birgt allerdings die Gefahr, sich die Zustimmung des Adressaten mit rhetorischen Mitteln zu erschwindeln;115 bei näherem Hinsehen kann der Appell sich mithin als Floskel erweisen. Vorrangig bleibt in jedem Fall, die Richtigkeit der bevorzugten Rechtsmeinung direkt zu begründen.

5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit a) Ausgangspunkt Grundsätzlich zu unterscheiden sind teleologische Auslegung und kriminalpolitische Argumentation. Rechtspolitik ist die Disziplin, in der es um die Diskussion, Vorbereitung und Durchsetzung eines wünschenswerten, für sachgerecht gehaltenen Rechtszustandes geht.116 Ist als Rechtsgebiet das Strafrecht betrof111 Scholz/Wohlers, Klausuren im Strafrecht, S. 93, welche die kriminalpolitische Argumentation allerdings zu Unrecht der „teleologischen“ Auslegung zurechnen. 112 Unter Hinweis auf diesen Aspekt spricht BGHSt 42, 306 (312) von einem „widersinnigen Ergebnis“. 113 Horak, Rationes decidendi, S. 275, der es deshalb als „geradezu widernatürlichen Zug“ ansieht, wenn die römischen Juristen auf die Anwendung dieses Argumentationsmittels verzichtet hätten. 114 Diederichsen (in: FS für Larenz, S. 179 und Fn. 113) schlägt vor, das Untragbarkeitsargument in den Rang eines Auslegungskriteriums zu erheben und dessen materielle Berechtigung näher zu untersuchen. Vom hier vertretenen Standpunkt ist das erforderliche Instrumentarium zur Überprüfung der jeweiligen Argumentationsmuster bereits vorhanden. 115 Bartholomeyczik (Kunst der Gesetzesauslegung, S. 11 f.) weist auf die insoweit bestehenden Gefahren für den „jungen Juristen“ hin. 116 Vgl. Zipf, ZStW 1977, 705 (708).

5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit

503

fen, spricht man von Kriminalpolitik. Betrieben wird sie sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft, aber wichtigster Ort für rechtspolitische Erörterungen sind die Organe der Legislative. Dort können Vorstellungen über den wünschenswerten Rechtszustand („Wie sollte es geregelt sein?“) in einem geordneten Verfahren geäußert werden und im günstigsten Fall zu geltendem Recht gerinnen. Geschieht die Umsetzung in geltendes Recht, wird aus dem kriminalpolitischen Motiv der für die Auslegung relevante Gesetzeszweck. Erst dann setzt die in Praxis und Lehre betriebene Strafrechtsdogmatik ein, die den Sinn der vorgegebenen Regelungen ermittelt („Wie ist es geregelt?“) und systematisiert.117 Gerade die teleologische Auslegung als zentrales Hilfsmittel dogmatischer Arbeit zeigt allerdings die gleichwohl bestehende Verknüpfung zwischen Rechtspolitik und -dogmatik auf, denn bei ihr geht es um die Erfassung des rechtspolitischen Ziels, das der Gesetzgeber verfolgt und verwirklicht hat (Zwecksetzung) und das in der konkreten Fallanwendung durchgesetzt und fortgedacht werden muß (Zweckverwirklichung).118 Der Ertrag der kriminalpolitischen Diskussion fließt somit unmittelbar in die Gesetzeskonkretisierung ein. Trotz dieser Verknüpfung zwischen Rechtspolitik und -dogmatik119 wäre es irreführend, die Rechtsanwendung als rechtspolitische Tätigkeit zu charakterisieren oder dem Richter das Recht zur kriminalpolitischen Argumentation einzuräumen. Denn als Ergebnis der Gewaltenteilung und der Gesetzesbindung des Richters ist es entscheidend, daß der Rechtsanwender an eine fremde Zielvorstellung – die des Gesetzgebers – gebunden ist, die er nicht durch eigene Erwägungen zur Frage, wie das Problem vernünftigerweise zu regeln sei, ersetzen darf.120 Vor diesem Hintergrund ist die Verwendung kriminalpolitischer Argumente in den Entscheidungen der Strafsenate zu sehen, die den dargestellten Ausgangspunkt immerhin in der Regel teilen. Manche Äußerungen des BGH zeigen mustergültig, wie die vom Gesetzgeber verfolgte rechtspolitische Konzeption den für die Rechtsanwendung maßgeblichen Gesetzeszweck enthält. In der Bezugnahme auf die kriminalpolitischen Erwägungen liegt dann keine Kompetenzüberschreitung des Richters, sondern die von ihm geforderte Gesetzesinterpretation:

117

Zipf, ZStW 1977, 705 (708): Dogmatik als hermeneutische Wissenschaft. Vgl. Roxin, Strafrecht AT I, § 7, Rn. 70; Scheuerle, AcP 1967, 305 (313): Teleologische Auslegung sei das Nachvollziehen des vom Gesetzgeber verfolgten politischen Zwecks; Bartholomeyczik, Kunst der Gesetzesauslegung, S. 47: Der Sinn des Gesetzes lasse sich durch die Erkenntnis seiner rechtspolitischen Zielsetzung deuten. 119 Zu abweichenden Konzeptionen in der Abgrenzung zwischen Kriminalpolitik und Strafrechtsdogmatik siehe Bahlmann, Rechtspolitische Argumente, S. 79 ff.; allgemein zu den denkbaren Beziehungen zwischen Rechtsanwendung und Politik Zöllner, in: Tübingen-FS, S. 132 ff. 120 Vgl. zum Ganzen Roxin, Strafrecht AT I, § 7, Rn. 69 ff. 118

504

VI. Sinn und Zweck

BGHSt 4, 119 (122): Es trifft nicht zu, daß die vorliegend vertretene Auffassung „mit dem kriminalpolitischen Ziel des Gesetzes nicht im Einklang stehe. . . . Dem Gesetzgeber kam es in erster Linie darauf an, . . .“. — BGHSt 19, 144 (148): „Die rechtspolitischen Erwägungen, die zur Einführung der Bestimmung . . . geführt haben, treffen daher jedenfalls von dem Augenblick nicht zu, . . .“. — BGHSt 24, 352 (354, siehe oben Fall 285): Gerade im Vorfeld der Erfolgsdelikte muß der Strafrechtsschutz einsetzen, „soll das mit dem Gesetz verfolgte kriminalpolitische Ziel“ (Schutz der Allgemeinheit vor ungeeigneten Kraftfahrern) erreicht werden. — BGHSt 27, 45 (51): Die Bestrafung nur wegen versuchter Tat würde eine „Mißachtung des gesetzgeberischen Willens und seiner kriminalpolitischen Ziele bedeuten“. — BGHSt 28, 129 (134): Die Gegenauffassung widerspräche auch der kriminalpolitischen Zielsetzung, die in der Einführung der nachträglichen Meldepflicht (§ 142 II StGB) zum Ausdruck kommt.

Es ist naheliegend, daß bei der Erforschung der kriminalpolitischen Zielsetzung des Gesetzgebers häufig auf die Entstehungsgeschichte der Norm zurückgegriffen wird:121 So stützt etwa BGHSt 24, 248 bei der Frage, ob in der Wegnahme eines Behältnisses ein besonders schwerer Fall des Diebstahls gemäß § 243 I Nr. 2 StGB liegt, seine bejahende Ansicht auf die „kriminalpolitischen Motive des Gesetzgebers“, der während der Gesetzesberatungen eben diesen Fall habe erfassen wollen (Hinweise auf die Materialien). — Zur Auslegung des Begriffs der „verfassungsfeindlichen Absicht“ prüft BGHSt 18, 246 (249 f.) Sinn und Zweck der einschlägigen Vorschriften des Staatsschutzrechts: „Da es sich dabei um die rechtspolitische Vorfrage handelt, wie weit sich der Staat erkennbar selbst gegen Angriffe auf seinen Bestand . . . schützen will, ist von besonderer Bedeutung die Entstehungsgeschichte und der hieraus zu ziehende Schluß auf die vom Gesetz gewollten Grenzen“ des strafrechtlichen Schutzes.122

Auch den Begriff der Strafbarkeitslücke kann die Rechtsprechung sich auf diese Weise für die Auslegung zunutze machen: Beabsichtigte der Gesetzgeber, eine bestimmte Lücke im Strafrechtsschutz zu schließen, fällt es oft leicht, die Erwägungen des Gesetzgebers auch auf neu auftretende Fallkonstellation zu übertragen. Dann wird nicht kriminalpolitisch, sondern subjektiv-teleologisch argumentiert.123

121 In jedem Fall falsch wäre es deshalb zu sagen, kriminalpolitische seien „objektiv-teleologische“ Argumente. Das kann, muß aber nicht sein. 122 Daß die Entstehungsgeschichte besonders intensiv zu prüfen sei, wenn es um Normen geht, mit denen der Staat sich selbst schützen will, ist freilich eine methodisch unhaltbare Annahme. Auch sonst „will“ der Gesetzgeber mit seinen Regelungen etwas erreichen, so daß Motivforschung zu betreiben wäre. 123 Siehe die entsprechenden Argumentationen in BGHSt 38, 281 (284) und 45, 253 (255, 259 f.).

5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit

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b) Was versteht die Praxis unter kriminalpolitischen Argumenten? In zahlreichen Entscheidungen der Strafsenate tauchen allerdings kriminalpolitische Argumente auf, die sich nicht auf die Umsetzung der kriminalpolitischen Intention des Gesetzgebers beschränken und damit nicht ohne weiteres mit der teleologischen Auslegung identifiziert werden können. Häufig wird scheinbar sowohl teleologisch als auch kriminalpolitisch argumentiert, wie etwa BGHSt 24, 352 (354) glauben macht: Die Gegenauffassung entziehe der Norm einen Fall, „ohne daß dafür gesetzgeberische oder kriminalpolitische Gründe ersichtlich sind“. Insbesondere kommt es vor, daß das mit den üblichen Auslegungskriterien gewonnene Ergebnis mit kriminalpolitischen Erwägungen gestützt oder einer Art Plausibilitätskontrolle unterworfen wird. Oftmals bleibt jedoch unklar, was sich hinter den rechtspolitischen Erwägungen inhaltlich verbirgt und in welchem Rangverhältnis diese zu den übrigen Auslegungsfaktoren stehen. Nicht selten fehlt es schlicht an einer stringenten Terminologie.124 Sicher unzutreffend wäre allerdings die Annahme, die Senate urteilten immer dann „frei“ nach eigenen Vorstellungen statt nach denen des Gesetzgebers, wenn in den Urteilstexten von „rechtspolitischen Erwägungen“ oder einem „kriminalpolitischen Bedürfnis“ die Rede ist. Unklarheit darüber, ob es um den Gesetzeszweck oder um die davon zu unterscheidende Frage geht, wie die Problematik geregelt sein sollte, herrscht etwa in folgenden Fällen: Fall 295 (BGHSt 7, 37): Die besonders schwere Brandstiftung gemäß § 307 Nr. 1 StGB a. F. setzte voraus, daß „der Brand den Tod eines Menschen dadurch verursacht, daß dieser zur Zeit der Tat in einer der in Brand geratenen Räumlichkeiten sich befand“. Genügt hierfür, daß der Tod im Versuchsstadium durch den brennenden Zündstoff eintritt? Anders als das RG bejaht BGHSt 7, 37 die Frage und läßt dahinstehen, ob die Entstehungsgeschichte der Norm für die Lösung des RG spricht; „innere und kriminalpolitische Argumente“ sprächen dagegen (S. 39). Was damit gemeint ist, bleibt freilich im dunkeln, denn es folgt lediglich ein Vergleich mit dem „Hauptfall“ der Norm. Dieser liege darin, daß der Mensch vom Brand erfaßt und getötet wird; für vorliegende Konstellation müsse jedoch dasselbe gelten. Weder Zweck, Wortlaut noch Sinn stünden dem entgegen. – Die Lösung des Senats mag zutreffen, was er aber unter „kriminalpolitischen“ und „inneren“ Gründen sowie Sinn und Zweck versteht, ist nicht erkennbar. Als einzige Rechtfertigung bleibt ein skizzierter Fallvergleich, während die übrigen Auslegungskriterien (Wortlaut, Sinn und Zweck) dem Ergebnis lediglich nicht entgegenstehen oder (Entstehungsgeschichte) für unbeachtlich erklärt werden. Fall 296 (BGHSt 8, 343): Der Versicherungsbetrug gemäß § 265 StGB a. F. setzte eine „versicherte Sache“ voraus. Wie stand es aber, wenn der Vertrag wegen einer in betrügerischer Absicht vorgenommenen „Überversicherung“ nach § 51 VVG 124 Zur Schwierigkeit der Abgrenzung von politischer Begründung und teleologischen Auslegung siehe auch Zöllner, in: Tübingen-FS, S. 134 f.

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VI. Sinn und Zweck

nichtig war?125 BGHSt 8, 343 ist der Auffassung, es komme nur auf das förmliche Zustandekommen des Versicherungsvertrages, nicht auf seine Wirksamkeit an. Dabei beruft der Senat sich auf zwei Argumente des Reichsgerichts, zunächst auf ein historisches: Bei Erlaß des § 265 StGB und vor Einführung des VVG war die zivilrechtliche Frage noch landesrechtlich geregelt. Von Besonderheiten des jeweiligen Landesrechts durfte nach Ansicht des RG die Strafbarkeit jedoch nicht abhängen, und die spätere Einführung des § 51 VVG habe die Überversicherung nicht wieder aus dem Anwendungsbereich herausnehmen wollen (S. 344). Zudem würde § 265 StGB „nahezu bedeutungslos sein, wenn man durch ihn nicht auch die Fälle der betrügerischen Überversicherung erfasse, die die weitaus häufigste Form des Versicherungsbetruges darstellten.126 Für die verschwindend geringe Zahl anderer Fälle sei der Erlaß einer Strafbestimmung kaum erforderlich gewesen. Diese zutreffenden und zu billigenden rechtspolitischen Erwägungen können und müssen dann bei der Auslegung des Gesetzes berücksichtigt werden, wenn sein Wortlaut dies gestattet“ (S. 344 f.). – Maßgeblich ist (innerhalb dessen, was der Wortlaut des § 265 StGB zuläßt) der Wille des Gesetzgebers, und es ist in der Tat kaum anzunehmen, daß mit Einführung des § 51 VVG etwas am status quo verändert werden sollte. Die drohende Bedeutungslosigkeit der Norm entgegen der gesetzgeberischen Zielsetzung mag daneben auch kriminalpolitisch unerwünscht sein. Unvermittelt nebeneinander stehen Gesetzessinn und rechtspolitische Gründe in BGHSt 9, 267 (269), die jeweils als Argumente gegen eine einschränkende Anwendung des § 142 StGB (a. F.) herangezogen werden, ohne daß ein kategorialer Unterschied erkennbar würde. Die Berufung auf den von der Rechtsprechung ohnehin sehr weit verstandenen Gesetzessinn des § 142 hätte genügt. BGHSt 3, 1 (2) meint, die Folgen der Gegenauffassung (begriffliche Abgrenzungsprobleme, Zufälligkeiten, Widerspruch zum Wortlaut, Umgehungsmöglichkeiten für Täter) „rechtspolitisch“ nicht in Kauf nehmen zu können, „wenn man nicht die Wirksamkeit des § 401 RAbgO preisgeben will, der nach dem Willen des Gesetzes eine schlagkräftige Waffe zur nachdrücklichen Bekämpfung von Zoll- und Steuervergehen sein soll“. – Eine Auslegung gegen Wortlaut, Zweck und weitere Kriterien sollte auch sonst nicht in Kauf genommen werden!

Viele Aspekte, die der BGH als „rechtspolitisch“ oder „kriminalpolitisch“ charakterisiert, lassen sich womöglich den üblichen Auslegungsfaktoren zuordnen, insbesondere der teleologischen: BGHSt 8, 66 (oben Fall 56) führt aus, daß der Zweck der gesetzlich vorgesehenen Nebenstrafen (Ehrverlust) darin liegt, den Verurteilten fühlbar und über die Freiheitsstrafe hinaus zu treffen (S. 69). Begönne der Zeitraum der Nebenstrafe schon ab Rechtskraft des Urteils, würde der Zweck verfehlt, da die Nebenstrafe nach Ver125

Die Problematik besteht für den Versicherungsmißbrauch des § 265 StGB g. F.

fort. 126 Die Argumentation des Senats wirkt zirkulär, da ja zuerst zu klären war, was ein Versicherungsbetrug i. S. von § 265 StGB ist. Dazu ist die Meinung des Gesetzgebers zu ermitteln, und erst dann wird klar, welche reale Bedeutung die Norm hat. Der Senat hatte freilich die Möglichkeit, seine Auffassung unmißverständlich zu formulieren (vgl. weiter im Text). Zu einer ähnlichen und in der Tat zirkulären Begründung siehe unten BGHSt 10, 194 = Fall 297.

5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit

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büßung regelmäßig erledigt wäre und damit den Betroffenen kaum zusätzlich beeinträchtigen würde. „Diese kriminalpolitischen Erwägungen“ träfen nicht nur beim Entzug der bürgerlichen Ehrenrechte insgesamt, sondern auch beim Entzug nur eines dieser Rechte (Wählbarkeit) zu. – Warum die Überlegungen zum Gesetzeszweck später als „kriminalpolitisch“ charakterisiert werden, ist nicht ersichtlich. Die Annahme, daß die gegenteilige Ansicht den Zweck des Strafgesetzes verfehlen würde, ist keine rechtpolitische Argumentation.127 Im Streit um die Bedeutung des Tatbestandsmerkmals „Gemeingefahr“ (vgl. oben Fall 53) lehnt es BGHSt 11, 199 aus diversen Gründen ab, die vom Fahrzeugführer bewußt ausgewählten Fahrzeuginsassen in den Schutzbereich mit einzubeziehen. Letztlich sei auch rechtspolitisch „eine solche erhöhte Strafbarkeit zugunsten von Fahrzeuginsassen, die durch eine persönliche Beziehung zum Fahrer bestimmt sind und sich regelmäßig ihren Fahrer selbst aussuchen können . . . nicht im gleichen Maße veranlaßt“ (S. 205). – Wiederum Darlegungen, die auch im Gewand teleologischer Auslegung erscheinen könnten: Die Norm soll vor bestimmten Gefahren schützen, die in vorliegender Konstellation nicht in gleichem Maß bestehen, so daß eine enge Interpretation vorzugswürdig erscheint. BGHSt 14, 395 und 15, 138 haben eine Gemeingefahr auch für den Fall verneint, daß der Fahrzeugführer gezielt auf eine Person losfährt. Das BayObLG (JZ 1959, 638) hat dagegen eingewandt, daß nach der Ansicht des BGH der Täter womöglich wegen Straßenverkehrsgefährdung zu bestrafen sei, wenn er fahrlässig, nicht aber wenn er vorsätzlich eine Person im Straßenverkehr gefährde. BGHSt 15, 138 (145) hält diese „kriminalpolitischen Erwägungen . . . trotz ihres erheblichen Gewichts“ letztlich nicht für durchschlagend, da bei vorsätzlichem Handeln häufig andere Tatbestände (§§ 113, 240, 239 StGB) erfüllt sein dürften. – Die mögliche Sinnwidrigkeit eines Ergebnisses, die z. B. in der Ungleichbehandlung gleich strafwürdiger Fälle in Erscheinung treten kann, ist ein klassisches teleologisches Auslegungsmoment. Mit dem Hinweis auf die zusätzlich eingreifenden Normen kann die Sinnwidrigkeit des Resultats widerlegt oder entkräftet werden. Mit Kriminalpolitik hat das nichts zu tun. Aus der Literatur kann z. B. auf die ablehnende Anmerkung von Schröder zu BGHSt 24, 248 (oben Fall 140) hingewiesen werden, der ausführlich darlegt, weshalb der Schutzzweck der Norm ihrer Anwendung vorliegend entgegenstehe; die Ansicht des BGH entspreche weder dem „kriminalpolitischen Bedürfnis“ noch dem Wortsinn (NJW 1972, 778 [780]). – Schröder leitet den Schutzzweck der Norm vornehmlich aus dem Gesetzeswortlaut her, so daß man seine Auslegung vielleicht als objektivteleologisch128, aber nicht als kriminalpolitisch charakterisieren kann. Das möglicherweise fehlende „kriminalpolitische Bedürfnis“ ist für die Problematik unerheblich. 127 Als weiteres Beispiel kann BGHSt 9, 17 (19) genannt werden. Auch dort stützt der Senat sein Ergebnis mit „rechtspolitischen Erwägungen“, obwohl die dann folgenden Ausführungen lediglich ergeben, daß der Schutzzweck der Beleidigungsvorschriften auch vorliegende Konstellation erfaßt und keinen Raum für eine Differenzierung läßt. 128 Näher liegt, daß eine Diskrepanz zwischen konkreter und allgemeiner Zielvorstellung des Gesetzgebers gegeben war, vgl. oben Fall 140.

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VI. Sinn und Zweck

Recht zahlreich sind Entscheidungen, in denen der BGH sein mit Hilfe der üblichen Kriterien (einschließlich des Gesetzeszwecks) gewonnenes Ergebnis mit kriminalpolitischen Erwägungen zu unterstützen sucht. Was die Lösung stärken soll, erweist sich oftmals als irrelevanter Annex oder sogar als Schwächung der Argumentation: Fall 297 (BGHSt 10, 194): Der Senat gelangt beim Übertretungstatbestand des § 361 Nr. 6 StGB a. F. („wer öffentlich in auffälliger Weise . . . zur Unzucht auffordert oder sich dazu anbietet“) zu einer weiten Auslegung des Begriffs der „Öffentlichkeit“. Die Vorschrift diene dem Zweck, „Anstand und Sitte im öffentlichen Leben vor Gefährdungen zu schützen“ (S. 196). Deshalb genüge es, daß nach den örtlichen Verhältnissen Personen hätten anwesend sein können, die das Geschehen hätten wahrnehmen können (S. 197). Hinzu trete „noch das kriminalpolitische Bedürfnis, das einen weitgehenden Schutz erheischt. Im Vorlagebeschluß wird in Übereinstimmung mit der allgemeinen Lebenserfahrung zutreffend dargelegt, daß die Gründe, die das Reichsgericht wegen der zunehmenden Häufigkeit der Vergehen gegen § 183 StGB129 veranlaßt haben, den Begriff ,öffentlich‘ weit auszulegen, auch für § 361 Nr. 6 StGB gelten.“ – Die großzügige Bestimmung des Schutzzwecks ist schon bedenklich genug,130 hätte das Ergebnis aber getragen. Mit den zirkulären kriminalpolitischen Erwägungen stellt der Senat jedoch die Seriosität seiner Darlegungen in Frage. Die weite Verbreitung eines Phänomens besagt weder, ob es vom Tatbestand erfaßt ist, noch, ob es nach der gesetzgeberischen Wertung erfaßt sein sollte. Andernfalls müßten z. B. die Tatbestandsmerkmale des § 242 StGB weit ausgelegt werden, wenn die polizeiliche Kriminalstatistik (oder die „Lebenserfahrung“!) sagt, daß vermehrt gestohlen wird. Fall 298 (BGHSt 18, 114 = oben Fall 283): Fast schon kurios erscheinen die kriminalpolitischen Erwägungen, mit denen der Senat seine – auf dem weiten Schutzzweck der Norm beruhende, aber mit der Fassung des § 142 StGB a. F. kaum zu vereinbarende – Konstruktion einer strafbewehrten Rückkehrpflicht131 unterstützt (S. 121): Diese Verpflichtung entspreche auch einem kriminalpolitischen Bedürfnis. „Im Straßenverkehr wird in der Regel in Übereinstimmung mit dieser Verpflichtung gehandelt. Die Rückkehrpflicht sowohl bei unbewußter wie bei bewußter, aber erlaubter oder entschuldigter Entfernung von der Unfallstelle entspricht der Vorstellung breitester Bevölkerungskreise.“ – Als könne das redliche Verhalten oder das schlechte Gewissen der Mehrheit die Strafbarkeit entgegengesetzten Handelns belegen. Die überflüssigen Ausführungen demonstrieren allein die Begründungsnot des Senats.132 Fall 299 (BGHSt 6, 385): Mit kriminalpolitischen Erwägungen sucht auch BGHSt 6, 385 seine Lösung zu stärken. Fraglich war, ob auch der Versuch der Ausspähung

129 § 183 StGB a. F.: „Wer durch eine unzüchtige Handlung öffentlich ein Ärgernis gibt, wird . . .“. Hauptfall ist der Exhibitionismus, siehe § 183 g. F. 130 Es liegt ein besonders problematisches Beispiel für die ausweitende Tendenz der teleologischen Auslegung vor; vgl. oben VI 2. 131 Nach BGHSt 28, 129 (133) hat die Rechtsprechung die Rückkehrpflicht „entwickelt“. 132 Schröder (NJW 1966, 1001 [1004]) sieht die Entscheidung „offenkundig von kriminalpolitischen Intentionen getragen“.

5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit

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von Staatsgeheimnissen (§ 100 II StGB a. F.: „Wer sich ein Staatsgeheimnis verschafft, um es zu verraten, wird wegen Ausspähung . . . bestraft.“) strafbar ist. Daran bestanden Zweifel, weil es sich bei der Ausspähung materiell um eine Vorbereitungshandlung des Landesverrats (§ 100 I a. F.) handelte. Unter Berufung auf Entstehungsgeschichte und Zweck der Norm bejaht der Senat die Versuchsstrafbarkeit (S. 388). Dies entspreche „außerdem einem kriminalpolitischen Bedürfnis“, denn das Gesetz sehe bereits in der Ausspähung eine erhebliche Gefährdung, weil die darauffolgende Preisgabe des Geheimnisses an einen Unbefugten häufig nicht mehr zu verhüten sei. „Es entspricht also dem aus der Entstehungsgeschichte erkennbaren Willen des Gesetzes und einem besonderen kriminalpolitischen Bedürfnis, schon vom Versuch der Ausspähung durch seine Strafbarkeit abzuschrecken“. – Unklar bleibt, ob der BGH hier mit dem Normzweck und dem kriminalpolitischen Bedürfnis zwei unterschiedliche Aspekte meint und weshalb aus dem Bedürfnis ein „besonderes“ Bedürfnis wird. Im Ergebnis impliziert eine solche Argumentation stets die Erweiterung der Strafbarkeit: Der Gesetzgeber hält den Verrat eines Staatsgeheimnisses für strafwürdig, ebenso die Ausspähung des Geheimnisses in Absicht der Weitergabe und schließlich auch den Versuch, sich das Geheimnis zu verschaffen. Das „Strafbedürfnis“ kennt hier keine Grenze. Aus der Literatur kann z. B. die ablehnende Anmerkung von Schall133 zu BGHSt 27, 160 (oben Fall 81, „Pfandschein“) angeführt werden: Das Ergebnis des BGH sei schon vom Schutzzweck des § 259 StGB her nicht zutreffend, „aber auch kriminalpolitisch . . . nicht zu rechtfertigen“. Das „kriminelle Unrecht“ sei bei unmittelbarer Weitergabe der Sache eben doch größer als bei der Übergabe eines Pfandscheines. – Ist der graduelle Unterschied im Unrecht aber ein kriminalpolitisches Argument, und was folgt daraus für die begriffliche Bestimmung des Norminhalts?

Einige Fälle sind dadurch geprägt, daß die herkömmlichen Auslegungskriterien kein eindeutiges Ergebnis hervorbringen und demnach Unklarheit darüber herrscht, was aus der gesetzgeberischen Zielsetzung für die in Frage stehende Thematik folgt. Dürfen oder müssen die Gerichte dann auf „objektive“ kriminalpolitische Argumente zurückgreifen und die Frage „wie ein Gesetzgeber“ beantworten? Rechtspolitische Erwägungen geraten hier in die Nähe zur Rechtsfortbildung. Fall 300 (BGHSt 29, 370): § 56 II StGB ermöglicht die Strafaussetzung zur Bewährung bei einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren, wenn neben den Voraussetzungen des § 56 I „besondere Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit“ des Täters vorliegen. BGHSt 29, 370 erörtert, ob bei einer Gesamtstrafe die besonderen Umstände in allen zugrundeliegenden Einzeltaten oder wenigstens in einer dieser Taten gegeben sein müssen, und stellt im Ergebnis auf eine „Gesamtwürdigung“ ab. Nur diese Auslegung führe „zu gerechten und kriminalpolitisch sinnvollen Ergebnissen“, während die bisherige Rechtsprechung Zufallsergebnisse produziert habe, „denen eine einheitliche kriminalpolitische Grundlinie fehlt“ (S. 375). Der Wortlaut stehe dem nicht entgegen, die Entstehungsgeschichte spreche eher134 für diese Lö133

Schall, NJW 1977, 2221 (2222). Wie häufig in Urteilsgründen wird das Ergebnis des (hier: historischen) Auslegungskriteriums im weiteren Verlauf der Begründung beschönigt: Zunächst sprach – 134

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VI. Sinn und Zweck

sung (S. 375 ff.). Zudem dürfe die kriminalpolitisch intendierte Entscheidung über die Strafaussetzung nicht von der dogmatischen Frage abhängen, ob Verhaltensweisen zu einer Tat zusammengefaßt werden können oder als mehrere Taten einzustufen sind (S. 379). – Da der Senat keine eindeutige gesetzgeberische Anordnung vorfindet, behilft er sich mit allgemeinen Kriterien, die man „objektiv-teleologisch“ oder „kriminalpolitisch“ nennen mag, die sich aber soweit wie möglich am gesetzgeberischen Programm orientieren. Widersprüchliche oder vom Zufall beherrschte Lösungen sind nicht nur aus „kriminalpolitischen“ Erwägungen abzulehnen, sondern verstoßen gegen feste Bestandteile der Rechtsordnung (Gleichbehandlungsgrundsatz, Rechtssicherheit etc.). Fall 301 (BGHSt 14, 116 = oben Fall 134): Ein Grenzfall ist die Entscheidung BGHSt 14, 116 zur Frage, ob auch im Schiffsverkehr Unfallflucht gemäß § 142 StGB (a. F.) begangen werden kann. Der Wortlaut ließ die Subsumtion zu, die Entstehungsgeschichte sprach eher dagegen, ergab aber kein ganz sicheres Ergebnis, da die Gesetzesverfasser sich mit dieser Konstellation nicht beschäftigt hatten. In dieser Situation geht der Senat – zumindest verbal – zu einer kriminalpolitischen Argumentation über: Trotz der aus der Entstehungsgeschichte folgenden „erheblichen Bedenken“ ließe die Ausdehnung sich „vielleicht dann rechtfertigen . . ., wenn dringende kriminalpolitische Gründe dies erforderten“ (S. 122). Das sei hier aber nicht der Fall, obwohl auch auf Wasserstraßen Unfälle denkbar seien, in denen eine Flucht verwerflich erscheint. Jedoch „glaubt“ der Senat, bei der Ermittlung der kriminalpolitischen Notwendigkeiten vom „Regel- oder Durchschnittsfall“ eines Schiffsunfalls „ausgehen zu sollen“. Dort seien aber keine besonderen Probleme bei der Feststellung der Unfallbeteiligungen erkennbar (S. 123). – Die Argumentation des Senats zeigt erneut die Schwierigkeit, kriminalpolitische von teleologischen Aspekten scharf zu trennen. Es klingt zwar, als argumentiere der Senat „wie ein Gesetzgeber“, doch könnte die Begründung durch eine rhetorische Umstellung ohne weiteres in die Bahnen herkömmlicher, „gesetzestreuer“ Interpretation geleitet werden: (1) Aus der Entstehungsgeschichte ist die Frage nicht klar zu beantworten; sie spricht aber eher gegen ein umfassendes Verständnis. (2) Aber auch der Zweck des § 142 verlangt nicht die Erfassung des Schiffsverkehrs. (3) Denn die Norm soll verhindern, daß die Feststellungsinteressen der Beteiligten gewahrt werden. (4) Insoweit bestehen im Schiffsverkehr in aller Regel keine Probleme, so daß der Gesetzeszweck die Anwendung der Norm nicht gebietet. Also nicht: Wir sehen keine kriminalpolitische Notwendigkeit, sondern: Der durch den Gesetzgeber vorgegebene Zweck greift hier nicht ein.135 Nur weil keine klare legislative Stellungnahme zur konkreten Frage erkennbar ist und sie deshalb hypothetisch (unter Beachtung der gesetzgeberischen Wertentscheidung) zu beantworten ist, heißt noch nicht, daß die Rechtsprechung kriminalpolitisch argumentiert. In jedem Fall abzulehnen wäre der Ausgangspunkt des Senats aber, wenn er unter dem „dringenden kriminalpolitischen“ Bedürfnis tatsächlich ein „objektives“ und neben dem Gesetz stehendes Kriangesichts der dürftigen Anhaltspunkte schon zweifelhaft genug – die historische Interpretation „eher für“ das Resultat des Senats, später soll es von der Entstehungsgeschichte her sogar „naheliegend“ sein (a. a. O., S. 379). 135 Man kann darüber spekulieren, ob der BGH bei Bejahung eines Strafbedürfnisses sein Ergebnis ebenfalls kriminalpolitisch begründet hätte oder ob er in diesem Fall nicht eher den oben vorgeschlagenen Weg gewählt hätte.

5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit

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terium (ein „objektives“ Strafbedürfnis) verstünde, mit dem das Auslegungsergebnis korrigiert werden darf.136

Auch zur Korrektur eines fehlerhaften oder Ergänzung eines unvollständigen Gesetzes greift die Rechtsprechung zuweilen auf kriminalpolitische Gründe zurück, wenn Art. 103 II GG dem nicht entgegensteht. Ein dringendes kriminalpolitisches Bedürfnis zur Erfassung eines Sachverhalts indiziert womöglich, daß dem Gesetzgeber ein Versehen unterlaufen ist oder das Gesetz eine unbeabsichtigte Lücke enthält, aber es kann nicht von der Prüfung der üblichen Voraussetzungen einer Gesetzeskorrektur oder Analogie entbinden.137 Insoweit besteht keine Deckungsgleichheit. Zumindest unvollständig sind deshalb die Ausführungen in folgender Entscheidung: BGHSt 20, 170 (siehe oben S. 378 – Beschlagnahme im Auslieferungsverkehr): Die strenge Wortauslegung führe zu untragbaren Folgerungen, die das Gesetz nicht beabsichtigt haben kann (S. 174). „Unabweisbare kriminalpolitische Gründe“ – der Täter könnte die Gegenstände beiseite schaffen – nötigten dazu, in der vorliegenden Konstellation von den Voraussetzungen der eigentlich einschlägigen Norm abzusehen (S. 175). Der Gesetzgeber habe die Konsequenzen einer strengen Wortauslegung nicht bedacht (S. 176).138 Terminologische Unklarheiten zeigen sich in BGHSt 1, 145 (146): Das RG habe ein „rechtspolitisches Bedürfnis“ gesehen, den Diebstahl unter Anwendung eines Betäubungsmittels als Raub zu betrachten. RGSt 72, 349 (352) hat sich jedoch zur Rechtfertigung der damals zulässigen Analogie auf den „Grundgedanken“ des § 249 StGB berufen, der auch diesen Fall erfasse. Und auch die Entscheidung BGHSt 1, 145 (147), die – anders als das RG – im Wortlaut kein Hindernis für die Bejahung des Merkmals „Gewalt“ sieht, beruft sich auf den Sinn der Vorschrift. Das RG konnte die Rechtsfortbildung also auf den Sinn oder Grundgedanken des § 249 StGB stützen, ohne rechtspolitische Erwägungen anführen zu müssen.139

Am problematischsten sind Entscheidungen, in denen der BGH sich offenbar berechtigt sieht, mit kriminalpolitischen Erwägungen über (feststellbare) Vorstellungen des Gesetzgebers hinauszugehen oder diese einer kriminalpolitischen

136 Krit. insoweit die Anm. von Martin, LM 1960, Nr. 12 zu § 142 StGB: Es sei Sache des Gesetzgebers, die kriminalpolitischen Notwendigkeiten zu ermitteln, und nicht Aufgabe der Rechtsprechung, die lückenlose Ahndung strafwürdigen Tuns durch eine ausdehnende Gesetzesanwendung sicherzustellen. 137 So wären z. B. im Fall des Forstdiebstahls (BGHSt 10, 375 = Fall 57) abgesehen vom Verbot des Art. 103 II GG die Voraussetzungen einer Analogie gegeben, aber auch ein („objektives“) kriminalpolitisches Bedürfnis würde für die Normanwendung sprechen. Aus dieser Koinzidenz darf jedoch nicht geschlossen werden, daß mit kriminalpolitischen Erwägungen die Voraussetzungen einer Analogie dargetan wären. 138 In Anbetracht des erheblichen Grundrechtseingriffs bleiben allerdings Zweifel, ob der Gesetzeskorrektur nicht doch rechtsstaatliche Hindernisse im Weg standen. 139 Daß die Begründung des RG äußerst knapp ist und zusätzlich das „gesunde Volksempfinden“ bemühen muß (vgl. § 2 StGB i. d. F. von 1935), steht auf einem anderen Blatt.

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VI. Sinn und Zweck

Bewertung zu unterwerfen. Das ist auch dann unzulässig, wenn die rechtspolitische Ergebniskontrolle sich möglicherweise zugunsten des Täters auswirkt.140 Bereits hingewiesen wurde auf den zumindest fragwürdigen Ansatz der Entscheidung BGHSt 14, 116 (oben Fall 301), die trotz erheblicher, aus der Entstehungsgeschichte resultierender Bedenken eine Ausdehnung bei dringendem kriminalpolitischen Bedürfnis für denkbar hält. Fall 302 (BGHSt 30, 98): Zu überflüssigen und sehr zweifelhaften rechtspolitischen Ausführungen läßt sich BGHSt 30, 98 hinreißen. Die Frage, ob die Einschränkung der Rechtsmittelwahl im Jugendstrafrecht (Berufung oder Revision, § 55 II JGG) auch dann greift, wenn der Angeklagte in der Berufungsinstanz nicht erscheint und seine Berufung deshalb gemäß § 329 I StPO verworfen wird, bejaht der Senat nach eingehender Normexegese. Ergänzend führt er aus: „Letztlich entspricht es heutigen rechtspolitischen Vorstellungen, nicht mehr Rechtsmittelmöglichkeiten zu eröffnen als aus rechtsstaatlichen Gründen unbedingt geboten ist. Bestehende gesetzliche Rechtsmitteleinschränkungen sollten deshalb nicht ohne zwingende Gründe durch die Rechtsprechung beseitigt werden“ (S. 105). – Für die Auslegung der lex lata sind gegenwärtige rechtspolitische Vorstellungen völlig irrelevant; schwerer wiegt aber die Kompetenzanmaßung des Senats, der es für zulässig hält, daß die Rechtsprechung eine bestehende gesetzliche Regelung „beseitigt“. Ganz bedenklich sind insoweit die immer wieder vorkommenden rechtspolitischen Ergebniskontrollen,141 soweit sie das nach der herkömmlichen Gesetzeskonkretisierung gefundene Resultat unter den Vorbehalt einer Revision durch eine zusätzliche kriminalpolitische Prüfung stellen. So gelingt es z. B. BGHSt 19, 109 bei der Auslegung des Begriffs „Rädelsführer“, einen klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers zu dieser Frage zu ermitteln, und dennoch folgt die Erwägung: „Es besteht kein rechtspolitischer Grund, den Begriff des Rädelsführers besonders weit auszulegen“ (S. 111). Aber würde ein solcher Grund denn eine Abweichung vom erkennbaren Willen des Gesetzgebers erlauben? Ähnlich geht BGHSt 31, 317 vor, wo die im Einklang mit der gesetzgeberischen Vorstellung erzielte Lösung (bedingter Vorsatz ausreichend) abschließend auf ihre Tragfähigkeit hin untersucht wird: Auch gegen die Strafwürdigkeit des Täters seien Bedenken nicht zu erheben (S. 323). Mißverständlich sind weiterhin Formulierungen, die auf eine judikative Bewertung der gesetzgeberischen Lösung hindeuten, so wie in BGHSt 45, 131 (siehe oben Fall 282), wo der Senat eine einschränkende Auslegung ablehnt (S. 134): „Auch die ratio legis erfordert eine derartige Einschränkung nicht. Der umfassende Wortlaut ist durchaus sachgerecht.“ — Ähnlich argumentiert BGHSt 42, 391 bei Prüfung der Frage, ob § 168c II StPO eine Regelungslücke enthält, weil er dem Beschuldigten zwar ein Anwesenheitsrecht für die richterliche Vernehmung eines Zeugen einräumt, nicht aber bei der Vernehmung eines Mitbeschuldigten: Aus verschiedenen Gründen beziehe die Vorschrift den Mitbeschuldigten „zutreffend“ nicht mit ein (S. 396). In beiden Fällen hätten die Senate, um den Verdacht auszuräumen, sie selbst beurteilten die Regelung als vernünftig oder zutreffend, verdeutlichen sollen, daß die Aus140 Kriminalpolitisches Argumentieren führt nicht zwangsläufig zu einer Ausdehnung von Strafvorschriften; vgl. auch Bahlmann, Rechtspolitische Argumente, S. 67 f. 141 Näher dazu unten VI 5 d.

5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit

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gestaltung der jeweiligen Norm von der gesetzgeberischen Konzeption her systemgerecht oder konsequent sei. — Gerade noch hergestellt wird die Verbindung zum Normzweck in BGHSt 35, 340 (341): Die Unbestimmtheit der Norm begründe „die Gefahr, daß der Anwendungsbereich des § 133 StGB auf Verhaltensweisen ausgedehnt werden könnte, die zwar unter disziplinarrechtlichen Gesichtspunkten beachtlich sein mögen, die jedoch strafrechtlicher Ahndung nicht unterworfen sein sollten, weil im Hinblick auf den Zweck der Vorschrift . . . eine solche Ahndung nicht erforderlich ist.“ — Nicht zweifelsfrei sind die Überlegungen des Großen Senats in BGHSt 14, 38 zum Anwendungsbereich der Amtsunterschlagung (§ 350 StGB a. F.): Es bestehe kein Bedürfnis, dieser Vorschrift einen möglichst weiten Anwendungsbereich zu sichern, denn gerade deren Mindeststrafe werde „nach der Erfahrung der Praxis nicht selten als unbillig empfunden“142 und auch das zukünftige Recht enthalte keine Mindeststrafe mehr (S. 47). Die Entscheidung mag aus anderen Gründen zutreffen, aber nicht aus Billigkeitserwägungen der Praxis oder aufgrund der lex ferenda.

Insgesamt verbergen sich hinter kriminalpolitischen Erwägungen in Urteilsgründen somit ganz verschiedene Aspekte.143 Häufig handelt es sich um teleologische Argumente, oft wird das auf herkömmlichen Weg gewonnene Ergebnis unterstützt und nicht selten ist schlicht unklar, was damit gemeint ist. Schwer abzugrenzen sind rechtspolitische Überlegungen vom Bereich der Rechtsfortbildung. Mit der Gegenüberstellung der Fragen „Wie ist es geregelt?“ und „Wie sollte es geregelt sein?“ gelangt man hier nicht weiter. Aber zumindest die wichtigste Figur der Rechtsfortbildung, der Analogieschluß, orientiert sich durchaus an der – wenn auch unvollständigen – gesetzgeberischen Wertentscheidung und nicht an eigenen Vorstellungen des Rechtsanwenders vom idealen Rechtszustand. Daß es darüber hinaus Situationen gibt, in denen der Richter dem Gesetz überhaupt keine Richtschnur mehr entnehmen kann, und er „wie ein Gesetzgeber“ entscheiden muß, ist zwar nicht auszuschließen144, aber selbst dann bieten allgemeine Rechtsprinzipien (Verfassung, Rechtsidee) oder, wie Art. 1 III des schweizerischen ZGB sagt, die „bewährte Lehre“ Anhaltspunkte für eine Lösung.145 Entschieden abzulehnen ist die Beeinflussung oder Abwandlung einer feststellbaren gesetzgeberischen Entscheidung mittels kriminalpolitischer Überlegungen. 142 Ähnlich BGHSt 34, 171: Daß Kettenbriefaktionen nicht als „Glücksspiel“ i. S. von § 284 StGB erfaßt werden können, sei angesichts der ohnehin weit gefaßten und insoweit der Kritik unterliegenden Vorschrift „hinnehmbar“. 143 So auch Bahlmann, Rechtspolitische Argumente, S. 62 ff., 72 ff., mit Kritik an der beliebigen und unklaren Handhabung in der Rechtsanwendung. 144 Bahlmann, Rechtspolitische Argumente, S. 178 f.: In dieser (seltenen) Konstellation müsse der Richter das Erfordernis eigener kriminalpolitischer Argumentation nachweisen und im Urteil offenlegen. 145 Vgl. Art. 1 II und III ZGB: „Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll das Gericht nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde. Es folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.“

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VI. Sinn und Zweck

c) Anerkannte Grenzen kriminalpolitischer Argumentation Regelmäßig betont der BGH allerdings, daß angesichts Art. 103 II GG rechtspolitische Bedürfnisse oder etwaige Strafbarkeitslücken es nicht rechtfertigen, die Strafbarkeit durch Überschreitung des Wortlauts zu begründen:146 BGHSt 8, 343 (345) ist der Auffassung, daß rechtspolitische Erwägungen berücksichtigt werden müssen, wenn es der Gesetzeswortlaut gestattet. — BGHSt 9, 173 (175): Die vereinzelt „offensichtlich vom kriminalpolitischen Ergebnis her“ geforderte Anwendung der Norm „läßt sich jedenfalls nach dem jetzigen Stand der Gesetzgebung nicht begründen“. — BGHSt 13, 287 (289): „Ebenso bedenklich erscheint es, sich mit rechtspolitischen Erwägungen über den Wortlaut des Gesetzes hinwegsetzen zu wollen. Dem Strafrichter ist dies schon ganz allgemein verwehrt.“ — BGHSt 24, 54 (62): „Der Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit darf auch bei einem noch so dringenden rechtspolitischen Bedürfnis nicht im Wege der Gesetzesoder Rechtsanalogie erweitert werden.“ — BGHSt 41, 285 (286): Unabhängig vom kriminalpolitischen Bedürfnis nach dem Schutz von Kindern finde die Auslegung hier ihre Grenze im Wortsinn. Die Kompetenz zur Schließung von Strafbarkeitslücken verneinen: BGHSt 19, 158 (162): „Es ist klar, daß durch . . . eine empfindliche Lücke entsteht, die . . . ausgenutzt werden kann. Gleichwohl vermag der Senat diesen Erwägungen . . . angesichts der Fassung des § 86 kein entscheidendes Gewicht beizumessen.“ — BGHSt 31, 348 (353): „Der Senat verkennt nicht, daß die Straflosigkeit fahrlässiger pränataler Einwirkungen mit tödlichen Folgen insbesondere bei fahrlässiger Verletzung von Berufspflichten der Ärzte und ihres Hilfspersonals zu rechtspolitisch bedenklichen Strafbarkeitslücken führen mag. Sie können aber nur durch den Gesetzgeber geschlossen werden . . .“. — BGHSt 42, 30 (34): Die mögliche Strafbarkeitslücke könne wegen des eindeutigen Gesetzeswortlauts nicht geschlossen werden. — BGHSt 44, 233 (240): Die Regelung führe im Einzelfall zwar zu „erheblichen, in der Sache kaum zu rechtfertigenden und mit dem Gerechtigkeitsgefühl nur schwer zu vereinbarenden Strafbarkeitslücken“; das sei „jedoch als Folge der sich in dem Gesetzeswortlaut widerspiegelnden Entscheidung des Gesetzgebers hinzunehmen“.

Unklar ist, inwieweit der BGH neben dem zwingenden rechtsstaatlichen Aspekt des möglichen Wortsinns weitere Grenzen kriminalpolitischer Argumentation anerkennt. BGHSt 8, 343 (344 f.) ist zwar der Ansicht, daß rechtspolitische Erwägungen im Rahmen des Wortlauts berücksichtigt werden müssen, aber oftmals handelt es sich bei den Erwägungen, die der BGH sodann als kriminalpolitisch klassifiziert, ja um teleologische Aspekte, die ohnehin zu beachten sind. BGHSt 9, 370 (381) stellt demgegenüber – obwohl der Wortlaut auch ein weitergehendes Verständnis zugelassen hätte – zu Recht fest: „Das Bestreben, eine möglichst lückenlose Erfassung strafwürdiger Fälle zu gewährleisten, rechtfertigt die Gegenmeinung nicht. Das Strafbedürfnis allein kann zu einer Verurteilung nicht genügen.“ Zumindest dieser Entscheidung könnte man entnehmen, daß die Rechtsprechung nicht nur in Art. 103 II GG, sondern auch in 146

Auch teleologische Gründe würden freilich nicht dazu berechtigen.

5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit

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einem dogmatisch eindeutigen Ergebnis147 ein Hindernis für die Berücksichtigung kriminalpolitischer Bedürfnisse sieht. In diese Richtung äußert sich auch BGHSt 43, 252 (258) bei der Bestimmung dessen, was unter einer „Tat“ im prozessualen Sinn zu verstehen ist. Als Folge des Art. 103 III GG („ne bis in idem“) müßten „auch kriminalpolitisch unbefriedigende und dem Gerechtigkeitsprinzip widersprechende Ergebnisse in Kauf genommen werden, wenn zwingende rechtsdogmatische Grundsätze eine andere Entscheidung nicht zulassen“. – Freilich kann der Senat sich freimütig zu dieser rechtsstaatlichen Position bekennen, weil die „rechtsdogmatischen Grundsätze“ im konkreten Fall einer gerechten Lösung nicht im Weg standen. Interessant ist insofern auch BGHSt 3, 259 (oben Fall 212): Das RG hatte sich ein Redaktionsversehen zunutze gemacht, um eine unbefriedigende Strafrahmengrenze zu überwinden, die in Einzelfällen dem Gebot schuldangemessenen Strafens nicht mehr genügte. Obwohl der Wortlaut die Subsumtion wohl noch zuließ, weist der Senat aus „rechtsstaatlichen Bedenken“ die Entscheidung des RG zurück, die sich vom „rechtspolitischen Bedürfnis“ habe leiten lassen (S. 261). Die Anpassung des überholten Gesetzes sei Aufgabe des Gesetzgebers (S. 263).

d) Kriminalpolitische Ergebniskontrolle/Strafbarkeitslücken Besonders häufig unterziehen die Strafsenate ihr ermitteltes Ergebnis einer kriminalpolitischen Ergebniskontrolle. Die Normexegese wird mit dem „kriminalpolitischen Bedürfnis“ abgeglichen und auf „unangemessene“, „unzuträgliche“ oder „bedenkliche“ Ergebnisse befragt. Fall 303 (BGHSt GS 39, 221): Dem Großen Senat gerät die rechtspolitische Kontrolle umfangreicher als die eigentliche Auslegung. Mit einer sehr knappen dogmatischen Begründung gelangt er zur Feststellung, daß ein Täter auch dann noch strafbefreiend vom (unbeendeten) Versuch zurücktreten kann, wenn er sein „außertatbestandliches Ziel“ erreicht hat. § 24 I 1 Alt. 1 StGB verlange lediglich die freiwillige Aufgabe der weiteren Tatausführung und lasse keinen Raum für eine zusätzliche wertende Komponente (S. 230 f.). „Dies führt nicht zu unzuträglichen und kriminalpolitisch bedenklichen Ergebnissen“ (S. 231). Regelmäßig liege in den fraglichen Fällen bereits ein beendeter oder ein fehlgeschlagener Versuch vor, bei denen die bloße Aufgabe der Tat nicht zur Straffreiheit führt. Zudem könne es „insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Opferschutzes sinnvoll sein“, dem Täter in dieser Situation schon bei Nichtweiterhandeln Straflosigkeit zu gewähren (S. 232). – Das abschließende Argument des Großen Senats belegt allerdings erneut, daß häufig teleologische als kriminalpolitische Aspekte firmieren. Der Opferschutz ist keine rechtspolitische Frage, sondern (Teil-)Zweck des § 24 StGB.148

147 Aus Sicht der subjektiven Auslegungstheorie sollte man ergänzen: in einem klar feststellbaren Willen des Gesetzgebers. 148 Lehnt man das ab, darf der Gedanke auch nicht als rechtspolitischer eingebracht werden.

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VI. Sinn und Zweck

Es wurde bereits dargelegt, daß nach hier vertretener Ansicht kriminalpolitische Erwägungen – falls sie überhaupt relevant sind – jedenfalls eine eindeutige gesetzgeberische Entscheidung oder ein klares dogmatisches Ergebnis nicht beeinflussen dürfen. Von diesem Ausgangspunkt müssen auch die sogenannten Strafbarkeitslücken betrachtet werden, die als Beleg für ein unvertretbares Ergebnis oder eine unangemessene Folge149 herangezogen werden. Allerdings ist fraglich, was unter einer Strafbarkeitslücke zu verstehen ist, ob es sich dabei um ein dogmatisches oder ein kriminalpolitisches Argument handelt. Stellt man maßgeblich auf das gesetzgeberische Programm (und nicht auf kriminalpolitische Bedürfnisse) ab, hat der Ausdruck lediglich eine kennzeichnende Funktion: Eine Strafbarkeitslücke liegt nur vor, wenn das gesetzgeberische Programm unbeabsichtigt unvollständig oder fehlerhaft ist, wenn also der Gesetzeszweck für die Normanwendung spricht, die tatsächliche Ausgestaltung der Vorschrift jedoch dagegen. Die aus teleologischen Gründen in Verbindung mit dem Gleichheitssatz an sich gerechtfertigte Analogie scheitert an rechtsstaatlichen Hürden150 oder an zwingenden dogmatischen Forderungen. Bei dieser strikten Anlehnung an das gesetzgeberische Programm spielen etwaige Strafbarkeitslücken bei der Normkonkretisierung keine Rolle, denn ob eine Norm oder die Kodifikation lückenhaft ist, ist erst Ergebnis der Auslegung. Eine Auslegungsmaxime, wonach unerwünschte Strafbarkeitslücken zu vermeiden sind, bliebe völlig inhaltsleer weil selbstverständlich: Sinnwidrige Ergebnisse sind stets unerwünscht und somit zu vermeiden; sie sind auch durch den „fragmentarischen“ Charakter des Strafrechts nicht zu rechtfertigen.151 Spiegelbildlich sieht es aus, wenn der Gegenauffassung attestiert wird, sie führe zu unerwünschten Strafbarkeitslücken. Das heißt nichts anderes, als daß sie straffrei läßt, was nach Sinn und Zweck der Norm (nach dem gesetzgeberischen Willen) strafbar sein muß:152 BGHSt 2, 262 (265 f.): Die Auffassung des RG habe zu „herrlichen Möglichkeiten“ im Hehlereigewerbe [Strafbarkeitslücken!] geführt; die Nichterfassung vorliegender Konstellation sei mit dem Gesetzeszweck schlechthin unvereinbar; jedoch sei eine andere Auslegung im Rahmen des Wortlauts möglich. — BGHSt 2, 362 (363): „Die gegenteilige Auffassung läuft auf eine Wortauslegung hinaus, die mit dem Sinn und Zweck des § 257 StGB nicht vereinbar ist und einen wichtigen Fall der nachträglichen Unterstützung fremder Straftat ungesühnt läßt.“ 149 Zur Abgrenzung von Ergebniskontrolle und Folgenberücksichtigung siehe unten VI 12. 150 Z. B. im Fall „Forstdiebstahl“ (oben Fall 57). 151 Zum eher rhetorischen Wechselspiel, das mit den (unerwünschten) Strafbarkeitslücken einerseits und dem (notwendig) fragmentarischen Charakter des Strafrechts andererseits betrieben wird, siehe die Glosse von Ekklesiandros (Pseudonym), GA 1999, 409 (411). In der amtlichen Sammlung (Band 1–47) taucht die Formulierung vom „fragmentarischen Charakter“ des Strafrechts übrigens gar nicht auf. 152 Regelmäßig liegt dann natürlich auch aus kriminalpolitischer Sicht eine Lücke vor.

5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit

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In einigen Fällen, in denen der BGH die Strafnorm anwenden will, macht er sich die psychologische Eindruckskraft des Arguments „Strafbarkeitslücke“ durch die Konstruktion eines gesetzgeberischen Willens zunutze. Unterstellt wird ein vernünftiger Gesetzgeber, dessen Wille zur konkreten Frage womöglich nicht feststellbar ist, der aber mit Sicherheit keine Strafbarkeitslücke hinterlassen wollte: BGHSt 18, 359 (oben Fall 272) zeigt anhand verschiedener Normen des Straßenverkehrsrechts auf, welche Pflichtverletzungen des Fahrzeughalters strafbar sind. „Angesichts dieser Bestimmungen wäre es nicht verständlich“, wenn vorliegende Konstellation – Überlassung eines KFZ an einen Fahruntüchtigen – straflos bliebe (S. 363). Die Gegenauffassung würde zu einer „Lücke in den Verkehrsvorschriften“ führen, „die der Gesetzgeber nicht gewollt haben kann“. — Recht pathetisch führt BGHSt 31, 317 (oben Fall 35) aus: „Daß der Gesetzgeber eine so schwerwiegende Lücke in den vor gefährlichen Angriffen fremder Geheimdienste gegen die Bundesrepublik Deutschland strafrechtlich geschützten Bereich habe reißen wollen, kann ausgeschlossen werden“ (S. 320).

In beiden Fällen hat die Argumentation keinen kriminalpolitischen Charakter, sondern eher nur rhetorischen Wert. Die von der Gegenauffassung vorgebrachten Einwände aus dem Wortlaut wiegen schwer und bedürfen schlagkräftiger Erwiderung. Notwendig war das gleichwohl nicht, denn in beiden Fällen sprachen schon subjektiv-teleologische Argumente153 für die Normanwendung, und BGHSt 18, 359 kann zusätzlich auf die Gesamtsystematik der einschlägigen Regelungen verweisen. Wer diese Faktoren mißachtet, erzeugt natürlich Strafbarkeitslücken. Existierten hingegen keine „positiven“ (gesetzgeberischen) Gründe für die Bejahung der Strafbarkeit, würden auch etwaige Lücken hierfür nicht genügen. Schwierig ist die Situation, wenn die Problematik im Bereich der allgemeinen Lehren vom Verbrechen spielt, wie etwa in der berühmten Frage, wie der gesetzlich nicht geregelte Erlaubnistatumstandsirrtum zu behandeln ist. Bekanntlich vertritt eine starke Auffassung (die „rechtsfolgenverweisende eingeschränkte Schuldtheorie“) die Ansicht, dieser Irrtum sei nur in den Rechtsfolgen dem Tatumstandsirrtum des § 16 StGB gleichzustellen, ändere aber nichts daran, daß eine vorsätzliche Tat vorliegt; andernfalls seien Strafbarkeitslücken im Bereich der Teilnahme zu befürchten, weil es an einer vorsätzlichen Haupttat (§§ 26, 27 StGB) fehle.154 Da keine gesetzgeberische Äußerung zu dieser Frage existiert, kann als Referenz nur die sonst anerkannte Systematik herangezogen werden: Wäre es gemessen daran widersprüchlich oder systemwidrig, die vorsätzliche Haupttat für vorliegende Konstellation zu verneinen, läge eine ungewollte Strafbarkeitslücke vor, die zur Vermeidung von Widersprüchen ge153 BGHSt 18, 359 sagt es zwar nicht ausdrücklich, aber nach den Urteilsgründen liegt es nahe, daß der Senat dieser Ansicht ist. 154 Ausführlich zum Ganzen Roxin, Strafrecht AT I, § 14, Rn. 71 ff.

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VI. Sinn und Zweck

schlossen werden darf. Unerwünschte Auswirkungen „im System“ dürfen durchaus berücksichtigt werden. Das ist keine kriminalpolitische Argumentation, sondern der Versuch, denkbare Fallgestaltungen stringent zu erfassen, also Strafrechtsdogmatik im eigentlichen Sinn. Daß die Teilnahmelehre die Erfassung der einschlägigen Konstellation verlangt, wird man freilich kaum sagen können. Vor allem wäre dadurch nicht die Konstruktion einer eigenen Theorie im Bereich von Vorsatz und Irrtum gerechtfertigt, die auf einen sonst im Deliktsaufbau ungebräuchlichen Begriff der „Vorsatzschuld“ zurückgreifen muß. Der BGH mußte die Frage bislang nicht entscheiden155, und es wäre voreilig, zu unterstellen, daß er sich unter Hinweis auf drohende Strafbarkeitslücken im Bereich der Teilnahme auf die Seite der rechtsfolgenverweisenden Theorie schlagen würde. Das zeigte sich bereits in der Entscheidung BGHSt 9, 370 (381), die bei Prüfung einer Problematik aus der Teilnahmelehre ausführt, daß ein allgemeines Bedürfnis nach einer lückenlosen Erfassung strafwürdiger Fälle nicht anzuerkennen ist.156 Aber auch in folgendem Fall gibt der BGH sich zurückhaltend: Fall 304 (BGHSt GS 14, 38 – „wiederholte Zueignung“?): Zu entscheiden war, ob eine Unterschlagung auch bei einer bereits durch ein Vermögensdelikt erlangten Sache möglich ist, ob also jede spätere Herrschaftsbetätigung durch den Täter den Tatbestand des § 246 StGB erfüllt, der erst im Konkurrenzweg zurückträte. Der Große Senat sieht es u. a. als „unbilliges Ergebnis“ an, daß die strafrechtliche Selbständigkeit der Unterschlagung Anknüpfungspunkt für eine Teilnahmehandlung sein könnte (S. 45).157 – Bei entsprechender Motivation könnte man die Urteilsgründe jedoch durchaus auf den Kopf stellen und das, was der BGH für unbillig hält, als das kriminalpolitisch Notwendige bezeichnen. So erkennt etwa Bockelmann ein „dringendes kriminalpolitisches Bedürfnis“ für die Anerkennung der wiederholten Zueignung und belegt dies mit einigen Beispielen; die Ansicht des BGH führe ihrerseits zu unbilligen Ergebnissen (JZ 1960, 621 [624]).

Wie bereits dargelegt verfolgt der BGH eine gegenüber der hier vorgetragenen Konzeption weniger strikte Trennung zwischen kriminalpolitischer und dogmatischer Argumentation. Auch er erkennt zwar den Gesetzeswortlaut als zwingende Grenze kriminalpolitischer Gründe an; aber im übrigen kann – bei aller Ungewißheit, was sich hinter dem kriminalpolitischen Bedürfnis wirklich verbirgt, wenn die Praxis sich darauf beruft – nicht ausgeschlossen werden, daß der BGH eine Beeinflussung des (dogmatischen) Auslegungsergebnisses durch kriminalpolitische Überlegungen für zulässig hält. Gerade beim Ausdruck „Strafbarkeitslücke“ orientiert die Rechtsprechung sich oft nicht streng am gesetzgeberischen Programm, sondern an „objektiven“ kriminalpolitischen Not-

155 Wessels/Beulke (Strafrecht AT, Rn. 479) vereinnahmen den BGH für die rechtsfolgenverweisende Theorie, aber die wiedergegebenen Äußerungen belegen das nicht. 156 Näher unten Fall 306. 157 Die Entscheidung liegt nicht ganz parallel zur Situation des Erlaubnistatumstandsirrtums, zumal der Große Senat noch weitere Unbilligkeiten aufführt. Die generöse Linie des Großen Senats wird noch andernorts deutlich, vgl. unten vor Fall 310.

5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit

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wendigkeiten oder am Gerechtigkeitsgefühl. Wenn der Wortlaut ohnehin eine Grenze setzt, sind solche Erwägungen zumindest unschädlich: BGHSt 31, 348 (353) weist darauf hin, daß die Straflosigkeit der fahrlässigen Abtreibung in bestimmten Konstellationen „zu rechtspolitisch bedenklichen Strafbarkeitslücken führen mag“, die aber nur durch den Gesetzgeber beseitigt werden könnten. — Ähnlich BGHSt 44, 233 (240): Die Regelung zum Subventionsbetrug (§ 264 StGB) führe im Einzelfall zwar zu „erheblichen, in der Sache kaum zu rechtfertigenden und mit dem Gerechtigkeitsgefühl nur schwer zu vereinbarenden Strafbarkeitslücken, sei jedoch als Entscheidung des Gesetzgebers hinzunehmen. — Für „hinnehmbar“ hält es BGHSt 34, 171 (179), daß § 284 StGB keine Kettenbriefaktionen erfasse, zumal die Vorschrift ohnehin weit gefaßt sei und deshalb der Kritik unterliege. Falls der Gesetzgeber in Kettenbriefaktionen strafwürdiges Unrecht erblicken sollte, müsse er eine entsprechende Bestimmung erlassen.158

Aber selbst wenn der Wortlaut eine andere Auffassung noch zulassen würde, dient die Ergebniskontrolle in aller Regel nicht dazu, das Resultat der Exegese nochmals in Frage zu stellen und womöglich zu revidieren, sondern dazu, in einem gesonderten Schritt die kriminalpolitische Plausibilität der Lösung zu prüfen. Vor allem, wenn die konkret relevante Norm verneint wird, sieht der BGH sich veranlaßt, die rechtspolitische Stimmigkeit zu erörtern und nach möglichen Strafbarkeitslücken zu fahnden. Dabei kann die Ergebniskontrolle zunächst zu der Erkenntnis führen, daß entgegen aller Bedenken das gesetzgeberische Programm durchaus vollständig ist und eine sachgerechte Bestrafung ermöglicht. Ein Strafbedürfnis ist dann ebensowenig feststellbar wie unangemessene Folgen oder ungewollte Strafbarkeitslücken: Fall 305 (BGHSt 1, 293 = oben Fall 48): „Unzucht treiben“ im Sinn von § 175 StGB a. F. setzt nach Ansicht des Senats eine Tätigkeit von gewisser Dauer voraus. „Dieses Ergebnis führt in rechtspolitischer Hinsicht nicht zu unangemessenen Folgen. Es steht insbesondere der wirksamen Bekämpfung nach dem Gesetz [!] strafwürdigen Unrechts nicht entgegen. Soweit die nicht tatbestandsmäßige unzüchtige Handlung gegenüber einem Erwachsenen begangen ist, kann sie nach § 185 StGB ausreichende Ahndung erfahren. Gegenüber einem Jugendlichen wird sie regelmäßig als versuchte Verführung nach § 175a Nr. 3 StGB strafbar sein. Kinder unter vierzehn Jahren schützt § 176 Abs. 3 StGB ausreichend“ (S. 297 f.). BGHSt 40, 251 (oben Fall 192) rechtfertigt das einschränkende Verständnis u. a. mit dem hohen Strafrahmen des § 307 Nr. 2 StGB. In vorliegender Konstellation bestehe auch „kein Bedürfnis“ zur Anwendung des erhöhten Strafrahmens, denn die Tat unterscheide sich „hinsichtlich ihrer Strafwürdigkeit nicht von Brandstiftungen aus anderen Motiven . . ., so daß die Strafrahmen des § 306 StGB oder der mit der Brandstiftung tateinheitlich zusammentreffenden Strafbestimmungen für einen gerechten Schuldausgleich ausreichen“ (S. 255). BGHSt 44, 62 (oben Fall 219) weist im Rahmen eines Rechtsprechungswandels zum Begriff des „Sichverschaffens“ in § 146 StGB darauf hin, daß die neue Ausle158

Dieser Satz ist allerdings so zutreffend wie überflüssig.

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VI. Sinn und Zweck

gung auch zu einer sachgerechten Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme führe, indem typischerweise nur unterstützende Tätigkeiten als Beihilfe bewertet würden (S. 65 f.). „Der Gesichtspunkt unerwünschter Strafbarkeitslücken ist daher in diesem Zusammenhang ohne Belang“ (S. 66).

In den dargestellten Fällen ist der BGH von seiner dogmatisch begründeten Lösung überzeugt und kann zusätzlich darauf verweisen, daß das gesetzgeberische Programm in der vorgeführten Auslegung auch kriminalpolitisch zu sachgerechten Ergebnissen führt. Häufig scheint der Gerichtshof sich seiner Sache jedoch nicht ganz sicher zu sein und zerstreut die kriminalpolitischen oder dogmatischen Bedenken mit dem pragmatischen Hinweis auf anderweitige Normen, die den Sachverhalt erfassen und eine ausreichende Ahndung gewährleisten.159 Stehen andere Vorschriften zur Verfügung ist das kriminalpolitische Bedürfnis zumindest nicht mehr „zwingend“, sind etwaige Strafbarkeitslücken „hinnehmbar“, nicht „erheblich“ oder nicht „gravierend“. Auf diese Weise kann das rechtspolitische Gewissen beruhigt und der Gegenmeinung – mag sie kriminalpolitisch oder begrifflich argumentieren – Wind aus den Segeln genommen werden. Fall 306 (BGHSt 9, 370): Der Senat verlangt nach eingehender Begründung und im Einklang mit der „überkommenen Trennung zwischen Täterschaft und Teilnahme“ als Anknüpfungspunkt für die Anstiftung eine vorsätzliche Haupttat. „Das Bestreben, eine möglichst lückenlose Erfassung strafwürdiger Fälle zu gewährleisten, rechtfertigt die Gegenmeinung nicht. Das Strafbedürfnis allein kann zu einer Verurteilung nicht genügen. Im übrigen ist der Umfang der möglichen Lücken nicht sehr groß. Sie werden in der Regel nur auftreten bei eigenhändigen Delikten und bei Sonderdelikten, bei denen der Beteiligte . . . nicht mittelbarer Täter sein kann. Hier ist jedoch häufig eine Bestrafung unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten möglich. Dies zeigt der vorliegende Fall . . .“ (S. 381). Fall 307 (BGHSt 12, 392): Der Senat erkennt keinen strafbaren Verstoß gegen die Pflicht des Fahrzeughalters, eine Haftpflichtversicherung abzuschließen und aufrechtzuerhalten, solange der einen Monat nachwirkende Versicherungsschutz gemäß § 158c II VVG besteht. In der Gegenauffassung liege eine „unzulässige Erweiterung des Tatbestandes“ (S. 397). Es existiere auch kein kriminalpolitisches Bedürfnis, die Strafbarkeit schon mit Ende des Versicherungsverhältnisses beginnen zu lassen, um Druck auf den Fahrzeughalter auszuüben, rechtzeitig nach Ablauf des Versicherungsvertrages einen neuen abzuschließen (S. 397 f.). „Das Gesetz hat auf anderem [versicherungstechnischen] Wege genügend vorgesorgt, daß in der Zeit nach Ablauf des erweiterten Versicherungsschutzes nicht die Ansprüche des Geschädigten gegen den Kraftfahrzeughalter wegen dessen Mittellosigkeit vereitelt werden“ (S. 398). BGHSt 24, 72 (80 f.) lehnt es ab, eine Subsidiaritätsklausel einzuschränken. Die Klausel sei womöglich nicht sinnvoll, aber doch Gesetz. Andernfalls würde sie ihre Bedeutung verlieren, was Sinn und Zweck der Vorschrift widerspräche. Zudem sei „auch kein zwingendes rechtspolitisches Bedürfnis“ für die Annahme von Tateinheit 159 BGHSt GS 39, 221 (232, oben Fall 303) beschwichtigt damit, daß die Fallgruppe, in der Straffreiheit gewährt wird, nur klein ist.

5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit

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zu erkennen, denn das subsidiäre Delikt könne zumindest bei der Strafzumessung erschwerend berücksichtigt werden.160 BGHSt 42, 368 verneint insbesondere aus grammatikalisch-systematischen Erwägungen die Möglichkeit, den strafschärfenden Umstand der Bewaffnung in § 30a II Nr. 2 BtMG den Mittätern gemäß § 25 II StGB zuzurechnen (eingehend oben Fall 36). Dies führe nicht zu „gravierenden Strafbarkeitslücken“ (S. 371). In dem von der Gegenauffassung angeführten Fall, daß der Geschäftsherr eines Betäubungsmittelgeschäfts sich von bewaffneten Mittätern begleiten läßt, könne Anstiftung vorliegen.

Auf die subsidiär greifenden Vorschriften weisen die Senate gerne auch dann hin, wenn das Ergebnis durch den Wortlaut erzwungen ist oder andere Faktoren die Anwendung der eigentlich von Sinn und Zweck her passenden Norm verbietet. Eine gefährliche Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs (§ 224 I Nr. 2 StGB) begeht nicht, wer den Kopf des Opfers gegen eine Hauswand stößt. Eine weite Auslegung entspräche nach Ansicht von BGHSt 22, 235 (237) dem Normzweck vielleicht eher, jedoch bestehe dafür „kein zwingendes Bedürfnis“. In leichteren Fälle genüge der Strafrahmen des Grundtatbestandes, bei schwereren Fällen komme als andere Alternative des § 224 eine das Leben gefährdende Behandlung (§ 224 I Nr. 5) in Betracht. Ganz ähnlich argumentiert BGHSt 13, 81 (82): Da eine andere Alternative des § 243 StGB (a. F.) greife, bestehe auch kein „praktisches Bedürfnis“. Dagegen verzichtet BGHSt 42, 30 (34) darauf, den Kompensationsgedanken besonders zu betonen: Die innere Rechtfertigung dafür, daß der vorliegenden Fall nicht § 20 I Nr. 5 VereinsG unterfällt, sei zwar fraglich, aber wegen des Wortlauts könne die etwaige Strafbarkeitslücke161 nicht geschlossen werden. Anschließend legt der Senat jedoch dar, daß § 20 I Nr. 4 Vereinsgesetz greift. Fall 308 (BGHSt 25, 347): Der Senat hält es für zwingend, die kurze presserechtliche Verjährungsfrist bei der sukzessiven Verbreitung von Druckwerken bereits ab Beginn der Verbreitung laufen zu lassen. Die „unbefriedigenden Auswirkungen“ seien zwar nicht zu übersehen (S. 354), müßten aber als Folge der presserechtlichen Regelung, die möglichst frühzeitig Gewißheit über mögliche Strafverfolgungsmaßnahmen verschaffen wolle, hingenommen werden (S. 355). Zusätzlich beruhigt der Senat das rechtspolitische Gewissen: „Ins Gewicht fallende kriminalpolitische Schäden sind hiervon angesichts der nach dem Eintritt der Verjährung fortbestehenden Einziehungsmöglichkeit kaum zu erwarten, zumal da aufsehenerregende, die Rechtsordnung in schwerwiegender Weise berührende Presseinhaltsdelikte den Strafverfolgungsbehörden in aller Regel rechtzeitig zur Kenntnis gelangen werden.“

BGHSt 25, 347 zeigt zugleich den pragmatischen Charakter des Hinweises auf anderweitige Ahndungsmöglichkeiten. Es kommt nicht darauf an, ob die anderen Bestimmungen eine sachgerechte Erfassung von Unrecht und Schuld 160 BGHSt 47, 243 (oben Fall 105) macht sich in einer ganz parallelen Situation dieses Argument gar nicht erst zunutze, sondern stellt maßgeblich auf den eindeutigen Wortlaut der Subsidiaritätsklausel ab. 161 In Anbetracht des entgegenstehenden Wortlauts kann der Senat getrost dahinstehen lassen, ob eine Lücke gegeben ist.

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VI. Sinn und Zweck

ermöglichen, sondern daß das Bedürfnis noch in irgendeiner Form befriedigt werden kann. BGHSt 25, 347 kann sogar nur noch Schadensbegrenzung betreiben, indem auf die immerhin bestehende Möglichkeit der Einziehung verwiesen wird. Die kriminalpolitischen Erwägungen sind demzufolge häufig von Zufälligkeiten geprägt. In einem Fall mag eine andere Alternative des Tatbestandes greifen (BGHSt 22, 235), im nächsten Fall eine ganz andere Norm (sogleich BGHSt 6, 144; 29, 300), in einer weiteren Situation dagegen nur die Möglichkeit der Einziehung von Tatmitteln (BGHSt 25, 347) oder schließlich gar nichts162. Gerade bei in Tateinheit163 stehenden Normen, die den Sachverhalt ebenfalls, aber unter einem anderen Gesichtspunkt erfassen, offenbart sich die Beliebigkeit des vorliegenden Argumentationstyps: Fall 309 (BGHSt 29, 300; 15, 88): BGHSt 29, 300 sieht keine Vorteilsannahme oder Bestechlichkeit (§§ 331, 332 StGB), „wenn der Amtsträger lediglich vorspiegelt, die Dienstleistung erbracht zu haben, für die er einen Vorteil fordert, sich versprechen läßt oder annimmt“. Das ergebe sich aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte und „führt nicht zu unvertretbaren Ergebnissen. Denn es öffnet keine erheblichen strafrechtlichen Lücken, daß das Gesetz das auf eine nur scheinbar begangene Diensthandlung bezogene . . . Tätigwerden eines Amtsträgers nicht in den §§ 331, 332 StGB unter Strafe stellt . . ., weil in solchen Fällen – wie hier – in aller Regel Strafbarkeit nach § 263 StGB gegeben ist“ (S. 305). – Die mehr oder weniger zufällig eingreifende Norm (§ 263 StGB) ermöglicht die angemessene Bestrafung des betrügerischen Verhaltens. Aber §§ 331 ff. StGB schützen ein ganz anderes Rechtsgut. Wenn diese Normen nicht erfüllt sind, kann das nicht mit § 263 kompensiert werden. Auch die Formulierung „in aller Regel“ zeigt, daß die Rechtsprechung bei der kriminalpolitischen Ergebniskontrolle wenig grundsätzlich verfährt. Gegenläufig zu BGHSt 29, 300 argumentiert BGHSt 15, 88 (vgl. oben Fall 6) anläßlich der Frage, ob §§ 331, 332 StGB erfüllt sind, wenn der Amtsträger eine Bestechungssumme annimmt, aber den inneren Vorbehalt hat, die zugesagte Pflichtverletzung nicht zu begehen. Der Verweis dieses Falls in den Bereich bloßen Disziplinarunrechts „scheint dem Senat unerträglich zu sein“ (S. 99). „Der vielleicht mögliche Gesichtspunkt des Betruges erfaßt das Unrecht nicht in seiner vollen Bedeutung“ und sei regelmäßig nicht zu beweisen. Wiederum etwas anders liegt BGHSt GS 14, 38, wo § 263 StGB auf jeden Fall erfüllt war (vgl. oben Fall 304, „wiederholte Zueignung“). Deshalb kann der Große Senat beruhigt das Bedürfnis verneinen, spätere Herrschaftsbetätigungen über die durch den Betrug erlangte Sache als Unterschlagung anzusehen, auch wenn diese (als Amtsunterschlagung) einen verschärften Strafrahmen bot. „Rechtspolitisch ist das kein Nachteil. Der Schuldspruch wegen Betruges ermöglicht stets ausreichende Bestrafung“ (S. 47). Fall 310 (BGHSt 6, 144): Der Senat sieht (S. 146) keinen „Anlaß“ zur ausdehnenden Anwendung des Begriffs der „Untersuchung“ in § 343 StGB a. F. („Ein Beam162

Vgl. nochmals BGHSt GS 39, 221 (oben Fn. 159). „Tateinheit“ ist freilich insoweit ungenau, als in vorliegenden Konstellationen die eigentlich relevante Norm ja verneint wird. 163

5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit

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ter, welcher in einer Untersuchung Zwangsmittel anwendet . . ., um Geständnisse oder Aussagen zu erpressen, wird . . .“); dagegen spreche schon die hohe Strafdrohung. Ausschreitungen von Polizeibeamten während Nachforschungen, die lediglich zur Beseitigung eines polizeiwidrigen Zustandes vorgenommen werden, „fallen unter den Tatbestand des § 340 StGB, der eine ausreichende Ahndung zuläßt“ (S. 147). – Im Fall der Mißhandlung mag die Erwägung des Senats zutreffen, aber die Aussageerpressung kann auch mit anderen Zwangsmitteln geschehen. Würde dann § 240 StGB „ausreichende Ahndung“ gewährleisten? Und was wäre, wenn gar keine Norm aushülfe?

Angesichts der durchweg weiten Strafrahmen im StGB kann dem kriminalpolitischen Bedürfnis mit Hilfe anderweitig greifender Bestimmungen fast immer Rechnung getragen werden. Muß ein Qualifikationstatbestand verneint werden, ist ausreichende Ahndung regelmäßig auch durch den Grundtatbestand gewährleistet. Wann sollte etwa der Strafrahmen der einfachen Körperverletzung (Freiheitsstrafe bis fünf Jahre) einmal nicht genügen?164 Ähnlich liegt es beim Verhältnis von Täterschaft zur Anstiftung (§ 26 StGB: Bestrafung gleich dem Täter),165 aber auch der gemilderte Strafrahmen der Beihilfe (§§ 27 II, 49 I StGB) und der fakultativ reduzierbare Strafrahmen des Versuchs (§ 23 II StGB) dürften der Durchsetzung etwaiger kriminalpolitischer Bedürfnisse nicht im Weg stehen. BGHSt 33, 383 (387) ist der Ansicht, daß die Gegenauffassung den Strafbarkeitsbereich über die gesetzliche Regelung hinaus ausdehnt. „Von dem allen abgesehen fehlt ein kriminalpolitisches Bedürfnis für eine derartige extensive Ausdehnung des Strafbarkeitsbereichs, da in aller Regel166 eine Verurteilung des Steuerpflichtigen wegen Teilnahme an der Steuerhinterziehung des Dritten möglich sein wird.“

Mit anderweitig eingreifenden Strafbestimmungen setzen die Gerichte sich auch dann auseinander, wenn sie – anders als in den bisher erörterten Fällen – unter Berufung auf die klassischen Auslegungsmethoden die Strafbarkeit nach der fraglichen Vorschrift bejahen. Dann ist vom hier vertretenen, am Willen des Gesetzgebers angelehnten Standpunkt zunächst einmal klar, daß die ebenfalls oder subsidiär eingreifenden, aber milderen Normen für die Auslegung selbst irrelevant sind. Rechtspolitisch betrachtet könnte sich die Sache hingegen anders darstellen, denn dem kriminalpolitischen Bedürfnis würden womöglich auch andere Normen genügen. In dieser Situation zeigen die Strafsenate sich freilich hart. Etwaige Lücken und Risiken werden nicht in Kauf genommen: 164 Vgl. oben und BGHSt 22, 235 (§§ 223, 223a StGB a. F.) und BGHSt 40, 251 (§§ 306, 307 StGB a. F.). Sollte die Körperverletzung tatsächlich einmal so drastisch sein, daß der Strafrahmen des § 223 StGB nicht genügt, wird regelmäßig ein (versuchtes) Tötungsdelikt erfüllt sein. Eine Körperverletzung, die eine fünfjährige Freiheitsstrafe rechtfertigt, ohne daß § 224 StGB oder andere Vorschriften griffen, ist allerdings auch bei großer krimineller Phantasie schwer vorstellbar. 165 Siehe oben BGHSt 42, 368. 166 Zur Formulierung „in aller Regel“ siehe bereits oben BGHSt 29, 300 (Fall 309).

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VI. Sinn und Zweck

BGHSt 9, 84 (87) hält den Hinweis des RG auf §§ 246, 266 StGB nicht für ausreichend, denn diese Normen seien in der relevanten Konstellation oft nicht erfüllt oder nicht nachweisbar. — Ähnlich argumentiert BGHSt 13, 46 (51): „Die entstehende Lücke ließe sich auch nicht durch Ausweichen auf andere Bestimmungen . . . schließen, weil deren Anwendungsgebiet und Voraussetzungen wesentlich andere sind.“ — Nach Ansicht von BGHSt 13, 32 sprachen Entstehungsgeschichte und Zweck dafür, das Merkmal „mit Strafe bedrohte Handlung“ als Voraussetzung der Einziehung gemäß §§ 86 I, 98 StGB a. F. schon bei Verwirklichung des äußeren Tatbestandes zu bejahen, jedenfalls bei der Verbreitung staatsgefährdender Schriften gemäß § 93 StGB a. F. „Dieses Ergebnis entspricht bei § 93 StGB allein dem berechtigten Bedürfnis“, denn der „enge Rahmen“ der ansonsten greifenden allgemeinen Einziehungsbestimmungen genüge wenigstens im Staatsschutzrecht nicht (S. 40).

Auch die Strafbarkeit wegen Versuchs oder Beihilfe hält der BGH offenbar nicht für ausreichend und läßt sich selbst in dafür prädestinierten Fällen gar nicht erst auf die Frage ein: So weist etwa BGHSt 27, 45 (oben Fall 54) trotz erheblicher Bedenken aus dem Wortlaut darauf hin, daß die Bestrafung erfolgloser Absatzbemühungen lediglich als versuchte Hehlerei „eine nicht zu ertragende Mißachtung des gesetzgeberischen Willens und seiner kriminalpolitischen Ziele“ bedeutete (S. 51). Fall 311 (vgl. oben Fall 93 – „Erfolg der Strafvereitelung“): Ganz ähnlich verhält es sich mit der Frage, ob das „Vereiteln“ einer Strafe in § 258 StGB nur bei der endgültigen Verhinderung der Bestrafung erfüllt ist. Die Rechtsprechung läßt es unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte genügen, daß die Verhängung der Strafe für geraume Zeit verzögert wird, obgleich die grammatikalische Auslegung stark für ein enges Verständnis spricht und obwohl die Versuchsstrafbarkeit dem Strafbedürfnis ohne weiteres Rechnung tragen würde.167 Der wenig pragmatische Standpunkt der Praxis hat womöglich zwei Ursachen: Zum einen würde die „Kann-Milderung“ des § 23 II StGB Strafzumessungsfehler der Vorinstanzen provozieren. Zum anderen könnte historischer Ballast fortwirken, denn RGSt 70, 251 hat in einer ganz parallelen Situation168 bereits ebenso entschieden und keine endgültige Vereitelung verlangt. Im Unterschied zu § 23 II StGB g. F. sah jedoch § 44 StGB i. d. F. bis 1939 die zwingende Strafmilderung für den Versuch vor, worauf das RG entscheidend abstellt: Bei anderer Ansicht würde der Täter „in den weitaus meisten Fällen nur wegen Versuches – also milder – bestraft werden können, ein Ergebnis, das der Gesetzgeber . . . unmöglich gewollt haben kann“ (S. 255). In vergleichbarer Ausgangsposition wie BGHSt 27, 45 und mit ähnlichem Pathos betont BGHSt 31, 317 (oben Fall 35): „Daß der Gesetzgeber eine so schwerwiegende Lücke in den vor gefährlichen Angriffen fremder Geheimdienste gegen die

167 Immerhin rechtfertigt die Rechtsprechung ihre Auffassung nicht explizit mit den drohenden Strafbarkeitslücken (nur Versuch); in diese Richtung aber z. B. Dölling, JR 2000, 379: Die Annahme der Vollendung sei „zum Schutz einer gerechten und wirksamen Strafrechtspflege“ geboten. Näher zum Ganzen Wappler, Erfolg der Strafvereitelung, S. 130 ff. 168 Es ging um das Tatbestandsmerkmal „jemand der im Gesetz vorgesehenen Strafe . . . entzieht“ in § 346 StGB a. F.

5. Kriminalpolitische Argumente/Strafbarkeitslücken/Strafwürdigkeit

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Bundesrepublik Deutschland strafrechtlich geschützten Bereich habe reißen wollen, kann ausgeschlossen werden“ (S. 320). Daß womöglich eine Strafbarkeit wegen Beihilfe genügte,169 zieht der Senat nicht in Betracht.

Da in den dargestellten Fällen nach Auffassung des BGH Sinn und Zweck der jeweiligen Vorschriften oder der gesetzgeberische Wille für eine Bestrafung sprachen und der Gesetzeswortlaut dem nicht entgegenstand, ist gegen die Lösungen vom dogmatischen Standpunkt aus nichts zu erinnern. Unbehagen bleibt nur hinsichtlich der Belanglosig- und Beliebigkeit kriminalpolitischer Argumentation. Was das kriminalpolitische Bedürfnis verlangt, ist ungeklärt. Verneint der BGH die Voraussetzungen einer Strafvorschrift, dann ist das auch dann hinnehmbar, wenn die statt dessen greifenden Normen zur sachgerechten Ahndung kaum ausreichen. Wird die Strafbarkeit hingegen bejaht, dann sollen die subsidiär greifenden Normen dem Strafbedürfnis nicht genügen. Insgesamt ist zur kriminalpolitischen Ergebniskontrolle und zum Argument Strafbarkeitslücke zu sagen: Nach der hier vertretenen Auffassung dürfen kriminalpolitische Erwägungen das Ergebnis der Auslegung nicht beeinflussen. Strafbarkeitslücken liegen nur vor, wenn das Gesetz unbeabsichtigt unvollständig oder fehlerhaft ist. Darauf, daß eine solche Lücke vorliegt und der Rechtszustand unbefriedigend ist, kann der Rechtsanwender hinweisen. Steht bereits der Wortlaut der Subsumtion entgegen, kann die Frage auf sich beruhen. Demgegenüber suggerieren einige Äußerungen des BGH, daß kriminalpolitische Bedürfnisse Einfluß auf die Auslegung nehmen können und auch der Begriff „Strafbarkeitslücke“ aus dieser Perspektive zu definieren ist. Ganz im Vordergrund stehen jedoch Entscheidungen, die lediglich die rechtspolitische Überzeugungskraft des Ergebnisses beurteilen, ohne das dogmatisch ermittelte Resultat in Frage zu stellen. Besonders beliebt sind Verweise auf anderweitig greifende Vorschriften, die Lücken kompensieren oder mildern können; damit wird das rechtspolitische Gewissen beruhigt und womöglich auch dogmatische Unsicherheit überdeckt. Die Argumentation verläuft dabei pragmatisch und wenig vorhersehbar. Wann und warum andere Normen genügen und Strafbarkeitslücken hinnehmbar sind, bleibt oft unklar. e) Strafwürdigkeit Ganz ähnlich wie mit den Strafbarkeitslücken verhält es sich mit dem nicht selten anzutreffenden Begriff der „Strafwürdigkeit“. Gemeinhin dürfte er eher im kriminalpolitischen Sinn verstanden werden. Die Frage wird dann lauten, ob ein Verhalten (noch) strafwürdig ist und deshalb (weiter) unter Strafandrohung stehen sollte.170 Möglich ist aber auch ein an der lex lata anknüpfender Stand169 So Schroeder, JZ 1983, 671 (672): Das Verhalten sei zwar zweifellos strafwürdig, aber nur als Beihilfe erfaßt.

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VI. Sinn und Zweck

punkt, der danach fragt, welches Verhalten der Gesetzgeber selbst für „strafwürdig“ erachtet hat. Nur diese Perspektive kann auch für die Rechtsanwendung und zur Begründung der Strafbarkeit herangezogen werden: Daß die Kriterien der Strafwürdigkeit aus der gesetzgeberischen Regelung selbst folgen, wird u. a. in BGHSt 11, 199 (205) deutlich: Erst die Verwirklichung des zusätzlichen Merkmals der Gemeingefahr „rechtfertigt nach der erkennbaren Absicht des Gesetzgebers die erhöhte Strafwürdigkeit von gefährlichen Verkehrsverstößen als Vergehen“. Und BGHSt 27, 160 (164) führt zu § 259 StGB aus: Der „für die Strafwürdigkeit der Hehlerei wesentliche Gesichtspunkt, daß die Rückgewinnung für den Berechtigten erschwert wird“, treffe auch auf die Weitergabe eines Pfandscheines über die versetzte Sache zu. Vom „nach dem Gesetz strafwürdigen Unrecht“ spricht auch BGHSt 1, 293 (297). Fragwürdig argumentiert demgegenüber BGHSt 31, 317 (323), wo das dogmatisch ermittelte Ergebnis unter einen kriminalpolitischen Vorbehalt gestellt wird: Auch gegen die Strafwürdigkeit des Täters seien Bedenken nicht zu erheben.

f) Fazit Die Praxis verfolgt keine klare Trennung zwischen dogmatischer und kriminalpolitischer Argumentation. Einige Äußerungen des BGH lassen darauf schließen, daß kriminalpolitische Bedürfnisse Einfluß auf die Auslegung gewinnen dürfen171, wenn nicht zwingende rechtsstaatliche Gründe entgegenstehen; anderseits existieren Äußerungen, wonach das Strafbedürfnis die Strafbarkeit zumindest nicht allein begründen könne. Allerdings ist oftmals unklar, was die Rechtsprechung unter kriminalpolitischen Erwägungen überhaupt versteht. Vom hier vertretenen Standpunkt aus sind kriminalpolitische Erwägungen für die Auslegung irrelevant; insbesondere verbietet sich die „Auflehnung“ gegenüber einem feststellbaren (und nicht verfassungswidrigen) gesetzgeberischen Willen. Nicht zu bestreiten ist freilich, daß bei Unklarheit über den Gesetzesinhalt und im Bereich der Rechtsfortbildung die Grenzen zwischen dogmatischen (Wie ist es geregelt?) und rechtspolitischen Überlegungen (Wie soll es geregelt sein?) verschwimmen. Zumindest „unschädlich“ ist in aller Regel ein unverbundenes Nebeneinander von dogmatischer Lösung und kriminalpolitischer Stimmigkeitsprüfung. Eine kriminalpolitische Ergebniskontrolle kann zwar ein vollständiges Bild von der geltenden und wünschenswerten Rechtslage liefern, ist aber ihrerseits von erheblichen Unsicherheiten geprägt. Die Beschäftigung mit etwaigen Strafbarkeitslücken dient zumeist nur der Beruhigung des rechtspolitischen Gewissens.172 Wie der Begriff der Strafbarkeitslücke kann die „Strafwürdigkeit“ in 170 In diesem Sinn z. B. F. Meyer, ZStW 2003, 249 (276 ff.) zur Strafbarkeit und Strafwürdigkeit des Stalking. 171 Nach BGHSt 8, 343 (344 f.) müssen kriminalpolitische Erwägungen sogar berücksichtigt werden. Allerdings ist fraglich, ob die vom Senat angeführten Gründe wirklich rechtspolitische sind (vgl. oben Fall 296); ähnlich: BGHSt 15, 138 (145).

6. Höhe des Strafrahmens

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einem gesetzesnahen (dogmatischen) oder in einem gesetzesunabhängigen (kriminalpolitischen) Sinn verstanden werden.

6. Höhe des Strafrahmens Nicht selten spielt in den Entscheidungen der Strafsenate die Höhe des Strafrahmens eine Rolle bei der Auslegung,173 vor allem bei Straftatbeständen mit erhöhtem Mindeststrafrahmen. Dann wird die Strafandrohung mitunter als Argument für ein restriktives oder zumindest gegen ein ausdehnendes Verständnis der Norm genutzt: BGHSt 6, 144 (146): Gegen die ausdehnende Auslegung des Begriffs „Untersuchung“ spreche „schon die hohe Strafdrohung des § 343 StGB, die keine mildernden Umstände kennt“. — BGHSt 22, 178 (179): Die besonders hohe Strafdrohung des § 236 StGB (a. F.) indiziere die Notwendigkeit, „dem Merkmal der Entführung enge Grenzen zu setzen“. — BGHSt 40, 251 (254): „Nur diese einengende Auslegung kann auch den wesentlich erhöhten Strafrahmen rechtfertigen.“ — BGHSt 42, 368 (371): Angesichts der besonders hohen Strafdrohung wäre eine gesetzgeberische Klarstellung in diese Richtung zu erwarten gewesen.

Freilich wäre es ein Irrtum anzunehmen, daß ein hoher Strafrahmen per se für eine restriktive Interpretation spreche oder daß sogar eine Auslegungsmaxime existiere, nach der die Auslegung um so engherziger sein muß, je höher die angedrohte Strafe ist. Ebensowenig existiert eine Interpretationsregel, wonach eine Strafnorm mit geringer Strafandrohung weit auszulegen ist. Daß solche Regeln unsinnig wären, folgt aus einfachen Umständen der Gesetzestechnik: Mit einem hohen Strafrahmen belegt der Gesetzgeber Verhaltensweisen, die er als schweres Unrecht einstuft, die ihm als besonders strafwürdig erscheinen. Diese Einschätzung spiegelt sich in den tatbestandlichen Umschreibungen wieder, indem z. B. im Tatbestand der schweren Körperverletzung nur besonders gravierende Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität unter verschärfte Strafandrohung gestellt werden. Da die dort genannten Modalitäten von vornherein nur bestimmte Sachverhalte der Lebenswirklichkeit herausgreifen, ist die Restriktion somit bereits im Tatbestand angelegt. Eine zusätzliche Einschränkung durch eine einengende Interpretation ist nicht angezeigt. Die Höhe der Strafdrohung allein ist demzufolge kein Grund, § 226, § 212 oder § 244 StGB restriktiv auszulegen. Das gilt zumindest im Grundsatz sogar für § 211 StGB, denn dessen hohe Strafdrohung ist z. B. für die Auslegung der Mordmerkmale „grausam“ oder Begehung mit „gemeingefährlichen Mitteln“ ohne 172

Siehe insoweit die Zusammenfassung in 5 d am Ende. Erwähnenswert sind in erster Linie: BGHSt 1, 255 (258); 5, 344 (346); 6, 144 (146); 18, 363 (365); 21, 188; 22, 114 (117); 22, 178 (179); 24, 173; 25, 35 (36); 33, 322 (323); 38, 116 (118); 38, 144 (148 f.); 40, 251 (254); 42, 368 (371); 45, 211 (217 f.); 46, 146 (151). 173

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VI. Sinn und Zweck

Belang. Es versteht sich von selbst, daß unter diese Tatbestandsmerkmale keine geringfügigen Verhaltensweisen fallen und daß damit im Vergleich zum Totschlag größeres Unrecht umschrieben ist. Mit den unterschiedlichen Strafrahmen bringt der Gesetzgeber die unterschiedliche Gewichtung des Unrechts zum Ausdruck.174 An dessen Entscheidung ist der Rechtsanwender gebunden.175 Fall 312 (BGHSt 38, 144 – Fall „Dr. Theissen“): Sehr fragwürdig argumentiert der Senat bei der Auslegung der Vorschriften gegen den Schwangerschaftsabbruch. Die geringe Strafandrohung in § 219 I StGB a. F. (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr) hält der Senat offenbar für inakzeptabel (S. 148 f.): „Nähme man nur die angedrohte Höchststrafe . . . zum Maßstab, so stände § 219 StGB allerdings in einer Reihe mit Hausfriedensbruch (§ 123 StGB), . . . Beleidigung (§ 185 StGB) und ähnlichen Vorschriften minderen Gewichts. Indes wäre ein solches Vorgehen verfehlt“, denn § 219 StGB solle wirksamen Lebensschutz gewährleisten und Schwangerschaftsabbrüche verhindern. Die vergleichsweise geringe Strafdrohung beruhe darauf, daß die Strafe nur „ultima ratio“ neben anderen Schutzmaßnahmen sei. „Dies ändert aber nichts daran, daß es sich insgesamt um ,Straftaten gegen das Leben‘ handelt (so die Überschrift des 16. Abschnitts . . .).“ Auch bei der Interpretation des Tatbestandsmerkmals „ärztliche Erkenntnis“ in § 218a StGB a. F. bringt der Senat seine Vorstellungen unter Berufung auf die Notwendigkeit verfassungskonformer Auslegung zum Ansatz: „Die Bedeutung des ungeborenen Lebens verlangt eine Auslegung, die seinen Schutz soweit wie möglich gewährleistet. Auslegungen, die hinter dem grundgesetzlich verbürgten und geforderten Schutz zurückblieben, müßten hinter Normdeutungen zurückstehen, die mit dem Grundgesetz in Einklang sind“ (S. 151). – Die Entscheidung steht in Gefahr, ihre eigenen Vorstellungen über die Wertigkeiten der Rechtsgüter an die Stelle der gesetzgeberischen Einschätzung zu setzen. Daß es – wie der Senat recht emotional betont – um Straftaten „gegen das Leben“ geht, ändert nichts an der bewußt niedrigen Strafandrohung. Und daß die Verfassung zu einer weiten Auslegung einer Strafvorschrift drängt, ist zwar methodisch denkbar,176 aber ein kaum konkretisierbares Auslegungsverfahren; insofern müßte der Gedanke des Rechtsgüterschutzes generell zu einer ausdehnenden Interpretation von Strafvorschriften führen.

Der Topos „Höhe der Strafdrohung“ gibt der Auslegung somit nicht a priori eine bestimmte Richtung. Daß er in der Rechtsprechung gleichwohl verwendet wird und zumindest tendenziell restriktiv wirkt177, hat andere Gründe. Vor allem kann die hohe Strafdrohung Indiz dafür sein, daß die gesetzliche Fassung 174 Siehe z. B. BGHSt 5, 344 (346): „Diesen grundlegenden Unterschied zwischen den Erschwerungstatbeständen des § 122 III und des § 125 II hat denn auch der Gesetzgeber nicht nur durch eine andere sprachliche Kennzeichnung (,verüben‘ statt begehen), sondern vor allem durch die abweichende Bemessung der Strafrahmen berücksichtigt.“ Oder BGHSt 1, 388 (390), wo der BGH für die Erfüllung des strafschärfenden Merkmals ein Täterverhalten verlangt, daß vom typischen Fall des Grundtatbestandes deutlich abweicht. 175 Kudlich, ZStW 2003, 1 (21), allerdings mit Einschränkungen. 176 Es läge ein Ausnahmefall vor, in dem die verfassungskonforme Auslegung zu einem ausdehnenden Gesetzesverständnis führt. 177 Vgl. Kudlich, ZStW 2003, 1 (17).

6. Höhe des Strafrahmens

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zu weit geraten ist, daß die Absicht des Gesetzgebers nicht so weit ging, wie es der Wortlaut suggeriert. Die Ausgestaltung der Norm erscheint in Hinblick auf die hohe Strafdrohung als mißlungen, unvollständig oder zumindest mißverständlich. Vielleicht vermittelt die Strafandrohung dem Rechtsanwender nur ein vages Gefühl, daß etwas „nicht stimmt“. Dann beginnt die nähere Suche nach dem Grund der Strafschärfung oder nach dem „wahren Willen“ des Gesetzgebers, der womöglich durch eine restriktive Auslegung oder sogar im Wege der Reduktion verwirklicht werden muß. Eine Restriktion unternimmt BGHSt 40, 251 bezüglich der besonders schweren Brandstiftung (§ 307 Nr. 2 StGB i. d. F. bis 1998). Die Vorläuferfassung habe die Einschränkung zwar deutlicher zum Ausdruck gebracht, aber für einen Willen des Gesetzgeber zu einer sachlichen Änderung sei nichts ersichtlich (S. 254; näher oben Fall 192). „Nur diese einengende Auslegung kann auch den [gegenüber § 306] wesentlich erhöhten Strafrahmen rechtfertigen.“ Mehrmals zu einer Tatbestandsreduktion gezwungen wurde der BGH durch verunglückte Fassungen des § 239a StGB, der seit 1936 für einen erpresserischen Kindesraub die Todesstrafe, seit dem 3. StÄG von 1953 immerhin noch eine Mindeststrafe von drei Jahren vorsah. Beide Fassungen schränkte die Rechtsprechung durch ein zusätzliches Merkmal ein, das der Gesetzgeber schließlich 1971 im 12. StÄG auch in den Gesetzestext einfügte (siehe oben Fall 177). Nach einer weiteren Umgestaltung der Norm 1989 zum allgemeineren Delikt des erpresserischen Menschenraubs begannen die Reduktionsbemühungen angesichts der Mindeststrafe von fünf Jahren von neuem. Insbesondere BGHSt 39, 36 und 330 haben versucht, dem (wohl) unbeabsichtigt zu weit geratenen Gesetzeswortlaut durch zusätzliche Anforderungen einzuschränken, und dabei auf im Gesetzgebungsverfahren geäußerte Vorstellungen zurückgegriffen (subjektiv-teleologische Reduktion; näher oben Fall 152).

Eine Tatbestandsreduktion bedarf jedoch starker Anhaltspunkte, wenn die Fehlerhaftigkeit oder Unvollständigkeit nicht offen zutage tritt, denn vorrangig ist die Entscheidung des Gesetzgebers, mag sie auch als unangemessen erscheinen. Auf einen hohen Strafrahmen gestützte Forderungen aus der Literatur nach einer Tatbestandsreduktion weist der BGH unter Berufung auf ein bewußtes legislatives Votum z. B. in folgenden Entscheidungen zurück: Nach BGHSt 46, 146 (oben Fall 20: Genügt die Fälschung nur einer Zahlungskarte gemäß § 152a StGB?) hat der Gesetzgeber den Gesichtspunkt des Strafrahmens bedacht, sich u. a. wegen der Gefährlichkeit der Tathandlungen jedoch für die Einführung eines Verbrechenstatbestandes entschieden (S. 151 f.). Ähnlich argumentiert BGHSt 45, 211:178 Eine besonders schwere Brandstiftung gemäß § 306b II Nr. 2 StGB („in der Absicht handelt, eine andere Straftat zu ermöglichen“) liegt auch dann vor, wenn der Täter die schwere Brandstiftung begeht, um einen Versicherungsbetrug vorzubereiten. Ein spezifischer Zusammenhang der anderen Tat zu der in der Brandstiftung liegenden Gemeingefahr sei nicht erforderlich, da das Gesetz anders als die Vorläufernorm kein „Ausnutzen“ der Brandstiftung für 178

Siehe oben Fall 11 und Kap. IV, Fn. 369.

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VI. Sinn und Zweck

die Begehung weiterer Taten mehr verlangt (S. 217). Zudem habe der Gesetzgeber die Herabsetzung des Strafrahmens (zuvor nicht unter zehn, jetzt mindestens fünf Jahre) mit der Erweiterung der Qualifikationsmerkmale begründet. Einwände gegen die hohe Mindeststrafe seien im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zurückgewiesen worden, so daß der Hinweis auf die hohe Strafdrohung eine restriktive Auslegung nicht begründen könne (S. 218).179 – Dagegen nimmt das LG Kiel (StV 2003, 675) angesichts des hohen Strafrahmens und drohender Wertungswidersprüche eine Tatbestandsreduktion („restriktive Auslegung“) vor.180 BGHSt 1, 255 (258) sieht in der Höhe der Strafdrohung des § 344 StGB a. F. (Verfolgung Unschuldiger) keinen Grund für eine enge Auslegung. Eventuell beruhe das Mißverhältnis auf einem „überkommenen Gesetzesfehler“, jedoch gebe es auch einen Grund dafür, weshalb die Norm eine schärfere Strafdrohung vorsehe als der Tatbestand der Rechtsbeugung.

Ein außergewöhnlich hoher Mindeststrafrahmen kann sich weiterhin dann auf die Normkonkretisierung auswirken, wenn er in Einzelfällen des Normbereichs einer schuldangemessenen Bestrafung im Wege steht. In diesem Fall ist eine verfassungskonforme (restriktive) Auslegung zu erwägen, um dem Schuldgrundsatz bzw. dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen. Nicht möglich ist in dieser Situation allerdings eine verfassungskonforme Rechtsfortbildung gegen eine eindeutige Gesetzesnorm.181 Der BGH hat sich gerade bei den dafür mustergültig geeigneten Bestimmungen (§ 211 StGB, § 316a StGB a. F.) mit einer restriktiven Gesetzesanwendung erstaunlich schwergetan oder diese gar nicht erst in Betracht gezogen: Bezüglich § 211 hat der Große Strafsenat sich in BGHSt 30, 105 den vom BVerfG angemahnten Weg der noch weitergehenden einengenden Auslegung der Mordmerkmale verschlossen und statt dessen den Ausweg in einer methodisch unhaltbaren Rechtsfortbildung gesucht (näher oben Fall 256). Fall 313 (vgl. oben Fall 153): Für den „Autostraßenraub“ sah § 316a I StGB a. F. ohne Milderungsmöglichkeit als Mindeststrafe Zuchthaus nicht unter fünf Jahren vor. Gleichwohl hat der BGH die Auslegung der Bestimmung, insbesondere des Tatbestandsmerkmals „unter Ausnutzung der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs“, keiner restriktiven Linie unterstellt.182 BGHSt 5, 280 hat den Tatbestand z. B. bei einem Sachverhalt bejaht, in dem der Kraftfahrer an eine einsame Stelle 179 Anders Tröndle/Fischer, StGB49, § 306b, Rn. 9; vgl. dies., StGB51, § 306b, Rn. 9a („drakonischer Strafrahmen“). 180 Mit der Abweichung von BGHSt 45, 211 war die Staatsanwaltschaft offensichtlich einverstanden, so daß das Urteil (leider!) rechtskräftig wurde. Vgl. zur Auflehnung des LG Kiels gegen die gesetzgeberische Entscheidung und die Ansicht des BGH Ostendorf, StV 2003, 676, der die Mindeststrafe des § 306b II Nr. 2 StGB für verfassungswidrig, das Urteil des LG für „rechtlich-mutig“ hält. 181 Vgl. dazu bereits oben V 5 am Ende. Wohlweislich hat das LG Kiel (siehe Fn. zuvor) seine Reduktion des § 306b II Nr. 2 StGB nicht auf Verfassungsrecht gestützt, denn das hätte zur Vorlage der Norm beim BVerfG gezwungen! Dieser Weg wäre freilich ehrlicher und methodisch zutreffend gewesen, denn nur so ist die Mißachtung des eindeutigen gesetzgeberischen Willens zu rechtfertigen.

6. Höhe des Strafrahmens

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gelockt wurde, dort zum Aussteigen veranlaßt und dann in etwa 100 m Entfernung überfallen wurde; Erwägungen zum Strafrahmen fehlen183. Erst BGHSt 22, 114 – der Überfall ereignete sich hier erst nach einem längeren Fußmarsch – hat vorsichtig Zweifel geäußert und die hohe Strafdrohung zumindest gegen eine „ausdehnende Anwendung“ der Vorschrift ins Feld geführt (S. 117).184 – Von der Frage nach einer generell restriktiven Auslegung zu unterscheiden ist die verfassungsrechtliche Problematik in Fällen, die eindeutig den Tatbestand § 316a StGB (a. F.) erfüllen, bei denen jedoch angesichts ihrer Geringfügigkeit die Mindeststrafe als unvertretbar hoch erscheint. BGHSt 15, 322 (325) konstatiert auf den Einwand der Verteidigung, die Strafe sei „naturrechtlich unvertretbar“, daß die Mindeststrafe bei der festgestellten Sachgestaltung185 zwar „hart erscheint“, aber der Richter an die Entscheidung des Gesetzgebers gebunden sei. Auch BGHSt 24, 173 (178) betont die Bindung des Richters an den vom Gesetzgeber in § 316a vorgegebenen Strafrahmen. Wie in einem außergewöhnlichen – vorliegend aber nicht gegebenen – Fall, in dem die Mindeststrafe die Schuld des Täters offensichtlich überschritte, zu verfahren wäre, läßt der Senat offen (S. 177).186

Als letztes bleiben noch Fälle, in denen die Auslegungskriterien kein klares Ergebnis zum Zweck der Strafschärfung und Inhalt der Norm zutage fördern. Häufig ist lediglich klar, daß die Norm nur bei schwerwiegenden Verhaltensweisen greifen soll, nicht aber, worin genau das erhöhte Unrecht besteht. Insofern kann der hohe Strafrahmen als Indiz dafür genommen werden, daß der Gesetzgeber nur erhebliches Unrecht erfassen wollte. Dann spricht nichts dagegen, unter Hinweis auf die hohe Strafdrohung ein enges Verständnis zu bevorzugen. Die Konkretisierung nimmt von diesem Ausgangspunkt ihren Weg: Fall 314 (BGHSt 33, 322): Die Geiselnahme mit Todesfolge enthalte abgesehen von § 211 StGB die höchste Strafdrohung im StGB, die wesentlich höher liege, als 182 Beyer, NJW 1971, 2034: Es sei auffällig, daß der BGH nie den Versuch gemacht habe, § 316a unter Hinweis auf die hohe Strafdrohung einzuschränken. Beyer zitiert außerdem eine Äußerung aus dem Sonderausschuß, wonach die Rechtsprechung des BGH gezeigt habe, daß man mit der Formulierung des „Ausnutzens“ machen könne, was man wolle. 183 Kein Wort dazu auch in der Entscheidung BGHSt 18, 170, die ein landgerichtliches Urteil aufgehoben hat, in dem das „Ausnutzen“ verneint worden war. Auch die damalige Kommentarliteratur sah offenbar keinen Grund für eine restriktive Handhabung, vgl. z. B. Schönke/Schröder, StGB12, Werner, in: LK-StGB8, Schwarz/Dreher, StGB29, Floegel/Hartung, Straßenverkehrsrecht13, jeweils zu § 316a StGB. 184 Zu einem restriktiven Verständnis des § 316a StGB hat sich erst BGHSt 49, 8 durchgerungen, obwohl die Norm inzwischen einen minder schweren Fall kennt. Auf den nach wie vor hohen Strafrahmen hat der BGH sich dabei nicht berufen. 185 Der Fahrer hatte einen Angriff auf eine Mitfahrerin unternommen und 70 DM erbeutet. BGHSt 15, 322 erörtert zwar die verfassungsrechtliche Problematik der hohen Strafandrohung, erwägt aber nicht, diese zum Anlaß für eine einschränkende Auslegung zu nehmen. 186 Entsprechend BGHSt GS 30, 105 müßte dann die richterliche Konstruktion einer Milderungsmöglichkeiten erwogen werden. Das BVerfG hatte offenbar – anders als bei § 211 StGB – keine Gelegenheit, auf die Auslegung des § 316a StGB (a. F.) Einfluß zu nehmen.

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VI. Sinn und Zweck

wenn man lediglich auf die beiden zugrunde liegenden Tatbestände abstelle (Geiselnahme in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung). Angesichts dieses Unterschieds „ist die Folgerung zwingend, daß nicht der bloße Ursachenzusammenhang im Sinne der Bedingungstheorie gemeint sein kann187, wenn der Tatbestand“ die Verursachung des Todes „durch die Tat“ voraussetzt (S. 322 f.). „Vielmehr bedarf es eines zusätzlichen Merkmals, das geeignet erscheint, die hohe Strafdrohung zu rechtfertigen“ (S. 323). Ähnlich liege es bei der Körperverletzung mit Todesfolge.

Freilich ist es schwer vorherzusagen, wann die Rechtsprechung bei der Gesetzeskonkretisierung auf das Argument „hohe Strafdrohung“ zurückgreift. Zuweilen wird es gar nicht herangezogen, obwohl es sich aufdrängt (vgl. oben zu § 316a StGB a. F.), oder es wird zur Begründung einer „mittleren“ Lösung verwendet, obwohl es eher für eine noch engere Lösung spricht: Fall 315 (BGHSt 18, 363): Der Senat verlangt u. a. „im Hinblick auf die schwere Strafdrohung“ und auch aus sprachlichen Gründen für das Inbrandsetzen eines Gebäudes gemäß § 306 Nr. 2 StGB (i. d. F. bis zum 6. StrRG 1998), daß das Feuer aus eigener Kraft fortbrennen und daß es sich auf wesentliche Bestandteile des Gebäudes (Treppe, Fußboden, Wohnungstür) ausbreiten kann (S. 365 f.). Nicht erforderlich sei hingegen die Möglichkeit, daß das ganze Gebäude niederbrennt. – Ob der Strafrahmen und die sprachliche Fassung aber nicht doch für eine engere Lösung sprachen? Fall 316 (BGHSt 38, 116 – „Scheinwaffe“): Einen wenig überzeugenden Kompromiß vertritt BGHSt 38, 116 zum Thema „Scheinwaffe“ beim schweren Raub (§ 250 I Nr. 2 StGB i. d. F. bis zum 6. StrRG 1998). Entscheidend sei grundsätzlich nicht die objektive Gefährlichkeit der Situation, sondern daß nach dem Plan des Täters das Opfer davon ausgehen sollte, mit einer echten Waffe angegriffen zu werden (S. 117). Jedoch dürften objektive Aspekte nicht völlig unberücksichtigt bleiben. Wegen der hohen Mindeststrafe (fünf Jahre) sei der Anwendung des § 250 auf Scheinwaffen Grenzen gesetzt (S. 118). Der mitgeführte Gegenstand müsse objektiv dazu geeignet sein, beim Opfer den Eindruck der Gefährlichkeit zu erzeugen. Eine einschränkende Auslegung sei auch angesichts der Grenze des möglichen Wortsinns erforderlich (S. 119).188 – Es ist schwer von der Hand zu weisen, daß die hohe Mindeststrafe für eine engere Auslegung des § 250 I sprach,189 aber noch eher sprach sie dafür, die Scheinwaffe von vornherein nur als Fall des Grundtatbestandes anzusehen.

Gänzlich unmotiviert wird das Argument in folgender Entscheidung gebraucht, offenbar um die eigentlich notwendige Begründung für die restriktive Handhabung zu umgehen:

187

Klar ist nur, daß der Gesetzgeber mehr verlangt, aber nicht, was es ist. Der Wortsinn gab zur Lösung des Problems gar nichts her, vgl. Graul, JR 1992, 297 (299); Mitsch, NStZ 1992, 434 (435). 189 Zu Recht weist allerdings Mitsch (wie Fn. zuvor) darauf hin, daß der Senat das Strafrahmenargument mit dem minder schweren Fall des § 250 II StGB hätte entkräften können. 188

6. Höhe des Strafrahmens

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Fall 317 (BGHSt 21, 188): Gemäß § 236 I StGB a. F. wurde mit mindestens einem Jahr Zuchthaus bestraft, „wer eine Frau wider ihren Willen durch List, Drohung oder Gewalt entführt, um sie zur Unzucht zu bringen“. Apodiktisch subsumiert der Senat:190 „Wer eine Frau, die gewerbsmäßig Unzucht treibt, mit dem Kraftwagen nicht an die von ihr genannte Stelle fährt, an der sie sich gegen ein schon vereinbartes Entgelt hingeben will, sondern sie gegen ihren Willen an einen weiter entfernten Ort entführt, um ihr dort das Geld vorzuenthalten und sie gewaltsam zu mißbrauchen, hat nicht die Absicht, ,sie zur Unzucht zu bringen‘.191 Denn § 236 Abs. 1 StGB schützt mit seiner hohen Mindeststrafe die Freiheit der Frauen im geschlechtlichen Umgang überhaupt, nicht eine damit verbundene Erwartung einer Belohnung in Geld.“ – Die restriktive Anwendung der Norm hätte näherer Begründung als eines knappen Hinweises auf die Strafdrohung bedurft, denn daß die dem Wortlaut eindeutig unterfallende Konstellation von der ratio legis nicht erfaßt sein soll, ist zumindest nicht offensichtlich.192 Selbst wenn die hohe Mindeststrafe unangemessen erschiene, wäre das lediglich Ausgangspunkt für die weitere Frage, ob das eine Rechtsfortbildung rechtfertigte.193

Insgesamt ist das Argument „Höhe des Strafrahmens“ schwer einzuordnen. Es ist kein Bestandteil der klassischen canones,194 sondern lenkt eher – ähnlich wie der Topos „Ausnahmevorschrift“ (oben V 4) – den gesamten Auslegungsvorgang in eine bestimmte Richtung. Trivialer Ausgangspunkt des Arguments ist die Einsicht, daß der Gesetzgeber mit der erhöhten Strafdrohung größeres Unrecht kennzeichnet. Der Rechtsanwender muß diese Entscheidung im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen hinnehmen. Von da aus ist der erhöhte Strafrahmen Anlaß für die Prüfung, ob der Gesetzeswortlaut möglicherweise zu weit geraten ist, und dient damit der Vorbereitung sowie Unterstützung einer Rechtsfortbildung. Bei Unklarheit über den Inhalt der verschärften Norm zieht die Praxis das Argument nicht selten zur Rechtfertigung oder Unterstützung einer restriktiven Lösung heran. Die Argumentation erscheint dann allerdings 190

Bis auf einen Satz ist die Entscheidung komplett zitiert! Rejewski (JR 1967, 339) versucht, diesen Gedanken zu konkretisieren: Der Täter handele mit dem Wissen, daß die Weigerung des Opfers sich nicht gegen die Unzucht mit ihm als solche, „sondern nur gegen deren gewaltsame Vornahme ohne Entgelt“ richte. – Aber damit ist doch nicht die Tatsache aus der Welt, daß die „Dirne“ in der konkreten Situation keinen Geschlechtsverkehr wollte und der Täter dies wußte. 192 Die zust. Anmerkungen belegen das Begründungsdefizit nur noch deutlicher, insbesondere die pathetischen Ausführungen von Stöcker (MDR 1967, 938): Wie häufig im Recht stelle sich die Frage, was höher steht: „Rechtsbegriffe oder das Wohl und Wehe der Rechtsbetroffenen. . . . Sollte man um buchstäbelnder Begriffsreinheit willen die überhöhte Strafdrohung des § 236 Abs. 1 StGB zum Zuge kommen lassen?“ Instruktiv zur Entscheidung des BGH, zur Kritik und Gegenkritik Hruschka, JR 1968, 454. 193 Daß die hohe Mindeststrafe unpassend ist, bestätigen auch die Kritiker des BGH, verweisen aber zu Recht zugleich darauf, daß insoweit nur der Gesetzgeber Abhilfe schaffen könne; vgl. Roxin, NJW 1967, 1286 (1287), Schröder, JR 1967, 226 (227) und Hruschka, JR 1968, 454 (455 f.). 194 Näher Kudlich, ZStW 2003, 1 (3 ff.). 191

534

VI. Sinn und Zweck

kaum je zwingend; insbesondere gibt die Höhe der Strafdrohung keinen Maßstab für die Einschränkung vor. Sicher ist nicht einmal, ob der hohe Strafrahmen für eine restriktive Auslegung oder nur gegen eine (zu) ausdehnende Gesetzesanwendung spricht.195

7. Der Grundsatz „wirkungsmächtiger Auslegung“ 196 / Gefahr der Aushöhlung Unter dem Grundsatz der „wirkungsmächtigen Auslegung“ wird hier eine Interpretation verstanden, die darum bemüht ist, Normen einen nennenswerten, sinnvollen und im Vergleich zu anderen Normen abgewogenen Anwendungsbereich zu erhalten.197 Weniger ist damit gemeint, den Normen ein besonders weites Einsatzgebiet zu verschaffen, wie man es vielleicht bei der („optimierenden“) Auslegung von Grundrechten, nicht aber im Bereich des Strafrechts in Betracht ziehen kann.198 Der Grundsatz der wirkungsmächtigen Auslegung kann einmal als teleologisches Argument klassifiziert werden, denn es widerspricht Sinn und Zweck der Norm, ihr den zugedachten Anwendungsbereich zu entziehen.199 Insoweit ist nicht selten von der Gefahr der (zweckwidrigen) „Aushöhlung“ der Norm die Rede.200 Dem Topos „wirkungsmächtige Auslegung“ kommt jedoch über die teleologische Sinnbestimmung hinaus noch eine weitergehende Bedeutung zu. Vorrangig beruht der Grundsatz auf objektiv-systematischen Überlegungen,201 denn er basiert auf der Vorstellung eines „sinnvollen (optimalen) Ganzen“ oder auf der Unterstellung, daß der Gesetzgeber wohl keine bedeutungslose Norm erläßt oder sinnlose Überschneidungen und Redundanzen verursacht. BGHSt 2, 99 (oben Fall 132) verwirft die enge, wortlautnahe Auslegung des § 252 StPO (nur Verlesungsverbot) u. a. mit dem Argument, daß die Norm dann überflüssig wäre, denn ein Verlesungsverbot folge schon aus § 250 StPO (S. 102).

195 Die gleiche Unsicherheit besteht wiederum bei der Auslegung von Ausnahmevorschriften. 196 Ausdruck bei Lerche, in: FS BVerfG, Band 1, S. 358. 197 Tiedemann, Anfängerübung, S. 82; Wank, Auslegung, S. 81. 198 Unter dem Aspekt des „möglichst hohen Wirkungsgrades“ von Normen erörtert Lerche die Thematik (in: FS BVerfG, Band 1, S. 358) und weist auf die damit einhergehende Gefahr hin, daß die Norm über ihren eigentlichen Gehalt hinaus mit zusätzlichen Inhalten aufgeladen werde. 199 Vgl. sogleich BGHSt 24, 72 (81). Wank (Auslegung, S. 79 ff.) differenziert innerhalb der teleologischen Auslegung allgemein zwischen dem konkreten Regelungszweck eines Gesetzes und abstrakten Normzwecken, „die allen Gesetzen gemeinsam sind“; zu den abstrakten Normzwecken gehöre auch der Gesichtspunkt der effizienten Auslegung; auf dieser Basis liegt ein teleologisches Argument vor. 200 Vgl. z. B. BGHSt 1, 334 (335); 17, 166 (171) = unten Fall 320. 201 Siehe sogleich BGHSt 45, 211 (218): „Gründe der Systematik“.

7. Der Grundsatz „wirkungsmächtiger Auslegung‘‘/Gefahr der Aushöhlung 535 BGHSt 6, 25 (oben Fall 12) räumt Zweifel aus der Entstehungsgeschichte aus: Soll die Neufassung „überhaupt einen Sinn haben“, müsse die Subsidiaritätsklausel auch die Fälle der Tateinheit erfassen (S. 26 f.). Würde sie auf die Fälle der Gesetzeseinheit beschränkt, „hätte es [ihrer] nicht bedurft; denn das war auch vor der Neufassung beider Bestimmungen Rechtens“ (S. 27). — Ähnlich äußert sich BGHSt 24, 72 (81): „Legte man die Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts zugrunde, so würde die Subsidiaritätsklausel des § 99 StGB ihre praktische Bedeutung weitgehend verlieren. Das würde dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift widersprechen.“202 BGHSt 45, 211 (oben Fall 11) stützt seine Ansicht, wonach es für die Ermöglichungsabsicht in § 306b II Nr. 2 StGB genügt, daß der Brandstifter einen Versicherungsbetrug beabsichtigt auch auf „Gründe der Systematik“; bei einer einschränkenden Auslegung hätte die andere Alternative der Norm (Verdeckungsabsicht) einen „außerordentlich schmalen“ Anwendungsbereich (S. 218). — Ein sinnvolles Nebeneinander von Tatbestandsalternativen will BGHSt 17, 280 bei der Auslegung des § 176 I Nr. 3 StGB a. F. zugrunde legen: Wollte man vorliegenden Fall „in den Bereich der ersten Begehungsform übernehmen, dann würde der Tatbestand . . . seines selbständigen Anwendungsbereichs beraubt und damit in Wirklichkeit ausgeschaltet werden“ (S. 283 f.).203

Ausgehend von der Prämisse eines „sinnvollen Ganzen“ ist eine Auslegung, die eine unanwendbare, überflüssige oder fast bedeutungslose Vorschrift bzw. Tatbestandsalternative zurückließe, zumindest stark begründungsbedürftig. Die Senate sind bemüht, keinen Torso zurückzulassen, und zum Teil erleichtert, wenn eine Norm noch irgendeine Funktion erfüllt: Kein großer, aber immerhin noch denkbarer Anwendungsbereich verbleibt § 113 II Nr. 2 StGB nach der Auslegung durch die Entscheidung BGHSt 26, 176 (oben Fall 23), die hinsichtlich der Todesgefahr Vorsatz des Täters verlangt. Dadurch werde die Norm „nicht bedeutungslos“, denn der Gefährdungsvorsatz sei noch kein Verletzungsvorsatz (S. 182). BGHSt 17, 309 (oben Fall 215) läßt dahinstehen, ob die Interpretation zu ändern sei, „wenn § 41a GewO ohne Strafbewehrung seinen Zweck verfehlte und keinen Sinn behielte“ (S. 318 f.). Die Norm erfülle auch so „eine sinnvolle Aufgabe“ und zwar als Rechtsgrundlage für verwaltungsrechtliche Maßnahmen (S. 319). – In diesem eingeschränkten Sinn dürfte der Gesetzgeber die Norm freilich kaum verstanden haben, vgl. oben Fall 215.

BGHSt 42, 200 müht sich mit der Auslegung einer völlig mißlungenen Norm, bei der kein Wille des Gesetzgebers ersichtlich ist. Die Sinngebungsversuche führen zum geringsten Übel: Die erstgenannte Auslegung sei auch deshalb nicht erwägenswert, weil der Vorschrift dadurch „kein denkbarer Regelungsgehalt“ bliebe, während die zweite Deutungsmöglichkeit der Norm immerhin „einen – wenn auch geringen – Regelungsgehalt“ einräume (S. 204). 202

Vgl. auch BGHSt 47, 243 = oben Fall 105 und dort Fn. 591. Siehe außerdem BGHSt 44, 145 (149): § 80a II 2 OWiG käme bei anderer Auffassung „kein eigenständiger Regelungsgehalt“ zu. 203

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VI. Sinn und Zweck

Das zeigt allerdings zugleich die in diesem Topos angelegte objektivierende Tendenz. Daß der Gesetzgeber ein widerspruchsfreies und wohlabgestimmtes Ganzes schafft, bleibt eine Fiktion, die den tatsächlichen Gegebenheiten nicht gerecht wird. Es gibt viele Gründe, welche dieser Fiktion die Grundlage entziehen können, wie etwa ein gesetzgeberisches Versehen, die ständige Weiterentwicklung der Kodifikation oder der Wandel tatsächlicher Umstände. BGHSt 9, 370 verweist als zusätzliches Argument für die These, daß die Teilnahme eine vorsätzliche Haupttat verlange, auf andernfalls überflüssige Normen, die der Gesetzgeber (mit Absicht) habe stehen lassen (S. 378).204 – Mehr als ein Indiz liegt in diesem Argument nicht. Womöglich hat der Gesetzgeber das Gesamtsystem lediglich nicht „sauber“ durchkonstruiert. Unbehagen angesichts des geringen Anwendungsbereichs einer Strafbefreiungsnorm verspürt offenbar BGHSt 9, 310 (318): „Der Senat verkennt nicht, daß § 129 Abs. 4 StGB [a. F.] . . . bei wort- und sinngemäßer Auslegung nur in besonderen Ausnahmefällen angewendet werden kann und somit so gut wie bedeutungslos ist.“ Zu einer Gesetzeskorrektur sieht der Senat sich jedoch nicht berechtigt: „Die Gerichte sind nicht in der Lage, insoweit Abhilfe zu schaffen. Sie sind an das Gesetz gebunden, das . . . die Vergünstigung nur dann gewährt, wenn . . .“ (S. 319). Eine gesetzgeberische Fehlkonstruktion wird man auch in der Ausgestaltung des § 258 I StGB erkennen können, wenn man – wie es der Wortlaut nahelegt – für das „Vereiteln“ der Strafe deren endgültige Verhinderung verlangt (siehe Fall 93).205 Dagegen sprach neben dem historischen Willen des Gesetzgebers das objektiv-systematische Argument, daß nach dieser Auslegung die Norm nur noch in seltenen Ausnahmefällen als vollendetes Delikt verwirklicht werden könnte206 und damit bis zur „Sinnlosigkeit“ reduziert würde207. Es ist in der Tat unwahrscheinlich, daß der Gesetzgeber eine Norm schaffen wollte, die fast ausschließlich in der Form des Versuchs verwirklicht werden kann. Aber der Wortlaut könnte sowohl für die subjektivhistorische als auch die systematische Betrachtung ein unüberwindliches Hindernis darstellen. Mit dieser zentralen Frage beschäftigt die Rechtsprechung sich jedoch nur kursorisch (näher oben Fall 93).

Weiter können nachträgliche Ergänzungen von Normen das System in Schieflage bringen und den überkommenen Vorschriften (unbeabsichtigt) ihren Anwendungsbereich nehmen. Die ständige Fortschreibung der Kodifikation bringt das ursprünglich vorhandene oder durch Auslegung erzielte Gleichgewicht ins Wanken. Eine vorsichtig korrigierende, systematische Auslegung vermag die Harmonie zu bewahren oder wiederherzustellen:

204

Gleiche Argumentation in BGHSt 47, 89 (97) = oben Fall 201. Als „offensichtliches Redaktionsversehen“ bezeichnet von Schroeder, in: Maurach/Schroeder, Strafrecht BT II6, S. 323. 206 So OLG Karlsruhe JR 1989, 210 (211) und z. B. Dölling, JR 2000, 379. 207 So Maiwald, in: Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT II8, § 100, Rn. 14, der deshalb eine Korrektur für legitim hält. 205

7. Der Grundsatz „wirkungsmächtiger Auslegung‘‘/Gefahr der Aushöhlung 537 BGHSt GS 8, 301 legt dar, weshalb es nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen kann, daß die Einführung des § 153 StGB zu einer vermehrten Anwendung des § 157 StGB auf den Meineid (§ 154) führt. Dadurch „würde die Strafdrohung für den Meineid weithin außer Kraft gesetzt“ (S. 320). Nichts spreche dafür, daß der Gesetzgeber mit der Einführung einer neuen Strafvorschrift den Schutz der Rechtspflege vor Meineiden habe schwächen wollen. Fall 318 (BGHSt 27, 216 – „Vorstrafen“; vgl. oben Fall 237): Bis zum StPÄG von 1964 erörterten die Gerichte die Vorstrafen des Angeklagten regelmäßig schon zum Zeitpunkt der Vernehmung über seine persönlichen Verhältnisse (§ 243 II StPO a. F.), also vor der Beweisaufnahme. Der Gesetzgeber änderte die Bestimmung 1964, um den Angeklagten vor Bloßstellungen zu schützen, und normierte in § 243 IV 2, 3 StPO, daß Vorstrafen nur dann festgestellt werden sollen, wenn sie für die Entscheidung von Bedeutung sind; den Zeitpunkt ihrer Feststellung „bestimmt der Vorsitzende“. Mit dieser Änderung sollte nach Ansicht von BGHSt 27, 216 aber nicht das Verfahren nach § 231 II StPO erschwert werden, wonach gegen den abwesenden Angeklagten weiterverhandelt werden darf, wenn er bereits über die Anklage vernommenen wurde (S. 219). Zur Vernehmung über die Anklage zähle deshalb nicht die Erörterung der Vorstrafen. „Wollte man das nicht annehmen, so wäre der Anwendbarkeit des § 231 Abs. 2 StPO auf diesem Wege weitgehend der Boden entzogen.“ – Die unerwünschten Auswirkungen der Gesetzesänderung auf den anderen Normbereich dürfen berücksichtigt werden, wenn die Modifikation des Vernehmungsbegriffs nicht seinerseits gegen den gesetzgeberischen Willen verstößt.

Auch durch den Wandel der tatsächlichen Verhältnisse droht der Anwendungsbereich der Norm verlorenzugehen: BGHSt 8, 102 (oben Fall 66) meint, „eine Auslegung, die für den Begriff der Gewalt im Sinne des § 80 StGB körperliche Kraftentfaltung fordert, würde . . . die praktische Bedeutung der Vorschrift weitgehend entwerten“ (S. 103). Die Gegenwart kenne „andere und nicht minder wirksame Methoden des gewaltsamen Umsturzes“.

Demgegenüber ist zu konstatieren, daß die Normerhaltung an sich kein relevanter Gesichtspunkt der Auslegung ist. Eventuell hat die Vorschrift – unwahrscheinlich, aber doch denkbar – ihr Ziel tatsächlich erreicht208 oder die Welt hat sich in einer Weise verändert, daß eine neue Entscheidung des Gesetzgebers notwendig ist. Die Anpassung der Interpretation an neue Umstände hängt davon ab, ob das der gesetzgeberischen Zielvorstellung entspricht und ob die Ausgestaltung der Norm es zuläßt,209 also von den üblichen Kriterien der Auslegung. Insgesamt erweist sich die drohende Bedeutungslosigkeit von Normen oder ihren Alternativen als zwiespältiger Faktor der Gesetzeskonkretisierung. Die Unterstellung, der Gesetzgeber habe ein vernünftiges und abgewogenes System geschaffen, in dem jeder Norm eine sinnvolle Funktion zukommt, ist nicht zuletzt aus normästhetischen Gesichtspunkten sympathisch, beruht allerdings auf 208 209

Zum „cessante-Grundsatz“ oben IV 5 b am Ende. Eingehend zu diesen Fragen oben III 7 c und d, IV 5.

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VI. Sinn und Zweck

einer Fiktion, der mit unterschiedlichen Gründen der Boden entzogen werden kann. Daß der Gesetzgeber nichts Sinnloses schafft, ist demnach allenfalls eine widerlegbare Vermutung. Nicht verwunderlich ist, daß die Rechtsanwendung und -dogmatik den Druck verspürt, ein „schiefes“ System zu harmonisieren. Der juristische Verstand denkt selbst wie ein Gesetzgeber („Wie sollte es sein“) und wehrt sich gegen die Konsequenz, eine unsystematische Lösung zurückzulassen. Insoweit besteht die Gefahr der nicht gerechtfertigten Gesetzeskorrektur.

8. Gesetzesumgehungen/Schutzbehauptungen/ Beweisschwierigkeiten Im Grenzbereich zwischen kriminalpolitischer und teleologischer Betrachtung bewegen sich Argumentationen, die bei der Gesetzesauslegung Umgehungsmöglichkeiten des Täters, drohende Schutzbehauptungen und mögliche Beweisschwierigkeiten berücksichtigen wollen. Am wenigstens „verdächtig“ erscheint insoweit der Aspekt der Gesetzesumgehung. Er beruht auf der Erwägung, daß Interpretationen zu vermeiden sind, die es dem Täter ermöglichen, durch gezielte Maßnahmen der von ihrem Schutzzweck her eigentlich einschlägigen Strafnorm zu entgehen. Zur Illustration kann BGHSt 41, 348 (oben Fall 88 – „Bausatztheorie“) dienen. Der Senat ist der Ansicht, daß ein Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz auch dann vorliegt, wenn die Waffe in ihre Einzelteile zerlegt als zusammensetzbarer „Bausatz“ geliefert wird. Der Wortlaut lasse dieses Verständnis zu (S. 355). Eine andere Auslegung würde Umgehungsmöglichkeiten eröffnen. – Pottmeyer hat eingewandt, es sei im Strafrecht „schlechthin unzulässig, auf das Rechtsinstitut der Gesetzesumgehung zurückzugreifen“ (wistra 1996, 121 [123]). Sei ein Verhalten (wie hier) nicht mehr vom Wortlaut erfaßt, falle es aus dem Anwendungsbereich der Norm heraus, auch „wenn es in ähnlicher Weise strafwürdig erscheinen mag“.

Vom Schutzzweck des Kriegswaffenkontrollgesetzes her macht es keinen Unterschied, ob die Waffe zusammengesetzt oder als kompletter und zusammensetzbarer Bausatz geliefert wird. So gesehen ist der Gesichtspunkt der Gesetzesumgehung zweitrangig. Mit ihm wird nur noch auf die mißliche Konsequenz der Gegenansicht hingewiesen, daß der Täter die Gesetzesvereitelung auch noch selbst in der Hand hätte. Soweit es der Wortlaut zuläßt, können drohende Zweckvereitelungen bei der Auslegung berücksichtigt werden. Ganz parallel liegt folgender Fall 319 (BGHSt 3, 1): Der Senat prüft die Frage, wann ein Beförderungsmittel bei Zollverstößen „zur Begehung der Tat“ benutzt wurde und damit der Einziehung gemäß § 401 AO (a. F.) unterliegt. Der Senat lehnt es ab, danach zu differenzieren, ob der Transport des abgabenpflichtigen Guts der einzige, hauptsächliche oder überwiegende Zweck der Fortbewegung ist. Die dahingehende Gegenmeinung führe zu unlösbaren Abgrenzungsfragen, zur Maßgeblichkeit von Zufälligkeiten und zu Verstößen gegen das Gebot der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit (S. 2). „Eine

8. Gesetzesumgehungen/Schutzbehauptungen/Beweisschwierigkeiten

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Rechtsprechung, die den überwiegenden Beförderungszweck für maßgebend erklärt, würde überdies zur Folge haben, daß sich der Schmuggler der Gefahr der Einziehung seines Beförderungsmittels entziehen könnte, indem er dem Schmuggelgut andere Beförderungsgegenstände von überwiegendem Wert, Gewicht oder Umfang beifügt. . . . Alle diese Folgen können rechtspolitisch nicht in Kauf genommen werden, wenn man nicht die Wirksamkeit des § 401 RAbgO preisgeben will, der nach dem Willen des Gesetzes eine schlagkräftige Waffe zur nachdrücklichen Bekämpfung von Zoll- und Steuervergehen sein soll.“ – Wiederum hat das Argument der Gesetzesumgehung nur unterstützende Funktion. Mit der Gegenansicht würde man dem (weiten) Schutzzweck der Norm, aber auch anderen Gesichtspunkten nicht gerecht. Zu Unrecht kennzeichnet der Senat seine Argumentation als „rechtspolitisch“. Ähnliches zeigt sich bei der Problematik des „faktischen Geschäftsführers“ (oben Fall 85). Nach Ansicht des BGH muß das Konkursstrafrecht auch auf die Personen Anwendung finden, die tatsächlich (aber nicht im Rechtssinne) die Position des Geschäftsführers ausüben, denn andernfalls würde der Durchgriff auf die eigentlich Verantwortlichen vereitelt; ein anderes Ergebnis wäre ungerecht (BGHSt 21, 101 [105]). – Auf den Gedanken der Gesetzesumgehung geht der BGH nicht eigens ein, aber er greift auch hier: Durch das Vorschieben von „Strohmännern“ könnten die „bösen Buben“ sich ihrer Verantwortung entziehen. Der Zweck der konkursstrafrechtlichen Regelungen erfaßt auch sie. Fraglich bleibt allein, ob der Sprachgebrauch das erwünschte Ergebnis zuläßt (eingehend dazu oben Fall 85).

Drohende Gesetzesumgehungen210 gehen demnach in der teleologischen Auslegung auf. Besonderer Grundsätze für ihre Behandlung bedarf es nicht.211 Schwieriger stellt sich die Situation bei den Schutzbehauptungen und den Beweisschwierigkeiten der Praxis dar. Bei den drohenden Schutzbehauptungen oder Einlassungen des Angeklagten geht es darum, daß eine bestimmte Gesetzesinterpretation es dem Täter ermöglicht, sich ohne Rechtfertigung Behauptungen zunutze zu machen, deren Widerlegung kaum oder nur mit erheblichem Aufwand möglich ist. Beweisschwierigkeiten der Praxis können aber ganz unabhängig von etwaigen Manipulationsmöglichkeiten des Täters auch dadurch entstehen, daß die Gesetzesdeutung von vornherein zu hohe oder schwer erfüllbare Anforderungen an die Beweisbarkeit ihrer Voraussetzungen stellt. Es ist jedoch fraglich, ob solche Erwägungen die Auslegung beeinflussen dürfen. Eher handelt es sich dabei um kriminalpolitische Erwägungen, die als Annex einer teleologischen Auslegung erscheinen, oder auch um Praktikabilitätserwägungen, mit denen Bedürfnissen der Praxis Rechnung getragen werden soll.212 Daß ihre Heranziehung zumindest Bedenken erweckt, gesteht auch der BGH ein: BGHSt 15, 88 (siehe oben Fall 309) hält bei der Anwendung der § 332 StGB einen etwaigen inneren Vorbehalt des Amtsträgers, die zugesagte Pflichtverletzung nicht 210 Weitere Fälle, in denen das Argument freilich nicht näher ausgeführt wird: BGHSt 5, 124 (128) und BGHSt 17, 267 (276). 211 Kramer, Methodenlehre, S. 158. 212 Dazu unten VI 10.

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zu begehen, für unerheblich. Konsequent müßte dies nämlich auch für § 331 gelten, so daß lediglich Disziplinarunrecht bliebe; das aber „scheint dem Senat unerträglich zu sein“ (S. 99). „Der vielleicht mögliche Gesichtspunkt des Betruges erfaßt das Unrecht nicht in seiner vollen Bedeutung. In diesem Zusammenhang dürfen legitimerweise auch Beweisschwierigkeiten berücksichtigt werden. Es ist regelmäßig nicht feststellbar, ob der Beamte sich ohne oder mit innerem Vorbehalt als käuflich gegeben hat; Wahlfeststellung zwischen Bestechlichkeit und Betrug ist aber unzulässig“ (S. 99 f.). – Ob § 263 aushelfen kann, ist angesichts der anderweitigen Schutzrichtung dieser Bestimmung unbeachtlich; die Norm dient dem Senat allenfalls als kriminalpolitische Notlösung. Die Frage, ob der innere Vorbehalt bei §§ 331, 332 beachtlich oder unbeachtlich ist, muß nach den übrigen Auslegungskriterien entschieden werden. Dafür aber dürfen Beweisschwierigkeiten keine Rolle spielen, denn es geht um das Ob der Strafbarkeit!

In folgender Entscheidung bezeichnet es der BGH als „rechtspolitisches Erfordernis“, etwaigen Einlassungen des Täters vorzubeugen: Fall 320 (BGHSt 17, 166 = oben Fall 233): Der Senat stützt seine eingehend begründete Ansicht, wonach die Hilfeleistungspflicht bei Unglücksfällen nach § 330c StGB (a. F.) nicht von der Erfolgsaussicht abhängen darf, schließlich mit einem „rechtspolitischen Erfordernis“: Andernfalls wäre gerade in Fällen größter Gefahr die Einlassung des Täters, dem Verunglückten habe nicht mehr geholfen werden können, oft nicht zu widerlegen; die Norm würde dadurch „ausgehöhlt“.213 – Es kommt allein darauf an, ob der Normzweck für die Erfassung der fraglichen Fälle spricht und die Ausgestaltung der Norm die Subsumtion zuläßt. Widerspräche es dem Gesetzesweck, in aussichtslosen Fällen die Hilfspflicht zu bejahen, dann verlöre das Argument der drohenden Einlassungen seine Basis: Denn allein die Gefahr, daß auch andere Täter sich dieser Ausrede (zu Unrecht) bedienen könnten, kann die Strafbarkeit für diese Konstellation nicht begründen. Entspricht die Erfassung des Falles hingegen dem Gesetzeszweck, dann handelt es sich bei den Schutzbehauptungen – wie bei den Gesetzesumgehungen – um kein Argument, das die Begründung noch wesentlich stärkt.

Im Ergebnis sind in den Konstellationen der Gesetzesumgehung, der drohenden Schutzbehauptung und der Beweisschwierigkeiten in Wirklichkeit andere Auslegungsfaktoren, insbesondere der Gesetzeszweck maßgebend. Vor allem taugen sie nicht als Argumente zur Begründung der Strafbarkeit. Hinsichtlich drohender Schutzbehauptungen und Einlassungen ist im übrigen darauf zu verweisen, daß in aller Regel die Grundsätze zur richterlichen Überzeugungsbildung (§ 261 StPO) hinreichend Spielraum bieten, um den Schwierigkeiten gerecht zu werden.214

213 Die Furcht vor unberechtigten und kaum zu widerlegenden Standardeinlassungen des Täters sieht z. B. auch Beulke (NJW 1979, 400 [404, l. Sp.]) als kriminalpolitisches Argument. 214 In diesem Sinn z. B. Beulke, NJW 1979, 400 (404) und vor allem BGHSt 47, 89 (99) = unten Fall 343.

9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee

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9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee Unbestreitbar spielen in Entscheidungsbegründungen der Strafsenate allgemeine Gesichtspunkte der Rechtssicherheit und Gerechtigkeit eine gewichtige Rolle. Beide Prinzipien werden als Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips angesehen,215 sind darüber hinaus aber – neben dem Kriterium der Zweckmäßigkeit – allgegenwärtige Bestandteile der Rechtsidee. Was genau sich dahinter verbirgt, wenn die Praxis diese Argumente gebraucht, und wie sie sich zu den „einfachen“ Kriterien der Gesetzesauslegung verhalten, ist schwer zu bestimmen. Im Schrifttum werden Rechtssicherheit und Gerechtigkeit teilweise als „objektiv-teleologische“ Kriterien behandelt, die bei der Normkonkretisierung zu berücksichtigen sind oder diese sogar leiten.216 In Wirklichkeit wird man differenzieren müssen. Zunächst können die genannten Prinzipien unmittelbar als höherrangiges Recht auf den Auslegungsprozeß einwirken, methodisch gesehen im Weg systematischer Auslegung. Zu unspezifisch wäre es insoweit allerdings, die beiden Prinzipien direkt als Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips einfließen zu lassen, denn jede Entscheidung hat im weiteren Sinn mit diesen Prinzipien zu tun. Ihr hoher Abstraktionsgrad muß deshalb soweit als möglich reduziert werden. Als konkretes Verfassungsrecht schlägt die Gerechtigkeit vor allem durch den Grundsatz der Gleichbehandlung auf die Rechtsanwendung durch, während die Rechtssicherheit im Strafrecht in erster Linie durch das Gesetzlichkeitsprinzip verwirklicht wird. Bedeutung hat die Gerechtigkeit zudem beim Auffinden und Schließen von Regelungslücken. Ferner gibt es eine Reihe von Normen, die unmittelbar die Antinomie zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit entscheiden, so daß die Auslegung zwangsläufig mit diesen Kriterien arbeiten muß. Schließlich können Gerechtigkeit und Rechtssicherheit der Auslegung bei verbleibendem Spielraum eine Richtung geben. Insbesondere die Rechtssicherheit gibt insoweit handhabbare Ideale vor (Rechtsklarheit, Orientierungsgewißheit, Vermeidung von Abgrenzungsproblemen). Auf Seiten der Gerechtigkeit besteht freilich die Gefahr, daß mit einem diffusen „Gerechtigkeitsgefühl“ argumentiert wird. Zu weit ginge es, die drei Komponenten der Rechtsidee (oder eine davon) als Metakriterien zu betrachten, die jede Normdeutung zu beachten hätte. Alles 215

BGHSt 24, 54 (60 f.); 45, 37 (38). Sehr weitgehend z. B. Schmidhäuser, Strafrecht AT, 5/33 f.: Jede vernünftige Auslegung sei objektiv-teleologisch, ihre Wertprinzipien die Achtung der Menschenwürde, der Wert der Gerechtigkeit und der Wert der Rechtssicherheit. Brühl (Juristische Fallbearbeitung, S. 54) führt unter dem Stichwort „Normzweck“ als zu berücksichtigende Faktoren die „allgemeinen Ziele des Rechts“ wie das Streben nach Rechtsfrieden und Rechtssicherheit auf. Kohlrausch/Lange (StGB41, S. 32) differenzieren zwischen Zielen und Mitteln der Auslegung; die Auslegung müsse in erster Linie der „Gerechtigkeitsidee“ entsprechen und sich daneben am „Wert der Rechtssicherheit“ orientieren. 216

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VI. Sinn und Zweck

Recht bewegt sich im Spannungsfeld der Rechtsidee, und der Gesetzgeber selbst entscheidet, welcher Ausprägung er in der jeweiligen Norm den Vorzug einräumt. Im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen ist diese Entscheidung maßgeblich.217 Führt eine Auslegung nach den klassischen Kriterien zu Ergebnissen, die sich an der Rechtsidee reiben, mag das Anlaß sein, nach Fehlern in der Auslegung, nach gleichermaßen vertretbaren Lösungen, nach Gesetzeslükken oder Gesetzesfehlern zu suchen.218 Eine mehr oder weniger bewußte „Begleitkontrolle“ (Bydlinski) des Auslegungsergebnisses anhand der Rechtsidee wird der Rechtsanwendung häufig zugrunde liegen.219 Auch daß das Streben nach einer gerechten Entscheidung die Handhabung des Auslegungsinstrumentariums in gewisser Weise steuert, wird man kaum in Abrede stellen können. In beiden liegt jedoch die Gefahr der Entscheidung contra legem begründet. a) Rechtssicherheit, Rechtsklarheit, Trennschärfe Das Gebot der Rechtssicherheit wird in der Rechtsordnung durch viele Einzelvorschriften verwirklicht. Für das Strafrecht steht das verfassungsrechtlich gesicherte Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 II GG) ganz im Mittelpunkt. Keiner Begründung bedarf die Relevanz des aus dem Gesetzlichkeitsprinzip abgeleiteten Analogieverbots für die Auslegung des materiellen Strafrechts. Aus Gründen der Rechtssicherheit ist der Bürger vor wortlautüberschreitender und damit unvorhersehbarer Rechtsanwendung geschützt.220 In Einzelfällen bejaht der BGH auch in anderen Rechtsfragen über Art. 103 II GG hinaus ein Verbot der Gesetzeskorrektur oder -ergänzung zulasten des Betroffenen. So verbietet es nach Ansicht von BGHSt 17, 21 (26) das „Erfordernis der Rechtssicherheit“, eine Fristvorschrift im Rechtsmittelrecht gegen ihren klaren Wortlaut auszulegen.

217 Larenz, Methodenlehre, S. 349: Das Streben nach einer gerechten Entscheidung darf nicht zu einer Gesetzesmanipulation führen. Bydlinski, Methodenlehre, S. 566 f.: Von krassen Fällen abgesehen darf keine Korrektur des positiven Rechts mit Hilfe der Rechtsidee erfolgen. 218 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 349: Ungerechte Ergebnisse als „Warnzeichen“ und Bydlinski, Methodenlehre, S. 565: Die „Begleitkontrolle“ anhand der Rechtsidee könne eine Rechtsfortbildung vorbereiten. 219 Ein anspruchsvolleres Konzept, das auf der Gegenüberstellung von positivem Recht und Rechtsidee beruht und die Rangfolgeproblematik der juristischen Methodenlehre lösen will, verfolgt Bydlinski (Methodenlehre, S. 553 ff.). Ausgangspunkt ist die Annahme, daß ein Rechtsproblem dann voll gelöst ist, wenn die Lösung dem positiven Recht entspricht und im Einklang mit der Rechtsidee steht (S. 559). Führt bereits der Einsatz der einfachen und verläßlichen Methoden zu einem, gemessen an der Rechtsidee, befriedigenden Ergebnis, ist der Rückgriff auf schwierigere Methoden entbehrlich. – Die Tragfähigkeit dieses Modells kann hier nicht untersucht werden. 220 Eingehend dazu oben III 7.

9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee

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Weniger plausibel erscheint auf den ersten Blick, daß mit dem Bestimmtheitsgebot eine weitere Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips die Gesetzesauslegung beeinflußt, denn primärer Adressat des Bestimmtheitsgebots ist die Legislative, die den Strafvorschriften einen erkennbaren Inhalt geben muß. In der Rechtsprechung wirkt sich dies zunächst in bezug auf Normen aus, die diesen Anforderungen nicht genügen oder zumindest Zweifeln unterliegen. Auf dem Weg einer verfassungskonformen Auslegung wird dann nachgeholt, was „eigentlich“ Auftrag des Gesetzgebers wäre: Nach Ansicht von BGHSt 4, 24 (32) ist der Verweis des § 226a StGB a. F. auf das Sittengesetz vom „rechtsstaatlichen Standpunkt aus nicht ohne grundsätzliche Bedenken. Er kann weitgehende Unsicherheit darüber zur Folge haben, welche Tatbestände mit Strafe bedroht sein sollen. Eine derart unbestimmte Vorschrift muß, um in einem Rechtsstaat erträglich zu sein, zugunsten des Angeklagten eng ausgelegt werden.“ Deshalb müsse zweifellos strafwürdiges Unrecht vorliegen. — BGHSt 35, 340 (341 f.) verlangt aufgrund der Unbestimmtheit der Begehungsform und der daraus resultierenden Gefahren eine möglichst eindeutige Abgrenzung.

Weiter ist denkbar, daß eine Norm zwar ausreichend bestimmt ist, nicht aber eine zu ihr vertretene Auslegungshypothese, die zu unvorhersehbaren Ergebnissen führen würde. Erklärte man den Inhalt der vorgeschlagenen Auslegungshypothese zum Gesetz, genügte dieses selbst nicht dem Bestimmtheitsgebot.221 Deshalb muß auch die Auslegung verworfen werden: Fall 321 (BGHSt 2, 181 und 393): Die Frage, ob ein Vergehen oder Verbrechen i. S. von § 1 StGB (a. F.) vorliegt, darf nach Ansicht des BGH nicht von der konkret verhängten Strafe und Strafzumessungserwägungen abhängen, sondern muß sich nach abstrakten und damit vorhersehbaren Maßstäben bestimmen. Die Gegenauffassung würde zu „unerträglichen Unsicherheiten“ führen (S. 395), da etwa die Versuchsstrafbarkeit und die Verjährung von unklaren Umständen und Einzelfallwertungen abhingen. „Dieses Ergebnis entspricht auch allein dem Gebot der Rechtssicherheit“ (S. 183). Die „gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit“, für die § 1 StGB eine Grundlage bilde, sei nur bei tatbestandsmäßig festliegenden Merkmalen gesichert. – Würde der Gesetzgeber die Gegenauffassung festschreiben, müßte sein Gesetz mangels vorhersehbarer Ergebnisse als Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot für verfassungswidrig erklärt werden.

Leider verhält es sich mit den beiden vorgestellten Konstellationen in Wirklichkeit komplizierter. Die Probleme wurden bereits eingehend erörtert (oben V 7); an sie ist nur kurz zu erinnern: In der erstgenannten Konstellation bleibt die – mittlerweile wohl überwiegend verneinte – Frage, ob die zwar methodologisch durchführbare verfassungskonforme Auslegung in bezug auf das Bestimmtheitsgebot überhaupt zulässig ist, ob also eine unbestimmte Norm durch eine vorhersehbare Rechtsprechung verfassungsgemäß wird. In beiden Situatio221 Siehe BGHSt 26, 312 = oben Fall 264. Womöglich ist dies auch der methodische Standpunkt in BVerfGE 71, 108 (121); noch komplizierter liegt BVerfGE 92, 1 = oben Fall 277; vgl. oben V 7 e.

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VI. Sinn und Zweck

nen bleibt zudem weitgehend ungeklärt, wann das Gesetz bzw. eine vertretene Interpretation als unbestimmt gelten darf. Dem insoweit befürworteten Kriterium der Erkenn- und Vorhersehbarkeit mangelt es selbst an hinreichender Sicherheit. Ebenfalls bereits dargelegt wurde, daß die Praxis den Bestimmtheitsgrundsatz auch in einer Weise einsetzt, in welcher der verfassungsrechtliche Kontext in den Hintergrund tritt (V 7 d). Das Bestimmtheitsgebot geht dann im allgemeinen Prinzip der Rechtssicherheit auf. Die Vorhersehbarkeit der Ergebnisse, die klare, einfache und trennscharfe Abgrenzbarkeit von Tatbestandsmerkmalen sowie die Sicherheit der Subsumtion sind rechtsstaatliche Forderungen, deren Durchsetzung zweifellos erstrebenswert erscheinen, wie umgekehrt Lösungen, die zu Rechtsunsicherheiten führen, zu vermeiden sind.222 Kein Zufall ist es deshalb, wenn die Gerichte das Bestimmtheitsgebot und die Rechtssicherheit im allgemeinen nebeneinander als Argumente für oder gegen eine Auslegungshypothese anführen. Unter gleichzeitiger Berufung auf das Bestimmtheitsgebot und auf die Rechtssicherheit223 hat der BGH etwa die Ansicht verworfen, die bei der Definition des Merkmals „Kind“ auf die Schutzbedürftigkeit im Einzelfall abstellen wollte (BGHSt 5, 40 [44] = oben Fall 185). — Als Widerspruch zu den Erfordernissen der Bestimmtheit und Rechtssicherheit hat es BGHSt 38, 281 (oben Fall 274) angesehen, die Definition des Begriffs „Kreditkarte“ vom Sprachgebrauch der Beteiligten abhängig zu machen (S. 284).

Häufig weisen die Senate Interpretationen zurück, die keine klaren Abgrenzungskriterien bieten. Ob die mangelnde Trennschärfe mit dem Bestimmtheitsgebot kollidiert oder der Rechtssicherheit im allgemeinen zuwiderläuft, bleibt insoweit eine zweitrangige Frage: Nach BGHSt GS 40, 350 (357 f.) fehlt dem Kriterium der „Außenwirkung“ zur Einschränkung der §§ 239a, 239b StGB die „notwendige Bestimmtheit“. — BGHSt 45, 253 (256) sieht in der abweichenden Auffassung, gegen die bereits andere Gründe (Wortlaut, Entstehungsgeschichte) sprachen, darüber hinaus „nicht lösbare Abgrenzungsschwierigkeiten“ angelegt. — BGHSt 18, 63 (oben Fall 159) lehnt es ab, die „Verbreitung“ einer Druckschrift in ihrer Verlesung zu erkennen: „Eine derartige Ausweitung müßte auch zu Abgrenzungsschwierigkeiten führen. . . . Eine sinnvolle Grenze zwischen Vorlesen, Auswendig-Hersagen und freiem Vortrag des Inhaltes einer Druckschrift wäre nicht zu finden“ (S. 65). — Im Fall von BGHSt 27, 307 führt die Gegenansicht nach Auffassung des Senats zu einer solchen Weite des objektiven Tatbestandes, daß für die Einschränkung der Strafbarkeit allein die subjektive Tatseite bliebe (S. 311). „Gegen die Annahme, der Gesetzgeber habe einen der-

222 Nebenbei entsprechen Klarheit und Durchsichtigkeit des Rechts auch einem ästhetischen Ideal, siehe Herschel, JZ 1967, 727 (732). 223 Siehe außerdem BGHSt 43, 336 (342 f.) = oben Fall 270 und BGHSt 48, 360 = Fall 271.

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art weiten und schwer abgrenzbaren Tatbestand schaffen wollen“, sprächen jedoch Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Gesetzessystematik. Fall 322 (BGHSt 45, 92): Der Senat gibt die Auffassung auf, wonach das Verwenden einer Waffe gemäß § 250 II Nr. 1 StGB den Eintritt einer Leibes- oder Lebensgefahr voraussetzt; deshalb genüge auch das Bedrohen einer hinter einer schußsicheren Glasscheibe sitzenden Kassiererin mit einer Gaspistole (S. 96). Für diese Ansicht „sprechen auch praktische Gründe der Rechtsanwendung“, denn jede Einschränkung des Tatbestandsmerkmals sei „mit der Notwendigkeit verbunden, auf Abgrenzungskriterien zurückzugreifen, die nicht trennscharf sein können“.

Zurückgewiesen werden ferner übertrieben differenzierende Kompromißlösungen, die den Betroffenen nicht einleuchten und damit Rechtsunsicherheiten begünstigen.224 Die Strafsenate nutzen die genannten Argumente insgesamt eher dazu, Gegenauffassungen zu widerlegen,225 als die eigene Position zu stützen. Aber natürlich kommt es auch vor, daß die Rechtsklarheit als unterstützender Aspekt der eigenen Ansicht angeführt wird.226 Interessanter ist allerdings, daß die drohende Rechtsunsicherheit und mangelnde Trennschärfe – oder umgekehrt: der Vorzug der Rechtsklarheit – in aller Regel nur als zusätzliches Argument (siehe oben BGHSt 18, 63; 27, 307; 45, 253) neben den übrigen Kriterien herangezogen wird. Bei einigen der Beispiele wird zudem deutlich, weshalb die Ausprägungen der Rechtssicherheit eher als Ideale oder Hilfsargumente in Zweifelsfällen wirken denn als konkrete und klar handhabbare Auslegungskriterien. Nicht trennscharfe und problematische Tatbestandsmerkmale („Gefahr“) sind in der Strafrechtsordnung Legion, so daß die auf diese Argumente gestützte Verwerfung bestimmter Ansichten häufig als übertrieben erscheint. So war das von BGHSt 39, 36 vorgeschlagene Eingrenzungskriterium der „Außenwirkung“ in jedem Fall „bestimmt“ genug, um verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen. Und auch das Erfordernis einer konkreten Lebens- und Leibesgefahr ist vernünftig zu handhaben, zumal es im Strafrecht in erheblichem Umfang als Tatbestandsmerkmal verwendet wird. So entsteht nicht selten der Eindruck, daß die Rechtsprechung vorgeschlagene Auffassungen wegen angeblicher Unbestimmtheit verwirft, die andernorts in ähnlicher Weise ohne weiteres praktiziert werden oder sogar gesetzlich sanktioniert sind: Fall 323 (BGHSt 33, 190): Der Senat lehnt es ab, in der Herausgabe gesetzwidrig ausgestellter Führerscheine einen Verwahrungsbruch gemäß § 133 I StGB zu sehen („der dienstlichen Verfügung entzieht“), wenn der dienstlich Berechtigte handelt. Eine Auslegung, die den Tatbestand zumindest bei eindeutigen Gesetzesverstößen 224

Siehe z. B. BGHSt 7, 256 (259). Siehe als weitere Beispiele BGHSt 17, 267 (276) = unten Fall 339 und BGHSt 43, 336 (343). 226 Z. B. BGHSt 26, 191 (197): Darüber hinaus fördere die Lösung des Senats auch die Rechtsklarheit. 225

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VI. Sinn und Zweck

anwenden wolle, sei bei teleologischer Betrachtung zwar möglich, würde jedoch „die Gefahr einer nicht mehr hinreichend sicheren Abgrenzbarkeit des Tatbestandes heraufbeschwören“ (S. 194). „In der Frage des Ausmaßes sowie der Eindeutigkeit einer Gesetzesverletzung können die in Betracht kommenden Fälle ganz verschieden liegen und dementsprechend können sie auch verschiedener Beurteilung zugänglich sein. . . . Wo die Grenzen im einzelnen lägen, ließe sich nicht klar bestimmen“ (S. 194 f.). – Der Senat hat recht, sich nicht die in Betracht gezogenen Abgrenzungsprobleme aufzubürden, denn die übrigen Auslegungsfaktoren zwangen nicht zu jener Auffassung. Aber möglich und durchführbar wäre eine dahingehende Ansicht durchaus,227 wie das Tatbestandsmerkmal der „rechtmäßigen“ Diensthandlung in § 113 III StGB beweist, das in der Praxis freilich zahlreiche Schwierigkeiten bereitet. Fall 324 (BGHSt 25, 30): In ähnlicher Weise verfährt BGHSt 25, 30 beim Tatbestand der Verwendung von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen (§ 86a StGB). Der Gesetzgeber sah zwar Bedarf nach weiterer Einschränkung der Norm, fand offenbar aber kein geeignetes Kriterium und delegierte die Frage deshalb – bedenklich genug! – an die Rechtsprechung. Keinen gangbaren Weg erblickt der Senat darin, eine konkrete Gefährdung je nach den Umständen zu verlangen (S. 31). „Eine solche Auslegung würde in der praktischen Anwendung der Vorschrift zu ähnlichen Ergebnissen führen wie bei einer Ausgestaltung als konkretes Gefährdungsdelikt. Sie würde außerdem in der Praxis zu ungewöhnlich großen Schwierigkeiten und Unsicherheiten bei der Subsumtion führen“ (S. 32). – Gefährdungsdelikte führen stets zu Unsicherheiten in der Subsumtion!

Die Zweifel an der Aussagekraft des Arguments Rechtssicherheit werden auch dadurch genährt, daß die Rechtsprechung zuweilen selbst Kriterien einführt, die dem Anliegen der Rechtssicherheit kaum gerecht werden: BGHSt 18, 114 hat in einer mit dem Wortlaut des § 142 StGB a. F. kaum zu vereinbarenden Weise die Rückkehrpflicht des Fahrzeugführers bejaht, der erst nachträglich Kenntnis vom Unfall erlangt (oben Fall 298). Allerdings verlangt der Senat, da die Rückkehrpflicht nicht unbegrenzt gelten könne, daß noch „ein räumlicher und zeitlicher Zusammenhang zum Unfallgeschehen“ vorliegt. – Gewährleistet diese Einschränkung eine sichere und trennscharfe Subsumtion?

Gewissermaßen zwischen den beiden vorgestellten Fallgruppen, in denen die Rechtssicherheit Einfluß auf die Auslegung gewinnt – einerseits mit verfassungsrechtlicher Wirkung (Bestimmtheitsgebot), andererseits lediglich als Ideal – bewegen sich Fälle, in denen die fragliche Norm selbst im Interesse der Rechtssicherheit erlassen wurde oder dieser zumindest Rechnung trägt (näher unten c). In einigen Rechtsgebieten, wie etwa dem Verfahrensrecht, wird das besonders in Betracht kommen.228 In diesen Fällen muß sich auch die Auslegung von diesen Faktoren bestimmen lassen. 227 Marcelli (NStZ 1985, 500) hält die Besorgnis des Senats für unbegründet; Abgrenzungsschwierigkeiten seien nicht gegeben. 228 Dazu, daß das Rechtsbestimmtheitserfordernis je nach Rechtsgebiet variiert, siehe auch Henkel, Rechtsphilosophie, S. 439.

9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee

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Fall 325 (BGHSt 34, 250): Zumindest graduell höhere Anforderungen stellt BGHSt 34, 250 für das Recht der Zustellung. Ziel der einschlägigen Norm sei es gewesen, die Möglichkeiten der Ersatzzustellung zu erweitern, jedoch nur, wenn dies zuverlässig geschehen kann (S. 254). Beim Lebensgefährten sei das nicht der Fall, denn es fehlten äußerlich erkennbare Anhaltspunkte dafür, ob jemand Lebensgefährte eines anderen ist (S. 255). „Die Grundsätze der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit verlangen jedoch wegen der zuweilen schwerwiegenden Folgen einer . . . Ersatzzustellung, auf für den Zusteller eindeutige, äußerlich erkennbare Kriterien abzustellen.“229 – Auch hier bleibt freilich offen, was die Rechtssicherheit genau verlangt. Mit einiger Sicherheit kann wiederum nur gesagt werden, welches Verständnis diesem Gesichtspunkt besser gerecht wird.

Im Ergebnis kann zu den Argumenten der Rechtssicherheit folgendes gesagt werden: Obgleich sie in Entscheidungsbegründungen häufig auftauchen, ist ihr tatsächlicher Einfluß auf die Normkonkretisierung schwer zu bestimmen. Rechtssicherheit und Rechtsklarheit wirken eher als Ideale („Optimierungsgebote“)230 denn als nach klaren Vorgaben durchsetzbare Kriterien. Sie sollten vor allem dann zum Einsatz kommen, wenn die sonstigen Kriterien keine klaren Lösungen bieten oder wenn verschiedene Alternativen zur Auswahl stehen. Denn auch wenn kaum zu sagen ist, was das Gebot der Rechtssicherheit konkret verlangt, fällt doch die Antwort darauf, welche Auslegungsvariante diesen Idealen am ehesten gerecht wird, oft leicht. Bewegt die Rechtsprechung sich auf den Bahnen der Rechtsfortbildung, sollte sie im Zweifel ebenfalls die trennschärfste und klarste Lösung wählen, denn auch der Gesetzgeber hätte sich von diesen Idealen leiten lassen (müssen), hätte er die Rechtsfrage erkannt.231 Problematisch sind die Entscheidungen, in denen die Rechtssicherheit in Form des Bestimmtheitsgebots mit verfassungsrechtlicher Wucht über die Auslegung hereinbricht, denn es ist – von krassen Fällen abgesehen – unklar, wie unvorhersehbar und unbestimmt eine Auslegung sein muß, um das Urteil der Verfassungswidrigkeit zu begründen. Die Rechtsprechung sollte hier einerseits strenger prüfen, ob sie auch einen Tatbestand für unbestimmt erklärte, wenn die fragliche Auslegung dort ausdrücklich kodifiziert wäre (vgl. oben Fall 321). Zum andern sollte auch insoweit eher von einer optimierenden Wirkung auf den Auslegungsprozeß ausgegangen werden, so wie es etwa in einer Formulierung aus BGHSt 22, 282 (287) anklingt, wonach die Interpretation des Senats dem Bestimmtheitsgebot „besser Rechnung“ trage.

229 Ähnlich BGHSt 4, 135 (137) für das Recht der Verjährung: „Der Beginn einer gesetzlichen Frist darf nicht im Ungewissen stehen.“ 230 Vgl. Kramer, in: FS für Bydlinski, S. 200. 231 Herschel (JZ 1967, 727 [736]) folgert aus der Rechtssicherheit, daß der Richter sowohl beim „Ob“ der Rechtsschöpfung als auch bei deren Ausgestaltung Zurückhaltung walten lassen soll.

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VI. Sinn und Zweck

b) Gerechtigkeit, Gleichbehandlungsgrundsatz, „Gerechtigkeitsempfinden“ Auch das Kriterium der Gerechtigkeit kommt in unterschiedlicher Weise zum Einsatz. Einerseits hat es als Grundsatz der Gleichbehandlung (Art. 3 I GG) einen „faßbaren“, handhabbaren und für die Praxis äußerst bedeutsamen Anwendungsbereich, andererseits äußert es sich in vagen Formulierungen („billig und gerecht“) oder in einem Appell an das „Gerechtigkeitsempfinden“. Auf den Grundsatz der Gleichbehandlung ist hier nicht mehr näher einzugehen, denn seine zentrale Bedeutung wurde bereits mehrfach dargelegt.232 Die gleichmäßige Erfassung der in Hinblick auf den Regelungszweck oder auf die Gesetzessystematik gleichermaßen strafwürdigen Fälle ist Aufgabe jeder teleologischen Rechtsanwendung und Grundlage dogmatischer Bemühungen. Nicht selten spricht die Praxis rhetorisch überhöht von „Gerechtigkeit“, wenn eigentlich nur der Grundsatz der Gleichbehandlung gemeint ist: BGHSt 2, 362 (363) sieht in der Gegenauffassung eine mit Sinn und Zweck unvereinbare Wortauslegung, die zu einer unterschiedlichen Behandlung strafwürdiger Fälle führte und damit gegen das „Gebot der Gerechtigkeit“ verstieße.233

Ungerecht (oder auch sinnwidrig, widersinnig oder ungereimt) wäre es vor allem, wenn der gefährlichere Täter, dessen Verhalten vom Gesetzeszweck her erst recht erfaßt sein müßte, also besonders strafwürdig ist, im Ergebnis sogar besser gestellt würde.234 Mit der Gerechtigkeit ebenfalls nicht zu vereinbaren wäre es, dem Täter Umgehungsmöglichkeiten zu eröffnen.235 Denn auch das impliziert, daß die nach Sinn und Zweck der Norm gleichermaßen strafwürdige Tat nicht geahndet werden könnte. Maßgeblich ist allerdings auch insoweit die teleologische Auslegung und deren Vereinbarkeit mit den übrigen Kriterien. Weiterhin unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgrundsatzes unzulässig sind Differenzierungen, denen es an einem Sachgrund fehlt: „Ein solches Ergebnis würde dem Gebot der Gerechtigkeit widerstreiten.“236 Erlaubt die Norm selbst keine gleichmäßige Ahndung gleichermaßen strafwürdiger Konstellationen, liegt darin eine „Ungerechtigkeit“, die nicht durch 232

Vgl. oben V 8 c und VI 3. Weitere Beispiele bieten BGHSt 11, 324 (326) = oben Fall 169, BGHSt 17, 166 (171) und BGHSt 39, 128 (131) = oben Fall 287. Ohne Appell an die Gerechtigkeit kommt z. B. BGHSt 36, 205 (209) aus: „Gebot der Gleichbehandlung“. 234 Siehe BGHSt 1, 152 (156): „Widerspruch zur Gerechtigkeit“, RGSt GS 73, 148 (150): Widerspruch zum „Rechtsgefühl“ und BGHSt 7, 300 (304): „ausgesprochen ungerecht“. 235 So BGHSt 21, 101 (105). 236 BGHSt 15, 203 (206): Verschiedenheit der Ergebnisse muß „befremden“, kann einem „unbefangenen Betrachter“ kaum „einleuchten“. Zurückhaltender BGHSt 42, 196 (199): Merkwürdiges Ergebnis; kein Grund für die Differenzierung ersichtlich. 233

9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee

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die Rechtsprechung beseitigt werden kann (siehe oben V 8 c). Der BGH tut sich zuweilen schwer, solche gewollten oder ungewollten Strafbarkeitslücken hinzunehmen: BGHSt 44, 233: „Der Senat verkennt in diesem Zusammenhang nicht, daß eine nicht an inhaltlichen Kriterien orientierte, sondern derart auf die formale Bezeichnung einer Tatsache abstellende Regelung im Einzelfall zu erheblichen, in der Sache kaum zu rechtfertigenden und mit dem Gerechtigkeitsgefühl nur schwer zu vereinbarenden Strafbarkeitslücken führen kann. . . . Dies ist jedoch als Folge der sich in dem Gesetzeswortlaut widerspiegelnden Entscheidung des Gesetzgebers hinzunehmen.“237

Da der Grundsatz der Gleichbehandlung auch der maßgebliche Gesichtspunkt ist, der eine (gebundene) Rechtsfortbildung in Form des Analogieschlusses trägt238, ist es nicht überraschend, daß auch dort von Gerechtigkeit die Rede ist: BGHSt 18, 268 schließt eine Lücke im Kostenrecht, denn auch dort sei die „sachliche Gerechtigkeit“ von ausschlaggebender Bedeutung für die Auslegung (S. 271). Aus „Gründen der Gerechtigkeit“ dürfe der Angeklagte nicht mit den Kosten eines folgenschweren Irrtums des Gerichts belastet werden. Ebenfalls in einer kostenrechtlichen Frage bejaht BGHSt 16, 168 eine Analogie:239 Dies werde sowohl durch „die entsprechende Gestaltung der rechtlich zu beurteilenden Umstände“ als auch „durch Gesichtspunkte des gerechten Ergebnisses nahegelegt“ (S. 173). BGHSt 24, 54 (60 f.) hält es für „unerträglich und dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit nicht vereinbar“, wenn ein deutsches Gericht bei der Verhängung einer Geldbuße nicht berücksichtigen dürfte, daß die Tat bereits durch ein Organ der europäischen Gemeinschaften geahndet wurde. „Die im Rechtsstaatsprinzip enthaltene Idee der Gerechtigkeit“ verlange es, den Grundgedanken des § 60 III 1 StGB (a. F. = § 51 III 1 g. F.) entsprechend heranzuziehen.

Daneben spielt die Sachgerechtigkeit eine wichtige Rolle auf dem Gebiet der freien Rechtsfortbildung, wo es gänzlich oder weitgehend am gesetzlichen Rahmen fehlt. Die richterliche Lösung kann sich dann unmittelbar im Spannungsfeld der Rechtsidee entwickeln, wie es der BGH in einer Entscheidung zu den im Gesetz nur rudimentär geregelten Prozeßhandlungen demonstriert: Fall 326 (BGHSt 17, 14): Der Senat äußert sich zur Frage, wie sich Willensmängel auf Rechtsmittelerklärungen auswirken. „Das Gebot der Gerechtigkeit zwingt zu Ausnahmen von der unbedingten Gültigkeit der Rechtsmittelerklärungen . . .“ (S. 18). Die entsprechende Anwendung des § 136a StPO sei nicht geboten, nur die Heranziehung seiner Grundgedanken. Im übrigen entschieden Art und Entstehung des Willensmangels darüber, „ob überwiegende Gründe der Gerechtigkeit den Vorrang vor dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit beanspruchen müssen“.

237 238 239

keit“.

Ähnlich BGHSt 34, 138 (145), allerdings ohne auf die Gerechtigkeit abzuheben. Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 381. Außerdem: BGHSt 25, 109 (116): „drängen zwingende Gründe der Gerechtig-

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VI. Sinn und Zweck

Das Präjudizienrecht und der Grundsatz der Gleichbehandlung werden die Rechtsfortbildung anschließend in geordnete (dogmatische) Bahnen lenken und günstigstenfalls zu einer gesetzlichen Umsetzung führen. Einzelheiten zu den Grundsätzen und Methoden der Rechtsfortbildung sind freilich nicht Gegenstand der vorliegenden Darstellung und deshalb hier nicht zu vertiefen. Weiter kann die Gerechtigkeit auch zur Entscheidung contra legem mißbraucht werden. In folgendem Beispiel ist schweres Geschütz nötig, um die Umdeutung einer eindeutigen Vorschrift zu rechtfertigen: BGHSt 18, 279 (oben Fall 166) hält eine zwingende Einziehungsvorschrift aus dem Steuerstrafrecht zwar nicht für grundgesetzwidrig, will sie aber angesichts der allgemeinen Rechtsentwicklung dennoch „im Wege der Auslegung“ in eine Ermessensvorschrift umdeuten (S. 282): „Nach jetziger allgemeiner Rechtsüberzeugung seien alle strafrechtlichen Normen „den Forderungen der sachlichen Gerechtigkeit gemäß“ auszulegen; eine veraltete Bestimmung müsse im Sinn geläuterter Rechtsanschauungen des Gesetzgebers verstanden werden.240 – Zu Unrecht wandelt der Senat die klare gesetzgeberische Anordnung unter Berufung auf die Gerechtigkeit und die allgemeine Rechtsentwicklung ab. Maßgeblich war allein das Verfassungsrecht. Insoweit hat der Senat aber offensichtlich die Folgen der Nichtigkeit gescheut (eingehend dazu oben Fall 166).

Die Gefahr einer Entscheidung contra legem besteht ferner, wenn von vornherein feststeht, welches Ergebnis das gerechte ist. Dann drohen die übrigen Auslegungsmethoden zur Nebensache zu werden:241 Fall 327 (BGHSt 6, 215): § 26 I StGB a. F. ließ die bedingte Entlassung des Verurteilten nach „Verbüßung“ von zwei Dritteln der Strafe zu. Nach Ansicht von BGHSt 6, 215 gehört zur verbüßten Strafe auch die angerechnete U-Haft. Wortlaut und Entstehungsgeschichte zwängen nicht zu einer anderen Auslegung (S. 216), Sinn und Zweck stünden ihr nicht entgegen (S. 217). Die Berücksichtigung sei „jedoch unabhängig von allen aus Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Zweck der Vorschrift gewonnenen Schlüssen in erster Linie ein Gebot der Gerechtigkeit“ (S. 219). Die Vollstreckung der U-Haft hänge häufig von Zufällen ab; die strikte Nichtberücksichtigung würde somit „im Einzelfall notwendig zu ungleichen und damit ungerechten Ergebnissen“242 führen. – Der Appell vernebelt die klare Sicht. Vorrangig war die Frage, ob U-Haft als Verbüßung einer Strafe angesehen werden kann. Bestehen insoweit in Hinblick auf den Zweck des § 26 StGB (a. F.) relevante Unterschiede, kann ein rechtfertigender Grund für die Ungleichbehandlung vorliegen.243

240 Auch BGHSt 1, 351 (354 und 355) hat sich zur Rechtfertigung einer veränderten Interpretation u. a. auf die „Grundsätze der Gerechtigkeit“ berufen. Nach Ansicht des Senats standen Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Neudeutung allerdings nicht entgegen (näher oben Fall 164). 241 Ein weiteres Beispiel bietet BGHSt 17, 101 = unten Fall 333. 242 Wiederum ist also der Grundsatz der Gleichbehandlung zur Frage der Gerechtigkeit überhöht. 243 Vgl. z. B. die differenzierende Ansicht von Schönke/Schröder, StGB8, § 26, Anm. III 2.

9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee

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Die Gerechtigkeit wird darüber hinaus nicht selten als Kontrollkriterium des Auslegungsergebnisses eingesetzt. Dazu wurde bereits einleitend bemerkt, daß das mit Hilfe der üblichen Kriterien gewonnene Resultat, welches sich im Rahmen des verfassungsrechtlich Möglichen hält, nicht unter dem Vorbehalt einer Revision auf Grundlage von Gerechtigkeitsvorstellungen steht. Abschließende Erwägungen der Senate über die Gerechtigkeit ihrer Entscheidung und deren Ergebnisse sind meistens fruchtlos oder erinnern an die kriminalpolitische Ergebnisbetrachtung:244 Fall 328 (BGHSt 20, 284): Der BGH ist der Ansicht, daß der wegen Vollrauschs Verurteilte dem Nebenkläger die notwendigen Auslagen zu erstatten hat, wenn die Rauschtat sich gegen diesen richtete. Daß die Rauschtat nur eine objektive Bedingung der Strafbarkeit darstellt und der Vollrauschtatbestand dem Schutz der Allgemeinheit dient, hält der Senat zu Recht nicht für entscheidend. Nicht weiterführend ist aber das Schlußbekenntnis des Senats (S. 285): „Diese Entscheidung ist auch billig und gerecht.“ Fall 329 (BGHSt 5, 344): Nicht hilfreich ist auch die Argumentation, mit der BGHSt 5, 344 (345) seine „nicht einschränkende Auslegung“ stützt. Diese führe durchaus zu „sinnvollen und gerechten Ergebnissen“; die Weite des Strafrahmens gestatte es, „den Forderungen der Gerechtigkeit entsprechend die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen“. – Wann sollte dies aber (bei den weiten Strafrahmen des geltenden Rechts) einmal nicht zutreffen? Fall 330 (BGHSt 4, 144): Der Senat revidiert die Auffassung des RG, wonach die Strafbarkeit der Unfallflucht eine am Tatort anwesende und feststellungsbereite Person voraussetzte. War der Verletzte tot oder bewußtlos oder war niemand in der Nähe, lag in der Weiterfahrt keine Unfallflucht. Nach Meinung des Senats widerspricht diese Auslegung dem gesetzgeberischen Zweck; durch den Wortlaut sei sie nicht geboten (S. 146). Der Verkehrsteilnehmer müsse zunächst abwarten. Anschließend bekräftigt der Senat seine Lösung mit kriminalpolitischen Erwägungen, welche die vorangegangene teleologischen Betrachtungen nunmehr als verdächtig erscheinen lassen: „Das Ergebnis ist gerecht. Der davonfahrende Kraftfahrer darf sich nicht damit entschuldigen können, er habe den Verletzten für bewußtlos gehalten, und andere Personen seien nicht am Unfallort gewesen. Ebensowenig darf straffrei bleiben, wer . . .“. – Weil nicht sein kann, was nicht sein darf! Von gleicher Aussagekraft wäre die Wertung, das Ergebnis sei vernünftig oder kriminalpolitisch angemessen.

Ergebniskontrollen sind dagegen durchaus zulässig, wenn es darum geht, ob eine bestimmte Auslegung zu einer gleichmäßigen oder systematisch stimmigen Rechtsanwendung oder aber zu Wertungswidersprüchen führt. Auch diese Aspekte werden von den Gerichten, wiederum in rhetorischer Überhöhung, als Fragen der Gerechtigkeit dargestellt: Fall 331 (BGHSt 26, 358 = oben Fall 80, BGHSt 27, 45 = Fall 54): BGHSt 26, 358 mußte sich mit der auf den ersten Blick merkwürdigen gesetzlichen Gleichstellung 244 In einem Atemzug z. B. BGHSt 29, 370 (375): „Zu gerechten und kriminalpolitisch sinnvollen Ergebnissen führt nur eine Auslegung . . .“.

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VI. Sinn und Zweck

der (unselbständigen) „Absatzhilfe“ mit dem (selbständigen) „Absetzen“ im Tatbestand der Hehlerei beschäftigen. Der Senat findet tatsächlich einen Grund, weshalb der Gesetzgeber zwischen diesen Alternativen kein Stufenverhältnis gesehen hat (näher a. a. O., S. 361 f.). Aufgrund dessen hält er es nicht für notwendig, die begrifflichen Anforderungen an die vermeintlich geringere Handlungsform der Absatzhilfe zu erhöhen; die Absatzhilfe müsse nicht erfolgreich sein. Diese Auslegung widerspreche „auch nicht der Billigkeit und der Vorstellung von der gerechten Strafe“, denn es gebe „Formen der Absatzhilfe, die in ihrem Schuldumfang . . . den Tatbeitrag eines Absetzers erheblich übertreffen können“ (S. 362). – Der Senat bestätigt lediglich, daß Norm und Auslegung zu gleichmäßigen Ergebnissen führen, daß die zunächst auffällige gesetzgeberische Wertung doch stimmig ist. Aber selbst wenn die Komposition der Tatbestandsalternativen weniger stringent wäre, würde das einer gerechten Strafe längst nicht entgegenstehen (vgl. auch oben BGHSt 5, 344). Ebenfalls zu einer Übertreibung läßt sich die BGHSt 26, 358 fortführende Entscheidung BGHSt 27, 45 hinreißen, nach der auch die Alternative des Absetzens keinen Erfolg voraussetzt.245 Der Gesetzgeber könne die Tathandlungen insoweit nur einheitlich verstanden haben (S. 51). „Es würde gegen das Gebot der Gerechtigkeit verstoßen, wenn der unselbständige Absatzhelfer, zumal dann, wenn er sich nur unerheblich und vorübergehend betätigt hat, stets wegen vollendeter Hehlerei bestraft werden müßte, dagegen der selbständige . . ., vor allem nach umfangreicher Tätigkeit, nur wegen versuchter Hehlerei, d. h. also milder zu bestrafen wäre, weil der Absatz schließlich doch nicht gelungen ist.“ – Die Senate bilden ihre Vergleichsbeispiele je nach Bedarf, um drohende Wertungswidersprüche zu belegen. Wertungswidersprüche lassen sich beim Durchspielen von Fällen aber nie ganz vermeiden und müssen vor allem nicht gleich gegen höchste Werte verstoßen.

Kein Kriterium der Auslegung ist das „Gerechtigkeitsempfinden“, das sich zudem als unsicherer Maßstab erweisen kann: Fall 332 (BGHSt 17, 161 – „dauernde Entstellung“): Der Senat will den Verlust der Vorderzähne als dauernde Entstellung i. S. von § 224 StGB a. F. ansehen, unabhängig davon, ob der Verlust mit einer Prothese überdeckt werden kann. Maßstab für die Schuld des Täters sei der Eingriff und die Folgen; spätere Milderungen der Folgen müßten insoweit außer Betracht bleiben (S. 164). Es wäre „schwer verständlich“ und mit dem „Gerechtigkeitsempfinden“ unvereinbar, „wenn eine erhebliche körperliche Entstellung . . ., falls sie nicht durch künstliche Mittel behoben würde, deshalb die . . . straferhöhende Bedeutung verlöre, weil der Fortschritt der medizinischen Wissenschaft und ihrer technischen Hilfsmittel jene Entstellung weitgehend wettmachen kann.246 Dies darf nicht einem Täter zugute kommen, der nun einmal ursprünglich jene erhebliche Entstellung schuldhaft und durch eine besonders starke Verletzung der körperlichen Unversehrtheit seines Opfers verursacht hat“ (S. 165). – Besonderen Eindruck hat der emotionale Appell nicht hinterlassen, denn das Gerechtigkeitsempfinden hat BGHSt 24, 315 nicht an der gegenteiligen Lösung hindern und den 4. Senat nicht von der Aufgabe seiner Meinung abhalten können. 245

Vgl. dazu bereits eingehend und krit. oben Fall 54. A.A. z. B. Remmele, NJW 1963, 22: Es sei kein Verstoß gegen das Gerechtigkeitsempfinden, die regelmäßig bestehenden Möglichkeiten der Medizin zu berücksichtigen, sondern diene (im Gegenteil) der „Vermeidung paradoxer Ergebnisse“. 246

9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee

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c) Normen im direkten Spannungsfeld der Rechtsidee Die gesamte Rechtsordnung beruht auf den Ausprägungen der Rechtsidee. Einige, insbesondere prozessuale Vorschriften entscheiden unmittelbar einen Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit; nur darin liegt ihr Zweck.247 Entsprechend hat auch die Auslegung direkt mit den Bestandteilen der Rechtsidee zu tun. Unmittelbar einer Forderung der Gerechtigkeit entspricht z. B. § 357 StPO, der die Wirkung eines aufhebenden Revisionsurteils auch auf Mitangeklagte erstreckt, die selbst keine Revision eingelegt haben. Nach Ansicht von BGHSt 12, 335 (341) zielt die Norm auf „die Durchsetzung der wirklichen Gerechtigkeit“ und die Vermeidung von das Rechtsgefühl verletzenden Ungleichheiten bei der Aburteilung einer Mehrheit von Personen. Diesem Grundgedanken habe die Auslegung der Norm (hier: des ungeschriebenen Merkmals der „nämlichen Tat“) Rechnung zu tragen. BGHSt 20, 77 (80) betont aber, daß „Gründe der Gerechtigkeit . . . nicht unter allen Umständen Anliegen der Rechtskraft und Rechtssicherheit“ aufwiegen, sondern nur in den engen Grenzen des § 357 StPO. Für die analoge Anwendung der Norm auf den Fall des § 354a StPO sieht der Senat deshalb keinen Raum. „An diese gesetzliche Regelung ist der Richter gebunden; er muß sich davor hüten, durch einen Eingriff in die Rechtskraft Unsicherheiten“ im Rechtszustand herbeizuführen, „nur weil er ihn als ungerecht empfindet“. Gegen eine Ausdehnung spreche auch, daß § 357 StPO teilweise zu zwiespältigen, dem Angeklagten unerwünschten Ergebnissen führen könne und die Anwendung zufällig sei (je nach Verbindung oder Trennung des Verfahrens).

Im Spannungsfeld zwischen Rechtskraft und gerechter Strafverfolgung ist auch der Grundsatz des „ne bis in idem“ angesiedelt (Art. 103 III GG). Weite Teile der Konkurrenzlehre, insbesondere aber der prozessuale Begriff der „Tat“ provozieren deshalb Rekurse auf Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. So hat etwa die (überholte) Frage, was unter einer „fortgesetzten Tat“ zu verstehen ist, unmittelbar Auswirkungen darauf, ob eine gerechte Ahndung der Tat möglich ist. Einerseits wird die gerechte Ahndung durch eine zu großzügige Annahme des Fortsetzungszusammenhangs verhindert, andererseits liegen die Ungerechtigkeiten bereits in der Anerkennung dieses Instituts begründet. BGHSt 15, 268 (272) ist jedenfalls der Ansicht, daß den ungerechten Ergebnissen nicht durch Mißachtung des Art. 103 III GG begegnet werden dürfe, sondern nur durch die richtige Begrenzung des Rechtsbegriffs der fortgesetzten Handlung. Auf Dauer hat die Rechtsprechung jedoch die Probleme nicht gelöst, und der Große Senat hat sich bei der Aufgabe dieses Rechtsinstituts u. a. darauf gestützt, daß es zu „Ergebnissen führen kann, die dem Gerechtigkeitsempfinden nur schwer hinnehmbar erscheinen“ (BGHSt GS 40, 138 [148]). BGHSt 43, 252 wägt unmittelbar die Aspekte der Rechtsidee miteinander ab: Da der Begriff der prozessualen Tat „eine gewisse Unschärfe aufweist, ist es geboten, die Lösung im Einzelfall auf ihre Vereinbarkeit mit anderen verfahrensrechtlichen 247

Allgemein dazu Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 76.

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VI. Sinn und Zweck

Gestaltungen, dem Gerechtigkeitsgedanken und dem Gedanken des Vertrauensschutzes zu überprüfen“ (S. 255). Im vorliegenden Fall widerspräche der Eintritt der Rechtskraft „im starken Maße dem Gerechtigkeitsgedanken“; das müsse nur bei zwingenden dogmatischen Grundsätzen hingenommen werden (S. 258).

Bei dermaßen vagen Kriterien bleibt freilich zu hoffen, daß die Abwägung im Lauf der Zeit zu Dogmatik gerinnt und eine verläßliche Begrifflichkeit hervorbringt, mit deren Hilfe der Einzelfall ohne Rückgriff auf Rechtssicherheit und Gerechtigkeit gelöst werden kann. Die Lehre vom Fortsetzungszusammenhang ist an diesen Ansprüchen gescheitert. Daß die Rechtsprechung zuweilen lieber mit den unbestimmten Kriterien der Rechtsidee arbeitet, die jedes Ergebnis rechtfertigen können, ist verständlich. Nach Ansicht von BGHSt 26, 228 (oben Fall 261) ist der Gesetzgeber bei Einführung des § 231a StPO (Fortsetzung der Verhandlung bei Störungen u. ä.) einem Gebot des Rechtsstaatsprinzips gefolgt; dazu gehöre „die Idee der Gerechtigkeit und damit das Postulat der Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Rechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann“ (S. 230). – Der erwünschte Argumentationsspielraum ist so erreicht.248

Der im Gesetz zum Ausdruck kommende Vorrang der Rechtssicherheit vor der Gerechtigkeit kann zu Konstellationen führen, in denen die durch das Gerechtigkeitsgefühl genährten Zweifel übermächtig werden und zur Revision oder Milderung der gesetzgeberischen Lösung drängen: So fehlt es BGHSt 15, 203 (siehe oben Fall 292) an der notwendigen „Kühle“ gegenüber der gesetzgeberischen Entscheidung, dem Revisionsgericht die Sachprüfung erst zu eröffnen, wenn die Revision ordnungsgemäß eingelegt und begründet wurde (§§ 345, 346 StPO). Deshalb bricht bei der Begründung, weshalb für Verfahrenshindernisse anderes gelten soll, die Emotion durch:249 „Die Gerichte haben das Recht zu wahren. Es wäre daher eigenartig, wenn ein Gericht, das bei der Prüfung der Zulässigkeit einer rechtzeitig und wirksam eingelegten Revision erkennt, daß der Tatrichter ein Verfahrenshindernis übersehen hat, dem schwerwiegenden Rechtsmangel nicht sollte abhelfen können“ (S. 207). BGHSt 16, 115 (119) beharrt demgegenüber auf der (harten) gesetzlichen Anordnung: „Im übrigen vermag der Senat auch unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit . . . nicht einzusehen, weshalb es wohl erträglich sein soll, die unzulässige Revision gegen ein Urteil, das schwere sachliche Rechtsfehler enthält, zu verwerfen, es jedoch ein unabwendbares Gebot der Gerechtigkeit sei, daß die unzulässige Revision bei einem übersehenen Verfahrenshindernis zur Aufhebung des Urteils . . . führen müsse.“250 Fall 333 (BGHSt 17, 101): Für inakzeptabel hält es BGHSt 17, 101, daß einer gebührenpflichtigen Verwarnung gemäß § 22 II StVG a. F. die gleiche Rechtskraftwir248

An der Vertretbarkeit der Entscheidung mag das nichts ändern. Vgl. (in anderem Zusammenhang) Scheuerle, AcP 1967, 305 (335): Der „emotionale Blitz aus dem heiteren kognitiven Himmel“. 250 Ganz „fair“ argumentiert BGHSt 16, 115 allerdings nicht, denn auf die „Gerechtigkeit“ hat sich BGHSt 15, 203 in einem anderen Aspekt berufen (siehe oben Fall 292). 249

9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee

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kung zukommt wie einem Strafbefehl. „Es widerspräche rechtsstaatlichen Grundsätzen, der gebührenpflichtigen Verwarnung als bloßem Verwaltungsakt eine den staatlichen Strafanspruch so tief berührende Wirkung zuzuerkennen“ (S. 105). Die so gewonnene Prämisse gibt der weiteren Gesetzeskonkretisierung mit Hilfe der „einfachen Kriterien“, die durchaus Probleme bereiteten251, die Richtung vor (S. 105 ff.).

Der Vorrang der gesetzgeberischen Entscheidung im Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit darf nicht durch die Rechtsprechung revidiert werden. In diesem Sinn betont BGHSt 45, 37 (38), daß das gesetzgeberische Programm in der Regel vollständig ist: Die Durchbrechung des Grundsatzes der Rechtssicherheit bedürfe besonderer Rechtfertigung. Eine „außerordentliche Beschwerde“ wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit sei mithin nicht anzuerkennen; zu deren Beseitigung genügten die gesetzlich vorgesehenen Rechtsbehelfe (S. 39). d) Billigkeit/Angemessenheit Nicht selten argumentieren die Strafsenate mit Billigkeitserwägungen oder der Billigkeit des Ergebnisses, auch wenn dahingehende Formulierungen stark im Abnehmen begriffen sind.252 Wie bei den zum Teil diffusen Überlegungen zur Gerechtigkeit, ist es auch hier schwer, die Argumentationsmuster auf einen gemeinsamen Gedanken zu reduzieren. Gemeinhin wird das Spezifikum der Billigkeit darin gesehen, den Besonderheiten des Einzelfalls gegenüber der generellen Regel zum Durchbruch zu verhelfen;253 dadurch drohen Konflikte zur Rechtssicherheit und zur Gerechtigkeit im weiteren Sinn. Auf eine unbillige Härte im Einzelfall weist etwa folgende Entscheidung hin: BGHSt 22, 146 (oben Fall 251) prüft, ob eine Verurteilung wegen Befehlsverweigerung auch bei späterer Anerkennung des Täters als Wehrdienstverweigerer Bestand haben muß, hält die Rechtslage insoweit aber für eindeutig: „Infolge des Spannungsverhältnisses zwischen materialer Gerechtigkeit und Rechtssicherheit können bei dieser Rechtslage im Einzelfall allerdings Unbilligkeiten auftreten. So kann es mißlich sein, die Strafverfolgung gegen den anerkannten und bereits aus dem Wehrdienst entlassenen Kriegsdienstverweigerer einzuleiten oder fortzusetzen, wenn es sich – wie hier – um bloße Befehlsverweigerung ohne Folgen handelt. Es wird dann Sache der Gnadeninstanz sein, Härten zu mildern, sofern nicht eine Einstellung des Verfahrens (§ 153 StPO) in Betracht kommt, was freilich im vorliegenden Fall nahe liegt.“

251 Näher Hartung, JZ 1963, 103, der die Entscheidung als „originellen Versuch“ sieht, der Probleme Herr zu werden. 252 Das läßt sich durch eine statistische Auswertung der amtlichen Sammlung anhand von Stichwörtern leicht belegen. 253 Eingehend zur Thematik und zu den möglichen Inhalten des „schillernden“ Begriffs Bydlinski, Methodenlehre, S. 363 ff.

556

VI. Sinn und Zweck

Der Senat hält es angesichts der Geringfügigkeit des Verhaltens offenbar für überzogen, die Strafnorm auch hier anzuwenden. Dies als Resultat des Spannungsverhältnisses zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit zu betrachten, ist jedoch reichlich übertrieben. Dem Aspekt der Geringfügigkeit kann, wie der Senat selbst zeigt, in aller Regel anderweitig Rechnung getragen werden. Im übrigen entspricht es dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, keine übermäßigen Strafen für geringfügiges und folgenloses Verhalten zu verhängen. Mit seiner Vorgehensweise begründet der Senat den Verdacht, die gesetzgeberische Regelung in Frage zu stellen und auf Umwegen auszuhebeln. Denn daß die Vorschrift vorliegende Situation erfaßt und ihrerseits nicht verfassungswidrig ist, bezweifelt auch er nicht. In folgender Entscheidung identifiziert der Große Senat die „unbilligen Härten“ unmißverständlich mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zugleich macht der BGH deutlich, daß es nicht darauf ankommt, was der Richter für „unbillig“ hält: Fall 334 (BGHSt GS 42, 113): Fraglich war, ob die zwischen 1986–89 erfolgte, ungenehmigte Ausfuhr von Waren in die DDR auch noch nach der Wiedervereinigung zu bestrafen ist. Der Große Senat gelangt zu dem Ergebnis, daß dem Gesetz durch die Wiedervereinigung nur die Wirkung für die Zukunft genommen wurde (S. 122). „Auch die Einmaligkeit des Vorgangs der Wiedervereinigung führt nicht zu der Annahme einer ,unbilligen Härte‘ als Ausprägung des auch das Strafrecht beherrschenden Verfassungsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Solche besonders bedeutsamen Ereignisse mögen zwar Anlaß zu gesetzgeberischen Erwägungen geben, sie können aber nicht durch eine autark judikative Lösung ersetzt werden, die unter Umständen im Parlament so nicht erreichbar war“ (S. 122 f.).

Auch sonst betont der BGH, daß Unbilligkeiten und unbillige Ergebnisse im Einzelfall nicht dazu berechtigen, von der gesetzgeberischen Regelung abzuweichen: BGHSt 7, 240 (244 f.) hält unbillige Ergebnisse für möglich, nimmt sie aber als gesetzgeberisch gewollt hin: „An Stelle der Gesetz gewordenen Regelung aber eine andere zu treffen, von der keineswegs feststeht, daß der Gesetzgeber sie gewollt hat oder gewollt hätte, ist der gemäß Art. 97 GrundG, § 1 GVG dem Gesetz unterworfene Richter nicht befugt . . .“. — BGHSt 6, 312 (314) erkennt nicht zu bestreitende Unbilligkeiten im Einzelfall. „Das darf jedoch kein Anlaß sein, das Gesetz in einer Weise auszulegen, die dem erklärten Willen des Gesetzgebers widerspricht.“ — BGHSt 9, 96 (oben Fall 165 – „Dritteinziehung“) weist auf die evident unbilligen Auswirkungen einer Einziehungsregel hin. Das allein berechtige den Richter jedoch „noch nicht ohne weiteres“ dazu, von der Anwendung der Norm abzusehen (S. 98). Die Berechtigung dafür folgert der Senat erst daraus, daß die Norm nicht mehr dem „Stand der Gesetzgebung“ entspreche.254

254

Dazu, daß auch diese Begründung nicht trägt, siehe oben Fall 165.

9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee

557

Die genannten Entscheidungen zeigen zugleich, worauf das Urteil der Unbilligkeit weiterhin gründen kann. Die veraltete Einziehungsregelung berücksichtigte etwa nicht die berechtigten Interessen des an der Tat nicht beteiligten, aber von der Einziehung betroffenen Eigentümers. Sie hätte den Anforderungen des Art. 14 GG nicht genügt, wenn der BGH keinen (allerdings höchst zweifelhaften) Weg gefunden hätte, sich über die unbillige Regelung hinwegzusetzen. In BGHSt 6, 312 und 7, 240 ging es um Straffreiheitsgesetze, bei deren Anwendung Unbilligkeiten und unangemessene Ergebnisse als „unausweichliche Folgen jeder Grenzziehung“ (BGHSt 7, 244) „nie ganz zu vermeiden“ (BGHSt 6, 314) sind. Hinter dem Vorwurf der Unbilligkeit steckt hier der Gleichbehandlungsgrundsatz als Ausprägung der materiellen Gerechtigkeit, denn die starren Zäsuren der Amnestiegesetze (Stichtagsregelungen u. ä.) lassen es mitunter als zufällig erscheinen, ob einem Täter die Begünstigung zuteil wird oder nicht. Die Ungleichbehandlung ist demnach im Gesetz selbst notwendig angelegt, aber gültiges Recht, soweit keine Verletzung des Art. 3 I GG festgestellt werden kann. Läßt die gesetzliche Regelung hingegen Spielraum, können drohende Ungleichbehandlungen bei der Auslegung berücksichtigt werden. Zumindest in Betracht kam dies in folgender Konstellation: Fall 335 (BGHSt 2, 230): Als gesetzliche „Billigkeitsregel“, die dem Grundsatz der Gleichbehandlung Rechnung trägt, kann die Vorschrift über die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe angesehen werden (§ 79 StGB a. F., § 55 g. F.): Der Täter soll nicht dadurch schlechter gestellt werden, daß seine Taten getrennt abgeurteilt werden, was von Zufällen abhängen kann. Von der Einbeziehung ausgeschlossen hat der Gesetzgeber freilich erledigte (z. B. verbüßte) Strafen, die nicht noch einmal Gegenstand richterlicher Erörterung werden sollten. Im Fall von BGHSt 2, 230 kam es hinsichtlich der Verbüßung auf die Frage des maßgeblichen Zeitpunkts an: Beim ersten tatrichterlichen Urteil war die einzubeziehende Strafe noch nicht verbüßt, beim zweiten Urteil, das nach erfolgreicher Revision notwendig war, war die Strafe verbüßt, so daß sie der Tatrichter nicht mehr einbezogen hat. Der Angeklagte hat eingewandt, daß die Anwendung des § 79 StGB (a. F.) nicht von der Schnelligkeit des Rechtsmittelverfahrens abhängen dürfe; zudem könne die Staatsanwaltschaft durch Einlegung eines Rechtsmittels eine Gesamtstrafenbildung verhindern. Deshalb müsse es auf die erste Verurteilung ankommen. Der Senat weist diese Einwände, die „allein auf Billigkeitserwägungen“ beruhten, zurück (S. 232). Gegenüber dem mit der Einschränkung der Gesamtstrafenbildung verfolgten Ziel (vgl. oben) könnten sie nicht durchdringen. „Die Billigkeitserwägungen übersehen, daß Härten stets auftreten können, wenn mehrere Straftaten, gleichgültig aus welchen Gründen, in verschiedenen Verfahren abgeurteilt werden.“ Etwaige Härten könne der Tatrichter bei der Strafzumessung ausgleichen (S. 233). – Der Grundsatz der Gleichbehandlung drängt dazu, die Einbeziehung auch im vorliegenden Fall zu ermöglichen, doch läßt das die gesetzliche Ausgestaltung aus anderen Gründen nicht zu. Das Anliegen des Angeklagten beruht aber nicht, wie der Senat abschätzig meint, „allein auf Billigkeitserwägungen“, sondern ist materiell gesehen und zur Vermeidung von Zufällen durchaus berechtigt. Das erkennt auch der Senat an, indem er den notwendigen Härteausgleich in den Bereich der Strafzumessung verweist.

558

VI. Sinn und Zweck

Die vorgestellten Konstellationen zeigen, daß sich hinter Billigkeitserwägungen durchaus ernstzunehmende Rechtspositionen verbergen können, die nicht lediglich auf einem vagen Gerechtigkeitsempfinden des Richters im Einzelfall basieren. Vor allem mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Grundsatz der gleichmäßigen Rechtsanwendung255 können viele der unpräzisen Formulierungen auf einen rationalen Kern gebracht werden. Auch im folgenden Fall beinhaltet das Argument der Billigkeit noch ein berechtigtes und für die Auslegung relevantes Einzelinteresse, auch wenn es sich gegenüber anderen Kriterien kaum durchsetzen könnte: Fall 336 (BGHSt 11, 56): Der Senat mußte eine Zuständigkeitsfrage entscheiden. Der Privatkläger hatte die in einer Druckschrift enthaltene Beleidigung angeklagt und dafür gemäß § 7 II 2 StPO den Gerichtsstand seines Wohnsitzes nutzen können. Später hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren übernommen (§ 377 II StPO), wodurch dem bisherigen Privatkläger nur noch die Stellung eines Nebenklägers zukam. Ist dadurch der in § 7 II 2 nur für den Privatkläger begründete Gerichtsstand erloschen? Der Senat lehnt das mit ausführlicher Begründung ab und weist abschließend darauf hin, daß dieses Ergebnis auch „gerechtfertigt“ sei (S. 62). § 7 II 2 „wolle die Interessen des Beleidigten wahren und ihn nicht zwingen, das Gericht des möglicherweise weit entfernten Erscheinungsortes der Druckschrift anzurufen. . . . Es wäre unbillig, ihm [dem Nebenkläger] die Wahrnehmung seiner Rechte durch die Übernahme des Verfahrens möglicherweise übermäßig zu erschweren.“ – Tragen würde diese Erwägung allein nicht, denn dem Nebenkläger steht das Privileg des § 7 II 2 auch sonst nicht zu; auch ihm mutet man zur Wahrung seiner Interessen Erhebliches zu.

In anderen Fällen bleiben Zweifel an der Rationalität der Argumentation, die dann nicht selten Ähnlichkeit mit kriminalpolitischen Überlegungen hat. Meistens geht es allerdings nicht darum, mit Billigkeitserwägungen von einer eindeutigen Rechtslage abzuweichen, sondern darum, die Folgen einer Interpretation zu bewerten und so die einfache Auslegung zu beeinflussen: Auffällig oft spricht der Große Senat in BGHSt GS 14, 38 (siehe oben Fall 304) von der Billigkeit. Bejahe man die Möglichkeit einer wiederholten Zueignung beim Tatbestand der Unterschlagung, führe das zu unbilligen Ergebnissen, da die strafrechtliche Selbständigkeit der Verwertungshandlung unter Umständen wieder auflebe (S. 45). Der Große Senat belegt dies mit vielen Beispielen, in denen die spätere Zueignung entweder für den Täter selbst (Verjährung, Amnestie) oder aber für einen Teilnehmer als Anknüpfungstat Bedeutung erlangt. „Solche Folgen können aber nicht gebilligt werden“ (S. 45 f.). – Ob die Folgen der einen oder der anderen Auffassung „billig“ oder „unbillig“ sind, ist eine Frage der Perspektive. Ebenso plausibel kann begründet werden, weshalb es „unbillig“, „unangemessen“ oder „kriminalpolitisch unerwünscht“ wäre, auf die strafrechtliche Selbständigkeit der Verwertungshandlungen zu verzichten.256

255 Siehe als weiteres Beispiel oben BGHSt 26, 358 (362) = Fall 331: Die Auslegung widerspreche nicht der „Billigkeit und der Vorstellung von der gerechten Strafe“.

9. Rechtssicherheit/Gerechtigkeit/Rechtsidee

559

Ähnlich wie mit der Billigkeit kann es sich mit dem Wertmaßstab der „Angemessenheit“ verhalten. Die Beurteilung dessen, was einem Gegenstand angemessen ist, entzieht sich leicht rationaler Kontrolle, wenn nicht wiederum handfeste Kriterien (wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) ausfindig gemacht werden können, die sich hinter dieser Formulierung verbergen. Fall 337 (BGHSt 32, 60): § 41 StGB läßt die Verhängung einer Geldstrafe neben einer Freiheitsstrafe zu, wenn der Täter sich „durch die Tat“ bereicherte oder bereichern wollte. Wie steht es mit dem Steuerberater, der bei einer Steuerhinterziehung mitwirkt, um von seinem Mandanten zusätzliche Aufträge zu erhalten. Nach Ansicht des Senats liegt auch hier eine Bereicherung durch die Tat vor, was aus Entstehungsgeschichte und Zweck der Norm folge (S. 62 f.). Eine andere Auslegung würde zu „unangemessenen Ergebnissen führen. Der vorliegende Fall zeigt, daß gerade bei Steuerstraftaten ein Bedürfnis dafür bestehen kann, nicht nur denjenigen, dem die unmittelbaren Vorteile der Steuerhinterziehung zufließen, zusätzlich mit Geldstrafe zu belegen, sondern auch denjenigen, der zugunsten des Steuerpflichtigen eine Steuerhinterziehung begeht, um sich durch das erwartete Tatentgelt zu bereichern“ (S. 63). – Die kriminalpolitische Ergebniskontrolle ist nichtssagend und zirkulär; sie entwertet die vorrangigen Ausführungen zu den üblichen Auslegungskriterien.

e) Der Zufall Keiner näheren Begründung bedarf, daß die Auslegung nicht von Zufälligkeiten abhängen darf. Darin läge sowohl ein Verstoß gegen das Gebot gleichmäßiger Rechtsanwendung als auch gegen das Ideal vorhersehbarer Entscheidungen. Der Zufall ist eine sachfremde und störende Variable in einer um Herstellung konsistenter Wertungen bemühten juristischen Dogmatik. Es ist gut verständlich, daß die Rechtsprechung zur Widerlegung von Gegenauffassungen auf dieses Argument zurückgreift, sobald es in Betracht kommt.257 Besonders typisch ist die Konstellation, daß die sachlich zutreffende Entscheidung an Zufälligkeiten der Verfahrensgestaltung zu scheitern droht: Darauf beruht etwa die Vorschrift über die nachträgliche Gesamtstrafenbildung (vgl. oben Fall 335): Wann Taten abgeurteilt werden, kann von Zufällen abhängen; das darf sich nicht zulasten des Täters auswirken. Und auch in Situationen, in denen die Anrechnungsnorm (§ 55 StGB) aus formalen Gründen nicht greift, kann es notwendig sein, die Zufälle zumindest durch einen Härteausgleich in der Strafzumessung zu kompensieren. So weist etwa BGHSt 43, 79 darauf hin, daß der Gedanke des Härteausgleichs auch für In- und Auslandstaten gelten müsse, denn auch dort hänge 256 Siehe bereits oben Fall 304. Ein verwertbares Argument des Großen Senats ist hingegen der Hinweis auf die andernfalls eintretenden Wertungswidersprüche zu § 257 StGB (vgl. a. a. O., S. 46). 257 Siehe BGHSt 2, 364 (369); 3, 1 (2); 9, 84 (87); 12, 129 (134); 13, 91 (94); 14, 391 (394); 24, 208 (211 f.); 29, 370 (379); 36, 205 (210); 43, 79 (80); RGSt 71, 218 (220).

560

VI. Sinn und Zweck

die getrennte oder gemeinsame Aburteilung von Zufälligkeiten wie z. B. der Zusammenarbeit der Behörden ab (S. 80). Fall 338 (BGHSt 24, 208): Gemäß § 357 StPO erstreckt sich die Wirkung eines aufhebenden Revisionsurteils auch auf den Mitangeklagten, der kein Rechtsmittel eingelegt hat. Über den Wortlaut hinaus wendet die Rechtsprechung die Norm auch dann an, wenn das Revisionsgericht das Verfahren wegen eines Verfahrenshindernisses einstellt und das Verfahrenshindernis die Mitangeklagten gleichermaßen betrifft. Nach BGHSt 24, 208 darf die Erstreckungswirkung dann aber nicht davon abhängen, ob das Revisionsgericht das Verfahren durch Urteil oder Beschluß einstellt. Andernfalls „bliebe es aus der Sicht des Mitbetroffenen dem Zufall der Verfahrensgestaltung überlassen, ob seine Belastung mit den Folgen der Verurteilung entfiele oder nicht. Ein solches Ergebnis stände aber in einem untragbaren Gegensatz zu dem Gesetzeszweck der Erstreckungsvorschrift“ (S. 211 f.). – Der Gesetzeszweck trifft die Situation unabhängig von der Verfahrensgestaltung, und deshalb verlangt der Grundsatz der Gleichbehandlung, insoweit keine Differenzierung vorzunehmen.258

Da der Grundsatz der Gleichbehandlung tragender Faktor einer Analogie ist, wird die Vermeidung von Zufälligkeiten, die der gebotenen Gleichbehandlung entgegenstehen, auch im Bereich der Rechtsfortbildung als Argument genutzt: Nach Ansicht von BGHSt 13, 91 (oben Fall 226) wäre es „höchst eigenartig und mit dem Sinn des § 42m [a. F.] unvereinbar“, daß die Fahrerlaubnis zwar im normalen Strafverfahren, nicht aber im Sicherungsverfahren entzogen werden darf (S. 95). Bisweilen hänge es vom Zufall ab, ob die Zurechnungsunfähigkeit eines Beschuldigten bereits vor der Anklage untersucht und welche Verfahrensart gewählt wird (S. 94 f.). – Die Tatsache, daß der damalige Gesetzestext die Möglichkeit des Fahrerlaubnisentzuges im Sicherungsverfahren nicht vorsah und damit das Gesetz ergänzt oder korrigiert wird, läßt der Senat in Anbetracht evidenter Sachgründe in den Hintergrund treten (näher oben Fall 226).

Unter Umständen sieht aber auch der BGH sich angesichts rechtsstaatlicher Erfordernisse gehindert, dem Grundsatz der Gleichbehandlung Rechnung zu tragen. BGHSt 19, 158 (oben Fall 33) konstatiert, daß die fragliche Einziehungsregel mitunter „zu zweckwidrigen, vom Zufall abhängigen und oft unsinnigen Ergebnissen“ führe; Abhilfe könne jedoch nur der Gesetzgeber schaffen (S. 163). f) Fazit Rechtssicherheit und Gerechtigkeit beeinflussen die Gesetzesauslegung oftmals und in vielfältiger Weise. Fraglich ist, ob und wann es sich dabei um durchsetzbares Recht oder lediglich um Ideale handelt. Die Rechtssicherheit fließt im Strafrecht insbesondere durch das verfassungsrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip als höherrangiges Recht ein, wirkt darüber hinaus und vorrangig aber als Ideal, das dem Rechtsanwender die Wahl möglichst vorhersehbarer und 258

Ähnlich liegt BGHSt 14, 391 (394).

10. Praktikabilität/Bedürfnisse der Praxis

561

trennscharfer Interpretationen nahelegt. Inhaltliche Vorgaben sind dem Kriterium der Rechtssicherheit freilich selten zu entnehmen; dagegen sind Aussagen darüber, welches Verständnis der Rechtssicherheit eher entspricht, in der Regel ohne weiteres möglich. Problematischer verhält es sich mit der Gerechtigkeit. Einerseits hat sie in ihrer Ausprägung als Gleichbehandlungsgrundsatz einen faßbaren und handhabbaren Gehalt, der die Rechtsanwendung maßgeblich bestimmt. Anderseits macht die Praxis sich das Argument der Gerechtigkeit in fragwürdiger Weise zunutze, indem es zur Überwindung eindeutiger Ergebnisse oder zur Entscheidung contra legem mißbraucht wird; auf die Gerechtigkeit gestützte Kontrollen des Auslegungsergebnisses erweisen sich zum Teil als fruchtlos und ebenso verdächtig wie kriminalpolitische Erwägungen. Ein höchst unsicherer und in jedem Fall unverbindlicher Maßstab ist das „Gerechtigkeitsempfinden“, auf dessen Einsatz in Entscheidungsbegründungen verzichtet werden sollte. Weniger Schwierigkeiten bereiten die Rechtsprinzipien der Rechtssicherheit und Gerechtigkeit bei der Auslegung von Normen, deren Zweck es ist, einen Konflikt zwischen den beiden Prinzipien zu entscheiden. Dann muß auch die Interpretation sich direkt mit den Ausprägungen der Rechtsidee beschäftigen und prüfen, welcher der Gesetzgeber den Vorrang eingeräumt hat. Des öfteren argumentieren die Gerichte mit der Billigkeit. Zweifel an der Rationalität entsprechender Ausführungen liegen nahe, jedoch verbergen sich hinter Billigkeitserwägungen häufig durchaus ernstzunehmende, insbesondere grundrechtliche Rechtspositionen. Sowohl der Rechtssicherheit als auch der Gerechtigkeit ist es abträglich, wenn der Zufall Einfluß auf die Auslegung und ihre Ergebnisse gewinnt.

10. Praktikabilität/Bedürfnisse der Praxis Häufig bemühen die Strafsenate sich darum, den Bedürfnissen der Praxis Rechnung zu tragen, indem nach praktikablen, einfach handhabbaren und leicht abgrenzbaren Lösungen gesucht wird. Praktikable und einfach zu handhabende Vorschriften dienen einerseits den Interessen von Judikative und Exekutive, also dem Normanwender.259 Andererseits entsprechen sie einer Forderung der Rechtssicherheit, denn nicht lösbare Abgrenzungsprobleme und komplizierte Differenzierungen stehen der Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlicher Entscheidungen entgegen, mindern die Orientierungsgewißheit des Bürgers.260 259 Belange der Gerichte prüfen etwa BGHSt 1, 334 (336); 7, 153 (155); 14, 233 (238); 17, 161 (165); 27, 56 (59); 33, 155 (158); 38, 281 (284); 42, 306 (312); 45, 46 (49 f.); 45, 92 (96); 45, 253 (256). Belange der Exekutive: BGHSt 2, 338 (340); 17, 267 (276); 28, 327 (329); 29, 187 (192). Sowohl als auch: BGHSt 17, 101 (109 f.); 25, 109 (112); 47, 89 (98 f.). 260 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 75: Das Gebot der Rechtssicherheit verlange u. a. die sichere Handhabbarkeit des Rechts und seine Praktikabilität; ähnlich Herschel, JZ 1967, 727 (732 f.).

562

VI. Sinn und Zweck

BGHSt 45, 92 (96) beruft sich auf „praktische Gründe der Rechtsanwendung“, denn die Gegenauffassung müsse auf nicht trennscharfe Abgrenzungskriterien zurückgreifen, welche die Praxis vor erhebliche Schwierigkeiten stellen würde. Ähnlich argumentiert BGHSt 45, 253 (256): Gegen die vorgeschlagene Differenzierung sprächen nicht zuletzt „durchgreifende Praktikabilitätserwägungen“, da sie „zu nicht lösbaren Abgrenzungsschwierigkeiten führt“. Beide Entscheidungen hätten neben der Praktikabilität auf die Rechtssicherheit verweisen können. Fall 339 (BGHSt 17, 267 = oben Fall 160): Besonders deutlich ist die Verknüpfung in BGHSt 17, 267. Dort hält der Senat daran fest, daß die Hackfleischverordnung den Vertrieb von Hackfleisch nur in einem Fleischereibetrieb zuläßt, nicht aber in dessen Filialen. Fortschritte in der Kühltechnik vermöchten daran nichts zu ändern. Die Zulassung des Vertriebs an anderen Orten würde Schwierigkeiten in der praktischen Handhabung verursachen, die den Schutzzweck der Verordnung insgesamt in Frage stellen könnten (S. 275 f.). Wann ein Transport zu einer erhöhten Gefahr des Keimbefalls führe, könne angesichts der Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten kaum sicher beurteilt werden; dadurch würden Irrtümer provoziert und Umgehungsmöglichkeiten ermöglicht (S. 276). Die Kontrollorgane sähen sich bei der Beurteilung des Einzelfalls „vor kaum lösbare Aufgaben gestellt“. Angesichts der jederzeit drohenden Gefahren sei zudem eine andauernde Überwachung jedes Einzelbetriebs erforderlich, die „undurchführbar“ erscheine.

Die Erwägungen in BGHSt 17, 267 zeigen aber nicht nur den Zusammenhang von Praktikabilität und Rechtssicherheit, sondern darüber hinaus, daß die Frage nach der praktischen Handhabung und Durchsetzbarkeit Bestandteil der teleologischen Auslegung sein kann. Es liefe dem Schutzzweck der Hackfleischverordnung zuwider, wenn eine unpraktikable Einzelfallprüfung der Betriebe durchzuführen wäre. Die einfache Handhabung der Norm mag insoweit nicht Hauptzweck der Vorschrift sein, aber sie dient seiner besseren Verwirklichung; sie wird ihrem Schutzzweck besser gerecht.261 Deshalb darf und muß die Praktikabilität als Gesichtspunkt der Normkonkretisierung berücksichtigt werden, wenn sie auch der Gesetzgeber als relevanten Aspekt bei der Ausgestaltung der Norm einfließen ließ. Für einige Rechtsgebiete wird das eher in Betracht kommen als für andere. Insbesondere das Verfahrensrecht wird Belangen der Praktikabilität bereits in zahlreichen Vorschriften Rechnung tragen, um eine ökonomische Vorgehensweise zu gewährleisten, aber auch im materiellen Recht ist Entsprechendes denkbar (vgl. oben BGHSt 17, 267). BGHSt 34, 154 (158) sieht „keine durchgreifenden Bedenken, diese Erwägungen, die sich weitgehend von Gesichtspunkten prozessualer Zweckmäßigkeit leiten lassen, bei der Auslegung des . . . zu berücksichtigen . . . Die Neuregelung der Unterbrechung der Hauptverhandlung beruht überwiegend auf Gründen bloßer Zweckmäßigkeit.“ – Daß Verfahrensnormen von „bloßen“ Zweckmäßigkeitsüberlegungen geprägt 261 Daß die Praktikabilität zur teleologischen Auslegung gehören kann, meint z. B. Ecker, JZ 1967, 265 (269 f.); Wank (Auslegung, S. 79, 81) zählt sie zu den „abstrakten Normzwecken“, „die allen Gesetzen gemeinsam sind“ (vgl. oben Fn. 199).

10. Praktikabilität/Bedürfnisse der Praxis

563

sind, ist nicht ungewöhnlich. Der Senat muß sich ihrer Heranziehung nicht schämen. — Nach BGHSt 2, 390 (392) bedarf gerade der Straßenverkehr fester Regeln. „Die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs erfordert, daß jeder Verkehrsteilnehmer weiß, wohin er gehört. Dazu sind feste Grenzen erforderlich.“ – Klare Vorgaben im Straßenverkehr dienen sowohl der Rechtssicherheit (für die Betroffenen) als auch der Durchsetzbarkeit (für die Behörden), aber auch der Schutzzweck der einzelnen Verkehrsregeln kann praktikable und einfache Lösungen erfordern. — Erwähnt werden kann ferner das inzwischen aufgegebene Institut der fortgesetzten Handlung, dessen Rechtfertigung nach Ansicht von BGHSt GS 40, 138 (158) in erster Linie auf Gründen der „Praktikabilität und Prozeßökonomie“ beruhte. Ist das aber der Fall, dann durfte auch die weitere Konkretisierung dieses Instituts auf diese Aspekte Rücksicht nehmen.

Freilich kann es sich als schwierig erweisen, allgemeine Praktikabilitätsüberlegungen von solchen zu unterscheiden, die tatsächlich in einzelnen Normen angelegt sind oder ganze Normbereiche prägen. Zu undifferenziert wäre etwa die Ansicht, das Verfahrensrecht bezwecke stets die praktikabelste und einfachste Lösung, die der Praxis den geringsten Aufwand bereitet, denn auch im Verfahrensrecht kann der Gesetzgeber anderen Gesichtspunkten (Gerechtigkeit, Rechtssicherheit) den Vorzug einräumen.262 Fall 340 (BGHSt 7, 153): Der Senat lehnt es ab, einen Freispruch mangels erwiesener Schuld (Freispruch „zweiter Klasse“) als Beschwer i. S. des Rechtsmittelrechts aufzufassen. Dem im Einzelfall verständlichen Anliegen des Betroffenen könne nicht dadurch entsprochen werden, daß das Rechtsmittelgericht die Anfechtung jedenfalls dann gestatte, wenn ein berechtigtes Interesse vorliege (S. 154). „Dies würde das Gericht vor eine kaum lösbare Aufgabe stellen und könnte zur Ungleichheit führen. Ein bestimmter und einfacher Grundsatz ist erforderlich, zumal da es sich um das Verfahrensrecht handelt.“ Darüber hinaus führe die Anerkennung einer Beschwer „zu einer weiteren Überlastung der Gerichte und damit im Ergebnis zu einer Verschlechterung der Rechtsprechung“ (S. 155). Die Richter des ersten Rechtszuges müßten erhebliche Mehrarbeit leisten, da auch Beweise hinsichtlich der Unschuld des Angeklagten erhoben werden müßten. „Dadurch würde in schädlicher Weise die Strafrechtspflege äußerlich und innerlich von ihrer Hauptaufgabe abgelenkt werden. Diese besteht darin, so gründlich, gerecht und schnell wie möglich über die Bestrafung zu entscheiden und auf diese Weise das Verbrechen als Erscheinung des Gemeinschaftslebens nachdrücklich und wirksam zu bekämpfen.“ – Die Argumente der Praktikabilität lenken vom Thema ab. Die Zulässigkeit eines Rechtsmittels vom Nachweis eines berechtigten Interesses abhängig zu machen, ist in der Rechtsordnung nichts Ungewöhnliches und durchführbar. Wenig überzeugend ist außerdem das Argument der erheblichen Mehrarbeit, denn konsequent müßte es zu einem generell restriktiven Verständnis von Zulässigkeitsregelungen führen. Fall 341 (BGHSt 14, 233): Der Senat relativiert in fragwürdiger Weise das für die Einlegung von Rechtsmitteln geltende Schriftformerfordernis u. a. aus Praktikabili262 Vgl. auch BGHSt 26, 106 (110): „Dabei ist bereits zweifelhaft, ob und inwieweit prozeßökonomische Überlegungen es zulassen könnten, eine aus dem Gesetz zwingend abzuleitende Rechtsfolge außer Betracht zu lassen.“

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VI. Sinn und Zweck

tätserwägungen: Dem Rechtssuchenden dürften keine „unnötigen Schwierigkeiten“ bereitet werden; bei anderer Auffassung drohe angesichts möglicher Wiedereinsetzungsanträge „zwecklose Mehrarbeit“ (S. 238; siehe näher oben Fall 157). – Formale Grenzen bereiten dem Rechtssuchenden immer Schwierigkeiten, Wiedereinsetzungsanträge bedeuten stets Mehrarbeit. Das heißt aber nicht, daß der Gesetzgeber dies nicht doch im Interesse der Rechtssicherheit in Kauf genommen hat und die Aufweichung der Grenzen seinem Willen zuwiderläuft.

Für alle übrigen Fälle gilt, daß allgemeine Praktikabilitätserwägungen nur im Rahmen des rechtlich Möglichen berücksichtigt werden dürfen, wenn also die übrigen Auslegungskriterien ihre Berücksichtigung zulassen. Noch stärker als die Rechtssicherheit, die in extremen Fällen mit verfassungsrechtlichem Gewicht (Bestimmtheitsgebot) die Auslegung beeinflussen kann, wirkt die Praktikabilität lediglich als Ideal oder Optimierungsgebot: Gibt es mehrere Interpretationen, die dem Gesetzeszweck (und den übrigen Kriterien) gerecht werden, dann darf diejenige gewählt werden, die in der Praxis mit dem geringsten Aufwand zu handhaben ist.263 Dafür spricht der in der Rechtsidee wurzelnde allgemeine Gedanke der Zweckmäßigkeit. Kann das Ziel auf verschiedene Weise erreicht werden, darf dazu kein unnötig aufwendiges Mittel eingesetzt werden.264 Grundsätzlich erkennen auch die Strafsenate die nur subsidiäre Funktion von Praktikabilitätserwägungen an: Nach BGHSt 2, 338 (340) schließt es die eindeutige Fassung der Norm aus, den Begriff der Steuerunehrlichkeit „angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre aus Gründen des praktischen Bedürfnisses der Steuerbehörden“ auszudehnen. — In BGHSt 29, 187 (192) konstatiert der Senat, daß die von ihm vorgenommene einschränkende Auslegung „in der Praxis nicht immer zu befriedigenden Ergebnissen“ führt, sie „jedoch aus Rechtsgründen geboten“ sei. — BGHSt 38, 281 (284) nimmt die mit der Auslegung verbundenen „Differenzierungsprobleme der Praxis“ zur Kenntnis, sieht darin aber keine Rechtfertigung, auch Kundenkarten als „Kreditkarten“ i. S. des § 266b StGB zu betrachten und damit die Strafbarkeit zu erweitern.265

Als nachrangiges Argument können Praktikabilität und Wirtschaftlichkeit bei der Auslegung immer herangezogen werden, sei es auch nur zur Unterstützung des anderweitig gewonnenen Ergebnisses:266 263 Enneccerus, Bürgerliches Recht, S.118: Bei der Gesetzesauslegung „ist die leichte Erkennbarkeit und Durchführbarkeit (Praktikabilität) zu erstreben“. Schmalz (Methodenlehre, Rn. 268) hält es stets für zulässig, Aspekte der Praktikabilität zu beachten. 264 Siehe Bydlinski, Methodenlehre, S. 330, 333. 265 Ranft weist in seiner Anm. darauf hin, daß hier in erster Linie der Gesetzgeber den „völlig sinnlosen Arbeitsaufwand der Gerichte“ zu vertreten habe (NStZ 1993, 185 [186]). 266 Siehe neben den sogleich genannten Fällen noch BGHSt 23, 261 (265): „Dieses Ergebnis hat im übrigen auch den Vorzug der Praktikabilität“ und BGHSt 27, 56 (59); 45, 92 (96).

10. Praktikabilität/Bedürfnisse der Praxis

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In BGHSt 17, 101 (oben Fall 333) stützt der Senat seine Auffassung zur Rechtskraftwirkung einer gebührenpflichtigen Verwarnung schließlich mit Belangen von Exekutive und Judikative: Das Ergebnis bringe „auch klare Richtlinien für die Praxis“ (S. 109). Der Polizeibeamte müsse nicht befürchten . . . und die Gerichte seien der „schwierigen und oft kaum zu lösenden Aufgabe enthoben, zu prüfen . . .“ (S. 109 f.).267 — Nach BGHSt 17, 161 (oben Fall 332) hat die Auslegung, die hinsichtlich der „dauernden Entstellung“ als Folge einer Körperverletzung technische Ersatzmöglichkeiten (Prothese) außer Betracht lassen will, den „praktischen Vorteil, daß der Richter sich . . . von den häufig vom Zufall abhängigen Möglichkeiten eines künstlichen Ersatzes des vom Opfer erlittenen Verlustes freimachen kann“ (S. 165). — BGHSt 42, 306 (312) konstatiert, daß die Gegenauffassung „außerdem zu widersinnigen und unpraktikablen Ergebnissen führen“ würde, denn der Richter müßte die Maßnahme aufrechterhalten, obwohl feststeht, daß deren Voraussetzungen nicht gegeben sind; erst der Vollstreckungsrichter könnte dem Rechnung tragen.268

Auf vorgebrachte Praktikabilitätsaspekte läßt sich die Rechtsprechung meistens und auch dann ein, wenn sie eine gegenteilige Lösung wählt. Unter Umständen finden die Senate Möglichkeiten, die Einwände zu entkräften: Fall 342 (BGHSt 33, 155): Im ehrengerichtlichen Verfahren gegen einen Rechtsanwalt sind die tatsächlichen Feststellungen eines strafgerichtlichen Urteils grundsätzlich bindend (§ 118 III 1 BRAO). Bezweifeln die Richter jedoch die Richtigkeit der Feststellungen, gestattet § 118 III 2 eine erneute Beweiserhebung. Davon abweichend hat die Vorinstanz zu BGHSt 33, 155 ein Bedürfnis gesehen, mit einer Beweiserhebung zu prüfen, ob solche Zweifel bestehen. Der BGH hält dies für einen unzulässigen Mittelweg, der sich „auch nicht aus praktischen Bedürfnissen rechtfertigen“ lasse (S. 157 f.). Zusätzlich stellt der Senat klar, daß auch das Gesetz eine ökonomische Vorgehensweise zuläßt, denn etwaige Zweifel nötigten nicht zur Überprüfung des gesamten Urteils; die Beweisaufnahme könne sich auf bestimmte Punkte beschränken (S. 158). Fall 343 (BGHSt 47, 89): Ungewöhnlich ausführlich beschäftigt sich BGHSt 47, 89 mit den Bedürfnissen der Praxis. Nach Ansicht des Senats macht der Inhaber einer ausländischen Fahrerlaubnis sich nicht schon dadurch gemäß § 4 IntVO (i. d. F. bis 1998) strafbar, daß er die Fahrerlaubnis nicht bei sich führt (eingehend oben Fall 201). Das Ergebnis dieser Ansicht sei nicht „unerträglich“ (S. 98). Allerdings sei „einzuräumen, daß die Notwendigkeit, dem Kraftfahrzeugführer, der sich auf eine ausländische Fahrerlaubnis beruft, diese Einlassung zu widerlegen, die Arbeit der Behörden der Verkehrsüberwachung und der Gerichte erschweren wird“. In Einzelfällen könnten die Ermittlungen, je nach Organisation des jeweiligen Staates, sogar „auf unüberwindbare Schwierigkeiten stoßen“. Dennoch erscheine es als zweifelhaft, ob die „Folgenbetrachtung“ nicht eher gegen die Strafbewehrung spreche, denn überwiegend gehe es um Personen aus Nachbarstaaten und im Hinblick auf das europäische Recht sei es problematisch, diese Personen anders zu behandeln als deut-

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Fast gleichlautend: BGHSt 4, 135 (137). Die unpraktikable Verfahrensweise dürfte hier wiederum zugleich gegen den Gesetzeszweck verstoßen. Der „Widersinn“ könnte freilich in einer gesetzlichen Fehlkonstruktion begründet sein. 268

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VI. Sinn und Zweck

sche Fahrer (S. 99). Für eine Differenzierung nach dem Herkunftsland (EU/andere Staaten) lasse die Norm aber keinen Raum.269 „Im übrigen darf der Aufwand für die Verkehrsüberwachungsbehörden und Gerichte nicht überschätzt werden.“ Vagen Einlassungen des ausländischen Fahrzeugführers bezüglich seiner Fahrerlaubnis könne mit den Grundsätzen zur freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) Rechnung getragen werden.

Die Rechtsprechung gibt sich zum Teil große Mühe, praktikable Ergebnisse zu erzielen. Andererseits zeigt BGHSt 47, 89, daß auch erheblicher praktischer Aufwand hingenommen werden kann. Solange der Zweck der Norm nicht vereitelt und die Rechtssicherheit nicht gefährdet wird, sind Schwierigkeiten der Praxis (aus Sicht eines Revisionsgerichts) stets zweitrangig und zu bewältigen. In vielen Entscheidungen bringt das der BGH unmißverständlich zum Ausdruck: BGHSt 1, 334 (336) lehnt es ab, die Begründungsanforderungen für den Ausschluß der Öffentlichkeit im Strafprozeß herabzusetzen. „Wesentliche praktische Verfahrensgründe stehen dem nicht entgegen. Das Gesetz fordert damit vom Gericht auch nichts schwer Erfüllbares oder die Hauptverhandlung besonders Erschwerendes.“ — Nach BGHSt 11, 228 (232) bedeutet es keine „unbillige Zumutung an den Landesgesetzgeber“, die fahrlässige Begehung von Ordnungswidrigkeiten nur für den Fall anzuerkennen, daß dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist. Die veränderte bundesrechtliche Situation sei bekannt gewesen. — BGHSt 45, 46 (49 f.) meint, einem Strafbefehl komme anders als einem strafgerichtlichen Urteil keine Bindungswirkung im anwaltsgerichtlichen Verfahren zu (vgl. § 118 III 1 BRAO). „Ernstliche Anhaltspunkte dafür, daß die Anwaltsgerichte mit den beschriebenen Anforderungen der Beweiserhebung über anwaltliches Fehlverhalten, das bereits Gegenstand eines Strafbefehlsverfahrens gewesen ist, überfordert sein könnten, liegen nicht vor.“ – Praktischer wäre die gegenteilige Ansicht offenbar schon. — Auf den Kopf stellen könnte man die Argumentation aus BGHSt 17, 161 (vgl. oben Fall 332, „dauernde Entstellung“): Von den Gerichten würde nichts Unerfüllbares verlangt, wenn sie die technischen Ersatzmöglichkeiten zu berücksichtigen hätten. Dem Richter wird auch sonst einiger Aufwand bei der Urteilsfindung abverlangt! (Vgl. § 46 StGB.)

Recht barsch weist der BGH die Belange der Exekutive in folgender Entscheidung zurück. Der Grund leuchtet allerdings unmittelbar ein: Fall 344 (BGHSt 28, 327): Das Gericht dürfe nicht auf eine Unterbringungsentscheidung gemäß § 64 StGB verzichten, nur weil es im Vollzugsgebiet keine adäquate Anstalt gebe (S. 329). „Es kann nicht Sache der Gerichte sein, einem eindeutigen Gesetzesbefehl die Gefolgschaft deshalb zu versagen, weil die Exekutive nicht die zu seiner Durchführung erforderlichen Mittel bereithält. So wäre es schlechthin gesetzwidrig, eine Freiheitsstrafe nur deshalb nicht zu verhängen, weil nach einer vom Gericht erholten Auskunft die Vollzugsanstalten des Landes überbelegt sind. . . . Anderenfalls hätte es die Verwaltung in der Hand, durch Verzögerung der notwendi269 Der Senat sticht damit innerhalb der „Folgenbetrachtung“ die Praktikabilitätserwägungen mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung aus. Es fällt nicht leicht, dem umständlichen Begründungsweg des Senats zu folgen.

11. Argumentation aus dem „Wesen‘‘/sonstige Floskeln

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gen Maßnahmen die Durchführung eines Gesetzes für einen ihr richtig erscheinenden Zeitraum zu verhindern.“

Festzuhalten bleibt: Praktikabilitätserwägungen sind regelmäßig nur nachrangige Gesichtspunkte der Auslegung, die gegenüber den übrigen Faktoren zurücktreten und als Ideal wirken. Die Rechtsprechung berücksichtigt sie, soweit es ihr vertretbar erscheint, hat andererseits aber auch keine Scheu, Belastungen und Schwierigkeiten der Praxis als hinnehmbar zu betrachten. Der Wert von Praktikabilitätserwägungen steigt allerdings nicht selten dadurch, daß einfache und handhabbare Lösungen sich zugleich als eine Forderung der Rechtssicherheit darstellen können. In manchen Fällen, vornehmlich in bestimmten Rechtsgebieten, kann der Aspekt der leichten Handhabbarkeit aber auch im Gesetz selbst als teleologischer Gesichtspunkt verankert und damit „echtes“ Kriterium der Normkonkretisierung sein.

11. Argumentation aus dem „Wesen“/sonstige Floskeln a) Argumentation aus dem „Wesen“ Vielfach ist in Urteilsbegründungen der Strafsenate vom „Wesen“ die Rede. Die Verwendung dieses Ausdrucks scheint allerdings eine Frage des Zeitgeistes oder der Sprachmode zu sein, denn die Strafsenate greifen immer seltener darauf zurück: In BGHSt 1–22 wird der Ausdruck 279 Mal, in BGHSt 23–44 nur 85 Mal gebraucht. Noch drastischer zeigt sich die abnehmende Tendenz, wenn man jeweils 10 Bände der amtlichen Sammlung vergleicht: BGHSt 1–10: 174 Mal, BGHSt 11–20: 92 Mal, BGHSt 21–30: 64 Mal und in BGHSt 31–40 nur noch 31 Mal.

Die Zurückhaltung ist begreiflich, denn der vage Begriff des Wesens steht unter dem Verdacht, daß er den klaren Blick vernebelt und von den wirklichen Argumenten ablenkt. Der Vorwurf ist berechtigt, soweit der Rechtsanwender mit der Berufung auf das „Wesen“ die notwendige Begründung seiner Ansicht verweigert. Denn das „Wesen“ der Dinge ist selbst kein Argument der Gesetzesauslegung,270 sondern allenfalls eine Zusammenfassung dessen, was mit den klassischen Methoden als das Kennzeichnende, als das Wesentliche oder als die Eigenart eines Rechtsinstituts oder Rechtsbegriffs ermittelt wurde.271 Mit gutem Grund kann man das Wesen deshalb als „Kryptoargument“ bezeichnen, hinter

270 Abwertend etwa BGHSt 7, 300 (303): „Daß zum Rückfall mehrere Bestrafungen gehören, folgt demnach nicht aus einer theoretischen Ansicht über das ,Wesen der Dinge‘.“ 271 Siehe auch Duden, Großes Wörterbuch, Bd. 10, S. 4497: „das Besondere, Kennzeichnende einer Sache, Erscheinung, wodurch sie sich von anderen unterscheidet“.

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VI. Sinn und Zweck

dem sich die eigentlichen juristischen Auslegungskriterien oder deren Resultate verbergen.272 Nach Ansicht von BGHSt 24, 72 (77) gehört „zum Wesen der fortgesetzten Handlung, wie sie begrifflich von der Rechtsprechung entwickelt worden ist“, zum einen der Gesamtvorsatz, zum anderen die mehrmalige Verwirklichung des Tatbestandes. Das Wesen faßt also die zuvor erarbeiteten Begriffsmerkmale zusammen. Synonym könnte vom „Begriff“ (der fortgesetzten Handlung) gesprochen werden. — BGHSt 33, 133 (135 f.) sagt, es liege „im Wesen der abstrakten Gefährdungsdelikte, daß sie gelegentlich auch Sachverhalte erfassen, in denen sich im Einzelfall die Gefahr nicht verwirklichen konnte“. Damit gibt der Senat den Stand der herrschenden Dogmatik wieder, der zuvor mit den klassischen Methoden begründet werden mußte. Die Gegenansicht unterstellt dem abstrakten Gefährdungsdelikt freilich ein anderes Wesen! — Als Zweckargument wird das Wesen von BGHSt 41, 310 (313) verwendet: Die Abhängigkeit von Zufälligkeiten widerspräche dem „Wesen der nachträglichen Gesamtstrafenbildung“; „denn durch sie soll erreicht werden, daß der Angeklagte genauso gestellt wird, wie wenn alle Straftaten gleichzeitig abgeurteilt werden würden“.

Das Wesen des „Wesensargumentes“ liegt häufig allein in einem Verdichtungs- oder Verkürzungsmechanismus: Verstößt eine Ansicht gegen das „Wesen“ eines Rechtsinstituts oder einer dogmatischen Figur, ist damit lediglich gemeint, daß sie dem anerkannten Inhalt der Rechtsfigur widerspricht. So ist es zu verstehen, wenn die Revisionsgerichte etwa ausführen, die Vorinstanz oder die Revision habe das Wesen der Wertersatzstrafe, des Alibibeweises, der Beihilfe, der reinen Schuldstrafe oder sogar des Rechts selbst verkannt.273 Grundsätzlich ist eine solche verkürzende Argumentation nicht zu beanstanden, aber im Zweifelsfall ist die Berufung auf das Wesen als Begründung zu schwach; dann bedarf es der Darlegung, aus welchen Merkmalen sich das „Wesen“ zusammensetzt und ob an den dafür verantwortlichen Gründen festzuhalten ist. Das entspricht der Forderung methodischer Redlichkeit und den Ansprüchen des Rechtssuchenden.274 Im Problemfall bedarf das Wesen demnach der Dechiffrierung; denn der Deduktion ist nur zugänglich, was in das Wesen zuvor im Wege juristischer Sinnermittlung hineingelegt wurde! Um das Wesen der Rechtsbegriffe wird ständig im dogmatischen Meinungskampf gerungen, ihr Inhalt steht nicht a priori fest und unterliegt dem Wandel. BGHSt 47, 202 (oben Fall 175) revidiert die frühere Ansicht der Rechtsprechung, die im Sicherungsverfahren keine Nebenklage zuließ, weil diese „ihrem Wesen nach auf die Bestrafung des Täters abziele“ (vgl. a. a. O., S. 205). Mit einigen Gesetzes-

272 So Scheuerle, AcP 1963, 429 (430), der eingehend aufzeigt, welche wahren Argumente hinter dem Wesen stecken können. 273 In obiger Reihenfolge: BGHSt 3, 163 (164); 25, 285 (286); 2, 129 (132 f.); 15, 224 (225); 2, 173 (179). 274 Scheuerle, AcP 1963, 429 (471).

11. Argumentation aus dem „Wesen‘‘/sonstige Floskeln

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änderungen durch das Opferschutzgesetz belegt der Senat, daß diese Vorstellung vom Wesen der Nebenklage überholt sei. Wie über das „Wesen“ eines Rechtsinstituts gerungen werden kann, belegt der (inzwischen obsolete) Streit um den Begriff der Teilnahme. § 48 StGB a. F. verlangte für die Anstiftung das vorsätzliche Bestimmen eines anderen zu einer „mit Strafe bedrohten Handlung“. Mußte die Handlung vorsätzlich geschehen? BGHSt 4, 355 (357) ist der Ansicht, daß der Inhalt strafrechtlicher Begriffe aus dem geltenden Recht herzuleiten sei. Insbesondere aus einer Gesetzesänderung folgert der Senat, daß das „Wesen der Anstiftung“ nur in der Verursachung eines rechtswidrigen Verhaltens bestehe; deshalb sei es „begrifflich unerheblich, auf Grund welcher Vorstellungen und mit welcher Willensrichtung der Angestiftete gehandelt hat“ (S. 358). Dagegen legt BGHSt 9, 370 (oben Fall 306) eingehend dar, daß die Gesetzesänderung am „Wesen der Anstiftung nichts geändert“ habe (S. 379); mit Hilfe aller Auslegungskriterien begründet der Senat seine Auffassung, wonach das „Wesen der Teilnahme“ eine vorsätzliche Haupttat voraussetze.275

Auf gewandelten Vorstellungen über das „Wesen der Schuld“ beruht die berühmte Entscheidung des Großen Strafsenats (BGHSt GS 2, 194), die mit der überlieferten Irrtumslehre des Reichsgerichts brach und der heutigen Differenzierung in §§ 16 und 17 StGB den Weg bahnte. Der Große Senat gesteht offen ein, seine Lösung im Wege einer Rechtsfortbildung zu gewinnen. Die Legitimation hierfür ist freilich zweifelhaft, denn über das Wesen der Rechtsbegriffe entscheidet prinzipiell der Gesetzgeber:276 Fall 345 (BGHSt GS 2, 194 – „Wesen der Schuld“): „Alle diese Mängel drängen dahin, die Rechtsprechung des Reichsgerichts aufzugeben und im Wege richterlicher Rechtsfindung diejenigen Rechtssätze zu ermitteln und anzuwenden, die auch bei der Bestrafung vorsätzlicher Taten die Durchführung des Schuldgrundsatzes verbürgen und dem Wesen der Schuld gerecht werden“ (S. 203 f.). Daß der Gesetzgeber den Irrtum über das Strafgesetz für unbeachtlich hielt, stehe nicht entgegen, denn seine Auffassung habe keinen Niederschlag im Gesetz gefunden (S. 204).277 Die gesetzlichen Regelungen seien nicht abschließend, so daß die „Befugnis und Verpflichtung der Rechtsprechung, neue den Schuldgrundsatz voll zur Geltung bringende Rechtssätze für die Behandlung des Verbotsirrtums zu entwickeln“, außer Zweifel stünden. Als beste Lösung zur Berücksichtigung der aus „dem Wesen der Schuld sich zwingend – vor aller gesetzlicher Normierung – ergebenden Rechtssätze“ erweise sich die Schuldtheorie (S. 209), deren zutreffenden Erkenntnisse der Gesetzgeber bereits im Wirtschaftsstrafgesetz und im Gesetz über Ordnungswidrig275 BGHSt 31, 309 (313) sagt, daß der Gesetzgeber an die seit BGHSt 9, 370 gefestigte Rechtsprechung „zum Wesen von Anstiftung und Beihilfe“ angeknüpft habe. 276 Allgemein in diesem Sinn BGHSt 7, 180 (184): „Diese sich aus dem Gesetz ergebenden Folgerungen können nicht mit Erwägungen über das Wesen und die systematische Stellung der Strafaussetzung zur Bewährung widerlegt werden. Solche Erwägungen sind für die künftige Entwicklung des Strafrechts von Bedeutung. Das geltende Gesetz hat aber . . .“. 277 Unter Hinweis auf § 59 StGB (a. F.) konnte man das freilich mit gutem Grund (Umkehrschluß) bestreiten. Insofern abl. denn auch G. und D. Reinicke, MDR 1957, 193 (194 f.).

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VI. Sinn und Zweck

keiten übernommen habe.278 Dies müsse „den Richter veranlassen, ihr auch im allgemeinen Strafrecht, für das eine gesetzliche Regelung fehlt, den Vorzug zu geben. Hierzu bedarf es keines Eingreifens des Gesetzgebers, weil diese Rechtssätze sich aus dem Wesen der Schuld ergeben und deshalb im allgemeinen Strafrecht ebenfalls anzuwenden sind.“

Der Große Senat ist sich seiner Sache sicher. Daß er die sachgemäßere und vernünftigere Lösung der Irrtumsprobleme entwickelt als die des Reichsgerichts, mag sein, aber entscheidend war die (vielleicht überholte) Sicht des Gesetzgebers vom „Wesen“ der Schuld. Grundsätzlich erkennt das auch der BGH an, indem er die Überwindung der gesetzgeberischen Vorstellungen zu rechtfertigen sucht; dazu muß er allerdings auf das fragwürdige Instrument der Andeutungstheorie (keinen Niederschlag gefunden) zurückgreifen, das aber wie stets gute Dienste leistet. Zweifelhaft ist im übrigen die Behauptung, daß die Erkenntnisse über den Begriff der Schuld „vor aller gesetzlicher Normierung“ liegen. Im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen dürfte der Gesetzgeber selbstverständlich von den Einsichten des BGH abweichen, und ob nicht auch die ursprüngliche Konzeption verfassungsrechtlich haltbar war, bedürfte näherer Prüfung. Schließlich ist auf die rhetorische Wirkung des Wesensargumentes hinzuweisen,279 die bereits in BGHSt GS 2, 194 zum Tragen kam. Die Entscheidung praeter oder contra legem bedurfte starker Gründe und womöglich auch rhetorischer Unterstützung. Die rhetorische Verwendung des Wesensargumentes ist allerdings nicht per se verdächtig, sondern in der Regel nur überflüssig: Fall 346 (BGHSt 2, 246): Der Senat bestätigt die Ansicht, wonach ein minder schweres Delikt nicht zwei in Tatmehrheit stehende schwerere Delikte zu einer Tat verklammern kann. Das gelte auch bei einem Raubversuch gegenüber mehreren Mordversuchen. „Das Wesen des schwersten vorsätzlichen Verbrechens gegen das Leben, das das Strafgesetzbuch kennt, schließt die Zusammenziehung mehrerer Morde oder Mordversuche durch gemeinsame Tateinheit mit einer andern minderen Straftat zu einer einzigen Straftat aus“ (S. 248). – Kann das geringere Delikt keine Klammerwirkung herbeiführen, muß das Wesen des Mordes als schwerstes Verbrechen nicht eigens betont werden. Fall 347 (BGHSt 4, 135): Problematischer ist die Begründung in BGHSt 4, 135: Gemäß § 68 I StGB a. F. unterbrach „jede Handlung des Richters, welche wegen der begangenen Tat gegen den Täter gerichtet ist“, die Verjährung. Anders als das RG läßt der Senat einen „Sichtvermerk“ des Vorsitzenden auf der Revisionsakte hierfür nicht genügen. „Vor allem verbietet dies aber die Rücksicht auf das Wesen und die Rechtsfolgen der Verfolgungsverjährung. Diese schafft ein unbedingtes Verfahrenshindernis. Ihre Folgen haben für den Beschuldigten einschneidendes Gewicht. An Bedeutung stehen sie hinter dem verfassungsverbürgten Grundsatz der Einmaligkeit der Strafverurteilung nicht zurück. . . . Der Beginn einer gesetzlichen 278 279

Vgl. insoweit oben IV 5 d, Fallgruppen (4) und (5). Näher Scheuerle, AcP 1963, 429 (457).

11. Argumentation aus dem „Wesen‘‘/sonstige Floskeln

571

Frist darf nicht im Ungewissen stehen“ (S. 137). – Die Wirkungen der Verjährung sind weitreichend, aber ihrem „Wesen“ nach ist sie immerhin eine „Rechtswohltat“ für den Betroffenen; deshalb besteht – anders als beim Grundsatz des ne bis in idem – kein Grund für eine generell großzügige Anwendung dieses Instituts. Das Gebot der Rechtssicherheit spricht dagegen zweifellos für die Ansicht des Senats.280

b) Sonstige Floskeln („allgemeine Grundsätze des Strafrechts“) In Anbetracht der Menge der ergangenen Entscheidungen kann es nicht überraschen, daß auch dem BGH die Verwendung nichtssagender Floskeln und überflüssiger Phrasen nachgewiesen werden kann. Es verhält sich insoweit nicht anders als mit dem „Wesen“ der Dinge: Solange in den Floskeln keine Begründungsverweigerung liegt und soweit sie nicht Begründungsschwächen verdecken sollen, ist ihre Verwendung zwar überflüssig, aber nicht schädlich. Tauchen sie in Entscheidungsbegründungen auf, ist selbstverständlich Vorsicht angebracht. Nach überflüssigen Phrasen in der BGH-Rechtsprechung wurde in vorliegender Arbeit nicht gezielt gefahndet, so daß wenige Beispiele genügen müssen: Die in einigen Passagen undeutliche Entscheidung BGHSt 33, 370 (oben Fall 68) mußte die Frage beantworten, ob bei den benannten Strafzumessungsgründen („Regelbeispiele“) ein Versuch begrifflich möglich ist. Nach Ansicht des Senats fehlt hierzu eine ausdrückliche gesetzliche Regelung (S. 373). Deshalb sei es geboten, „bei der Lösung des Problems allgemeine Grundsätze des Strafrechts zu berücksichtigen und das Ergebnis auf dessen Vereinbarkeit mit ihnen zu überprüfen.“ BGHSt 43, 381 (oben Fall 275) prüft und verneint die Frage, ob die Strafnormen der AO auch für steuerliche Nebenleistungen wie Säumnisgebühren gelten. „Schließlich erlauben auch allgemeine übergeordnete Gesichtspunkte, die sich aus dem Rechtsschutzinteresse und dem erkennbaren Sinn und Zweck einer gesetzlichen Vorschrift herleiten lassen, keinen Schluß auf den Willen des Gesetzgebers im Hinblick auf die hier zu klärende Frage“ (S. 404). – Weshalb handelt es sich bei Sinn und Zweck der Norm sowie deren Rechtsgut, das der Senat im Anschluß erörtert, um „allgemeine übergeordnete Gesichtspunkte“? Wie in BGHSt 33, 370 passen die vagen Formulierungen zu den auch sonst sehr umständlichen inhaltlichen Darlegungen. BGHSt 32, 95 (oben Fall 99) stellt abschließend zu den mißlungenen und vom Senat mühsam „korrigierten“ §§ 370, 373 AO fest, daß der Gesetzgeber mit Einführung der Strafschärfungsvorschrift des § 370 III „nicht in einer mit einem geltenden strafrechtlichen Grundgedanken unvereinbaren Weise gehandelt“ habe (S. 99). – Welcher Gedanke in Betracht kam und welche Relevanz seine Verletzung gehabt hätte (Verfassungswidrigkeit?), würde der Leser gerne erfahren.

Die genannten Entscheidungen hatten alle besonders schwierige Probleme zu lösen, aber gerade dann sollten keine unnötigen Unklarheiten zugelassen werden. Nähere Betrachtung verdienen weiter Begründungen, die mit dem „neuzeitlichen Rechtsdenken“, dem „deutschen Rechtsdenken“ oder dem „straf280

Vgl. vor diesem Hintergrund die detaillierte Regelung in § 78c StGB g. F.

572

VI. Sinn und Zweck

rechtlichen Denken“ im allgemeinen argumentieren.281 Dahinter können sich rationale Erwägungen verbergen, aber auch die „lustige Person“ Goethes: „In bunten Bildern wenig Klarheit, viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit.“282

12. Folgenberücksichtigung/Ergebniskontrolle Eine häufig im Rahmen der teleologischen Auslegung diskutierte Frage ist, ob die Folgen der Entscheidung bei der Interpretation berücksichtigt werden dürfen. Zum Teil wird in der folgenorientierten Rechtsanwendung eine über die teleologische Auslegung hinausgehende Konzeption gesehen, mit der die gängige Methodenlehre zumindest ergänzt werden kann.283 Eine eigenständige Bedeutung folgenorientierter Rechtsanwendung kann, wenn überhaupt, nur in einem schmalen Bereich anerkannt werden, denn die meisten Gesichtspunkte, die mit dem Begriff der Folgenberücksichtigung verbunden werden, lassen sich schon dem herkömmlichen Instrumentarium zuordnen; sie wurden in vorliegender Arbeit bereits mehrfach angesprochen. Zunächst ist auf die enge Affinität zwischen der Folgenberücksichtigung und einer „Ergebniskontrolle“ der Interpretation hinzuweisen. Der Wert des Ergebnisses, die Frage danach, was bei der richterlichen Entscheidung schließlich herauskommt, ist ein anerkannter Faktor der Auslegung.284 Er kann mit ihren üblichen Kriterien beurteilt werden: Das Ergebnis einer Auslegungshypothese kann gegen den Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, die Systematik, den Gesetzeszweck, die Rechtssicherheit, die Gerechtigkeit, höherrangiges Recht usf. verstoßen. Es kann – vor allem gemessen an Gesetzessystematik und ratio – sinnwidrig, untragbar, unerwünscht oder absurd sein.285 Das alles wurde hier bereits erörtert (oben VI 4). Es ist nur ein kleiner Schritt, der aus dieser „Ergebniskontrolle“ eine „Folgenberücksichtigung“ macht, die nicht nur des Wertes der Auslegung für die Lösung des konkreten Falles, sondern der darüber hinausgehenden Konsequenzen gedenkt.286 Ausdrücklich als „Folgen“ diskutiert etwa BGHSt 47, 89 die aus einer bestimmten Auslegung resultierenden Schwierigkeiten der Praxis sowie die drohende Ungleichbehandlung von Tätergruppen:

281 In obiger Reihenfolge: DOG NJW 1950, 652 (653) = oben Fall 164; BGHSt 14, 55 (60); 5, 28 (32). 282 Goethe, Faust I, Vorspiel auf dem Theater. 283 Siehe einführend Hensche, Rechtstheorie 1998, 103 ff.; ausführlich Deckert, Folgenorientierung, 1995. 284 Das wird z. B. bereits 1913 von Enneccerus (Bürgerliches Recht, S. 118) betont. Ausführlich zur Thematik Ecker, JZ 1967, 265 ff. 285 Die Ergebniskontrolle ist nur in der Regel ein teleologisches Argument. 286 Ein Katalog dessen, was die Rechtsprechung als Folgen der Auslegung berücksichtigt, findet sich bei Deckert, Folgenorientierung, S. 252–260.

12. Folgenberücksichtigung/Ergebniskontrolle

573

In BGHSt 47, 89 (siehe zunächst Fall 343) verteidigt der Senat seine Auffassung gegen den Einwand des „unerträglichen Ergebnisses“ (S. 98). Die Probleme der Praxis seien nicht zu übersehen, der Aufwand für die Behörden aber auch nicht zu überschätzen; vagen Einlassungen des Täters könne mit der freien Beweiswürdigung angemessen begegnet werden (S. 99). Es erscheine zudem als zweifelhaft, „ob die Folgenbetrachtung nicht eher gegen die Strafbewehrung“ spreche, denn dadurch käme es zu einer bedenklichen Ungleichbehandlung der Täter je nach Herkunftsland.

Besonders häufig stellen die Gerichte vergleichende Fallbetrachtungen an: Die Auslegungshypothese wird durchgespielt (zu Ende gedacht), indem ihre Auswirkungen auf die typischen Fälle der Norm oder auf realistische Abwandlungen des zu untersuchenden Falls betrachtet werden. Dabei festzustellende (zweckwidrige) Ungleichbehandlungen oder Wertungswidersprüche sind Folgen, die selbstverständlich bei der Auslegung zu berücksichtigen sind. Mit dem argumentum ad absurdum können sie zum Teil eindrucksvoll vorgetragen werden.287 Um solche „systeminternen“ Folgen288 geht es auch bei der Prüfung, welche Konsequenzen eine Auslegung auf andere Normbereiche hat, ob sie dort zu einer Schieflage führt. Wenn die übrigen Kriterien (Wortlaut, gesetzgeberischer Wille) es zulassen, können solche unerwünschten Auswirkungen zu einer veränderten Gesetzesauslegung führen.289 In umgekehrter Wirkungsrichtung kann das (unbestritten und aus Sicht des Gesetzgebers) unerwünschte Ergebnis, zu dem die Auslegung einer Norm führt, zu einer Korrektur in anderen Bereichen drängen, die Einfluß auf das Ergebnis nehmen können. So hätte etwa in der Konstellation von BGHSt 22, 375 (oben Fall 224), in der eine gesetzgeberische Regelung ungewollt zur Verjährung von NS-Verbrechen führte, das unerwünschte Resultat womöglich durch eine Modifikation vorgreiflicher dogmatischer Fragen korrigiert werden können. Das schien dem Senat allerdings zu Recht als zu teuer, nämlich durch eine Abweichung von eindeutigen Regelungen erkauft. Das heißt aber nicht, daß unerwünschte Folgen nicht berücksichtigt werden dürfen, sondern nur, daß deren Korrektur an vorrangigen Aspekten scheitern kann.

Als systeminterne Folgen können ferner die Konsequenzen einer Einzelfallentscheidung auf die Dogmatik insgesamt oder einzelne dogmatisch anerkannte Lehren (Täterschaft und Teilnahme, Irrtumslehre) berücksichtigt werden.290 Mit Gesetzesauslegung hat das nur noch mittelbar zu tun, aber gerade im Bereich der Dogmatik ist die Folgenbetrachtung ein zentrales, konsistenzwahrendes Mittel. 287 Eingehend und mit Beispielen oben VI 4 c. Schmalz (Methodenlehre, Rn. 264) betrachtet das argumentum ad absurdum als zwingendes „Folgenargument“. 288 Luhmann (Recht der Gesellschaft, S. 378 ff.) differenziert zwischen den selbstverständlich zu berücksichtigenden „systeminternen“ und den „systemexternen“ Folgen, die eine empirische Prognose erfordern und damit durch den Richter nicht zu bewältigen sind. 289 Siehe als Beispiel BGHSt 27, 216 = oben Fall 318. 290 Symptomatisch hierfür der „Badewannen-Fall“, mit dessen Lösung das Reichsgericht die allgemeine Teilnahmelehre arg strapazierte; siehe Hassemer, in: FS für Coing, S. 501.

574

VI. Sinn und Zweck

Unabhängig davon, ob man das bisher Dargelegte bereits als „Folgenberücksichtigung“ auffaßt oder nur als „Ergebniskontrolle“ bezeichnet, ist zu betonen, daß eine Berücksichtigung nur in Betracht kommt, wenn sie einer Bewertung durch das herkömmliche Instrumentarium zugänglich ist bzw. den anerkannten Kriterien der Auslegung zugeordnet werden können. Aus diesem Grund wird verständlich, weshalb eine Kontrolle des Auslegungsergebnisses anhand kriminalpolitischer Maßstäbe oder eine Beachtung kriminalpolitischer Konsequenzen nicht statthaft ist (vgl. oben VI 5) und warum auch die „Billigkeit“ als Kontrollinstanz nur begrenzt in Betracht kommen kann (vgl. oben VI 9 d). Die neuere rechtstheoretische Diskussion um die Folgenberücksichtigung bei der Gesetzesinterpretation kreist demgegenüber um Aspekte, die im klassischen Kanon nicht untergebracht werden können, insbesondere um tatsächliche, künftig zu erwartende Umstände, die einer empirischen Prüfung zugänglich sind („externe Folgen“291, „Realfolgen“292). Man kann diesen Gesichtspunkten nicht schon mit der Titulierung als „objektiv-teleologisch“ Relevanz verschaffen, sondern muß die Zulässigkeit ihres Einflusses begründen. Von den bislang in vorliegender Arbeit erörterten Kriterien fallen am ehesten die Praktikabilitätserwägungen (vgl. oben VI 10) unter die genannte Begriffsbestimmung,293 obgleich es sich dabei kaum um künftige Umstände handelt, deren Einschätzung spezifisch empirisches Wissen voraussetzt. Was die Bedürfnisse der Praxis sind oder welche Auslegung ihr am nächsten kommt, können die Revisionsgerichte in der Regel ohne weiteres beurteilen. Der generell gegen die Berücksichtigung von Realfolgen erhobene Einwand, die Gerichte seien nicht in der Lage, empirisch gesicherte Prognosen über soziale Folgen zu stellen,294 greift hier nur begrenzt; man wird deshalb insoweit kaum von „externen Folgen“ sprechen können. Fruchtbar kann allerdings gemacht werden, was bereits zur Verwertbarkeit von Praktikabilitätserwägungen gesagt wurde (vgl. oben VI 10): Daß sie grundsätzlich nur subsidiär herangezogen werden dürfen, daß ihre Relevanz aber steigt, wenn die leichte Handhabbarkeit auch im Interesse der Rechtssicherheit erstrebenswert erscheint295, und schließlich, daß sie berücksichtigt werden müssen, wenn der Gesetzgeber selbst ihnen Bedeutung beimißt, wie es häufig im Verfahrensrecht der Fall ist. Zumindest der letzte Gesichtspunkt sollte auch bei allen anderen tatsächlichen und in der Zukunft liegenden Umständen greifen: 291

Siehe Hassemer, in: FS für Coing, S. 513. Deckert, Folgenorientierung, S. 129. 293 Hensche (Rechtstheorie 1998, 103 [105]) bezeichnet sie als „justiznahe Realfolge“ und wirft den Befürwortern einer Folgenorientierung vor, sich gerade mit solchen Realfolgen zu wenig zu beschäftigen. 294 Allgemein dazu Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 381: Empirisch gesicherte Prognosen seien fast immer unmöglich und führten zu Ergebnissen mit geringer Signifikanz. 295 Auch Aspekte der Rechtssicherheit zählt Hensche (wie Fn. 293) zu den „justiznahen Realfolgen“. 292

12. Folgenberücksichtigung/Ergebniskontrolle

575

Verlangt das Gesetz (der Gesetzeszweck) ihre Berücksichtigung, muß die Interpretation die tatsächlichen Konsequenzen beachten.296 Führt die Auslegung eines Gesetzes zu tatsächlichen Folgen, die dem konkreten Gesetzeszweck offensichtlich zuwiderlaufen, darf sie im Rahmen des Zulässigen modifiziert werden. Als solche Folge könnte die drohende Gesetzesumgehung betrachtet werden (vgl. oben VI 8).297 Läßt eine Auslegung solche tatsächlichen, zweckvereitelnden Verhaltensweisen zu, kann dies womöglich berücksichtigt werden. Freilich ist auch hier fraglich, ob insoweit von „externen“ Folgen gesprochen werden kann.

Nicht angängig ist es hingegen, ohne konkreten Anknüpfungspunkt in der jeweiligen Norm unspezifisch die „sozialen Auswirkungen“ oder „praktischen Konsequenzen“ einer bestimmten Interpretation zu bedenken und auf diese rückwirken zu lassen. In dieser Hinsicht fehlt es sowohl am notwendigen methodischen Instrumentarium der Feststellung als auch an hinreichend konkreten Maßstäben, um die Realfolgen zu bewerten und sie ins rechte Verhältnis zu den übrigen Kriterien der Auslegung zu setzen.298 Keine Rücksicht bei der Normkonkretisierung verdient auch, welche Akzeptanz eine bestimmte Normdeutung beim Betroffenen oder welche (generalpräventiven) Auswirkungen sie auf das Rechtsbewußtsein der Gesellschaft haben wird. Konsequent müßte auch dies mit empirischen Methoden ermittelt werden, um den Bereich der Spekulation und Alltagstheorie zu verlassen. Andernfalls kommt es zu gehaltlosen Feststellungen wie in BGHSt 26, 228 (oben Fall 243): „Auch unter rechtsstaatlichen Verhältnissen kann es einem Angeklagten nicht erlaubt sein, sich gegen seine Aburteilung in einer Weise zur Wehr zu setzen, welche die Durchführung des Verfahrens praktisch verhindert. Das Rechtsbewußtsein der rechtstreuen Bürger, die täglich die Bestrafung Gestrauchelter wegen weit geringfügigerer Delikte erleben, als sie den Beschwerdeführern zur Last gelegt werden, würde sonst unabsehbaren Schaden nehmen“ (S. 241). – Man wird nicht annehmen können, daß der Senat damit Kriterien angibt, die generell bei der Auslegung eine Rolle spielen.

Daß der Gesetzgeber dem Richter die Berücksichtigung solcher Faktoren auferlegen kann und ihn so vor schwer lösbare Aufgaben stellt, ist eine andere Frage. Im Strafrecht verlangt der Gesetzgeber richterliche Prognosen über tatsächliche Entscheidungsfolgen allerdings nicht im Bereich der Normkonkretisie296 Raisch, Vom Nutzen, S. 56: Nur die von der Rechtsordnung gewollten oder nicht gewollten Folgen dürfen berücksichtigt werden. Weitergehend wohl Wank, Auslegung, S. 80: Bei der Folgenkontrolle muß der Interpret prüfen, welche sozialen Folgen eine bestimmte Interpretation hervorruft und ob das vom Gesetzgeber beabsichtigt war. 297 Die Ermöglichung von Mißbrauch und Umgehung zählt Schmalz (Methodenlehre, Rn. 263) zu den relevanten unerwünschten Folgen der Auslegung. 298 Eingehend und krit. Hensche, Rechtstheorie 1998, 103 (107 ff.). Zu den denkbaren Kriterien für die Bewertung von Realfolgen siehe Deckert, Folgenorientierung, S. 163 ff., wonach letztlich nur Effizienz, Richtigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit in Betracht kämen (S. 173).

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VI. Sinn und Zweck

rung, sondern bei der Bestimmung der Rechtsfolge. So muß der Richter gemäß § 46 I 2 StGB bei der Strafzumessung die Wirkungen der Strafe auf das künftige Leben des Täters prognostizieren und gemäß §§ 47, 56 III, 59 I Nr. 3 StGB beachten, welche Auswirkungen seine Entscheidung auf das Rechtsbewußtsein der Allgemeinheit haben wird.299 Die damit verbundenen Schwierigkeiten gehören nicht zum Gegenstand vorliegender Untersuchung. Abschließend ist zur Vermeidung von Verwechslungen noch auf einen Gesichtspunkt hinzuweisen, der mit dem Ergebnis der Auslegung nicht selten assoziiert wird und als „Ergebnisdenken“, „Finalismus“ oder „Auslegung vom Ergebnis her“300 bezeichnet werden kann. Gemeint ist eine Rechtsanwendung, die sich ihres – vornehmlich mit den vagen Maßstäben der Vernunft, der Gerechtigkeit oder des Rechtsgefühls gewonnenen – Ergebnisses von vornherein sicher ist und das Resultat erst nachträglich mehr oder weniger geschickt mit rationalen Gründen rechtfertigt.301 Ist das mit den anerkannten Faktoren der Interpretation nicht möglich, entsteht ein „Dilemma des Könnens“ (Scheuerle), das häufig in Schleichwege und Tricks mündet.302 Von einer so verstandenen und zu mißbilligenden Ergebnisorientierung zu unterscheiden ist wiederum die an sich unbedenkliche ökonomische Vorgehensweise des erfahrenen Rechtsanwenders, dem aufgrund seines geschulten Rechtsgefühls die „richtige“ Lösung vorschwebt und der diese im Anschluß (erwartungsgemäß) methodisch einwandfrei zu begründen vermag oder aber revidieren muß.303

299 Ob es sich bei dem generalpräventiven Aspekt allerdings wirklich um eine Frage der Folgenberücksichtigung handelt, bedürfte näherer Prüfung. Siehe zu den genannten Beispielen Hassemer, in: FS für Coing, S. 518 ff. 300 So der mißverständliche Aufsatztitel von Ecker, JZ 1967, 265 ff., dem es allerdings um die (zulässige) Ergebnisbetrachtung im oben dargelegten Sinn geht. 301 Ausführlich zum Gegensatz zwischen finalem und kausalem Begründen Scheuerle, AcP 1967, 305 ff. Vgl. außerdem bereits oben II 6. 302 Eingehend und mit vielen Beispielen Scheuerle, AcP 1967, 305 ff. (Zitat auf S. 317). 303 Scheuerle, AcP 1967, 305 (336 f.): Nur „scheinbar final“. Auch dazu bereits oben II 6.

VII. Übergreifende Gesichtspunkte Die abschließende Betrachtung dient nicht dazu, eine Rangfolge der Auslegungskriterien vorzustellen. Zwei wesentliche Aspekte dieses Themas – der „mögliche Wortsinn“ als Grenze der Auslegung und die Frage nach der Bindung an die historische Wertentscheidung des Gesetzgebers – wurden hier eingehend in den jeweiligen Einzelkapiteln behandelt. Auch die Relevanz vieler Argumentationsfiguren wurde in den einzelnen Abschnitten beleuchtet. Ob darüber hinausgehende Regeln aufgestellt werden können, nach denen die Praxis zu verfahren hat, muß bezweifelt werden. Ohne eine Erörterung der Rechtsfortbildung und des Präjudizienrechts bliebe die Thematik Rangfolge zudem notwendig unvollständig. Abschließend sollen statt dessen wichtige Äußerungen des BGH betrachtet werden, aus denen sich Rückschlüsse darauf ergeben, wie die Rechtsprechung selbst Rangfolgefragen einschätzt. Von Interesse sind dabei vor allem ausdrückliche Stellungnahmen zu Methodenfragen (VII 1) und zur Gesetzesbindung (VII 3 a), aber auch aus Rechtsprechungsänderungen (VII 2) ergeben sich Hinweise auf die Behandlung des Auslegungskanons in Grenzfällen.

1. Methodologische Aussagen Die ausdrücklichen Aussagen der Strafsenate und (teilweise) des BVerfG zur Methodik der Gesetzesauslegung wurden weitestgehend bei den jeweiligen Einzelfragen vorgestellt und diskutiert. Sie sollen hier in komprimierter Form rückschauend zusammengefaßt werden. Viele der Aussagen sind überholt, streitig oder ungeklärt, aber sie zeigen das Spektrum möglicher methodologischer Standpunkte und deuten denkbare Lösungen von Rangfolgefragen an. Notgedrungen außer Betracht bleiben methodologische Widersprüche, die auf tatsächlich gegenläufig verfahrenden Entscheidungen beruhen, welche ihren methodischen Standpunkt nicht explizit formulieren. Insoweit muß auf die einzelnen Kapitel verwiesen werden. a) Aussagen aus dem Bereich der canones Aus dem Bereich Wortlaut und Wortlautgrenze sind zu nennen: Nur wenige Äußerungen sind zur Frage ersichtlich, wie die Bedeutung der Begriffe bereits auf semantischer Ebene ermittelt wird. BGHSt 14, 116 (118) konstatiert, daß Gesetzesbegriffe auch eine alltagssprachliche Bedeutung haben können, der Gesetz-

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VII. Übergreifende Gesichtspunkte

geber aber ein engeres Verständnis zugrunde legen könne.1 Fragwürdig ist demgegenüber die Annahme von BGHSt 34, 171 (175), wonach der Gesetzgeber, der einen Begriff nicht definiert hat, „von einer typischen, allgemein bekannten Erscheinung des täglichen Lebens“ ausgegangen ist. Zweifelhaft ist die in BGHSt 27, 45 (50) vertretene Ansicht, ein nur zur Klarstellung neugefaßter Tatbestand dürfe nicht so sehr nach dem Wortlaut ausgelegt werden wie eine völlig neugestaltete Vorschrift (vgl. Fall 189). BVerfGE 1, 299 (312) will den Wortlaut genau nehmen, weil er im Gesetzgebungsverfahren mehrfach geändert wurde. Für möglich halten es die Senate, daß eine Rechtsfrage bereits auf semantischer Ebene entschieden ist, der Wortlaut „eindeutige“ Ergebnisse liefert und damit Rückgriffe auf andere Kriterien überflüssig macht.2 Gleichwohl beschäftigen die Senate sich auch bei klarem Wortlaut aus unterschiedlichen Gründen und zu Recht mit den weiteren Konkretisierungselementen. Als maßgebliche Grenze der Auslegung zum Nachteil des Angeklagten ist der „mögliche Wortsinn“ heute einhellig anerkannt3 und verfassungsgerichtlich sanktioniert. Weder der gesetzgeberische Wille (BGHSt 42, 391 [393]) noch kriminalpolitische Erwägungen (BGHSt 8, 343 [345]) rechtfertigen eine Überschreitung dieser Grenze. „Wortsinn“ ist dabei mehr als der reine Gesetzestext, denn er ergibt sich „aus dem Gesetzeswortlaut und aus dem Sinnzusammenhang . . ., in den die Norm gestellt ist“ (BGHSt 41, 285 f.).4 Daß der „mögliche Wortsinn aus Sicht des Bürgers zu bestimmen ist“, sagt explizit BVerfGE 71, 108 (115), allerdings ohne Tragweite und Realitätsferne dieser Ansicht zu bedenken. Der BGH hat sie – soweit ersichtlich – nicht übernommen und verfährt faktisch anders.5 Keine ausdrückliche Bestätigung fand bislang die (allerdings naheliegende) Auffassung, daß es hinsichtlich der Wortsinngrenze auf den gegenwärtigen Sprachgebrauch ankommt.6 Insgesamt desillusioniert zur Wirksamkeit der Auslegungsgrenze äußert sich BGHSt 40, 272 (279): Zu beachten sei, „daß die Grenzen zwischen zulässiger Auslegung und verbotener Ausdehnung einer Strafrechtsnorm flüssig sind, da die Wortlautschranke7 wegen der Manipulierbarkeit des Sprachgebrauchs nur beschränkt leistungsfähig ist“.

Sehr zahlreich sind Stellungnahmen zur Frage, ob und wie die Entstehungsgeschichte zur Gesetzeskonkretisierung herangezogen werden darf. Skepsis und widersprüchliche Äußerungen finden sich insbesondere in bezug auf den „ge1 Siehe die wörtliche Wiedergabe oben in Kap. III bei Fn. 200; dort auch zur nächsten Entscheidung. 2 Eingehend und mit Nachweisen oben III 3 c. 3 Siehe oben III 7 a und insbesondere BGHSt 43, 237 (238 f.) m. w. N. Ausdrücklich anders: BGHSt 6, 394 (396), zweifelhaft: BGHSt 8, 66 (70), faktisch anders: BGHSt 10, 375. 4 Daraus resultiert die Frage, ob auch Elemente der systematischen Auslegung am Schutz des Analogieverbots teilhaben, vgl. oben III 7 f. 5 Die Formulierung des BVerfG ist womöglich nur „aus Versehen“ zu weit geraten, denn im zugrundeliegenden Fall führt sie fraglos zur richtigen Lösung (Wortlautüberschreitung). Eingehend zur Thematik oben III 7 b. 6 Implizit und zu Unrecht anders aber BGHSt 41, 219 = oben Fall 59. Ob gleichwohl die Entstehungsgeschichte als einfaches Auslegungskriterium für ein engeres (das historische) Verständnis spricht, ist eine davon zu trennende Frage. 7 Scharf zwischen der Grenze des „Wortsinns“ und des „Wortlauts“ differenziert die Rechtsprechung nicht, was in der Regel unschädlich ist (allgemein dazu oben III 2).

1. Methodologische Aussagen

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netischen“ Anteil der historischen Auslegung und vor allem in frühen Entscheidungen der amtlichen Sammlung. Die Leitentscheidung, die der subjektiv-historischen Auslegung stets Steine in den Weg legte, stammt freilich vom BVerfG: Nach BVerfGE 1, 299 (312) sind subjektive Vorstellungen der Gesetzesverfasser über die Bedeutung einer Bestimmung nicht ausschlaggebend; die Entstehungsgeschichte diene lediglich der Bestätigung einer anderweitig gewonnenen Auslegung oder der Behebung von Zweifeln. Prononciert in diesem Sinn äußert sich BGHSt 13, 5 (8): „Maßgebend für die Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift ist jedoch nicht, wie ihre Urheber oder Verfasser sie verstanden wissen wollten sondern ihr wirklicher Sinngehalt, wie er sich für den unbefangenen Betrachter aus dem Wortlaut des Gesetzes und dessen Sachzusammenhang ergibt“. Verkennt der Gesetzgeber den „wirklichen“ Gesetzessinn oder die „wahre Bedeutung“ der Begriffe, berechtigt das den Richter nicht, statt dessen den Willen des Gesetzgebers zugrunde zu legen.8 BGHSt 12, 42 (43) sieht Einigkeit in Rechtsprechung und Lehre, daß der Entstehungsgeschichte im allgemeinen, insbesondere aber Äußerungen von Abgeordneten und Regierung „nur ein bedingter Wert zukommt“.9 BGHSt 18, 156 (159) spricht der Entstehungsgeschichte unter Berufung auf BVerfGE 1, 299 die „Bedeutung einer selbständigen Erkenntnisquelle“ schlicht ab, während BGHSt 26, 156 (160) wieder ihre nur unterstützende oder der Behebung von Zweifeln dienende Funktion als „Argumentationshilfe“ herausstellt. Insoweit gleicht der Rang der Gesetzesmaterialien dem anderer Interpretationshilfen wie ministeriellen Erlassen und Verwaltungsvorschriften.10 Gegen die Ermittlung des historischen gesetzgeberischen Willens wird ferner eingewandt, „daß es kein verläßliches Mittel gibt, das seine zweifelsfreie Feststellung ermöglicht“, BGHSt 1, 74 (76). Besonders gelte das für Gelegenheitsgesetze, die „ohne vertiefte Durchbildung“ zustande gekommen sind (a. a. O.). – Stets gab es unter den Senaten des BGH aber auch Befürworter der subjektiv-historischen Methode. Noch zurückhaltend gegenüber der Verwertung von Inhaltsvorstellungen einzelner Abgeordneter zeigt sich BGHSt 2, 99 (103 f.), betont aber, daß daraus der Zweck der Vorschrift erhelle. Großzügig und kaum mit BVerfGE 1, 299 vereinbar zieht BGHSt GS 4, 308 (310) bei offenem Wortlaut die Entstehungsgeschichte heran, „um dem Willen des Gesetzgebers . . . nach Möglichkeit zum Erfolg zu verhelfen“; dabei erläutert der Große Senat eingehend, welche Verlautbarungen aus dem Gesetzgebungsverfahren zu verwerten sind. In Richtung subjektive Theorie tendiert auch BGHSt 13, 102 (117), wonach die Vorstellungen der Urheber über den Gesetzessinn die Auslegung häufig maßgeblich bestimmen werden, falls seine zweifelsfreie Feststellung möglich sei. BGHSt 11, 171 (173) läßt dahinstehen, ob konkrete Meinungsäußerungen aus dem Gesetzgebungsverfahren, „den Richter als ,konkrete Entscheidung‘ des Gesetzgebers binden“, betont aber, daß entsprechend § 133 BGB auch bei solchen Äußerungen nach ihrem „wirklichen Sinn“ zu fragen ist. Am deutlichsten wird der BGH in BGHSt 18, 151 (155), wenn er den parlamentarischen Vorgängen „eine authentische Interpretation des Willens des Gesetzgebers“ 8

BGHSt 15, 138 (141 f.) = oben Fall 53. Zu den Problemen der Verwertung von Äußerungen einzelner Beteiligter siehe oben IV 4 b und insbesondere BGHSt GS 9, 385 = Fall 133, BGHSt 27, 52 = Fall 135 sowie BGHSt 9, 142 = Fall 136. 10 So BGHSt 26, 73 (75); näher oben IV 4 d. 9

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VII. Übergreifende Gesichtspunkte

entnimmt, welche „die Gerichte bindet“. Nach Band 26 der amtlichen Sammlung finden sich kaum noch Äußerungen, die der Verwertung der Entstehungsgeschichte von vornherein reserviert gegenüberstehen. Als Schlußpunkt der Diskussion kann erneut eine Entscheidung des BVerfG herangezogen werden, denn nach BVerfGE 105, 135 (157) haben „alle herkömmlichen Auslegungsmethoden“ ihre Berechtigung bei der Ermittlung des objektivierten Willen des Gesetzgebers; keiner gebühre ein unbedingter Vorrang vor den anderen. Stärker in den Vordergrund rückt deshalb die Frage, ob die grundsätzlich zulässige Heranziehung nicht an bestimmten Hürden, vor allem am Wortlaut scheitern muß (oben IV 3). Nach BGHSt 1, 74 (76) „kann der abweichende sogenannte Wille des Gesetzgebers regelmäßig keine Beachtung finden“, wenn „die Anwendung eines Gesetzes aus sich selbst heraus zu einem eindeutigen Ergebnis“ führe. Ist der Wortlaut hingegen nicht eindeutig, so kann oder muß die Gesetzesbegründung oder der gesetzgeberische Wille herangezogen werden.11 Nahe verwandt sind Eindeutigkeitsregel und Andeutungstheorie.12 Letztere verlangt auch bei einem zweideutigen Gesetzestext zur Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens, daß dieser im Wortlaut „Ausdruck“ oder „Niederschlag“ gefunden hat.13 Ungeklärt ist die Frage, wie stark die historischen Vorstellungen im Gesetzeswortlaut zum Ausdruck gelangen müssen.14 BGHSt 26, 156 (160) gibt der Andeutungstheorie verfassungsrechtliche Weihen: Die Gesetzesmaterialien dürften als „Argumentationshilfe“ unter „der Voraussetzung herangezogen werden, daß die Vorstellungen der an der Gesetzgebung beteiligten Organe im Gesetz selbst einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden haben . . . Eine Auslegung, die diese Grenzen verkennt, läuft Gefahr, sich mit dem Gebot der Bestimmtheit des Strafgesetzes (Art. 103 Abs. 2 GG; § 1 StGB) in Widerspruch zu setzen“. BGHSt 38, 237 (247) setzt Wortlaut und Entstehungsgeschichte in ein Verhältnis der Proportionalität: „Im übrigen können die Vorstellungen und Motive des Gesetzgebers immer nur eines von mehreren Auslegungskriterien sein; ihre Bedeutung tritt um so stärker zurück, je weniger sie im Wortlaut der Vorschrift ihren Niederschlag gefunden haben“. Weitere Einschränkung erfährt der gesetzgeberische Wille durch den Wandel der Verhältnisse (oben IV 5). Apodiktisch sagt RGSt 12, 371 (372), daß der Gesetzgeber angesichts der „Mannigfaltigkeit des Lebens“ nicht alle Fälle im voraus bedenken und regeln könne; deshalb gelte das Gesetz für alle Fälle, auf die es „nach richtiger Auslegung paßt“. Berühmt ist die pathetische Formulierung aus BGHSt 10, 157 (159 f.): „Kein Gesetz verträgt eine starre Begrenzung seiner Anwendbarkeit auf solche Fälle, die der vom Gesetzgeber ins Auge gefaßten Ausgangslage entsprechen; denn es ist nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepaßt weitergelten will“.15 Die Anpassung veralteter Gesetze an neue Anschauungen hält BGHSt

11

Kann: BGHSt 25, 374 (379); muß: BGHSt 11, 47 (49); 27, 45 (50); 32, 1 (4). Siehe oben IV 3 b mit vielen und nicht selten mißverständlichen Formulierungen aus der Rechtsprechung. 13 Siehe z. B. BGHSt 34, 211 (213); 47, 243 (245). 14 Ausführlich zu den unterschiedlichen Maßstäben („hinreichend“, „noch“, „sicher“) der Senate oben III 3 c; zu den erheblichen Einwänden gegen die Andeutungstheorie vgl. III 3 g. 12

1. Methodologische Aussagen

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18, 279 (283) für zulässig: „Für den Rechtsunterworfenen wäre es unverständlich, wenn angesichts dieser allgemeinen, unaufhaltsamen Fortentwicklung des Rechts in einem eng begrenzten – steuerrechtlichen – Bereich an einer einzelnen überalterten Regelung um ihres äußeren Wortlauts willen unbekümmert um die jetzt gemilderten Anforderungen des Gesetzgebers an die Mittel zur Durchsetzung der Steuerhoheit – selbst nur noch für eine kurze Übergangszeit – festgehalten würde und kein Weg gefunden werden könnte, sie im Wege der Auslegung an die allgemeinen neuzeitlichen Rechtsanschauungen anzupassen.“ Grenzen der Dynamisierung erkennt allerdings BGHSt 17, 267 (274): Im Rahmen des rechtlich Zulässigen müsse eine „auf Ermittlung des Gegenwartssinnes“ gerichtete Auslegung „auch den seit Erlaß der Norm veränderten tatsächlichen Umständen Rechnung tragen“; aus Gründen der Gewaltenteilung seien dem jedoch „enge Grenzen gesetzt“. Und nach BGHSt 11, 304 (314) kann die Frage, ob eine Regelung aufgrund technischer Veränderungen „veraltet oder verbesserungsbedürftig“ ist, „bei der Auslegung keine Rolle spielen“; die Entscheidung über die Fortgeltung obliege allein dem Gesetzgeber. Weniger Probleme bereiten Reflexionen zur objektiv-historischen (systematischhistorischen) Auslegung. Ablehnend zur Verwertung der lex ferenda16 äußert sich BGHSt 12, 28 (30): Der Richter habe „das geltende Recht anzuwenden“. Beabsichtigte Regelungen dürfen nicht zur Auslegung der jetzt maßgeblichen Bestimmung herangezogen werden, BGHSt 44, 13 (18). Eine Fernwirkung systematischer Auslegung (oben IV 7 c) bejaht BGHSt 33, 394 (397): „Auch ohne Änderung des Gesetzeswortlauts kann der Gesetzgeber über eine bestimmte, rechtlich zu regelnde Frage eine Entscheidung treffen; das kann bei Änderung einzelner Vorschriften eines Gesetzes der Fall sein, wenn sich sein Betätigungswille auch hinsichtlich im Wortlaut unverändert gebliebener Paragraphen aus dem engen sachlichen Zusammenhang zwischen unveränderten und geänderten Normen objektiv erschließen läßt, so wenn ein begrenztes und überschaubares Rechtsgebiet durchgreifend geändert wird und veränderte und unveränderte Normen eng miteinander zusammenhängen“. BGHSt 30, 98 (103) meint für den Fall der Wiedereinführung einer Vorschrift (oben IV 7 e), daß der Gesetzgeber sie im Zweifel „auch so einführen wollte, wie sie in der Praxis gehandhabt worden war“. Wird der frühere Wortlaut wiederhergestellt, so kann das nach BGHSt 4, 24 (29) „nur dahin verstanden werden, daß auch der frühere Rechtszustand wiederherstellt werden soll“. BGHSt 3, 241 (245) hält es schon ganz allgemein für „untunlich, nach Wegfall einer strafrechtlichen Bestimmung ihren bisherigen Anwendungsbereich im Wege richterlicher ,Auslegung‘ einer anderen Vorschrift zuzuweisen“ (oben IV 7 f).

Der systematischen Auslegung können folgende Aussagen zugeordnet werden: Das Ziel der systematischen Interpretation und gleichzeitig das Wesen der verfassungskonformen Auslegung beschreibt BGHSt 13, 102 (117): „Die Auslegung hat auch darauf bedacht zu sein, daß sich die Gesamtheit der gesetzlichen Bestimmungen tunlichst zu einem widerspruchslosen Ganzen zusammenfügt. Ergibt sich, daß eine früher erlassene Vorschrift mit dem Sinn, den ihre Urheber mit ihr verbunden 15

Siehe außerdem die Ausführungen von DOG NJW 1950, 652 (653) = oben Fall

164. 16 Vgl. oben IV 6 und 7 d; dort auch zu faktisch gegenteilig verfahrenden Entscheidungen.

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VII. Übergreifende Gesichtspunkte

wissen wollten, mit einer späteren Bestimmung von höherem Rang nicht in Einklang zu bringen ist, erlaubt aber der Wortlaut der früheren Vorschrift, ihr einen Sinn zu geben, der der späteren höherrangigen Norm nicht widerstreitet, ist es zulässig, sie in diesem Sinne auszulegen.“ Überschriften gesetzlicher Vorschriften enthalten, auch wenn sie vom Gesetzgeber mitberaten wurden, nach BGHSt 29, 220 (224) nie zusätzliche Tatbestandsmerkmale, sondern weisen lediglich „auf den wesentlichen Inhalt der gesamten Vorschrift“ hin (oben V 2). Schwer tut die Rechtsprechung sich mit der Behandlung von Ausnahmevorschriften (oben V 4): Nach BGHSt GS 5, 323 (327) sind sie „in der Regel eng auszulegen“, besonders wenn sie „verfassungsmäßig gewährleistete Grundrechte einschränken“. BGHSt 43, 262 (264) gestattet ihre „erweiternde Anwendung . . ., wenn dies aus verfassungsrechtlichen Gründen und/oder nach dem Regelungszweck unausweichlich gefordert ist“. Und zutreffend stellt BGHSt 39, 112 (117) fest, daß sich auch die Auslegung einer Ausnahmevorschrift allein nach deren ratio legis bestimmt. Unbestritten erkennt die Rechtsprechung die „Relativität der Rechtsbegriffe“ an, bemüht sich in vielen Fällen aber um die Wahrung der Einheitlichkeit (oben V 8 a). BGHSt 13, 178 (180) formuliert sogar eine dahingehende Vermutung: „Nach gesetzgeberischen Gepflogenheiten versteht ein Gesetz, wenn es an mehreren Stellen denselben Begriff wörtlich verwendet, in der Regel dasselbe.“ BGHSt 7, 240 (243 f.) verwirft eine Auslegung als fernliegend, die dem gleichen Ausdruck in verschiedenen Absätzen einer Norm eine unterschiedliche Bedeutung beilegen will: „Daß damit die Grenzen vertretbarer Auslegung überschritten werden, bedarf keiner weiteren Begründung.“

Zur teleologischen Auslegung im weiteren Sinn zählen folgende Aussagen: „Innerhalb der Grenzen des sprachlich Möglichen ist . . . jeder Begriff nach dem Sinn und dem Zweck der Vorschrift auszulegen“, BGHSt 3, 300 (303); 4, 144 (148). Auf Sinn und Zweck komme es entscheidend an, BGHSt 30, 98 (101); den Zweck in den Vordergrund zu stellen, entspreche „den Grundsätzen heutiger Rechtsauslegung“, BGHSt 14, 152 (155). Zurückhaltender meint BGHSt 27, 236 (238), die Interpretation müsse zwar vom Wortlaut ausgehen, doch seien „die daraus gewonnenen Ergebnisse am Sinn und Zweck der Bestimmung zu messen“. Zur Erforschung von Sinn und Zweck ist nach BGHSt 31, 1 (4) auf die Gesetzesmaterialien zurückzugreifen, wenn der Wortlaut keinen eindeutigen Aufschluß gibt. BGHSt 8, 343 (345) verlangt die Berücksichtigung rechtspolitischer Erwägungen, wenn es der Gesetzeswortlaut gestattet (oben VI 5).

Über die Einzelkriterien des Kanons hinaus gehen folgende Äußerungen: Häufig gebrauchen die Senate die Ausdrücke „Wille des Gesetzgebers“ und „Wille des Gesetzes“ (oben IV 1 d). Darin kann sich der Streit zwischen objektiver und subjektiver Auslegung widerspiegeln wie in BGHSt 1, 74 (75 f.): Gegenüber dem eindeutig erkennbaren, sich aus Wortlaut und Zweck ergebenden Willen des Gesetzes „kann der abweichende sogenannte Wille des Gesetzgebers regelmäßig keine Beachtung finden“. In aller Regel stehen die Ausdrücke jedoch nur für das Ergebnis der Interpretation. Problematischer verhält es sich mit dem „objektivierten Willen des Gesetzgebers“, worunter das Leitkriterium der Auslegung insgesamt verstanden werden kann (oben IV 1 e). Nach einigem Zögern hat der BGH den bereits in BVerfGE 1, 299 (312) verwendeten Ausdruck in BGHSt 17, 21 (23) aufgegriffen: „Maßgebend für die Auslegung eines Gesetzes ist der in ihm zum Ausdruck kom-

1. Methodologische Aussagen

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mende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung, dem Sinnzusammenhang sowie dem erkennbaren Zweck der Vorschrift ergibt“.17 Dem durch BVerfGE 1, 299 eröffneten Weg folgend wird der „objektivierte Wille“ dazu genutzt, den historischen Willen zu überwinden;18 die Verwendung kann sich allerdings auch als harmlos erweisen. Neuerdings bindet BVerfGE 105, 135 (157) freilich auch die historische Auslegung ausdrücklich und gleichrangig zu den anderen Kriterien in die Ermittlung des „objektivierten Willens“ mit ein. Zur Auslegung im allgemeinen konstatiert BGHSt 2, 364 (365) ein Bestreben der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Strafsachen „nach natürlicher Betrachtung und nach lebensgemäßen, befriedigenden Ergebnissen“. Nach BGHSt 9, 84 (87) ist ein Gesetz „immer so auszulegen, daß es seine Aufgaben im praktischen Rechtsleben zu erfüllen vermag“, nach BGHSt 13, 54 (55), daß seine „Handhabung im Rechtsleben möglich ist“. Das Übermaß an Auslegungsproblemen zu § 42m StGB a. F. führt in BGHSt 7, 165 (oben Fall 213) zur Geringschätzung der Methodik im allgemeinen: Die Zweifel bei der Interpretation dieser Norm würden überschätzt; sie „betreffen im Grunde genommen rechtstheoretische Überlegungen, deren Gegensätzlichkeit nicht notwendig mit sich bringt, daß die Rechtsprechung in der Beurteilung praktischer Fälle auseinandergeht“ (S. 169). Zuweilen finden sich methodologische Leersätze, so wie in BGHSt GS 8, 301 (320): „Es geht nicht an, aus dem Gesetz etwas herauszulesen, was es ersichtlich nicht gewollt hat.“ Der BGH behauptet (zu Recht) nicht, daß Strafgesetze per se eng auszulegen seien (in dubio pro mitius), aber immerhin ist BGHSt 28, 147 (148) der Auffassung, „daß eine richterliche Überdehnung von Straftatbeständen vermieden werden muß“.19 Ohne weiteres zuzustimmen ist BGHSt 38, 144 (151), wenn der Senat unter Hinweis auf Art. 103 II GG ausführt: „Läßt das Gesetz nach Ausschöpfung aller Auslegungsmöglichkeiten, möglicherweise bedingt durch die Schwierigkeit der Materie, Zweifel offen, dürfen diese nicht zu Gunsten der Strafbarkeit behoben werden.“

b) Zur Reihenfolge der Auslegungskriterien Neben der Frage, welche Kriterien unter welchen Voraussetzungen zur Erforschung des „objektivierten Willens des Gesetzgebers“ herangezogen werden dürfen und müssen, erörtern die Senate ferner die Reihenfolge, nach der die Interpretation ablaufen soll. Häufig wird dabei die bedeutungslose Regel postuliert, die Auslegung müsse vom Wortlaut ausgehen: „Alle Auslegung fängt beim Worte an“, BGHSt 3, 259 (262), müsse „stets vom Sprachgebrauch ausgehen“, BGHSt 6, 304 (307). Die „Auslegung jeder gesetzlichen Bestimmung muß bei ihrem Wortlaut beginnen“, BGHSt 14, 116 (118).20 Viel ge17

Ebenso BGHSt 20, 104 (107); 31, 128 (130); 36, 192 (195); 44, 13 (18). Siehe vor allem BGHSt 36, 192 = oben Fall 112. 19 Näher zu prüfen wäre, welche konkreten Folgen (außer dem Analogieverbot) der EGMR mit seiner Ansicht verbindet, Art. 7 EMRK verbiete „jede extensive Auslegung des Strafgesetzes zu Lasten eines Angeklagten“; vgl. EGMR NJW 2001, 3035 (Leitsatz 3) und NJW 1985, 2076. 18

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VII. Übergreifende Gesichtspunkte

wonnen ist damit nicht, denn – abgesehen von den Fällen der Eindeutigkeit21 – lassen die Senate keinen Zweifel, daß innerhalb des Wortlauts der Gesetzeszweck entscheidet: „Der Senat verkennt nicht, daß die Auslegung eines Gesetzes von dessen Wortlaut auszugehen hat. Das schließt aber . . . nicht aus, eine Bestimmung, deren Wortlaut verschieden deutbar ist, so auszulegen, daß dem ihr zugrunde liegenden und in ihr allgemein zum Ausdruck gekommenen Zweck in differenzierender Weise Rechnung getragen wird, auch wenn der Wortlaut keine ausdrücklichen Unterscheidungen macht. Entscheidend ist, daß der Wortlaut einer unterscheidenden Auslegung nicht entgegensteht.“22 Auch BGHSt 27, 236 (238) befürwortet die genannte Regel, beginnt aber mit einer Diskreditierung der Wortauslegung: Der „bloße Wortlaut“ könne allerdings für die Gegenansicht sprechen. „Auf den Wortlaut allein kann jedoch nicht abgestellt werden. Zwar hat die Gesetzesauslegung von ihm auszugehen . . . Die anhand des Wortlauts gewonnenen Ergebnisse sind aber am Sinn und Zweck der Bestimmung zu messen“.23 Eine Reihe von Entscheidungen wählt zudem den umgekehrten Weg und stellt erst abschließend fest, daß die gewonnene Auslegung auch mit dem Wortlaut zu vereinbaren sei.24 BGHSt 26, 228 (229) sagt: „Bei der Bestimmung des sachlichen Geltungsbereichs des § 231a StPO sind zunächst die Absichten ins Auge zu fassen, die der Gesetzgeber mit der Einführung dieser Vorschrift verfolgte. Sodann ist zu prüfen, ob eine Verfahrenslage wie die hier zu beurteilende in den danach beabsichtigten Regelungsbereich fällt, und weiter, ob dies in dem Wortlaut der Vorschrift hinreichenden Ausdruck gefunden hat.“ BGHSt 18, 114 (117 f.) will bei „Beantwortung der Frage, ob ein Unfallbeteiligter, der die Unfallstelle zunächst in Unkenntnis seiner Mitbeteiligung verlassen hat, zurückkehren muß, . . . vom Zweck des § 142 StGB“ ausgehen.

Eine feste Prüfungsabfolge der Auslegungskriterien ist nicht anzuerkennen.25 Da es stets darum geht, den Sinn eines Textes zu ermitteln, ist es naheliegend, von diesem auszugehen, aber die Normexegese kann auch anders verfahren. In der Regel prüft das Revisionsgericht ja bereits ausgearbeitete Auslegungshypothesen und kann sogleich auf bestimmte Kriterien des Kanons „springen“. Vieles ist insoweit allein eine Frage der Darstellungstechnik. Rangfolgefragen müssen auf andere Weise entschieden werden. Im zuletzt genannten Fall (BGHSt 18, 114) könnte man dem Senat zwar unterstellen, nur wegen des problematischen Wortlauts zunächst den Zweck in den Vordergrund gestellt zu haben;26

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Siehe außerdem: BGHSt 18, 151 (152 f.); 19, 158 (159); 26, 367 (371); 27, 45 (50); RGSt 77, 137 (138). 21 BGHSt 19, 158 (161) prüft allerdings noch eingehend Sinn und Zweck, obwohl der Wortlaut einem weiten Verständnis zwingend entgegenstand. 22 So BGHSt 26, 291 (298); zurückhaltender BGHSt 19, 158 (161): „Neben dem Wortlaut ist allerdings auch Sinn und Zweck des Gesetzes für dessen Auslegung heranzuziehen“. 23 Siehe auch BGHSt 17, 101 (106): Bei der Auslegung sei nicht auf den „bloßen Gesetzeswortlaut zurückzugreifen“. 24 Z. B. BGHSt 24, 352 (354); 27, 160 (165); 44, 355 (359); unmittelbar auf den Schutzweck der Norm geht etwa BGHSt 25, 30 ein. 25 Huber, JZ 2003, 1 (6, r. Sp.): „Mißverständnis der Auslegungslehre“.

1. Methodologische Aussagen

585

aber das wären allenfalls begründungspsychologische Motive. An der Prüfung, ob die Subsumtion mit dem Wortlaut vereinbar ist, führte kein Weg vorbei.27 Ebensowenig wie eine zwingende Reihenfolge ist anzuerkennen, daß jede Gesetzesinterpretation den Einsatz des gesamten Instrumentariums erfordere. Häufig wird der Sinngehalt der Norm schon mit wenigen Kriterien zu ermitteln sein.28 In einigen Fällen werden einzelne Kriterien von vornherein ausscheiden; auch der Gesetzeszweck kann sich als unergiebig oder zu unspezifisch erweisen und damit zweitrangig sein.29 c) Bindungswirkung/Fazit Grundsätzliche Aussagen, wie bei der Gesetzesinterpretation zu verfahren ist, sind insgesamt betrachtet nicht selten. Daß die Rechtsprechung sie so weit als möglich meidet, um Selbstbindungen zu verhindern,30 kann nicht bestätigt werden. Mit verantwortlich dafür ist, daß eine Bindungswirkung in Methodenfragen überhaupt nur begrenzt existiert. Methodologische Widersprüche können nicht mit dem Instrumentarium der §§ 121, 132 GVG bereinigt werden. Dieses Verfahren dient allein der Klärung von Rechtsfragen, nicht aber des methodischen Weges, auf dem die Lösung eines Rechtsproblems gefunden wurde. Das führt zu der mißlichen Konsequenz, daß widersprüchliche Methodenaussagen unausgeräumt nebeneinander bestehen bleiben können, ja daß unterschiedliche Äußerungen nicht einmal zur Kenntnis genommen werden. Auf Extremfälle, in denen die Senate im gleichen Band der amtlichen Sammlung gegensätzliche Positionen vertreten, wurde hingewiesen.31 Angesichts der geschilderten Situation kann sich etwa die zutreffende, aber nur von BGHSt 39, 112 (117) vertretene Ansicht, daß Ausnahmevorschriften nicht nach formalen Regeln, sondern entsprechend ihrer ratio legis auszulegen sind, lediglich faktisch durchsetzen. So wichtige Fragen wie die, unter welchen näheren Voraussetzungen veränderte Umstände zu einer abweichenden Auslegung oder sogar zur Umdeutung des Gesetzes führen dürfen, bleiben letztlich ungeklärt.

26 BGHSt 27, 45 (50) muß ebenfalls mit einem problematischen Wortlaut kämpfen, meint aber gleichwohl, daß die Gesetzesauslegung mit dem Wortlaut zu beginnen habe. 27 Dazu, daß der BGH die notwendige Begründung hierfür in der Entscheidung gleichwohl schuldig bleibt, siehe oben Fall 283. 28 Vgl. nochmals die Konzeption von Bydlinski, oben Kap. VI, Fn. 219. 29 Nicht selten enden Entscheidungen damit, daß auch Sinn und Zweck der Lösung nicht entgegenstünden; vgl. BGHSt 44, 145 (152). 30 Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 326 (Fn. 57). 31 So im 13. und 18. Band hinsichtlich des Werts historischer Auslegung; siehe oben IV 2.

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VII. Übergreifende Gesichtspunkte

Erst recht gilt das für Konstellationen, die aus methodologischer Sicht zwar die gleichen oder ganz ähnliche Fragen aufwerfen, in denen der methodische Standpunkt aber nicht explizit hervorgekehrt wird. Abweichungen fallen dann gar nicht erst auf, zumal die zu entscheidenden dogmatischen Probleme in der Regel unterschiedliche sind. So kommt es zu echten Antinomien wie etwa in den Fällen BGHSt 19, 158 und BGHSt 29, 311, in denen bei gleicher Ausgangslage einerseits der „objektiv“ angezeigte Umkehrschluß gezogen, andererseits aus subjektiv-historischen Gründen darauf verzichtet wird (näher oben Fall 67). Gegenläufig verfahren auch BGHSt 1, 1 und BGHSt 41, 219, wo einmal dem gewandelten Sprachgebrauch Rechung getragen wird (Salzsäure als „Waffe“, oben Fall 64), ein andermal das historische Verständnis zementiert wird („Magazin“, oben Fall 60). Selbst methodische Widersprüche bei der Lösung fast identischer dogmatischer Fragen werden nicht erkannt oder jedenfalls nicht offengelegt (siehe oben Fall 54 zum Merkmal „Absetzen“). Daß diese Antinomien nicht nur in der Methodenlehre, sondern auch in der Gerichtspraxis erörterungswürdig sind, kann man nicht bezweifeln.

Auch eine Bindungswirkung von methodologischen Äußerungen des BVerfG wird man grundsätzlich nicht anerkennen können, soweit sie nicht als Interpretation einer verfassungsrechtlichen Bestimmung erscheinen. Bindend i. S. von § 31 BVerfGG ist selbstverständlich die aus Art. 103 II GG hergeleitete Auslegungsgrenze des möglichen Wortsinns,32 nicht aber eine verfassungsgerichtliche Stellungnahme zur Frage, was der „objektivierte Wille des Gesetzgebers“ ist.33 Die insoweit in BVerfGE 1, 299 vertretene Position hat die Praxis nie gehindert, tatsächlich und maßgeblich die subjektiv-historische Auslegung anzuwenden und dies auch (allerdings nur vereinzelt) ausdrücklich hervorzuheben.34 Fraglich wäre es beispielsweise, ob eine verfassungsgerichtliche Aussage, wonach Ausnahmevorschriften keiner erweiternden Anwendung zugänglich sind, die Fachgerichte binden könnte.35 Verstöße gegen solche methodologischen „Erkenntnisse“ bleiben unbeachtet, wenn die fachgerichtliche Lösung nicht aus anderen Gründen gegen Verfassungsrecht verstößt. Freilich ist hier vieles ungeklärt, und als letztes Mittel bleibt dem BVerfG, eine Rechtsanwendung als „objektiv unhaltbar“ oder „willkürlich“ zu beanstanden.36 Zur Überprüfung des Gesagten sollte man erwägen, ob und unter welchen Voraussetzungen eine fachgerichtliche Entscheidung, die der historischen Auslegung per se jeden Wert abspricht und damit den Vorgaben aus 32 Ob sie stets aus Sicht des Bürgers ermittelt werden muß, kann trotz BVerfGE 71, 108 (115) noch nicht als geklärt gelten. 33 Rennert, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 31, Rn. 74: „Methodensätze sind keine Rechtssätze“ und damit keine tragenden Entscheidungsgründe. Siehe auch BVerfGE 40, 88 (94): Das BVerfG habe „die aus dem Verfassungsrecht sich ergebenden Maßstäbe oder Grenzen für die Auslegung eines einfachen Gesetzes verbindlich zu bestimmen“. – Fraglich bleibt natürlich, ab wann ein Methodensatz als Verfassungssatz gilt. 34 Auch dazu oben IV 2, insbesondere BGHSt GS 4, 308 (310); 13, 102 (117); 18, 151 (156). 35 Vgl. auch die oben in V 4 d dargestellte Entscheidung BVerfGE 45, 363 (374) zum Charakter des § 304 IV 2 StPO als Ausnahmevorschrift und zur teilweise davon abweichenden Praxis des BGH. 36 Vgl. oben III 7 a am Ende mit Nachweisen.

1. Methodologische Aussagen

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BVerfGE 105, 135 zuwiderläuft, angegriffen werden kann. Diese Tatsache allein wird der Verfassungsbeschwerde jedoch kaum zum Erfolg verhelfen.

Auch wenn die Praxis mit der Formulierung methodologischer Standpunkte kein Bindungsrisiko eingeht, bieten unausgeräumte Widersprüche empfindliche Angriffspunkte. Die wahre Motivation der Praxis für methodologische Stellungnahmen dürfte nicht darin liegen, Selbstbindung zu erzeugen und Vorhersehbarkeit zu gewährleisten, sondern – im Gegenteil – um ihre Spielräume zu erweitern. Vermieden werden nicht Methodensätze, sondern überwiegend nur solche mit einengendem Charakter.37 Deshalb wird trotz der häufigen Anwendung der subjektiv-historischen Auslegung ihr Wert so selten explizit hervorgehoben. Dies betrifft vor allem die Spielarten der „objektiven“ Auslegungstheorie, insbesondere der Andeutungstheorie, mit denen unerwünschte oder veraltete gesetzgeberische Vorstellungen überwunden werden können. Dagegen wird eine bindende oder einschränkende Wirkung der objektiven Theorien nicht in Betracht gezogen: Daß etwa die Andeutungstheorie auch einmal dem erwünschten Ergebnis entgegenstehen könnte, wird ignoriert.38 (Insoweit hält man sie offensichtlich und zu Recht für falsch.) Ferner geht aus den theoretischen Stellungnahmen, die zur objektiven Theorie neigen, nicht hervor, daß sie im Grunde Ausnahmesituationen betreffen. In aller Regel gelangt die Praxis mit der subjektiv-historischen Auslegung zu tragfähigen Ergebnissen, ohne daß eine Abweichung von der gesetzgeberischen Vorstellung notwendig wäre. Hält die Rechtsprechung gleichwohl eine Abweichung für nötig (etwa wegen des Wandels der Zeiten), nimmt sie das zum Anlaß, eine allumfassende objektive Theorie zu formulieren. Damit schießt die Praxis über das Ziel, einer kleinen Fallgruppe Herr zu werden, weit hinaus und setzt sich dem insoweit berechtigten Vorwurf aus, ihre ausdrücklichen Stellungnahmen zur Methodik entsprächen nicht ihrer tatsächlichen Verfahrensweise – sie tue nicht, was sie sagt, und sage nicht, was sie tut.39 In diesem Zusammenhang fällt weiterhin die Angewohnheit der Gerichte auf, Methodenfragen zu beantworten, ohne daß der Fall Anlaß dazu bot: So wird z. B. der Wert der historischen Auslegung diskreditiert oder einer objektiven Auslegung das Wort geredet, im Anschluß aber (hilfsweise?) eingehend die Entstehungsgeschichte erörtert, regelmäßig mit dem Ergebnis, daß nichts Gegenteiliges daraus folge.40 Auch dadurch soll womöglich der Spielraum für künftige Fälle erweitert oder wenigstens bewahrt werden.

37 Eine Ausnahme ist freilich der Satz, Ausnahmevorschriften seien eng auszulegen, denn dadurch verringert die Praxis ihren Spielraum. Um so verwunderlicher, daß viele Senate so hartnäckig an diesem unzutreffenden Satz festhalten. 38 Näher oben IV 3 f. 39 Christensen, Gesetzesbindung, S. 64. 40 Siehe vor allem die Leitentscheidungen der „objektiven Theorie“: BGHSt 1, 74 (oben IV 2 und IV 3 b); BGHSt 1, 313 = Fall 113; 10, 157 = Fall 149; 13, 5 = Fall 150; 26, 156 = Fall 116; 28, 224 (Kap. IV, nach Fn. 262). Teilweise überflüssig sind

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VII. Übergreifende Gesichtspunkte

Betrachtet man die amtliche Sammlung im ganzen, ist freilich eine rückläufige Tendenz in der Formulierung methodologischer Reflexionen zu beobachten, vor allem in der Grundsatzproblematik „objektive/subjektive Theorie“, die zu Anfang zahlreiche Aussagen provoziert hat. Schwer zu beantworten ist, ob darüber hinaus das Interesse der Rechtsprechung an methodologischen Fragestellungen generell gesunken ist. Eher wird man größere Vorsicht und Zurückhaltung vor prinzipiellen Stellungnahmen konstatieren können. Das Selbstbewußtsein scheint geschwunden, denn die „großen“ und mit viel Pathos vertretenen (aber kaum durchhaltbaren) Grundsatzaussagen stammen bemerkenswert häufig aus der früheren Nachkriegszeit.41 Vielleicht hat sich – womöglich unter dem Einfluß der seit den 1970er Jahren verstärkt aufkommenden methodenkritischen Diskussion – die Erkenntnis durchgesetzt, daß in Methodenfragen überzeitliche Einsichten kaum zu gewinnen sind. Gerade auch deshalb mag man daran zweifeln, ob eine Bindungswirkung in Methodenfragen überhaupt erstrebenswert wäre.42 Dahingehende Zweifel ändern freilich nichts daran, daß auch auf diesem Gebiet widersprüchliche Äußerungen und Verfahrensweisen zu vermeiden und anderslautende Standpunkte (des eigenen Gerichtshofes!) zur Kenntnis zu nehmen sind.

2. Rechtsprechungsänderungen Aufschluß über den Umgang der Praxis mit dem methodologischen Instrumentarium kann ferner ein Blick auf Rechtsprechungsänderungen geben. Unterschiedliche Lösungen ein und desselben Sachproblems bieten Vergleichsmöglichkeiten unter den Gesichtspunkten, welche Auslegungskriterien bevorzugt werden und ob jedes erwünschte Ergebnis mit ihnen begründet werden kann. Zwar geht es in den meisten Revisionsurteilen um die Bestätigung oder Verwerfung bestimmter Ansichten (der Literatur oder der Vorinstanzen) und damit um einen variierenden Einsatz der Auslegungskriterien; doch gerade Rechtsprechungsänderungen auf höchstrichterlicher Ebene sind von besonderem Interesse, da sie nicht leichtfertig geschehen dürften und auch auf formale Hindernisse stoßen (§ 132 II GVG). Für eine Abweichung vom bisherigen Rechtszustand müssen in der Regel starke Argumente und eine überzeugende methodische Begründung vorliegen.43 Ein Vergleich von früheren mit späteren Entscheidungen

auch die methodologischen Ausführungen in BVerfGE 105, 135 (oben IV 5 c am Anfang). 41 Zu erwähnen sind BVerfGE 1, 299 (312): „objektivierter Wille des Gesetzgebers“; BGHSt 10, 157 (159): „lebendig sich entwickelnder Geist“; BGHSt 18, 279 (282 f.): „unaufhaltsamen Fortentwicklung des Rechts“; DOG NJW 1950, 652 (653): Auch ältere Vorschriften können „nur in diesem lebendigen Zusammenhang verstanden und ausgelegt werden“. 42 Auch die praktische Umsetzung dürfte einige Schwierigkeiten bereiten.

2. Rechtsprechungsänderungen

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ist freilich stets insoweit verzerrt, als die spätere Entscheidung eine Reaktion auf eine bereits existierende Ansicht ist, nicht aber eine „unbefangene“ Alternativbegründung, die eine Exegese quasi aus dem Naturzustand heraus leistet. Über mögliche Begründungswege würde man womöglich noch mehr erfahren, wenn verschiedene Senate zeitgleich und unabhängig voneinander ein Problem entschieden. Eine derartige zufällige Überschneidung liegt wohl den Entscheidungen BGHSt 44, 328 und 361 zugrunde. Beide gelangen zum gleichen Ergebnis, BGHSt 44, 328 allerdings im Wege der Analogie und BGHSt 44, 361 im Wege der Auslegung.44 Abweichende methodologische Grundpositionen kommen in dieser Differenz jedoch nicht zum Ausdruck.

Die folgenden Ausführungen stützen sich vor allem auf Entscheidungen, in denen zur Begründung unterschiedlicher Ergebnisse das methodische Instrumentarium besonders strapaziert wurde oder in denen von einer ursprünglich als eindeutig erkannten Rechtslage später doch abgerückt wird. Aber auch Urteile, in denen unterschiedliche Ergebnisse methodisch gleichermaßen gut begründet werden, kommen zu Wort, da sie das Spektrum des „methodisch Zulässigen“ ausleuchten.45 Rechtsprechungsänderungen sind besonders interessant, wenn dabei die gesamte Bandbreite und variable Nutzung der Auslegungsfaktoren deutlich wird, aber schon die unterschiedliche Deutung und Bewertung eines Einzelkriteriums des Auslegungskanons kann weiterführende Fragen aufwerfen: Wenn etwa BGHSt 7, 112 – gegen BGHSt 5, 124 – es als mit dem Grundgedanken des Analogieverbots unvereinbar ansieht, das Fluchtverbot des § 142 StGB (a. F.) in ein Meldegebot umzugestalten, ist dem ohne weiteres zuzustimmen, aber es bleibt die Frage nach der Folgerichtigkeit der weiteren Rechtsprechung zu § 142 StGB a. F.: Auch die Statuierung einer Rückkehrpflicht unterlag nämlich diesen Bedenken (näher Fall 89). Die in mehrfacher Hinsicht unbefriedigende und unvollständige Regelung des § 42m StGB a. F. hat die Rechtsprechung des öfteren zu zweifelhaften Wortlautargumentationen (siehe Fall 83) und vereinzelt sogar zur Aufgabe des Grenzkriteriums „Wortsinn“ verleitet (Fall 55). Nur BGH GA 1955, 118 hat in der Ausweitung eine unzulässige Ausdehnung der richterlichen Befugnisse gegen den „klaren Wortlaut“ des Gesetzes gesehen. Die Konstellation ist symptomatisch dafür, wie die Rechtsprechung dem Druck im Widerstreit zwischen der formellen Ausgestaltung der Norm und der materiell „richtigen“ Lösung erliegt.46 Man kann freilich noch 43

Auch Vorlage- und Anfrageverfahren verdienten insoweit näherer Betrachtung. Vgl. oben Kap. V, Fn. 69 und den dazugehörigen Text. 45 Es existieren auch Abweichungen, die über die Handhabung des Kanons wenig aussagen, weil sie sich vornehmlich mit Präjudizien beschäftigen oder sich in einem relativ „freien“ Bereich richterlicher Wertung abspielen; vgl. etwa BGHSt 17, 161 gegen BGHSt 24, 315 (oben Fall 332). 46 Näher unten Fall 356 (BGHSt 45, 117). Zumindest an einem Begründungsmangel leidet die Entscheidung BGHSt 27, 45, die ihr Ergebnis „ohne weiteres“ für mit dem Wortlaut vereinbar hält, obwohl BGH NJW 1976, 1698 (2. Senat) das gegenteilige 44

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VII. Übergreifende Gesichtspunkte

weiter gehen und nach der methodologischen Grundhaltung des Rechtsanwenders fragen, der zwischen „philologischer Gesetzestreue“ mit unbefriedigenden Ergebnissen und teleologischen Erwägungen mit befriedigenden Lösungen zu wählen hat.47 Fall 348 (BGHSt 2, 99 = oben Fall 132): Ein interessantes Beispiel dafür, wie die Entstehungsgeschichte reaktiviert wird, um von der ständigen Rechtsprechung des RG zur Reichweite des § 252 StPO abzuweichen, bietet BGHSt 2, 99.48 Das RG hat – dem Wortlaut entsprechend – die Norm auf ein Verlesungsverbot begrenzt und der Entstehungsgeschichte nichts Gegenteiliges entnehmen können.49 Nur RGSt 10, 374 hat in einem obiter dictum die Historie näher geprüft und daraus gefolgert, daß nicht nur die Verlesung der Zeugenaussage, sondern auch die Vernehmung der Verhörsperson über den Inhalt der Aussage (als Gesetzesumgehung) unzulässig sein muß. BGHSt 2, 99 greift die Erwägungen aus RGSt 10, 374 auf – übrigens die einzige „Entscheidung des RG, die sich eingehend mit ihr [der Historie] befaßt und die bezeichnenderweise auch allein zu einem Ergebnis gelangt, das von der ständigen Rechtsprechung des RG abweicht“ (BGH, S. 103). „Bezeichnenderweise“ bleibt BGHSt 2, 99 jedoch auf halbem Weg stehen und läßt immerhin die Vernehmung des verhörenden Richters zu. Die Linie von RGSt 10, 374 wird damit inkonsequent verlassen, denn dort ging es gerade um den Untersuchungsrichter. Aus der Entstehungsgeschichte werden letztlich nur die Rosinen für die eigene Position herausgepickt. Ein positives, sich vom RG abhebendes Beispiel für ein „Zurück zu den Quellen“ kann deshalb in der Entscheidung des BGH nicht gesehen werden. Übrigens hat OGHSt 1, 299 die differenzierende Lösung des BGH vorbereitet, ohne überhaupt auf die Entstehungsgeschichte einzugehen, und die herrschende Ansicht des RG geringschätzig als auf einer „verständlichen kriminalpolitischen“ Motivation beruhend charakterisiert (S. 301).

Weit über die Einzelkriterien des Kanons hinaus führt der methodologische wie inhaltliche Gegensatz von BGHSt 30, 52 und BGHSt 36, 192 zur Frage, ob mit „Verhaftung“ in § 304 V StPO auch die Erzwingungshaft gemeint ist (siehe oben Fall 112). Der Wortlaut ließ beide Lösungen zu. BGHSt 30, 52 argumentiert knapp aus Systematik, Entstehungsgeschichte und gesetzgeberischer Zielsetzung: Der Gesetzgeber habe an § 310 StPO angeknüpft. Auch dort sei mit „Verhaftung“ nur die Untersuchungshaft gemeint, und entsprechend habe es die Rechtsprechung gesehen (S. 53). Zudem habe der Gesetzgeber mit § 304 V eine Entlastung der Beschwerdegerichte beabsichtigt (S. 54). Der Senat hätte ferner den Ausnahmecharakter der Norm als Argument anführen können (vgl. oben Fall 247). Mit dem Einwand des ungereimten Ergebnisses, die Beschwerde bei einer Beschlagnahme, nicht aber bei der Erzwingungshaft zuzulassen, setzt BGHSt 30, 52 sich nicht auseinander. Gerade darauf hebt die gegenläufige Entscheidung Ergebnis ausgiebig begründet hatte (näher oben Fall 19); merkwürdig ist zudem, daß der 2. Senat seine Auffassung zu einem derart fundamentalen Aspekt aufgibt. 47 So Bruns, GA 1955, 120 (121); vgl. oben Fall 83 und dort Fn. 454. 48 Auch BGHSt 12, 42 (oben Fall 143) taucht noch einmal tief in die Entstehungsgeschichte ein, um die Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des RG zu rechtfertigen; das RG habe insoweit einen maßgeblichen Aspekt übersehen (S. 44). Vgl. außerdem BGHSt 44, 62 (65) gegen BGHSt 35, 21. 49 Nachweise oben in Fall 132.

2. Rechtsprechungsänderungen

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BGHSt 36, 192 ab: Die gesetzgeberische Konzeption bestehe darin, die Beschwerdemöglichkeit nur bei besonders intensiven Grundrechtseingriffen zu gewähren; insofern sei es im Vergleich zu den übrigen in § 304 V genannten Maßnahmen aber ungereimt, die Erzwingungshaft auszunehmen (S. 196). Nur diese Auslegung werde der Bedeutung des Grundrechts auf persönliche Freiheit gerecht (S. 195 f.). Der Ausnahmecharakter der Norm stehe dieser Interpretation nicht entgegen, denn er zwinge nicht zu einer formalen Betrachtung des Katalogs (S. 195). Daß die Gesetzesverfasser den Begriff der Verhaftung womöglich anders verstanden haben, sei gegenüber dem in § 304 V StPO zum Ausdruck gekommenen „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ nicht ausschlaggebend (S. 194 f.). – Die methodische Vielfalt ist frappierend. Abgesehen vom generell fragwürdigen Rückgriff auf den „objektivierten Willen des Gesetzgebers“, von der inkonsequenten Handhabung der singularia-Regel und der Unterschlagung des gesetzgeberischen Ziels der Entlastung, entscheidet über die Vertretbarkeit von BGHSt 36, 192 die verfassungsrechtliche Argumentation. Näher liegt insofern freilich, daß mit dem Ausschluß der Erzwingungshaft der gesetzgeberische Spielraum nicht überschritten ist (näher oben V 8 c). Hätte BGHSt 30, 52 die Problematik kurz aufgezeigt und anschließend auf den Vorrang der gesetzgeberischen vor der richterlichen Entscheidung (Gesetzesbindung, Art. 97 I GG) verwiesen, hätte es eine Rechtsprechungsänderung wahrscheinlich schwerer gehabt.50 Daß man im Ergebnis wohl beiden Entscheidungen „Vertretbarkeit“ bescheinigen muß, ist Konsequenz daraus, daß in der Rechtsprechung subjektive und objektive Auslegungstheorie nebeneinander betrieben werden.51

Wie unterschiedliche Ansichten auch ohne Methodenbruch begründet werden können, zeigt ein weiterer Streitfall zum Begriff der Haft (siehe oben Fall 131). Sowohl BGHSt 3, 334 als auch BGHSt GS 4, 308 verwerten die Entstehungsgeschichte und versuchen, dem Grundgedanken der Norm auf die Spur zu kommen. Wenn BGHSt 3, 334 die Entstehungsgeschichte eher objektiv-historisch deutet (Umkehrschluß aus einer Formulierungsänderung), BGHSt GS 4, 308 dagegen eher subjektiv-historisch (Vorstellungen der Gesetzesverfasser), dann hält diese Divergenz sich angesichts der letztlich nicht auszuräumenden Zweifel im Rahmen des methodisch Vertretbaren. In jedem Fall ist BGHSt 3, 334 dafür zu loben, sich die Begründung nicht mit einem Rückgriff auf die Andeutungstheorie erheblich erleichtert zu haben. Daß diese ganz allgemein in der Rechtsprechung ein Mittel der Wahl ist, mit dem Abweichungen von früheren Ansichten legitimiert oder unterstützt werden kann, bedarf keiner näheren Darlegung.52 Ein weiteres Beispiel, in dem unterschiedliche Ergebnisse ohne willkürliche Handhabung der Auslegungskriterien begründet werden, sind die Entscheidungen BGHSt 50 Vgl. allerdings unten Fall 355, in dem der BGH sich auch von einer eindringlichen Betonung der Gesetzesbindung durch das RG nicht von einer konstruktiven Lösung abhalten läßt. 51 Vom Standpunkt der subjektiven Theorie hätten auch die verfassungsrechtlichen Erwägungen das Ergebnis von BGHSt 36, 192 nicht gerechtfertigt, denn der abweichende Wille des Gesetzgebers hätte dann zur Vorlage an das BVerfG gezwungen. 52 Vgl. BGHSt 8, 294 und 12, 129 gegen RGSt 69, 289 (oben Fall 125) sowie unten Fall 352.

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VII. Übergreifende Gesichtspunkte

39, 36 und BGHSt GS 40, 350 (oben Fall 152). Die §§ 239a, 239b StGB sind offensichtlich zu weit geraten und bedürfen der Einschränkung. BGHSt 39, 36 nimmt eine subjektiv-teleologische Reduktion vor, indem aus den in den Gesetzesmaterialien erwähnten Anwendungsfällen ein einschränkendes Kriterium (Außenwirkung) abstrahiert wird. Dagegen deutet der Große Senat die Entstehungsgeschichte anders und setzt auf ein restriktives Verständnis, das stärker auf die besondere objektive Struktur dieser Delikte abstellt. In Anbetracht der verunglückten Normen ist der Weg, auf dem die Einschränkung erreicht wird, eher von dogmatischem als von methodischem Interesse. Fall 349 (BGHSt 3, 259 gegen RGSt 77, 137; oben Fall 212): Etwas schwieriger liegt es in BGHSt 3, 259. Für die Problematik war womöglich ein Redaktionsversehen ursächlich; kein Auslegungskriterium ergab ein klares Ergebnis. RGSt 77, 137 hat die Gelegenheit genutzt, den bisherigen unbefriedigenden Rechtszustand fortzuentwickeln und dem „praktischen Bedürfnis“ nach gerechter Strafzumessung Rechnung zu tragen (S. 138). Das OLG Düsseldorf (MDR 1952, 180) hat sich dem Ergebnis des RG angeschlossen und dafür auf den Grundgedanken der Norm rekurriert, der nach Versagen der grammatischen und historischen Auslegung entscheiden müsse; dagegen dürfe das vom RG herangezogene „praktische Bedürfnis“ keine Rolle bei der Auslegung spielen (S. 181, l. Sp.). BGHSt 3, 259 tritt dem entgegen und meldet rechtsstaatliche Bedenken gegenüber der kriminalpolitischen Motivation des RG an (S. 261). Für seine eigene Ansicht beruft der Senat sich vor allem auf die Gesamtsystematik der Regelungen und – trotz des im Raum stehenden Fassungsversehens – auf den Wortlaut der Norm (S. 262). – Über die Berücksichtigung des „praktischen Bedürfnisses“ darf man streiten, aber die Entscheidung des OLG Düsseldorf zeigt, daß die Lösung des RG auch methodengerecht begründet werden konnte, ohne sich den „rechtsstaatlichen Bedenken“ des BGH auszusetzen. Ein klarer Wille des Gesetzgebers war nicht zu ermitteln.

Zuweilen erscheinen bei einer unbefangenen Betrachtung, die zunächst auf die schulmäßige Interpretation verzichtet, zwei Lösungen einer Problematik als gleichermaßen „vernünftig“. Dann ist darauf zu achten, daß nicht lediglich die zur Rechtfertigung der bevorzugten Lösung geeigneten, sondern auch die gegenläufigen Argumente berücksichtigt werden: Müssen die für die Sicherungsverwahrung erforderlichen Vorverurteilungen rechtskräftig sein, obwohl § 66 StGB das anders als die Vorläufernorm nicht mehr explizit verlangt? (Siehe oben Fall 191.) Unabhängig von einer näheren Normexegese sind in der Sache beide Positionen plausibel: Hinsichtlich der Warnfunktion für den Täter kann man sowohl die Verurteilung (so BGHSt 26, 387) als auch den rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens (so BGHSt 35, 6) als maßgeblich betrachten. BGHSt 26, 387 bevorzugt angesichts der Formulierungsänderung den (objektiv-historischen) Umkehrschluß, hat dabei aber nach BGHSt 35, 6 (13) subjektiv-historische Einwände „nicht berücksichtigt“.53

53 Die Konstellation ähnelt derjenigen aus BGHSt 3, 334 und GS 4, 308 (vgl. oben).

2. Rechtsprechungsänderungen

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Eine Konstellation, die stets zu Rechtsprechungsänderungen in die eine wie andere Richtung führen kann, ist der Widerstreit zwischen begrifflich-systematischer und materiell-teleologischer Interpretation. Der ständige Druck zur Überschreitung der Wortlautgrenze ist nur die extremste Ausprägung dieses allgemein bestehenden Dauerkonflikts.54 Fall 350 (BGHSt 5, 263 gegen RGSt 63, 153): Zu entscheiden war, ob beim „Notbetrug“ (§ 264a StGB a. F.) wie bei der „Notentwendung“ (§ 248a StGB a. F.) als geringwertige „Gegenstände“ nur solche körperlicher Art in Betracht kamen, nicht aber z. B. die durch Täuschung erlangte Nutzung von Wohnraum. RGSt 63, 153 hat die Parallelität der beiden Regelungen betont und sich dabei auf „Wortlaut, Wortsinn und Sprachgebrauch“ (S. 156), insbesondere aber auf die Entstehungsgeschichte berufen, die sehr ausführlich referiert wird: Der Gesetzgeber habe sich bei Einführung des § 264a am Vorbild des § 248a orientiert; von keiner Seite sei ein unterschiedliches Begriffsverständnis angedeutet worden (S. 154); auch Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren zu einem Alternativvorschlag sprächen für diese Deutung (S. 155). Hingegen hat das BayObLG (MDR 1953, 440) den Zweck der Regelung in den Mittelpunkt gestellt: Es sei kein Grund dafür ersichtlich, den Täter strenger zu behandeln, der sich statt einer geringwertigen körperlichen Sache einen anderen Vermögensvorteil von geringem Wert verschafft hat. Der Gesetzgeber habe möglicherweise gerade deshalb den Ausdruck „Gegenstand“ (anstelle von „Sache“) gewählt, weil dieser nach der jeweiligen Eigenart des Tatbestands verstanden werden könne. BGHSt 5, 263 schließt sich dem BayObLG an: Der in zahlreichen Vorschriften des StGB verwendete Ausdruck umfasse zwar in der Regel nur körperliche Sachen, aber dort kämen als Tatobjekte meistens auch nur körperliche Sachen in Frage (S. 266). Daß ein im Gesetz mehrfach verwendeter Begriff die gleiche Bedeutung hat, sei naheliegend, aber nicht zwingend. Den Gesetzesberatungen sei eine dahingehende Beschränkung des § 264a nicht (positiv) zu entnehmen (S. 266 f.). Deshalb dürfe der Begriff „Gegenstand“ zweckentsprechend in §§ 248a, 264a unterschiedlich verwendet werden (S. 267). – Beide Ansichten haben gute Gründe für sich. Der Gesetzeszweck des § 264a ist stark genug, um die begriffliche Einheit der Rechtsordnung (vgl. oben V 8 a) aufzulösen. Die historische Argumentation des RG ist zwar überzeugend, aber auch nicht zwingend; zu Recht wendet der BGH ein, daß positive Anhaltspunkte für ein bestimmtes Verständnis fehlen.55 Zudem wäre zu prüfen, wie sich die konkreten begrifflichen Vorstellungen der Gesetzesverfasser zu der mit § 264a generell verfolgten Zielsetzung verhalten.56 Fall 351 (BGHSt 1, 313 gegen RGSt 77, 24; oben Fall 113): Umgekehrt gewinnen begrifflich-systematische Erwägungen gegenüber Zweckargumenten in BGHSt 1, 313 die Oberhand. Die Strafschärfung des § 20a StGB a. F. setzte die Begehung dreier vorsätzlicher „Taten“ voraus. Entgegen der bisherigen Rechtsprechung des 54 Ähnliches gilt für das „abstrakte Gefährdungsdelikt“, das stetigen Relativierungsversuchen ausgesetzt ist. 55 Zu vage, um die historische Argumentation des RG zu entkräften, ist demgegenüber die Spekulation des BayObLG zu den möglichen Motiven des Gesetzgebers für die Verwendung des Ausdrucks „Gegenstände“. 56 Das sind keine außerhalb des Gesetzes liegenden „objektiv-teleologischen“ Erwägungen, vgl. IV 4 c.

594

VII. Übergreifende Gesichtspunkte

RG hat RGSt 77, 24 auch Einzelakte einer fortgesetzten Handlung genügen lassen und sich dabei auf den „Sinn“ der Norm berufen: Der verbrecherische Hang, an den die Norm anknüpfe, offenbare sich bereits in den Einzelakten der fortgesetzten Tat (S. 26). Das OLG Düsseldorf (SJZ 1950, 284) hat sich den teleologischen Erwägungen des RG angeschlossen und gegen den Verdacht argumentiert, das RG habe sich zeitbedingt von Anschauungen leiten lassen, die einer humanen Strafrechtspflege entgegenstehen (Sp. 286).57 Dagegen hat das OLG für Hessen (SJZ 1949, 570) die Begriffsspaltung als unvereinbar mit dem Wortlaut angesehen; dem Begriff der Tat könne nicht aus Zweckmäßigkeitsgründen in § 20a eine andere Bedeutung als sonst zuerkannt werden (Sp. 571). Auch BGHSt 1, 313 wendet sich gegen RGSt 77, 24: Andernfalls würde von einem feststehenden und grundlegenden Begriff des Strafrechts abgewichen und dies sogar – angesichts der unstrittigen Auslegung des Ausdrucks in einem anderen Absatz – innerhalb der gleichen Norm (BGH, S. 316). Das sei selbst bei einem womöglich abweichenden Willen des Gesetzgebers nicht möglich. Die Entstehungsgeschichte liefere im übrigen „zwingende Beweise“ gegen RGSt 77, 24.58 – Gegen die Begriffsspaltung sprachen hier noch bessere Gründe als im vorgenannten Fall, ob sie aber (als Verstoß gegen die fachsprachlich bestimmte Wortlautgrenze, vgl. oben III 7 b) unhaltbar war, bedürfte näherer Prüfung. Schwach ist die knappe Replik des BGH auf das teleologische Argument der Gegenansicht. Dieses sei „nicht stichhaltig. Denn damit legt das RG dem Gesetz einen Sinn unter, der ihm nicht entnommen werden kann, im Gegenteil seinem Wortlaut widerstreitet.“59

Zur Rechtsprechungsänderung vermag auch ein vor jeder Methodik liegender Paradigmenwechsel führen, wie etwa die vom Nationalsozialismus begünstigte Bevorzugung von Allgemein- gegenüber Individualinteressen. Fall 352 (BGHSt 6, 314 gegen RGSt 73, 68): Um wegen betrügerischen Bankrotts bestraft werden zu können, muß der Vorstand einer Aktiengesellschaft oder der Geschäftsführer einer GmbH in „seiner Eigenschaft“ als Vorstand oder Geschäftsführer gehandelt haben (siehe Fall 126). Wie steht es bei eigennützigen Handlungen wie der Unterschlagung von Waren? Anders als die frühere Rechtsprechung hat RGSt 73, 68 auch diese Fälle erfaßt. Die bisherige einhellige Ansicht könne sich zwar auf die Gesetzesbegründung stützen (S. 69), doch bringe das Gesetz selbst die Einschränkung nicht zum Ausdruck (S. 70). Die Begründung weise zudem darauf hin, daß die Vorschrift einen möglichst weitreichenden Schutz der Betroffenen gewährleisten wolle.60 Ferner stülpt das RG der Auslegung ein Leitkriterium über: „Der Gedanke, daß die Allgemeinheit gegen die Angriffe von Rechtsbrechern wirksam zu sichern sei, der für die Neugestaltung des Strafrechts immer schärfer betont wird, 57 Vgl. nochmals oben die Entscheidung BGHSt 3, 259 (Fall 349), in deren Vorfeld das OLG Düsseldorf versucht, die womöglich kriminalpolitische Motivation des RG auf eine (zulässige) teleologische Grundlage zu stellen. 58 Der BGH führt das leider nicht aus, sondern verweist auf Quellen aus dem Schrifttum. 59 BGHSt 1, 313 (317). Richtig und ausreichend wäre die einfache Begründung: Der Sinn, den das RG dem Gesetz entnommen hat, widerstreitet dem Wortlaut. 60 Die frühere Rechtsprechung des RG hatte diesen Aspekt keineswegs außer acht gelassen, vgl. RGSt 42, 278 (279).

2. Rechtsprechungsänderungen

595

führt ohne weiteres zur Prüfung, welche Auslegung der einzelnen Strafbestimmung diesem Ziel am besten entspricht.“ BGHSt 6, 314 (317) stellt mit einer äußerst kurzen Begründung die ursprüngliche Ansicht wieder her:61 Es sei zuzugeben, daß der Wortlaut zweifelhaft sei, aber gerade deshalb seien Entstehungsgeschichte und Zweck heranzuziehen; diese Kriterien sprächen für eine enge Auslegung. – Die Andeutungstheorie erlaubt es dem RG, sich die ihm genehmen Teile der Entstehungsgeschichte herauszusuchen,62 die mit dem neuen Strafrechtsdenken verknüpft werden – eine höchst unerfreuliche methodologische Mischung. Fall 353 (BGHSt 26, 218 gegen RGSt 74, 47): Eine ganz ähnliche Situation liegt BGHSt 26, 218 zugrunde. § 247 StPO läßt unter bestimmten Voraussetzungen die Entfernung des Angeklagten während der „Vernehmung“ eines Zeugen zu. Nach der früheren Rechtsprechung des RG galt das aber nicht für die Vereidigung des Zeugen, denn Vernehmung und Vereidigung wurden als selbständige Abschnitte aufgefaßt. RGSt 74, 47 hat eine Kehrtwende vollzogen: Die bisherige Ansicht hafte zu sehr am Wort und der äußeren Form und „berücksichtigt zu sehr die Belange der Verteidigung, das Recht des einzelnen“ (S. 49). Auch wenn das Gesetz die beiden Prozeßhandlungen trenne, „so gehören sie doch nach der natürlichen Auffassung sachlich . . . zusammen“. Nur eine solche Auslegung werde auch dem mit § 247 verfolgten Zweck (Wahrheitsforschung) gerecht. BGHSt 26, 218 (219) hält diese Ausdehnung der Norm über ihren Wortlaut hinaus für unzulässig. § 247 sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen und streng auf den Wortlaut zu beschränken (S. 220); der Zweck der Norm werde dadurch nicht gefährdet. Es liege im Interesse des Angeklagten, vor der Vereidigung gehört zu werden. – Die Einseitigkeit von RGSt 74, 47 ist offenkundig. Der Wahrheitserforschung stehen viele Vorschriften im Weg, aber nicht ohne Grund! Deren Wortlaut kann diffamiert („äußere Form“), ihr Anwendungsbereich durch eine „natürliche Betrachtung“ reduziert werden. Fall 354 (BGHSt 5, 140 gegen RGSt 71, 218; 73, 155): Die Interessen der Allgemeinheit verfolgt merkwürdigerweise BGHSt 5, 140. Nach § 429b I StPO a. F. (ebenso § 414 I g. F.) waren im Sicherungsverfahren die Vorschriften über das Strafverfahren sinngemäß anwendbar. Setzte die Durchführung des Sicherungsverfahrens bei Antragsdelikten einen Strafantrag voraus? RGSt 71, 218 (219) hat das entgegen einer im Schrifttum „mit Rücksicht auf die öffentliche Sicherheit“ vertretenen Ansicht bejaht.63 Die Gegenansicht würde dazu führen, daß die Wahl der Verfahrensart über die Möglichkeit entscheide, eine Sicherungsmaßregel zu verhängen (S. 220). Widersinnig sei weiter, daß das Verfahren eingestellt werden müsse, wenn sich im Sicherungsverfahren wider Erwarten die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten ergebe und deshalb in das Strafverfahren übergeleitet werde. Gegenteilig argumentiert BGHSt 5, 140: Die sonst für das Antragserfordernis vorgebrachte Rechtfertigung gelte nicht im Sicherungsverfahren, das ausschließlich dem Schutz der Allgemein61 Die Kürze scheint dem Senat wohl gerechtfertigt, weil RGSt 73, 68 „schon wieder“ durch RGSt 73, 117 „aufgeben“ worden sei. Letzteres ist jedoch unzutreffend, denn RGSt 73, 117 (119) mußte eine andere Konstellation entscheiden, in der es auf ein weiteres Tatbestandsmerkmal ankam. 62 Vgl. zur „Rosinentechnik“ auch oben bei BGHSt 2, 99 = Fall 348. 63 Ebenso RGSt 73, 155 (156) mit dem Argument, daß es für die Wahl des Verfahrens gemäß § 429a StPO (a. F.) nur auf die Zurechnungsfähigkeit ankomme. Zur heutigen Rechtslage siehe BGHSt 31, 132 (134 ff.).

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VII. Übergreifende Gesichtspunkte

heit vor zukünftigen Taten diene (S. 142). „Die gegenteilige Ansicht führt zu dem Ergebnisse, daß der gerichtliche Schutz der öffentlichen Sicherheit . . . vom Willen einer Privatperson abhängen würde. Das ist nicht angängig.“ – Es ist erstaunlich, daß das RG (1937) den Gedanken des Schutzes der Allgemeinheit nicht aufgegriffen hat, obwohl dies der Tendenz des Zeitgeistes entsprochen hätte. Das macht die Argumentation des BGH nicht per se verdächtig. Ihm ist allerdings vorzuwerfen, den zentralen Einwand des RG nicht behandelt zu haben, denn das Argument, daß eine Sachfrage nicht von Zufälligkeiten der Verfahrensgestaltung abhängen darf, ist stark und wird vom BGH sonst gerne verwendet (siehe oben VI 9 e).

Schließlich bleiben Fälle, in denen von einer bislang als eindeutig angesehenen, aber als unbefriedigend empfundenen Rechtslage abgewichen wird.64 Eine methodengerechte Begründung einer Rechtsprechungsänderung erweist sich dann – kaum überraschend – als schwierig. Fall 355 (BGHSt 20, 248 gegen RGSt 33, 410; 27, 10): Gemäß § 69 I StGB a. F. ruhte die Verjährung, solange ein gesetzliches Hindernis für die Strafverfolgung bestand. Für Immunität genießende Abgeordnete bedeutete das sowohl eine Privilegierung als auch eine Benachteiligung. Letztere lag vor, wenn der Eintritt der Verjährung nicht durch die Immunität, sondern aus anderen Gründen gehemmt war. Dann würde unter Umständen allein die Abgeordneteneigenschaft noch die Möglichkeit der Strafverfolgung eröffnet haben. Die Härte wäre dadurch zu beseitigen gewesen, daß die Hemmung von einem Antrag der Behörde an den Reichstag auf Aufhebung der Immunität oder von der Ablehnung des Antrags abhängig gemacht worden wäre. RGSt 33, 410 sieht eine solche Lösung aber weder in § 69 StGB (a. F.) noch in der Vorschrift zur Immunität in der Reichsverfassung (Art. 31) angelegt, die beide eindeutig seien. Gegenüber dem „klaren Willen des Gesetzes“ sei der Einwand der Schlechterstellung irrelevant; diese sei untrennbar mit dem Privileg verbunden (S. 413). Eindringlich betont der Senat seine Bindung an das Gesetz (S. 411): Ob sich „aus politischen oder juristischen Gründen“ eine andere Regelung empfehle, eine andere Regelung zweckmäßiger sei, habe nicht der Richter zu entscheiden. Eine Kehrtwende vollzieht BGHSt 20, 248: Die „unbilligen“ Folgen der Rechtsprechung des RG seien zu vermeiden (S. 249), indem das Ruhen der Verjährung erst mit der Kenntnis der Verfolgungsbehörden von Tat und Täter beginne (S. 251). Aus der Entstehungsgeschichte folge nur, daß die Bevorzugung der Abgeordneten beseitigt werden sollte (S. 250). Hingegen habe der Gesetzgeber deren Benachteiligung „sicher nicht gewollt“. Deshalb bestehe kein Anlaß, § 69 I StGB so auszulegen, daß der „Gesetzeszweck in sein Gegenteil verkehrt“ werde. Die Norm sei „nicht so eindeutig“, wie das RG angenommen habe; „ihr Wortlaut gestattet, die Voraussetzungen der Verjährungshemmung jeweils aus Sinn und Zweck des einzelnen Verfolgungshindernisses zu ermitteln“. Weder aus dem Institut der Immunität noch aus dem Zweck des § 69 I lasse sich die Schlechterstellung der Abgeordneten rechtfertigen. – An der Eindeutigkeit des Wortlauts war nicht zu zweifeln; eine Begründung für die Vereinbarkeit seiner Auslegung mit dem Gesetzestext bleibt der Senat schuldig. In Betracht kam allerdings eine teleologische Reduktion, falls der Gesetzgeber die nachteiligen Folgen übersehen hatte (verdeckte Lücke). Die vom RG betonte 64 Wiederhergestellt wird eine eindeutige Rechtslage von BGHSt 16, 115 gegen die auf „Billigkeitserwägungen“ beruhende Entscheidung BGHSt 15, 203 (oben Fall 292).

2. Rechtsprechungsänderungen

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Gesetzesbindung erstreckt sich nur auf eine vorhandene Entscheidung des Gesetzgebers.65 Fraglich ist aber, ob die Voraussetzungen einer Rechtsfortbildung hinreichend dargetan werden können und ob – bei einer nicht sinnlosen, sondern nur unbefriedigenden Norm – nicht eine Vermutung für ihre Vollständigkeit spricht. Näher liegt die Deutung, daß der BGH sich der unbefriedigenden Situation angenommen und eine sinnvollere Regelung konstruiert hat.66 Im Vorfeld des Urteils ist auf Basis der lex lata nichts gegen die Lösung des RG erinnert worden.67

Offensichtlicher ist die Gesetzesumgehung im folgenden Beispiel, das zeigt, wie die eindeutige, aber im Einzelfall als zweckwidrig oder formalistisch empfundene Regelung dem Dauerdruck nicht mehr standhält: Fall 356 (BGHSt 45, 117 gegen BGHSt 1, 334; 2, 56 u. a.): Gemäß § 171b GVG kann die Öffentlichkeit aus der Hauptverhandlung ausgeschlossen werden, wenn Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Prozeßbeteiligten erörtert werden. Nach § 174 I 2 GVG muß ein dahingehender Beschluß öffentlich verkündet werden; der Grund für den Ausschluß ist anzugeben, § 174 I 3. Ein Verstoß gegen diese Anforderungen ist ein absoluter Revisionsgrund, § 338 Nr. 6 StPO. BGHSt 1, 334 hat kurz und bündig entschieden, den Anforderungen genüge es nicht, daß sich die Gründe für den Ausschluß aus dem Sachzusammenhang oder aus vorausgehenden Anträgen ergeben. Schon der Gesetzeswortlaut („ist anzugeben“) spreche dagegen (S. 335). Jedes Absehen von der zwingenden Angabe des Grundes provoziere eine weitere Aushöhlung der Vorschrift und widerspreche dem mit der Öffentlichkeit des Verfahrens verbundenen Gesetzeszweck, dessen Gewicht im übrigen durch die Statuierung eines absoluten Revisionsgrundes belegt werde (S. 335 f.). Dem Gericht werde nichts schwer Erfüllbares abverlangt (S. 336).68 BGHSt 2, 56 ist dem beigetreten und hat betont, daß diese Folgerung keineswegs „formalistisch“ sei (S. 57).69 Die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung sei eine alte demokratische Forderung, die nicht durch eine lässige Handhabung abgeschwächt werden dürfe. Daß es Fälle gibt, in denen der Ausschlußgrund leicht erkennbar ist, ändere nichts; das Gesetz lasse bewußt keine Ausnahmen zu (S. 58). BGHSt 27, 187 (188) hat diese strengen Grundsätze bestätigt: Außerhalb des Beschlusses liegende Umstände dürften auch dann nicht berücksichtigt werden, wenn der Ausschlußgrund für Beteiligte und Zuhörer „offen zutage lag“.70 In einer neueren Entscheidung zeigt der BGH (1. Senat) sich hingegen der Belastung, eine materiell offensichtlich richtige Entscheidung wegen eines Formmangels aufzuheben, nicht mehr gewachsen. Ist allen Beteiligten klar, weshalb die Öffent65 66

Näher unten VII 3 a, nach Fn. 89. Der Gesetzgeber des 2. StrRG hat die Lösung des BGH in § 78b II StGB kodifi-

ziert. So Busch, LM 1965, Nr. 6 zu § 69 StGB. Vgl. z. B. Jagusch, in: LK-StGB8, Schwarz/Dreher, StGB29 und Schönke/Schröder, StGB12, jeweils zu § 69 StGB a. F. 68 Ebenso BGH StV 1981, 3: „leicht zu bewerkstelligen“. 69 Gegen den Einwand des Formalismus setzten sich außerdem (in anderem Zusammenhang) z. B. BGHSt 7, 162 (164); 11, 332 (334) zur Wehr. 70 Auch in BGH GA 1975, 283 bestand kein Zweifel, daß die Öffentlichkeit wegen einer „Gefährdung der Sittlichkeit“ ausgeschlossen wurde; gleichwohl besteht der Senat „aus grundsätzlichen Erwägungen“ auf die Einhaltung der Förmlichkeit. 67

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VII. Übergreifende Gesichtspunkte

lichkeit ausgeschlossen wird und müßte in einer neuen Hauptverhandlung unzweifelhaft ebenso verfahren werden, sei der Normzweck des § 174 GVG nicht verletzt (NStZ 1999, 92). Nach Durchführung des Anfrageverfahrens hat BGHSt 45, 117 im Ergebnis ebenso entschieden, aber die Begründung gewechselt: Der Verstoß gegen § 174 I 3 sei zwar gegeben, wiege aber in einem „Ausnahmefall“ wie dem vorliegenden „nicht so schwer“, als daß der Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO zu bejahen wäre (S. 120 f.).

Die Entscheidung BGHSt 45, 117 ist nicht zu rechtfertigen.71 Beide Begründungsansätze (Reduktion des § 174 I 3 GVG oder Relativierung der absoluten Revisionsgründe) müssen von gefestigten Positionen abweichen. Die Tatsache des Begründungswechsels belegt sowohl die Hilflosigkeit gegenüber der Aufgabe, die Lösung methodisch einwandfrei zu begründen, als auch die Motivation, die Vorlage an den Großen Senat zu umgehen.72 Zu Recht wird die Aushebelung von Formvorschriften in einen größeren Zusammenhang gestellt und darin ein Beleg für den großzügigen Umgang der Juristen mit dem Gesetz und ein „ergebnisorientiertes“ Judizieren gesehen;73 einer allgemeinen Tendenz im Revisionsrecht entsprechend nehme „das Gefühl für den Eigenwert schützender Förmlichkeiten und ihrer Sicherung“ ab74. In einer vergleichbaren Problematik zum Ausschluß der Öffentlichkeit75 hat BGHSt 4, 279 (282) in einem Meinungswandel des RG das Bestreben erkannt, sich von „förmlichen Bindungen“ befreien zu wollen. In diesem Sinn hat auch BGHSt 45, 117 die formalen Fesseln abgestreift, um das billige oder zweckmäßige Ergebnis zu erreichen.76 Um eine überzeugende Handhabung der Auslegungsfaktoren hat die Entscheidung sich – anders als die frühen Urteile BGHSt 1, 334; 2, 56 – erst gar nicht bemüht; eher liegt ein Verzicht auf ein methodengerechtes Begründen vor. Mit einiger Sicherheit kann man sagen, daß der Auslegungskanon die fragwürdige Entscheidung zumindest nicht erleichtert hat. Zugute halten kann man ihr nur,

71 Ebenfalls abl. Gössel, NStZ 2000, 182 (183): Mit dem Gesetz und anderen Urteilen nicht zu vereinbaren; Park, StV 2000, 246 (248): Beeinträchtigung der Rechtssicherheit, bedenklich im Hinblick auf die Gewaltenteilung; zumindest krit. auch Rieß, JR 2000, 253. 72 Näher zur Fragwürdigkeit des durchgeführten Anfrageverfahrens Rieß, JR 2000, 253 (254). 73 Ventzke, StV 2000, 249 f. (zu einer ganz ähnlichen Entscheidung des BGH). 74 Rieß, JR 2000, 253 (256). 75 Es ging um die Frage, ob die Urteilsverkündung noch zur „mündlichen Verhandlung“ gehört. Gegen die frühere Rechtsprechung haben RGSt 69, 175; 71, 377 die Frage verneint und damit die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens entwertet. BGHSt 4, 279 stellt die ursprüngliche Auffassung des RG wieder her. Ähnlich utilitaristische Motive des RG wurden oben in Fall 353 deutlich, und es ist erstaunlich, daß BGHSt 45, 117 diese Tendenz wieder aufgreift. 76 Selten dürfte die umgekehrte Situation sein, in der versucht wird, mit einer spitzfindigen, formalistischen Argumentation das „gerechte“ Ergebnis zu erzielen. Literarisches Zeugnis dafür gibt die Argumentation Porzias gegen Shylocks Anspruch.

3. Zum Verhältnis von Gesetzgeber und Richter

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daß sie auf die nicht seltene Diskreditierung formal-begrifflicher Argumente („sinnlose Förmelei“, „haftet am Wortlaut“ usf.) verzichtet hat.77 Festzuhalten bleibt: Wie in einem Brennglas können Rechtsprechungsänderungen den variablen Einsatz juristischer Methodik offenbaren. Sie können ein methodisch abweichendes Grundverständnis demonstrieren (z. B. BGHSt 30, 52; 36, 192), unter Umständen aber auch ohne Methodenbruch überzeugend begründet werden (z. B. BGHSt 3, 334; GS 4, 308 und Fall 349). Für die gleichzeitige Vertretbarkeit verschiedener Lösungen bedarf es allerdings der vollständigen Verwertung etwaiger Gegenargumente und in manchen Fällen einer Begründung, weshalb einem bestimmten Argument der Vorzug gebühren soll. Eine besondere Herausforderung sind Abweichungen von einer bislang als eindeutig erkannten Rechtslage (vgl. Fall 355 und Fall 356). Eine Dauerquelle für Meinungswandel in der Rechtsprechung ist der Grundkonflikt zwischen begrifflichsystematischer sowie materiell-teleologischer Gesetzesanwendung (Fall 350 und Fall 351). Im Bereich des Analogieverbots gilt ohne weiteres das Primat der Form, ebenso aber bei einer klaren Anordnung des Gesetzgebers, die dem Rechtsanwender freilich „formalistisch“ erscheinen und zur Gesetzesumgehung drängen mag (Fall 356). Weiter können Rechtsprechungsänderungen durch einen außerhalb der jeweiligen Norm liegenden (juristischen) Paradigmenwechsel (vgl. Fall 352 ff.), womöglich sogar durch einen Wandel des Zeitgeists angestoßen werden.

3. Zum Verhältnis von Gesetzgeber und Richter a) Betonung der Gesetzesbindung (Art. 20 III, 97 I GG) Viele Entscheidungen der Senate beschäftigen sich mit der Bindung des Richters an das Gesetz. Daß es dann zumeist um auslegungstheoretisch interessante Konstellationen geht, bedarf keiner näheren Begründung. Zahlreiche dieser Urteile wurden hier vorgestellt, und wiederum sollen die wesentlichen Aussagen der Rechtsprechung zur Gesetzesbindung zusammenfassend betrachtet werden, um der Frage näher zu kommen, woran genau die Gerichte sich gebunden sehen (eindeutiger Gesetzessinn, Wille des Gesetzgebers?) und welche Grenzen der Richter nach eigenem Bekunden nicht überschreiten darf. Zunächst sind Fälle abzugrenzen, in denen die Rechtsprechung eine vorgeschlagene Subsumtion aufgrund von Art. 103 II GG ablehnt. Die Respektierung des Analogieverbots – des möglichen Wortsinns – ist keine Frage der Gesetzesbindung des Richters, sondern eine rechtsstaatliche Forderung, die gerade auch

77 Siehe oben Fall 353 (RGSt 74, 47), oben III 7 h gg (ab Fn. 513) und allg. Scheuerle, AcP 1972, 396 (insbesondere 418 ff.).

600

VII. Übergreifende Gesichtspunkte

der Durchsetzung gesetzgeberischer Vorstellungen im Weg stehen kann. Ob dabei Strafbarkeitslücken entstehen, ist irrelevant. BGHSt 42, 291 (293) betont, daß es angesichts des entgegenstehenden Wortlauts „auf den gesetzgeberischen Willen, wie er sich aus den Materialien ergibt, nicht mehr“ ankomme. BGHSt 42, 30 (34 f.) erkennt eine „mögliche Strafbarkeitslücke“, die jedoch wegen des eindeutigen Wortlauts nicht geschlossen werden könne; weitergehende, der Entstehungsgeschichte zu entnehmende Vorstellungen, änderten nichts daran. BGHSt 12, 136 (145) hält ebenfalls eine Lücke für möglich, die zu schließen jedoch Art. 103 II GG entgegenstehe. „Hierzu ist nur der Gesetzgeber befugt.“78 BGHSt 13, 287 (289) stellt fest, daß es dem Strafrichter verwehrt sei, „sich mit kriminalpolitischen Erwägungen über den Wortlaut des Gesetzes“ hinwegzusetzen. Auch ein gesetzgeberisches Versehen berechtigt nicht – „so sehr es auch erwünscht sein mag“ – zur Überschreitung des Gesetzeswortlauts, denn zur Klarstellung „ist der Gesetzgeber aufgerufen“, BGHSt 28, 213 (216).

Beide Fragenkreise werden nicht selten vermengt, was im Ergebnis freilich ohne Folgen bleibt. BGHSt 43, 237 (oben Fall 105) sieht in der Gegenauffassung eine unzulässige Abweichung vom Wortlaut: „Der Richter ist an das Gesetz gebunden. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze der Auslegung . . .“ (S. 238). – Aus der „Bindung an das Gesetz“ folgt gerade nicht eine Bindung an dessen Wortlaut, denn andernfalls wären auch Gesetzesberichtigungen zugunsten des Täters unzulässig.

Die Subsumtion kann im übrigen sowohl gegen Art. 103 II GG als auch gegen die Gesetzesbindung verstoßen, wenn das Gesetz eindeutig (und gewollt) keine Grundlage für die Bestrafung hergibt:79 In BGHSt 44, 233 (oben Fall 74) sprachen alle Auslegungskriterien und die Wortlautgrenze gegen die Strafbarkeit. Der Senat hält die Rechtslage zwar materiell für unbefriedigend, jedoch sei das Ergebnis „als Folge der sich in dem Gesetzeswortlaut widerspiegelnden Entscheidung des Gesetzgebers hinzunehmen. Andernfalls würde der Tatbestand in einer dem Analogieverbot widersprechenden Weise strafbarkeitsbegründend erweitert“ (S. 240). — BGHSt 7, 112 (117) sieht es zu Recht als Verstoß gegen das Analogieverbot an, das Fluchtverbot des § 142 StGB (a. F.) in ein Meldegebot umzugestalten. Eine derartige Pflicht sei unserer Rechtsordnung fremd und könne nur vom Gesetzgeber, nicht aber vom Strafrichter eingeführt werden. – Für die Meldepflicht gab es keine Grundlage im Gesetz. Entsprechendes galt allerdings für die Rückkehrpflicht, welche die Rechtsprechung ohne Scheu „entwickelt“ hat (vgl. Fall 89).

78 Als „nicht befugt“ zur Lückenschließung betrachtet sich auch BGHSt 20, 104 (108); ebenso, aber in anderer Hinsicht mißverständlich BGHSt 2, 317 (319), vgl. die wörtliche Wiedergabe oben bei Fall 59. 79 Als weitere Beispiele, in denen eine eindeutige Rechtslage und wohl auch der Wortlaut gegen die Subsumtion sprachen, können genannt werden: BGHSt 25, 151 (157) = oben Fall 117 und BGHSt 31, 348 (353) = oben Fall 279, jeweils mit Verweis auf die Zuständigkeit des Gesetzgebers.

3. Zum Verhältnis von Gesetzgeber und Richter

601

Woran genau die Rechtsprechung sich gebunden fühlt, ist schwer zu sagen. An einer Konkretisierung hat sich BGHSt 38, 144 (oben Fall 312) versucht: Aus Art. 103 II GG folge das Verbot, die Strafbarkeit über den Wortlaut hinaus auszuweiten und den Gesetzgeber zu korrigieren, „wobei der Begriff ,Gesetzgeber‘ dahin zu verstehen ist,80 daß es sich um den im Gesetz zum Ausdruck kommenden Regelungsinhalt handelt. Aufgabe des Richters ist nicht, das Gesetz so zu gestalten, wie der eine oder andere es gern gestaltet sähe, weil er es so für richtig hielte; Sache des Richters ist vielmehr, das Gesetz so anzuwenden, wie es gestaltet ist (Art. 20 Abs. 3 GG). Das verbietet es, Gedanken und Überlegungen zu verwirklichen, die – mögen sie noch so bedenkenswert sein – eben nicht Gesetz geworden sind“ (S. 151).

Aus den wenig weiterführenden Formulierungen wird man immerhin auf eine Bindung an einen klar erkennbaren Regelungsgehalt des Gesetzes, an seinen „eindeutigen Inhalt“81 schließen können. Mit dieser Konzeption im Einklang steht die von der Rechtsprechung vertretene Andeutungstheorie, die zur Berücksichtigung des (subjektiven) gesetzgeberischen Willens verlangt, daß dieser im Wortlaut zum Ausdruck gekommen ist. Explizit verneint deshalb BGHSt 31, 10 (14) in dieser Situation folgerichtig eine Bindungswirkung: „Zudem wären die Gerichte an eine mit dem Gesetzeswortlaut unvereinbare Auslegung seitens der Verfasser des betreffenden Gesetzentwurfs nicht gebunden.“82

In Konsequenz dessen wird man zu dem großen Bereich der Gesetzesberichtigungen – verstanden als Wortlautkorrekturen zur Durchsetzung des „wahren“ gesetzgeberischen Willens (eingehend oben IV 8) – sagen müssen, daß die Gerichte sich hierzu nicht verpflichtet sehen. Daß sie gleichwohl und mit erheblichem Aufwand zur Berichtigung (zugunsten des Täters) schreiten, ist eine andere Frage. Vom Standpunkt einer subjektiv-historischen Auslegung müßte insoweit anders entschieden und eine Pflicht zur Korrektur bejaht werden, falls der wirkliche Wille tatsächlich klar zutage liegt. Um der Einstellung der Rechtsprechung zur Frage ihrer Selbstbindung näher auf die Spur zu kommen, lohnt weiterhin ein Blick auf die Konstellationen, in denen die Senate ihre Bindung gegenüber der gesetzgeberischen Entscheidung hervorkehren und dem „Askese-Gebot“83 damit zumindest verbal Rechnung tragen. Es handelt sich dabei um die typischen Situationen, in denen das Drängen zur Gesetzeskorrektur mehr oder weniger verständlich erscheint, wie beim Wan80 Wieder werden Fragen des Art. 103 II GG mit solchen der richterlichen Gesetzesbindung verknüpft. 81 BGHSt 22, 146 (153) = oben Fall 251 mit ausführlichem Zitat; BGHSt 27, 52 (56). 82 Es ist allerdings fraglich, ob der Senat in Wirklichkeit nicht die Unvereinbarkeit der historischen Vorstellungen mit der Wortlautgrenze dartun wollte; vgl. oben Fall 190. 83 Ausdruck bei Paeffgen, in: Grünwald-FS, S. 459.

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VII. Übergreifende Gesichtspunkte

del der Verhältnisse, bei Unbilligkeiten im Einzelfall sowie zweckwidrigen, „unbefriedigenden“ oder überholten Regelungen.84 Am interessantesten erscheint die Thematik, inwieweit durch den Wandel der Zeiten unbefriedigende oder überholte Regelungen korrigiert werden dürfen. Gerne pochen die Senate dann auf ihre Bindung und verweisen auf die Zuständigkeit des Gesetzgebers: BGHSt 11, 31 (oben Fall 120): Ergebe sich, daß die Regelung trotz weiter Auslegung „den Interessen der Allgemeinheit nicht mehr genügt, etwa wegen einer durch die Zeitverhältnisse bedingten Entwicklung, so kann dem nur durch die Bundesgesetzgebung abgeholfen werden“ (S. 43). BGHSt 11, 304 (314) hält aufgrund veränderter Fertigungstechniken bei Arzneimitteln die Gefahren, gegen die sich die Arzneimittelverordnung richtet, nunmehr für geringer. Doch dürfe die Frage, ob die Verordnung veraltet oder verbesserungsbedürftig ist, bei ihrer Auslegung nicht berücksichtigt werden, denn allein der Gesetzgeber habe über die Beibehaltung der Norm zu entscheiden. Auch BGHSt 17, 267 (oben Fall 160) weist darauf hin, daß der „Grundsatz der Gewaltenteilung“ der Berücksichtigung tatsächlicher Veränderungen „enge Grenzen“ (welche?) setzt. BGHSt 18, 63 (oben Fall 159) sieht sich nicht berechtigt, die moderne Entwicklung der Nachrichtenmittel zum Anlaß zu nehmen, den presserechtlichen Begriff der „Verbreitung“ von Druckschriften zu erweitern; denn die Entwicklung könne „allenfalls den Gesetzgeber zur Prüfung veranlassen . . .“ (S. 64). BGHSt 27, 52 (oben Fall 43) läßt dahinstehen, ob inzwischen ein Bedürfnis zur Erfassung von Videoverleih-Unternehmen besteht, denn jedenfalls wäre es „Sache des Gesetzgebers, die Strafvorschriften zu ändern“ (S. 56). „Deren jetziger eindeutiger Inhalt verwehrt es den Gerichten, jenen Bereich in die Strafbarkeit einzubeziehen.“85 Ebenfalls unbeantwortet läßt BGHSt 39, 128 (131 f.), ob § 310a StGB (i. d. F. bis 1998) noch als „zeitgemäß“ erachtet werden kann, denn die „Entscheidung über das Fortbestehen eines strafrechtlichen Regelungsbedürfnisses hat jedenfalls nicht der Richter, sondern ausschließlich der Gesetzgeber zu treffen“.86 In einigen der genannten Fälle würde zwar zudem Art. 103 II GG einer veränderten Auslegung entgegenstehen, aber vornehmlich beruft der BGH sich auf die Gesetzesbindung und sieht auch von Anpassungen der Auslegung und Normkorrekturen zugunsten des Täters ab. Daß es in anderen Situationen mit der Zurückhaltung der Rechtsprechung nicht weit her ist, wurde bereits eingehend dargelegt.87 Insbesondere Formulierungen wie in BGHSt 18, 279 (oben Fall 166) führen zu einer erheblichen Relativierung der dargestellten Bekenntnisse: „Für den Rechtsunterworfenen wäre es unverständlich, wenn angesichts dieser . . . unaufhaltsamen Fortentwicklung des Rechts . . . an einer einzelnen überalterten Regelung um ihres äußeren Wortlauts 84 Oft sind die Konstellationen nicht so unproblematisch wie z. B. in BGHSt 28, 327 (oben Fall 344): „Es kann nicht Sache der Gerichte sein, einem eindeutigen Gesetzesbefehl die Gefolgschaft deshalb zu versagen, weil die Exekutive nicht die zu seiner Durchführung erforderlichen Mittel bereithält.“ 85 Siehe außerdem BGHSt 24, 140 (142) zur Fotokopie als Urkunde. 86 Zur Frage der Fortgeltung einer Norm, die keinen Zweck mehr erfüllt („cessanteGrundsatz“), siehe oben IV 5 b am Ende. 87 Oben IV 5 d und insbesondere BGHSt 1, 47 (Fall 163), BGHSt 9, 96 (Fall 165) und BGHSt 18, 279 (Fall 166).

3. Zum Verhältnis von Gesetzgeber und Richter

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willen unbekümmert . . . festgehalten“ und kein Weg zur Anpassung gefunden würde (S. 283). Wenn es sein muß, werden Wege gefunden, die Gesetzesbindung zurückzustellen!

Stellungnahmen zur Gesetzesbindung werden weiter durch Normen provoziert, deren Strafrahmen als unverhältnismäßig hoch oder unflexibel erscheint, oder die an sich verfassungsrechtlich bedenklich sind. Im Rahmen der Verfassungsmäßigkeit binden jedoch auch diese Strafvorschriften: Musterfall hierzu ist § 316a StGB a. F. mit seiner Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe. BGHSt 15, 322 (oben Fall 313) konstatiert, daß dieser Strafrahmen im konkreten Fall „hart erscheint“, doch „steht das Recht der Gnade dem Richter nicht zu“ (S. 325). Ebenfalls auf die Gnadeninstanz verweist BGHSt 24, 173 (oben Fall 313): „Das Gesetz bindet das Gericht an diesen Strafrahmen [des § 316a] als festen Wertmaßstab. Daß ein Gericht sich für einen anderen Wertmaßstab entscheiden würde, wenn es frei wäre, ist an sich nichts Außergewöhnliches. Stimmt das Strafgesetz mit der Verfassung und anderen übergeordneten Normen überein, so muß der Richter seine eigene Wertauffassung der Wertbestimmung des Gesetzgebers unterordnen.“ Nicht durchgehalten hat diese Grundsätze freilich BGHSt GS 30, 105 mit der Entwicklung der „Rechtsfolgenlösung“ zu § 211 StGB (eingehend oben Fall 255). BGH NJW 1978, 1336 (1337) hatte dagegen noch festgestellt, daß lediglich der Gesetzgeber einen „derart schwerwiegenden Eingriff in das Gefüge unseres Strafrechts“ vornehmen dürfe. BGHSt 21, 139 (oben vor Fall 36) anerkennt die Probleme des Tatrichters, der konkret nur zwischen Straffreiheit und einer erhöhten Mindeststrafe wählen konnte (S. 141). „Das hat aber das Gesetz in Kauf genommen.“ Es stehe dem Richter nicht zu, „die klare gesetzliche Regelung zu umgehen“. Ein umgekehrtes Bedürfnis weist BGHSt 3, 259 (oben Fall 212) zurück. Der Senat mußte sich mit einer Geldstrafenregelung beschäftigen, deren Höchstgrenze den Bedürfnissen einer gerechten Strafzumessung offensichtlich nicht mehr genügte. Der Lösung des RG, das sich ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers zur Korrektur der Regelung zunutze gemacht hatte, schließt der Senat sich nicht an. Zugleich ermahnt er den Tatrichter, sich der gesetzlichen Begrenzung seines Strafbannes unterzuordnen und nicht auf die Freiheitsstrafe ausweichen (S. 263).

Auch unbillige Härten rechtfertigen keine Abweichung von einer eindeutigen Norm, wenn die Unbilligkeit nicht zugleich zur Verfassungswidrigkeit der Norm führt: BGHSt 16, 115 (oben Fall 292) weist „Billigkeitserwägungen“ (S. 116) zurück, mit denen BGHSt 15, 203 die Berücksichtigung von Verfahrenshindernissen trotz der Unzulässigkeit des Rechtsmittels zuließ. „Die ausdrückliche Entscheidung des Gesetzgebers“ könne nicht in diesem Sinn „umgedeutet werden“ (S. 119). „Darin läge . . . eine dem Richter verwehrte Korrektur des Gesetzes.“ Nach BGHSt 7, 240 (243) widerspricht die Ansicht des OLG dem „klaren Inhalt“ des Straffreiheitsgesetzes; unbillige Ergebnisse im Einzelfall seien notwendige Folge jeder Grenzziehung (S. 244). Davon, daß der Gesetzgeber das Ergebnis nicht gewollt haben könnte, kann der Senat sich nicht überzeugen (S. 245). „An Stelle der Gesetz gewordenen Regelung aber eine andere zu treffen, von der keineswegs feststeht, daß der Gesetzgeber sie gewollt hat oder gewollt hätte, ist der gemäß Art. 97 GrundG, § 1 GVG

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VII. Übergreifende Gesichtspunkte

dem Gesetz unterworfene Richter nicht befugt.“ BGHSt GS 42, 113 (122 f.) sieht keine „unbillige Härte“ darin, auch nach der Wiedervereinigung noch ehemals unerlaubte Ausfuhren in die DDR zu bestrafen; die gesetzgeberische könne „nicht durch eine autark judikative Lösung ersetzt werden“ (S. 122 f.).88

Ferner verweist der BGH nicht selten auf die Gesetzesbindung, wenn die gesetzgeberische Konzeption zwar durchführbar ist, die Problematik aber sinnvoller hätte geregelt werden können. Der Gesetzgeber ist in seiner Entscheidung frei, und die Rechtsprechung darf nicht einen Weg beschreiten, der ihr folgerichtiger erscheint.89 Schließlich bleibt der große Bereich der Rechtsfortbildung, der mit der Gesetzesbindung des Richters naturgemäß eng verknüpft ist. Ist eine legislative Entscheidung der Problematik vorhanden und sind die Voraussetzungen der Rechtsfortbildung (Gesetzeslücke etc.) demnach nicht gegeben, erfordern Art. 20 III, 97 I GG zwangsläufig richterliche „Askese“. Die Berufung auf die Gesetzesunterworfenheit überzeugt je nach dem, wie ernsthaft eine Rechtsergänzung in Betracht kommt. Müssen ihre Voraussetzungen ausgiebig diskutiert werden, ist die abschließende Berufung der Gerichte auf die Bindung an die gesetzgeberische Entscheidung nichts weiter als das Ergebnis dieser Erwägungen90 oder eine rhetorische Beteuerung. Das antagonistische Verhältnis zwischen Gesetzesbindung und Rechtsfortbildung bedarf der inhaltlichen Klärung. BGHSt 36, 27 (29) erkennt eine eindeutige Rechtslage im Kostenrecht des Jugendstrafrechts, das keine Regelung enthalte, wonach dem verurteilten Jugendlichen seine notwendigen Auslagen erstattet werden könnten. In der Gegenansicht sieht der Senat eine Überschreitung zulässiger Gesetzesauslegung. Der dem „Jugendstrafrecht innewohnende Erziehungszweck“ könne an der Gesetzeslage nichts ändern. „Wenn der Gesetzgeber eine solche Entscheidungsbefugnis für notwendig halten sollte, müßte er eine gesetzliche Regelung hierfür schaffen. Ob dies empfehlenswert wäre, erscheint jedoch fraglich; denn ein . . .“. – Der Senat hätte sich knapp fassen können: Die Gesetzeslage ist eindeutig, und der Erziehungsgedanke ist zu „schwach“, um eine Rechtsfortbildung zu begründen. Auch die rechtspolitischen Erwägungen waren überflüssig. Daß es ganz auf die Frage ankommt, welchen Anforderungen eine Rechtsergänzung genügen muß, zeigt z. B. BGHSt 23, 176 (179): „Nun ist allerdings eine Rechtsfortbildung auch entgegen dem klaren Sinn und Zweck einer gesetzlichen Vorschrift nicht unter allen Umständen ausgeschlossen.91 Ihr sind jedoch schon im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG enge Grenzen gezogen. Hier vermag der Senat keine durch88

Vollständiges Zitat oben bei Fall 334. BGHSt 22, 260 (264); 3, 277 (279): Ob die gesetzliche Regelung „zweckmäßig“ ist, hat allein der Gesetzgeber zu entscheiden; 43, 237 (238): Auf die Auffassung des Senats zur Zweckmäßigkeit der Norm kommt es nicht an. 90 Siehe z. B. BGHSt 9, 310 (318 f.) = oben Fall 176; BGHSt 20, 77 (80 f.) und BGHSt 19, 196 (200 f.): Die Regelung der Problematik „steht bei der gesetzgebenden Gewalt“; die Rechtsprechung könne ihr nicht vorgreifen, da es verschiedene Lösungswege gebe und ein zuverlässiger Maßstab zur Lückenfüllung fehle. 91 Ob diese Ansicht inhaltlich überzeugt, bedürfte nähere Prüfung. 89

3. Zum Verhältnis von Gesetzgeber und Richter

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greifenden Gründe dafür zu erkennen, daß die Rechtsentwicklung eine erweiternde Auslegung des § 338 Nr. 6 StPO entgegen den mit dessen Einführung verfolgten Absichten des Gesetzgebers erfordert. . . . Der Gesetzgeber ist offenbar von einer anderen Rangfolge dieser Werte ausgegangen, wenn er . . .“.

Nimmt man zum Ausgangspunkt, daß die Gesetzesbindung ein Abweichen von einer klar erkennbaren Wertentscheidung des Gesetzgebers verbietet, müssen vor allem Konstellationen betrachtet werden, in denen die Rechtsprechung sich gleichwohl zu einer anderen Vorgehensweise berechtigt sieht (z. B. Wandel der Verhältnisse). Das verdeutlicht zugleich, als wie wertlos sich die zahlreichen Bekenntnisse der Gerichte zur Gesetzesbindung erweisen können, wenn einzelne Entscheidungen (vgl. oben BGHSt 18, 279 und BGHSt GS 30, 105) – mögen sie auch Ausnahmesituationen betreffen – sich darüber hinwegsetzen. Bereits wenige Ausreißer lassen an der Ernsthaftigkeit behaupteter Wertmaßstäbe zweifeln. Wie bei Art. 103 II GG (vgl. oben III 7 g cc) besteht bei der Berufung auf die Gesetzesbindung im übrigen die Gefahr des Totschlagsarguments, mit dem eine womöglich doch nicht zweifelsfreie Interpretation den Schein der Unangreifbarkeit erhält. b) Rechtsprechung als Reparaturbetrieb der Gesetzgebung?/Gesetzeskritik Das Verhältnis von Legislative und Judikative wird weiterhin durch die Frage beleuchtet, ob die Gerichte in übertriebener Weise zur Gesetzeskorrektur neigen. Zuweilen wird vermutet, daß die Ausmerzung von gesetzgeberischen Fehlern durch die Gerichte letztlich zu einer qualitativen Verschlechterung der Gesetze und zur Lethargie des Gesetzgebers führt, der im Vertrauen auf das Entgegenkommen der Praxis auf die Pflege der Kodifikationen verzichtet.92 Aber ist es wirklich falsche Rücksicht der Rechtsprechung, die das „Elend läßt zu hohen Jahren kommen“? Sicher ist zunächst, daß die Rechtsprechung zur Rechtsfortbildung berechtigt ist, wenn eine Regelung fehlt oder unvollständig ist, aber ebenso klar ist, daß unter bestimmten Voraussetzungen zur Verwirklichung des nur fehlerhaft zum Ausdruck gebrachten gesetzgeberischen Willens Gesetzesberichtigungen zulässig sind (siehe oben IV 8). In beiden – ohnehin kaum scharf abgrenzbaren – Fällen „repariert“ der Rechtsanwender das Rechtssystem, und es kommt zu einer Entfernung zwischen geschriebenem und tatsächlich praktiziertem Recht, ohne daß eine Pflicht des Gesetzgebers entstünde, diese Entwicklung 92 Paeffgen, in: FS für Grünwald, S. 468: „Man sollte sich im Umgang mit problematischen Gesetzen von der Attitüde der Reparatur-Beflissenheit lösen. . . . Bildlich gesprochen sorgen die Ärzte hier für eine Verlängerung der Leiden.“ Puppe, in: NKStGB, § 146, Stand: 1/1997, Rn. 35: „Wäre die Rechtsprechung in ihrem nacheilendem Gehorsam, dem Willen des Gesetzgebers . . . gegen den Wortlaut des Gesetzes Geltung zu verschaffen, nicht so eifrig, so hätten wir bessere Gesetze.“ Siehe außerdem Tröndle, GA 1966, 1 (2 f.).

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VII. Übergreifende Gesichtspunkte

auch nachzuzeichnen. Kritisiert werden kann daran jedoch lediglich, daß es im jeweiligen Einzelfall an einer ausreichenden Legitimation zur Gesetzeskorrektur mangelt oder daß die abstrakten Maßstäbe jeder Gesetzesberichtigung nicht genügend erarbeitet sind. Deshalb sollte ein genauerer Blick auf die Konstellationen geworfen werden, in denen die Gesetzeskorrekturen als problematisch erscheinen. Ganz im Vordergrund steht insoweit die Situation, in der die Grenze des möglichen Wortsinns die nach den übrigen Kriterien zutreffende Lösung hindert. Daß solche Korrekturen aus Gründen der Rechtssicherheit scheitern müssen, in der Praxis aber dennoch eine Tendenz besteht, die Grenze über Gebühr zu dehnen, bedarf keiner näheren Darlegung. Die in dieser Hinsicht fragwürdigen Fälle wurden hier eingehend betrachtet.93 Eine weitere zentrale Konstellation, in der die Neigung zur Gesetzeskorrektur besteht, ist der Wandel der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse. Daraus resultiert die Frage, ob der Richter an eine eindeutige, aber veraltete Wertentscheidung des Gesetzgebers gebunden ist.94 Je nach dem, welcher Standpunkt hierzu bevorzugt wird, ist die Anpassung der Rechtslage als unzulässige Gesetzeskorrektur oder eben als die geforderte gegenwartsbezogene Auslegung zu charakterisieren. Und auch sonst stellt sich häufig die Frage, ob die Rechtsprechung die Voraussetzungen der Gesetzeskorrektur nicht zu schnell bejaht und dem Gesetzgeber womöglich zu leichtfertig einen Fehler unterstellt, um die „objektiv“ sachgemäße und vernünftige Lösung durchzusetzen.95 Neben der gesetzgeberischen schwebt dem Rechtsanwender stets die „richtige“ Lösung des Problems vor, der er sich nur schwer wird entziehen können.96 Die Antwort auf diese materiellen Fragen sollte jedoch nicht von dem pädagogischen Motiv beeinflußt sein, daß dem Gesetzgeber ein Anstoß zur Eigeninitiative nicht schaden könnte.97 Aus dem Bereich der Rechtsfortbildungen kann auf BGHSt GS 30, 105 (oben Fall 255) hingewiesen werden. Der Große Senat dürfte mit Einführung der „Rechtsfolgenlösung“ seine Kompetenzen überschritten haben,98 und „nur“ das sollte ihm auch zum Vorwurf gemacht werden. Daß er daneben den Gesetzgeber von einer unangenehmen Aufgabe entbunden und dessen Bequemlichkeit gefördert hat,99 trifft 93 Siehe nur BGHSt 26, 95 = Fall 87 („auf frischer Tat betroffen“), BGHSt 27, 45 = Fall 54 („Absetzen“), BGHSt 29, 311 = Fall 67 („Geldfälschung“). 94 Vgl. dazu oben IV 5 und insbesondere BGHSt 1, 47 = Fall 163 und BGHSt 18, 279 = Fall 166. 95 Siehe z. B. BGHSt 4, 300 (Fall 222), wo der Senat dem Gesetzgeber zutraut, den gleichen „Fehler“ noch einmal begangen zu haben. Damit wird die stimmigere, systemgerechte Lösung erschlichen. 96 Siehe allgemein zum Umgang mit schwierigen Gesetzen Leisner, Krise des Gesetzes, S. 164: „Der Geist sucht die ,richtige‘ . . . Lösung.“ 97 Den Zeigefinger erhebt das Sondervotum in BVerfGE 33, 52 (90): Der Gesetzgeber sei nach der Mehrheitsansicht zwar „noch einmal davongekommen“, wäre aber gut beraten, das Gesetz zu ändern! 98 Ob die Vorgehensweise des Großen Senats als Rechtsergänzung oder Gesetzeskorrektur bezeichnet wird, ist zweitrangig.

3. Zum Verhältnis von Gesetzgeber und Richter

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zu, ist aber nicht der entscheidende Aspekt. Schwer begreiflich ist allerdings, daß der Gesetzgeber sich bis heute nicht durch eine nachträgliche Legitimation „erkenntlich gezeigt“ hat.

Problematischer als die Möglichkeit der (zulässigen) Gesetzeskorrektur an sich erscheint eher die Unklarheit darüber, wann die Rechtsprechung den gesetzgeberischen Vorstellungen zum Durchbruch verhilft. Der Gesetzgeber muß sich hier auf Überraschungen einstellen. Wie mehrfach dargelegt, besitzt die Rechtsprechung jedenfalls hinreichend Instrumente, um den subjektiv-historischen Vorstellungen die Gefolgschaft zu versagen. Aber all das sind Gesichtspunkte, die auf bereits erörterte Fragestellungen des Auslegungskanons zurückführen. In den Entscheidungen zum „Absetzen“ (BGHSt 27, 45) und zur „Geldfälschung“ (BGHSt 29, 311) hätten die Senate die historischen Vorstellungen ohne weiteres mit der Andeutungstheorie zurückweisen können. Erstaunlich ist zuweilen das Vertrauen, das der Gesetzgeber der Rechtsprechung entgegenbringt, wie etwa BGHSt 30, 328 (Fall 203) zeigt: Statt bei Einführung des Gesetzes eine bekannte Problematik klarzustellen, setzt der Gesetzgeber auch die neue (zusätzliche) Norm mit dem gleichen Makel in Kraft und vertraut darauf, daß die Rechtsprechung ihre einschränkende Auslegung dort fortsetzt.100 Zur Warnung dienen lassen sollte der Gesetzgeber sich jedoch die Problematik um die Vernehmung der „Verhörsperson“ bei § 252 StPO (siehe Fall 348). Die Gesetzesverfasser haben die Norm – über ihren Wortlaut hinaus – nicht nur im Sinn eines Verlesungsverbots, sondern zudem als umfassendes Verwertungsverbot verstanden. Der Berichterstatter hielt ein anderes Verständnis der Norm nicht für möglich, andernfalls „höre jede Gesetzgebung auf“. Gleichwohl ist die Rechtsprechung des RG gegenteilig verfahren. Ein positives Gegenbeispiel, bei dem der Gesetzgeber die unerwünschten, aber denkbaren Interpretationen (Umkehrschluß) in seine Erwägungen mit einbezieht, schildert BGHSt 12, 42.101 Eine solchermaßen vorausschauende Gesetzgebung, die „objektive“ Lesarten und denkbare Folgen für verwandte Rechtsgebiete antizipiert, wird man freilich nicht als Normalfall unterstellen können.

Für die pädagogische Motivation, das mangelhafte Werk an seinen Konstrukteur zurückzureichen, kann man angesichts der zahlreichen gesetzgeberischen Fehlleistungen Verständnis haben. In vielen Fällen mühen die Senate sich ab, einem verunglückten Gesetz noch irgendeinen Sinn abzugewinnen.102 Symptomatisch hierfür ist der durch das 6. StrRG modifizierte § 250 StGB, dessen offensichtliche Fehlkonstruktion die Rechtsprechung vor fast unlösbare Aufgaben gestellt und zahllose Entscheidungen provoziert hat.103 Unzweifelhaft hätte der Gesetzgeber hierfür „Strafe“ verdient, indem die unausgegorene Norm gänz99

Siehe P.-A. Albrecht, JZ 1982, 697 (Fn. 4). Sie hat es getan, aber literarische Stellungnahmen zeigen, daß der gegenteilige Standpunkt gleichfalls vertretbar war; siehe Fall 203 am Ende. 101 Siehe Fall 143 und IV 7 h. 102 Siehe z. B. BGHSt 42, 200 (S. 535); 9, 310 = Fall 176. 103 Meyer-Goßner (ZRP 2000, 345) zählt zwei Jahre nach Erlaß der Norm bereits weit über 100 mit Gründen versehene BGH-Entscheidungen zu § 250 StGB n. F. 100

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VII. Übergreifende Gesichtspunkte

lich außer Betracht bliebe oder nur in ihrem eindeutigen Gehalt angewandt würde; Gesetzesbindung kann ohnehin nur eine erkennbare Wertentscheidung des Gesetzgebers erzeugen. Aber wohin sollte es führen, wenn die Rechtsprechung die ihres Erachtens widersprüchlichen oder unsinnigen Normen unangewendet ließe, und welcher Maßstab sollte dabei gelten?104 Unter Umständen bliebe ein Torso zurück. Offensichtlich betrachten es Juristen – gleich ob aus Wissenschaft oder Praxis – auch nicht als unwürdige Aufgabe, Unstimmiges in ein System zu bringen. Das harte Urteil von Kirchmanns über den Wert der Jurisprudenz, die ihre Rolle allein aus der Unzulänglichkeit der Gesetzgebung gewinne, ist allein aus der Geringschätzung des positiven Rechts an sich und damit historisch erklärbar; falsch beschrieben ist die Tätigkeit der Juristen damit freilich nicht: „Selbst das Genie weigert sich nicht, dem Unverstand zu dienen; zu dessen Rechtfertigung all seinen Witz, all seine Gelehrsamkeit aufzubieten. Die Juristen sind durch das positive Gesetz zu Würmern geworden, die nur von dem faulen Holz leben; von dem gesunden sich abwendend, ist es nur das kranke, in dem sie nisten und weben. Indem die Wissenschaft das Zufällige zu ihrem Gegenstand macht, wird sie selbst zur Zufälligkeit; drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden Makulatur.“105

Ein noch schwächeres Instrument als der Verzicht auf Gesetzeskorrekturen, um den Gesetzgeber zur Kodifikationspflege zu gewinnen, ist zweifellos die Kritik am Gesetz und an dessen Verfassern. Hier darf man sich keinen Illusionen hingeben und keine naiven Erwartungen hegen. Ein Appell wird in der Regel ungehört verhallen, denn der „Gesetzgeber“ ist ein zu anonymer Adressat, als daß die Kritik Wirkung erzielen könnte.106 Ein „Kodifikationsdenken“, das die Widerspruchsfreiheit und Aktualität der Gesetze als Wert an sich betrachtet, ist längst verabschiedet.107 Die Legislative wird in der Regel nur dann tätig, wenn sie politischen Handlungsbedarf zur Korrektur erkennt.108 Am mißlungenen 6. StrRG wurde vielfach und scharfe Kritik geübt,109 und manches wäre Siehe auch die ausgiebigen Sinngebungsversuche von Küper, in: FS für Hanack, S. 569 ff. und in: FS für Schlüchter, S. 331 ff. 104 Inwieweit und ab welchem Grad eine in sich widersprüchliche Norm verfassungswidrig sein kann, bedürfte näherer Untersuchung. 105 Von Kirchmann, Wertlosigkeit der Jurisprudenz, S. 28 f. Verfasser bringt anschließend Beispiele, in denen „Scharfsinn und Gelehrsamkeit sich vergeblich abmühen“, Gesetzesfehler gutzumachen (S. 36). 106 Kübler, JZ 1969, 645 (651). Persönliche Stellungnahmen aus der (zuvor kritisierten) Ministerialbürokratie sind freilich nicht ausgeschlossen, vgl. oben BGHSt 7, 165 (Fall 213, Fn. 459). 107 Eingehend dazu und zur weitgehend nutzlosen Kritik am Gesetzgeber Kübler, JZ 1969, 645 (649 ff.). 108 Lehrreich in dieser Hinsicht ist die Entscheidung BGHSt 22, 375 (Fall 224), die zwar großen politischen Handlungsdruck erzeugte, aber nicht zu korrigieren war. Versuche der Einflußnahme ließ der BGH zu Recht abprallen.

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hier nachzubessern, aber ein „Korrekturgesetz“ steht nach wie vor aus. Bis es dazu kommt, werden Rechtsprechung und Lehre ohnedies das Schlimmste ausgemerzt haben. Ohne die Vorarbeit der Praxis steht zudem zu befürchten, daß die geforderte Novelle zu einer weiteren Verschlechterung des Zustandes führt.110 Wie lange der Gesetzgeber trotz aller Kritik mit der Modernisierung der Kodifikationen zögert, ist hinlänglich belegt. Wie lange galten weite Teile des StGB als überholt, bis die große Strafrechtsreform in Kraft trat? Wieviel Kritik wurde beispielsweise an der unbefriedigenden Regelung des § 243 StGB (a. F.) geübt, bis eine Änderung erfolgte? Unerträgliche Untätigkeit des Gesetzgebers herrscht etwa im Bereich des strafprozessualen Ermittlungsverfahrens oder in der Frage des Rechtsschutzes gegen erledigte Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden. Dem Jugendstrafvollzug und der Ausgestaltung der Untersuchungshaft fehlt bis heute weithin die gesetzliche Grundlage. Der Gesetzgeber sah offenbar auch kein Problem darin, eine selbst gesetzte Frist für weiteres Handeln um 20 Jahre zu überschreiten (§ 200 II StVollzG a. F. – „Gefangenenentlohnung“).111 Ohne Anstöße seitens des BVerfG112 ist in vielen Fragen nichts mehr zu erwarten. Um das Kodifikationsdenken in begrenztem Umfang wiederzubeleben, sollte erwogen werden, eine Institution dauerhaft mit der Aufgabe zu befassen, „Mustergesetzbücher“ zu führen, die den möglichen technischen wie inhaltlichen Stand aufzeigen. Daß durch die Möglichkeit, auf eine Referenz zu verweisen, eher Reformdruck entsteht als durch Gesetzeskritik und durch den Verzicht auf Gesetzeskorrekturen, zeigt die Idee der Alternativentwürfe, die auf eine neue Grundlage gestellt werden sollte.

Die Rechtsprechung bezieht in Sachen Gesetzeskritik einen realistischen Standpunkt. Auch bei groben Versehen des Gesetzgebers übt sie nur selten Kritik und wenn, dann in zurückhaltender Form. Zwar werden Regelungen als „auffällig und wenig zweckmäßig“, „außergewöhnlich“, „ungereimt“, „nicht sinnvoll“, „gesetzestechnisch unvollkommen“, „sachlich bedenklich“ bezeichnet113 und auf „Unbilligkeiten“ und „wenig wünschenswerte Ergebnisse“ einer 109

Vgl. oben Kap. IV, Fn. 6. Heck, Gesetzesauslegung, S. 115: „Das Gesetz wird meistens um so schlechter, je mehr nachträgliche Änderungen vorgenommen werden.“ 111 Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, § 200, Rn. 1: „Auf die Dauer muß eine Gesetzgebungspraxis, die sich immer wieder über selbstgesetzte Fristen hinwegsetzt . . ., das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit staatlicher Selbstbindung erschüttern“. Beendet wurde der Zustand durch BVerfGE 98, 169. 112 Auch der Auftrag an die Fachgerichte, im Bereich des Rechtsschutzes gegen erledigte Strafverfolgungsmaßnahmen Remedur zu schaffen, erging vom BVerfG, vgl. BGHSt 41, 171 (175): „Eine derartige unübersichtliche Rechtslage zu klären, ist den Fachgerichten durch das Bundesverfassungsgericht im Interesse einer möglichst wirksamen gerichtlichen Kontrolle nunmehr auf der Grundlage der neuen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen aufgegeben.“ – Auch das wäre zweifellos eine Aufgabe des Gesetzgebers. 113 In obiger Reihenfolge: BGHSt 4, 158 (159); 33, 383 (385); GS 14, 38 (47); 24, 72 (81); 26, 291 (292); BGH NJW 2002, 3559. 110

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Vorschrift114 hingewiesen. Auch leichte Vorwürfe werden erhoben, wenn es heißt, daß die Schwierigkeiten hätten erörtert werden sollen oder der Gesetzgeber es an einer Verdeutlichung hat fehlen lassen, die ohne weiteres möglich gewesen wäre.115 Aber selten mündet die Kritik in scharfen Angriffen. Statt dessen findet die Rechtsprechung sich mit der Situation ab und korrigiert die Ungereimtheiten, soweit ihr das möglich und nötig erscheint. Zurückhaltender Rhetorik bedient sich etwa BGHSt 29, 311 (314), indem die Fehlkonstruktion der Geldfälschungsdelikte als bloßes Versäumnis charakterisiert wird (siehe Fall 34); BGHSt 35, 21 (24) sieht darin gar nur ein „Scheinproblem“ (siehe IV 7 h am Ende). Angesichts dessen, daß eine ähnliche Problematik bereits zur Vorläufernorm bestand (siehe Fall 214), ist die schärfere Tonart des Schrifttums verständlich: Es liege ein „unbegreiflicher Fehler des Gesetzgebers“ vor.116 Auch bei den Mängeln des § 250 StGB zeigt der BGH sich nachsichtig:117 „. . . mag mit Blick auf die von der Vorschrift angedrohte Strafe . . ., die der für einen vollendeten Totschlag entspricht, Anlaß zu Zweifeln geben, ob dem 6. Strafrechtsreformgesetz die angestrebte Harmonisierung der Strafrahmen in diesem Bereich gelungen ist“, BGHSt 45, 92 (96). Der Tatrichter wird pragmatisch auf den Ausweg des minder schweren Falls verwiesen (S. 97). Die Weite der Strafrahmen des StGB und das dichte Netz der Normen mögen generell ein Grund dafür sein, weshalb die Rechtsprechung sich regelmäßig milde gegenüber gesetzgeberischen Versehen zeigen kann.

c) Unendliche Geschichten Kurze Erwähnung verdient, welche Themen oder Normen die Rechtsprechung der Nachkriegszeit immer wieder dazu veranlaßt oder genötigt haben, das methodologische Instrumentarium an seine Grenzen zu führen. Als Normen können beispielhaft die früheren Regelungen zur Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 42m StGB a. F.), zur Einziehung (§ 40 StGB a. F. u. a.) und die Unfallflucht (§ 142 StGB a. F.) genannt werden. Fragwürdige Entscheidungen zu diesen Fragenkreisen mußten hier eingehend und häufig behandelt werden.118 BGHSt 7, 165 114 So BGHSt GS 1, 158 (167) und BGHSt 3, 314 (316) zur „veralteten“ Fassung des § 243 StGB a. F. 115 BGHSt 29, 370 (378); 25, 97 (98). Siehe zur (teilweise problematischen) Erwartungshaltung, die gegenüber dem Gesetzgeber erhoben wird, oben IV 7 g (nach Fall 206). 116 Puppe, in: NK-StGB, § 146, Stand: 1/1997, Rn. 35. Ähnlich Herdegen, in: LKStGB10, § 146, Rn. 23: „Damit wird unverständlicherweise eine sehr umstrittene Zweifelsfrage des früheren Rechts fortgeschleppt“. 117 Von „milder Ironie“ des BGH spricht Roxin, in: Die Deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, S. 386. 118 Zu § 42m StGB a. F. siehe BGHSt 5, 179 = Fall 118; 6, 394 = Fall 55; 6, 398 = Fall 83; 7, 165 = Fall 213; GS 10, 94 = Fall 83; 10, 333 = Fall 77; 13, 91 = Fall 226; 14, 68 = Fall 173; siehe auch den ungewöhnlich ausführlichen Aufsatz von Bruns, GA 1954, 161–192. Zur Einziehung siehe insbesondere BGHSt 1, 351 = Fall 164; 2, 29 = Fall 75 und Fall 187; 9, 96 = Fall 165; 16, 282 = Fall 97 und Fall 250; 18, 279 = Fall

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(169) ließ sich durch die zahlreichen Probleme des § 42m StGB a. F. sogar zur Abqualifizierung der Methodik im allgemeinen hinreißen: Die Auslegungszweifel zu § 42m würden überschätzt und beträfen „im Grunde rechtstheoretische Überlegungen“.119 Zu den ewigen Themen, die Schwierigkeiten bereiteten und auch vorliegende Arbeit zum Teil durchziehen, gehören u. a. folgende Fragen: Müssen qualifizierende Umstände „eigenhändig“ verwirklicht werden oder ist eine Zurechnung möglich?120 Setzen Tathandlungen wie das „Absetzen“, „Vereiteln“ und „Herstellen“ einen Erfolg voraus?121 Ist der Zeitpunkt der Verurteilung oder der Rechtskraft maßgeblich?122 Darf auf die einzelne Tat abgestellt werden oder kommt es auf die zusammengefaßte Tat (Gesamtstrafe o. ä.) an?123 Gehört die Verkündung eines Urteils noch zur Hauptverhandlung?124 Wie können terminologische Inkompatibilitäten innerhalb eines Gesetzes oder zwischen verschiedenen Gesetzen ausgeglichen werden?125

Viele der vernünftigen, aber mit dem Gesetz nicht immer zu vereinbarenden Lösungen, zu denen die Rechtsprechung sich in diesen Fragen durchgerungen hat, hat der Gesetzgeber nachträglich kodifiziert.126 Durch die Reformgesetzgebung der 1960er und 70er Jahre wurde einiges verbessert. Andererseits bestehen viele der Probleme nach wie vor. Einige davon werden sich angesichts der praktischen Schwierigkeiten jeder Gesetzgebung nie vermeiden lassen, in anderen Fällen ist der Gesetzgeber immerhin um Lösungen bemüht127, aber nicht selten verdienen die Gesetzesverfasser angesichts der auf der Hand liegenden und bekannten Probleme Kritik.128 166 und Fall 250; GS 19, 7 = Fall 167; 19, 158 = Fall 33; 24, 222 = Fall 208; 25, 10 = Fall 86. Zu § 142 StGB a. F.: BGHSt 5, 124 = Fall 89; 14, 89 = Fall 89; 14, 116 = Fall 134 und Fall 301; 18, 114 = Fall 89, Fall 283 und Fall 298; zu § 142 StGB n. F.: BGHSt 28, 129 = Fall 24, Fall 61 und Fall 284. 119 Vgl. Fall 83 am Ende. 120 BGHSt 5, 344; 8, 294; 12, 129; 27, 56; 27, 205; 42, 368; GS 48, 189; Fall 36 und Fall 125. 121 BGHSt 23, 36; 27, 45 = Fall 55 („Absetzen“); 43, 336 („Herstellen“); 45, 97 = Fall 94 („Vereiteln“). 122 BGHSt 7, 178; 8, 66 = Fall 56; 26, 387 = Fall 191; 35, 6 = Fall 191; 46, 88. 123 BGHSt 1, 313 = Fall 114; 22, 260; 29, 370 = Fall 296. Mit Aufgabe der „fortgesetzten Handlung“ und der Aufhebung der Rückfallvorschriften (§§ 244, 245 StGB a. F.) hat die Thematik an Relevanz verloren. 124 BGHSt 4, 279 = Fall 232; 42, 294 (Kap. III, Fn. 130). 125 BGHSt 6, 394 = Fall 55; 12, 129 (Kap. III, bei Fn. 378); 26, 152 (Kap. III, Fn. 379), jeweils zum Verhältnis von StGB/JGG. Innerhalb des StGB: BGHSt 33, 370 = Fall 68. 126 Erwähnt werden kann hier das unvollständige Kostenrecht der StPO, das viele Rechtsfortbildungen notwendig machte; siehe z. B. BGHSt 11, 189; 11, 195; 13, 75; 14, 391; 16, 168; 25, 109. Siehe außerdem bei den Fällen zu § 42m StGB. 127 Gescheitert ist er z. B. beim Begriff der „Gemeingefahr“; vgl. Fall 53. 128 Vgl. nochmals Fn. 116. Interessant ist auch, daß der Gesetzgeber des ZPO-Reformgesetzes von 2001 wieder einmal die Frage nach dem Begriff der „Verkündung“ aufwirft; vgl. Hartmann, NJW 2001, 2577 (2598).

Literaturverzeichnis Hinweis: Ergänzungen in Klammern geben entweder die Fundstelle aus der amtlichen Sammlung „BGHSt“ an (siehe z. B. bei Altenhain) oder nennen die Entscheidung, mit deren Thematik sich ein Aufsatz hauptsächlich beschäftigt (siehe z. B. bei Achenbach und Anders), ohne „Anmerkung“ im eigentlichen Sinn zu sein. Auch bei Besprechungen, die Urteile von Vorinstanzen o. ä. behandeln, wird auf die später ergangene BGH-Entscheidung hingewiesen (siehe z. B. bei Kleinknecht). Achenbach, Hans: Der BGH zur Rechtskraft des Strafbefehls – causa finita?, NJW 1979, 2021–2023 (betrifft BGHSt 28, 69) Adomeit, Klaus: Juristische Methode und Sicherheit des Ergebnisses, JZ 1980, 343–347 AK-StGB: Kommentar zum Strafgesetzbuch (Reihe „Alternativkommentare“), Band 1, §§ 1–21 StGB, Neuwied 1990 AK-StPO: Kommentar zur Strafprozeßordnung (Reihe „Alternativkommentare“), Band 1, §§ 1–93 StPO, Neuwied 1988 Albrecht, Peter: Das Geheimnis der ,ratio legis‘ aus der Sicht eines erstinstanzlichen Strafrichters, in: Die Bedeutung der ,ratio legis‘, Basel u. a. 2001, S. 69–77 (zitiert: ratio legis) Albrecht, Peter-Alexis: Das Dilemma der Leitprinzipien auf der Tatbestandsseite des Mordparagraphen, JZ 1982, 697–705 (betrifft BGHSt GS 30, 105) Alexy, Robert: Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1995 Altenhain, Karsten: Anmerkung zu BGH NStZ 2003, 435 (= BGHSt GS 48, 189), NStZ 2003, 437–439 Amelung, Knut: Anmerkung zu BGH NStZ 1992, 394 (= BGHSt 38, 237), NStZ 1993, 48–50 – Sitzblockade, Gewalt und Kraftentfaltung. Zur dritten Sitzblockaden-Entscheidung des BVerfG (= NJW 1995, 1141 = BVerfGE 92, 1), NJW 1995, 2584–2591 – Anmerkung zu BGH NStZ 1994, 533 (BGHSt 40, 241), NStZ 1995, 29–30 Anders, Ralf Peter: Zur Möglichkeit des Rücktritts vom erfolgsqualifizierten Versuch, GA 2000, 64–76 (betrifft BGHSt 42, 158) Armbruster, o.V.: Anmerkung zu BGH NJW 1959, 1185 (= BGHSt 13, 91), NJW 1959, 1644 v. Arnauld, Andreas: Möglichkeiten und Grenzen dynamischer Interpretation von Rechtsnormen. Ein Beitrag zur Rekonstruktion autor-subjektiver Normauslegung, Rechtstheorie 2001, 465–495

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