Die Beschränkung der Meinungsfreiheit der Angestellten im öffentlichen Dienst: Eine Analyse der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu § 8 Abs. 1 BAT [1 ed.] 9783428496068, 9783428096060

Mit dieser Arbeit will die Verfasserin zur Aufarbeitung eines Themas beitragen, das ungeachtet der großen Zahl der Anges

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Die Beschränkung der Meinungsfreiheit der Angestellten im öffentlichen Dienst: Eine Analyse der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu § 8 Abs. 1 BAT [1 ed.]
 9783428496068, 9783428096060

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BIRTE WULLKOPF

Die Beschränkung der Meinungsfreiheit der Angestellten im öffentlichen Dienst

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 786

Die Beschränkung der Meinungsfreiheit der Angestellten im öffentlichen Dienst Eine Analyse der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu § 8 Abs. 1 BAT

Von Birte Wullkopf

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wullkopf, Birte: Die Beschränkung der Meinungsfreiheit der Angestellten im öffentlichen Dienst : eine Analyse der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu § 8 Abs. 1 BAT / von Birte Wullkopf. Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 786) Zugl.: Jena, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09606-1

Alle Rechte vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09606-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Diese Arbeit habe ich der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der FriedrichSchiller-Universität Jena im Herbst 1997 als Dissertation vorgelegt. Für interessierte Begleitung bei der Entstehung des Werkes und für wertvolle Ratschläge danke ich vor allem Frau Prof. Dr. Monika Schlachter. Auch während meiner Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an ihrem Lehrstuhl hatte ich Freiräume für die Arbeit an der vorliegenden Untersuchung. Herrn Prof. Dr. Martin Morlok, Hagen, danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Besonderen Dank schulde ich meinem Mann, Achim Wullkopf, der mit Bereitschaft zur fachlichen Diskussion, mit wichtigen Anregungen und gelegentlicher Aufmunterung wesentlich zum Abschluß und zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen hat. Meinen Eltern danke ich für ihre vielfältige, nicht nur finanzielle, Unterstützung. Mein Vater, der nur noch die Einreichung der Arbeit im Herbst 1997 erleben durfte, hatte die Mühe des Korrekturlesens auf sich genommen. Ihm gebührt mein Dank und meine Anerkennung für kritische Diskussion des Manuskriptes mit gesundem Menschenverstand. Meinem Vater widme ich diese Arbeit.

Gehrden, im Juni 1998

Birte Wullkopf

Inhaltsverzeichnis Einleitung.

21 1. Teil Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

25

A. Die Bedeutung der Meinungsfreiheit im demokratischen Staat

25

B. Sedes materiae

26

C. Der Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

27

I. Der Begriff der Meinung i.S.d. Art. 5 I GG

27

1. Definitionsansätze

27

2. Konsequenzen der Ansätze für die Erfassung auch von Tatsachenmitteilungen

28

a) Die Erfassung von Tatsachenmitteilungen auf der Basis der herkömmlichen Meinungsdefinition

28

aa) Teile der Literatur: Keine Trennbarkeit von Meinungs- und Tatsachenmitteilungen

28

bb) Überwiegende Ansicht: Tatsachenmitteilungen zumeist in subjektiver Einkleidung

29

cc) Bundesverfassungsgericht und Teile der Literatur: Tatsachenmitteilungen als Voraussetzung der Meinungsbildung....

30

b) Die Einbeziehung von Tatsachenmitteilungen in den Schutzbereich auf der Basis der Annahme einer globalen Äußerungsfreiheit

30

3. Stellungnahme II. Anforderungen des Art. 5 I S. 1 1. HS GG an Inhalt, Qualität und Beweggrund einer Meinung

31 33

1. Anforderungen an Meinungen

33

2. Verschärfte Anforderungen an Tatsachenmitteilungen

34

8

Inhaltsverzeichnis

a) Versuch der Ableitung der Sonderanforderungen aus der Begründung für den grundsätzlichen Schutz von Tatsachenbehauptungen

35

b) Korrektiv: Keine Schutzwürdigkeit unwahrer Tatsachenbehauptungen

36

c) Quintessenz

37

III. Friedliches Äußern und Verbreiten einer Meinung

37

1. Zwei unterschiedliche Mitteilungsformen

38

2. Eine der Mitteilungsformen als Oberbegriff

38

3. Keine Trennung in zwei Tatbestandsmerkmale

39

4. Fazit für die weitere Darstellung

39

IV. Formen der Meinungsäußerung

40

1. „Wort"

40

2. „Schrift"

40

3. „Bild"

40

4. Weitere Formen der Meinungsäußerung

41

V. Die Freiheit, sich nicht äußern zu müssen VI. Freiheit der Meinungsbildung VII. Träger des Grundrechts VIII. Grundrechtsadressaten, „Drittwirkung" IX. Keine Begrenzung des Schutzbereiches durch Art. 5 II GG

42 42 43 44 46

1. Wortlaut des Art. 5 II GG

47

2. Systematik des Art. 5 GG

47

3. Entstehungsgeschichte der Norm

48

4. Gesamtschau

48

D. Eingriffe in den Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

49

E. Die Rechtfertigung von Eingriffen unter den Voraussetzungen des Art. 5 II GG I. Die allgemeinen Gesetze 1. Der Begriff des Gesetzes

51 51 51

a) Grammatikalische Auslegung

52

b) Historische Auslegung

53

Inhaltsverzeichnis

c) Systematisch-teleologische Auslegung

57

aa) Die allgemeinen Gesetze und die weiteren Schranken des Art. 5 II GG bb) Art. 104 IS. 1 GG

57 57

cc) Art. 19 I GG

58

dd) Der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes (1) Der Vorbehalt des Gesetzes in der konstitutionellen Monarchie

59 60

(2) Der Vorbehalt des Gesetzes unter den Bedingungen des Grundgesetzes

60

(a) „Veränderungen des Umfeldes des Vorbehaltsgedankens"

60

(b) Erweiterung oder Verwerfung der herkömmlichen Vorbehaltsformel - die Wesentlichkeitstheorie

62

(c) Zwischenergebnis

66

ee) Bedenken gegen das bisherige Ergebnis aufgrund der Argumentation Schwarks

66

ff) Zwischenergebnis

67

d) Ergebnis 2. Der Begriff der Allgemeinheit

67 67

a) Sonderrechtslehre

68

b) Abwägungslehre

69

c) Kombination der Theorien

69

d) Rechtsgüterschutz

70

e) Stellungnahme

70

3. Wechselwirkung und Abwägung

72

a) Wechselwirkungslehre

72

b) Abstrakte oder konkrete Abwägung

73

c) Abwägung als Element der Wechselwirkungstheorie

75

4. Verhältnis der „abwägenden Wechselwirkung" zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i.w.S

76

II. Die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und das Recht der persönlichen Ehre

78

10

Inhaltsverzeichnis

1. Gesetzliche Bestimmungen zum Schutze der Jugend

79

2. Das Recht der persönlichen Ehre

79

F. Das Verhältnis des Art. 5 I S. 1 1. HS GG zu Art. 3 I I I GG

81

2. Teil Die Meinungsfreiheit des Angestellten im öffentlichen Dienst; Fälle ihrer Beschränkung durch § 8 I BAT A. Begriffsbestimmung: Arbeitnehmer bzw. Angestellte im öffentlichen Dienst I. Öffentlicher Dienst II. Beschäftigte im öffentlichen Dienst, insbesondere Arbeitnehmer

83

83 83 85

B. Die Geltung des Art. 5 I S. 1 1. HS GG im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes

88

I. Notwendigkeit des Rückgriffs auf die traditionelle Dreiteilung privatrechtlichen Handelns des Staates

89

1. Die traditionelle Dreiteilung

89

2. Zweckmäßigkeit eines Anknüpfens an die Dreiteilung

90

II. Auslegung des Art. 1 III GG 1. Wortlaut des Art. 1 III GG a) Frühere Ansichten: Implikation eines Subordinationsverhältnisses

92 92 92

aa) Wolff

92

bb) Forsthoff, Klein

93

b) Heutige Tendenz: Unergiebigkeit der Wortlautauslegung des Art. 1 III GG c) Stellungnahme, Ergebnis 2. Systematische Auslegung

94 95 95

a) Art. 1 III GG und Art. 20 II GG

95

b) Art. 1 (I S. 2) GG

96

c) Art. 1 GG und Art. 79 GG

97

d) Ergebnis der systematischen Auslegung 3. Historische Auslegung

97 98

Inhaltsverzeichnis

4. Ergebnis der Auslegung des Art. 1 III GG G. Die einschlägigen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

99 99

I. Vorwurf mangelnder allgemeiner politischer Zurückhaltung (§ 8 I 5. 1 BAT)

100

1. Anti-Atomkraft-Plaketten im Dienst; Urteil des BAG vom 2.3.1982 - 1 AZR 694/79

100

a) Darstellung des Urteils

100

aa) Sachverhalt

100

bb) Entscheidungsgründe

100

b) Kritik des Urteils vom 2.3.1982 - 1 AZR 694/79

102

aa) Art der Grundrechtswirkung

102

bb) Meinungsäußerung

102

cc) Eingriff in die Meinungsfreiheit; Beschränkung des Grundrechts

103

(1) § 8 I S. 1 BAT - entgegen der Ansicht des BAG kein „allgemeines Gesetz"

103

(2) Der „allgemeine Grundsatz" der Mäßigungspflicht als „Grundregel über das Arbeitsverhältnis"?

104

(3) Lösung auf der Basis des hier entwickelten Verfassungsverständnisses

106

(a) § 58 HmbBG als einschlägiges „allgemeines Gesetz"

107

(b) § 76 IV 1. HS HmbPersVG als einschlägiges „allgemeines Gesetz"

108

(aa) Persönlicher Anwendungsbereich des § 76 IV 1. HS HmbPersVG

110

(aaa) Wortlaut des § 76 IV 1. HS HmbPersVG .

111

(bbb) Systematische Auslegung des § 76 IV 1. HS HmbPersVG

111

(ccc) Teleologische Auslegung des § 76IV 1. HS HmbPersVG

111

(ddd) Insbesondere: Wechselwirkungslehre

113

(eee) Ergebnis

113

12

Inhaltsverzeichnis

(bb) Sachlicher Anwendungsbereich des § 76 IV 1. HS HmbPersVG

114

(cc) Ergebnis

117

(c) § 76 III S. 1 HmbPersVG als einschlägiges „allgemeines Gesetz"

117

(d) § 611 I 1. HS BGB als einschlägiges „allgemeines Gesetz"

118

(aa) § 611 I 1. HS BGB als „allgemeines Gesetz" im hier verfochtenen Sinne

118

(bb) Verbot des Plakette-Tragens im Unterricht als Ausfluß einer in § 611 I 1. HS BGB statuierten Pflicht

120

(aaa) § 611 I 1. HS BGB kein Ursprung von Pflichten

120

(bbb) § 611 I 1. HS BGB als Ursprung einer hier nicht tangierten Hauptpflicht (ccc) Zwischenergebnis (cc) Ergebnis

120 121 122

(e) § 2 II S. 2 Nr. 2, 4, 5, 6 HmbSchulG als einschlägiges „allgemeines Gesetz"

122

(f) § 242 BGB als einschlägiges „allgemeines Gesetz"...

122

(aa) Kein Bestehen einer vorrangigen (tarif-)vertraglichen Pflichtenabrede

123

(bb) Herleitung eines das Verhalten der Kläger erfassenden Verbotes aus § 242 BGB

124

(aaa) Genereller Inhalt der Schutzpflicht gegenüber dem Staat als Arbeitgeber

125

(bbb) Allgemeinheit dieser Schutzpflicht gegenüber dem Staat als Arbeitgeber

128

(ccc) Einordnung des vorliegenden Falles

129

(α) Politische Meinungsäußerung im Dienst

130

(ß) Kriterien der Einzelfallprüfung

131

(γ)

133

Bewertung des Einzelfalles

Inhaltsverzeichnis

(4) Zusammenfassung: Die Beschränkung der Meinungsfreiheit in Fällen wie den vorliegenden

136

2. Rede auf einer öffentlichen Parteiversammlung; Urteil des BAG vom 23.2.1959 - 3 AZR 583/57

137

a) Darstellung des Urteils

137

aa) Sachverhalt

137

bb) Entscheidungsgründe

138

b) Kritik des Urteils vom 23.2.1959 - 3 AZR 583/57

139

aa) Art der Grundrechtswirkung

139

bb) Meinungsäußerung

140

( 1 ) Anknüpfungspunkt der Disziplinarmaßnahme (2) Meinungsäußerung des Klägers

140 141

(a) Änderung des Themas der Rede im Lichte des 30.1.1953

141

(b) Anknüpfen an das Datum und Aufforderung, zur Geschichte zu stehen

142

(c) Erörterung der Haltung der SPD zum Nationalsozialismus

142

cc) Verwirkung der Meinungsfreiheit gemäß Art. 24 der Berliner Verfassung

143

dd) Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit

144

(1) Das nach Ansicht des BAG einschlägige „allgemeine Gesetz"

144

(a) Ergebnis: Der allgemein anerkannte arbeitsrechtliche Mäßigungsgrundsatz statt § 1 Nr. 2 DDO als „allgemeines Gesetz"

144

(b) Der Weg zu diesem Ergebnis

145

(aa) Der Gesetzesbegriff.

146

(aaa) Herleitung allein aus BAGE 7, 256 ff.

146

(bbb) Herleitung des Gesetzesbegriffs unter Hinzuziehung von BAGE 1, 185, 194 ff. (ccc) Ergebnis (bb) Die Allgemeinheit (c) Zusammenfassung

146 147 147 148

14

Inhaltsverzeichnis

(2) Der allgemein anerkannte Mäßigungsgrundsatz für den öffentlichen Dienst - entgegen der Ansicht des BAG kein „allgemeines Gesetz"

149

(3) Lösung auf der Basis des hier entwickelten Verfassungsverständnisses

149

(a) § 8 Nr. 2 lit. f DDO i.V.m. § 1 Nr. 2 DDO

149

(b) Formelle Gesetze i.V.m. § 1 I, II KSchG 1951

150

(aa) Die Sanktionsnorm: § 1 I, II KSchG 1951

150

(bb) Die verletzte Verhaltensnorm (aaa) Personalvertretungsrecht, §611 I I . HS BGB

151 Schulrecht,

(bbb) § 242 BGB

151 152

(α) Pflichtverletzung durch die Aufforderung, zur gesamten deutschen Geschichte zu stehen

153

(ß) Pflichtverletzung durch die wahrheitswidrige Schilderung der Haltung der SPD zum Ermächtigungsgesetz

155

(αα) Verletzung/Gefährdung staatlichen Ansehens

155

(ßß) Interessenabwägung im Rahmen des § 242 BGB (γγ)

Ergebnis

155 159

(cc) Kündigung gemäß der Sanktionsnorm aufgrund der Verletzung der Verhaltensnorm

160

(4) Zusammenfassung: Die Beschränkung der Meinungsfreiheit in Fällen wie dem vorliegenden

163

3. Verurteilung wegen Volksverhetzung gemäß § 130 StGB; Urteil des BAG vom 14.2.1996 - 2 AZR 274/95

164

a) Darstellung des Urteils

164

aa) Sachverhalt

164

bb) Entscheidungsgründe

165

b) Kritik des Urteils vom 14.2.1996 - 2 AZR 274/95: Keine Anwendung des Art. 5 I S. 1 1. HS GG?

165

Inhaltsverzeichnis

c) Lösungsvorschlag

167

d) Zusammenfassung

168

4. „Juden-Witz"

im Unterricht; Entscheidung des BAG vom

5.11.1992-2 AZR 287/92

168

a) Darstellung der Entscheidung

168

aa) Sachverhalt bb) Entscheidungsgründe b) Kritik der Entscheidung vom 5.11.1992 - 2 AZR 287/92 - und Lösungsvorschlag 5. Vorteile der hier erarbeiteten Lösungswege; Ergebnis

168 169 169 171

a) § 8 I S. 1 BAT als materielles Gesetz?

172

b) § 8 I S. 1 BAT als „allgemeines Gesetz" auch für Außenseiter?...

177

aa) Denkbarkeit unmittelbarer und zwingender Wirkung der Tarifnormen durch einzelvertragliche Bezugnahme

179

(1) Von Hoyningen-Huene: Unmittelbare und zwingende Wirkung

179

(2) Herschel: Unmittelbare Wirkung

180

(3) Stellungnahme, Ergebnis

180

bb) Grammatikalische und historische Auslegung des § 3 I TVG cc) Teleologische Auslegung des § 3 I TVG dd) Ergebnis c) „Kurzschluß" wegen Annahme (un-)mittelbarer Drittwirkung bei gleichzeitiger Anerkennung des § 8 I S. 1 BAT oder allgemeiner Grundregeln als allgemeiner Gesetze d) „Ob" und „Wie" der beamtenrechtlichen Prägung des Verhaltens, das „von Angehörigen des öffentlichen Dienstes erwartet wird", § 8 I S. 1 BAT aa) Systematische Auslegung des § 8 I S. 1 BAT

182 183 183

184

186 187

(1) Der Β AT

187

(2) § 8 I S. 1 BAT im Lichte der Verfassung: Art. 33 IV GG

188

(3) § 8 I S. 1 BAT im Lichte der Verfassung: Art. 33 V GG

188

16

Inhaltsverzeichnis

(a) Grammatikalische Auslegung des Art. 33 V GG

189

(b) Systematische Auslegung des Art. 33 V GG

190

(aa) Art. 33 V GG i.V.m. Art. 33 IV GG

190

(bb) Art. 33 V GG i.V.m. anderen Artikeln des Grundgesetzes, insbesondere Art. 73 Nr. 8, 75 I S. 1 Nr. 1 GG(Wacke) (cc) Zwischenergebnis (c) Teleologische Auslegung des Art. 33 V GG

193 193 193

(aa) Einheit und Vereinheitlichung des Rechts des öffentlichen Dienstes

194

(bb) Abgrenzungsprobleme

195

(cc) „Gefahr eines Zirkelschlusses"

196

(dd) Zwischenergebnis

196

(d) Historische Auslegung des Art. 33 V GG

196

(e) Gesamtergebnis der Auslegung des Art. 33 V GG

198

(4) Ergebnis der systematischen Auslegung des § 8 I S. 1 BAT bb) Grammatikalisch-teleologische Auslegung des § 8 I S. 1 BAT ( 1 ) Etwas Besonderes, etwas Einheitliches (2) Relevanz der tatsächlichen Erwartungen der Öffentlichkeit? (3) Keine positive Umschreibbarkeit dessen, was „erwartet wird"; Kriterien fiir einen Verstoß gegen § 8 I S. 1 BAT (4) Abgleichung mit den Ausführungen des BAG zur Beamtenrechtsähnlichkeit der Angestelltenpflichten cc) Beurteilung eines konkreten Falles

198 199 199 200 201 203 204

(1) Konkrete Verhaltensanforderungen an einen beamteten Lehrer

205

(2) Modifizierung der konkreten beamtenrechtlichen Anforderungen fur die angestellten Kläger?

206

dd) Zusammenfassung e) Beamtenrechtsähnlicher Inhalt des § 1 Nr. 2 DDO bzw. eines allgemein anerkannten Mäßigungsgrundsatzes

207 207

Inhaltsverzeichnis

f) Geringe Reichweite eines allgemein anerkannten Mäßigungsgrundsatzes

209

g) Verbindung von Verhaltens- und Sanktionsnorm

210

h) Zusammenfassung

213

II. Vorwurf mangelnder Verfassungstreue wegen Aktivitäten für extreme Organisationen (§ 8 I S. 2 BAT) 1. Die Sachverhalte

213

a) Entscheidung 1: BAG, NZA 1996, S. 873 ff.; Urteil vom 14.2.1996-2 AZR 274/95

213

b) Entscheidung 2a: BAG, NZA 1989, S. 716 ff.; Urteil vom 13.10.1988 - 6 AZR 144/85

214

c) Entscheidung 2b: -2 AZR 317/86

214

BAGE 63, 72 ff.; Urteil vom 28.9.1989

d) Entscheidung 3: BAGE 51, 246 ff.; Urteil vom 12.3.1986 -7 AZR 20/83

215

e) Entscheidung 4: BAG, AP Nr. 11 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung; Urteil vom 6.6.1984 - 7 AZR 456/82...

216

0 Entscheidung 5: BAGE 29, 247 ff; Urteil vom 20.7.1977 - 4 AZR 142/76

217

2. Anwendung des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

218

3. Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

221

4. Rechtfertigung der Eingriffe

221

a) Der Ansatz des BAG: § 8 I S. 2 BAT (i.V.m. einer Sanktionsnorm) als einschlägiges allgemeines Gesetz

2 Wullkopf

213

222

aa) Gesetzesqualität des § 8 I S. 2 BAT

222

bb) Allgemeinheit des § 8 I S. 2 BAT

223

b) § 242 BGB i.V.m. einer Sanktionsnorm als einschlägiges allgemeines Gesetz

223

c) § 242 BGB (i.V.m. einer Sanktionsnorm) als einschlägiges allgemeines Gesetz als Konkretisierung von Art. 33 V GG

224

d) Art. 33 II oder V GG i.V.m einer Sanktionsnorm als einschlägiges allgemeines Gesetz

224

e) Art. 33 II GG als konkurrierendes Verfassungsrecht (i.V.m. einer in einem allgemeinen Gesetz enthaltenen Sanktionsnorm)

225

18

Inhaltsverzeichnis

aa) Verwurzelung einer Verfassungstreuepflicht in Art. 33 II GG

226

bb) Verletzung der Verfassungstreuepflicht durch die Kläger

229

(1) Generell funktionsspezifische Differenzierung der Verfassungstreuepflicht

230

(2) Verstoß der Kläger gegen die jeweils konkrete Verfassungstreuepflicht

232

(a) Entscheidungen 2a/b und 5

234

(b) Entscheidung 3

236

(c) Entscheidung 4

237

(d) Entscheidung 1

239

(e) Zusammenfassung

239

cc) Vorrang des Art. 33 II GG vor Art. 5 I S. 1 1. HS GG in den Fällen 2a/b, 3 und 5 ( 1 ) Art. 33 II GG als lex specialis zu Art. 5 I S. 1 1. HS GG .

239 240

(2) Art. 33 II GG als höherrangige Norm

240

(3) Herstellung praktischer Konkordanz (a) Herstellung praktischer Konkordanz trotz des Gesetzesvorbehalts in Art. 5 II GG

241 242

(b) Praktische Konkordanz in den Fällen 2a/b, 3 und 5...

244

f) Vorteile der hier entwickelten Lösung; Ergebnis 5. Zusätzliche Schwäche der Lösung des BAG: Unklarheit hinsichtlich der Interdependenz von Art. 33 II GG, Art. 5 I S. 1 1. HS GG und § 8 I S. 2 BAT

248

249

a) Entscheidung 2a

249

b) Entscheidungen 2b und 4

251

aa) Zusammenspiel von § 8 I S. 2 BAT, Art. 33 II GG und Art. 5 IS. 1 1. HS GG

251

(1) Fall 2b

251

(2) Fall 4

251

bb) Ursachen der jeweils nur kurzen Erwähnung des Art. 5 I S. l l . H S G G

252

c) Entscheidungen 3 und 5

254

aa) Fall 3

254

Inhaltsverzeichnis

bb) Fall 5

255

d) Zusammenfassung

255

6. Nachtrag: „Juden-Witz" im Unterricht - Verfassungstreuepflicht eines ausländischen Angestellten aus § 8 I S. 2 oder Art. 33 II GG?

256

7. Ergebnis

257 3. Teil

Das Sonderkündigungsrecht nach dem Einigungsvertrag

259

A. Anlage I zum Einigungsvertrag, Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt I I I Nr. 1 Abs. 4 S. I Nr. 1 2. Alt

259

I. Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG II. Absatz 4 Nr. 1 als einschlägiges allgemeines Gesetz 1. Gesetzesqualität des Absatzes 4 Nr. 1

259 261 261

a) Absatz 4 Nr. 1 als Völkerrecht

261

b) Absatz 4 Nr. 1 als Verfassungsrecht

262

c) Absatz 4 Nr. 1 als einfaches Gesetz

263

2. Allgemeinheit des Absatzes 4 Nr. 1

266

3. Anwendung des allgemeinen Gesetzes

266

III. Kurze Kritik des Urteils des BAG vom 18.3.1993 - 8 AZR 356/92

270

B. Anlage I zum Einigungsvertrag, Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt I I I Nr. 1 Abs. 5 Nr. 2

272

4. Teil Ergebnis

274

A. Fälle mangelnder politischer Zurückhaltung (§ 8 I S. 1 BAT)

274

B. Fälle fehlender Verfassungstreue (§ 8 I S. 2 BAT)

277

C. Zusammenschau

278

D. Ausblick

279

Literaturverzeichnis

281

Entscheidungsverzeichnis

299

Sachwortverzeichnis

301

2*

Einleitung Die „primär menschenrechtlich begründete" 1 Meinungsfreiheit ist nach einer Formulierung des Bundesverfassungsgerichts im Lüth-Urteil „in gewissem Sinne die Grundlage jeder Freiheit überhaupt" 2. Die Wahrnehmung dieses Rechts wird als „unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit" 3 angesehen. Smend formulierte schon zur Weimarer Zeit, die Meinungsfreiheit gewährleiste ein „Stück sittlich notwendiger Lebensluft" 4. Daß der Meinungsfreiheit stets besonderer Rang zuerkannt worden ist, zeigt sich etwa in der Fixierung dieser Errungenschaft in Art. 11 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789: „La libre commmunication des pensées et des opinions est un des droits les plus précieux de l'homme." Angesichts namentlich der Bedeutung der Meinungsfreiheit für die freie Entfaltung der Persönlichkeit 5 ist verwunderlich, wie wenig Beachtung die Literatur diesem Recht schenkt, soweit es die Arbeitnehmer 6 im öffentlichen Dienst betrifft. Das Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes wird jedoch ohnehin vernachlässigt 7, obgleich die Zahl der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst längst größer ist als die Zahl der Beamten8. Hinsichtlich der Meinungsfreiheit 1

Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 1 (Zitat); Bullinger, HRLJ Vol. 6 (1985), 339, 347; Schmittner (ArbuR 1968, 353, 353-355) und Schaub (RdA 1979, 137, 138) betonen besonders die Verwurzelung in der Menschenwürde. 2 BVerfGE 7, 198, 208; fast wörtlich ebenso, aber ohne Verweisung auf das BVerfG: Heinemann, NJW 1962, 889, 892; zu Art. 5 I GG insgesamt: Degenhart, FS-Lukes, 287, 292. 3 Zitat: BVerfGE 7, 198, 208; 34, 384, 401; 69, 315, 344; Klein in: SchmidtBleibtreu/Klein, GG, Art. 5 Rn. 1; Remmert, Meinungsfreiheit, S. 1; ähnlich: BVerfGE 12, 113, 125; 42, 133, 139 f.; BayVerfGH, DÒV 1982, 691, 693; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 1. 4 Smend, VVDStRL 4 (1928), 44, 50; auf ihn verweisend Schmittner, ArbuR 1968, 353, 353 f.; Hesse, Grundzüge, Rn. 388. 5 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 9; Degenhart in: BK, GG I, Art. 5 Abs. 1 u. 2 (Zweitbearb.) Rn. 3; Bleckmann, StaatsR II, S. 666; Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 22; BVerfG, NJW 1994, 1149, 1149; BVerfG, NJW 1994, 2943, 2943; BGHZ 80, 25, 29. 6 Der Begriff der „Arbeitnehmer" umfaßt nach dem überkommenen und auch hier von der Verfasserin zugrunde gelegten Sprachverständnis selbstverständlich auch die Arbeitnehmer/««^. 7 So auch Isensee in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR (1. Aufl.), S. 1193 mit Fn. 177. 8 Vgl. die Zahlen etwa in RdA 1995, S. 112 (Statistik vom 30.6.1993).

22

Einleitung

mag die stiefmütterliche Behandlung des Rechts der Arbeitnehmer auch eine Folge der angesichts der Zahl der Beschäftigten relativ geringen Zahl entsprechender höchstrichterlicher Entscheidungen sein9. Vor allem und generell aber rührt sie wohl doch aus einer jedenfalls vorliegend sogleich deutlich werdenden Stellung dieses Rechtsgebietes zwischen Arbeits- und Beamtenrecht 10 her. Schaub bezeichnet eine solche Einordnung zwar als zu weit gehend11, doch wird sich im folgenden zeigen, daß bezüglich des Angestellten im öffentlichen Dienst Arbeits- und Beamtenrecht eng miteinander verwoben sind. Ein Blick auf die verwendete Literatur macht deutlich, daß diese Sonderstellung dazu führt, daß sich die Wissenschaftler weder des einen noch des anderen Faches zur Bearbeitung des Themas berufen fühlen. Vielfach wird daher hier auf Erörterungen zurückgegriffen werden (müssen), die nur auf Beamte oder nur auf „normale" Arbeitnehmer zugeschnitten sind. Mit der vorliegenden Arbeit soll u.a. eine Brücke zwischen den Fachgebieten geschlagen werden. „Die Meinungsfreiheit des Angestellten im öffentlichen Dienst" oder auch allgemein deren Beschränkung hätte jedoch bei angemessen ausführlicher Behandlung den Rahmen einer Dissertation gesprengt 12. Auch eine Bezugnahme auf Landesrecht oder Gewährleistungen des internationalen Rechts13, etwa der EMRK 1 4 , unterbleibt, um die Arbeit nicht zu überfrachten. Wenigstens ein Teilaspekt des vernachlässigten Themas soll hier aber durchleuchtet werden anhand der Darstellung der Beschränkung der Meinungsfreiheit der Angestellten im öffentlichen Dienst aus Art. 5 I S. 1 1. HS GG im Rahmen der gemeinhin unter § 8 I BAT subsumierten Fälle.

9

Vgl. Lepke, DB 1968, 1990, 1992. Otto, Recht der Angestellten, S. 98, 102. 11 Schaub, HdbArbR, S. 90. 12 Vgl. aber: Kirschner, Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung des Arbeitnehmers im öffentlichen Dienst, 98 Seiten; im Gegensatz zu jener Dissertation aus dem Jahre 1970 befaßt sich die vorliegende Arbeit zum einen schwerpunktmäßig mit der Analyse der Entscheidungen des BAG, die bis auf eine Ausnahme zudem nach 1970 ergangen sind. Darüber hinaus soll sie sich durch Einbettung in Normen auszeichnen und insbes. die verfassungsrechtliche Komponente betonen. So werden anders als bei Kirschner z.B. weitere Normen wie etwa Art. 33 II GG herangezogen werden. Anders als bei Kirschner werden auch vermeintlich herrschende Ansichten, etwa überkommene Subsumtionen unter Art. 5 II GG, nicht einfach kritiklos übernommen werden (vgl. bei Kirschner, Grundrecht, S. 66: „Zu diesen allgemeinen Gesetzen gehören nach der Rechtsprechung und Lehre auch die maßgeblichen Grundregeln über das Arbeitsverhältnis." In der folgenden Fußnote verweist Kirschner lapidar auf eine abweichende Ansicht, ohne ihr weiter nachzugehen. Auf diese Weise wird eine fur die gesamte Arbeit grundlegende These eingeführt.). 13 S. dazu etwa Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 49. 14 Dazu etwa die neuere Entscheidung des EGMR vom 26.9.1993, NJW 1996, 375 ff. (Vogt/Deutschland). 10

Einleitung

Der Brückenschlag zwischen den Fachgebieten erlangt dabei eine besondere Qualität, da nicht nur die Verzahnung von Arbeits- und (ohnehin verfassungsrechtlich geprägtem) Beamtenrecht, sondern auch die Einflüsse des Verfassungsrechts deutlich gemacht werden. Gerade diese Interdependenz soll in der Rechtsprechung des BAG zu § 8 I BAT bzw. den entsprechenden besonderen Tarifnormen gesucht werden. Angesichts der vehementen Kritik Ramms am BAG, die sich 1964 namentlich an der Person Nipperdeys entzündete und in dem Vorwurf gipfelte, „nicht Verfassung, Gesetz oder Autonomie der sozialen Gegenspieler" beherrsche „das neue deutsche Arbeitsrecht, sondern den entscheidenden Machtfaktor" stelle „das Bundesarbeitsgericht dar" 15 , wird ein besonderes Augenmerk auf das Verfassungsverständnis des BAG gerichtet. Es soll untersucht werden, ob das BAG seine Entscheidungen an Art. 5 I GG, also an der Verfassung ausrichtet oder ob das Gericht, wie damals von Ramm behauptet16, statt gesetzesunterworfener neutraler Urteile rechtspolitische Entscheidungen fällt. Um die Basis fur eine solche zum einen auf eine Rechtsfrage, zum anderen auf Rechtsprechungskritik gerichtete Analyse zu schaffen und um die Analyse selbst von erforderlichen abstrakteren Überlegungen zu befreien, werden in einem ersten allgemeinen Teil zunächst Bedeutung, Schutzbereich und Schranken des Rechts auf Meinungsfreiheit dargestellt werden. Eingefahrene Strukturen, „herrschende Meinungen", vermeintliche Selbstverständlichkeiten werden dabei hinterfragt. Besonderes Augenmerk wird schon hier auf die Beschränkung des Grundrechts durch „allgemeine Gesetze" i.S.d. Art. 5 II GG gerichtet. Der 2. Teil befaßt sich sodann überleitend mit der Frage, in welcher Weise Art. 5 I S. 1 1. HS GG für die Arbeitnehmer des (noch zu definierenden) öffentlichen Dienstes gilt. Anschließend werden (unter C.) die einschlägigen Entscheidungen des BAG analysiert, namentlich unter dem Aspekt ihrer Vereinbarkeit mit dem zuvor dargestellten Verfassungsrecht. Bei der Untersuchung, ob die gängigen Lösungswege verfassungsrechtlich haltbar sind, gilt das wesentliche Augenmerk weniger der Frage, inwieweit § 8 I BAT konkret eine Beschränkung des Art. 5 I S. 1 1. HS GG ermöglicht, sondern zunächst primär der vorgelagerten Frage, ob § 8 I BAT überhaupt als grundrechtsbeschränkendes allgemeines Gesetz i.S.d. Art. 5 II GG taugt. Die relevanten Entscheidungen werden dabei in zwei Gruppen unterteilt: Zuerst werden die Fälle des Vorwurfes mangelnder allgemeiner politischer Zurückhaltung erörtert, die herkömmlicherweise unter § 8 I S. 1 BAT subsumiert werden (I.). Sodann sollen (unter II.) die vielfach auf § 8 I S. 2 BAT basierenden Vorwürfe mangelnder Verfassungstreue wegen Aktivitäten für extreme Organisationen untersucht werden.

15 16

Ramm, JZ 1964,582, 586. Ramm, JZ 1964,582,586.

24

Einleitung

Bei alledem soll ggf. fehlerhaftes Vorgehen des BAG nicht nur als solches entlarvt, sondern vor allem auch der statt dessen richtige Lösungsweg aufgezeigt werden. Zudem wird herausgearbeitet, auf welche systemimmanenten Schwierigkeiten die Lösungen des BAG gegenüber dem hier favorisierten Ansatz stoßen. Kurz soll anschließend (in einem 3. Teil) auf die mit den Anforderungen des § 8 I S. 2 BAT eng verknüpften Sonderkündigungsregelungen des Einigungsvertrages eingegangen werden. Abschließend kann anhand der als richtig präsentierten Lösungswege ein recht genaues Bild gezeichnet werden von der Beschränkung der Meinungsfreiheit des Angestellten in den nach Ansicht des BAG von § 8 I BAT erfaßten Fällen. Dabei wird auch das Verständnis des BAG von der Verfassungsnorm des Art. 5 I S. 1 1. HS, II GG, das durch die Entscheidungsanalysen zu Tage getreten ist, gewürdigt werden können.

1. Teil

Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland A. Die Bedeutung der Meinungsfreiheit im demokratischen Staat Mit der Meinungsfreiheit wird primär 1 dem einzelnen ein subjektives Recht gewährleistet 2, dessen essentielle Bedeutung eingangs geschildert wurde. Die Meinungsfreiheit ermöglicht dabei die „geistige Auseinandersetzung" 3 und damit die Willensbildung der Bürger 4. Dadurch, daß de facto auch Diskussionen politischen Inhalts erfolgen, wird die Meinungsfreiheit zur Basis einer funktionierenden Demokratie 5: Wenn das existiert, was Holmes J. in seinem dissenting vote in Abrams v. United States im Jahre 1919 als „free trade in ideas" bezeichnete6, kann sich die in Art. 21 S. 1 GG erwähnte „politische Willensbildung des Volkes" vollziehen7. Die Meinungsfreiheit ist also „fiir eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung... schlechthin konstituierend" 8.

1

Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 2; Bullinger, HRLJ Vol. 6 (1985), 339, 345; Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. A.l; Friauf/Höfling, AfP 1985, 249, 253; Scheuner, VVDStRL 22 (1965), 1, 64; Schmittner, ArbuR 1968, 353,355. 2 BVerfGE 57, 295, 319; Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 2; Hesse, Grundzüge, Rn. 387; Bullinger, HRLJ Vol. 6 (1985), 339, 345; Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 56. 3 So z.B. BVerfGE 7, 198, 208; Bleckmann, StaatsR II, S. 664. 4 BVerfGE 12, 113, 125; 20, 56, 98; Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. A.2; Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 18, 20; Hesse, Grundzüge, Rn. 387; Thiele, PersV 1993, 433, 436; Heinemann, NJW 1962, 889, 893. 5 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 1. 6 Abrams v. United States, 250 U.S. 616, 630; 63 l.ed. 1173, 1180; nicht korrekt, wenngleich den Inhalt treffend, meint Bullinger (HRLJ 6 (1985), 339, 341 mit Fn. 7), Holmes habe ebd. den Ausdruck „free marketplace of ideas" geprägt. Holmes (a.a.O.) sprach freilich von der Durchsetzung von Ansichten „in the competition of the market". Das nicht ganz einwandfreie Zitat scheint zu einem feststehenden Begriff zu werden. So verwendet etwa Gounalakis (NJW 1996, 481,487) die Formulierung „Marktplatz der Meinungen" - in Anführungszeichen und ohne Beleg. 7 Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 7. 8 Zitat: BVerfGE 7, 198, 208; ähnlich: BVerfGE 12, 113, 125; 25, 256, 265; 33,1,15; 42, 133, 139 f.; 69, 315, 344 f.; 93, 266,292 f.; BVerfG, NJW 1994,

26

1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

B. Sedes materiae Die vorliegend in Rede stehende Meinungsfreiheit ist dem Wortlaut nach in Art. 5 I S. 1 1. HS GG 9 verankert. Ganz überwiegend wird die Ansicht vertreten, die weiterhin in Art. 5 I GG gewährleisteten Rechte seien selbständige Garantien 10 , die jedoch untereinander und mit der Meinungsfreiheit eng verknüpft seien11. Hesse hingegen bezeichnet alle von Art. 5 I GG garantierten Rechte zusammenfassend als Meinungsfreiheit 12 (vgl. dazu die Formulierung in Art. 18 S. 1 GG). Bleckmann spricht zunächst ähnlich wie die h.M. von „grundsätzlich" selbständigen Freiheitsgarantien 13. Dann jedoch problematisiert er die Frage, ob nicht evtl. alle Rechte des Art. 5 GG nur Aspekte der Meinungsfreiheit seien. Nach längeren Ausführungen entschließt er sich mit kurzer historischer und rechtsvergleichender Begründung - wenn auch nicht expressis verbis, so doch wohl implizit - für ein einheitliches Verständnis des ganzen Art. 5 GG als Grundrecht der Meinungsfreiheit 14. Losgelöst von diesen in der Literatur vertretenen gegensätzlichen Standpunkten sei im folgenden der Begriff der Meinungsfreiheit i.S.d. in Art. 5 I S. 1 1. HS GG verbürgten Rechts verwendet.

2943,2943; BayVerfGH, DÖV 1982, 691,693; Badura, StaatsR, C. Rn. 62; Hesse, Grundzüge, Rn. 387; Klein in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 5 Rn. 1; Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 17; Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 7; Schmittner, ArbuR 1968, 353,354; Kempff, Grundrechte, S. 44 f.; Grimm, NJW 1995, 1697,1698; Heinemann, NJW 1962, 889, 892; Bullinger, HRLJ Vol. 6 (1985), 339,342; Schmitt Glaeser, AÖR 113 (1988), 52, 55; ders., JZ 1983, 95, 98; Kriele, NJW 1994, 1897,1897; Preis/Stoffels, RdA 1996, 210,211; bezüglich aller Rechte aus Art. 5 GG: BVerfGE 20, 56, 97; Kiesel (NVwZ 1992, 1129, 1129) hält die Meinungsfreiheit zwar für bedeutend, die zitierte Charakterisierung aber fur „eine Überbewertung dieses Rechts". 9 Nur selten wird das Grundrecht so genau lokalisiert, etwa von Merklinghaus, Grundrecht, S. 3; Stark, JuS 1995, 689, 689; Erichsen, Jura 1996, 84 ff., passim. 10 Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 600; Thieme, DÖV 1980, 149, 149; Degenhart in: BK, GG I, Art. 5 Abs. 1 u. 2 (Zweitbearb.) Rn. 1; Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 8; implizit: Schaub, RdA 1979, 137, 137; Stark, JuS 1995, 689,689; Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 182, 184 und Klein in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 5 Rn. 1; zur Selbständigkeit der Informationsfreiheit: BVerfGE 27, 71,81; 27, 104, 108 f.; 33, 52, 65; Antoni in: Seifert/Hömig, GG, Art. 5 Rn 7. 11 BVerfGE 57, 295, 319 f.; 73, 118, 152; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 1; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 4; Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 1; Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. A.l; Gornig, Äußerungsfreiheit, S. 543; Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 55 f., 58. 12 Hesse, Grundzüge, Rn. 386. 13 Bleckmann, StaatsR II, S. 668. 14 Bleckmann, StaatsR II, S. 668-670, insbes. S. 670 i.V.m. S. 672 Mitte, 677 a.E., 678 oben.

. Der Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

27

C. Der Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG I. Der Begriff der Meinung i.S.d. Art. 5 I GG Der Begriff der Meinung i.S.d. Art. 5 I S. 1 1. HS GG ist dem Bundesverfassungsgericht zufolge „grundsätzlich weit zu verstehen" 15.

1. Definitionsansätze Nach allgemeiner Ansicht ist eine Meinung geprägt vom „Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens, des Meinens" 16 , „durch die subjektive Beziehung des Einzelnen zum Inhalt seiner Aussage" 17. Wendt formuliert hingegen, Meinungen i.S.d. Art. 5 I S. 1 1. HS GG seien Jedenfalls" wertende Stellungnahmen18. Darüber hinaus erstrecke sich „der Schutz der Äußerungsfreiheit gemäß Art. 5 I 1 ... auf eigenmotivierte Äußerungen überhaupt", da diese alle gleich wichtig seien für die von der Norm geschützte Persönlichkeitsentfaltung und Kommunikation 19 . Ähnlich will Erich20

sen jede Äußerung von Gedanken schützen ; Ramm und Badura schützen jede „zwischenmenschliche Kommunikation" 21 .

15 BVerfGE 61, 1, 9; 71, 162, 179; BVerfG, NJW 1991, 2074, 2075; Preis/Stoffels, RdA 1996, 210, 211 mit Fn. 16 (unsauber nur auf das BVerfG verweisend, ohne den Gebrauch der wortgleichen Formulierung entsprechend kenntlich zu machen); ähnlich Merklinghaus, Grundrecht, S. 4 und Degenhart in: BK, GG I, Art. 5 Abs. 1 u. 2 (Zweitbearb.) Rn. 137. 16 Zitat: BVerfGE 65, 1, 41; BVerfG, NJW 1991, 2074, 2075; Badura, StaatsR, C. Rn. 62 (ohne Kenntlichmachung der Wortgleichheit mit der Formulierung des BVerfG); Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 25 (ohne Verweisung auf die wortgleiche Formulierung des BVerfG, nur auf ähnliche); ähnlich: BVerfGE 61, 1, 8; 66, 116, 149; 71, 162,179; 85, 1,14; 90, 241,247; OLG Brandenburg, NJW 1996, 1002, 1002; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 16; Hoffmann-Riem in: AK, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 20; von Mangoldt/Klein, GG I, Art. 5 Anm. III. 1 ; Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. B.l; Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 182; SchmidtJortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 18; Merten, DÖV 1990, 761, 762; Grimm, NJW 1995, 1697, 1699. 17 Statt vieler etwa BVerfGE 90, 241, 247. 18 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 8. 19 Zitat: Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 11, nähere Ausführungen: Rn. 9. 20 Erichsen, Jura 1996, 84, 85. 21 Ramm, JZ 1991, 1, 13 (dort auch das Zitat); Badura, StaatsR, C. Rn. 62.

28

1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

2. Konsequenzen der Ansätze für die Erfassung auch von Tatsachenmitteilungen Stets wird diskutiert, ob und inwieweit auch Mitteilungen von - dem Beweise zugänglichen22 - Tatsachen (dazu rechnet das Bundesverfassungsgericht auch Zitate 2j ) vom Schutz der Meinungsfreiheit umfaßt werden. In der früheren Literatur wurde vielfach vertreten, bloße Tatsachenmitteilungen seien nicht geschützt24 (so auch noch Lenz im Jahre 197025). Dafür konnte der Wortlaut der Norm („Meinung") 26 und unter systematischen Aspekten die Gewährleistung der „Freiheit der Berichterstattung" in Art. 5 I S. 2 27

28

GG ins Feld geführt werden . Heutzutage indessen besteht im Ergebnis Einigkeit, daß der Schutzbereich möglichst umfassend sein muß. Eine (weitgehende) Einbeziehung von Tatsachenmitteilungen wird auf verschiedenen Wegen erreicht, von denen die wichtigsten hier genannt sein sollen.

a) Die Erfassung von Tatsachenmitteilungen auf der Basis der herkömmlichen Meinungsdefinition Auf der Basis der herkömmlichen Meinungsdefinition (Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens, des Meinens) finden sich im wesentlichen drei konstruktiv unterschiedliche Methoden zur Einbeziehung von Tatsachenmitteilungen in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit.

aa) Teile der Literatur:Keine Trennbarkeit von Meinungs- und Tatsachenmitteilungen Ein Teil der Literatur geht davon aus, daß eine Trennung von Tatsachenund Meinungsmitteilungen gar nicht durchfuhrbar ist, da niemand „imstande wäre, auch die geringfügigste Tatsache ohne irgendeine persönliche Regung zu

22

Statt vieler s. OLG Brandenburg, NJW 1996, 1002, 1002. BVerfGE 54, 208, 219 f. 24 Hensel, AöR 52 (1927), 97, 100; Maunz, StaatsR, S. 89 (1954); Leisner, UFITA 37 (1962), 129, 142, 144; von Mangoldt/Klein, GG I, Art. 5 Anm. III. 1 (1966). 25 Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. B.l. 26 So wohl von Mangoldt/Klein, GG I, Art. 5 Anm. III. 1. 27 So wohl die Überlegung bei Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. B.L 28 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 9; Bleckmann, StaatsR II, S. 671. 23

. Der Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

29

referieren" 29 und da auch umgekehrt jede Stellungnahme „ein Minimum an Tatsachengehalt aufweist" 30 . Damit wird die gesonderte Existenz der Begriffe „Meinungsäußerung" und „Tatsachenmitteilung" in Frage gestellt.

bb) Überwiegende Ansicht: Tatsachenmitteilungen zumeist in subjektiver Einkleidung Nach überwiegender Ansicht hingegen ist eine Trennung von Meinungen und Tatsachen möglich. Doch enthalte eine Tatsachenmitteilung i.d.R. eine Entscheidung des Mitteilenden über das Ob und Wie der Darstellung, d.h. eine Stellungnahme. Daher werde eine Tatsachenmitteilung regelmäßig von Art. 5 I S. 1 1. HS GG erfaßt 31. Merten weist besonders auf die so auch geschützten Tatsachenbehauptungen hin, die als „Meinungsuntermauerung ... ,dienenden' Charakter haben" 32 . Schmidt-Jortzig erläutert anschaulich, die Tatsache bleibe trotz subjektiver Umkleidung Tatsache, werde nicht zur Meinung i.S.d. Art. 5 I S. 1 1. HS GG. Nur die „subjektiv-selektive Form ihrer Darstellung" führe zur Einbeziehung in den Schutzbereich 33. Konsequenterweise sind dann Tatsachenmitteilungen zu rein statistischen Zwecken vom Schutzbereich auszunehmen34. Diese Ansicht stellt also nicht den Meinungsbegriff in Frage, sondern überprüft die Einstellung des Grundrechtsträgers bei einer Tatsachenmitteilung. Ein Schutz durch Art. 5 I S. 1 1. HS GG setzt die Ausübung quasi einer Filterfunktion 35 des sich Äußernden voraus.

29 Zitat: Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. 1,11 Rn. 51; ähnlich: Stein, StaatsR, S. 302; Schaub, RdA 1979, 137, 138 f; Friauf/Höfling, AfP 1985, 249,253; Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 75, s. aber S. 76 („,reine' Tatsachenmitteilungen äußerst selten"). 30 Bleckmann, StaatsR II, S. 671; ähnlich: Schaub, RdA 1979, 137, 138 f. 31 Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, §141 Rn. 19; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 19; Merten, DOV 1990, 761, 762; Merklinghaus, Grundrecht, S. 4; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 606; Degenhart in: BK, GG I, Art. 5 Abs. 1 u. 2 (Zweitbearb.) Rn. 138; Maheu in: Um die Erklärung der MRe,

286, 288. 32

Merten, DÖV 1990, 761, 762. Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 19. 34 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 19; Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 19. 35 Vgl. die Begriffswahl bei Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 19. 33

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1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

cc) Bundesverfassungsgericht und Teile der Literatur: Tatsachenmitteilungen als Voraussetzung der Meinungsbildung Das Bundesverfassungsgericht und ihm folgend ein Teil der Literatur betonen, daß Tatsachenmitteilungen Voraussetzung der Meinungsbildung sein können. Soweit dies der Fall sei, seien Tatsachenmitteilungen deshalb in den Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG einzubeziehen36. (Zippelius und Degenhart fügen dies an ihre Ausführungen, die Position (bb) entsprechen, an 37 .) Des weiteren weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, daß Meinungen und Tatsachen oft untrennbar vermischt seien38. Während früher noch formuliert wurde, sofern dann das tatsächliche Element „gegenüber der Wertung in den Hintergrund tritt", müsse der Schutz des Art. 5 I S. 1 1. HS GG greifen 39 , findet sich nunmehr auch die Aussage, daß eine Gesamtschutz greife, wenn eine Trennung nicht möglich sei 40 . Anderenfalls würde die Meinungsfreiheit nicht unerheblich verkürzt 41 . Diese Ansicht ist also geprägt von dem Bemühen, die Meinungsfreiheit „grundsätzlich weit zu verstehen" 42. Die Freiheit der Meinungsäußerung und -Verbreitung soll nicht dadurch obsolet werden, daß Tatsachenmitteilungen der Schutz versagt wird.

b) Die Einbeziehung von Tatsachenmitteilungen in den Schutzbereich auf der Basis der Annahme einer globalen Äußerungsfreiheit Wendt möchte wie bereits dargestellt jede „eigenmotivierte" 43 Äußerung schützen. Mit diesem Ansatz erfaßt der Autor Meinungskundgaben i.e.S. und

36

BVerfGE 65, 1, 41; 71, 162, 179; 85, 1, 15; 90, 241,247; 94, 1,7; BVerfG, NJW 1991, 2074,2075; BVerfG, NJW 1993, 916,917; Hesse, Grundzüge, Rn. 391; Degenhart in: BK, GG I, Art. 5 Abs. 1 u. 2 (Zweitbearb.) Rn. 138; Hoffmann-Riem in: AK, GG I, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 21; Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 27; Grimm, NJW 1995, 1697, 1699; Preis/Stoffels, RdA 1996, 210, 211. 37 Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 182 f.; Degenhart in: BK, GG I, Art. 5 Abs. 1 u. 2 (Zweitbearb.) Rn. 138. 38 BVerfGE 61, 1, 9; 66, 116, 149; 90, 241, 248; s. auch von Mangoldt/Klein/Starck, GG I,Art. 5 Abs. l,2Rn. 19. 39 Zitat: BVerfGE 61, 1, 9; BVerfG, NJW 1991, 2074, 2075; ähnlich: BVerfGE 66, 116, 149; 85, 1, 15. 40 BVerfGe 90, 241,248. 41 BVerfGE 61, 1,9; 85, 1, 15 f.; 90, 241, 248; BVerfG, NJW 1991,2074, 2075. 42 Zitat zum Begriff der Meinung: BVerfGE 61, 1, 9; 71, 162, 179; ähnlich Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 29. 43 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 11.

. Der Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

31

Tatsachenmitteilungen44. Wendt läßt dabei jedoch nicht erkennen, ob er dafür eine extensive Interpretation des Wortlauts der Norm oder vielmehr eine Tatbestandserweiterung vornimmt. Erichsen schützt jede Gedankenäußerung überhaupt u.a. gerade zu dem Zweck, daß Tatsachenbehauptungen, die nach seiner Ansicht von Meinungskundgaben ohnehin nur schwer zu trennen sind, mit erfaßt werden 45 . Ramm und Badura, die jede „zwischenmenschliche Kommunikation" schützen wollen, schützen damit auch und gerade alle Tatsachenmitteilungen46.

3. Stellungnahme Die überwiegende Ansicht (oben unter 2. a) bb) gelangt also durch präzise Subsumtion unter den Meinungsbegriff zu dem Ergebnis, daß die meisten Tatsachenbehauptungen unter den Schutz des Art. 5 I S. 1 1. HS GG fallen. Das Bundesverfassungsgericht und die ihm folgenden Autoren wollen aus Gründen des optimalen Grundrechtsschutzes ebenfalls die meisten Tatsachenmitteilungen von der Meinungsfreiheit erfaßt sehen. Auch die Zugrundelegung der extrem weiten Konzeptionen Wendts, Erichsens, Ramms und Baduras fuhrt zu einem Schutz fast aller Äußerungen. Wenn man von der Untrennbarkeit von Meinungsäußerung und Tatsachenmitteilung ausgeht, wird sogar absolut jede Äußerung geschützt. Als Basis namentlich für die spätere Analyse der Entscheidung BAGE 7, 256 ff. soll hier entschieden werden, welcher Definition und welchem Umfang des Schutzes von Tatsachenmitteilungen der Vorzug zu geben ist. Die Ansicht von der Untrennbarkeit von Meinungs- und Tatsachenmitteilungen läßt den Begriff der Meinung im Rahmen des Art. 5 I GG bedeutungslos werden. Gegen diesen Ansatz spricht zudem, daß z.B. bei der Datenangabe für statistische Zwecke ein Element der Stellungnahme nicht zu finden i s t 4 7 . Solche Tatsachen können also eindeutig auch ohne jegliche subjektive Wertung mitgeteilt werden. Auch der von der herkömmlichen Meinungsdefinition ausgehende ursprüngliche Weg des Bundesverfassungsgerichts verdient keine Zustimmung: Es ist nicht ersichtlich, wieso eine Äußerung nur bei Überwiegen des Mei-

44 45 46 47

Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 9. Erichsen, Jura 1996, 84, 85. Ramm, JZ 1991, 1, 13; Badura, StaatsR, C. Rn. 62. Merten, DÖV 1990, 761, 762 f.

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1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

nungselementes geschützt sein sollte. Wie das Gericht nunmehr wohl selbst erkannt hat, steht auch der geringste Ansatz einer Meinungsäußerung unter dem Schutz des Art. 5 I S. 1 1. HS GG. Auch systemimmanent war diese Ansicht des Bundesverfassungsgerichts fragwürdig, wird doch ansonsten ein weiter Schutz durch Art. 5 I S. 1 1. HS GG propagiert. Kurz angemerkt sei hier, daß das Bundesverfassungsgericht die abzulehnende ursprüngliche Formulierung nahezu klammheimlich hat fallenlassen. Es distanziert sich nicht etwa ausdrücklich von der alten Aussage, sondern zitiert gar weiter frühere Entscheidungen48. Diese Erkenntnis läßt es aber leider auch als möglich erscheinen, daß kein wirklicher Fortschritt vorliegt. Vielleicht sollte ohne inhaltliche Änderung nur die Formulierung variieren. Nunmehr bleibt lediglich die Frage, ob der auf der herkömmlichen Definition basierenden überwiegenden Ansicht, der evtl. neuen Linie des Bundesverfassungsgerichts oder den weiten Ansätzen Wendts, Erichsens, Baduras bzw. Ramms beizupflichten ist. Der Konzeption Wendts ist insoweit zuzustimmen, als jede eigenmotivierte Äußerung unter dem Aspekt der Persönlichkeitsentfaltung schützenswert ist 49 . Auch mit der h.L. kommt man indessen zu dem Ergebnis, daß jede Äußerung, die ein subjektives Element enthält, vom Schutz des Art. 5 1 S. 1 1. HS GG umfaßt ist. Daher bedarf es zur Gewährleistung optimalen Schutzes nicht der - gemessen am Wortlaut contra legem erfolgenden und auch von den anderen genannten Autoren favorisierten - Konstruktion einer globalen Äußerungsfreiheit. Diese Ansätze sind daher abzulehnen. Mit der überwiegenden Ansicht ist also die herkömmliche Definition der Meinung zugrunde zu legen. Durch korrekte Subsumtion unter diesen Begriff erreicht man die Einbeziehung fast aller Tatsachenmitteilungen in den Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG. Die Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts, daß mit Meinungen untrennbar vermischte Tatsachenbehauptungen geschützt seien, ist zwingende Folge korrekter Subsumtion. Ergänzend mag man mit dem Gericht zwecks optimalen Grundrechtsschutzes Tatsachenmitteilungen als Voraussetzung von Meinungsbildung schützen.

48 Vgl. BVerfGE 90, 241, 248 unter Hinweis auf BVerfGE 61, 1, 9 und 85, 1, 15 f. (ebenso wie bei anderen Verweisungen wird „vgl." davor nur stereotyp verwendet, BVerfGE 90, 241 ff., passim). 49 Vgl. von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 19; Friauf/Höfling, AfP 1985, 249, 253.

. Der Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

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II. Anforderungen des Art. 5 I S. 1 1. HS GG an Inhalt, Qualität und Beweggrund einer Meinung 1. Anforderungen

an Meinungen

Aus der besonderen Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie wird nicht abgeleitet, daß nur oder vordringlich politisch relevante Meinungen geschützt sind 50 . Vielmehr wird im Interesse optimaler Freiheitssicherung 51 jede Meinung ungeachtet ihres Inhalts geschützt52: Irrelevant ist nicht nur, ob es um private oder öffentliche Angelegenheiten geht 53 . Unwichtig ist vielmehr auch, ob die Meinung Allgemeingültigkeit beansprucht 54 bzw. von grundsätzlicher Bedeutung ist 55 . Zumeist wird auch formuliert, daß belanglos sei, ob die Meinung wertvoll sei 56 . Letztendlich soll zudem gleichgültig sein, ob die Meinung (objektiv 57 ) wahr ist 58 . Teilweise wird betont, die geäußerte Meinung müsse lediglich „subjektiv wahrhaftig" sein 59 .

50

Wendt in: von Münch/Kunig, GG I; Art. 5 Rn. 2; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 2; Bleckmann, StaatsR II, S. 666 f.; Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,55; Friauf/Höfling, AfP 1985, 249,250; Degenhart, FS-Lukes, 287, 290 f.; a.A. wohl Ridder im Jahre 1954 in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, GrundRe II, 243, 288 f. im Rahmen einer Gesamtbetrachtung von Art. 5 und Art. 21 GG. 51 Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 22. 52 Bleckmann, StaatsR II, S. 666 f., 675; Hoffmann-Riem in: AK, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 20. 53 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 8; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 16; Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. B.l; Bleckmann, StaatsR II, S. 676; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 603; Schmitt Glaeser, AöR 1 13 (1988), 52, 72. 54 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 8; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 16; Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. B.l; Bleckmann, StaatsR II, S. 676. 55 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 8; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 16; Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. B.l; Bleckmann, StaatsR II, S. 676; Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 22; Hesse, Grundzüge, Rn. 391; Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 182; Merklinghaus, Grundrecht, S. 4 f.; a.A. im Jahre 1928 Rothenbücher (VVDStRL 4 (1928), 6, 16 und 42) und 1966 auf ihn verweisend von Mangoldt/Klein (GG I, Art. 5 Anm. III.l). 56 So bei BVerfGE 30, 336, 347; 33, 1, 14 f.; 61, 1, 7; 65, 1, 41; 71, 162, 179; 85, 1,15; 90, 241,247; 96, 266,289; BVerfG, NJW 1992, 2815,2816; BVerfG, NJW 1994, 2943,2943; Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 25; von Mangoldt/Klein/ Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 16; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 8; Antoni in: Seifert/Hömig, GG, Art. 5 Rn. 4; Hoffmann-Riem in: AK, GG I, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 20; Bleckmann, StaatsR II, S. 676; Katz, StaatsR, Rn. 728; Grimm, NJW 1995, 1697, 1698; Preis/Stoffels, RdA 1996, 210, 211; Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 71; Degenhart, FS-Lukes, 287, 290. 57 Antoni in: Seifert/Hömig, GG, Art. 5 Rn. 4; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. l,2Rn. 16. 3 Wullkopf

34

1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

2. Verschärfte

Anforderungen

an Tatsachenmitteilungen

Für Tatsachenmitteilungen gelten nach h.M. strengere Anforderungen: Die (bewußt 60 oder erwiesen 61) falsche Tatsachenbehauptung soll keinen grundrechtlichen Schutz genießen62. Grimm folgt dieser Ansicht unter Beschränkung auf schon zum Äußerungszeitpunkt „evident" falsche Behauptungen63. Anderer Auffassung sind hingegen Schmidt-Jortzig und Köhler 64 . Fraglich ist, ob der allgemeinen Ansicht kritiklos gefolgt werden kann oder ob sie - wie Schmidt-Jortzig behauptet - „Begründungsschwierigkeiten" 65 hat und daher abzulehnen ist. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es zunächst der Untersuchung, ob die Sonderanforderungen an Tatsachenmitteilungen im Einklang stehen mit der obigen Begründung für die grundsätzliche Einbeziehung von Tatsachenbehauptungen in den Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG.

58 BVerfGE 33, 1, 14; 61, 1, 7; 65, 1, 41; 71, 162, 179; 85, 1, 15; BGH, NJW 1965, 294, 295; Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 22; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 10; Hoffmann-Riem in: AK, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 20. 59 Zitat: Bleckmann, StaatsR II, S. 676; inhaltlich ebenso: Schmittner, ArbuR 1968, 353, 354; Merklinghaus, Grundrecht, S. 21; Ridder in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, GrundRe II, S. 243, 265. 60 BVerfGE 61, 1, 8; 90, 241,247; BVerfG, NJW 1993, 916,917; BVerwGE 55, 232, 241; BayObLG, JR 1995, 216,217; Merklinghaus, Grundrecht, S. 5; Hesse, Grundzüge, Rn. 391; Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 28; Degenhart in: BK, GG I, Art. 5 Abs. 1 u. 2 (Zweitbearb.) Rn. 140; Ossenbühl, JZ 1995, 633, 639. 61 BVerfGE 61, 1, 8; 90, 241, 247; BVerfG, NJW 1993, 916, 917; Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 28; Hesse, Grundzüge, Rn. 391; Ossenbühl, JZ 1995, 633, 639. 62 BVerfGE 54, 208, 219 f.; 85, 1,15; Badura, StaatsR, C. Rn. 62; Antoni in: Seifert/Hömig, GG, Art. 5 Rn. 4; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 20; Heinemann, NJW 1962, 889, 892. 63 Grimm, NJW 1995, 1697, 1699. 64 Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, §141 Rn. 20; Köhler, NJW 1985, 2389, 2390. Der h.M. widerspricht zudem Bleckmann (StaatsR II, S. 674), der aber wie gezeigt Art. 5 I S. 1 1. HS GG als Garantie einer umfassenden Äußerungsfreiheit begreift. Auch Wendt (in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 10) spricht sich auf der Basis seines weiten Meinungsbegriffes gegen strengere Anforderungen an Tatsachenmitteilungen aus. Diese Ansätze wurden soeben jedoch bereits abgelehnt, können hier also außer Betracht bleiben. 65 Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 20.

C. Der Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

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a) Versuch der Ableitung der Sonderanforderungen aus der Begründung für den grundsätzlichen Schutz von Tatsachenbehauptungen Die vorliegende Arbeit folgt der überwiegenden Ansicht, die durch genaue Subsumtion unter den Meinungsbegriff bei Berücksichtigung der Filterfunktion des sich Äußernden zum weitgehenden Schutz von Tatsachenmitteilungen gelangt. Fraglich ist, ob auf dieser Basis Schwierigkeiten bestehen, bewußt oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen vom Schutz des Art. 5 I S. 1 1. HS GG auszuschließen. Dazu muß vorab geklärt werden, was „bewußt falsch" und was „erwiesen falsch" bedeutet. „Bewußt falsch" ist nach dem allgemeinen Sprachgebrauch so zu verstehen, daß der sich Äußernde die tatsächliche Unwahrheit seiner Behauptung kennt. „Erwiesen falsch" kann demgegenüber dann bedeuten, daß die Unwahrheit allgemein, d.h. auch dem sich Äußernden, bekannt ist oder daß sie allgemein bekannt ist, nicht aber dem sich Äußernden. Aufgrund dieser Unklarheit sollen hier losgelöst von der Terminologie die zwei denkbaren Möglichkeiten untersucht werden: (aa) die falsche Behauptung, deren Unwahrheit der sich Äußernde nicht kennt, und (bb) die falsche Behauptung, deren Unwahrheit der sich Äußernde kennt. Zu (aa) gilt Folgendes: Die Mitteilung einer Tatsache, die der sich Äußernde für wahr erachtet, enthält wie dargestellt zumeist insoweit ein Element der Stellungnahme, als der sich Äußernde die Tatsache für mitteilenswert hält. Solche Äußerungen sind also auf dem üblichen Wege, d.h. durch genaue Subsumtion, daraufhin zu überprüfen, ob sie dem Schutz der Meinungsfreiheit zu unterstellen sind. Zu (bb) gilt: Mit bewußt falschen Äußerungen kann zwar ein Zweck verfolgt werden, ein Element der Stellungnahme wird regelmäßig aber nicht ersichtlich sein. Das kann aber nicht von der genauen Prüfung entbinden, ob in der bewußt falschen Äußerung in concreto nicht doch eine Stellungnahme enthalten ist. So können bewußt falsche Angaben über Dritte beispielsweise der Untermauerung einer geäußerten Einschätzung dieser Person dienen. Auch bei Behauptungen, deren Unwahrheit dem Grundrechtsträger bekannt ist, muß also der übliche Weg der genauen Subsumtion eingehalten werden. Auf der Basis der überwiegenden Ansicht kann folglich nicht pauschal festgestellt werden, daß unwahre Tatsachenmitteilungen vom Schutze des Art. 5 I S. 1 1. HS GG ausgenommen seien 6 6 . Am Rande sei noch erwähnt, daß die Befolgung des Gesamtkonzepts des Bundesverfassungsgerichts zu weit gravierenderen Begründungsschwierigkei66 A.A. von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 20: Der Meinungsbegriff erfasse unwahre Tatsachenbehauptungen nicht.

3*

36

1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

ten führte: Tatsachenmitteilungen wären in den Schutzbereich der Norm einbezogen, soweit eine untrennbare Verknüpfung mit einer Meinung vorläge bzw. weil und soweit die Mitteilung Voraussetzung der Meinungsbildung wäre 67 . Da auch unwahre Tatsachenbehauptungen (mit Meinungselementen verknüpft) Grundlage für Meinungsbildung sein können 68 , ist zunächst nicht verständlich, wieso falsche Tatsachenbehauptungen keinen Schutz genießen sollen.

b) Korrektiv: Keine Schutzwürdigkeit unwahrer Tatsachenbehauptungen Innerhalb der herrschenden Meinung, die wie die Verfasserin den Weg der sauberen Subsumtion geht, wird indes vertreten, unwahre Tatsachenbehauptungen würden von Art. 5 I S. 1 1. HS GG nicht erfaßt, da sie nicht schutzwürdig seien69. Dieses Korrektiv verwendet auch das Bundesverfassungsgericht, das wie soeben aufgezeigt durch bloße Anwendung seiner Meinungskonzeption sogar zum eindeutigen Schutz der meisten unwahren Tatsachenbehauptungen kommen müßte: Das Gericht fuhrt aus, die Meinung, die auf falscher Tatsachengrundlage gebildet werde, müsse zwingend falsch sein. Dieser Vorgang sei nicht schutzwürdig 70 . Gegen eine solche Schutzbereichseinschränkung spricht mehreres: aa) Eine Meinung wird stets geschützt, gleichgültig, ob sie „emotional oder rational begründet ist" 71 , selbst dann, wenn sie ein bloßes Phantasieprodukt ist 72 . Es ist nicht ersichtlich, welcher qualitative Unterschied insbesondere zwischen letzterer Gruppe und Meinungen, die auf falschen Tatsachenbehauptungen basieren, bestehen soll.

67

S.o. unter I.2.a.cc. Sendler, ZRP 1994, 343, 347. 69 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 20; vgl. implizit Sendler, ZRP 1994, 343, 348 f (der eine genaue Meinungsdefinition jedoch nicht erkennen läßt). 70 BVerfGE 54, 208, 219 f.; 85, 1, 15; ebenso: BVerwGE 55, 232, 241; Hesse, Grundzüge, Rn. 391; Hoffmann-Riem in: AK, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 21; Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 28. 71 BVerfGE 33, 1, 14; 61, 1, 7; 85, 1, 15; s. auch Hoffmann-Riem in: AK, GG I, Art. 5 Abs. l,2Rn. 3. 72 Leisner, UFITA 37 (1962), 129, 144; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. l,2Rn. 16. 68

. Der Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

37

bb) Die Prämisse, daß die Meinungsfreiheit der bestmöglichen Annäherung an die Wahrheit dienen soll 73 , läßt sich weder aus dem Wortlaut der Norm noch aus dem „vorpositiven Begründungszusammenhang" ableiten74. Zudem ist eine auf falscher Tatsachengrundlage entstandene Meinung nicht zwangsläufig falsch; zufällig kann auch eine solche Meinungsbildung zum „richtigen" Ergebnis führen. cc) Wenn man unwahre Tatsachenbehauptungen aus dem Schutzbereich ausgrenzt, so läuft nicht nur insbesondere die Schranke des Art. 5 II GG i.V.m. § 187 StGB leer, sondern die „rechtsstaatlichen Sicherungen ..., die grundsätzlich an den Eingriff in den Grundrechtsschutzbereich anknüpfen" greifen auch nicht 75 . Eine solche Konstellation konterkarierte das ansonsten weite Verständnis der Meinungsfreiheit, den optimalen Grundrechtsschutz.

c) Quintessenz Daß unwahre Tatsachenbehauptungen per se nicht schutzwürdig seien, kann also nicht festgestellt werden. Zur Bestimmung der konkreten Reichweite des Schutzbereiches des Art. 5 I S. 1 1. HS GG ist somit stets nur saubere Subsumtion unter den Meinungsbegriff erforderlich. Weitere Einschränkungen können sich allenfalls auf der Ebene des Art. 5 II GG 7 6 oder durch kollidierendes Verfassungsrecht (etwa das allgemeine Persönlichkeitsrecht) ergeben.

III. Friedliches Äußern und Verbreiten einer Meinung Vergleicht man den Wortlaut des Art. 8 I GG mit dem des Art. 5 I S. 1 1. HS GG, so fällt auf, daß in letzterem keine ausdrückliche Formulierung dahingehend enthalten ist, daß nur die friedliche Meinungsäußerung geschützt wäre. Die Meinungsfreiheit soll jedoch unstreitig nur den „geistigen Kampf der Meinungen" ermöglichen 77 . Nur die geistige Einwirkung auf andere ist geschützt;

73 So: BVerfGE 54, 208, 219; Bleckmann, StaatsR II, S. 666 f.; Schmittner, ArbuR 1968,353,354. 74 Köhler, NJW 1985, 2389, 2390; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 10. 75 Bleckmann, StaatsR II, S. 674; ähnlich den Mechanismus von Schutzbereich und Schranke betonend, aber dennoch zur Ausgrenzung unwahrer Tatsachenbehauptungen kommend: Grimm, NJW 1995, 1697, 1699. 76 I.E. ebenso Gornig, Äußerungsfreiheit, S. 548; Thieme, DÖV 1980, 149, 150. 77 Zitat: BVerfGE 25, 256, 265; 62, 230, 244 f.; LG Itzehoe, NJW 1987, 1269, 1270; auf das BVerfG verweisend: OLG Köln. NJW 1970, 1322, 1324; Bethge in: Sachs, GG,

38

1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

unzulässig ist z.B. der Einsatz von Druckmitteln 78 etwa wirtschaftlicher Art 7 9 . Diese Beschränkung des Schutzbereiches des Art. 5 I S. 1 1. HS GG trägt ebenso wie die ausdrückliche Beschränkung in Art. 8 I GG dazu bei, „den inneren Frieden auch vom Bereich grundrechtlicher Verbürgung aus zu sichern" 80 . Nur friedlich darf der Bürger seine Meinung äußern und verbreiten. Umstritten ist dabei, ob zwischen dem „Äußern" und dem „Verbreiten" der Meinung überhaupt ein Unterschied besteht.

/. Zwei unterschiedliche Mitteilungsformen Zum Teil wird „äußern" und „verbreiten" gegeneinander abgegrenzt: Das Recht zur Äußerung sei das Recht zur Abgabe von Erklärungen, es hindere den Staat, dem Grundrechtsträger „den Mund zu verbieten" 81. Durch die Garantie des Verbreitens werde indes die „Kontaktauftiahme des einzelnen mit anderen Menschen" geschützt82. Wendt hält zudem eine Interpretation des Äußerns als Kundgabe eigener Meinung und des Verbreitens als Kundgabe fremder Meinung für „denkbar" 83 .

2. Eine der Mitteilungsformen

als Oberbegriff

Nach einer anderen Ansicht bedeutet „äußern" bloß, daß sich jemand seiner Meinung entäußert. „Verbreiten" soll hingegen erst vorliegen, wenn Dritte von der Meinung Kenntnis nehmen (können). „Verbreiten" setzt also zwingend ein „Äußern" voraus, umfaßt diesen engeren Begriff 84 .

Art. 5 Rn. 34 und Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 610; ähnlich: BVerfGE 7, 198, 210; BGH, NJW 1972, 1571, 1573; Katz, StaatsR, Rn. 728. 78 Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 610; Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 24. 79 BVerfGE 25, 256, 264 f.; 62, 230, 245; Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 73 f.; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 23; Bleckmann, StaatsR II, S. 680; Katz, StaatsR, Rn. 728. 80 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 12. 81 Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 56 (Zitat); inhaltlich ebenso: Schaub, HdbArbR, S. 379; ders., RdA 1979, 137, 139. 82 Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 57 f. (Zitat); inhaltlich ebenso: Schaub, HdbArbR, S. 379; ders., RdA 1979, 137, 139. 83 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 17. 84 Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 24; wohl ebenso Degenhart in: BK, GG I, Art. 5 Abs. 1 u. 2 (Zweitbearb.) Rn. 8.

. Der Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

39

Ähnlich denkt Stein, wenn er formuliert, das Verbreiten gehe über eine bloße Äußerung hinaus: Verbreitungsrecht sei „das Recht, darauf hinzuwirken, daß andere die eigene Meinung übernehmen" 85. Nach anderer, namentlich von von Mangoldt/Klein vertretenen Ansicht besagt „äußern" soviel wie „kundgeben". Das schließe diejenigen Kundgaben ein, die Dritte erreichen und so als „Verbreitung" zu bezeichnen seien. Demnach ist „Äußern" der Oberbegriff 86 . Dem folgte 1970 wohl auch Lenz, der zwar nur das Verbreiten definierte - nämlich als Kundgabe der Meinung an eine größere, insbesondere unbestimmte Anzahl von Personen. Er verweist jedoch auf von Mangoldt/Klein, teilte also wohl deren Ansicht, daß „Äußern" den Oberbegriff darstelle 87.

3. Keine Trennung in zwei Tatbestandsmerkmale Nach anderer Auffassung ist eine strikte Trennung von „äußern" und „verbreiten" in zwei genau abgegrenzte Tatbestandsmerkmale nicht möglich 88 . Namentlich Starck führt aus, daß höchstens ein sprachlicher Unterschied bestehe. Verwende man den Begriff des „Äußerns", so betrachte man primär den SichÄußernden, „der sich nach außen wendet". Der Begriff des „Verbreitens" hingegen betone den Aspekt der Kommunikation, des Empfangs der Mitteilung durch Dritte 89 .

4. Fazit für die weitere Darstellung Im Ergebnis führt jeder der Ansätze zu einem Schutz aller denkbaren Kundgaben. Vornehmlich da jedes aktive Verbreiten ein Äußern voraussetzt und da eine Äußerung i.d.R. eine Verbreitung bedeutet90, soll hier keine Unterscheidung der Kundgabeformen vorgenommen werden. Der Einfachheit halber wird im folgenden lediglich der Begriff des „Äußerns" verwendet.

85

Stein, StaatsR, S. 303. Von Mangoldt/Klein, GG I, Art. 5 Anm. IV. 1; i.E.: Bleckmann, StaatsR II, S. 677; Badura, StaatsR, C. Rn. 62; Merklinghaus, Grundrecht, S. 3; Ridder in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, GrundRe II, S. 243, 274 sowie Gornig, Äußerungsfreiheit, S. 549. 87 Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. B.3; dieselbe Definition des „Verbreitens" findet sich auch bei LVG Hamburg, MDR 1953, 125, 126. 88 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 17; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 609. 89 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 22; ebenso Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 17. 90 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 22. 86

40

1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

IV. Formen der Meinungsäußerung Eine friedliche Meinungsäußerung kann dem Wortlaut des Art. 5 I S. 1 1. HS GG zufolge in „Wort, Schrift und Bild" erfolgen.

7. „Wort" Die Äußerungsform „Wort" umfaßt „alle hörbaren Meinungsäußerungen" 91. Dazu gehört nicht nur das unmittelbar Artikulierte, sondern auch der auf Ton92

trägem „geronnene Schall" .

2. „Schrift " Mit dem Begriff „Schrift" sind alle vorstellbaren Schriftarten gemeint 93 , unabhängig von der Art der Darstellung(sunterlage) und gegebenenfalls von der Sprache 94. Erfaßt werden also z.B. auch Kurzschrift, Blindenschrift und Geheimschrift 95 .

3. „Bild" Der Begriff des „Bildes" i.S.d. Art. 5 I S. 1 1. HS GG wird nicht einheitlich, aber doch stets ähnlich definiert. Bleckmann formuliert, ein Bild sei „jedes aus sich selbst verstehbare Zeichen" 96 . Anders erklärt Starck, es würden „alle bildlichen Darstellungen" erfaßt, „einschließlich" jener aus sich selbst verständlichen Zeichen 97 . Schließlich bemerkt Wendt, ein Bild sei „über die bildliche Darstellung hinaus" jedes aus sich selbst verstehbare Zeichen 98 .

91

Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 15; Bleckmann, StaatsR II, S. 677. Bezeichnung so bei Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 70; Herzog zitierend: Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 15 und Degenhart in: BK, GG I, Art. 5 Abs. 1 u. 2 (Zweitbearb.) Rn. 163; ähnlich: von Mangoldt/Klein/Starck, G I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 21; s. auch Bleckmann, StaatsR II, S. 677. 93 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 15; Bleckmann, StaatsR II, S. 677. 94 von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 21. 95 von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 21, Wendt in: von Münch/ Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 15; Bleckmann, StaatsR II, S. 677. 96 Bleckmann, StaatsR II, S. 677. 97 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 21. 98 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 15. 92

. Der Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

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Bilder i.S.d.Art. 5 I S. 1 l . H S G G sind demnach etwa Anstecknadeln", (Anti-Atomkraft- 100 ) Plaketten 101 oder auch Gesten 102 . Im Zusammenhang mit dem Tragen studentischer Farben fuhrt Wendt aus, es liege ein Bild vor, „wenn damit eine Meinungsäußerung beabsichtigt" sei 103 . Dabei verwechselt bzw. vermischt er jedoch die Tatbestandsmerkmale „Äußerung einer Meinung" und „Bild". Die Definition des Bildes ist - auch bei Wendt, s.o. - unabhängig von der Frage, ob eine Meinung geäußert wird. Wendts Äußerung zum Farbentragen enthält also einen Denkfehler. Systematisch richtig hingegen ist die Aussage Starcks, daß die Feststellung, daß ein Bild vorliegt, „nicht von der Prüfung der Frage befreit, ob im gegebenen Fall damit eine Meinung ... zum Ausdruck gebracht werden soll" 1 0 4 .

4. Weitere Formen der Meinungsäußerung Art. 118 I S. 1 WRV gewährleistete die Freiheit der Meinungsäußerung in „Wort, Schrift,... Bild oder in sonstiger Weise". Damit waren alle denkbaren Formen der Meinungsäußerung geschützt105. Heutzutage besteht Einigkeit, daß das Grundgesetz trotz der kürzeren Fassung der entsprechenden Norm denselben Schutz bietet. Umstritten ist lediglich, auf welchem Weg man zu diesem Ergebnis kommt. Die h.M. sieht die Aufzählung von „Wort, Schrift und Bild" als nicht abschließend, als nur beispielhaft an 1 0 6 . Auch Schmidt-Jortzig folgt dieser überwiegenden Ansicht 107 , ist insoweit - anders als Wendt es behauptet also nicht „unentschieden" 108 . Nach anderer Ansicht sind die aufgezählten Äu-

99

Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 21. Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 15. 101 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 21. 102 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 21. 103 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 15. 104 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 21; s. auch BVerfGE 30, 336, 352. 105 Bühler, Reichsverf., Art. 118 zu Abs. I am Anfang; Giese, Verfassung, Art. 118 Anm. 1 (weniger deutlich). 106 Scheuner, VVDStRL 22 (1965), 1, 63; Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 73; Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 45; Hoffmann-Riem in: AK, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 25; Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. B.2; Antoni in: Seifert/Hömig, GG, Art. 5 Rn. 5; Katz, StaatsR, Rn. 728; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 609; Hesse, Grundzüge, Rn. 392; Schaub, RdA 1979, 137,139; BayObLG, NJW 1969, 1127, 1127. 107 Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 24. 108 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 16 unter Verweisung auf „Schmidt-Jortzig, HdbStR VI, § 141 Rn. 23". 100

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1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

ßerungsformen so weit auszulegen, daß jede Kundgabeart erfaßt wird 1 0 9 . Gornig, Degenhart und Merklinghaus kombinieren die beiden Ansätze: Die Aufzählung sei beispielhaft und die aufgezählten Formen seien zudem weit auszulegen 110 . Ähnlich, wenn auch unter Zugrundelegung eines Stufenverhältnisses, vertreten Herzog und Bleckmann, es bedürfe zunächst einer weiten, umfassenden Auslegung. Sei dann eine Meinungskundgabe trotzdem nicht unter den Wortlaut der Norm zu subsumieren, so sei „darüber hinaus" davon auszugehen, daß die Aufzählung nicht abschließend sei 111 .

V. Die Freiheit, sich nicht äußern zu müssen Trotz der besonderen Bedeutung der Meinungsfreiheit für das Funktionieren der Demokratie 112 hat der Bürger nicht die Pflicht, eine Meinung zu äußern 113. Art. 5 I S. 1 l . H S G G gewährleistet also auch die negative Meinungsfreiheit" 4 .

VI. Freiheit der Meinungsbildung Art. 5 I S. 1 l . H S G G schützt ausdrücklich lediglich die Meinungsäußerung. Fraglich ist, ob auch die vorgelagerte Meinungsbildung Schutz genießt. Zum Teil wird dies verneint unter Hinweis darauf, daß ein solcher Vorgang im forum internum ablaufe und so staatlichen Eingriffen ohnehin nicht ausgesetzt sei 115 . Bleckmann stellt die Schutzwürdigkeit in Frage, weil „die Denkfreiheit

109 So wohl Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 16; von Mangoldt/Klein/ Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 21. 1,0 Gornig, Äußerungsfreiheit, S. 550; Degenhart in: BK, GG I, Art. 5 Abs. 1 u. 2 (Zweitbearb.) Rn. 9, 162; Merklinghaus, Grundrecht, S. 6. 111 Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 73; Bleckmann, StaatsR II, S. 677 (dort das Zitat). 112 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 1. 113 Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 27; Antoni in: Seifert/Hömig, GG, Art. 5 Rn. 3; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 12; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 612; Bleckmann, StaatsR II, S. 678; Merklinghaus, Grundrecht, S. 7; Merten, DÖV 1990, 761, 761, 766; Erichsen, Jura 1996, 84, 86. 114 Mehrere Entwürfe des Parlamentarischen Rates sahen sogar eine ausdrückliche Festschreibung dieses Aspektes der Meinungsfreiheit vor; s. dazu Matz in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 85 bei Fn. 53 und bei Fn. 55, S. 86, S. 87 und S. 88. 115 Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. B.l; a.A. ohne Begründung Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 20 (unter Verweisung auf primär die Rundfunkfreiheit betreffende Aussagen des Bundesverfassungsgerichts), 24.

. Der Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

43

schon durch Art. 1 I GG geschützt wird" 1 1 6 . Katz hingegen meint, der Schutz der Meinungsbildung sei selbstverständlich mit umfaßt 117 . Bei Starck findet sich indes eine differenzierte Betrachtungsweise: Auch er weist zunächst darauf hin, daß Vorgänge im forum internum nicht schutzbedürftig seien. Sodann wird jedoch betont, daß Meinungsbildung oftmals durch Sammeln und Verarbeiten gewonnener Informationen geschehe. Ein solcher Prozeß „weist Außenbezüge a u f ; er sei daher, soweit der Grundrechtsträger ihn selbst vorantreibe, als Voraussetzung der Meinungsäußerung von Art. 5 I S. 1 l . H S G G geschützt 118 .

VII. Träger des Grundrechts Gemäß Art. 5 I S. 1 1. HS GG hat „jeder" das Recht auf freie Meinungsäußerung. Die Norm gewährleistet also kein Deutschen-, sondern ein Menschenrecht 119 bzw. ein „Jedermann-Grundrecht" 120. Auch im Sonderstatusverhältnis 1 2 1 (insbesondere früher „besonderes Gewaltverhältnis" genannt 122 ) gilt nach heutiger Meinung die grundrechtliche Gewährleistung des Art. 5 I S. 1 1. HS GG 1 2 3 : Namentlich aufgrund der Grundrechtsbindung durch Art. 1 III GG kann nicht von einem schlechthin grundrechtsfreien Raum ausgegangen werden 1 2 4 . 116

Bleckmann, StaatsR II, S. 676. Katz, StaatsR, Rn. 728. 118 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 25. 119 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 4; Bleckmann, StaatsR II, S. 700; Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, §141 Rn. 11; Katz, StaatsR, Rn. 727; Merklinghaus, Grundrecht, S. 8 f.; Schaub, RdA 1979, 137, 138. 120 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 108. 121 Terminus z.B. bei von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art 1 Abs. 3 Rn. 188; Katz, StaatsR, Rn. 653 f.; Kopp in: Steiner, Bes. VerwR, III Rn. 29. 122 Zunächst bei Otto Mayer, Dt. VerwR, S. 101 f.; sodann z.B. Ule, VVDStRL 15 (1957), 133 ff., passim; BVerfGE 3, 58, 153; 16, 94, 114; Frowein, Polit. Betätigung, S. 12; Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. A.l; heute noch: Herzog in: Maunz/ Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 106; Schenke, Fälle, S. 86; Bleckmann, StaatsR II, S. 361; Schwerdtfeger, Öff. Recht, Rn. 209; von Münch, ZBR 1981, 157, 163 (Verwendung des Begriffes nicht als „eine Grundrechtseinschränkungen legitimierende", sondern als eine sie beschreibende Konstruktion vertretbar). 123 Lisken, NJW 1980, 1503, 1503 f.; Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. A.l; Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 104; vgl.: BVerfGE 33, 1, 9-11; 40, 237, 253 f.; 57, 170, 182, 183 (abweichende Meinung des Richters Hirsch); Antoni in: Seifert/Hömig, GG, vor Art. 1 Rn. 12; Katz, StaatsR, Rn. 654; Kunig in: SchmidtAßmann, Bes. VerwR, 6. Abschn., Rn. 46-48, 168; Kopp in: Steiner, Bes. VerwR, III Rn. 28; Frowein, Polit. Betätigung, S. 12; zu den früheren restriktiven Ansichten s. die gute Übersicht bei Bauschke in: Scheerbarth/Höffken/Bauschke/Schmidt, BeamtenR, S. 92 f. m.w.N. 124 Vgl. BVerfGE 33, 1, 11. 117

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1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

Äußerungen eines Beamten in dieser seiner Eigenschaft fallen zwar nicht unter den Schutz der Meinungsfreiheit 125 . Äußert er sich hingegen als Privater, so greift der Schutz 126 . Die Mitwirkung Deutscher an der staatlichen Willensbildung (Art. 20 II S. 2 GG) wird nicht von Art. 5 I GG, sondern von den einschlägigen staatsorganisationsrechtlichen Verfassungsnormen erfaßt 127 . Auch Äußerungen von Staatsorganen zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben sind nicht von Art. 5 I S. 1 1. HS GG geschützt, vielmehr greifen die besonderen Status- bzw. Kompetenzvorschriften 128. Das Recht auf freie Meinungsäußerung gilt aufgrund des Art. 19 III GG auch für inländische juristische Personen des Privatrechts 129. Dabei erfaßt Art. 19 III GG auch nichtrechtsfähige Personenvereinigungen 130, sofern diese nur zu eigener Willensbildung und entsprechendem Handeln fähig sind 131 . Juristischen Personen des öffentlichen Rechts bleibt Grundrechtsschutz wegen des sog. Konfusionsargumentes 132 grundsätzlich versagt 133 .

V I I I . Grundrechtsadressaten, „Drittwirkung" Gemäß Art. 1 III GG bindet Art. 5 I S. 1 1. HS GG „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht". Mithin ist insoweit Freiheit von staatlicher Einflußnahme garantiert.

125 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 116; Herzog in: Maunz/ Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 107; Isensee in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR, § 32 Rn. 81; Schaub, RdA 1979, 137, 141; BVerwG, RiA 1988, 125, 126. 126 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 116. 127 BVerfGE 8, 104, 115; Bleckmann, StaatsR II, S. 678. 128 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 7; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 116; s. auch Bleckmann, StaatsR II, S. 678; zur Redefreiheit des Abgeordneten: BVerfGE 60, 374, 380. 129 Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 17; Degenhart in: BK, GG I, Art. 5 Abs. 1 u. 2 (Zweitbearb.) Rn. 178; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 6; Stern, StaatsR III/l, S. 1126; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 111 f.; Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 15. 130 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 6; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 113; für oHG und KG z.B. BVerfGE 4, 7, 12; 10, 89, 99; für KG: BVerfGE 20, 162, 171. 131 Antoni in: Seifert/Hömig, GG, Art. 19 Rn. 9; vgl. auch BVerfGE 10, 89, 99. 132 Terminus z.B. bei Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 169. 133 BVerfGE 15, 256, 262; 21, 362, 369 f.; Katz, StaatsR, Rn. 605; zur Frage der Anwendbarkeit des Art. 5 I S. 1 1. HS GG s. etwa Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 16; Bleckmann, StaatsR II, S. 700; Hoffmann-Riem in: AK, GG I, Art. 5 Abs. l,2Rn. 29.

. Der Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

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Heutzutage besteht zudem Einigkeit, daß die Grundrechte auch das Privatrecht beeinflussen. Anders als der (freilich einschränkend ausgelegte134) Art. 118 I (S. 2) WRV enthält Art. 5 I S. 1 1. HS GG für die Meinungsfreiheit jedoch keine ausdrückliche Anordnung einer Drittwirkung. Der Streit, wie Grundrechte im Privatrechtsverhältnis, namentlich im Arbeitsverhältnis, wirken, ist im Rahmen der Meinungsfreiheit daher unter besonderen - historischen - Vorzeichen zu betrachten. Dem Problem kommt auch insoweit eine spezielle Bedeutung zu, als Art. 5 I S. 1 1. HS GG gerade ein Recht zur Einwirkung auf Dritte verbürgt 135 und somit die Frage nach der Grundrechtswirkung zwischen Privaten impliziert. Aus der nahezu unübersehbaren Literatur und Rechtsprechung zu dieser Frage sei nur kurz folgendes zusammengefaßt: Das Bundesverfassungsgericht ist lange von einer mittelbaren Drittwirkung 1 3 6 der Grundrechte im Privatrecht ausgegangen: Die Grundrechte gälten nicht unmittelbar; sie beeinflußten aber die Auslegung bürgerlich-rechtlicher Normen 137 . Namentlich die Generalklauseln des BGB sind dann „Einbruchsteilen" der Grundrechte in das bürgerliche Recht 138 . Diese Theorie von der mittelbaren Drittwirkung wird von der Mehrheit des Schrifttums vertreten 139 , entspricht insbesondere auch der h.M. in der arbeitsrechtlichen Literatur 140 . Nach früherer ständiger Rechtsprechung des BAG sollten die Grundrechte zum großen Teil auch im Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber,

134

Anschütz, Verfassung, Art. 118 Anm. 5. Vgl. Erichsen, Jura 1996, 84, 85. 136 Terminus z.B. bei Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 194; Alexy, Theorie, S. 481. 137 BVerfGE 7, 198, 205 f.; 18, 85, 92; 25, 256, 263; 34, 269, 280; 42, 143, 148; 52, 131, 165 f.; 54, 129, 135; 60, 234, 241; 62, 230, 242; 73,261,269 (besonders deutlich); 81, 242, 254 (anderer Ansatz aber auf S. 255). 138 Bezeichnung zunächst so bei Dürig in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, GrundRe II, S. 507, 525; BVerfGE 7, 198, 206 (Dürig zitierend); sodann: BVerfGE 42, 143, 148; 60, 234, (241,) 242; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 194; Katz, StaatsR, Rn. 737. 139 Peters, Entwicklung, S. 244 f.; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 189, 194; Hesse, Grundzüge, Rn. 351 ff., insbes. Rn. 356; Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 25; Katz, StaatsR, Rn. 737; Hoffmann-Riem in: AK, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 35; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 21; Dürig in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 1 Abs. III Rn. 132; Jauernig/Vollkommer, BGB, §242 Anm. I.l.c); Palandt/Heinrichs, BGB, § 242 Rn. 8. 140 Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte, S. 92 f. (, 172); Lepke, DB 1968, 1990, 1993; Ramm, ArbuR 1973, 220, 221; Kissel, NZA 1988, 145, 145; Zöllner in: Zöllner/Loritz, ArbeitsR, S. 83 f.; Schmid/Trenk-Hinterberger, Grundzüge, S. 47; Gitter, ArbeitsR, S. 20 f. 135

46

1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

d.h. im Verhältnis zweier Bürger zueinander gelten 141 (sog. unmittelbare Drittwirkung 142 ). In Teilen der Literatur findet sich dieselbe Konzeption 143 . Seit dem richtungsweisenden, mit der vorherigen Entscheidungspraxis brechenden Beschluß des Großen Senates vom 27.02.1985 144 geht nun aber auch das BAG von einer „nur" mittelbaren Wirkung der Grundrechte zwischen Privatrechtssubjekten aus 145 . Folglich besteht nun weitgehend Einigkeit. Die neuere Lehre und auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts tendieren allerdings nunmehr dazu, die Grundrechte im Privatrechtsverkehr dadurch wirksam werden zu lassen, daß aus den Grundrechten eine Schutzpflicht des Staates folge, die den Gesetzgeber 146, Gesetzgeber und Richter 1 4 7 oder, wie es namentlich Schwabe bereits Anfang der 70er Jahre vertrat, alle staatlichen Gewalten, alle Hoheitsträger 148 zum Einschreiten verpflichtet, zum „Eingreifen ... gegenüber gesellschaftlichen Mächten" 149 .

IX. Keine Begrenzung des Schutzbereiches durch Art. 5 I I GG Nach ganz überwiegender Ansicht entfällt unter den Voraussetzungen des Art. 5 II GG die Rechtswidrigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich der

141

BAGE 1, 185, 193 f. (Art. 5 GG); 4, 274, 276 f., 279 (Art. 6 GG); 13, 168, 174177 (Art. 12 GG); 24, 438, 441 (Art. 3 III, 5 I GG); der ersteren und der letzteren Entscheidung folgend ArbG Hamburg, NJW 1979, 2638, 2639 (Art. 5 GG). 142 Terminus z.B. bei Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 187; Alexy, Theorie, S. 481 f. 143 Nipperdey, GrundRe und PrivatR, S. 14 f.; ders., FS-Molitor, 17, 23 f.; Gamillscheg, AcP 164 (1964), 385,419; Kirschner, Grundrecht, S. 20; Olbersdorf, ArbuR 1958, 193, 200,202; Linnenkohl u.a., BB 1988, 57,59; Richardi in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR I, § 10 Rn. 50 (zur Meinungsäußerungsfreiheit); Schmittner, ArbuR 1968, 353, 353 (zur Meinungsäußerungsfreiheit); wohl auch Schaub, HdbArbR, S. 378 f, 969. 144 BAGE 48, 122 ff. 145 Anklingend evtl. schon in BAGE 47, 363, 374 f., 379 (II. Senat, Urteil vom 20.12.1984); sodann eindeutig: BAGE 48, 122, 138; 52, 88, 97 f.; 53, 226, 233 f.; s. auch BAGE 62, 59, 67 f. 146 Oeter, AöR 119 (1994), 529, 560-562; BVerfGE 81, 242, 255 (auf S. 254 aber noch Rückgriff auf die Beschreibung mittelbarer Drittwirkung im Lüth-Urteil). 147 Rüfner in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR V, §117 Rn. 59; Klein, NJW 1989, 1633, 1639 f.; wohl auch Dreier, Jura 1994, 505, 509-511. 148 Schwabe, Drittwirkung, S. 141, 145 f., 148; Schaub, RdA 1979, 137, 138 (bezüglich derjenigen Fälle, in denen der „Menschenrechtskern der Meinungsfreiheit berührt wird"); Isensee in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR V, § 111 Rn. 134; Robbers, Sicherheit, S. 201 f.; wohl auch Peters, Entwicklung, S. 243-247 (der Staat als der „eigentliche Verpflichtete"). 149 Oeter, AöR 119 (1994), 529, 561.

. Der Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

47

Meinungsfreiheit 150 . Nach anderer, insbesondere von Schmidt-Jortzig vertretener Auffassung sind hingegen die „Schranken" i.S.d. Art. 5 II GG als Begrenzungen bereits des Schutzbereiches zu verstehen 151. Für diese abweichende Ansicht findet sich indes keine Begründung. In der gängigen Literatur und Rechtsprechung sucht man zwar vergeblich nach einer Problematisierung der 152 Frage , doch ist vorliegend eine Stellungnahme unabdingbare Voraussetzung späterer strukturierter Analysen der einschlägigen arbeitsrechtlichen Entscheidungen. I. Wortlaut des Art. 5 II GG Bei der herkömmlichen Strukturierung der Grundrechte in Schutzbereich, Schranken und Schrankenschranken wird unter dem Stichwort der Schranke gefragt, ob ein Eingriff in den Schutzbereich gerechtfertigt ist, weil er von einer Schranke gedeckt ist 1 5 3 . Das spricht für die Auslegung der Elemente des „Schranken" setzenden Art. 5 II GG als Rechtfertigungsvoraussetzungen. Unterteilt man indes mit Schmidt-Jortzig „Schranken" in „Eingriffe" und „Grenzen" eines festgesteckten Schutzbereiches 154, so fuhrt die Wortlautauslegung zu keinem Ergebnis.

2. Systematik des Art. 5 GG Die Nennung der Schranken in Art. 5 II GG nach der Festschreibung verschiedener Rechte in Absatz 1 ist zum einen eine Vereinfachung dergestalt, daß die Schranken nur einmal, d.h. nicht für jedes Recht einzeln, angeführt werden müssen. Die Ausgliederung der Schranken aus Absatz 1 kann zum anderen

150

Deutliche Wortwahl bei: Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 645 und davor Überschrift IV; Katz, StaatsR, Rn. 641 i.V.m. Rn. 639 u. 627, 630; Stein, StaatsR, S. 313 (vor IX. 1); Reidt, Jura 1992, 548, 551; Hildebrandt, JuS 1993, 580, 583; Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 29, 32 (unter 3.); BVerfGE 73, 118,166; ebenso, aber weniger deutlich: BVerfGE 71, 162, 175; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 68; Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 154 f. 151 Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, §141 Rn. 40; wohl auch Rüfner in: FG-BVerfG II, 453, 457; unklar: BVerfGE 28, 282, 289 und darauf verweisend Schwerdtfeger, Öff. R, Rn. 449, insbes. i.V.m. Rn. 446-448. 152 Die Tatsache, daß zwei gegensätzliche Ansichten bestehen, wird immerhin ansatzweise dargestellt von Sachs, JuS 1995, 693, 694. 153 So z.B. Alexy, Theorie, S. 277; Katz, StaatsR, Rn. 627, 630; Höfling, Jura 1994, 169, 169-171; s. auch Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 214, 223 ff. (dort aber Verwischung der Begriffe „Eingriff und „Schranke"), 273 und davor Überschrift IV. 154 Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 40.

48

1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

aber ein Anhaltspunkt dafür sein, daß die Absätze 1 und 2 zwei unterschiedliche Ebenen der Struktur des Grundrechts (auf Meinungsfreiheit) betreffen. Das spräche für das ganz überwiegende Verständnis des Art. 5 II GG.

3. Entstehungsgeschichte der Norm Die Materialien zur Entstehung des Art. 5 I, II GG liefern für sich betrachtet keinerlei Anhaltspunkte für die Lösung des in Rede stehenden Problems 155 . Einzig in einer Begründung zur Wahl des Begriffes der „allgemeinen Gesetze" findet sich ein Hinweis darauf, daß man an die Regelung der WRV anknüpfen wollte 1 5 6 . Die Literatur der Weimarer Zeit gibt jedoch kaum Auskunft über die damalige dogmatische Einordnung der „allgemeinen Gesetze". Man findet nur undeutliche Anklänge, die für eine Auslegung Richtung „Schutzbereichsbegrenzung" 157 oder „Rechtfertigungsvoraussetzung" 158 allzu dürftig sind. Damit bleibt die historische Auslegung des Art. 5 II GG unergiebig.

4. Gesamtschau Die Auslegung des Art. 5 II GG ergibt nicht, daß man vom herkömmlichen Verständnis der „Schranken" als Rechtfertigungsvoraussetzungen abweichen müßte. Entscheidend gegen die Konzeption Schmidt-Jortzigs spricht zudem, daß sie mit der gängigen Definition der allgemeinen Gesetze nicht vereinbar ist: Wie später noch genauer erläutert werden wird, sind „allgemein" nach verbreiteter Auffassung diejenigen Gesetze, die sich nicht speziell gegen die Meinungsäußerung richten. Das heißt, daß sich nur auf der Basis des vordefinierten Schutzbereiches die Allgemeinheit eines Gesetzes ermitteln läßt. Aus dem Schutzbereich ergibt sich also, welche Gesetze allgemein sind. Schmidt-Jortzig hingegen behauptet, aus den allgemeinen Gesetzen ergäbe sich der Schutzbereich. Nach alledem ist der Ansatz Schmidt-Jortzigs abzulehnen und der herkömmlichen Konzeption zu folgen: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit wird nicht durch Art. 5 II GG begrenzt. Die Norm fixiert lediglich die Voraussetzungen für die Rechtfertigung eines Eingriffs.

155 156 157 158

Vgl. Matz in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 79-89. Matz in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 87. Evtl. Kaufmann, VVDStRL 4 (1928), 77, 81 (bei 4.). Evtl. Bühler, Reichsverfassung, Art. 118 zu Abs. I, 2. Absatz („eingreifen").

D. Die Eingriffe in den Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG

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D. Eingriffe in den Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG Eingriffe in Art. 5 I S. 1 1. HS GG können verschiedener Art sein: Zu nennen sind zunächst „rechtliche Eingriffe" 159 . Darunter fallen Verbote (mit Erlaubnis vorbehält 161 ) und „Äußerungsreglementierungen" 162 sowie entsprechende Sanktionen 163 . Ein Eingriff „ist ... nicht erst dann" zu bejahen, „wenn das grundrechtlich geschützte Verhalten selber eingeschränkt oder untersagt wird. Es genügt, daß nachteilige Rechtsfolgen daran geknüpft werden" 1 6 4 . 160

Unter dem Aspekt der negativen Meinungsfreiheit ist das Gebot einer bestimmten Äußerung als Eingriff anzusehen165. Des weiteren stellt jede tatsächliche Erschwerung oder Verhinderung einer Meinungsäußerung einen Eingriff dar 166 . Dazu gehört z.B. das Übertönen einer mündlichen Äußerung oder das Anhalten von Briefen 167 . Auch die Trennung des Sich-Äußernden von seinen Zuhörern stellt einen Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit dar 168 . Zu den faktischen Eingriffen zählt die h.M. zudem das heimliche Abhören oder Aufzeichnen von Meinungsäußerungen 169. Dies verletze „die Integrität einer Meinungsäußerung, ihre Unbefangenheit, 159

Terminus bei Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 26. Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 26; Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 76; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 18; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 634; Bleckmann, StaatsR II, S. 678; Erichsen, Jura 1996, 84, 86; Grimm, NJW 1995, 1697, 1700. 161 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 18; Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 77; Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 26. 162 Zitat: Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 26; s. auch Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 634. 163 Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 634; Grimm, NJW 1995, 1697, 1700. 164 BVerfGE 86, 122, 128; ohne entsprechende Kenntlichmachung wortgleich Preis/ Stoffels, RdA 1996, 210, 211 (nur Verweisung auf das BVerfG). 165 Bleckmann, StaatsR II, S. 678; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 634. 166 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 18; Schmidt-Jortzig in: Isensee/ Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 26; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 634. 167 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 18; Schmidt-Jortzig in: Isensee/ Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 26. 168 BayObLG, NJW 1969, 1127, 1127; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 18; Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 26; Bleckmann, StaatsR II, S. 678; Schaub, RdA 1979, 137, 139. 169 Bleckmann, StaatsR II, S. 678; Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 26; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 18; Herzog in: Maunz/ Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 79 f. i.V.m. Rn. 74-78 sieht darin eine gesonderte Eingriffsgruppe. 160

4 Wullkopf

50

1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

Exklusivität oder Vertraulichkeit" 170 . Nach anderer Ansicht stellt dieser Aspekt hingegen einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 I GG dar 171 . Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt zudem womöglich die Tendenz zur Entwicklung einer besonderen, einer indirekten Eingriffsform: Im Jahre 1976 vertrat erstmals die Richterin Rupp-von Brünneck in einem Sondervotum den Standpunkt, Art. 5 I S. 1 1. HS GG schütze den Grundrechtsträger auch vor „Verunsicherung" 172 . Wenn ein Grundrechtsträger aus Angst vor Sanktionen von seinem Äußerungsrecht vorsichtshalber keinen Gebrauch mache, bedeute das eine Verkürzung des Freiheitsbereiches 173. Zugleich werde der (öffentliche) Prozeß der Meinungsbildung beeinträchtigt 174. Sehr bald wurde dieser Gedankengang vom Bundesverfassungsgericht aufgegriffen 175 . Wenn heutzutage betont wird, ein Gericht verstoße gegen Art. 5 I S. 1 1. HS GG, wenn es einer mehrdeutigen Äußerung einen zur Verurteilung führenden Inhalt beilege, ohne andere Inhalte überzeugend auszuschließen176, so schwingt dabei der Gedanke der Verunsicherung mit: Der Grundrechtsträger soll nicht glauben, sich aus Angst vor Fehlinterpretationen „besondere Zurückhaltung auferlegen" zu müssen, und so in der Grundrechtsausübung behindert werden 177 . „Die Rechtsprechung zur Grundrechtsverunsicherung ist" indes „noch kaum näher ausgebildet" 178 . Insbesondere ist bis dato offen, ob eine Verunsicherung, also eine bloß indirekte Beeinträchtigung, als selbständiger Eingriff anzusehen • .179

ist

170 Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, §141 Rn. 26; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 18. 171 BVerfGE 34, 238, 246; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 2 Abs. 1 Rn. 67. 172 BVerfGE 42, 143, 154, 159 (, 162). 173 BVerfGE 42, 143, 154, 159 f. 174 BVerfGE 42, 143, 154, 162. 175 BVerfGE 43, 130, 136; 54, 129, 139; 54, 208, 219 f.; 60, 234, 241; 86, 1, 10; 93, 266, 293. 176 BVerfGE 82, 272,280 f.; 85, 1,14 f.; 86, 122,129; BVerfG, NJW 1993, 916, 916; BVerfG, NJW 1994, 2943, 2943. 177 BVerfGE 86, 122, 131 f. 178 Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 67. 179 Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 68.

E. Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 5 II GG

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E. Die Rechtfertigung von Eingriffen unter den Voraussetzungen des Art. 5 I I GG Ein Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit kann gerechtfertigt sein, wenn er von einer der in Art. 5 II GG aufgeführten Schranken gedeckt ist. Diese Norm nennt als Schranken die (im folgenden primär einschlägigen) allgemeinen Gesetze, die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und das Recht der persönlichen Ehre.

I. Die allgemeinen Gesetze 7. Der Begriff des Gesetzes Im Rahmen des Art. 5 I I GG wird hauptsächlich und teilweise ausschließlich diskutiert, wann ein Gesetz „allgemein" i.S. der Norm ist. Fraglich ist aber zunächst einmal, ob es sich bei allgemeinen „Gesetzen" um formelle Gesetze handeln muß oder ob jedes Gesetz im materiellen Sinne ausreicht. In Lehre und Rechtsprechung herrscht diesbezüglich keine Einigkeit. Nach einer vornehmlich im arbeitsrechtlichen Schrifttum zu findenden, oft umfangreich begründeten Ansicht ist ein formelles Gesetz erforderlich 180 , d.h. die Meinungsfreiheit könnte insoweit nur durch eine „Anordnung, die in Gesetzesform als Akt der Legislative zustande" gekommen ist, eingeschränkt werden 181 . (Auch Normen, die nach dem Grundgesetz dem parlamentarischen Gesetz gleichwertig sind, fallen dabei unter den Begriff des förmlichen Gesetzes182.) Vor allem in der öffentlich-rechtlichen Literatur und Rechtsprechung hingegen wird - sofern überhaupt eine entsprechende Aussage erfolgt - zumeist ver183 treten, daß ein materielles Gesetz ausreiche . Demnach könnte jede „von einer 180 Däubler, GewerkschaftsRe, Rn. 570-574 (insbes. Rn. 571); von Mangoldt/Klein, GG I, Art. 5 Anm. IX.3 a ; Art. 19 Anm. III. 3 („Gesetz" im Grundrechtskatalog bezeichne stets das formelle Gesetz); Kempff, Grundrechte, S. 51 (f.); Lepke, DB 1968, 1990, 1995 (zwar nach Fn. 88 mit der mißverständlichen Formulierung, „zu den allgemeinen Gesetzen zählen auf jeden Fall Gesetze sowohl im materiellen als auch im formellen Sinne"; der Fortgang des Satzes sowie die Aussage vor Fn. 91 machen indes deutlich, daß ein formelles Gesetz für notwendig gehalten wird); Buschmann/Grimberg, ArbuR 1989, 65,70; von Münch, Meinungsäußerung, S. 41; ArbG Hamburg, ArbuR 1996, 77, 79; LVG Hamburg, MDR 1953, 125, 126; Zachert, ArbuR 1984, 289, 292 f.; Löffler, DÖV 1957, 897, 898. 181 Vgl. statt vieler Katz, StaatsR, Rn. 7 (dort auch das Zitat) oder ähnlich Menger in: BK, GG III, Art. 19 Abs. 1 S. 1 (Zweitbearb.) Rn. 76, 159. 182 Sachs, JuS 1995, 693, 695. 183 BVerwGE 72, 183, 186; VGH Freiburg, JZ 1956, 18, (18,) 24 f.; OVG Münster, DVB1. 1969, 500, 501; OVG Münster, DVB1. 1972, 509, 509; Gornig, Äußerungsfreiheit, S. 587 (unter Hinweis auf die Rechtsprechung); Klein in: Schmidt-Bleibtreu/Klein,



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1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

staatlichen Autorität gesetzte Anordnung", also auch eine Satzung oder Gewohnheitsrecht zum allgemeinen Gesetz taugen 184 . An der Richtigkeit dieser These muß jedoch schon deshalb gezweifelt werden, da sie anders als die Gegenmeinung fast nie begründet wird. Überdies ist es höchst bedenklich, daß Befürworter des materiellen (Gewohnheitsrecht umfassenden) Gesetzesbegriffs zugleich hinsichtlich der offener formulierten Schranke des „Rechts der persönlichen Ehre" vertreten, Gewohnheitsrecht reiche nicht aus 185 , da die Zulässigkeit eines Eingriffs in ein Freiheitsrecht ohne gesetzliche Normierung dem heutigen Grundrechtsverständnis zuwiderlaufe 186 .

a) Grammatikalische Auslegung ' Der bloße Wortlaut des Art. 5 II GG gibt wegen der Existenz der zwei Gesetzesbegriffe keinen Anhaltspunkt, welcher der beiden Auffassungen zu fol187 gen ist . Auch das Grundgesetz selbst verwendet den Terminus des „Gesetzes" sowohl im formellen wie im materiellen Sinne 188 . Teilweise wird gar vertreten, die bloße Interpretation des Gesetzesbegriffs entweder im formellen oder im materiellen Sinne werde dem Gesetzesbegriff des Grundgesetzes nicht gerecht . GG, Art. 5 Rn. 13; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 646; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 73; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 118; Antoni in: Seifert/Hömig, GG, Art. 5 Rn. 21; Kemper, Pressefreiheit, S. 67 f.; Bäumer, BIStSozArbR 1981, 337,339; Erichsen, Jura 1996, 84,87; Preis/Stoffels, RdA 1996, 210,212; Hoffmann-Riem in: AK, GG I, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 39; Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rn. 46; Schmittner, ArbuR 1968, 353, 358 (, 363 vor Fn. 124) und Merklinghaus, Grundrecht, S. 48 f. jeweils auf dem Boden der Abwägungslehre; Reisnecker, Grundrecht, S. 173-175 (auf dem Boden einer besonderen Definition der Allgemeinheit); wohl auch Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. B.10; enger Hermes, Bereich, S. 99 f., 139 (allgemein fur den Gesetzesbegriff bei allen Grundrechten: materielles Gesetz ausreichend, wenn formalgesetzliche Grundlage vorhanden); differenzierend Schwark, Begriff, S. 132 f. (jedes materielle Gesetz „mit bestimmtem Anwendungs- und Sanktionsbereich"); BVerfGE 20, 162, 176 („allgemeine Rechtsordnung"); andere Tendenz aber in BVerfGE 7, 198, 208 (keine beliebige „Relativierung" der Meinungsfreiheit durch „einfaches Gesetz"). 184 Vgl. statt vieler Katz, StaatsR, Rn. 7 (dort auch das Zitat) oder Kemper, Pressefreiheit, S. 67 f. 185 Vgl. Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 82; wohl auch Klein in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 5 Rn. 13. 186 Vgl. Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 8; BVerfGE 33, 1, 16 f. 187 A.A. (zugunsten des formellen Gesetzes) ohne Begründung: Zachert, ArbuR 1984, 289, 292 f. 188 BVerfGE 1, 184, 189; Schmittner, ArbuR 1968, 353, 358 (auf BVerfG verweisend); Merklinghaus, Grundrecht, S. 48 (auf BVerfG verweisend); von Mangoldt/Klein, GG I, Art. 19 Anm. III.3.

E. Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 5 II GG

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Achterberg ist zwar der Ansicht, das Grundgesetz definiere durch die Regelung der formellen Gesetzgebung den Gesetzesbegriff i.S.d. formellen Gesetzes 190 . Wülfing übernimmt diese auf den Art. 76 ff. GG basierende These, wenn auch nur als Grundsatz 191 . Der Wortlaut des Gesetzesvorbehaltes in Art. 5 II GG enthalte aber keinen Hinweis darauf, daß ausnahmsweise kein formelles Gesetz als direkte Eingriffsgrundlage nötig sei 192 . Selbst wenn man, obwohl keine Anhaltspunkte für ein einheitliches Begriffsverständnis vorliegen 193 , der Prämisse von der grundsätzlichen Geltung des formellen Gesetzesbegriffs zustimmen könnte, so darf doch über das mögliche Vorliegen einer Ausnahme nicht nur anhand des Wortlautes der in Rede stehenden Norm entschieden werden. Auch die anderen Auslegungsmethoden müßten angewendet werden. Derselbe Einwand trifft die absolute Auffassung Achterbergs: Wer den einheitlich geltenden Gesetzesbegriff „allein aus dem Grundgesetz" ableitet 194 , muß den Auslegungskanon voll zur Geltung kommen lassen. Die reine Wortlautauslegung Achterbergs und Wülfings kann daher nicht überzeugen. Eine grammatikalisch-systematische Auslegung i.S. eines Vergleichs mit den Formulierungen der Schranken anderer Grundrechte führt wegen der Einzigartigkeit der Wortwahl in Art. 5 II GG ebenfalls zu keinem Ergebnis.

b) Historische Auslegung In einer Begründung des Redaktionsausschusses zur Wahl des Begriffes der „allgemeinen Gesetze" findet sich ein Hinweis darauf, daß der Begriff in glei195 eher Weise zu verstehen sei wie in der Weimarer Reichsverfassung . Das hier

189 Starck, Gesetzesbegriff, passim, insbes. S. 16 f., 166-168, 241, 269; Hesse, Grundzüge, Rn. 502; Jesch, Gesetz, S. 172, 185 (zum Haushaltsgesetz und dessen Qualifizierung); Krawietz, DÖV 1969, 127, 127 f.; Menger in: BK, GG III, Art. 19 Abs. 1 S. 1 (Zweitbearb.) Rn. 39; Heller, VVDStRL 4 (1928), 98, 134 f. und passim (zur Weimarer Reichsverfassung). 190 Achterberg, DÖV 1973, 289, 297. 191 Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 39; ohne Anknüpfung an die Art. 76 ff. GG ebenso: Maunz, Rechtsgutachten, S. 3 f. 192 Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 39 f. 193 Merklinghaus, Grundrecht, S. 48; Reisnecker, Grundrecht, S. 174. 194 Achterberg, DÖV 1973, 289, 290. 195 Vgl. Matz in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 87.

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1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

anstehende Problem, die Frage nach dem Sinn des Gesetzesbegriffs, ist mit dieser Passage allerdings nicht zu lösen: Eine zweifelsfreie Herleitung des Gesetzesbegriffs aus den Ansichten der Weimarer Zeit erforderte einerseits eine - tatsächlich aber nicht festzustellende 196 - einhellige damalige Interpretation. Eine Schlußfolgerung aus den Positionen der Weimarer Zeit wäre andererseits aber ohnehin nicht überzeugend, da das erwähnte Anknüpfen des Redaktionsausschusses an die Weimarer Zeit ausschließlich das Erfordernis der Allgemeinheit des Gesetzes, nicht hingegen den Gesetzesbegriff selbst betrifft: „Verboten bliebe allerdings ein Spezialgesetz, das sich gegen eine bestimmte 197

Meinung richte. Dies entspreche der Regelung der RV." Die historische Auslegung bringt insoweit also kein Ergebnis. Gleichwohl ergibt sich aus den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, unabhängig von den Ansichten der Weimarer Zeit, ein Hinweis für das Verständnis des Gesetzesbegriffs in Art. 5 II GG: Der Herrenchiemseer Entwurf sah in Art. 21 I I I die Geltung auch der Meinungsfreiheit nur „im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung" vor; Art. 21 IV statuierte die Einschränkbarkeit der Grundrechte lediglich „durch Gesetz" 198 . Auf diese weite Formulierung griff der Parlamentarische Rat in keinem Stadium seiner Verhandlungen zurück. Der Grundsatzausschuß schlug zuerst folgende von einem Unterausschuß erarbeitete Fassung vor: „(4) Diese Rechte finden ihre Grenze in der Pflicht zur Treue gegenüber der Verfassung, an den Vorschriften der Strafgesetze^ 9', an den allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend, insbesondere im Filmwesen und an dem Recht der persönlichen Ehre." 200 Der Entwurf des Allgemeinen Redaktionsausschusses enthielt sodann den Begriff der „ allgemeinen Vorschriften der Strafgesetze". Das Erfordernis der Allgemeinheit wurde damit begründet, daß es keine speziell gegen eine Mei201 nung gerichtete Vorschriften geben dürfe . Die zitierte Formulierung findet 196

Zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung wurde z.T. vertreten, alle „Rechtsnormen schlechthin" könnten allgemeine Gesetze i.S.d. Art. 1181 S. 1 WRV sein (Zitat: Häntzschel, AöR 49 (1926), 228,236; ähnlich (implizit) Anschütz, WRV, Art. 118 Anm. 4.d). Es finden sich indes auch engere Formulierungen, etwa dergestalt, daß die Rechtsausübung „im Rahmen der Gesetze und gesetzmäßig erlassenen Verordnungen" gewährleistet sei (Zitat: Rothenbücher, VVDStRL 4 (1926), 6, 17; ähnlich Hellwig in: Nipperdey, GrundRe II (1930), Art. 118 Anm. III.B.2 [S.19]). 197 Matz in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 87. 198 Zitiert nach: Verfassungsausschuß, Bericht, S. 63; s. auch die Kommentierung im Darstellenden Teil des Berichts (S. 22). 199 Im Original kein kursiver Druck. 200 Matz in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 80. 201 Matz in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 81 f. (im Original kein kursiver Druck).

E. Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 5 II GG

55

sich auch im folgenden, dann vom Hauptausschuß akzeptierten Entwurf des Grundsatzausschusses202. Bis zu diesem Zeitpunkt war nach dem Grundsatz „nulla poena sine lege scripta" 203 klar, daß Einschränkungen der Meinungsfreiheit z.B. durch Gewohnheitsrecht nicht statthaft sein sollten. Dies spricht gegen ein Verständnis der jetzigen Formulierung als „materielle Gesetze". Gleichwohl wäre es unzulässig, daraus auf die zwingende Notwendigkeit einer Interpretation im formellen Sinne zu schließen: Eine Bestrafung aufgrund Gewohnheitsrechts ist zwar ausgeschlossen, nicht dagegen eine solche aufgrund etwa einer Rechtsverordnung 204. Der „nulla poena"-Satz verlangt also lediglich Schriftform, nicht dagegen, daß die Strafhorm ein formelles Gesetz sein müßte. Obgleich die ursprünglich geplante Verwendung des Begriffes der „Strafgesetze" gegen ein weites, materielles Verständnis der heutigen Fassung spricht, so liefert dies für die Interpretation im formellen Sinne doch kein eindeutiges Argument, wohl aber ein starkes Indiz. Im weiteren Verlauf der Beratungen schlug der Allgemeine Redaktionsausschuß sodann eine Variante vor, in der die „allgemeinen Gesetze" als Schranken der Meinungsfreiheit (und der in demselben Artikel garantierten Pressefreiheit) genannt wurden. Die Anmerkung dazu besagte, daß die Pressefreiheit nicht nur von allgemeinen Sfrq/gesetzen, sondern auch von anderen allgemeinen Vorschriften begrenzt werden müßte. Namentlich enthalte ein Pressegesetz nicht bloß strafrechtliche Regelungen205. Grundsatzausschuß und Hauptausschuß folgten dem zunächst nicht und forderten erneut die Beschränkung durch die „allgemeinen Vorschriften der Strafgesetze" 206. Der Allgemeine Redaktionsausschuß blieb bei seinem nächsten Vorschlag jedoch bei der Formulierung der „allgemeinen Gesetze". Nochmals wurde erläutert, daß ein Pressegesetz nur bei dieser Wortwahl Normen enthalten dürfte, die die Meinungsfreiheit ein207

schränkten und dabei nicht strafbewehrt wären Der Hauptausschuß änderte für seinen nächsten Vorschlag auf Anregung des Redaktionsausschusses aber lediglich die Formulierung „allgemeine Vorschriften der Strafgesetze" in „Vorschriften der allgemeinen Strafgesetze" um 2 0 8 .

202 203 204 205 206 207 208

Matz in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 84 f. Vgl. dazu z.B. Maurach/Zipf, StrafR AT 1, § 10 Rn. 9. Maurach/Zipf, StrafR AT 1, § 10 Rn. 9. Matz in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 85. Matz in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 86 f. Matz in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 87. Matz in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 88.

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1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

Die heutige Fassung ist das Ergebnis eines wieder die „allgemeinen Gesetze" enthaltenden, nicht nochmals begründeten Vorschlags des Allgemeinen Redaktionsausschusses, der später ohne Erörterung durch Hauptausschuß und Plenum akzeptiert wurde 209 . Von der Formulierung der „allgemeinen (Vorschriften der) S/ra/gesetze" rückte man also lediglich ab, um die Existenz nicht-strafbewehrter Vorschriften eines Pressegesetzes zu ermöglichen. Daß bei Schaffung und Billigung der neuen Version daran gedacht wurde, daß ein „allgemeines Gesetz" im Gegensatz zum „Strafgesetz" nicht unbedingt eine lex scripta sein müßte, ist insbesondere wegen der presserechtlichen Motivierung der Änderung schon prima facie höchst zweifelhaft. Dies gilt um so mehr als im (Rundfunk- und) Presserecht keine ungeschriebenen Normen gelten 210 . Das Verständnis des „Gesetzes" in Art. 5 II GG als lex scripta verbietet somit, wie schon dargelegt, jedes Gesetz im materiellen Sinne ausreichen zu lassen. Es findet sich kein Hinweis darauf, daß die endgültige Version („allgemeine Gesetze") eine Rückkehr zu der nie mehr erwähnten weiten Formulierung des Herrenchiemseer Entwurfs („allgemeine Rechtsordnung", „durch Gesetz") bedeuten sollte. Gerade solch eine Rückkehr zu umfassenderer Einschränkbarkeit vollzöge man aber, wenn man als „allgemeines Gesetz" jedes materielle Gesetz genügen ließe. Vorläufiges Ergebnis der historischen Auslegung des Art. 5 II GG ist also, daß als „allgemeines Gesetz" zumindest nicht jedes materielle Gesetz ausreicht. Wie gezeigt, zwingt diese Erkenntnis aber nicht unbedingt zu einem formellen Verständnis. Die Entstehungsgeschichte der Norm legt vielleicht sogar nahe, eine lex scripta zu fordern. Ein solcher Ansatz entspräche denjenigen kritischen Stimmen der Literatur, die die bloße Unterscheidung in formelle und materielle Gesetze als ungenügend, als dem Gesetzesbegriff des Grundgesetzes nicht gerecht werdend ansehen211. Die Frage, ob die historische Auslegung des Art. 5 II GG ergibt, daß zwar kein materielles, wohl aber ein geschriebenes Gesetz ausreicht, kann indes offenbleiben, da die systematisch-teleologische Auslegung ein Verständnis im Sinne nur von „lex scripta" ohnehin verbietet.

209

Matz in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 88 f., mit Fn. 74. Vgl. Löffler/Ricker, HdbPresseR, 2. Kap., passim. 2,1 Starck, Gesetzesbegriff, passim, insbes. S. 16 f., 166-168, 241, 269; Hesse, Grundzüge, Rn. 502; Jesch, Gesetz, S. 172, 185; Krawietz, DÖV 1969, 127, 127 f.; Menger in: BK, GG III, Art. 19 Abs. 1 S. 1 (Zweitbearb.) Rn. 39; Heller, VVDStRL 4 (1928), 98, 134 f. und passim (zur Weimarer Reichsverfassung). 210

E. Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 5 II GG

57

c) Systematisch-teleologische Auslegung aa) Die allgemeinen Gesetze und die weiteren Schranken des Art. 5 II GG Unbrauchbar ist die systematische Argumentation Däublers, daß ein Verständnis der „allgemeinen Gesetze" im materiellen Sinne abzulehnen sei, weil es die Existenz der weiteren Schranken des Jugend- und des Ehrenschutzes überflüssig machte 212 . Gerade wenn man wie Däubler der Ansicht ist, Art. 5 II GG enthalte drei selbständige Schranken 213, so fehlt den Jugend- und Ehrenschutzvorschrifiten doch gerade das Allgemeinheitserfordernis 214. Dieser Unterschied wird von der Interpretation des Begriffs der „Gesetze" nicht berührt, so daß Däublers Ansatz abzulehnen ist.

bb)Art. 104 IS. 1 GG Hermes weist bei seiner Suche nach dem generellen Gesetzesbegriff der Grundrechtsvorbehalte auf die Formulierung des Art. 104 I S. 1 GG hin 2 1 5 . Diese Norm ergänzt und verstärkt den Schutz des Grundrechts aus Art. 2 II S. 2, 3 GG 2 1 6 dahingehend, daß die Freiheit der Person nur „auf Grund eines förmlichen Gesetzes" beschränkt werden kann. Hermes behauptet nunmehr, „der mögliche Gegenschluß, nach dem in allen anderen Fällen, bei denen das Adjektiv ,förmlich' fehlt, ein materielles Gesetz zur Einschränkung des Grundrechts genügt, ist, soweit ersichtlich, aber von niemandem gezogen worden" 217 . Wieso auch Hermes selbst diesen Weg nicht wählt, wird nicht klar; weitere Erläuterungen fehlen. Namentlich aus der Entstehung des Art. 104 I GG ergeben sich aber auch keinerlei Anhaltspunkte für die Auslegung des Erfordernisses des formellen Gesetzes. Die heutige Formulierung war im Herrenchiemseer Entwurf nicht enthalten 218 , tauchte aber bereits in der ersten vom Parlamentarischen Rat diskutierten Fassung auf 2 1 9 , ohne daß nähere Erläuterungen zu finden wären. Mangels anderer Anhaltspunkte ist daher davon auszugehen, daß ein argumen212

Vgl. Däubler, GewerkschaftsRe, Rn. 572. Vgl. Däubler, GewerkschaftsRe, Rn. 572: „die beiden anderen Schranken". 214 Näher dazu unten (II., vor 1.). 2,5 Hermes, Bereich, S. 96. 216 Hömig in: Seifert/Hömig, GG, Art. 104 Rn. 1-3. 217 Hermes, Bereich, S. 96. 218 Vgl. Verfassungsausschuß, Bericht, S. 62: Art. 3 HChE als Vorläufer der Art. 2 II S. 2, 3, Art. 104 GG. 219 Vgl. von Doemming in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 745 f. 213

58

1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

tum e contrario vorliegend ebenso richtig oder weniger richtig wäre wie die Annahme, Art. 104 I S. 1 GG betone lediglich die ansonsten selbstverständliche Notwendigkeit eines formellen Gesetzes. Art. 104 I S. 1 GG taugt also nicht zur systematischen Auslegung des Art. 5 II GG.

cc) Art 191 GG Nach einhelliger Ansicht ist der Begriff des Gesetzes in Art. 1 9 I G G im 220

formellen Sinne zu verstehen . Trotz aller Streitigkeiten um den Anwendungsbereich der S. 1 und 2 dieser Norm besteht doch insoweit Einigkeit 221 , als Grundrechte mit einfachem Gesetzesvorbehalt von beiden Sätzen erfaßt werden 222 . Sofern ein Grundrecht also einfach durch oder aufgrund eines Gesetzes, das keine weiteren Anforderungen erfüllen muß, eingeschränkt werden kann 223 , muß dieses Gesetz - entsprechend der Interpretation des Art. 1 9 I G G - ein formelles sein. Wenn „allgemeines Gesetz" i.S.d. Art. 5 II GG nun aber jedes materielle Gesetz sein könnte, so entfiele die Notwendigkeit einer wenigstens indirekten Grundlage in einem formellen Gesetz. Verzichtet man also bei den „allgemeinen Gesetzen" auf das Erfordernis eines formellen Gesetzes, so wäre die mit dem engeren Vorbehalt ausgestattete Meinungsfreiheit insoweit weniger geschützt als Grundrechte, die nur mit einfachem Gesetzesvorbehalt versehen sind 224 . Ein solches Ergebnis wäre widersprüchlich und entspräche insbesondere nicht der eingangs dargestellten überragenden Bedeutung der Meinungsfreiheit in unserem Staatswesen225. Nicht jedes materielle Gesetz kann daher allgemeines „Gesetz" i.S.d. Art. 5 II GG sein. Entgegen der Ansicht Kempffs 226 und Däublers 227 zwingt dies jedoch nicht zu dem Schluß, daß also nur ein formelles Gesetz direkte Eingriffsgrundlage 220 Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19 Rn. (l-)3; Krebs in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 19 Rn. 4; Menger in: BK, GG III, Art. 19 Abs. 1 S. 1 (Zweitbearb.) Rn. 76, 159; Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 19 Anm. B.2.d; von Mangoldt/Klein, Art. 19 Anm III.3; Kempff, Grundrechte, S. 51. 221 I.d.R. implizit, da meist nur die (möglichen) Ausnahmen vom Anwendungsbereich erläutert werden. 222 Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19 Rn. 3; Herzog in: Maunz/Dürig, GG II, Art. 19 Abs. I Rn. 21, 58; Denninger in: AK, GG I, Art. 19 Abs. 1 Rn. 9, 17 f.; Kempff, Grundrechte, S. 51. 223 Vgl. die Definition des einfachen Gesetzesvorbehalts statt vieler bei Pieroth/ Schlink, GrundRe, Rn. 274 (i.V.m. 276). 224 Kempff, Grundrechte, S. 52; ohne Anknüpfung an Art. 19 I GG: Däubler, GewerkschaftsRe, Rn. 573. 225 Vgl. Kempff, Grundrechte, S. 52; Däubler, GewerkschaftsRe, Rn. 573. 226 Kempff, Grundrechte, S. 51 f.

E. Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 5 II GG

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sein darf. Vielmehr kann nur festgestellt werden, daß zumindest eine formalgesetzliche Grundlage notwendig ist. Der Gesetzesbegriff in Art. 5 II GG umfaßt demzufolge alle materiellen Gesetze, die selbst formeller Natur sind oder wenigstens auf ein formelles Gesetz zurückgeführt werden können. Dieses mehrschichtige Verständnis eines einheitlichen Begriffes mag man als unbefriedigend verwerfen und so doch zum Erfordernis eines formellen Gesetzes kommen. Diese Überlegung ist indes keinesfalls zwingend, so daß die Interpretation des Art. 5 II GG im Lichte des Art. 19 I GG letztlich kein völlig 228

überzeugendes Ergebnis liefert

dd) Der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes Ein brauchbares Ergebnis findet man indes mit Hilfe der - auch das Verständnis des Art. 19 I GG prägenden - allgemeinen Lehre vom Gesetzesvorbehalt und ihrer Fortentwicklung in Gestalt der Wesentlichkeitstheorie:

227

Däubler, GewerkschaftsRe, Rn. 573 i.V.m. 571. Vor dem Hintergrund dieser Argumentation kann im übrigen dahingestellt bleiben, ob die „allgemeinen Gesetze" von Art. 191 S. 1 GG (gegen eine Erfassung der „allgemeinen Gesetze": Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19 Rn. 1,3 f.; Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 149; dafür: Menger in: BK, GG III, Art. 19 Abs. 1 S. 1 [Zweitbearb.] Rn. 87 (, 89); Herzog in: Maunz/Dürig, GG II, Art. 19 Abs. I Rn. 21, 58; Krebs in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 19 Rn. 13; Denninger in: AK, GG I, Art. 19 Abs. 1 Rn. 9) bzw. Art. 191 S. 2 GG (gegen eine Erfassung der „allgemeinen Gesetze": BVerfGE 28, 282, 289; 33, 52, 77 f.; 44, 197, 201; 64, 72, 80; BVerwGE 72, 183, 186; Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19 Rn. 1, 3 f.; Menger in:BK, GG III, Art. 19 Abs. 1 S. 2 [Zweitbearb.] Rn. 169 [f.]; Schmittner, ArbuR 1968, 353, 364; Schwark, Begriff, S. 138; dafür: Schüssler, NJW 1965, 282, 283; Herzog in: Maunz/Dürig, GG II, Art. 19 Abs. I Rn. 58; Denninger in: AK, GG I, Art. 19 Abs. 1 Rn. 18) erfaßt werden. Fiele der Vorbehalt der allgemeinen Gesetze gar nicht unter Art. 19 I GG, so tangierte das die obigen Erwägungen nicht. Wäre zumindest ein Satz des Art. 19 I GG auf die allgemeinen Gesetze anwendbar, so brächte diese Erkenntnis auch kein anderes oder weiteres Ergebnis. Es wäre nämlich offen, ob ein allgemeines „Gesetz" stets nur das formelle Gesetz des Art. 19 I GG wäre oder ob untergesetzliche allgemeine „Gesetze" denkbar wären, die, da sie eben keine formellen Gesetze wären (zur Nichtanwendbarkeit des Art. 19IGG auf untergesetzliches Recht s.statt vieler Krebs in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 19 Rn. 4), nicht in den Anwendungsbereich des Art. 19 I GG fielen. Aufgrund dieses Problems, ob sich die Gesetzesbegriffe deckten oder aber der des Art. 19 I GG nur quasi eine Untermenge darstellte, bliebe also auch bei der Annahme einer (teilweisen) Erfassung der allgemeinen Gesetze durch Art. 19 I GG nur die obige Argumentation nachvollziehbar. 228

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1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

(1) Der Vorbehalt des Gesetzes in der konstitutionellen Monarchie Namentlich im 19. Jahrhundert setzte sich aufgrund des Spannungsverhältnisses zwischen monarchischer Exekutive und demokratischem Parlament der Grundsatz durch, daß Eingriffe der Zweiten Gewalt in Freiheit und Eigentum der Bürger einer gesetzlichen Ermächtigung bedurften 229 . Auf diesem Wege sollte einerseits Berechenbarkeit und Beschränkung monarchischen Handelns erzielt werden (rechtsstaatlicher Aspekt); andererseits sollte eine politische Mitwirkung der Volksvertretung gesichert werden (demokratischer Aspekt) 230 . Das Erfordernis gesetzlicher Ermächtigung machte indes keine gesetzgeberische Normierung der Einzelheiten notwendig; vielmehr konnte der Gesetzgeber die Verwaltung zur Schaffung umfangreicher Regelungen ermächtigen. Auch dann war mit der gesetzlichen Basis dem Vorbehalt des Gesetzes Genüge ge,

231

tan Bei Art. 5 II GG geht es gerade um Eingriffe in ein Freiheitsgrundrecht, so daß nach der alten Freiheit- und Eigentumsformel zumindest eine indirekte gesetzliche Grundlage notwendig wäre. Dem widerspräche es, als allgemeines „Gesetz" jedes materielle Gesetz ausreichen zu lassen, denn dann wäre nicht einmal eine indirekte Eingriffsermächtigung durch ein Parlamentsgesetz notwendig. Entsprechend der soeben entwickelten Argumentation zu Art. 19 I GG wäre also ein materielles Gesetz erforderlich, das entweder selbst formeller Natur ist oder aber wenigstens auf ein formelles Gesetz zurückgeführt werden kann.

(2) Der Vorbehalt des Gesetzes unter den Bedingungen des Grundgesetzes (a) „Veränderungen des Umfeldes des Vorbehaltsgedankens" 232 Die Bedingungen des Konstitutionalismus, die den Vorbehalt des Gesetzes in der geschilderten Form hervorbrachten und rechtfertigten, existieren nicht

229 O. Mayer, Dt. VerwR I, S. 69-71; Thoma in: Anschütz/Thoma, HdbDStR II (1932), § 76 S. 230 f.; Kloepfer, JZ 1984, 685, 685 f.; Pietzcker, JuS 1979, 710, 711 f. 230 Pietzcker, JuS 1979, 710, 712; Kloepfer, JZ 1984, 685, 685 f. (ohne Zuordnung zu Demokratie resp. Rechtsstaat). 231 O. Mayer, Dt. VerwR I, S. 73; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 286; a.A. Thoma in: Anschütz/Thoma, HdbDStR II (1932), §76 S. 230: „mit der Einschränkung, daß auch gewisse, von den unabhängigen Justiz- und Verwaltungsgerichten anerkannte gewohnheitsrechtliche oder vorkonstitutionelle Ermächtigungen die Rechtsgrundlage zu generellen und individuellen Eingriffen in ,Freiheit und Eigentum' zu bilden vermöchten". 232 Kloepfer, JZ 1984, 685, 686.

E. Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 5 II GG

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mehr. Gravierende Veränderungen, von denen nur die zwei wichtigsten 2 ' 1 erläutert werden sollen, sind eingetreten: Nach Art. 20 II S. 1 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Demokratisch legitimiert und insoweit zu besonderer politischer Mitwirkung berufen ist nicht nur das Parlament, sondern auch (zumindest mittelbar) die Exekutive. Anfangs wurde namentlich von der Rechtsprechung noch vertreten, die direkte Legitimation des Parlamentes begründe eine Suprematie der Volksvertretung 234 . Zum Teil wurde daraus sogar abgeleitet, jedes staatliche Handeln bedürfe einer gesetzlichen Grundlage 235 (sog. Totalvorbehalt 236 ). Insbesondere seit dem Kalkar-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts 2^7 besteht heutzutage jedoch Einigkeit, daß die ohnehin nur personelle 238 Indirektheit der Legitimation der Exekutive keine mindere Qualität demokratischer Legitimation bedeutet 239 . Vielfach wird betont, daß die ehedem scharfe Trennung von Exekutive und Legislative nicht mehr besteht: „Regierungsparteien, Parlamentsmehrheit und Regierung sitzen politisch in einem Boot. Ihr gemeinsamer Gegner ist die Oppositionspartei und deren Fraktion im Parlament" 240 . Die (etwa in der Wahl des Kanzlers durch das Parlament zum Ausdruck kommende 241 ) enge Verflechtung von Exekutive und Parlament 242, die vom Volk 233

Nicht weiter eingegangen wird hier etwa auf die These Vogels aus dem Jahre 1965, der überkommene Vorbehalt des Gesetzes sei „als ein b e s o n d e r e r Grundsatz n e b e n dem Grundrechtssystem e n t b e h r l i c h geworden" (Sperrungen im Original). Dieser Ansatz hat sich nicht durchgesetzt. Ihm folgend 1973 aber etwa noch Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 27 ff., 210 f. 234 BVerfGE 33, 125, 159; 40, 237,249; Jesch, Gesetz, S. 171 f.; schon im Jahre 1927: Merkl, Allg. VerwR, S. 170 f. 235 Imboden, Gesetz, S. 41 f.; Jesch, Gesetz, S. 205, nähere Ausführungen: S. 226 ff.; Spanner, 43. DJT 1/2, S. 15; Merkl, Allg. VerwR (1927), S. 167-171; weitere Argumentationsansätze: - Vergabe/Verweigerung von Leistungen könne für Bürger ebenso relevant sein wie ein Eingriff (Scupin, VVDStRL 16 (1958), 261, 264); - „Interdependenz von Eingriffen und Leistungen" (Imboden, Gesetz, S. 41 f., Zitat: S. 42; ähnlich Hamann in: Hamann/Lenz, GG, Art. 20 Anm. B.9.b). 236 Terminus z.B. bei Katz, StaatsR, Rn. 192. 237 BVerfGE 49, 89 ff. 238 Vgl. die ausfuhrliche Differenzierung nach institutioneller, funktioneller und personeller Legitimation bei Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften, S. 196 ff. 239 BVerfGE 49, 89, 125 f.; 68, 1,86 f., 88; wohl auch VGH Kassel, DVB1. 1963, 443, 446 f.; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften, S. 197-199, 228; Pietzcker, JuS 1979, 710, 713; Kisker, NJW 1977, 1313, 1314; Böckenförde/Grawert, AöR 95 (1970), 1, 25 f.; Eberle, DÖV 1984, 485, 489; von Arnim, DVB1. 1987, 1241, 1242 f. 240 Kisker, NJW 1977, 1313, 1314. 241 Eberle, DÖV 1984, 485, 489. 242 Eberle, DÖV 1984, 485,489; Kloepfer, JZ 1984, 685, 686; Rengeling, NJW 1978, 2217, 2218.

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1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

ausgehende Staatsgewalt ausüben, führt dazu, daß die ursprüngliche Begründung des Vorbehalts des Gesetzes mit der Notwendigkeit einer Beschränkung der Exekutive heute nicht mehr tragfähig ist. Als weitere wichtige Veränderung „des Umfeldes des Vorbehaltsgedankens bleibt zu nennen, daß der Bürger vom Staat des 19. Jahrhunderts primär Eingriffe zu erwarten hatte. Unter dem Grundgesetz hingegen fallen dem Staat vielgestaltige Leistungsaufgaben zu. Somit existiert heute ein Bereich staatlichen Handelns, der bei Entstehung der Eingriffsformel so nicht bestand 244 . Naheliegend ist daher die Überlegung, ob der herkömmliche Vorbehalt einer Ausdehnung auf die neuen Staatsaufgaben bedürfte. Schon bald nach Inkrafttreten des Grundgesetzes wurde in der Lehre vielfach erkannt, daß die Versagung oder Gewährung staatlicher Leistungen für den Bürger mindestens ebenso bedeutungsvoll und belastend sein kann wie ein staatlicher Eingriff 245 . Es entbrannte eine heftige Diskussion um die Ausdehnung des Vorbehalts des Gesetzes auf die Leistungsverwaltung 246. Die Frage hat aufgrund fortschreitender gesetzlicher Durchdringung der Leistungsverwaltung inzwischen zwar weitgehend an Aktualität verloren 247 . Gleichwohl bleibt festzuhalten, daß die ursprüngliche Konzeption der Eingriffsformel in unserem heutigen Staatswesen zumindest ergänzungsbedürftig ist.

(b) Erweiterung oder Verwerfung der herkömmlichen Vorbehaltsformel die Wesentlichkeitstheorie War die Literatur wie gezeigt schon frühzeitig um eine Vorbehaltserweiterung bemüht, so folgten erst spät entsprechende Schritte der Rechtsprechung. 1975 formulierte der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts deutlich, daß „eine Ausdehnung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts über die überkommenen Grenzen hinaus" notwendig sei 248 . Gleichzeitig scheint sich das Gericht in weiteren Entscheidungen von der überkommenen Eingriffsformel ganz lösen zu wollen 2 4 9 . Es wird betont, daß der Gesetzgeber „auch außerhalb des Be-

243

Kloepfer, JZ 1984, 685, 686. Kloepfer, JZ 1984, 685, 686. 245 VGH Kassel, DVBL. 1963, 443, 447 f.; Scupin, VVDStRL 16 (1958), 261, 264; Kisker, NJW 1977, 1313, 1314; Imboden, Gesetz, S. 42. 246 S. Hamann in: Hamann/Lenz, Art. 20 Anm. B.9.b; Darstellung der Argumente zusammenfassend bei Degenhart; StaatsR I, Rn. 281 f. 247 Degenhart, StaatsR I, Rn. 285; Maurer, Allg. VerwR, § 6 Rn. 13. 248 BVerfGE 40, 237, 249; Ansätze aber schon in BVerfGE 8, 155, 166 f. 249 BVerfGE 47, 46, 78 f.; 49, 89, 126; 57, 295, 320 f.; 58, 257, 268. 244

E. Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 5 II GG

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reichs des Art. 80 GG ... die grundlegenden Entscheidungen selbst zu treffen und zu verantworten" habe 250 . Ein neues Kriterium für den Gesetzesvorbehalt scheint geschaffen zu sein, wenn formuliert wird, der Gesetzgeber müsse alle „wesentlichen" Entscheidungen selbst treffen und dürfe sie nicht der Exekutive überlassen 251. Die vom Gericht selbst behauptete Loslösung von der Eingriffsformel findet indes gar nicht statt: Weiterhin wird stets betont, daß Eingriffe (in Freiheit und Eigentum) der gesetzlichen Grundlage bedürften 252 . Die Rechtsprechung kann also allenfalls so verstanden werden, daß jedenfalls für Eingriffe stets ein Gesetz notwendig ist; unabhängig vom Merkmal des Eingriffs ist ein Gesetz zudem für alle wesentlichen Entscheidungen erforderlich 253 . Da es hier bei Art. 5 II GG ohnehin um Eingriffe geht, kann die Erweiterung der Eingriffsformel einschließlich der höchst umstrittenen Wesentlichkeitsdefinition beiseite gelassen werden. Als allgemeines „Gesetz" könnte keinesfalls jedes materielle Gesetz genügen, denn dann wäre nicht einmal eine indirekte Eingriffsermächtigung durch Parlamentsgesetz notwendig. Entsprechend der obigen Argumentation kommt man wiederum zu dem Ergebnis, daß ein allgemeines „Gesetz" selbst formeller Natur oder wenigstens auf ein formelles Gesetz zurückführbar sein müßte 254 . Die Wesentlichkeitstheorie enthält jedoch noch eine zweite Stufe. Weite Teile der Literatur beschreiben nachdrücklich, was der Rechtsprechung vielfach zugrunde liegt, jedoch nur selten deutlich zum Ausdruck kommt 2 5 5 : Zunächst muß, wie soeben geschehen, gefragt werden, ob überhaupt eine - wenn auch nur indirekte - gesetzliche Grundlage erforderlich ist. Sodann ist auf einer zweiten Ebene zu klären, welche Regelungen so wesentlich sind, daß der Gesetzgeber sie nicht der Verwaltung überlassen darf 256 . Der so begründete Par-

250

BVerfGE 40, 237, 250. BVerfGE 41, 251, 259 f.; 45, 400, 417 f.; 47, 46, 78 f.; 49, 89,126; 57, 295, 320 f.; 58, 257, 268; 83, 130, 142; s. auch BVerwGE 47, 201, 203; 64, 308, 310. 252 BVerfGE 8, 155, 166 f.; 20, 150, 157 f.; 22, 330, 345; 47, 46, 79; 48, 210, 221; 49, 89, 126 f.; 51, 257, 287; 57, 170, 182, 182 (abweichende Meinung des Richters Hirsch); 58, 257, 268 (E 47, 46, 79 f. zitierend); ebenso BVerwG, NJW 1981, 242, 242; BVerwGE 41, 106, 108 f. 253 So etwa auch die Darstellungen bei Katz, StaatsR, Rn. 193; Degenhart, StaatsR I, Rn. 278, 294, 299; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 289. 254 S. soeben unter (1) a.E. 255 S. aber BVerfGE 49, 89, 127,129; 58, 257,274; 83, 130, (142,) 152; auch BayVerfGH, DÖV 1982, 691, 696. 256 Hennecke, DÖV 1982, 696, 696; Eberle, DÖV 1984, 485,486; Erichsen, VerwArch 67 (1976), 93, 97 f.; Henke, AöR 101 (1976), 576,585; Falckenberg, BayVBl. 1978, 166, 166; Pietzcker, JuS 1979, 710,715; Frotscher, WirtschaftsverfassungsR, Rn. 400 mit Fn. 75; inhaltlich ebenso, nur mit vertauschten Begriffen: Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften, S. 214 Fn. 136; ähnlich Hermes, Bereich, S. 99 f. 251

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1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

lamentsvorbehalt ist quasi die Verdichtung des auf der ersten Ebene festgestell257

258

ten Gesetzesvorbehaltes zum Delegationsverbot Nunmehr ist doch zu fragen, was „wesentlich" bedeutet. Die Problematik der Definition zeigt sich anschaulich im wortspielähnlich anmutenden Erläuterungsversuch bei Pieroth/Schlink, dem zufolge „die wesentlichen Entscheidungen über Eingriffe besonders die Entscheidungen über wesentliche Eingriffe sind" 2 5 9 . Vor allem in ihren Anfängen stieß die Wesentlichkeits-Rechtsprechung in der Literatur daher auch auf Kritik; der noch nicht weiter ausgereifte bloße Ansatz wurde vielfach als „Leerformel" 260 empfunden. Mittlerweile jedoch ist das Wesentlichkeitskriterium faßbar: In Literatur und Rechtsprechung findet sich eine Vielzahl sinnvoller Ansätze. Genannt sei nur (aa) die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Vorstellung, wesentlich sei das Grundrechtswesentliche 261. Vorliegend stehen die „allgemeinen Gesetze" in Rede, die das für die Entfaltung des einzelnen wie anfangs gezeigt unentbehrliche Grundrecht auf Meinungsfreiheit beschränken. Diesem vordringlich menschenrechtlich begründeten Freiheitsrecht wird als Basis aller Freiheit ein ganz besonderer Rang zuerkannt. Ermächtigungen zu Eingriffen sind folglich besonders grundrechtsintensiv, d.h. im Sinne des vorgenannten Verständnisses „wesentlich". (bb) Mit einer ähnlichen, doch umfassenderen Ansicht könnte man als „wesentlich" statt dessen alle Entscheidungen über „Materien, denen die Verfassung einen hervorragenden Stellenwert eingeräumt hat", namentlich also Grundrechte, ansehen262. Wegen des besonderen Ranges der Meinungsfreiheit sind entsprechende Eingriffsermächtigungen in diesem Sinne „wesentlich" und wären dem Parlamentsvorbehalt zu unterstellen.

257

Denkbar ist auch die umgekehrte Verwendung der Begriffe „Parlamentsvorbehalt" und „Gesetzesvorbehalt"; so etwa bei Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften, S. 214 Fn.2136. 58 Krebs, Jura 1979, 304, 312; ähnlich Kloepfer, JZ 1984, 685, 690, 691 f. 259 Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 289. 260 Krebs, Jura 1979, 304, 308 f. (dort auch der Begriff „Leerformel"); Kisker, NJW 1977, 1313, 1317 f.; Böckenförde, Gesetz, S. 398 f.). 261 BVerfGE 58, 257,274; 83, 130, 142; BayVerfGH, DÖV 1982, 691, 692,696; ohne Darstellung von zwei Stufen: BVerfGE 41, 251, 259 f.; 47, 46, 79; 57, 295, 320 f.; s. auch BVerwGE 56, 155, 157 (implizit); Degenhart, StaatsR I, Rn. 294, 299; ders., DVB1. 1996, 773, 780; Erichsen in: Erichsen, Allg. VerwR, § 15 Rn. 18. 262 Zitat: Kisker, NJW 1977, 1313, 1318 (allerdings ohne Darstellung von Zweistufigkeit); ähnlich, aber Zweistufigkeit deutlich zum Ausdruck bringend, BVerfGE 49, 89, 127 („Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind dabei in erster Linie den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den vom Grundgesetz anerkannten und verbürgten Grundrechten zu entnehmen."); ähnlich, doch ohne Darstellung von Zweistufigkeit, BVerfGE 47, 46, 79 („Ob eine Maßnahme wesentlich ist..., richtet sich zunächst allgemein nach dem Grundgesetz.").

E. Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 5 II GG

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(cc) Kisker vertritt zudem: „Das Wesentliche ist das politisch Kontroverse"26"5. Abgesehen davon, daß eine solche Definition nicht akzeptabel ist, weil sie professionellen „Meinungsmachern" die Tür zur Schaffung eines Parlamentsvorbehalts öffnete 264 , ist sie in Fällen wie dem vorliegenden ohnehin nicht subsumtionsfähig: Die Frage, ob alle abstrakt-generellen allgemeinen Gesetze dem Parlamentsvorbehalt unterfallen, kann wohl kaum unter Hinweis auf ihre potentielle konkrete Umstrittenheit gelöst werden. (dd) Ebenso verhält es sich mit der von Katz vertretenen Auffassung, es komme für den Parlamentsvorbehalt auf die jeweiligen Umstände an, auf eine sorgfältige Abwägung etwa unter Beachtung der „Bedeutung für die Allgemeinheit" oder des Grades „der individuellen Betroffenheit" 265 . Als letztes sei (ee) noch diejenige Ansicht erwähnt, der zufolge all jenes der direkten parlamentarischen Regelung bedürfe, was der dem Gesetzgebungsprozeß eigentümlichen öffentlichen Diskussion 266 bedürfe 267 . Die Frage ist hier also, ob diese besondere Qualität des Verfahrens notwendig ist, damit eine Entscheidung mit größtmöglicher Richtigkeit (im umfassendsten Sinne) erzielt werden kann 268 . Auch dieser Ansatz ist vorliegend nur schwer subsumtionsfähig, weil er primär auf konkreten Diskussionsbedarf zugeschnitten ist. Andererseits kann davon ausgegangen werden, daß die besondere Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Entfaltung des einzelnen dazu führen wird, daß ein öffentlichkeitsorientiertes Normsetzungsverfahren erforderlich ist. Auch dieser Ansatz führt mithin zu einer Unterstellung aller „allgemeinen Gesetze" unter den Parlamentsvorbehalt. Schließlich sei noch auf die Auffassung Kloepfers hingewiesen, die nicht auf einer Zweistufigkeit des Gesetzesvorbehalts basiert. Vielmehr sollen „Rechtssatzvorbehalt und Parlamentsvorbehalt ... zwei sich schneidende Kreise" sein. „Im Überschneidungsbereich, also dort, wo wegen der substantiellen Berührung von Individualpositionen der Rechtssatzvorbehalt und zugleich wegen der Entscheidung von Fragen mit substantiellem Gewicht für das politische System der Bundesrepublik ... auch der Parlamentsvorbehalt eingreift, ist re-

263 264

2219.

Kisker, NJW 1977, 1313, 1318 (allerdings ohne Darstellung von Zweistufigkeit). Eberle, DÖV 1984, 485,487; weniger deutlich: Rengeling, NJW 1978, 2217,

265

Katz, StaatsR, Rn. 195. Kisker, NJW 1977, 1313, 1315; Pietzcker, JuS 1979, 710, 713; BVerfGE 33, 125, 159; 40, 237, 249; 41, 251, 260. 267 Von Arnim, DVB1. 1987, 1241, 1246, verwendet dieses Merkmal kumulativ mit demjenigen der „inhaltlichen Bedeutung"; Eberle, DÖV 1984, 485, 490, fragt negativ, welche Regelungen somit keinem Parlamentsvorbehalt unterliegen. 268 Ausführlich von Arnim, DVB1. 1987, 1241, 1243 f. unter Bezugnahme auf die das Kriterium der Richtigkeit einführende Rechtsprechung (BVerfGE 68, 1, 86). 266

5 Wullkopf

1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

66

gelmäßig ein Handeln durch parlamentarisches Gesetz geboten" 269 . Die substantielle Berührung von Individualpositionen durch Grundrechtseingriffe nach Art. 5 II GG wurde bereits hinreichend veranschaulicht. Auch eine substantielle Berührung von Grundwerten des politischen Systems ist aber im Rahmen des Art. 5 II GG zu bejahen: „Allgemeine Gesetze" beschränken das Grundrecht auf Meinungsfreiheit, das - wie eingangs erläutert - für die Demokratie essentiell ist. Da die Wahrnehmung dieses Freiheitsrechts unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie ist, sind Einschränkungen geeignet, weitreichende Konsequenzen nach sich zu ziehen. Jede staatliche Beschneidung des Freiheitsbereichs kann auch den Willensbildungsprozeß beeinträchtigen. Bei Art. 5 I S. 1 1. HS GG handelt es sich also um einen besonders empfindlichen Bereich, dessen Beschränkung stets nicht nur Individualrechts·, sondern auch demokratie-intensiv ist. Eingriffsermächtigungen durch „allgemeine Gesetze" können daher auch mit Kloepfer nur durch direkte parlamentarische Entscheidung erteilt werden.

(c) Zwischenergebnis Wegen der herausragenden Bedeutung der Meinungsfreiheit unter dem Grundgesetz bedarf das allen Ansätzen immanente Problem, welcher Grad einer wie auch immer definierten Wesentlichkeit zur Begründung eines Parlamentsvorbehalts führt 270 , hier keiner Bewältigung. Alle Ansätze haben ohnehin zu dem Ergebnis geführt, daß allgemeine „Gesetze" i.S.d. Art. 5 II GG formelle Gesetze sein müssen.

ee) Bedenken gegen das bisherige Ergebnis aufgrund der Argumentation Schwarks Fraglich ist, ob man trotz des bisher Erarbeiteten mit Schwark zu einem anderen Ergebnis kommen müßte. Schwark vertritt, jedes materielle Gesetz könne ein allgemeines „Gesetz" sein. Seine Argumentation stellt jedoch keine annehmbare Lösungsalternative dar: Nach Ansicht Schwarks sind die meisten Normen der „allgemeinen Rechtsordnung" „allgemeine Gesetze" i.S.d. Art. 5 II GG. Die „allgemeine Rechtsordnung" setze sich aber aus vielerlei formellen und materiellen Gesetzen zusammen. Es bestehe „kein Grund, die Grundrechtsträger des Art. 5 Abs. 1 GG von dieser allgemeinen Rechtsordnung dann auszunehmen, wenn es sich um Vorschriften handelt, die nur den materiellen Ge-

269 270

Kloepfer, JZ 1984, 685, 695 (Kursivdruck im Original). Vgl. Eberle, DÖV 1984, 485, 490.

E. Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 5 II GG

67

setzesbegriff erfüllen" 271 . Zum einen ist letzteres eine bloße Behauptung, kein Argument. Im Gegenteil besteht doch ein Grund für das Erfordernis eines formellen Gesetzes, nämlich die essentielle Bedeutung der Meinungsfreiheit. Zum anderen und vor allem präsentiert Schwark einen unzulässigen Zirkelschluß, indem er vorausschickt, daß fast alle Normen allgemeine Gesetze seien und dannn daraus folgert, daß also jede Norm ein allgemeines Gesetz sein müsse. Schwarks Argumentation ist daher nicht verwertbar.

ff) Zwischenergebnis Die Interpretation des Art. 5 II GG auf der Grundlage der Lehre des allgemeinen Vorbehalts des Gesetzes und im Lichte des Art. 19 I GG führt zu dem Ergebnis, daß jedes „allgemeine Gesetz" formeller Art sein muß.

d) Ergebnis Die historische Auslegung des Art. 5 II GG ergibt, daß zumindest nicht jedes materielle Gesetz ein „allgemeines Gesetz" sein kann. Die unter entstehungsgeschichtlichen Aspekten noch denkbare Interpretation des „Gesetzes" als „lex scripta" wird durch die systematisch-teleologische Auslegung ausgeschlossen: Die Prinzipien des allgemeinen Gesetzesvorbehalts fordern ein formelles Gesetz. Nur dann ist namentlich die überragend wichtige, mit besonderem Vorbehalt ausgestattete Meinungsfreiheit nicht weniger geschützt als ein mit einfachem Gesetzesvorbehalt versehenes Grundrecht. Erwähnt sei hier abschließend, daß ein solches formelles Gesetz wegen der Fixierung auch von Landeskompetenzen in Art. 70 ff. GG nicht nur ein Bundes», sondern auch ein Landesgesetz sein kann 272 .

2. Der Begriff der Allgemeinheit Die von Art. 5 II GG aufgestellte Voraussetzung, daß das einschränkende Gesetz „allgemein" sein muß, ist „immer wieder interpretiert und gedeutet 271

Schwark, Begriff, S. 132; ähnlich Kemper, Pressefreiheit, S. 67. Kemper, Pressefreiheit, S. 68; Schwark, Begriff, S. 132 vor Fn. 11 (allerdings erscheint die Begründung über Art. 70 ff. GG dort zumindest fragwürdig, da Schwark gleich darauf feststellt, „allgemeines Gesetz" könne grundsätzlich jedes materielle Gesetz sein); vgl. allgemein von Mangoldt/Klein, GG I, Art. 19 Anm. III.3 a.E.; a.A. wohl Löffler, DÖV 1957, 897, 899 (evtl. aber nur auf den konkreten Fall zugeschnitten, nicht generell gemeint). 272

5*

68

1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

worden. Gleichwohl hat sich noch keine klare, allgemein akzeptierte Konzeption ... ergeben" 273 . Es lassen sich indes verschiedene Hauptströmungen erkennen:

a) Sonderrechtslehre 274 Schon in Art. 28 der Preußischen Verfassungsurkunde von 1850 war im Zusammenhang mit der in Art. 27 I garantierten Meinungsfreiheit von „allgemeinen Strafgesetzen" die Rede. In Art. 118 I S. 1 WRV wurden dann bereits die „allgemeinen Gesetze" als Schranken der Meinungsfreiheit genannt. Häntzschel formulierte dazu, allgemein seien diejenigen Gesetze, die „auch für die Ausübung anderer Rechte gelten", die die Meinungsfreiheit „nicht zum Zwecke der Unterdrückung des gedanklichen Inhalts der Aeußerung, sondern aus allgemeinen, nicht gegen den Gedankeninhalt gerichteten, Gründen beschrän275

ken"

. Allgemeine Gesetze enthielten also kein „Sonderrecht gegen die Mei276

nungsfreiheit" . Auch Rothenbücher trat für die Konzeption Häntzschels ein. Zudem beschrieb er ein allgemeines Gesetz so, daß es „dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsgutes" diene 277 . Anschütz Schloß sich dieser Sonderrechtslehre an und betonte, ein allgemeines Gesetz verbiete keine Meinung „als solche" 278 . Diese Ansicht wird in der Literatur 279 und in der Rechtsprechung 280 heute vielfach vertreten. Dabei werden allgemeine Gesetze als „meinungsneutral" bezeichnet 281 ; es wird von „sachlicher Allgemeinheit" gesprochen 282.

273

Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 120. Bezeichnung so z.B. bei Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 649. 275 Häntzschel, AöR 49 (1926), 228, 232 f. 276 Häntzschel, AöR 49 (1926), 228, 232. 277 Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), 6, 20. 278 Anschütz, Verfassung, Art. 118 Anm. 3 a.E. 279 Stein, StaatsR, S. 314; Hesse, Grundzüge, Rn. 399; Badura, StaatsR, C. Rn. 62; Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 185 (wie Rothenbücher); Däubler, GewerkschaftsRe, Rn. 566; Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 31; Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. B.10; Schmitt Glaeser, JZ 1983, 95,98; Bettermann, JZ 1964, 601,603; Mummenhoff, DB 1981, 2539, 2539; Erichsen, Jura 1996, 84, 87; Preis/Stoffels, RdA 1996, 210,211; ähnlich auch Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 71; Gornig, JuS 1988, 274,278 und Löffler, DÖV 1957, 897, 898; s. auch die Begründung des Allgemeinen Redaktionsausschusses im Parlamentarischen Rat zu seinem Vorschlag einer Verwendung des Begriffes der allgemeinen Gesetze bei Matz in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 87. 280 VGH Freiburg, JZ 1956, 18, 24; VG Hamburg, NJW 1979, 2164, 2164; BAGE 1, 185,194; ArbG Hamburg, NJW 1979, 2638,2639; ArbG Hamburg, ArbuR 1996, 77, 79; zur Bayerischen Verfassung: BayVerfGH, DÖV 1982, 691, 693. 274

E. Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 5 II GG

69

Auch das Bundesverfassungsgericht verwendet in seinen neueren Entscheidungen die Formulierungen der Sonderrechtslehre 283.

b) Abwägungslehre 284 Einen anderen Ansatz entwickelte zur Weimarer Zeit Smend: Allgemeine Gesetze seien solche, die Vorrang vor der Garantie des Art. 118 I S. 1 WRV hätten, weil ihr Schutzgut wichtiger als die Meinungsfreiheit sei. Am Schutz dieses Gutes müsse „das höhere Allgemeininteresse" bestehen285. Noch in den 60er Jahren fand diese These zwar Zustimmung 286 , doch wird dieser Ansatz, soweit ersichtlich, isoliert heute nicht mehr vertreten.

c) Kombination der Theorien Das Bundesverfassungsgericht verwendete seit dem Lüth-Urteil 287 eine Definition der allgemeinen Gesetze, die die bisherigen Begriffsbestimmungen kombinierte: Allgemein sollten demnach solche Gesetze sein, „die ,nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten', die vielmehr ,dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen', dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat" 2 8 8 . 289

Dieser Konzeption folgen auch heute noch Teile des Schrifttums

281

Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, §141 Rn. 41; Starck, FS Weber, 189,214. 282 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 122. 283 BVerfGE 57, 250, 268; 59, 231, 263 f.; 62, 230, 243 f.; 71, 108, 114; 71, 162, 175; 71, 206, 214. 284 Bezeichnung so z.B. bei Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 653. 285 Smend, VVDStRL 4 (1928), 44, 52. 286 Schmittner, ArbuR 1968, 353, 357; Merklinghaus, Grundrecht, S. 41. 287 BVerfGE 7, 198 ff. 288 Zitat: BVerfGE 7, 198, 209 f.; 28, 175, 185 f.; 28, 282, 292 (ohne Anführungszeichen); ähnlich: BVerfGE 26, 186,205; 42, 133, 140 f. (implizit); 49, 24,68; 50, 234, 240 f.; s. auch BAG, NJW 1984, 826, 828; BAG, AP Nr. 5 zu Art. 5 Abs. 1 GG Meinungsfreiheit (unter B.I.2.d) der Gründe); BVerwGE 47, 365,372; 47, 330, 356 (implizit); BGHSt 17,38,39. 289 Klein in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 5 Rn. 13; Katz, StaatsR, Rn. 734; Lecheler, JuS 1992, 473, 475; wohl auch Antoni in: Seifert/Hömig, GG, Art. 5 Rn. 21.

70

1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

Das Bundesverfassungsgericht selbst hingegen verzichtet bei der Definition der allgemeinen Gesetze inzwischen auf das aus der Abwägungslehre über290

nommene letzte Begriffselement . Übrig bleibt dabei also der Teil der Definition, der der Sonderrechtslehre entspricht. d) Rechtsgüterschutz Nach der vereinzelt gebliebenen Ansicht Reisneckers sind allgemein alle Gesetze, „die den Schutz von Rechtsgütern vor Gefährdungen und Verletzungen beinhalten" 291 . Auf ein Abwägungselement wird dabei ausdrücklich verzichtet 2 9 2 .

e) Stellungnahme Schon Smend selbst erkannte, daß seine Definition der allgemeinen Gesetze wenig scharf war: „Derartige Abwägungsverhältnisse können schwanken" 293 . Es mangelt dieser Begriffsbestimmung an Klarheit, da sie auf das Ergebnis eines Abwägungsvorganges verweist 294 . Der Abwägungslehre wird zudem vorgeworfen, sie gebe keine Anhaltspunkte für die notwendige Feststellung des Ranges von Rechtsgütern 295, und durch die abstrakte Abwägung würden „die rangmäßigen Unterschiede von Verfassungsnorm und einfachem Recht gene296

297

rell aufgelöst" (die auch zu Smends Zeit schon anerkannt waren ). Der Abwägungslehre kann daher nicht gefolgt werden. Dieselben Argumente sprechen gegen die ursprüngliche, kombinierte Definition des Bundesverfassungsgerichts. Gegen die Abwägungslehre und den Schutzgüter-Ansatz Reisneckers spricht unter dem Grundgesetz zudem, daß nur mit der reinen Sonderrechtslehre die Festlegung der beiden anderen Schranken in Art. 5 II GG zu erklären ist: Vor-

290

BVerfGE 57, 250, 268; 59, 231, 263 f.; 62, 230, 243 f.; 71, 108, 114; 71, 162, 175; 71, 206, 214; 93, 266, 291; auch VGH Freiburg, JZ 1956, 18, 24; BAGE 1, 185, 194. 291 Reisnecker, Grundrecht, S. 163. 292 Reisnecker, Grundrecht, S. 165. 293 Smend, VVDStRL 4 (1928), 44, 53. 294 Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 30; Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276, 282. 295 Stein, StaatsR, S. 314; vgl. auch Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 30. 296 Schwark, Begriff, S. (50-) 52. 297 Vgl. RGZ 111,320, 322 f.

E. Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 5 II GG

71

Schriften zum Ehren- bzw. Jugendschutz sind zumeist Sondergesetze, d.h. keine allgemeinen Gesetze i.S.d. Sonderrechtslehre, und müssen daher als selbständige Schranken aufgeführt werden 298 . Den Vorzug verdient nach alledem die nunmehr auch vom Bundesverfassungsgericht favorisierte Sonderrechtslehre. Als „allgemeines" Gesetz i.S.d. Art. 5 II GG ist folglich mit der überwiegenden Ansicht jede Norm anzusehen, die sich nicht gegen die Äußerung einer Meinung als solche richtet. Entscheidend ist m.a.W. „die gegenständliche, zielhafte Nicht-Besonderheit", d.h. daß das Gesetz „der normativen Bewältigung eines ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung regelungsbedürftigen Anliegens" dient 299 . Auf den vereinzelt zu findenden, auf Rothenbücher zurückgehenden Zusatz, daß das Gesetz vielmehr dem Schutz eines schlechthin zu schützenden anderen Rechtsgutes dienen müsse 300 , kann dabei verzichtet werden: Die ratio eines Gesetzes hat keinen Einfluß auf seine Meinungsneutralität. Zudem wäre mit dem Zusatz im wesentlichen nur die Kehrseite der Medaille beschrieben; ein Gesetz, das sich nicht gegen eine Meinungsäußerung als solche richtet, wird regelmäßig eine andere Zielsetzung haben. Daneben existieren zwar Regelungen, bei denen - wie etwa bei bloßen Definitionsnormen - kein dadurch geschütztes Rechtsgut zu ermitteln ist. Es wäre indes nicht verständlich, warum solche meinungsneutralen Gesetze nicht zu den „allgemeinen" Gesetzen gezählt werden dürften 301 . (Wie auch hier, so werden die „allgemeinen Gesetze" regelmäßig im Rahmen der Meinungsfreiheit des Art. 5 I S. 1 1. HS GG erörtert. Daher ist die Definition durchweg auf diese eine Garantie zugeschnitten. Für die anderen Kommunikationsrechte des Art. 5 I GG bedarf die Begriffsbestimmung i.d.R. einer entsprechenden Modifizierung. Dies läßt sich allerdings durch bloßen Austausch von Worten einfach bewerkstelligen; keineswegs besteht Anlaß, die gesamte Definition zu verwerfen. Zudem wäre ohne weiteres eine Formulierung denkbar, die alle Rechte des Art. 5 I GG erfaßt 302 , indem man etwa

298

Hoppe, JuS 1991, 734, 736; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 651. Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 41. 300 Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 185; Stein, StaatsR, S. 314 f. 301 Ob es überhaupt logisch denkbar wäre, auf solche Vorschriften Einschränkungen der Meinungsfreiheit zu stützen, kann dabei als für die Definition irrelevant dahinstehen. 302 Generelle Formulierungen sind etwa anzutreffen bei Katz, StaatsR, Rn. 734; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 123; Starck, FS-Weber, 189, 189 (Titel); Bettermann, JZ 1964, 601,603; s. auch Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. B.10; mit systematisch und grammatikalisch verfehlter Begründung für eine Beschränkung auf die Meinungsfreiheit hingegen Gornig, Äußerungsfreiheit, S. 588. 299

72

1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

„Meinungsfreiheit" durch „Kommunikationsfreiheiten (des Art. 5 I GG)" ersetzt.)

3. Wechselwirkung

und Abwägung

Bei den Vertretern der Sonderrechtslehre herrscht Einigkeit, daß die bloß formale Qualifizierung eines Gesetzes als „allgemein" zur Rechtfertigung eines Eingriffs in die Meinungsfreiheit nicht ausreicht. Vielmehr müsse noch eine materielle Abwägung erfolgen. Oft wird auf die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte sog. Wechselwirkungstheorie verwiesen.

a) Wechselwirkungslehre Schon im Lüth-Urteil vertrat das Bundesverfassungsgericht die Ansicht, es finde eine „Wechselwirkung" dergestalt statt, daß die allgemeinen Gesetze „zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen" 303 . Diese Formel ist heute ständige Rechtsprechung 304. Die Literatur hat sich ihr im wesentlichen angeschlossen305. Zum Teil wird zwar nicht dem Inhalt der Wechselwirkungstheorie entgegengetreten, wohl aber ihre Entbehrlichkeit behauptet, sage sie doch nichts anderes aus als namentlich die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 I I G G 3 0 6 . Herzog und Pieroth/Schlink weisen darauf hin, daß der

303

BVerfGE 7, 198, 209. Wörtlich wie BVerfGE 7, 198, 209: BVerfGE 12, 113, 124 f; ähnlich: BVerfGE 20, 162, 176 f.; 28, 191,202; 35, 307,309; 39, 334,367; 42, 143, 150; 54, 129,136; 61, 1,10 f.; 69, 257, 269 f.; 71, 206,214; 74, 297,337; 77, 65,75; 82, 272, 280; 85, 1, 16; 85, 23, 33; 86, 1, 10 f. 94, 1, 8; BVerfG, NJW 1991, 2074, 2075 sowie BVerwGE 64, 55, 62; BGH, AP Nr. 2 zu Art. 5 Abs. 1 GG Meinungsfreiheit (unter III.3. der Gründe); BAGE 38, 85,96 sowie VG Hamburg, NJW 1979, 2164, 2164. 305 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 75 f.; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 124; Klein in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 5 Rn. 12; Antoni in: Seifert/Hömig, GG, Art. 5 Rn. 21; Katz, StaatsR, Rn. 735; Kissel, NZA 1988, 145, 146; Mummenhoff, DB 1981, 2539,2539; Preis/Stoffels, RdA 1996, 210, 211. 306 Stein, StaatsR, S. 315; Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 43. 304

E. Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 5 II GG

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Wechselwirkungsbetrachtung dieselbe Funktion zukomme wie sonst der verfassungskonformen Auslegung 307 . Angesichts dieser Überlegungen zu inhaltsgleichen Verfassungsinstituten kann der Meinung Kiesels, es gebe keinerlei Anlaß und Anhaltspunkte für eine „Korrektur" der Verfassung in Gestalt der Wechselwirkungslehre, nicht gefolgt werden 308 . Bettermann hat sich abweichend von der h.M. gegen eine Auslegung der allgemeinen Gesetze im Lichte der Meinungsfreiheit ausgesprochen 309: Jedes allgemeine Gesetz gehe der Meinungsfreiheit vor 3 1 0 . Art. 5 II GG verbiete nur Privilegierungen, keine „beschwerende Sonderbehandlung" 311. Da dieser Ansatz das Grundrecht auf Meinungsfreiheit nicht auslegt, sondern negiert 312 , kann ihm indes nicht zugestimmt werden.

b) Abstrakte oder konkrete Abwägung Das eingangs erwähnte Moment der Abwägung bedeutet nach einer Ansicht, daß ein allgemeines Gesetz einen Eingriff nur dann rechtfertigen könne, wenn eine abstrakte Abwägung den Vorrang des entsprechenden Schutzgutes vor der Meinungsfreiheit an sich ergebe 313. Nach anderer Ansicht ist zu fragen, ob eine Güterabwägung im konkreten Fall zugunsten des durch das Gesetz zu schützenden Rechtsgutes ausgeht314. Auch das Bundesverfassungsgericht nimmt eine konkrete Betrachtung vor 3 1 5 . Schmitt Glaeser behauptet zwar 316 , der an sich konkreten Betrachtungs-

307 Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 656; Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 264. 308 Vgl. Kiesel, NVwZ 1992, 1129, 1129; im wesentlichen bezieht sich Kiesels Kritik auf die Anwendung der Wechselwirkungstheorie auch auf das Recht der persönlichen Ehre. Hinsichtlich der allgemeinen Gesetze scheint Kiesel indes derselben Ansicht zu sein. 309 Bettermann, JZ 1964, 601, 602, 605. 310 Bettermann, JZ 1964, 601, 605, 609. 311 Bettermann, JZ 1964, 601, 604, 609 (Zitat). 312 Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. B.9. 313 Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 260; von Mangoldt/Klein/ Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 124. 314 BVerwGE 43, 9, 24; 64, 55, 62; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 76; Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 93; Katz, StaatsR, Rn. 736. 3,5 BVerfGE 7, 198, 210 f.; 28, 191, 202; 57, 231, 265; 59, 231, 265 (dort Bezeichnung der Abwägung als „verfassungsmäßige Zuordnung" der Meinungsäußerungsfreiheit und anderer, durch allgemeine Gesetze geschützter Rechtsgüter); 71, 206, 214; 85, 1, 16; 85, 23,33; 86, 1, 11; 90, 241, 248; 94, 1,8; BVerfG, NJW 1994, 2943,2943;

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1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

weise werde ein abstraktes Element hinzugefugt, wenn das Gericht bei einer Meinungsäußerung, die einen Beitrag zur Diskussion über eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage darstelle, deren Zulässigkeit vermute 317 . Dieser auch von Teilen der Literatur befürwortete 318 Grundsatz ist indes nicht kategorisch als abstrakte Vorabbewertung anzusehen319, sondern ist eben nur eine Vermutung - die auch widerlegt werden kann. Schmitt Glaeser selbst schreibt nunmehr zwar noch von „eindeutigem Vorrang" der Meinungsäußerung, aber doch zugleich einschränkend von der „nahezu restlosen Verdrängung entgegenstehender Rechte", so daß „im wesentlichen" Ehrenschutz nicht mehr stattfinde 320 . Abstrakte Vorabbewertung sieht auch er also nicht mehr, nur überwiegende Ergebnisse. Auch unter Einbeziehung der Vermutungsformel ist also der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts als ein konkreter einzuordnen. Gegen eine konkrete Betrachtung werden Argumente der Rechtssicherheit angeführt 321 . Zudem führe solch eine Prüfung zur (richterlichen) Bewertung einzelner Meinungen, was der Konzeption einer umfassenden Meinungsfreiheit zuwiderlaufe 322 . Dem ist allerdings entgegenzuhalten, daß für eine abstrakte Abwägung keine hinreichenden Maßstäbe denkbar sind und daß die konkrete Abwägung den Umständen des Falles besser Rechnung tragen kann, also zu mehr Einzelfallgerechtigkeit führt 323 . Erst unter Einbeziehung der konkreten Umstände kann optimaler Schutz der in Rede stehenden Rechtsgüter erreicht werden 324 . Eine auf den Einzelfall zugeschnittene Abwägung führt mithin zum bestmöglichen Schutz des Grundrechtes auf Meinungsfreiheit. Der konkreten Betrachtung ist daher der Vorzug zu geben. Kurz angemerkt sei, daß sich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Kriterien für den Abwägungsprozeß entnehmen lassen. Verschiedene Grundsätze und Vermutungen können der Orientierung dienen. Dazu zählt etwa die soeben genannte Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage. Ebenso zählt dazu die Erunklar, aber wohl ebenso BVerfGE 35, 202, 224 („Dies erfordert im Einzelfall eine generelle und konkrete Abwägung..."). 316 Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 93. 317 Beschränkt auf die Äußerung von „Legitimierten" so BVerfGE 7, 198, 212; 61, 1, 11; dem BVerfG folgend BGHZ 45, 296,308; uneingeschränkt zB.: BVerfGE 66, 116, 150; 82, 272,281 f.; 85, 1, 16; 90, 241,249; BVerfG, NJW 1992, 2815, 2816; BVerfG, NJW 1993, 916, 916 f; ebenso BVerwGE 103, 81, 84. 318 Stein, StaatsR, S. 316; Erichsen, Jura 1996, 84, 88. 319 Grimm, NJW 1995, 1697, 1702. 320 Schmitt Glaeser, NJW 1996, 873, 874 (kein Kursivdruck im Original). 321 Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 260. 322 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 124. 323 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 76. 324 Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 92 f.

E. Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 5 II GG

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kenntnis, daß gegenüber (unwahren) Tatsachenbehauptungen das kollidierende Schutzgut besonders gewürdigt werden muß 325 , da der nicht besser informierte Rezipient in eine „Akzeptanzsituation" gerät 326 . Die Menschenwürde hingegen ist als Basis aller Grundrechte nicht abwägungsfähig; wird sie durch eine Meinungsäußerung verletzt, so hat das Recht aus Art. 5 I S. 1 1. HS GG zurückzutreten 327 .

c) Abwägung als Element der Wechselwirkungstheorie Zur Klärung der Terminologie für die späteren Entscheidungsanalysen muß nunmehr die spezifische Verknüpfung von Abwägung und Wechselwirkung beleuchtet werden: Im Lüth-Urteil nimmt das Bundesverfassungsgericht die konkrete Abwägung noch im Rahmen des Abwägungselementes bei der Defi328

nition des allgemeinen Gesetzes vor . Sodann ergingen Entscheidungen, die sich einer Definition (und genauen Subsumtion) des allgemeinen Gesetzes enthalten und die den Eindruck erwecken, als erfolge die Abwägung nach der Subsumtion unter den Begriff des allgemeinen Gesetzes erst im Rahmen der Wechselwirkungslehre 329. Nunmehr schließt sich das Bundesverfassungsgericht wie gezeigt der Sonderrechtslehre an, d.h. bei der Subsumtion unter den Begriff des allgemeinen Gesetzes ist für eine Abwägung keinesfalls Raum. So erfolgt die Abwägung nun im Rahmen der Wechselwirkungsbetrachtung 330. Auch in Teilen der Literatur finden sich entsprechende Aussagen 331, Katz spricht gar 332

von einer „güterabwägenden Wechselwirkung"

325

BVerfGE 61, 1, 8; s. ähnlich BVerfGE 90, 241, 248 f. Grimm, NJW 1995, 1697, 1702. 327 BVerfGE 93, 266, 293; s. auch BVerfGE 75, 369, 380 (primär zu Art. 5 III S. 1 GG); dem BVerfG folgend BAG, NZA 1996, 873, 874. 328 BVerfGE 7, 198, 210 f. 329 BVerfGE 28, 191, 202; 35, 202, 223 f. 330 BVerfGE 57, 250, 268; 59, 251, 265 (dort Bezeichnung der Abwägung als „verfassungsmäßige Zuordnung" der Meinungsäußerungsfreiheit und anderer, durch allgemeine Gesetze geschützte Rechtsgüter); 71, 206, 214; 85, 1, 16; 85, 23, 33; 86, 1, 10 f. 331 Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 147; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 124; Grimm, NJW 1995, 1697, 1698; Mummenhoff, DB 1981, 2539, 2539; Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 91 ff.; Kissel, NZA 1988, 145, 146; Gornig, Äußerungsfreiheit, S. 585. 332 Katz, StaatsR, Rn. 736. 326

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1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

Andere Autoren hingegen schildern die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fälschlich so, daß Wechselwirkungstheorie und Abwägung zwei 333

selbständige Prüfungspunkte bildeten Bei denjenigen Verfassern, die sich diesen Aufbau sodann zu eigen machen, folgt jedoch lediglich eine längere Erläuterung des Abwägungsvorganges, nicht aber der Wechselwirkungstheorie^ 34. Das impliziert die Frage, ob die Wechselwirkungstheorie für nicht erläuterungsbedürftig gehalten wird oder ob die vorgenommene Differenzierung in zwei Prüfungsstufen verfehlt ist. Die Wechselwirkungstheorie besagt wie dargestellt, daß das besondere Gewicht der Meinungsfreiheit in unserer Verfassungsordnung bei jeder Auslegung eines allgemeinen Gesetzes zu berücksichtigen ist. Das kann indes nicht heißen, daß der wichtigen Meinungsfreiheit stets der Vorrang einzuräumen wäre. Vielmehr ist die Beachtung auch der Wertigkeit des anderen Rechtsgutes erforderlich. Es bedarf also einer Abwägung, die von einer weiteren „konkreten Abwägung" schwerlich getrennt werden kann. Wechselwirkungslehre und Erfordernis der Abwägung sind daher als eine Einheit, als „güterabwägende Wechselwirkung" 3 3 5 zu betrachten. Dabei ist die eine Überlegung entgegen vielfacher Ansicht aber nicht Bestandteil der anderen. Wie man diesen einheitlichen Prüfungspunkt nun bezeichnet, ist irrelevant. Hier sollen im Rahmen des Art. 5 I S. 1 1. HS GG die üblichen Bezeichnungen „Wechselwirkungslehre" und „Abwägung" im Bewußtsein ihrer eben beschriebenen inhaltlichen Identität verwendet werden.

4. Verhältnis der „abwägenden Wechselwirkung" zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i.w.S. Der Eingriff in ein Grundrecht ist nur gerechtfertigt, wenn er dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden 336 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i.w.S. entspricht 337 : Verfolgter Zweck und eingesetztes Mittel müssen verfassungslegitim sein; der Eingriff hat zudem zur Erreichung des Zweckes geeignet und erforderlich zu sein, und das Mittel muß in angemessener Relation zum Zweck

333

Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 42; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 75 f.; Stein, StaatsR, S. 315 f.; wohl auch Maunz/ Zippelius, StaatsR, S. 185. 334 Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 185-187; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 76. 335 Katz, StaatsR, Rn. 736. 336 S. etwa BVerfGE 23, 127, 133. 337 Statt vieler s. Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 297, 299f., 376; Katz, StaatsR, Rn. 651.

E. Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 5 II GG

77

338

stehen . Fraglich ist, ob neben der „güterabwägenden Wechselwirkung" für all jene Prüfungspunkte der Verhältnismäßigkeit Raum ist. Ein Teil der Literatur verlangt auch bei Eingriffen in die Meinungsfreiheit durch allgemeine Gesetze eine herkömmliche Prüfung der Aspekte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes j39 . Anderenorts wird vertreten, die Abwägung sei nichts anderes als eine Angemessenheitskontrolle. Dieser Punkt könne daher bei der grundsätzlich notwendigen Verhältnismäßigkeitsprüfung entfallen; es bedürfe folglich nur einer Feststellung der Erforderlichkeit 340 . Zum Teil wird indes von völliger inhaltlicher Identität von „güterabwägender Wechselwirkung" und Verhältnismäßigkeitsprüfung ausgegangen341; auf letztere könnte demzufolge verzichtet werden 342 . Der zuletzt genannten Ansicht, daß die Verhältnismäßigkeitsprüfung an sich entbehrlich ist, ist zuzustimmen. Daß gemäß der Wechselwirkungstheorie jedes allgemeine Gesetz im Lichte der überragenden Bedeutung der Meinungsfreiheit auszulegen ist, umfaßt zwingend sämtliche Verhältnismäßigkeitsüberlegungen: Mit der Wechselwirkungslehre wäre die Verfolgung eines illegitimen Zieles mit einem illegitimen Mittel nicht vereinbar; ebensowenig dürfte ein Eingriff in die Meinungsfreiheit zur Zielerreichung ungeeignet oder nicht erforderlich bzw. angemessen sein. Abschließend stellt sich die Frage, wieso zugunsten der güterabwägenden Wechselwirkung auf die übliche Verhältnismäßigkeitsprüfung verzichtet werden soll, d.h. umgekehrt, wieso „solche gesonderten Stilisierungen" 343 nicht entbehrlich sind, wenn mit den bekannten Korrektiven identische Lösungen zu erzielen sind 344 . Schmidt-Jortzigs Hinweis, besondere Konstruktionen seien an338

Statt vieler s. Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 300, 311; Katz, StaatsR, Rn. 651. Katz, StaatsR, Rn. 736; Starck, FS-Weber, S. 189, 215 (indes ohne gleichzeitige Erwähnung der Wechselwirkungstheorie); wohl auch Preis/Stoffels, RdA 1996, 210, 339

211. 340

Schwark, Begriff, S. 135 f.; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 655 (mit Gleichsetzung von Abwägung und Angemessenheitsprüfung, jedoch ohne ausdrückliches Aufzeigen der Konsequenz fur entsprechende Rechtfertigungsprüfungen). 341 BVerfGE 71, 206, 214 (Erklärung der Wechselwirkung mit den Begriffen „geeignet", „erforderlich" und „in angemessenem Verhältnis"); Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 185 f.; Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 146 (Wechselwirkungslehre als „Variante" des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit i.w.S.); Grimm, NJW 1995, 1697, 1701 („Ziel ist die verhältnismäßige Zuordnung"); sehr vehement: Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 42 f.: evtl. auch BAGE 38, 85, 96 und Lenz in: Hamann/Lenz, GG, Art. 5 Anm. B.10. 342 Schmidt-Jortzig (in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. (42,) 43) und Erichsen, (Jura 1996, 84, 87 mit Fn. 37) hingegen lehnen umgekehrt die „Wechselwirkungstheorie" ab. 343 Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 43. 344 Für letzteren Weg Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 43.

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1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

gesichts inhaltlicher Deckungsgleichheit „systematisch wie methodisch ... unangebracht" 345 , scheint auf den ersten Blick korrekt. Andererseits muß aber festgestellt werden, daß die spezifische Formulierung der Schranken-Schranke zwar keinen Gewinn, jedoch auch keinen Verlust bringt. Daher soll hier an der für den Bereich der allgemeinen Gesetze überkommenen Terminologie und Konstruktion güterabwägender Wechselwirkung festgehalten werden. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung entfällt dadurch nicht, sondern wird lediglich nicht als solche ausgewiesen.

II. Die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und das Recht der persönlichen Ehre Gemäß Art. 5 II GG findet die Meinungsfreiheit ihre Schranken nicht nur in den allgemeinen Gesetzen, sondern auch in „den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre". Diese werden aber im folgenden kaum relevant sein und sollen daher nur kurz erläutert werden: Während das Bundesverfassungsgericht z.T. dazu neigt, die Jugendschutzvorschrifiten 346 und das Recht der Ehre 347 als Unterfälle der allgemeinen Gesetze zu begreifen, betont die Literatur, daß Art. 5 II GG drei selbständige Schranken festsetze 348. Aufgrund von Wortlaut und Systematik des Art. 5 II GG ist 349

dem Ansatz der Literatur der Vorzug zu geben . Aus dieser Auslegung ergibt sich als Gemeinsamkeit fur die Schranken des Jugendschutzes und der persönlichen Ehre, daß die entsprechenden Regelungen nicht allgemein, d.h. nicht meinungsneutral sein müssen 350 . 345

Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 43. BVerfGE 11, 234, 238 („insbesondere"); anders aber BVerfGE 30, 336, 353. 347 BVerfGE 7, 198, 211; s. aber BVerfGE 33, 1, 16 f.; 42, 143, 150; 42, 163, 169; 47, 130, 143. 348 Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 244 f.; von Mangoldt/ Klein/ Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 117; Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 185; Pieroth/ Schlink, GrundRe, Rn. 661; Schaub, RdA1979, 137,139; Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276,290; ders., AöR 113 (1988), 52,97; ders., JZ 1983, 95, 98; Gornig, JuS 1988, 274, 276; zum Recht der persönlichen Ehre: von der Decken, NJW 1983, 1400, 402; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 83; Stern, FS-Hübner, 815, 822-824; Kriele, NJW 1994, 1897, 1899; a.A. auf dem Boden der hier abgelehnten Abwägungslehre Schmittner, ArbuR 1968, 353, 358; Merklinghaus, Grundrecht, S. 46. 349 Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 661. 350 Katz, StaatsR, Rn. 734; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 117; Erichsen, Jura 1996, 84,87; zum Jugendschutz: Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 47; Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 185; Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 159. 346

E. Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 5 I I GG

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/. Gesetzliche Bestimmungen zum Schutze der Jugend Die ausdrückliche Nennung des Jugendschutzes in Art. 5 II GG macht zwar dessen Wichtigkeit deutlich. Aufgrund jedoch der überragenden Bedeutung der Meinungsfreiheit sind - entsprechend der Argumentation bezüglich der „allgemeinen Gesetze" 351 - als „gesetzliche Bestimmungen" zum Schutze der Jugend 352

aber lediglich formelle Gesetze anzuerkennen Eine gesetzliche Bestimmung „zum Schutze der Jugend" ist eine solche, die dazu „bestimmt und geeignet ist, die Jugend zu schützen" 353 . Schutz bedeutet dabei die Abwehr jugendgefährdender Einflüsse, also derjenigen Einflüsse, die „zu erheblichen, schwer oder gar nicht korrigierbaren Fehlentwicklungen führen können" 354 . In einer frühen Entscheidung nahm das Bundesverwaltungsgericht noch den „durchschnittlichen" Jugendlichen zum Maßstab 355 . Nunmehr stellt das Gericht ebenso wie die Literatur auf den normalen Jugendlichen, „einschließlich des gefahrdungsgeneigten Jugendlichen" ab 3 5 6 . „Extremfälle völliger Verwahrlosung und krankhafter Anfälligkeit" sollen nach Ansicht des Gerichts jedoch „außer Betracht zu lassen" sein 357 . Auch die Vorschriften zum Jugendschutz sind unter Beachtung der Wechselwirkungstheorie, die im Rahmen der allgemeinen Gesetze erläutert wurde, !

358

auszulegen

2. Das Recht der persönlichen Ehre Angesichts der abweichenden Formulierung der beiden anderen Schranken („Gesetze", „gesetzliche Bestimmungen") wurde und wird z. T. angenommen, „Recht" der persönlichen Ehre könne auch Gewohnheitsrecht sein 359 , erfordere 351

S.o. unter 1.1. I.E. ebenso Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 47. 353 Zitat: Bauer, JZ 1965, 41, 44; Bauer wörtlich zitierend: Wendt in: von Münch/ Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 79; Bauer folgend: Bleckmann, StaatsR II, S. 719 und SchmidtJortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 47. 354 Zitat: BVerfGE 30, 336, 347; dem folgend: Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 79; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 126; Bleckmann, StaatsR II, S. 719; Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 47. 355 BVerwGE 25, 318, 321-323; s. auch Berthold, NJW 1955, 1604, 1605. 356 Zitat: BVerwGE 39, 197, 206; dem folgend: Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 80, von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 126; Bleckmann, StaatsR II, S. 720; zuvor schon: Becker, NJW 1956, 519, 519; BGHSt 8, 80, 86 f. 357 BVerwGE 39, 197, 205. 358 BVerfGE 30, 336, 347 f.; Bauer, JZ 1965, 41, 46; Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 185; Gornig, JuS 1988, 274, 277; ders., Äußerungsfreiheit, S. 590. 352

359

Von Mangoldt/Klein, GG I, Art. 5 Anm. IX.3.C.

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1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

keine gesetzliche Verankerung 360 . Die Zulässigkeit eines Eingriffes in ein Freiheitsrecht ohne gesetzliche Normierung verstößt indes gegen das heutige Grundrechtsverständnis 361 und läuft der Rechtssicherheit zuwider 362 . Mit der Lehre 363 und der Rechtsprechung 364 ist somit davon auszugehen, daß das Recht der persönlichen Ehre nur insoweit eine wirksame Schranke der Meinungsfreiheit darstellt, „als es gesetzlich normiert ist" 3 6 5 . Obwohl Art. 5 II GG durch die Nennung der persönlichen Ehre deren besondere Wichtigkeit betont, so ist doch wiederum namentlich der überragenden Bedeutung der Meinungsfreiheit Rechnung zu tragen, d.h. ein formelles Gesetz zu fordern. Auch für Vorschriften des Ehrenschutzes soll nach ganz überwiegender Ansicht die oben bei den allgemeinen Gesetzen dargestellte Wechselwirkungslehre zu beachten sein 366 . Gornig, von der Decken und R. Stark hingegen vertreten, durch Art. 5 II GG werde dem Recht der persönlichen Ehre Verfassungsrang zuerkannt, Bethge leitet dies aus Art. 2 I GG her, Schmitt Glaeser aus Art. 1 I GG. Das schließe die Anwendung der auf subkonstitutionelles Recht zugeschnittenen Wechselwirkungstheorie aus 367 . Statt dessen sei die Herstellung praktischer Konkordanz erforderlich 368 . Der Begriff der Ehre wird inhaltlich wesentlich von Art. 1 I GG geprägt 369 und knüpft an die entsprechenden Vorschriften des Straf- und Zivilrechtes an 370 . Die Ehre eines Menschen umfaßt somit seinen inneren Wert und seine 360

Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 97; Stern, FS-Hübner, 815, 823. BVerfGE 33, 1, 16 f.; Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 82. 362 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 82. 363 Wendt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 5 Rn. 82; Klein in: Schmidt-Bleibtreu/ Klein, GG, Art. 5 Rn. 13; wohl auch Gornig, JuS 1988, 274,278; Fälle mittelbarer Drittwirkung ausnehmend: Schmidt-Jortzig in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR VI, § 141 Rn. 48. 364 BVerfGE 33, 1, 17. 365 Zitat: BVerfGE 33, 1, 17. 366 BVerfGE 42, 143, 150; 42, 163,169; 54, 129,136; 60, 234,240; Grimm, NJW 1995, 1697, 1702; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 133; Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 185; differenzierend: Schmitt Glaeser, JZ 1983, 95,99: „nur im Hinblick auf die Begriffsdefinition der Ehrverletzung". 367 Von der Decken, NJW 1983, 1400, 1402; Gornig, JuS 1988, 274, 278 f.; ders., Äußerungsfreiheit, S. 592 f.; Stark, JuS 1995, 689, 689; Bethge in: Sachs, GG, Art. 5 Rn. 163; Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 98; implizit ebenso Kriele, NJW 1994, 1897, 1888 f. 368 Von der Decken, NJW 1983, 1400, 1402; Gornig, JuS 1988, 274, 278 f.; ders., Äußerungsfreiheit, S. 592 f. 369 Bleckmann, StaatsR II, S. 720. 370 ArbG Hamburg, ArbuR 1996, 77, 80; Herzog in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 5 Abs. I, II Rn. 288 f.; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 131 f.; 361

F. Das Verhältnis des Art. 5 I S. 1 1. HS GG zu Art. 3 III GG

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Wertschätzung, seine Bewertung durch die Mitmenschen. Durch Gesetzgebung und Rechtsprechung erfolgt eine nähere Ausgestaltung des Ehrbegriffs 371 .

F. Das Verhältnis des Art. 5 I S. 1 1. HS GG zu Art. 3 I I I GG Nach Art. 3 III GG darf „niemand wegen ... seiner ... politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden". Im „Radikalenbeschluß" 372 erläutert das Bundesverfassungsgericht ausführlich, Art. 3 III GG beziehe sich lediglich auf das „Haben" einer politischen Anschauung; das „Äußern und Betätigen" dieser Einstellung werde hingegen von Freiheitsrechten, u.a. dem aus Art. 5 GG, erfaßt 373 . Dieser Auslegung hat sich das BAG angeschlossen374. Dieser Abgrenzung, die ein Ausschließlichkeitsverhältnis suggeriert, ist mit der Literatur entgegenzuhalten, daß die bloße innere Überzeugung, solange sie sich nicht nach außen manifestiert, unbekannt ist und gar nicht Anknüpfungspunkt einer Ungleichbehandlung sein kann 375 . Ob Bundesverfassungsgericht und BAG dies aber überhaupt verkennen, ist fraglich: Im „Radikalenbeschluß" geht die Mehrheitsmeinung wohl implizit davon aus, daß das bloße Bekenntnis zu einer bestimmten Überzeugung oder einer Partei in den Bereich des Art. 3 III GG falle 376 . Auch hier wird also an Äußerlichkeiten angeknüpft, die die politische Anschauung erst zu Tage treten lassen. Daß sich die Anschauung dergestalt manifestieren muß, hielt das Gericht möglicherweise für selbstverständlich und hat es daher nicht erwähnt. Das BAG hat in seinen einschlägigen Urteilen den Verstoß gegen Art. 3 III GG abgelehnt, weil Anlaß der streitbefangenen Sanktion jeweils das Äußern, nicht das „Haben" der Überzeugung gewesen sei 377 . Das könnte bedeuten, daß Stern, FS-Hübner, 815, 824 f.; Schaub, RdA 1979, 137, 140; Gornig, Äußerungsfreiheit, S. 590 f. 371 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 132. 372 Bezeichnung s. statt vieler bei Brüse in: Bruse/Görg, BAT, § 8 Rn. 44. 373 BVerfGE 39, 334, 368. 374 BAGE 51, 246, 255; implizit auch BAG, NZA 1989, 716, 719. 375 Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 72; Gubelt in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 3 Rn. 102; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 286; BVerfGE 63, 266, 298, 304 (abweichende Meinung des Richters Simon); Dürig in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 3 Abs. III Rn. 116; schon 1954: Ipsen in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, GrundRe II, S. 146. 376 BVerfGE 39, 334, 350 f., 363 (aus der Entscheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts OVGE 77, 493, 494 f. [1921] zitierend), 368; gleiches Verständnis der Mehrheitsmeinung zeigt Rupp in seiner abweichenden Meinung, BVerfGE 39, 334, 378, 379. 377 BAGE 51, 246, 255 f.; BAG, NZA 1989, 716, 719. 6 Wullkopf

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1. Teil: Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz

Art. 3 III GG nur deshalb nicht anzuwenden sei, weil die notwendige Kausalität zwischen politischer Anschauung und Diskriminierung 378 fehle. Daß das „Haben" einer Überzeugung als Anknüpfungspunkt einer Ungleichbehandlung sich nicht nach außen manifestieren müßte, ist damit nicht gesagt; das Gegenteil wurde vielleicht auch hier als selbstverständlich vorausgesetzt. Starck weist zu Recht darauf hin, daß ein Verstoß gegen Art. 3 III GG gleichzeitig eine Verletzung des Art. 5 I S. 1 1. HS GG sein kann 379 . Dabei sind freilich auch Verhaltensweisen denkbar, die zwar dem Schutze des Art. 3 III GG unterfallen, die aber nicht unter Art. 5 I S. 1 1. HS GG subsumierbar sind: Die bloße Mitteilung, eine bestimmte Anschauung zu haben, wird regelmäßig nicht als wertende Stellungnahme, d.h. als Meinung einzuordnen sein 380 . Diese Äußerung wird dann vom Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG nicht erfaßt, liefert aber sehr wohl einen Anknüpfungspunkt für mögliche Ungleichbehandlung „wegen" der so zu Tage getretenen politischen Anschauung. Fraglich ist aber, ob die Ausführung von Bundesverfassungsgericht und BAG, Art. 3 III GG erfasse „nur ... das bloße ,Haben' einer politischen Übere381 zeugung", nicht dessen „Äußern und Betätigen" , dem widerspricht. Diese Feststellung unterschiedlicher, einander ausschließender Anwendungsbereiche besagt nicht, daß Anknüpfungspunkt einer Diskriminierung nicht auch ein Äußern sein könne. Vielmehr wird richtigerweise lediglich betont, daß Art. 3 III GG dann aber nur das „Haben" der so zu Tage getretenen Überzeugung schützt. Daß gleichzeitig das Äußern in den Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 1. HS GG fällt, wird nicht bestritten. Die Ausführungen von Bundesverfassungsgericht und BAG sind also nicht dahingehend zu verstehen, daß ein Verhalten, das von Art. 5 I S. 1 1. HS GG erfaßt wird, nicht gleichzeitig Anlaß einer von Art. 3 III GG grundsätzlich verboteten Diskriminierung sein könnte. Entgegen der Literatur ist mithin nicht davon auszugehen, daß die Rechtsprechung im „Radikalenbeschluß" und den entsprechenden BAG-Urteilen von folgender Grundrechtsauslegung abweicht: Art. 3 III GG schützt das „Haben" einer Überzeugung; Diskriminierung ist dabei nur denkbar, wenn sich das „Haben" nach außen manifestiert. Dies ist auch möglich durch eine von Art. 5 I S. 1 1. HS GG geschützte Meinungsäußerung.

378 Zu dieser Voraussetzung des Art. 3 III GG s. statt vieler Gubelt in: von Münch/ Kunig, GG I, Art. 3 Rn. 104. 379 Von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 290. 380 Vgl. die Definitionsansätze oben unter C.I.l. 381 BVerfGE 39, 334,368 (kein Kursivdruck im Original); inhaltlich ähnlich BAGE 51, 246, 255.

2. Teil

Die Meinungsfreiheit des Angestellten im öffentlichen Dienst; Fälle ihrer Beschränkung durch § 8 I BAT Nach der einführenden Darstellung der Dogmatik des Art. 5 I S. 1 1. HS GG gelangt die vorliegende Arbeit nunmehr zu ihrem Kernpunkt, der Beleuchtung der Situation der Angestellten im öffentlichen Dienst. Nach der Analyse der einschlägigen Entscheidungen des BAG soll den Besonderheiten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sodann ein kurzer gesonderter Abschnitt gewidmet sein.

A. Begriffsbestimmung: Arbeitnehmer bzw. Angestellte im öffentlichen Dienst I. Öffentlicher Dienst Eine stets gültige Definiton des „öffentlichen Dienstes" gibt es nicht 1 . Vielfach ergibt sich aus Definitionen wie etwa § 29 V I I BAT ein besonderer Begriffsinhalt oder ein solcher läßt sich durch Auslegung der den Begriff verwendenden Norm ermitteln 2. Auch außerhalb dieser Bereiche wird der Begriff des öffentlichen Dienstes zwar nicht einheitlich bestimmt. Nach ganz überwiegender Meinung aber umfaßt der öffentliche Dienst alle Beschäftigten der juristischen Personen des öffentlichen Rechts3. Diese Definition orientiert sich an

1 Kopp in: Steiner, Bes. VerwR, III Rn. 5; Stern, StaatsR I, S. 338; BVerfGE 15, 46, 61; 38, 326, 343 (abweichende Meinung des Richters Wand); 55, 207, 227. 2 Zur Auslegung: Kopp in: Steiner, Bes. VerwR, III Rn. 5; ein Beispiel für eine spezielle Auslegung des Begriffes liefern etwa BVerfGE 48, 64, 84-87 und Stober in: BK, GG XI, Art. 137 Abs. 1 Rn. 322 f., 326-330 zu Art. 137 I GG. 3 BVerfGE 55, 207,230; BVerwGE 30, 81,84; Kunig in: Schmidt-Aßmann, Bes. VerwR, 6. Abschn. Rn. 9; Stern, StaatsR I, S. 339; Battis, BBG, § 2 Anm. 2.a; Fischbach, BBG, § 2 Anm. A.I.2; Lecheler in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR III, § 72 Rn. 3; Pfennig, Begriff, S. 40; Schaub, HdbArbR, S. 90, 1539 f.; Richardi in: Richardi/Wlotzke, MünchArbRI, §27 Rn. 5; Freitag in: Richardi/Wlotzke, MünchArbRII, §180 Rn. 1; Müller, ArbeitsR im öff. Dienst, Rn. 5; Schotten, Auswirkungen, S. 14; Zöllner in: Zöllner/Loritz, ArbeitsR, S. 54 (ohne Nennung der Stiftungen).

6*

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2. Teil: Fälle der Beschränkung der Meinungsfreiheit durch § 8 I BAT

§ 130 BetrVG 4 und § 1 BPersVG 5 und entspricht beispielsweise auch der Begriffsbestimmung in § 15 II ArbPlSchG oder § la S. 1 des Niedersächsischen Beamtengesetzes. Nach Ansicht Isensees hingegen ist „öffentlicher Dienst" jede Tätigkeit bei einem Verwaltungsträger, unabhängig davon, ob dieser eine juristische Person des öffentlichen Rechts oder aber des Privatrechts ist. Beide Organisationsformen gehörten nämlich „zur demokratischen Legitimationszone des Staates..., nicht zur grundrechtlichen der Gesellschaft" 6. Dieser weite Ansatz ist jedoch in mehrfacher Hinsicht problematisch: Zum einen stellt sich die Frage nach der Tragfähigkeit der von Isensee aus einer Unterscheidung von Staat und Gesellschaft hergeleiteten 7 Begründung. Zwar ist zuzugeben, daß „der öffentlichrechtliche Mutterträger zur Einwirkung auf die" zum Zwecke der Leistungsverwaltung errichtete „privatrechtlich organisierte Tochter verpflichtet ist" 8 . Dennoch wird durch die Ausgliederung von Verwaltungsaufgaben, durch die Verlagerung von Leistungsverwaltung auf juristische Personen des Privatrechts der enge hierarchische Bereich demokratisch legitimierter Verwaltung verlassen. Zum anderen lassen die Ausführungen Isensees nicht erkennen, ob „öffentlicher Dienst" erfordert, daß der Staat z.B. alle Anteile einer zur Daseinsvorsorge errichteten GmbH hält. Die Behandlung gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen9 bleibt unklar. Zudem und vor allem ist - wie Isensee selbst zu Recht betont - das Beamtenverhältnis aufgrund des Art. 33 IV (und V) GG die verfassungsrechtliche „Normalform des öffentlichen Dienstes" 10 . Die Befugnis, Beamte einzustellen, d.h. die Dienstherrnfähigkeit, haben nach § 121 BRRG freilich außer dem Bund nur die Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände (Nr. 1) sowie diejenigen „Kör-

4 Schaub, HdbArbR, S. 90, 1539 f.; Richardi in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR I, § 27 Rn. 5. 5 Schaub, HdbArbR, S. 1539 f. 6 Isensee in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR (1. Aufl.), S. 1149 f. (mit Fn. 3); in HdbVerfR, 2. Aufl. (§ 32 Rn. 2 mit Fn. 2) bleibt Isensee eine ausdrückliche Definition schuldig und verweist auf seine Ausführungen in der Vorauflage; ähnlich wehrt sich auch Stober zumindest gegen eine pauschale Ausgrenzung der bei privatrechtlich verfaßten Einrichtungen der Leistungsverwaltung Beschäftigten (Wolff/Bachof/Stober, VerwR II, § 105 Rn. 2; § 118 Rn. 1). 7 Isensee in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR, § 32 Rn. 2 und HdbVerfR, 1. Aufl., S. 1150 (mit Fn. 3). 8 Vgl. Wolff/Bachof/Stober, VerwR II, § 105 Rn. 2. 9 Terminus z.B. bei Rudolf in: Erichsen, Allg. VerwR, § 53 Rn. 25 10 Isensee in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR, § 32 Rn. 79; ebenso: Battis in: Achterberg/Püttner, Bes. VerwR I, Kap. 4 Rn. 194; Kunig in: Schmidt-Aßmann, Bes. VerwR, 6. Abschn. Rn. 26.

Α. Begriffsbestimmung: Arbeitnehmer / Angestellte im öffentlichen Dienst

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perschafiten, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts", die dieses Recht bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits besaßen oder denen es später besonders verliehen worden ist (Nr. 2). Juristische Personen des Privatrechts haben also niemals die Befugnis, Beamte zu ernennen. Folgt man der weiten Definition Isensees, so gäbe es daher einen Bereich des öffentlichen Dienstes, in dem niemals die dafür letztlich charakteristischen Beamten beschäftigt sein könnten. Aufgrund all jener Bedenken kann der Ansicht Isensees nicht gefolgt werden. Mit der h.M. ist „öffentlicher Dienst" demnach als Tätigkeit im Dienste einer juristischen Person des öffentlichen Rechts zu verstehen. Vereinzelt wird ergänzend hinzugefügt, die Tätigkeit müsse dauerhaft ausgeübt werden 11 und/oder der Beschäftigte müsse in die Organisation der juristischen Person des öffentlichen Rechts eingegliedert sein 12 .

II. Beschäftigte im öffentlichen Dienst, insbesondere Arbeitnehmer Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes können in mehrere Gruppen gegliedert werden: Nach der Art des Rechtsverhältnisses zwischen Beschäftigtem und Anstellungskörperschaft, -anstalt oder -Stiftung sind Beamte, Richter, Soldaten und Arbeitnehmer 13 zu unterscheiden 14. Beamter im staats- oder beamtenrechtlichen Sinne15 ist, wer unter Aushändigung der vorgeschriebenen Ernennungsurkunde (siehe z.B. § 5 II, III BRRG) in ein öffentlich-rechtliches Dienst- und Treueverhältnis (siehe Art. 33 IV GG) berufen worden ist 16 . Der Inhalt dieses Dienst- und Treueverhältnisses wird auf

11 OVG Lüneburg, DVB1. 1958, 801, 803; Kunig in: Schmidt-Aßmann, Bes. VerwR, 6. Abschn. Rn. 8; Pfennig, Begriff, S. 51; wohl auch Müller, ArbeitsR im öff. Dienst, Rn. 5. 12 Kunig in: Schmidt-Aßmann, Bes. VerwR, 6. Abschn. Rn. 8; Pfennig, Begriff, S. 53; Fischbach, BBG I, § 2 Anm. A.I.2. 13 Isensee in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR, § 32 Rn. 2; Schotten, Auswirkungen, S. 14; statt von „Arbeitnehmern' 4 wird von „Angestellten und Arbeitern" gesprochen bei Lecheler in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR III, § 72 Rn. 3; Freitag in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR II, § 180 Rn. 2. 14 Battis, BBG, § 2 Anm. 2.a definiert so den öffentlichen Dienst „im weiteren Sinne"; als Beschäftigte im öffentlichen Dienst „im engeren Sinne" bezeichnet er hingegen nur „Beamte, Angestellte und Arbeiter der juristischen Person des öffentlichen Rechts"; Stern, StaatsR I, S. 340 differenziert ähnlich in öffentlichen Dienst „im weitesten", „im weiteren" und „im engeren Sinne". 15 Termini z.B. bei Müller, ArbeitsR im öff. Dienst, Rn. 8. 16 Müller, ArbeitsR im öff. Dienst, Rn. 8; Battis, BBG, § 2 Anm. 1; Kunig in: SchmidtAßmann, Bes. VerwR, 6. Abschn. Rn. 56; Wolff/Bachof/Stober, VerwR II, § 109 Rn. 1.

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2. Teil: Fälle der Beschränkung der Meinungsfreiheit durch § 8 I BAT

der Grundlage der Art. 73 Nr. 8, Art. 74a I-III, 75 Nr. 1 i.V.m. Art. 72 GG durch verschiedene Bundes- und Landesgesetze konkretisiert. Berufsrichter und Berufssoldaten sind keine Beamten, doch haben auch sie einen „Sonderstatus des öffentlichen Rechts" 17 . Zwischen Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst und der sie beschäftigenden juristischen Person besteht hingegen ein privatrechtliches Arbeitsverhältnis 18, das namentlich durch Tarifverträge eine nähere Ausgestaltung erfahren kann 19 , vgl. auch § 191 BBG. Arbeitnehmer ist dabei jeder, der aufgrund dieses seines privatrechtlichen Vertrages für die juristische Person des öffentlichen Rechts (gegen Entgelt 20 ) unselbständige Arbeit zu leisten hat 21 . Es gilt also der herrschende allgemeine Arbeitnehmerbegriff 22, d.h. auch im Recht des öffentlichen Dienstes entstehen die bekannten Abgrenzungsprobleme, beispielsweise zu 23

(nicht abhängig beschäftigten) freien Mitarbeitern . Wie bei den übrigen Arbeitnehmer 24 werden im öffentlichen Dienst Ange25

stellte und Arbeiter unterschieden . Die Unterteilung basierte ursprünglich auf der Gegenüberstellung von vorwiegend geistiger und vorwiegend körperlicher

17

Isensee in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR (1. Aufl.), S. 1150; ähnlich: ders. in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR, 2. Aufl., § 32 Rn. 2; Pfennig, Begriff, S. 57-59; OVG Lüneburg, DVB1. 1958, 801, 803 (für Berufssoldaten). 18 Richardi in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR I, § 27 Rn. 7; Battis in: Achterberg/Püttner, Bes. VerwR I, Kap. 4 Rn. 197; Otto, Recht der Angestellten, S. 47 f. 19 Kopp in: Steiner, Bes. VerwR, III Rn. 22; Kunig in: Schmidt-Aßmann, Bes. VerwR, 6. Abschn. Rn. 186, 190. 20 Battis in: Achterberg/Püttner, Bes. VerwR I, Kap. 4 Rn. 195; Wolff/Bachof/Stober, VerwR II, § 118Rn. 1. 21 Battis in: Achterberg/Püttner, Bes. VerwR I, Kap. 4 Rn. 195; Müller, ArbeitsR im öff. Dienst, Rn. 33; Freitag in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR II, § 180 Rn. 13; BAG, AP Nr. 2 zu § 616 BGB; s. auch Wolff/Bachof/Stober, VerwR II, § 118 Rn. 1-5; ebenso, wenn auch die Abgrenzung zum eigens definierten Selbständigen betonend: Mohr, Arbeitnehmerbegriff, S. 144. 22 Vgl. z.B. die (das Entgelt nicht einbeziehenden) Definitionen bei Zöllner in: Zöllner/Loritz, ArbeitsR, S. 48; Adomeit in: Hanau/Adomeit, ArbeitsR, S. 144; Gitter, ArbeitsR, S. 25; Schaub, HdbArbR, S. 53-58. 23 Freitag in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR II, § 180 Rn. 13; vgl. aus der allgemeinen arbeitsrechtlichen Literatur z.B. Adomeit in: Hanau/Adomeit, ArbeitsR, S. 145; Schaub, HdbArbR, S. 55-57. 24 Dazu aus dem allgemeinen Schrifttum z.B. Gitter, ArbeitsR, S. 32-34; Brox/ Rüthers, ArbeitsR, Rn. 21; Hanau in: Hanau/Adomeit, ArbeitsR, S. 150 f.; Zöllner in: Zöllner/Loritz, ArbeitsR, S. 55-57. 25 Battis in: Achterberg/Püttner, Bes. VerwR I, Kap. 4 Rn. 196; Schaub, HdbArbR, S. 90; Müller, ArbeitsR im öff. Dienst, Rn. 45 f.; Lecheler in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR III, §72 Rn. 3; Freitag in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR II, § 180 Rn. 2; Schotten, Auswirkungen, S. 14.

Α. Begriffsbestimmung: Arbeitnehmer / Angestellte im öffentlichen Dienst

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Arbeit 26 . Heutzutage wird indes zu Recht betont, daß aufgrund der vermehrten geistigen Anforderungen an manche (Fach-)Arbeiter und der Rationalisierung und Mechanisierung mancher Bürotätigkeiten eine derartige Differenzierung zumeist kaum möglich ist 27 . Die Unterscheidung ist somit nicht mehr zeitgemäß. Sie liegt jedoch noch einer Vielzahl von Normen zugrunde. Im Recht des öffentlichen Dienstes ist dabei beispielsweise auf das BPersVG (insbes. §§4 III, IV, 5, 171, 19 II) hinzuweisen, das für die Personalvertretung die Gruppe der Angestellten von der Gruppe der Arbeiter trennt. Von wesentlicher Bedeutung ist vor allem aber, daß Arbeiter und Angestellte unterschiedlichen Tarifverträgen unterfallen: Wichtigster Tarifvertrag für Arbeitnehmer, „die in einer der Rentenversicherung der Angestellten unterliegenden Beschäftigung tätig sind (Angestellte)", ist der Bundes-Angestelltentarifvertrag (§ 1 I BAT; Sonderregeln und Ausnahmen in §§ 2, 3 BAT; B A T - 0 für „Arbeitsverhältnisse in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet", § 1 I BAT-O). Im Gegensatz zu dieser im wesentlichen einheitlichen Regelung bestimmt sich der Geltungsbereich der wichtigsten Tarifverträge für Arbeiter nach der beschäftigenden (Gebiets-) Körperschaft. Zu unterscheiden sind der Manteltarifvertrag für die Arbeiter des Bundes (MTB II), der Manteltarifvertrag für die Arbeiter der Länder (MTL II) sowie der Bundesmanteltarifvertrag für die Arbeiter ge28

meindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G II) . Für Auszubildende, deren Klassifizierung als Arbeiter bzw. Angestellte sich nach dem jeweiligen Ausbildungsberuf richtet 29 , gibt es den Manteltarifvertrag für Auszubildende (MTV-Azubi) 3 0 . Zu betonen bleibt, daß die Geltung unterschiedlicher Tarifverträge für Angestellte und Arbeiter des öffentlichen Dienstes zum Teil im wesentlichen formaler Natur ist. Inhaltlich bestehen dagegen beträchtliche Parallelen (vgl. etwa § 9 BAT und §§ 11 MTB II, 11 M T L II).

26

RAGE 11, 189, 190; 13, 10, 15; 20, 44, 53 f.; 26, 252, 253; 36, 139, 141; 41, 122, 125; vgl. die Aufzählung von Berufsgruppen in § 1 des Versicherungsgesetzes für Angestellte, RGBl. 1911, 989, inkl. Änderung, RGBl. 1922 I, 849; auch noch: BAG, AP Nr. 3 zu § 59 HGB; Molitor, BPersVG (1955), § 5 Anm. 3; Schnorr von Carolsfeld, ArbeitsR, S. 101; Hueck/Nipperdey, ArbeitsR I, S. 72; aus der aktuellen Literatur: Müller, ArbeitsR im öff. Dienst, Rn. 49 f.; Kunig in: Schmidt-Aßmann, Bes. VerwR, 6. Abschn. Rn. 185. 27 Battis in: Achterberg/Püttner, Bes. VerwR I, Kap. 4 Rn. 196; Zöllner in: Zöllner/Loritz, ArbeitsR, S. 56; Adomeit in: Hanau/Adomeit, ArbeitsR, S. 150. 28 Freitag in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR II, § 180 Rn. 18-20. 29 Müller, ArbeitsR im öff. Dienst, Rn. 46; Freitag in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR II, § 180 Rn. 15. 30 Freitag in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR II, § 180 Rn. 21.

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2. Teil: Fälle der Beschränkung der Meinungsfreiheit durch § 8 I BAT

Eine besondere Stellung unter den Arbeitnehmern des öffentlichen Dienstes haben die Dienstordnungsangestellten 31. Bei ihnen handelt es sich um einen Teil der Angestellten bei Trägern der gesetzlichen Sozialversicherung 32. Die Arbeitsverhältnisse werden primär durch autonome Satzungen der Versicherungsträger, durch sog. Dienstordnungen, näher ausgestaltet33. Aufgrund dieser Dienstordnungen haben die entsprechenden Angestellten eine dem Beamtenstatus stark angenäherte Rechtsstellung34.

B. Die Geltung des Art. 5 I S. 1 1. HS GG im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes Da das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers des öffentlichen Dienstes wie dargestellt durch privatrechtlichen Vertrag mit einer juristischen Person des öffentlichen Rechts zustande kommt, soll nun der Frage nachgegangen werden, ob und ggf. mit welcher dogmatischen Begründung in diesem Arbeitsverhältnis die Meinungsfreiheit gilt 3 5 . Insbesondere der flüchtige Betrachter mag geneigt sein, von einer direkten Grundrechtswirkung auszugehen, wie sie im Verhältnis zwischen Bürger und übergeordnetem Staat anzutreffen ist. Der genauere Betrachter indes wird aufgrund des Vorliegens eines privatrechtlichen Vertrages zwischen den (gleichgeordneten) Beteiligten in Erwägung ziehen, daß wie zwischen privatem Arbeitgeber und Arbeitnehmer (mittelbare oder unmittelbare) Drittwirkung 36 bzw. Grundrechtswirkung allein wegen staatlicher Schutzpflichten anzunehmen sein könnte.

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Terminus z.B. bei Otto in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR III, § 278 Rn. 186; zur geschichtlichen Entwicklung des Dienstordnungsrechts s. etwa Weber, ZBR 1955, 129, 129 f.; Siebeck, Dienstordnung, S. 23-25, 106-111. 32 Freitag in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR II, § 183 Rn. 27 f.; Otto in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR III, § 278 Rn. 205; Müller, ArbeitsR im öff. Dienst, Rn. 141; Lecheler in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR III, §72 Rn. 133; Kopp in: Steiner, Bes. VerwR, III Rn. 22 (insofern abweichend, als die Dienstordnungsangestellten „neben Angestellten und Arbeitern" als eigene Gruppe erwähnt werden). 33 Freitag in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR II, § 183 Rn. 27 f.; Otto in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR III, § 278 Rn. 205; Brill, RiÀ 1985, 62, 62. 34 Freitag in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR II, §183 Rn. 28; Otto in: Richardi/Wlotzke, MünchArbR III, § 278 Rn. 205; Lecheler in: Isensee/Kirchhof, HdbDStR III, § 72 Rn. 133; Weber, ZBR 1955, 129, 129, 132; Siebeck zu BAG, AP Nr. 31 zu §611 BGB Dienstordnungs-Angestellte. 35 Fast nie wird dies Problem in der Literatur angesprochen; s. aber Lepke, DB 1968, 1990, 1994 f.; Conrad, Freiheitsrechte, S. 39; ausführlich Merklinghaus, Grundrecht, S. 106 f. 36 Für mittelbare Grundrechtswirkung ohne Begründung: Kunig in: SchmidtAßmann, Bes. VerwR, 6. Abschn. Rn. 46; Merklinghaus, Grundrecht, S. 107 (Es sei „nicht einzusehen, warum der Staat hier im Gegensatz zum privaten Arbeitgeber unmit-

Β. Geltung des Art. 5 I GG im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes

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Im Ergebnis ist also jedenfalls klar, daß Art. 5 I S. 1 1. HS GG im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes gilt. Allein der dogmatische Weg dorthin ist zweifelhaft.

I. Notwendigkeit des Rückgriffs auf die traditionelle Dreiteilung privatrechtlichen Handelns des Staates Die Beantwortung der Frage, ob im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes ein Fall der „normalen" Grundrechtswirkung oder aber ein solcher der Drittwirkung bzw. der durch Schutzpflichten vermittelten Wirkung vorliegt, könnte einen Rückgriff auf die traditionelle Dreiteilung privatrechtlichen Staatshandelns (und entsprechender Grundrechtswirkung) erfordern.

1. Die traditionelle

Dreiteilung

Herkömmlicherweise wird das privatrechtliche (i.w.S. fiskalische 37) Handeln des Staates nach seinem jeweiligen Zweck in drei Kategorien unterteilt 38 : a) Der Staat könne in privatrechtlicher Form unmittelbar öffentliche Aufgaben39/Verwaltungsaufgaben 40 erfüllten. b) Der Staat könne zu erwerbswirtschaftlichen Zwecken privatrechtlich tätig werden. c) Der Staat tätige in Privatrechtsform zudem Hilfsgeschäfte, um den Bedarf der Verwaltung an Sachgütern (und Personal ) zu decken. Jeder Kategorie wird sodann eine Form der Grundrechtswirkung zugeordnet: Hinsichtlich der unmittelbaren Aufgabenerfüllung (a) besteht dabei Einig-

telbar an die Beachtung der Grundrechte gebunden sein sollte". Eine fundierte Begründung ist dies wohl kaum.); zur Art der Grundrechtswirkung s.o. im 1. Teil unter C.VIII. 37 Von Münch in: von Münch/Kunig, GG I, Vorb. Art. 1-19 Rn. 34; Maurer, Allg. VerwR, § 3 Rn. 11; Schnapp, JuS 1989, 1, 5. 38 So z.B. Siebert, FS-Niedermeyer, S. 215, 220 f.; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 204-206; von Münch in: von Münch/Kunig, GG I, Vorb. Art. 1-19 Rn. 34; Schnapp in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 20 Rn. 40; Dürig in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 3 Abs. I Rn. 476; Maurer, Allg. VerwR, §3 Rn. 7-9, 11; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 1 Abs. 3 Rn. 142 f.; OLG Düsseldorf, DÖV 1981, 537, 538. 39 Terminologie so bei: von Münch in: von Münch/Kunig, GG I, Vorb. Art. 1-19 Rn. 34; Schnapp in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 20 Rn. 40; Dürig in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 3 Abs. I Rn. 476; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 1 Abs. 3 Rn. 142 und Art. 3 Abs. 1 Rn. 188. 40 Terminologie so bei Maurer, Allg. VerwR, § 3 Rn. 9; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 206. 41 Maurer, Allg. VerwR, § 3 Rn. 7.

2. Teil: Fälle der Beschränkung der Meinungsfreiheit durch § 8 I BAT

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keit, daß der Staat an die Grundrechte gebunden sei 42 . Diese Konstellation der Überlagerung und Bindung des Privatrechts durch öffentliches Recht wird als Verwaltungsprivatrecht bezeichnet43. (Zum Teil wird die privatrechtlich gestaltete unmittelbare Aufgabenerfüllung an sich schon „Verwaltungsprivatrecht" genannt44.) Die unter (b) und (c) beschriebenen Tätigkeiten der öffentlichen Hand werden bisweilen unter dem Begriff der („rein" 4 5 ) fiskalischen Verwaltung zusammengefaßt 46. In diesem Bereich ist die Art der Grundrechtswirkung höchst streitig. Die Bandbreite der beinahe unüberschaubaren Vielzahl von Ansichten reicht von der Ablehnung jeglicher Grundrechtsbindung 47 über die durch das Privatrecht vermittelte zumindest mittelbare Drittwirkung 48 bis zur Annahme einer unmittelbaren Wirkung der Grundrechte 49.

2. Zweckmäßigkeit eines Anknüpfens an die Dreiteilung Lepke erwähnt in einer auf Art. 5 I GG zugeschnittenen Erörterung der „Grundrechtsbindung in privat-rechtlichen Arbeitsverhältnissen mit der öffentlichen Hand" die herkömmliche Dreiteilung zwar nicht. Gleichwohl knüpft er erkennbar daran an, wenn er etwa davon spricht, daß Grundrechtsbindung bestehe, soweit „sich die Staatsgewalt zur Erfüllung der ihr obliegenden öffentlich-rechtlichen Aufgaben rein privat-rechtlicher Formen" bediene50. Fraglich 42

So z.B. von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 1 Abs. 3 Rn. 142; von Münch in: von Münch/Kunig, GG I, Vorb. Art. 1-19 Rn. 35; Maurer, Allg. VerwR, § 3 Rn. 9; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 207; BGHZ 29, 76, 80; 33, 230, 233; 37, 1, 27; OLG Düsseldorf, DÖV 1981,537, 538. 43 Maurer, Allg. VerwR, § 3 Rn. 9; Wolff in: Wolff/Bachof, VerwR I, S. 108. 44 Von Münch in: von Münch/Kunig, GG I, Vorb. Art. 1-19 Rn. 34; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 206; Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 137; von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 3 Abs. 1 Rn. 188. 45 Dürig in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 1 Abs. III Rn. 135; ders. in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 3 Abs. I Rn. 476. 46 Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 137; Schnapp in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 20 Rn. 40; Siebert, FS-Niedermeyer, S. 215, 220 f. 47 Jeweils zur Erwerbswirtschaft: Emmerich, JuS 1970, 332, 337; Klein, Teilnahme, S. 174. 48 Dürig in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 3 Abs. I Rn. 480, 490, 499 f.; Maurer, Allg. VerwR, § 3 Rn. 10; OLG Düsseldorf, DÖV 1981, 537, 539 (zu Hilfsgeschäften). 49 Kirschner, Grundrecht, S. 20 (zur absoluten Wirkung der Meinungsfreiheit); Bull, Allg. VerwR, Rn. 382 f.; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 207; Hesse, Grundzüge, Rn. 348; Stern, StaatsR III/l, S. 1413 nur „im Grundsatz", im folgenden wird jedoch keine Ausnahme gefunden (S. 1413-1422, passim), deutlich für umfassende Bindung des Staates an die Grundrechte: S. 1411 („keine verfassungsexemten Nischen"). 50 Vgl. Lepke, DB 1968, 1990, 1994.

Β. Geltung des Art. 5 I GG im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes

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ist, ob die Dreiteilung aber überhaupt dabei helfen kann, die Antwort auf die Frage zu finden, ob im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes das Grundrecht auf Meinungsfreiheit „normale" Wirkung oder Drittwirkung hat. Ein Anknüpfen an die Dreiteilung scheint zunächst schon deshalb problematisch, weil die entsprechenden Erörterungen in der Literatur unter dem Stichwort des privatrechtlichen Handelns „des Staates" auch das Handeln juristischer Personen des Privatrechts erfassen 51. Oben wurde aber festgestellt, daß „öffentlicher Dienst" mit der überwiegenden Ansicht nur als Tätigkeit bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts zu verstehen ist. Die traditionelle Betrachtungsweise scheint insoweit auf die hier in Rede stehende Frage nicht hinreichend zugeschnitten zu sein. Gleiches ergibt sich daraus, daß es Sinn der Dreiteilung ist, abstrakt-generelle Aussagen über die Grundrechtsgebundenheit oder -ungebundenheit fiskalischen Handelns treffen zu können. Auf den ersten Blick scheint sich dies zwar mit der vorliegenden Frage zu decken: Vorliegend ist jedoch nur problematisch, ob die Grundrechte im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes „normal" gelten; es besteht die arbeitsrechtliche Besonderheit, daß die Grundrechte, wenn sie nicht „normal" gelten, Drittwirkung entfalten. Das „Ob" der Geltung steht also letztlich nicht in Frage. Die traditionelle Kategorisierung führt indes z.T. zu einer völligen Freistellung privatrechtlichen staatlichen Handelns von jeglicher Grundrechtsbindung. Auch insoweit wäre ein Anknüpfen an die herkömmliche Dreiteilung fragwürdig. Entscheidend aber ist folgende Erwägung: Unterzöge man sich der Mühe, das Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes einer der drei Kategorien zuzuordnen, so wäre sonach zu klären, ob und ggf. welche Grundrechtsbindung in diesem Bereich gilt. Die Lösung wäre unabhängig vom Streitstand aus Art. 1 III GG herzuleiten, dem zufolge die Grundrechte auch die „vollziehende Gewalt ... als unmittelbar geltendes Recht" binden. Da also ohnehin ein Rückgriff auf Art. 1 III GG nötig ist, ist nicht ersichtlich, welchen Gewinn eine vorherige Kategorisierung brächte. Es ist zweckmäßiger, die Frage nach der Grundrechtsbindung durch sofortige Subsumtion unter Art. 1 III GG zu beantworten. Die Frage nach der Art der Geltung der Meinungsfreiheit im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes wird hier also nicht auf der Basis der traditionellen Dreiteilung fiskalischen Handelns beantwortet werden.

51

Statt vieler s. Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 221 f.

92

2. Teil: Fälle der Beschränkung der Meinungsfreiheit durch § 8 I BAT

II. Auslegung des Art. 1 I I I GG Ob die Meinungsfreiheit im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes aufgrund des Art. 1 III GG („normal") gilt, so daß keine Drittwirkung wie im sonstigen Arbeitsrecht anzunehmen wäre, muß eine Auslegung des Art. 1 III GG zeigen.

/. Wortlaut des Art. 1 III GG Die Literatur hat sich vielfach bemüht, aus dem Wortlaut des Art. 1 III GG abzuleiten, ob alles staatliche Handeln grundrechtsgebunden ist.

a) Frühere Ansichten: Implikation eines Subordinationsverhältnisses Der Begriff der „Gewalt" könnte zum einen auf das Erfordernis hoheitlichen 52

Handelns hindeuten , so daß das auf privatem Vertrag basierende Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes nicht von Art. 1 III GG erfaßt würde. aa) Wolff Für Wolff war der „Einsatz hoheitlicher Mittel" charakteristisch für ein Handeln der „vollziehenden Gewalt". Als zusätzliches, kumulatives Merkmal („und") schien Wolff jedoch zu fordern, daß die Verwaltung zugleich „als Träger hoheitlicher Aufgaben" tätig werden müsse, um der Bindung des Art. 1 III GG zu unterliegen 53. Eine solche zweigliedrige Definition der „vollziehenden Gewalt" hieße, daß beim Fehlen einer der Voraussetzungen Art. 1 III GG nicht griffe. Bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben in Privatrechtsform wird die Verwaltung evident als „Träger hoheitlicher Aufgaben" tätig, so daß zumindest diese Voraussetzung „vollziehender Gewalt" erfüllt wäre. Da jedoch der privatrechtlich handelnde Staat gerade keine hoheitlichen Mittel einsetzt, so hätte Wolff nach seiner zweigliedrigen Definition dazu kommen müssen, daß mangels Vorliegens dieses zweiten Wesensmerkmales keine „vollziehende Gewalt" ausgeübt wird. Damit entfiele für das Gebiet öffentlicher Aufgabenerfüllung in Privatrechtsform die Grundrechtsbindung durch Art. 1 III GG.

52 53

Ehlers, DVB1. 1983, 422, 424. Wolff in: Wolff/Bachof, VerwR I, S. 106 bei l.(ct).

Β. Geltung des Art. 5 I GG im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes

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Im diametralen Gegensatz zu diesem konsequenten Ergebnis erläuterte Wolff, für dieses Gebiet gelte das sog. Verwaltungsprivatrecht, was insbesondere eine Bindung an die Grundrechte bedeute. Art. 1 III GG binde nämlich die vollziehende Gewalt „ohne Rücksicht auf die Form ihres Tätigwerdens" 54. Wie aber kann dies der Fall sein, wenn sich die „vollziehende Gewalt" doch auch über den Einsatz hoheitlicher Mittel, d.h. indirekt über die „Form des Tätigwerdens" definieren soll? Einsatz hoheitlicher Mittel und Form des Tätigwerdens sind schließlich bloß zwei Kehrseiten einer Medaille: Nur beim Tätigwerden der Verwaltung in öffentlich-rechtlicher Form werden hoheitliche Mittel eingesetzt. Die Argumentation Wolffs ist somit in sich nicht schlüssig: Es geht nicht an, zu behaupten „a (vollziehende Gewalt) = b (hoheitliche Mittel) + c (öffentliche Aufgabenerftillung)" und zugleich „c (öffentliche Aufgabenerfullung) = a (vollziehende Gewalt)". Dieser eklatante logische Widerspruch könnte allenfalls dadurch zur Auflösung gebracht werden, daß man die beiden ursprünglichen Definitionsglieder alternativ versteht. Wolffs erste Aussage hätte dann folgenden Inhalt: „Vollziehende Gewalt" i.S.d. Art. 1 III GG wird ausgeübt, wenn die Verwaltung entweder als Träger hoheitlicher Aufgaben auftritt oder wenn hoheitliche Mittel eingesetzt werden 55 . Zweite Aussage wäre wie zuvor, daß „vollziehende Gewalt" stets unabhängig von der Form ihres Tätigwerdens (d.h. von der Möglichkeit des Einsatzes hoheitlicher Mittel) durch Art. 1 III GG gebunden ist 56 . Das hieße aber, mit der zweiten Aussage ein Element der vorherigen Definition zu negieren. Ob das jedoch der Intention Wolffs entspricht, ist zweifelhaft. Auch ein versuchsweises Verständnis der beiden Definitionsglieder als zweier alternativer Voraussetzungen hilft also nicht weiter. Die Erläuterungen Wolffs können nach alledem zur wörtlichen Auslegung des Art. 1 III GG nichts beitragen und sind fortan außer Betracht zu lassen.

bb) Forsthoff,

Klein

Nach Ansicht Forsthoffs war der Begriff der „vollziehenden Gewalt" „herkömmlich und in seiner Bedeutung klar". Das Wort „Gewalt" impliziere ein Subordinationsverhältnis. Fiskalisches Handeln erfolge hingegen in „einvernehmlichen Formen des Rechtshandelns", unterliege also nicht der Bindung

54 55 56

Wolff in: Wolff/Bachof, VerwR I, S. 108 f. (Zitat: S. 109 bei 1.). Vgl. Wolff in: Wolff/Bachof, VerwR I, S. 106. Vgl. Wolff in: Wolff/Bachof, VerwR I, S. 109.

94

2. Teil: Fälle der Beschränkung der Meinungsfreiheit durch § 8 I BAT

des Art. 1 III GG 5 7 . Wenig später vertrat Klein, wenn auch ohne Verweisung auf Forsthoff, dieselbe Ansicht 58 . Demnach griffe Art. 1 III GG bei dem in Rede stehenden privatrechtlichen Dienstverhältnis zwischen juristischer Person des öffentlichen Rechts und Arbeitnehmer also nicht.

b) Heutige Tendenz: Unergiebigkeit der Wortlautauslegung des Art. 1 III GG Heutzutage wird betont, daß „vollziehende Gewalt" sowohl die Organe der Zweiten Gewalt (bei all ihrer Tätigkeit) als auch ihre (hoheitliche) Tätigkeit an sich bezeichnen könnte 59 . Zippelius meint, sich für keine der beiden Möglichkeiten entscheiden zu können 60 . Somit wäre die grammatikalische Auslegung des Art. 1 III GG nicht ergiebig. Dürig hingegen behauptet, da eine Tätigkeit nicht als Anspruchsverpflichtete tauge, verpflichte Art. 1 III GG die Gewaltenträger bei all ihren Tätigkeiten 61 . Anderenorts wird lediglich lapidar festgestellt, daß „vollziehende Gewalt" auch Verwaltung in privatrechtlicher Form 62 bzw. alles staatliche Tätigwerden erfasse, das funktionell weder Gesetzgebung noch Rechtsprechung sei 63 . Warum diese an der Funktion orientierte Betrachtung der am Funktionsträger orientierten vorgezogen wird, ist nicht ersichtlich. Stern vertritt zum einen, der Begriff der „vollziehenden Gewalt" umfasse sowohl die „formell verstandenen Funktionsträger" als auch die „materiell verstandenen Funktionen" 64 . In der Folge kann man hingegen lesen, die wörtliche Auslegung sei anders als die teleologische Betrachtung nicht ausschlaggebend bzw. Wortlaut (und Entstehungsgeschichte) der Norm sei schon gar nicht eindeutig 65 . Sterns Darlegung trägt zum Verständnis des Art. 1 III GG daher nichts bei.

57

Forsthoff, Auftraggeber, S. 13 f.; ders., BayVBl. 1964, 101, 102. Klein, Teilnahme, S. 170 f. 59 Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 136; Stern, StaatsR III/l, S. 1204; schon früher: Krüger, NJW 1955, 684, 684. 60 Maunz/Zippelius, StaatsR, S. 136. 61 Dürig in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 1 Abs. III Rn. 101. 62 Ehlers in: Erichsen, Allg. VerwR, § 2 Rn. 76. 63 Denninger in: AK, GG I, Art. 1 Abs. 2, 3 Rn. 27; Krüger, NJW 1955, 684, 684. 64 Stern, StaatsR III/l, S. 1204. 65 Stern, StaatsR III/l, S. 1410. 58

Β. Geltung des Art. 5 I GG im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes

95

c) Stellungnahme, Ergebnis Die neuere Literatur macht deutlich, daß der Wortlaut des Art. 1 III GG keineswegs eindeutig ist. Das rechtslogische Argument Dürigs, eine Tätigkeit sei als Anspruchsverpflichtete ungeeignet, ist zwar nicht zu bestreiten. Doch ist zu berücksichtigen, daß ein bloßes Anknüpfen an die Tätigkeit noch nicht deren Verpflichtung bedeutet, sondern vielmehr eine Verpflichtung der handelnden Organe bedeuten kann. Solch eine Sichtweise wäre rechtslogisch nicht angreifbar und nötigte nicht zu einem formalen, vom Organ her bestimmten Verständnis „vollziehender Gewalt". Keine der möglichen Auslegungen des Art. 1 III GG ist also zwingend. Eine nachvollziehbare, nur auf dem Wortlaut der Norm basierende Auslegung des Begriffes der „vollziehenden Gewalt" ist somit nicht möglich. Die Frage, ob Art. 1 III GG im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes zur Bindung der juristischen Person des öffentlichen Rechts an Art. 5 I S. 1 1. HS GG fuhrt, kann auf diesem Wege folglich nicht beantwortet werden.

2. Systematische Auslegung Eine systematische Betrachtung des Art. 1 III GG unter Einbeziehung grammatikalischer und teleologischer Aspekte gibt hingegen Aufschluß über den Begriff der „vollziehenden Gewalt".

a) Art. 1 III GG und Art. 20 II GG Art. 1 III GG spricht wie Art. 20 II S. 2 GG von der „vollziehenden Gewalt" neben Gesetzgebung und Rechtsprechung. Da letztere nicht privatrechtlich ausgeübt werden, läge es nahe, auch im Rahmen der vollziehenden Gewalt nur hoheitliches Handeln an Art. 1 III GG zu binden. Doch bezeichnet Art. 20 II GG in S. 1 die „vollziehende Gewalt" zusammen mit Gesetzgebung und Rechtsprechung als „alle Staatsgewalt". Art. 1 III GG, der ebenfalls die drei Gewalten aufzählt, bindet also auch „alle Staatsgewalt"66. Wenn nun der Staat nichts anderes als Staatsgewalt ausüben könnte, so bände Art. 1 III GG alles staatliche Handeln, d.h. namentlich die juristische Person des öffentlichen Rechts im Rahmen des Arbeitsverhältnisses. Daß der Staat auch ohne Staatsgewalt handeln könnte, ergibt sich nicht schon daraus, daß er zum Teil privatrechtsförmig handeln kann: Diese Feststel-

66

Gedankengang z.B. auch bei Gusy, DÖV 1984, 872, 878; Schnapp, JuS 1989, 1, 6.

96

2. Teil: Fälle der Beschränkung der Meinungsfreiheit durch § 8 I BAT

lung betrifft nur die Handlungs/or/w 67. Allenfalls auf dem Boden der älteren Fiskustheorie 68, der zufolge eine (privatrechtlich handelnde) Rechtsperson namens Fiskus selbständig neben dem hoheitlich handelnden Staat stehen sollte 69 , könnte ein Tätigwerden des Fiskus' außerhalb der Staatsgewalt vorstellbar sein 70 . Von dieser Theorie begann man jedoch schon Ende des 19. Jahrhunderts Abstand zu nehmen71. Mithin kann der Staat nichts anderes als Staatsgewalt ausüben. Die Norm des Art. 1 III GG bindet also „alle Staatsgewalt" i.S. aller staatlichen Tätigkeiten. Die Norm knüpft „an den Staat als handelndes Subjekt, nicht hingegen an den Inhalt der jeweiligen Maßnahme an. Die Grundrechte wirken, wenn und weil es der Staat ist, der handelt" 72 . Die jeweilige Aufzählung der drei Gewalten ist mithin i.S.d. der Gewaltenteilungslehre so zu interpretieren, daß „vollziehende Gewalt" alle Tätigkeiten der Zweiten Gewalt schlechthin bezeichnet73. Die an Art. 20 II GG orientierte Auslegung des Art. 1 III GG spricht also für eine Bindung jeglicher Verwaltungstätigkeit an die Grundrechte.

b) Art. 1 (I S. 2) GG Art. 1 III GG muß überdies im Lichte des Art. 1 I S. 2 GG betrachtet werden 74 , dem zufolge Achtung und Schutz der Menschenwürde „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" ist. Soeben wurde bereits herausgearbeitet, daß „alle Staatsgewalt" mit Jegliche staatliche Tätigkeit" gleichzusetzen ist. Wenn man nun feststellen könnte, daß Art. 1 I S. 2 GG dieselben Adressaten hat wie der Abs. 3, so käme man auf diesem Wege wiederum zu dem Ergebnis, daß Abs. 3 die „vollziehende Gewalt" bei jeder ihrer Tätigkeiten bindet. Zum Teil werden die Grundrechte des Abs. 3 als Ausgestaltung der in Abs. 2 genannten Menschenrechte verstanden. Diese sollen ihrerseits auf die in Abs. 1 garantierte Menschenwürde zurückgehen 75. Unter dieser Prämisse eng-

67

Schnapp, JuS 1989, 1, 6; vgl. Klein, Teilnahme, S. 166 (nach Fn. 52). Terminus ζ. B. bei Ehlers, DVB1. 1983, 422, 425. 69 Ausfuhrliche Darstellung bei Mayer, Dt. VerwR I, S. 49-51. 70 Vgl. Zeidler, VVDStRL 19 (1961), 208, 226. 71 So z.B. im Jahre 1892: Haenel, Dt. StaatsR I, S. 161(„durchaus unrichtige Vorstellung"); im Jahre 1923: Mayer, Dt. VerwR I, S. 120. 72 Zitat: Gusy, DÖV 1984, 872, 878; ähnlich: von Mutius, JuS 1977, 99, 101. 73 Ehlers, DVB1. 1983, 422, 424; Stern, StaatsR III/l, S. 1203. 74 Zeidler, VVDStRL 19 (1961), 208, 226 f.; Stern, StaatsR III/l, S. 1410 f. 75 Zeidler, VVDStRL 19 (1961), 208, 226 im Abschluß an Dürig in: Maunz/Dürig, GG I, Art. 1 Abs. I Rn. 6 f., 73; Art. 1 Abs. III Rn. 91. 68

Β. Geltung des Art. 5 I GG im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes

97

sten inhaltlichen Zusammenhanges ist davon auszugehen, daß die Adressaten des Abs. 1 und des Abs. 3 identisch sind. Unabhängig von dieser Überlegung spricht aber auch die bloße systematisch enge Verknüpfung der Passagen als zweier Absätze eines Grundgesetzartikels für die Übereinstimmung der Adressaten 76 und somit auch für die Bindung jeglichen staatlichen Handelns durch Abs. 3.

c) Art. 1 GG und Art. 79 GG Forsthoff wies darauf hin, daß Art. 1 III GG namentlich deshalb nur hoheitliches Handeln erfasse, weil es nur gegen übergeordnete staatliche Macht der Abwehrfunktion der Grundrechte bedürfe 77. Doch einerseits beschränkt sich die Grundrechtsfunktion nicht auf den status negativus78. Andererseits und vor allem ergibt die Zusammenschau insbesondere der Art. 1 und 79 III GG, daß das Grundgesetz durchdrungen ist von dem Streben nach uneingeschränkter, optimaler Grundrechtsgeltung 79. „Es soll kein Reservat staatlichen Wirkens geben, das dem Geltungsanspruch der Verfassung nicht untersteht. Verfassungsgebundenheit ist die ratio essendi des vom Grundgesetz verfaßten Staates"80. Auch die teleologisch beeinflußte Betrachtung bestätigt mithin das bisherige Ergebnis umfassender Bindung des Staates durch Art. 1 III GG.

d) Ergebnis der systematischen Auslegung Die systematische Auslegung des Art. 1 III GG ergibt also, daß alles staatliche Handeln, d.h. auch das privatrechtsförmige, der Grundrechtsbindung unterliegt. Demnach gilt Art. 5 I S. 1 1. HS GG im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes über Art. 1 III GG.

76

Stern, StaatsR III/l, S. 1202. Forsthoff, BayVBl. 1964, 101, 102; auch ders., Auftraggeber, S. 13 f. 78 Zu den klassischen Grundrechtsfunktionen : Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 60-71. 79 Vgl. Zeidler, VVDStRL 19 (1961), 208,227; Ehlers, DVB1. 1983, 422, 425; Stern, StaatsR III/1, S. 1411 f. 80 Zitat: Stern, StaatsR III/l, S. 1411; sehr ähnlich: Ehlers, DVB1. 1983, 422,425; Hesse, Grundzüge, Rn. 348 und Pietzcker, Staatsauftrag, S. 399 f. 77

7 Wullkopf

2. Teil: Fälle der Beschränkung der Meinungsfreiheit durch § 8 I BAT

98

3. Historische Auslegung Art. 1 III GG band ursprünglich Gesetzgebung, „Verwaltung" und Rechtsprechung an die Grundrechte 81. Erst durch das Gesetz zur Ergänzung des 82

Grundgesetzes vom 19.03.1956 wurde die heutige Fassung geschaffen. Der Begriff der „Verwaltung" wurde durch den der „vollziehenden Gewalt" ersetzt, um die Grundrechtsbindung der wohl nicht als „Verwaltung" zu bezeichnenden Bundeswehr klarzustellen. Der Begriff der „vollziehenden Gewalt" sollte dabei nicht umfassender sein als derjenige der „Verwaltung". Die bloße Änderung der Formulierung sollte Art. 1 III GG nicht inhaltlich ändern 83. Man muß also ungeachtet des neuen Wortlautes fragen, ob „Verwaltung" etwa nur hoheitliches Tätigwerden der öffentlichen Hand erfaßte. In den Beratungen zum Grundgesetz finden sich insoweit keinerlei Anhaltspunkte 84. So kann man nur mutmaßen: Einerseits sollte möglicherweise an die verbreitete Auffassung der Weimarer Zeit angeknüpft werden, daß fiskalisches Handeln weitgehend frei von Grundrechtsbindung sei 85 . Dann würde Art. 1 III GG auch in seiner heutigen Fassung evtl. eine differenzierte Bindung privatrechtsförmigen Verwaltungshandelns erlauben. Andererseits war die ältere Fiskustheorie, der zufolge nicht der obrigkeitliche Staat, sondern der selbständige Fiskus privatrechtlich handelte, zur Zeit der Schaffung des Grundgesetzes bereits ad acta gelegt 86 . „Dem Verfassungsgeber kann daher nicht unterstellt werden, daß er die privatrechtliche Verwaltung nicht als Verwaltung im Sinne des Grundgesetzes ansehen wollte" 8 7 . Der ursprüngliche Begriff der „Verwaltung" und damit insoweit der heutige der „vollziehenden Gewalt" kann demnach nicht zweifelsfrei geklärt werden. Dennoch stützt die historische Auslegung des Art. 1 III GG mit Hilfe der Materialien zum genannten Änderungsgesetz das bereits durch systematische Betrachtung gefundene Ergebnis. Es hieß damals: „Die Neufassung soll klarstellen, daß a l l e Ausübung von Staatsgewalt an Grundrechte gebunden ist. Dies war auch bisher der Wille des Grundgesetzes" 88. Nach den obigen Überle-

81

BGBl. 1949, S. 1. BGBl. 1956 I, S. 111. 83 BT-Drucks. 2/2150, S. 1 f. 84 Vgl. Matz in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 48-54. 85 Vgl. Jellinek, VerwR, S. 25; Giese in: Giese/Neuwiem/Cahn, Dt. VerwR, S. 13 (für völlige Freiheit von Grundrechtsbindung). 86 S.o. unter 2.a). 87 Ehlers, DVB1. 1983, 422, 425; ähnlich der Gedankengang bei Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 207. 88 BT-Drucks. 2/2150, S. 2 (Hervorhebungen im Original). 82

C. Die einschlägigen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

99

gungen bedeutet das eine Bindung auch des privatrechtsförmigen Handelns. Eine eindeutige historische Auslegung des Art. 1 III GG ist also doch möglich. Es gibt kein Handeln der vollziehenden Gewalt, das nicht von Art. 1 III GG erfaßt ist.

4. Ergebnis der Auslegung des Art. 1 III GG Die rein grammatikalische Auslegung hilft zwar vorliegend nicht weiter. Die (mit grammatikalischen und teleologischen Elementen verknüpfte) systematische und die historische Auslegung fuhren hingegen zu dem Ergebnis, daß jedes Handeln der Exekutive, auch das fiskalische, nach Art. 1 III GG der Grundrechtsbindung unterliegt. Es gibt für den Staat „keine verfassungsexemten Ni89

sehen", namentlich keine grundrechtsfreien Räume . Dem entspricht hier auch die allgemeine Ansicht, daß der Staat sich nicht durch Auswechseln der Rechtsform seiner Grundrechtsbindung soll entziehen können 90 . Die klare Verfassungslage läßt im übrigen auch keinen Raum für die (rechtspolitische) Argumentation von Teilen der (älteren) Literatur 91 , daß die umfassende Grundrechtsbindung abzulehnen sei, da sie die Wettbewerbsfähigkeit des privatrechtlich handelnden Staates verhindere. Wie jedes Grundrecht, so gilt mithin auch das hier in Rede stehende Recht auf Meinungsfreiheit über Art. 1 III GG für das privatrechtsförmige Handeln des Staates, namentlich also im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes.

C. Die einschlägigen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Im folgenden sollen einschlägige Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts zunächst kurz dargestellt und anschließend auf ihre Vereinbarkeit mit den oben herausgearbeiteten Grundsätzen überprüft werden. Dabei wird auf die Einschränkungen des Grundrechts auf Meinungsfreiheit besonderes Gewicht gelegt.

89

Stern, StaatsR III/l, S. 1411 (Zitat); ganz ähnlich: Hesse, Grundzüge, Rn. 347 f. Vgl. Baumgärtel in: Baumgärtel/Fieberg, GKÖD (Fürst) IV/1, Τ § 8 Rn. 29, 13; Maurer, Allg. VerwR, § 3 Rn. 9. 91 Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 133; ders., JuS 1970, 332,334; ähnlich: Klein, Teilnahme, S. 166; a.A. heute Ehlers, DVB1. 1983, 422,425; Gusy, DÖV 1984, 872, 879; Pieroth/Schlink, GrundRe, Rn. 207; Hesse, Grundzüge, Rn. 347. 90

*

100

2. Teil: Fälle der Beschränkung der Meinungsfreiheit durch § 8 I BAT

I. Vorwurf mangelnder allgemeiner politischer Zurückhaltung (§ 8 I S. 1 BAT) Nach § 8 I S. 1 BAT hat sich der Angestellte so zu verhalten, wie es von Angehörigen des öffentlichen Dienstes erwartet wird. In Entscheidungen aus den Jahren 1982 und 1996 leitet das BAG daraus die Pflicht zur Zurückhaltung bei politischer Betätigung, d.h. Meinungsäußerung ab. In einem älteren Urteil aus dem Jahre 1959 hat das BAG diese Pflicht hingegen nicht der Tarifhorm entnommen, sondern in Gestalt eines allgemein anerkannten Grundsatzes angewendet.

1. Anti-Atomkraft-Plaketten im Dienst; Urteil des BAG vom 2.3.1982 - 1 AZR 694/79

92

Der 1. Senat hatte zu entscheiden, ob angestellte Lehrer im öffentlichen Dienst während des Unterrichts eine Anti-Atomkraft-Plakette tragen dürfen.

a) Darstellung des Urteils aa) Sachverhalt Die Kläger waren bei der Freien und Hansestadt Hamburg „auf der Grundlage des Bundes-Angestelltentarifvertrages (BAT)" als angestellte Lehrer beschäftigt. Sie trugen während des Unterrichts die allbekannte Anti-AtomkraftPlakette. Dies wurde ihnen vom Schulleiter untersagt. Die Kläger hielten das Verbot für unwirksam und wollten die Plakette weiterhin auch während des Unterrichts tragen 93 . Sie haben beantragt festzustellen, daß das Tragen der Plakette im Dienst keine Pflichtverletzung darstelle. Sowohl das Arbeitsgericht als auch das Landesarbeitsgericht haben der Klage stattgegeben. Die beklagte Freie und Hansestadt Hamburg legte erfolgreich Revision ein 94 . bb) Entscheidungsgründe Nach Ansicht des BAG ergibt sich eine Verpflichtung der Beklagten, im Unterricht keine Anti-Atomkraft-Plakette zu tragen, bereits aus § 8 I S. 1 BAT.

92 93 94

BAGE 38, 85 ff. BAGE 38, 85, 85. BAGE 38, 85, 86 f.

C. Die einschlägigen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

101

Das vom Schulleiter ausgesprochene Verbot sei nur ein Hinweis auf diese Rechtslage95. § 8 I S. 1 BAT verpflichtet den Angestellten, „sich so zu verhalten, wie es von Angehörigen des öffentlichen Dienstes erwartet wird". Das bedeute auch, daß sich die Angestellten bei politischer Betätigung mäßigen und zurückhalten müßten. Dieses für Beamte etwa in § 35 II BRRG fixierte Gebot stelle „einen für den gesamten öffentlichen Dienst... geltenden allgemeinen Grundsatz" dar, „der daraus folgt, daß sämtliche Angehörigen des öffentlichen Dienstes ... dem ganzen Volke und nicht einer Partei oder einer sonstigen politischen Gruppierung dienen" 96 . Das Tragen einer Plakette mit roter Sonne auf gelbem Grund und der Aufschrift „ATOMKRAFT? - NEIN DANKE" sei eine politische Betätigung, der Träger gebe seine Meinung kund und werbe zudem für sie 97 . Welches Maß an Zurückhaltung bei politischer Betätigung wegen § 8 I S. 1 BAT geboten sei, hänge von der dienstlichen Funktion des Arbeitnehmers ab 98 . Angestellte Lehrer treffe aufgrund des Bildungs- und Erziehungsauftrages der Schule eine besonders weitgehende Zurückhaltungspflicht 99. Durch das Tragen der Plakette während des Unterrichts verletze ein Lehrer „diese Pflicht, weil er damit seine eigene politische Meinung fortwährend plakativ und betont herausstellt und so die Gefahr heraufbeschwört, daß Schüler schon im Hinblick auf seine Autorität als Lehrer unreflektiert zu seiner Ansicht gedrängt werden" 100 . Das auf § 8 I S. 1 BAT basierende Verbot, während des Unterrichts eine Anti-Atomkraft-Plakette zu tragen, verstoße auch nicht gegen die Meinungsfreiheit, denn § 8 I S. 1 BAT sei ein allgemeines Gesetz i.S.d. Art. 5 II GG. Dieses müsse zwar seinerseits im Lichte des Art. 5 I GG ausgelegt werden, die Grundrechtseinschränkung müsse verhältnismäßig sein. Dies sei aber vorliegend der Fall. „Angesichts der überragenden Bedeutung der Bildungs- und Erziehungsaufgabe wird dem Lehrer nichts Unangemessenes zugemutet, wenn er seine politische Meinung während des Dienstes nicht durch das Tragen einer Plakette zum Ausdruck bringen darf." „Die Einbuße an Meinungsäußerungsfreiheit für die Kläger hält sich daher in engen, im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut angemessenen Grenzen, so daß sie von den Klägern hingenommen werden muß" 1 0 1 .

95

BAGE 38, 85, 89, 92. BAGE 38, 85, 92. 97 BAGE 38, 85, 92 f. 98 BAGE 38, 85, 93. 99 BAGE 38, 85, 93 f. 100 BAGE 38, 85, 95. 101 BAGE 38, 85, 95 f. (Zitat: S. 96). 96

102

2. Teil: Fälle der Beschränkung der Meinungsfreiheit durch § 8 I BAT

b) Kritik des Urteils vom 2.3.1982 - 1 AZR 694/79 aa) Art der Grundrechtswirkung Der erkennende Senat hat vorliegend einen Verstoß gegen Art. 5 I S. 1 1. HS GG geprüft. Die oben 102 als nicht unproblematisch dargestellte Art der Grundrechtswirkung fand dabei zwar keine Erwähnung. Doch kann dem Gericht daraus kein Vorwurf gemacht werden: Von der unmittelbaren Drittwirkung wandte sich das BAG erst 1985 ab 103 . Als aber die vorliegende Entscheidung im Jahre 1982 erging, vertrat das BAG noch in ständiger Rechtsprechung, daß die Meinungsfreiheit im Verhältnis des Arbeitnehmers zum privaten Arbeitgeber unmittelbar gelte 104 . Bei Zugrundelegung dieser Auffassung ist die unmittelbare (Dritt-) Wirkung des Art. 5 I S. 1 1. HS GG im in Rede stehenden Falle unproblematisch. Entsprechende längere Erörterungen wären daher unergiebig gewesen. Allenfalls hätte ein kurzer Hinweis ergehen können.

bb) Meinungsäußerung Das Tragen einer Anti-Atomkraft-Plakette ist eine wertende Stellungnahme gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie, d.h. eine Meinung i.S.d. Art. 5 I S. 1 1. HS GG 1 0 5 . Die Meinung wird durch Schrift (ATOMKRAFT? - NEIN DANKE) und Bild (symbolträchtige, weil damals allbekannte rote Sonne auf gelbem Grund) geäußert. Die Entscheidungsgründe enthalten keine diesbezügliche deutliche Subsumtion. Statt dessen wird sofort von „Meinungsplaketten" 1 0 6 gesprochen; näher dargestellt wird sodann, daß es sich um eine politische Meinungsäußerung handelt 107 . Im Rahmen der Prüfung des Art. 5 I GG 1 0 8 wird die Frage daraufhin überhaupt nicht mehr angesprochen, was aufgrund der eindeutigen Sach- und Rechtslage indes auch entbehrlich war.

102 103 104 105 106 107 108

Unter B. BAGE 48, 122, 138; vgl. dazu im 1. Teil, C.VIII. BAGE 1, 185, 193 f.; 24, 438, 441. Vgl. statt vieler i.E. Thiele, PersV 1993, 433, 436; Definition: s.o., 1. Teil, C.LI. BAGE 38, 85, 90 f. BAGE 38, 85, 92 f. BAGE 38, 85, 95 f.

C. Die einschlägigen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

cc) Eingriff

in die Meinungsfreiheit;

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Beschränkung des Grundrechts

Das Verbot der Meinungsäußerung ist ein klassischer Eingriff 109 . Dies wurde vom BAG nicht erwähnt, war aber auch selbstverständlich und daher nicht erwähnungsbedürftig. Indes wird überhaupt erst am Ende der Entscheidungsgründe (kurz) gesagt, daß das sich angeblich aus § 8 I S. 1 BAT ergebende Verbot des Plakettentragens im Dienst die Kläger nicht in ihrem Recht auf Meinungsfreiheit verletze 110 . Erst zum Schluß wird also die Frage gestellt, ob das Verbot quasi ausnahmsweise wegen Unvereinbarkeit mit Art. 5 I S. 1 1. HS GG nicht rechtmäßig sein könnte. Zumal da § 8 I S. 1 BAT ohne Problematisierung als allgemeines Gesetz angesehen wird, mag eine solche Vorgehensweise zwar dem Grundsatz des Anwendungsvorranges einfachen Rechts entsprechen. Außerdem konnte das BAG einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit unproblematisch verneinen. Dennoch ist bedenkenswert, ob man mit der Frage, ob quasi „im übrigen" vielleicht Art. 5 I S. 1 l . H S G G verletzt sei, der Bedeutung und Struktur der Meinungsfreiheit gerecht werden kann. Vielmehr könnte anders herum zu fragen sein, ob und insbesondere auf welcher Grundlage das grundsätzlich geschützte Verhalten ausnahmsweise verboten sein könnte 111 . Dem Vorrang einfachen Rechts entspräche zudem die mit der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Wechselwirkungslehre vorzunehmende Auslegung des § 8 I S. 1 BAT im Lichte der besonderen Bedeutung des Art. 5 I S. 1 1. HS GG 1 1 2 .

(1) § 8 I S. 1 BAT - entgegen der Ansicht des BAG kein „allgemeines Gesetz" Der erkennende Senat stellt nur lapidar fest, daß § 8 I S. 1 BAT ein „allgemeines Gesetz" i.S.d. Art. 5 II GG sei 113 . Eine Begründung fehlt. Die Pflicht, sich so zu verhalten, wie es von Angehörigen des öffentlichen Dienstes erwartet wird, verbietet dem Angestellten entsprechendes inadäquates Verhalten, jedoch keine Meinungsäußerung als solche. § 8 I S. 1 BAT ist somit eine meinungsneutrale Verhaltensnorm und daher „allgemein" i.S. der obigen Definition 114 . 109 110 111 112 113 1,4

S.o. 1. Teil, D. BAGE 38, 85, 95 (f.). Vgl. Buschmann/Grimberg, ArbuR 1989, 65, 67. Vgl. ArbG Frankfurt a.M., KJ 1983, 69, 74. BAGE 38, 85, 95 f. S.o. 1. Teil, E.I.2.e).

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2. Teil: Fälle der Beschränkung der Meinungsfreiheit durch § 8 I BAT

Nach dem hier vertretenen Standpunkt kann aber nur ein formelles Gesetz ein allgemeines „Gesetz" sein 115 . § 81 S. 1 BAT hingegen ist lediglich eine Vorschrift eines Tarifvertrages, keine im Gesetzgebungsverfahren entstandene staatliche Norm, d.h. kein formelles Gesetz116. Die Qualität des § 8 I S. 1 BAT wird auch nicht etwa durch § 4 I S. 1 TVG beeinflußt. Nach dieser Vorschrift gelten „die Rechtsnormen des Tarifvertrages, die den Inhalt ... von Arbeitsverhältnissen ordnen, ... unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallen". § 8 I S. 1 BAT betrifft zwar nicht schuldrechtliche Pflichten der Tarifvertragsparteien, sondern durchaus den Inhalt von Arbeitsverhältnissen und gehört daher nicht zum schuldrechtlichen, sondern zum normativen Teil 1 1 7 des Tarifvertrages (vgl. § 1 I TVG). § 8 I S. 1 BAT gilt also nach Maßgabe des § 4 I S. 1 TVG „unmittelbar und zwingend". Doch soll so nur die „zwingende Rechtsnatur" der Vorschriften „als Mindestarbeitsbedingungen" sichergestellt werden 118 . § 8 I S. 1 BAT erzeugt insoweit lediglich Wirkungen wie ein materielles Gesetz. Die Qualität eines formellen Gesetzes, die durch die Einhaltung des Gesetzgebungsverfahrens begründet wird, erhält § 8 I S. 1 BAT durch die Geltungsanordnung des § 4 I S. 1 TVG aber nicht. Somit stellt § 8 I S. 1 BAT entgegen der Ansicht des BAG kein „allgemeines Gesetz" i.S.d.Art. 5 II GG dar 1 1 9 .

(2) Der „allgemeine Grundsatz" der Mäßigungspflicht als „Grundregel über das Arbeitsverhältnis"? Nach Ansicht des BAG „umfaßt" § 8 I S. 1 BAT „auch das Gebot der Mäßigung und Zurückhaltung bei politischer Betätigung". Für die Beamten sei dieses Gebot etwa in § 35 II BRRG oder § 58 HmbBG ausdrücklich fixiert. Es gelte jedoch auch für die angestellten Kläger, denn es handele sich dabei „um einen für den gesamten öffentlichen Dienst und damit auch für die im Arbeitsverhältnis stehenden Mitarbeiter geltenden allgemeinen Grundsatz, der daraus folgt, daß sämtliche Angehörigen des öffentlichen Dienstes ... dem ganzen

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S.o. 1. Teil, E.I. 1., insbes. unter d). Vgl. i.E. BAGE 1, 258, 263; Krüger, NJW 1955, 684, 684; implizit: Klein, Rechtsgutachten, S. 19. 117 Termini schon bei Hueck/Nipperdey, ArbeitsR II/l, S. 207 f.; nun z.B. bei Zöllner in: Zöllner/Loritz, ArbeitsR, S. 328; Schaub, HdbArbR, S. 1651. 118 Kempff, Grundrechte, S. 71. 1,9 Zachert, ArbuR 1984, 289, 292 f. (insbes. S. 292 nach Fn. 19: „Gesetz (!)"); Kempff, Grundrechte, S. 71 (für alle Tarifvertragsnormen). 116

C. Die einschlägigen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

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Volke und nicht einer Partei oder einer sonstigen politischen Gruppierung die