"Recht ist Streit": Eine rechtslinguistische Analyse des Sprachverhaltens in der deutschen Rechtsprechung 9783110263169, 9783110263152

Using linguistic instruments this work sets out to give a transparent description of the text-supported and discourse-ba

187 121 3MB

German Pages 262 [264] Year 2011

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

"Recht ist Streit": Eine rechtslinguistische Analyse des Sprachverhaltens in der deutschen Rechtsprechung
 9783110263169, 9783110263152

Table of contents :
Vorwort
1. Einleitung
1.1. Problemstellung und Zielsetzung
1.2. Sprache und Spracharbeit im juristischen Bereich: Forschungsstand
1.2.1. Vom Wort zum Textgeflecht
1.2.2. Relevante interdisziplinäre Forschungsansätze und -gruppen für Recht und Sprache
1.2.3. Weitere Themenfelder und Literaturhinweise
1.2.4. Zum Forschungsstand
1.3. Legitimation des Textkorpus
1.3.1. Aufbau des Korpus – Kriterien und Legitimation der Auswahl
1.3.2. Textsammlung
1.3.3. Technische Bereitstellung
1.4. Ab- und Eingrenzung der Untersuchung
1.5. Aufbau und Gliederung der Arbeit
2. Semantische und pragmatische Voraussetzungen
2.1. Pragmatische Semantikauffassung
2.2. Alltagssemantik und Fachsemantik
2.2.1. Konstruktivistische, kognitive und varietätenlinguistische Sichtweise
2.2.2. Rechtssprache und juristische Semantik
2.3. Semantische Kämpfe
2.4. Resümee
3. Rechtslinguistische Ansätze
3.1. Strukturierende Rechtslehre – das Grundkonzept
3.1.1. Norm und Normtext
3.1.2. Normprogramm und Normbereich
3.2. Juristische Textarbeit
3.2.1. Konkretisierung in fünf Textstufen
3.2.2. Juristische Textarbeit anhand dreier grundlegender Sprachhandlungstypen
3.2.2.1. Sprachhandlungsklassen, Sprachhandlungstypen und Sprecherhandlungen
3.2.2.2. Drei grundlegende juristische Sprachhandlungstypen
3.3. Resümee
4. Text- und diskurslinguistische Ansätze
4.1. Text und Diskurs
4.1.1. Begriffliche und methodische Grundlage
4.1.2. Juristische Textsorten und die Diskurskonstellation
4.2. Perspektivität
4.3. Das Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse
4.4. Resümee
5. Zum Gegenstand der juristischen Kontroverse
5.1. Skizzierung der Kontroverse im juristischen Kontext
5.2. Die Rechtsfälle im Überblick
6. Streitige Sprecherhandlungen im Rahmen grundlegender Sprachhandlungstypen – anhand der Kontroverse zwischen BGH und OLG Koblenz
6.1. Sachverhalt-Festsetzen
6.1.1. Fallorientiertes Sachverhalt-Festsetzen
6.1.1.1. Festsetzungen in Bezug auf das objektivierte Ereignis
6.1.1.2. Festsetzungen in Bezug auf subjektive Einstellungen
6.1.2. Prozessorientiertes Sachverhalt-Festsetzen
6.2. Rechtliche Klassifizierung
6.2.1. Sachverhaltsklassifizierung
6.2.2. Klassifizierung der Rechtsklassifikation
6.2.3. Klassifizierung argumentativ relevanter Umstände
6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation
6.3.1. Realisierte Sprecherhandlungen
6.3.1.1. Rechtliche Beurteilung
6.3.1.2. Argumentation
6.3.1.2.1. Berufung auf den Sprachgebrauch
6.3.1.2.2. Berufung auf die Gesetzessystematik
6.3.1.2.3. Berufung auf andere Rechtsprechungen
6.3.1.2.4. Berufung auf den Gesetzgeberwillen
6.3.1.2.5. Berufung auf andere Rechtssysteme und Textsorten
6.3.2. Das sprachliche Handeln der Rechtsarbeiter – linguistische Reflexionen
6.3.2.1. Sprachgebrauch und Textkorpora
6.3.2.2. Konkurrenzbeziehung zwischen verschiedenen Sorten des Sprachgebrauchs aus unterschiedlichen Diskursrahmen
6.4. Resümee
7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle
7.1. Sachverhalt-Festsetzen
7.1.1. Fallorientiertes Sachverhalt-Festsetzen
7.1.1.1. Festsetzungen in Bezug auf das objektivierte Ereignis
7.1.1.2. Festsetzungen in Bezug auf subjektive Einstellungen
7.1.2. Prozessorientiertes Sachverhalt-Festsetzen
7.2. Rechtliche Klassifizierung
7.2.1. Sachverhaltsklassifizierung
7.2.2. Klassifizierung der Rechtsklassifikation
7.2.3. Klassifizierung argumentativ relevanter Umstände
7.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation
7.3.1. Rechtliche Beurteilung
7.3.2. Argumentation
7.3.2.1. Berufung auf den Sprachgebrauch
7.3.2.2. Berufung auf die Gesetzessystematik
7.3.2.3. Berufung auf andere Rechtsprechungen
7.3.2.4. Berufung auf den Gesetzgeberwillen
7.3.2.5. Berufung auf andere Rechtssysteme bzw. Rechtsvorschriften
7.4. Resümee
8. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse bezüglich der Perspektivierungsversuche im Lichte des Modells der perspektivitätsorientierten Textanalyse
8.1. Ebene der Lexik und der Syntagmen
8.1.1. Benennungskonkurrenz
8.1.2. Bedeutungskonkurrenz
8.2. Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit
8.2.1. Perspektivität im Bereich grammatischer Grundformen
8.2.2. Perspektivität im Bereich der Verknüpfungszeichen
8.2.3. Perspektivität im Bereich der Kommentierungszeichen
8.3. Ebene des Textes
8.3.1. Gewichtung
8.3.2. Reformulierung
8.4. Resümee – Linguistische Reflexionen über den Rechtsstreit und die Rechtssicherheit
9. Schlusswort
9.1. Bilanzierung der vorliegenden Untersuchung
9.2. Zusammenfassende Thesen
Literaturverzeichnis
1. Monographien und Aufsätze
2. Wörterbücher, Gesetzestexte und andere Dokumente
Anhang 1: Abkürzungsverzeichnis
Anhang 2: Detaillierter Bestand des Textkorpus

Citation preview

Jing Li „Recht ist Streit“

Sprache und Wissen Herausgegeben von

Ekkehard Felder Wissenschaftlicher Beirat

Markus Hundt · Wolf-Andreas Liebert Thomas Spranz-Fogasy · Berbeli Wanning Ingo H. Warnke · Martin Wengeler 8

De Gruyter

Jing Li

李婧

„Recht ist Streit“ Eine rechtslinguistische Analyse des Sprachverhaltens in der deutschen Rechtsprechung

De Gruyter

Für meinen Mann Yan

ISBN 978-3-11-026315-2 e-ISBN 978-3-11-026316-9 ISSN 1612-443X

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Bildnachweis (Umschlag): Christopher Schneider, Laufen

∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die hier vorliegende Untersuchung ist die überarbeitete Version meiner Dissertation, die durch mehrere Forschungsaufenthalte im deutschen Rechtsraum vorangebracht und im Sommersemester 2010 von der DeutschAbteilung der Beijing Foreign Studies University angenommen wurde. Mein persönliches Interesse für Deutschland und deutsche Kultur begann schon vor über 10 Jahren, als ich 1997 bis 1998 als Austauschschülerin ein deutsches Gymnasium besuchte und in einer deutschen Familie lebte. Während meines Studiums ab 2000 habe ich an einem mehrjährigen Projekt mitgearbeitet, in dem ausgewählte Publikationen des renommierten deutschen Rechtsprofessors Claus Roxin ins Chinesische übersetzt wurden. Das Projekt hat mein besonderes Interesse für das Rechtssystem und die Rechtskultur Deutschlands geweckt. Dieses Interesse habe ich mit meinem Studienfach „germanistische Sprachwissenschaft“ verbunden; und daraus ergab sich der Forschungsschwerpunkt meiner Dissertation, nämlich die Rechtslinguistik. An erster Stelle möchte ich meiner Betreuerin, Frau Prof. Dr. Qian Minru (Beijing), danken, die meine Arbeit sorgfältig begleitet und mich immer durch kritische Anmerkungen zu neuer Reflexion angeregt hat. Mein besonderer Dank gilt der „Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik“, die mich in das weite und interessante Arbeitsfeld eingeführt und während meiner Promotion ständig unterstützt hat. Vor allem möchte ich meinem deutschen Betreuer der Dissertation, Herrn Prof. Dr. Ekkehard Felder (Heidelberg), für anregende Gespräche, allseitige Unterstützung und eine gutachterliche Stellungnahme zu der Dissertation meine herzliche Verbundenheit zum Ausdruck bringen. Ebenso bin ich Prof. Dr. Friedrich Müller (Heidelberg), dem Initiator der „Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik“, für zahlreiche stimulierende Diskussionen und für sein Gutachten über die rechtswissenschaftlichen Aspekte der Dissertation zu tiefem Dank verpflichtet. Mein Dank gilt außerdem Dr. Ralph Christensen (Heidelberg) für seinen vorausblickenden Hinweis auf das interessante Problem, das in der Arbeit zentral untersucht wird, Prof. Dr. Oskar Reichmann (Heidelberg) für seine kritischen und konstruktiven Anregungen. Ebenfalls bin ich Frau Stephanie Thieme (Berlin), Leiterin des Redaktionsstabs Rechtssprache für die Bundesministerien beim Bundesministerium der Justiz, für inspirierende Gespräche und ermutigende Korrespondenz, dem Rechtsanwalt Günter Urbanczyk (Mannheim) und der Rechtsanwältin Heike

VI

Vorwort

Krause (Köln) für entgegenkommende Beratung bei wichtigen fachlichen Fragen sehr verbunden. Darüber hinaus danke ich ganz herzlich Prof. Dr. Werner Kallmeyer (Mannheim), Prof. Dr. Claus Roxin (München), Prof. Dr. Wang Shizhou (Beijing) für anregenden Gedankenaustausch. Besonderer Dank gebührt auch der Freundlichkeit von Herrn Matthias Gnatzy (Christoph-SchrempfGymnasium Besigheim) für die kritische Lektüre des umfangreichen Textes. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Sprache und Wissen“ bin ich dem Herausgeber der Reihe, Herrn Prof. Dr. Ekkehard Felder, sowie Herrn Prof. Dr. Ingo H. Warnke als Mitglied des wissenschaftlichen Beirates zu Dank verpflichtet. Allen meinen Kollegen der Deutsch-Abteilung der Beijing Foreign Studies University möchte ich für die offene und sympathische Arbeitsatmosphäre und die kollegiale Zusammenarbeit während meiner vierjährigen Promotionsphase danken. Nicht zuletzt gebührt meinen Eltern, Li Maojiang und Lu Qin, besonderer Dank für langjährige Geduld und stetige Fürsorge. Den herzlichsten Dank schulde ich meinem Mann, Wang Yan. Er hat mich in allen Entscheidungen mit Verständnis und Liebe unterstützt. Ihm sei dieses Buch gewidmet. Beijing, im Dezember 2010

Li Jing

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Problemstellung und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Sprache und Spracharbeit im juristischen Bereich: Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Vom Wort zum Textgeflecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Relevante interdisziplinäre Forschungsansätze und -gruppen für Recht und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3. Weitere Themenfelder und Literaturhinweise . . . . . . . . . . . 1.2.4. Zum Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Legitimation des Textkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Aufbau des Korpus – Kriterien und Legitimation der Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2. Textsammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3. Technische Bereitstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Ab- und Eingrenzung der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Aufbau und Gliederung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 5 5 11 13 14 15 16 20 22 23 24

2. Semantische und pragmatische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Pragmatische Semantikauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Alltagssemantik und Fachsemantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Konstruktivistische, kognitive und varietätenlinguistische Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Rechtssprache und juristische Semantik . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Semantische Kämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27 27 31

3. Rechtslinguistische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Strukturierende Rechtslehre – das Grundkonzept . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Norm und Normtext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Normprogramm und Normbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Juristische Textarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Konkretisierung in fünf Textstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43 43 43 46 49 49

32 35 37 41

VIII

Inhaltsverzeichnis

3.2.2. Juristische Textarbeit anhand dreier grundlegender Sprachhandlungstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1. Sprachhandlungsklassen, Sprachhandlungstypen und Sprecherhandlungen . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2. Drei grundlegende juristische Sprachhandlungstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54 57

4. Text- und diskurslinguistische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Text und Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Begriffliche und methodische Grundlage . . . . . . . . . . . . 4.1.2. Juristische Textsorten und die Diskurskonstellation . . . . . 4.2. Perspektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Das Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse . . . . . . 4.4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59 59 59 63 67 70 82

52 52

5. Zum Gegenstand der juristischen Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 5.1. Skizzierung der Kontroverse im juristischen Kontext . . . . . . . . . 85 5.2. Die Rechtsfälle im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 6. Streitige Sprecherhandlungen im Rahmen grundlegender Sprachhandlungstypen – anhand der Kontroverse zwischen BGH und OLG Koblenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1. Sachverhalt-Festsetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1. Fallorientiertes Sachverhalt-Festsetzen . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1.1. Festsetzungen in Bezug auf das objektivierte Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1.2. Festsetzungen in Bezug auf subjektive Einstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2. Prozessorientiertes Sachverhalt-Festsetzen . . . . . . . . . . . . . 6.2. Rechtliche Klassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1. Sachverhaltsklassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2. Klassifizierung der Rechtsklassifikation . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3. Klassifizierung argumentativ relevanter Umstände . . . . . . 6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation . . . . . . . . . . . . 6.3.1. Realisierte Sprecherhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1.1. Rechtliche Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1.2. Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1.2.1. Berufung auf den Sprachgebrauch . . . . 6.3.1.2.2. Berufung auf die Gesetzessystematik . . 6.3.1.2.3. Berufung auf andere Rechtsprechungen . . . . . . . . . . . . . . . .

95 96 97 97 101 104 106 107 116 117 118 119 119 120 120 134 136

Inhaltsverzeichnis

IX

6.3.1.2.4. Berufung auf den Gesetzgeberwillen . . 6.3.1.2.5. Berufung auf andere Rechtssysteme und Textsorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2. Das sprachliche Handeln der Rechtsarbeiter – linguistische Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2.1. Sprachgebrauch und Textkorpora. . . . . . . . . . . . . 6.3.2.2. Konkurrenzbeziehung zwischen verschiedenen Sorten des Sprachgebrauchs aus unterschiedlichen Diskursrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1. Sachverhalt-Festsetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1. Fallorientiertes Sachverhalt-Festsetzen . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.1. Festsetzungen in Bezug auf das objektivierte Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.2. Festsetzungen in Bezug auf subjektive Einstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2. Prozessorientiertes Sachverhalt-Festsetzen . . . . . . . . . . . . . 7.2. Rechtliche Klassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1. Sachverhaltsklassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2. Klassifizierung der Rechtsklassifikation . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3. Klassifizierung argumentativ relevanter Umstände . . . . . . 7.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation . . . . . . . . . . . 7.3.1. Rechtliche Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2. Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2.1. Berufung auf den Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . 7.3.2.2. Berufung auf die Gesetzessystematik . . . . . . . . . . 7.3.2.3. Berufung auf andere Rechtsprechungen . . . . . . . 7.3.2.4. Berufung auf den Gesetzgeberwillen . . . . . . . . . . 7.3.2.5. Berufung auf andere Rechtssysteme bzw. Rechtsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157 157 157

145 147 147

151 152

157 163 169 172 172 182 184 184 184 186 186 198 198 200 204 206

8. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse bezüglich der Perspektivierungsversuche im Lichte des Modells der perspektivitätsorientierten Textanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 8.1. Ebene der Lexik und der Syntagmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 8.1.1. Benennungskonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .210 8.1.2. Bedeutungskonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 8.2. Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit . . . . . . . . . . . . . . . 213 8.2.1. Perspektivität im Bereich grammatischer Grundformen. . 213

X

Inhaltsverzeichnis

8.2.2. Perspektivität im Bereich der Verknüpfungszeichen . . . . . 8.2.3. Perspektivität im Bereich der Kommentierungszeichen . . 8.3. Ebene des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1. Gewichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2. Reformulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4. Resümee – Linguistische Reflexionen über den Rechtsstreit und die Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

214 222 225 225 225 232

9. Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 9.1. Bilanzierung der vorliegenden Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . 235 9.2. Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 1. Monographien und Aufsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 2. Wörterbücher, Gesetzestexte und andere Dokumente . . . . . . . . . . 250 Anhang 1: Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Anhang 2: Detaillierter Bestand des Textkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

1. Einleitung 1.1. Problemstellung und Zielsetzung Sprache und Recht sind aufs Engste miteinander verknüpft. Juristische Tätigkeiten vollziehen sich in fast allen relevanten Bereichen in und mit Sprache. Von der Anklageerhebung bis zur erstinstanzlichen Entscheidung, von eventueller Berufungs- bzw. Revisionseinlegung bis zur letztinstanzlichen Entscheidung stützen sich die Juristen einerseits auf die sprachlich kodifizierten Rechtsnormen und andererseits auf die in Sprache eingebettete soziale Wirklichkeit. Sprache fungiert dabei als das entscheidende Medium, das Recht und Wirklichkeit verbindet.1 Der Zusammenhang zwischen Recht, Sprache und Wirklichkeit ist ein Thema, an dem sowohl die linguistische Fachsprachenforschung als auch die Rechtswissenschaft ein gemeinsames Erkenntnisinteresse haben.2 In den Schriften der „Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik“ – einer interdisziplinären Arbeitsgruppe (initiiert von Friedrich Müller und Rainer Wimmer) wird vielfach vorgeschlagen, dass man bei dieser Untersuchung neben den traditionellerweise im Vordergrund stehenden Rechtstermini auch die Rechtstexte und die juristische Textarbeit beachten sollte.3 Die vorliegende Arbeit schließt sich diesem Grundgedanken an und konzentriert ihre Untersuchung auf die in Form diverser Texte (z.B. Urteile, Anklageschriften, Schriftsätze usw.) realisierte Rechtskommunikation im deutschen4 Rechtsfindungsverfahren5.

1 2 3 4 5

Damit schließt sich die vorliegende Arbeit den Grundgedanken der Strukturierenden Rechtslehre an, die im theoretischen Teil näher erläutert werden. Vgl. Christensen/Jeand’Heur, 1989; Jeand’Heur, 1989b. Vgl. Müller/Christensen/Sokolowski, 1997. Die vorliegende Untersuchung bezieht sich auf das deutsche Rechtssystem. Untersucht werden authentische Texte aus der deutschen Rechtspraxis. In Anlehnung an die Heidelberger Gruppe sollte es hier eigentlich nicht „Rechtsfindungsprozess“, sondern „Rechtserzeugungsprozess“ heißen. Denn im Rahmen der Strukturierenden Rechtslehre, die als theoretische Basis der Heidelberger Gruppe fungiert, ist die Rechtsnorm nicht als vorgegebene Bedeutung des Normtextes aufzufassen, die man durch bloßen Erkenntnisprozess „finden“ kann. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass der Normtext nur Zeichenketten für juristische Textarbeit liefert, aufgrund deren man durch aktives sprachliches Handeln im erlaubten semantischen Raum die Rechtsnorm „erzeugen“ muss. Aber wegen der Verständlichkeit aufgrund der Verwendungshäufigkeit

2

1. Einleitung

Die juristischen Funktionsträger6 – vor allem Richter, Staatsanwalt, Rechtsanwalt usw. – produzieren in gerichtlichen Prozessen verschiedenartige Rechtstexte und kommunizieren miteinander hauptsächlich anhand dieser Texte. Diesen institutionell gebundenen Rechtstexten wohnen – linguistisch gesehen – wiederum verschiedenartige sprachliche Handlungsmuster inne, die je nach der betreffenden Textsorte in unterschiedlicher Kombination und in unterschiedlichem Gewicht zusammen geordnet werden. Der Rechtsfindungsprozess könnte insofern als eine strukturierte Zusammenwirkung von aufeinander bezogenen Rechtstexten und jeweils realisierten Sprachhandlungen verschiedener juristischer Akteure verstanden werden. Vernünftigerweise verweist der große griechische Philosoph Heraklit mit seinem Spruch „KAI ΔIKH EPIN“7 auf das streitende Wesen der Kommunikation zwischen verschiedenen juristischen Akteuren. Denn ihnen liegen zumeist abweichende rollengebundene Verpflichtungen, Interessen, Standpunkte und Machtkonstellationen usw. zugrunde. Am deutlichsten zeichnet dies sich in Debatten um bestimmte Rechtsprobleme im Rechtsfindungsverfahren ab. Dazu zählen beispielsweise die berühmten Rechtsdebatten „Soldaten sind Mörder“8 oder „Gewaltbegriff im Nötigungsparagraphen“9. Bei jedem Rechtsstreit sind alle juristischen Funktionsträger zwar mit demselben sozialen Geschehnis und oft den gleichen Normtexten10 konfrontiert. Den-

wird in der vorliegenden Arbeit der Ausdruck „Rechtsfindungsprozess“ oder „Rechtsfindungsverfahren“ verwendet, obwohl damit eigentlich die Rechtserzeugung gemeint ist. 6 Die Juristen, die im Rechtsfindungsverfahren durch sprachliches Handeln ihre Tätigkeiten entfalten und Funktionen erfüllen, werden in der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an die Strukturierende Rechtslehre „juristische Funktionsträger“ oder „Rechtsarbeiter“ genannt. Der erstere Terminus wird von Felder und der letztere von Müller/Christensen übernommen. Vgl. Felder, 2003a, S. 1; Müller/Christensen, 2004, S. 108. 7 Müller/Christensen/Sokolowski, 1997, S. 7. Übersetzt ins Deutsche heißt es „Und ist Recht Streit“. Der Haupttitel der vorliegenden Arbeit entspringt diesem Spruch von Heraklit. 8 Es geht um die rechtliche Diskussion, ob die Aussage „Soldaten sind Mörder“ als eine kollektive Beleidigung der Bundeswehr strafrechtlich verurteilt werden darf. Diese Aussage stammt ursprünglich von einer Glosse aus den 30er Jahren letzten Jahrhunderts. Seitdem wird sie immer wieder in unterschiedlichen Varianten reformuliert und verursacht eine Reihe von Rechtsfällen mit dem gleichen oder ähnlichen Rechtsproblem. Vgl. Burkhardt, 1996; Spranger, 2000. 9 Diskutiert wird das Konzept der Gewaltanwendung im Nötigungsparagraphen. Es handelt sich um das Rechtsproblem, ob das Sitzen auf Straßen als Gewaltanwendung klassifiziert werden darf, so dass die gesamte Handlung als Nötigung strafrechtlich verurteilt werden kann. Vgl. Felder, 2003a. 10 Den Terminus „Normtext“ übernehme ich von der Strukturierenden Rechtslehre. Im Rahmen dieser Lehre werden der Normtext als vorgegebene Zeichenkette für die juristische Textarbeit und die Norm als erzeugtes Resultat aus der juristischen Textarbeit auseinandergehalten. Vgl. Müller, 1994, S. 147ff. Ausführlicher dazu siehe Abschnitt 3.1.1. der vorliegenden Arbeit.

1.1 Problemstellung und Zielsetzung

3

noch legen sie von unterschiedlichem Standpunkt aus bei ihrer Auseinandersetzung mit der zu erfassenden Wirklichkeit und der aus den Normtexten zu konkretisierenden Rechtsnorm anders konturierte Perspektivierungen zugrunde, indem sie divergierende Strukturelemente herausarbeiten und diese unterschiedlich gewichten bzw. korrelieren, so dass anders gelagerte juristische Wertungen erfolgen. Dieser juristische – gleichzeitig aber auch sprachlich realisierte – Vorgang soll unter linguistischen Gesichtspunkten näher beleuchtet werden. Daraus ergibt sich die Ausgangsfragestellung: Wie lässt sich durch empirische Untersuchungen das streitende Wesen der Rechtskommunikation im Rechtsfindungsverfahren anhand von typisierten und differenzierten Sprachhandlungsmustern und hinsichtlich spezifischer Perspektivierungsanstrengungen transparent machen? Diese einleitende Ausgangsfragestellung kann in zwei differenzierte Fragestellungen zerlegt werden: 1) Wie kann man das juristische Rechtsfindungsverfahren und den Rechtsstreit zwischen verschiedenen Rechtsarbeitern11 unter linguistischen Gesichtspunkten erfassen? 2) Wie kann man mittels linguistischer Instrumentarien den Rechtsstreit zwischen verschiedenen Rechtsarbeitern explizieren und transparent beschreiben? Wie lassen sich also im Rechtsstreit die unterschiedlichen Perspektivierungsversuche der Beteiligten anhand der sprachlichen Mittel verdeutlichen? Daraus werden theoretische Grundlagen und methodische Ansätze für die vorliegende Untersuchung zusammengestellt. Dass sich die vorliegende Arbeit diesem speziellen Anliegen zuwendet, gründet sich auf folgende Überlegungen: – Die Sprache im Rechtswesen und in der Justiz stellt einen wichtigen Untersuchungsbereich der traditionellen Fachsprachenforschung dar. Auch modernere diskursanalytische Forschungen richten sich in erster Linie auf institutionelle Diskurse.12 Aber wegen der eingeschränkten Zugänglich-

11

12

Den Terminus „Rechtsarbeiter“ übernehme ich von der Strukturierenden Rechtslehre. Er steht in engem Zusammenhang mit dem anderen Terminus „Rechtsarbeit“, der ebenfalls von der Strukturierenden Rechtslehre stammt. Juristische Arbeit mit Texten (Normtexten, Sachverhaltsbeschreibungen usw.) – vor allem zur Erzeugung der geltenden Rechtsnorm – wird im Rahmen der Strukturierenden Rechtslehre als „Rechtsarbeit“ bezeichnet. Vgl. Müller/Christensen, 2004, S. 34ff. Die Juristen, die im rechtlichen Verfahren durch juristisches Handeln solche Rechtsarbeit ausführen, werden „Rechtsarbeiter“ genannt. Vgl. Müller/Christensen, 2004, S. 108; Müller/Christensen/Sokolowski, 1997, S. 37. Siehe auch Felder, 2003a, S. 1. Vgl. ᵡሿᆹ, 1999, S. 73.

4





1. Einleitung

keit vieler rechtlicher Textsorten und der Komplexität rechtlicher Kommunikationen sind die Rechtsdiskurse – im Vergleich zu anderen institutionellen Diskursen – in empirischer Hinsicht dennoch wenig erforscht. Es ist von großem interdisziplinärem Interesse, die Rechtskommunikation anhand authentischer Textdaten linguistisch zu modellieren. Einerseits können die bereits erarbeiteten linguistischen Ansätze und Methoden – abgestimmt auf konkrete juristische Vorgänge – überprüft, modifiziert und erweitert werden; andererseits könnte auch die Rechtswissenschaft die empirisch modifizierten linguistischen Konzepte zum Ausbau eines erneuerten Gedankengebäudes rezipieren. Der Rechtsfindungsprozess gilt als einer der elementarsten Bereiche des Rechtsstaatssystems und steht in engem Zusammenhang mit dem sozialen Leben der Bürger.13 Dennoch lassen sich die Nichtjuristen oft von der anscheinend bestehenden Komplexität dieses und jenes Rechtsverfahrens erschrecken und vermögen nicht bewusst daran teilzunehmen. Insofern ist es von großer praktischer Relevanz, diesen fachspezifischen Vorgang auch für normale Bürger verständlich zu machen. Es sollte veranschaulicht werden, wie das Rechtsverständnis im deutschen Rechtsstaatssystem textbasiert aufgebaut wird und damit ein höchstmögliches Maß an Rechtssicherheit garantiert werden kann. Zudem sollte durch die vorliegende Untersuchung das deutsche Modell des Rechtsstaatssystems in stärkerem Maße für chinesische Verhältnisse bekannt gemacht werden.14

Nicht zuletzt ist besonders anzumerken, dass die Nachzeichnung und Modellierung des möglichen Rechtsstreits im Rechtsfindungsverfahren keinesfalls zum irrigen Eindruck von Interpretationswillkür führen dürfen, sondern dass man einen solchen Rechtsstreit stets als strukturierten Präzisierungs- und Konkretisierungsvorgang der betreffenden Rechtsbegriffe oder Normtexte aufgrund der Wechselbeziehung zu dem zu entscheidenden Sachverhalt betrachten muss. Die vorliegende Explizierung des Rechtsstreits anhand von linguistischen Instrumentarien sollte vielmehr dazu dienen, durch empirische 13 14

Stickel redet vom „lebenspraktischen Mitbetroffensein durch Rechtstexte“. Stickel, 2002, S. 2. Die hier vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Version meiner Dissertation, die in China angenommen wurde. Aus diesem wissenschaftlichen Hintergrund und wegen der engen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China im Rechtsbereich sieht sie auch es als ihre Aufgabe, durch detaillierte Analyse authentischer Rechtskommunikation in Deutschland das deutsche Modell des Rechtsstaatssystems in stärkerem Maße für chinesische Verhältnisse bekannt zu machen. Zudem muss dennoch angemerkt werden, dass die vorliegende Untersuchung – trotz ihres wissenschaftlichen Hintergrunds – ausschließlich Texte aus dem deutschen Rechtssystem untersucht und dass kein deutsch-chinesischer Vergleich vorgenommen wird.

1.2. Sprache und Spracharbeit im juristischen Bereich: Forschungsstand

5

Untersuchung authentischer Rechtsverfahren einem breiteren Kreis der Gesellschaft einen geschärften Einblick in den verdichteten juristischen Semantisierungsprozess zu verschaffen, damit aufgrund des verbesserten Rechtsverständnisses, der erhöhten Rechtskompetenz und der gesteigerten Rechtstransparenz größere Rechtssicherheit erreicht werden kann.

1.2. Sprache und Spracharbeit im juristischen Bereich: Forschungsstand In diesem Abschnitt werden hauptsächlich die Ansätze, die für die Bildung des Gedankengangs der vorliegenden Arbeit von großer Relevanz sind, zusammengestellt. Da das deutsche Rechtssystem gegenüber dem angelsächsischen Rechtssystem wegen der systematischen Unterschiede15 möglicherweise mit anderen Fragestellungen und Problemlagen konfrontiert ist und da die als Untersuchungskorpus ausgewählten Rechtsfälle deutscher Jurisprudenz entstammen, liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf deutschen Forschungsergebnissen.16 1.2.1. Vom Wort zum Textgeflecht17 Die Erforschung der Wechselwirkung zwischen Recht und Sprache etabliert sich in erster Linie in der linguistischen Fachsprachenforschung, die sich seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts zur relevanten sprachwissenschaftlichen Teildisziplin entwickelt hat.18 Im Rahmen der Fachsprachenforschung unterscheidet Roelcke zwischen drei grundsätzlich verschiedenen Ansätzen: das systemlinguistische Inventarmodell, das pragmalinguistische Kontextmodell und das kognitionslinguistische Funktionsmodell.19 Im Rahmen der systemorientierten Untersuchungen stehen die sprachsystematisch relevanten Eigenschaften einzelner Fachsprachen sowie ihrer einzelsprachlichen Erscheinungsformen auf verschiedenen Sprachebenen im

15

16 17 18 19

„Im Gegensatz etwa zum angelsächsischen Recht, bei dem Richter ihre Entscheidungen durch Berufung auf vorherige Präzedenzfälle entscheiden, weil geschriebene Gesetzesnormen nur in viel geringerem Umfang existieren als bei uns, ist das Rechtssystem der BRD streng normtextorientiert.“ Busse, 1989, S. 95. Da die vorliegende Untersuchung die überarbeitete Version einer Dissertation in China ist, werden im Forschungsstand auch chinesische Forschungsergebnisse mitberücksichtigt. Den Begriff „Textgeflecht“ verwende ich im Sinne des Textbündels – der Vernetzung von verschiedenen zusammenhängenden Texten. Vgl. Busse, 2000b, S. 809; Felder, 2003a, S. 4. Vgl. 䫡᭿⊍/ằ䮋, 1990, S. 35. Vgl. Roelcke, 1999, S. 15–31.

6

1. Einleitung

Mittelpunkt. Der Fachwortschatz und die lexikalischen Charakteristiken werden oft untersucht. In den pragmatisch und kognitiv orientierten Ansätzen werden dagegen „der Fachtext mit seinen Funktionen“ und die auf den Fachtexten basierende Fachkommunikation mit Rücksicht auf Strukturen und Prozesse, „die der sprachlichen Wiedergabe und Verarbeitung von Kenntnissen über außersprachliche […] Gegenstände oder Sachverhalte sowie Abläufe oder Verfahren dienen“20, in den Vordergrund gerückt. Diese Unterteilung zwischen verschiedenen Themenbereichen gilt ebenfalls für die Untersuchung von Sprache und Spracharbeit im Rechtswesen. Als bedeutsame institutionelle Fachsprache wird die Rechtssprache oft hinsichtlich ihrer Spezifika im Wortschatzbereich untersucht. Auch das Forschungsinteresse seitens der Rechtswissenschaft, bei der die „durch die Rezeption des römischen Rechts ererbte Begriffsjurisprudenz“21 immer noch nachwirkt, gilt vor allem den Rechtstermini. Diesen werden oft Verständlichkeitsprobleme zugerechnet. Präzision und Exaktheit als traditionelle Anforderungen werden daher vielfach in diesem Zusammenhang diskutiert. Jesch versucht durch die Unterscheidung zwischen Begriffskern und Begriffshof die Präzision des juristischen Wortschatzes zu erhellen.22 Daum vertritt die Position, dass viele juristische Begriffe mit wechselnden Bedeutungen durch Legaldefinitionen in einem bestimmten Sinn festgelegt werden.23 Andere Sprachwissenschaftler versuchen das Exaktheitspostulat der juristischen Begrifflichkeit in der Wechselwirkung mit der Gemeinsprache kritisch zu bewerten. Schmidt und Neumann haben beide darauf hingewiesen, dass Rechtssprache und Gemeinsprache in der Präzision Unterschiede aufweisen, weil sie unterschiedlichen Kommunikationszielen folgen.24 Schroth hat die Präzision strafrechtlicher Begriffe im Zusammenhang mit dem Bestimmtheitsgebot gemäß Art. 103 II GG erörtert und kommt zu der Schlussfolgerung, dass vage Begriffe nicht das Bestimmtheitsgebot verletzen, „wenn der Kontext des Begriffs eine klare Bewertungsaufgabe erkennen lässt“.25 Auch in der chinesischen Forschung wird über die Spezifika juristischer Begriffe diskutiert. Liu Weiming hat vier Typen differenziert, die für die Unbestimmtheit der Rechtstermini in Normtexten ursächlich sind.26 Jiang Jianyun differenziert zwischen mehrdeutigen und vagen Begriffen in 20 Roelcke, 1999, S. 28. 21 Daum, 1981, S. 87. 22 „Die Gesetzesbegriffe bestehen aus einem Begriffskern und einem Begriffshof. Durch den Begriffskern wird die Stabilität der Rechtsordnung garantiert, im Bereich des Begriffshofs besteht eine gewisse Freiheit der richterlichen Rechtsfindung.“ Zit. n. Busse, 1993, S. 56. 23 Vgl. Daum, 1981, S. 86. 24 Vgl. Schmidt, 1972, S. 394ff; Neumann, 1992, S. 110f. 25 Schroth, 1992, S. 107. 26 Vgl. ࡈ㭊䬝, 2003a, S. 214–224; ࡈ㭊䬝, 2003b.

1.2. Sprache und Spracharbeit im juristischen Bereich: Forschungsstand

7

der juristischen Fachsprache.27 Überzeugend hat Du Jinbang bezüglich des Vagheitspotentials der Rechtstermini darauf hingewiesen, dass unbestimmte Rechtsbegriffe in der Entscheidungspraxis von den Richtern konkretisiert und disambiguiert werden.28 Obwohl er nicht empirisch, sondern eher abstrakt vom Konkretisierungsprozess vager Rechtsbegriffe redet, geht er gegenüber seinen Vorgängern doch einen Schritt weiter, nämlich die Klärung der Rechtstermini in den Entscheidungsvorgang einzubetten. Eine der bedeutendsten diesbezüglichen Diskussionen im angelsächsischen Forschungskontext liefert Bix. Er hat in seiner Arbeit hauptsächlich drei grundlegende Auffassungen (jeweils von Hart, Dworkin, Moore) zur Funktion der Sprache im Rechtswesen und deren Einfluss auf die rechtliche Bestimmtheit bilanziert und kritisch bewertet.29 Er wollte mit seinem Beitrag nicht zu einer einfachen Schlussfolgerung kommen, sondern auf die Komplexität der Wechselwirkung zwischen Sprache und Recht aufmerksam machen und weitere Forscher zu mehr Reflexion über die sprachliche Grenze im Rechtswesen anregen. Mit der pragmatischen und kognitiven Wende in der Linguistik wird der fachsprachliche Untersuchungsschwerpunkt – auch in der Forschung über Sprache und Spracharbeit im Rechtsgebiet – auf textgestützte Kommunikation verlagert. Handlungstheoretische, textpragmatische, diskursanalytische, varietätenlinguistische Ansätze usw. erweitern die traditionellen Forschungsgesichtspunkte um neue Methoden und Erkenntnisfelder. Interessante Themenbereiche und Beiträge, die besondere Relevanz für die vorliegende Untersuchung haben, umfassen: – Texttypologie und Textsorten im Bereich des Rechtswesens Frilling versucht anhand funktionaler Kriterien die Textsorten in juristischen Fachzeitschriften zu klassifizieren und hinsichtlich ihrer zentralen Mustermerkmale zu beschreiben.30 Altehenger hat am Beispiel des Zivilprozesses eine typisierende Erfassung aller kommunikativen Beiträge und potentiellen Referenztexte, die in einem einzeltextübergreifenden forensischen Diskurs vorkommen können, unternommen.31 Besonders vorausblickend und anregend ist, dass er den über das einzelne Textsegment hinausreichenden Gesamtdiskurs zum Untersuchungsgegenstand macht.

27 28 29 30 31

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

ဌࢁӁ, 1995, S. 255–285. ᶌ䠁ῌ, 2001. Bix, 1993. Frilling, 1995. Altehenger, 1996.

8

1. Einleitung

Eine umfassende Typologisierung von Textsorten im Bereich des Rechtswesens liefert Busse.32 Damit wird ein Überblick über juristische Textsorten und ihre Funktionen verschafft, an dem sich die vorliegende Untersuchung bei ihrer Textklassifikation orientiert. – Kommunikation in gerichtlichen Verfahren Ludger Hoffmann leistet einen sehr wichtigen Beitrag mit seiner diskursanalytischen Untersuchung von authentischen Gesprächsexemplaren aus 19 Verhandlungen zur linguistischen Erforschung realer Kommunikation in gerichtlichen Verfahren.33 Eine weiterführende empirische Auseinandersetzung mit gerichtlichen Gesprächen liefert Luttermann mit dem Ziel der Entwicklung eines integralen Beschreibungsansatzes zu Strukturen institutioneller Gespräche.34 Beide versuchen, mithilfe typologisierter Handlungsmuster die Kommunikation vor Gericht zu rekonstruieren. Dieser Blickwinkel hat einen tiefgreifenden Einfluss auf die vorliegende Arbeit. Du Jinbang hat aufgrund einer empirischen Untersuchung realer Interaktion vor Gericht die vielfältigen Kommunikationsziele der verschiedenen Handlungsrollen zu drei grundlegenden Klassen zusammengefasst.35 In einem weiteren Aufsatz von Ge Yunfeng und Du Jinbang werden grundlegende Handlungsstrategien bei der Kontrolle des Themas während der Gerichtskommunikation erarbeitet und exemplarisch dargestellt.36 Dies veranschaulicht, dass das linguistische Erkenntnisinteresse an der juristischen Fachkommunikation besonders in der linguistischen Modellierung realer Kommunikationen anhand produktiver Instrumentarien besteht.37 Das entspricht dem grundsätzlichen Untersuchungsanliegen der vorliegenden Arbeit. – Juristische Textarbeit Nicht nur die mündlichen Verhandlungsprozesse in gerichtlichen Verfahren, sondern auch die schriftliche Kommunikation juristischer Funktionsträger mittels vielfältiger Rechtstexte gewinnen an zunehmender Bedeutung im Rahmen der linguistischen Untersuchung der Spracharbeit im Rechtswesen. Während der gesprächsanalytische Bereich recht gut erschlossen ist, existieren bisher nur wenige empirische Untersuchungen aus textanalytischen Ansätzen.38 32 33

Vgl. Busse, 2000a. Vgl. Hoffmann, Ludger, 1983. Weitere einzelne Untersuchungen von Ludger Hoffmann siehe Hoffmann, Ludger, 1989a, 1991. 34 Vgl. Luttermann, 1996. 35 Vgl. ᶌ䠁ῌ, 2009, S. 368. 36 Vgl. 㪋Ӂ䬻/ᶌ䠁ῌ, 2005, S. 44. 37 Vgl. 㜑㤳䬨, 2006, S. 3. 38 Vgl. Busse, 2000b, S. 810.

1.2. Sprache und Spracharbeit im juristischen Bereich: Forschungsstand

9

Als Pionierarbeit in der deutschen Forschung gilt die Aktenanalyse von Seibert.39 Anhand einer gründlichen Analyse ausgewählter Akten (Anzeigen, Vernehmungsprotokolle, Entscheidungsbegründungen und Schriftsätze) in konkreten Situationsfeldern („Ladendiebstahl“, „Verdorbener Urlaub“) versucht Seibert nachzuweisen, dass die juristische Textarbeit nicht erst bei der Normtextinterpretation, sondern schon bei der aktenmäßigen Darstellung des außerjuristischen sozialen Sachverhalts anfängt. Seibert rückt die juristische „Wirklichkeitsverarbeitung“40, also die Erfassung der sozialen Wirklichkeit in Kategorien juristischer Tatbestandsbegriffe, in den Vordergrund und verweist auf die Relevanz juristischer Deutungen bzw. Etikettierungen für rechtliche und alltägliche Kontexte. Eine weitere bedeutende empirische Untersuchung zum Umgang der Juristen mit rechtlichen Texten liefert Busse.41 Mit zwei unterschiedlichen Zugangsweisen hat er zwei Beispiele jeweils aus dem Strafrecht und dem Zivilrecht analysiert. Zuerst wird ein strafrechtlicher Einzelparagraph anhand der juristischen Kommentarliteratur bzw. der Urteilstexte hinsichtlich der Explikation des relevanten Wortlauts untersucht. An dem zivilrechtlichen Beispiel hat er dagegen nicht bei dem Paragraphen, sondern bei dem Fall angefangen. Dabei hat er gezeigt, welche Gesetzestexte bzw. welche anderen rechtlich relevanten Texte bei einem konkreten Fall für die Entscheidungsfindung in Beziehung zueinander und zu dem zu entscheidenden Fall gesetzt werden können. Durch detaillierte Analyse hat er veranschaulicht, dass die juristische Arbeit nie am Gesetzestext ansetzt, sondern immer an dem konkreten Fall, und dass traditionellerweise in den Vordergrund der juristischen Textarbeit gerückte herkömmliche Konzepte der „Bedeutungsexplikation“ und „Normtextinterpretation“ nicht vollkommen das umfassen, was wirklich bei der Gesetzesauslegung und der Entscheidung eines Falls geschieht. Für die Lösung eines Rechtsfalls muss eine Vielzahl verschiedener Texte (z.B. Paragraphen, Kommentartexte, Gerichtsurteile usw.) zu einem neuen Entscheidungstext miteinander vernetzt werden. Die juristische Textarbeit ist daher „weniger als eine Interpretation im philologischen Sinne“, „sondern vielmehr als ein komplex strukturierter Umgang mit einer untereinander explizit oder durch die richterliche Textarbeit verflochtenen Textmenge“ aufzufassen, wobei dem aktivierten Wissensrahmen und der rechtlichen Konstitution von Sachverhaltsmerkmalen ebenfalls große Relevanz zukommt.42 Die empirischen Arbeiten in der jüngsten Vergangenheit, die unmittelbaren Einfluss auf das Design der vorliegenden Untersuchung nehmen, sind 39 40 41 42

Vgl. Seibert, 1981. Der Terminus wird von Seibert übernommen. Vgl. Seibert, 1981, S. 20. Vgl. Busse, 1992a. Busse, 1992a, S. 191.

10

1. Einleitung

die Untersuchungen von Felder.43 Die Grundidee, dass die juristische Textarbeit nicht bei der Normtextinterpretation, sondern bei dem konkreten Fall ansetzt, legt auch Felder seiner Analyse zugrunde. An einer exemplarischen Sitzblockadenjudikatur werden die Entscheidungstexte verschiedener Instanzen (vom Amtsgericht bis zum Bundesverfassungsgericht), die juristische Binnenkommunikation zu dem entsprechenden Rechtsproblem und die Rezeption der Judikatur in Printmedien zum Untersuchungsgegenstand gemacht. Herausgearbeitet werden vor allem fünf Textstufen und drei grundlegende Sprachhandlungsmuster in juristischen Entscheidungstexten. Anhand dieser Strukturen versucht er nachzuzeichnen, wie die Richter ihre Textarbeit entfalten und welche unterschiedlichen Bedeutungsaspekte des relevanten Gesetzeswortlauts dabei in Wechselbeziehung zu Sachverhaltseigenschaften dominant gesetzt werden. Darüber hinaus wird durch einen Vergleich zwischen der juristischen Binnenkommunikation und der Rezeption in den Medien noch deutlich gemacht, dass der rechtliche und alltagsweltliche Zugriff auf dieselben Lebenssachverhalte anders gestaltet werden kann. Diesen Untersuchungen schließt sich die vorliegende Arbeit unmittelbar an, besonders dem erarbeiteten Modell der drei grundlegenden juristischen Sprachhandlungstypen, das im theoretischen Teil ausführlich erläutert werden wird. Diesbezügliche Diskussionen über Sprachhandlungen in rechtlichen Texten finden sich auch in der chinesischen Forschung. Wu Weiping hat anhand dreier konkreter Rechtsfälle die üblichen rechtslinguistischen Methoden vorgestellt, zu denen auch die Analyse der Sprachhandlungen gehört.44 Hu Fanzhu hat in seinem Aufsatz ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Erforschung der Sprachhandlungen als ein neues Untersuchungsparadigma den von ihm bilanzierten traditionellen Untersuchungsparadigmen der Rechtslinguistik in der chinesischen Forschung hinzugefügt werden muss, und hat daraufhin ansatzweise mögliche Themenbereiche empirischer Untersuchungen zusammengestellt.45 Vereinzelte empirische Untersuchungen in diesem Zusammenhang nehmen meist englischsprachige rechtliche Texte zum Untersuchungsgegenstand.46 Zusammenfassend darf behauptet werden, dass die Untersuchungen juristischer Texte und realer Kommunikationsprozesse in stärkerem Maße in

43 Vgl. Felder, 2003a; Felder, 2003b; Felder, 2005a. 44 Vgl. ੤Տᒣ, 2002b, S. 42f. In diesem Aufsatz hat Wu Weiping im Rahmen von „linguistic evidence“ die dabei relevanten rechtslinguistischen Methoden vorgestellt, an denen erhellt werden sollte, wie die Linguistik als Hilfswissenschaft im polizeilichen Ermittlungsverfahren oder im gerichtlichen Rechtsfindungsverfahren fungieren sollte. Ausführlicher zum Thema „linguistic evidence“ siehe auch ࡈ㭊䬝, 2009. 45 Vgl. 㜑㤳䬨, 2005, S. 89ff. 46 Vgl. 哴ส䗵, 2002; ઘᏽ䴟, 2005; Ⳟ㢣⧢, 2008.

1.2. Sprache und Spracharbeit im juristischen Bereich: Forschungsstand

11

den Vordergrund gerückt werden. Es zeichnet sich insofern eine allgemeine Zuwendung vom Wort zum Textgeflecht ab. 1.2.2. Relevante interdisziplinäre Forschungsansätze und -gruppen für Recht und Sprache Um der komplexen Thematik Recht und Sprache gerecht zu werden, entstehen besonders seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts mehrere interdisziplinäre Arbeitsgruppen, die sich aus Vertretern der Rechtswissenschaft und der Sprachwissenschaft zusammensetzen und versuchen, gegenseitige Ansätze zu rezipieren und für das gemeinsame Untersuchungsfeld fruchtbar zu machen. 1) Darmstädter Forschungsprojekt Wenn von der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Recht und Sprache die Rede ist, ist zunächst die Darmstädter Forschungsgruppe, die sich aus Juristen, Linguisten und Informatikern zusammensetzte, erwähnenswert.47 In der Zeit von 1970 bis 1974, in der die Gruppe tätig war, sind die Forscher verschiedener wissenschaftlicher Herkunft zu insgesamt vier Arbeitstagungen zusammengetreten und haben ihre Untersuchungsergebnisse in vier Abhandlungsbänden dokumentiert.48 Sie haben versucht, die generative Transformationsgrammatik mit der Rechtsinformatik zu verbinden. Das gemeinsame Forschungsziel war, Grundlagen für eine automatische Sprachverarbeitung in Bezug auf die Gesetzestexte zu schaffen, so dass eine formalisierte Subsumtion eines Sachverhalts unter einen entsprechenden Gesetzestext ermöglicht wird. Juristische Texte (vor allem Gesetzestexte und Sachverhaltsbeschreibungen) sollten anhand eines ausgearbeiteten Instrumentariums paraphrasiert und zum Vergleich gestellt werden, damit ihre semantische Identität überprüft werden kann, was zur Entscheidung darüber führen sollte, „ob ein bestimmter Sachverhalt als Paraphrase des entsprechenden Gesetzestextes anzusehen ist oder nicht“.49 Das aus heutiger Sicht Problematische daran war, dass die komplexe Tätigkeit der Gesetzesanwendung und Normtextinterpretation auf ein

47

Diese Arbeitsgruppe gilt als quasi der erste interdisziplinäre Forschungsansatz unter dem Dach der sog. „Rechtslinguistik“ in der deutschen Forschung und ist insofern für die Zusammenstellung des Forschungsstandes erwähnenswert, obwohl manche ihrer Grundgedanken aus heutiger Sicht eher wenig reflektiert erscheinen. 48 Die Tagungsthemen waren „Logische Struktur von Normsystemen“, „Paraphrasen juristischer Texte“, „Syntax und Semantik juristischer Texte“ und „Rechtstheorie und Linguistik“. An dieser Stelle wird nur das Grundkonzept dieses Forschungsprojekts kurz und prägnant erörtert. Interessierte Leser für detaillierte Untersuchungen seien auf die entsprechenden Abhandlungsbände Rave/Brinckmann/Grimmer (eds.), 1971a, 1971b, 1972 und Brinckmann/Grimmer (eds.), 1974 verwiesen. 49 Christensen/Jeand’Heur, 1989, S. 10. Dazu siehe auch Busse, 2000b, S. 805; Busse, 1993, S. 144ff.

12

1. Einleitung

formalisiertes „Paraphrasieren“ reduziert wurde und dass „die interpretative Leistung, die in der Anwendung eines Textausschnitts auf Sachverhaltsbeschreibungen steckt,“50 ignoriert wurde. 2) Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik Der Forschungsansatz der Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik, die auch heute tätig ist und unter deren unmittelbarem Einfluss die vorliegende Arbeit steht, gilt als der bedeutendste interdisziplinäre Ansatz zur Thematik Recht und Sprache. Der Ansatz ist initiiert von dem Rechtstheoretiker Friedrich Müller und dem Sprachwissenschaftler Rainer Wimmer und beschäftigt sich mit grundlegenden rechtstheoretischen und sprachtheoretischen Problemen zur Klärung der Frage, wie Juristen tatsächlich mit rechtlichen Texten arbeiten. Als leitendes Gedankengebäude gilt die Strukturierende Rechtslehre von Friedrich Müller, die zwischen „Normtext“ und „Norm“ unterscheidet.51 Der Normtext bildet zusammen mit dem zu beurteilenden Sachverhalt den Ausgangsgegenstand komplexer Auslegungs- und Anwendungsverfahren. In dem Normtext an sich steckt noch keine vorgegebene Rechtsnorm, die durch bloßes Erkennen zu gewinnen ist, sondern der Normtext muss durch aktive Textarbeit juristischer Funktionsträger in wechselseitiger Abstimmung auf den zu entscheidenden Sachverhalt zur entsprechenden Rechtsnorm konkretisiert werden. „Der Rechtstext ist also nicht Behälter der Rechtsnorm, sondern Durchzugsgebiet konkurrierender Interpretationen. Der Richter ist nicht der Mund des Gesetzes, sondern Konstrukteur der Rechtsnorm.“52 Unter dem Dach dieses Gedankengebäudes sind viele Einzelstudien zustande gekommen, die das Problem der juristischen Textarbeit in verschiedenen Ausfächerungen diskutieren. Die behandelten Themen umfassen, wie die drei Sammelbände der Arbeitsgruppe zeigen,53 die Bedeutung des Gesetzestextes,54 die Funktion der Richter,55 die Entscheidungsbegründung,56 das Referenzverhältnis zwischen Normtext und Sachverhalt57 usw.58 Das Gemeinsame daran ist, dass

50 51 52 53

Busse, 2000b, S. 806. Vgl. Müller, 1994, S. 147ff. Müller/Christensen/Sokolowski, 1997, S. 19, S. 37. Die drei Sammelbände sind Müller (Hrsg.), 1989; Wimmer (Hrsg.), 1998; Müller/Wimmer (Hrsg.), 2001. 54 Vgl. Busse, 1989, 2001; Christensen/Sokolowski, 2001. 55 Vgl. Christensen, 1989b; Busse, 2001. 56 Vgl. Grasnick, 2001; Felder, 2001. 57 Vgl. Jeand’Heur, 1989c. 58 Interessierte Leser seien noch auf weitere relevante Schriften der Hauptmitglieder der Arbeitsgruppe verwiesen, die nicht in den Sammelbänden publiziert wurden: Müller, 1994, 2007a, 2008; Christensen, 1987, 1988, 1989a; Christensen (Hrsg.), 1990, 1997; Busse, 1992a, 1993, 1999, 2002, 2005, 2007; Felder, 2003a, 2003b, 2005a, 2005b; Müller/ Christensen, 2004.

1.2. Sprache und Spracharbeit im juristischen Bereich: Forschungsstand

13

man die Auslegung und Anwendung von Gesetzestexten und das Arbeiten der Juristen an rechtlichen Texten immer im latenten Rahmen realer, durch vielfältige institutionelle Regeln und Einflussfaktoren geprägter Rechtskommunikation untersucht. 3) Berliner Arbeitsgruppe Die Berliner Gruppe Sprache des Rechts ist eine sehr junge interdisziplinäre Arbeitsgruppe, die im Herbst 1999 von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften initiiert wurde. Die wichtigen Beiträge sind in den drei Bänden der Schriftenreihe Die Sprache des Rechts versammelt. Der erste Band befasst sich mit der Verständlichkeit, Missverständlichkeit und Unverständlichkeit von Recht.59 Der zweite Band widmet sich dem Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts.60 Der dritte Band handelt von Strukturen, Formen und Medien der Kommunikation im Recht.61 Die Aufsätze stehen unter verschiedenen Einflussfaktoren, unter ihnen vor allem auch der Strukturierenden Rechtslehre, und versuchen, das ganze Spektrum der heutigen Ansätze zu präsentieren. 1.2.3. Weitere Themenfelder und Literaturhinweise Neben den oben dargelegten Forschungsansätzen gibt es in Bezug auf Recht und Sprache noch weitere Themenfelder, die aus Relevanz- und Fokusgründen an dieser Stelle nicht im Einzelnen referiert werden können. Interessierte Leser seien auf die zahlreichen Einführungen in die Thematik Sprache und Recht,62 die allgemeine Überblicke über das gesamte Forschungsspektrum vermitteln, auf verschiedene Sammelbände,63 in denen sowohl theoretische Grundüberlegungen als auch empirische Einzeluntersuchungen vorgelegt sind, und nicht zuletzt auch auf bedeutende Bibliographien64 verwiesen. Ein viel diskutiertes Thema ist z.B. die sprachwissenschaftliche Hilfe bei der Täterermittlung.65 Und wegen zunehmender internationaler Kooperation im 59 60 61 62

Vgl. Lerch (Hrsg.), 2004. Vgl. Lerch (Hrsg.), 2005a. Vgl. Lerch (Hrsg.), 2005b. Vgl. Rathert, 2006; Simon/Funk-Baker, 2009; Sander, 2004; Gibbons, 2003; ᶌ䠁ῌ, 2003, 2004; ੤Տᒣ, 2002a; ࡈ㭊䬝, 2003a; ࡈ㓒Ⴄ, 2003; ᵾᥟᆷ, 2006; ᆻेᒣ, 2009. Es ist besonders anzumerken, dass sich chinesische Einführungen häufig angelsächsischen Forschungen anschließen. Deutsche Forschungsansätze werden dagegen nur wenig rezipiert, obwohl China vom Rechtssystem her eher in engerem Zusammenhang mit Deutschland steht. 63 Vgl. Radtke (bearb.), 1981; Grewendorf (Hrsg.), 1992; Haß-Zumkehr (Hrsg.), 2002. 64 Vgl. Bülow/Schneider, 1981; Reitemeier, 1985; Nussbaumer, 1997. 65 Vgl. Kniffka, 1992; Baldauf, 2002; Lipold, 1992; Rathert, 2006, S. 40–57; ᶌ䠁ῌ, 2004, S. 172–184.

14

1. Einleitung

Rechtswesen kommt – vor allem in der Europäischen Union – besondere Relevanz dem Problem der Mehrsprachigkeit des Rechts und der mehrsprachigen Verständigung im Rechtsbereich zu.66 1.2.4. Zum Forschungsstand Seit der pragmatischen Wende stehen Rechtstexte und Rechtskommunikation im Mittelpunkt der Fachsprachenforschung. Dieser Tendenz hat sich auch die vorliegende Arbeit angeschlossen. Bewusst setze ich die Untersuchung nicht bei den Rechtstermini, sondern bei der textgestützten Rechtskommunikation an. Das heißt aber nicht, dass Rechtstermini für die Forschung unwichtig sind. Die Relevanz der rechtlichen Fachterminologie für das Verstehen rechtlichen Handelns belegen schon die zahlreichen Einzelstudien, die in den obigen Abschnitten vorgestellt wurden. Wichtig ist unter dem Einfluss neuerer Ansätze, dass Rechtstermini nicht isoliert betrachtet und erforscht werden dürfen. Vielmehr sollen sie in die Handlungsschemata juristischer Verfahren eingebettet werden. Das heißt, sie sollen statt der kontextabstrahierten Erforschung in stärkerem Maße hinsichtlich ihrer Semantisierungsprozesse in realen juristischen Kommunikationen untersucht werden. Die vorliegende Arbeit versucht, anhand linguistischer Instrumentarien auf einen der gemeinten Semantisierungsprozesse und den daraus resultierenden Rechtsstreit einzugehen. Im Rahmen textlinguistischer Untersuchungen der Rechtskommunikation kommt es zentral auf die sprachwissenschaftliche Skizzierung bzw. Modellierung realer Kommunikationsprozesse im Rechtswesen an. Gegenüber dem relativ gut erforschten mündlichen Verhandlungsverfahren wird die schriftliche Kommunikation mittels rechtlicher Texte eher wenig anhand von authentischen Materialien untersucht. Und die verschiedenen rechtlichen Textsorten stehen, wie den vorhandenen Untersuchungen zu entnehmen ist, in engem Zusammenhang eines umfassenden Textgeflechts. Die Eigenschaften der einzelnen Textsorten können erst über ihr Funktionieren in dem über den Einzeltext hinausgehenden Rechtsdiskurs gerecht untersucht werden. Insofern macht die vorliegende Arbeit die reale schriftliche Kommunikation zwischen verschiedenen juristischen Parteien anhand diverser rechtlicher Texte aus einem exemplarischen Rechtsdiskurs zum Untersuchungsgegenstand. Bei der konkreten Herangehensweise und der Einarbeitung in das spezifische Kommunikationsfeld steht die vorliegende Untersuchung unter unmittelbarem Einfluss der Grundidee der Strukturierenden Rechtslehre. Im Gegensatz zu dem Darmstädter Projekt, das die Rechtsarbeit auf das Sub-

66 Vgl. Rathert, 2006, S. 74–86; Braselmann, 2002; Müller/Burr (Hrsg.), 2004.

1.3. Legitimation des Textkorpus

15

sumtionsmodell reduziert hat, übernimmt die vorliegende Arbeit die Konzeption der juristischen Textarbeit der Strukturierenden Rechtslehre. Dabei wird das rechtspositivistische Konzept der Normtextinterpretation zugunsten der dynamischen Einbettung des Wirklichkeitsbereichs in die Ordnung der Normsysteme unterdrückt und die diskursive Konstitution von Recht in sprachlichen Prozessen in den Mittelpunkt gestellt. In Anlehnung an pragmatische Ansätze erfassen die einzelnen Studien der Strukturierenden Rechtslehre das, was Juristen sprechen und schreiben, „als reales, zu verantwortendes Handeln von (amtlich oder gesellschaftlich dazu bestellten) Menschen in bestimmten sozialen Zusammenhängen“67. Die empirischen Untersuchungen von Felder haben z.B. anhand von Entscheidungstexten grundlegende Handlungsmuster herausgearbeitet. Diese handlungsorientierte Perspektive übernimmt auch die vorliegende Untersuchung. Auf dieser Basis sollte sie das bereits angesetzte Handlungsmodell auf ein um neue Textsorten und Handlungsakteure ausgebautes Untersuchungskorpus übertragen und dies daraufhin modifizieren und differenzieren. Auch die primär für den Sachverhaltsbereich postulierte sprachliche Zubereitung, die auf die Aktenanalyse von Seibert zurückzuführen ist, möchte die vorliegende Arbeit auf weitere juristische Handlungsfelder ausdehnen. Denn juristische Deutungen bzw. Perspektivierungen finden sich nicht nur in der Wirklichkeitsverarbeitung, sondern auch in anderen Handlungsschemata, in denen man zu sprachlichen Strukturen und Vertextungsmitteln greift. Darüber hinaus werden die bei vielen anderen Untersuchungen eher im Hintergrund stehenden Streitigkeiten bei der Konstitution von Recht in der vorliegenden Untersuchung in den Vordergrund gerückt. Nicht zuletzt sei noch auf die kognitionslinguistisch orientierten Ansätze, die den einzelnen Arbeiten zu entnehmen sind, verwiesen. Es ist interessant zu untersuchen, wie die außersprachliche Wirklichkeit fachdomänenspezifisch anders modelliert und sprachlich dokumentiert wird. Man muss sich ständig vor Augen halten, dass es dabei um gleichwertige Konstrukte anders perspektivierter Erkenntnisprozesse geht.

1.3. Legitimation des Textkorpus Im vorliegenden Abschnitt wird der Aufbau des vorliegenden Textkorpus vorgestellt. Als Gegenstand empirischer Untersuchung gelten diverse authentische Texte aus mehreren deutschen Rechtsfindungsprozessen. Zunächst wird die Auswahl des Textkorpus anhand entsprechender Kriterien legitimiert. Dann

67

Müller, 2007a, S. 270.

16

1. Einleitung

folgt die Darstellung des Ablaufs und des Ergebnisses der Textsammlung. Zuletzt wird die technische Bereitstellung des zusammengestellten Textkorpus skizziert. 1.3.1. Aufbau des Korpus – Kriterien und Legitimation der Auswahl Die vorliegende Untersuchung geht von der schlichten Beobachtung aus, dass verschiedene Rechtsarbeiter gegenüber demselben Sachverhalt unterschiedliche Rechtspositionen vertreten können, und zielt auf die linguistische Explizierung eines textgestützten Rechtsstreits im realen Rechtsfindungsverfahren. Anders als frühere empirische Arbeiten, in denen vielfach dargestellt wird, wie der Fall aus der Sicht des Richters rechtlich und sprachlich zu behandeln ist,68 kommt es hierbei nicht nur auf mögliche Zubereitungs- und Begründungsunterschiede vonseiten des Richters an, die durch den Instanzenvergleich wahrgenommen werden können, sondern es kommt auch auf mögliche Behandlungs- und Perspektivierungsunterschiede verschiedener Parteien vor Gericht – des Richters, der Staatsanwaltschaft, des Angeklagten bzw. seines Rechtsanwalts – in einer oder mehreren Instanzen an. Im Vergleich zu früheren Arbeiten wird der Untersuchungsaspekt hier um neue Handlungsrollen (Staatsanwaltschaft, Rechtsanwalt bzw. Angeklagte) und entsprechende Textsorten (Anklageschriften, Berufungs- und Revisionsschriften usw.) erweitert. Damit versucht die vorliegende Arbeit, einen zweidimensionalen Vergleich sowohl zwischen verschiedenen Instanzen als auch zwischen verschiedenen Rechtsarbeitern zu unternehmen, um den realen Rechtsfindungsprozess in Form der Rechtserstreitung zu charakterisieren. Darüber hinaus will die Arbeit nicht nur einen einzelnen Rechtsfall untersuchen, wie es bei den vorhandenen Einzelstudien bereits der Fall ist, sondern sie beabsichtigt, ihre Untersuchung auf mehrere Rechtsfälle zu erstrecken, in denen es um das gleiche oder ähnliche Rechtsproblem geht und die insofern durch ihren thematischen Zusammenhang und unmittelbare intertextuelle Bezugnahme einen juristischen Diskurs bilden.69 Denn neben der Fragestellung, ob und wie ein und derselbe Sachverhalt von verschiedenen Parteien vor Gericht und in diversen Instanzen juristisch unterschiedlich bewertet wird, ist die Untersuchung auch unter dem Aspekt von Interesse, wie das gleiche oder ähnliche Rechtsproblem – zugeschnitten auf die konkrete Rechtslage unterschiedlicher Fälle – erörtert bzw. verhandelt wird. Dabei ist die Normtext-SachverhaltKorrelation ein zentrales Problem.

68 Vgl. Felder, 2003a; Busse, 1992a. 69 Vgl. die Diskurs-Definition von Busse/Teubert, 1994, S. 14.

1.3. Legitimation des Textkorpus

17

Aus dem dargestellten Untersuchungsziel und mit Rücksicht auf die analytische Praktizierbarkeit ergeben sich folgende Kriterien zur Auswahl des geeigneten Rechtsproblems und der entsprechenden Rechtsfälle: – Die Rechtsfälle weisen ein gleiches oder ähnliches Rechtsproblem auf, das sowohl juristisch als auch linguistisch von Bedeutung ist. – Die Rechtsfälle gehen möglicherweise jeweils durch mehrere Instanzen, damit die verschiedenen Ansichten durch den vertikalen Vergleich kontrastiv beschrieben werden können. – Es ist wünschenswert, Gerichte verschiedener Ränge (Amtsgericht, Landgericht, Oberlandesgericht, Bundesgerichtshof) in die Untersuchung einzubeziehen, damit die Untersuchung einen gewissen Skopus erreicht. – Es ist für die Analyse von Vorteil, wenn sich das rechtliche Hauptproblem der Rechtsfälle auf einige wenige Paragraphen konzentriert, so dass eine gestraffte Diskussion erfolgen kann. Um passende Rechtsfälle zu finden, habe ich einerseits in den Sammelbänden von Urteilen des Bundesgerichtshofs gesucht und andererseits bei erfahrenen Rechtslinguisten und Juristen Ratschläge eingeholt. Nach mehrfachen Diskussionen und Überlegungen um Geeignetheit und Ausführbarkeit kam schließlich das Rechtsproblem der unterschiedlichen Auslegungen des Pflanzenbegriffs im Betäubungsmittelgesetz in Sicht. Diese haben zu entgegengesetzten Urteilen gegenüber dem Umgang mit bestimmten Sorten von Pilzen geführt. Das Rechtsproblem besteht darin, ob Pilze vom Pflanzenbegriff des Betäubungsmittelgesetzes gefasst werden können, so dass die psilocin-/psilocybinhaltigen70 Pilze als Betäubungsmittel klassifiziert werden können und der Umgang mit solchen Pilzen strafrechtlich geahndet werden darf.71 Denn nach betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften fallen in der ehemaligen Fassung nur Pflanzen und Pflanzenteile, Tiere und tierische Körperteile unter den Bereich der Betäubungsmittel. Gemäß neueren biologischen Erkenntnissen sind Pilze aber weder Pflanzen noch Tiere. Daraus ergibt sich die Debatte über die Auswirkung dieses biologisch motivierten Bedeutungswandels für die juristische Auslegungs- und Entscheidungstätigkeit. Diese Auswahl verdanke ich vor allem Hans Kudlich, Ralph Christensen und Michael Sokolowski mit ihrem vorausblickenden Aufsatz „Zauberpilze

70 71

Psilocin und Psilocybin sind Wirkstoffe, die berauschende Wirkung haben. Deshalb werden sie vom Betäubungsmittelgesetz erfasst und sind nicht zum freien Verkehr zugelassen. Eine ausführlichere Darstellung dieser Rechtsfrage findet sich in Abschnitt 5.1. der vorliegenden Arbeit.

18

1. Einleitung

und Cybernauten – oder: Macht Sprache aus Pilzen Pflanzen? – Überlegungen zu BGH 1 StR 384/06 v. 25.10.2006 aus rechtslinguistischer Sicht“.72 Das Rechtsproblem weist – den oben erwähnten Kriterien entsprechend – folgende besondere Merkmale auf, welche die Auswahl rechtfertigen: – Die Rechtsfrage enthält zwar nur wenige Paragraphen, ist aber trotzdem von grundlegender Bedeutung. Denn es geht dabei um das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“73 Ob der Umgang mit bestimmten Sorten von Pilzen gesetzlich reguliert wird und daraufhin strafrechtlich verurteilt werden darf, hängt hauptsächlich davon ab, wie der Pflanzenbegriff im Betäubungsmittelgesetz auszulegen ist und ob die Pilze davon erfasst werden. Dass schließlich eine Formulierungsänderung74 im Gesetzestext herbeigeführt worden ist, die zur Klarstellung dieser Rechtsfrage dient, zeigt jedoch die rechtliche Bedeutsamkeit dieses Problems. – An diesem Rechtsdiskurs lässt sich im Spannungsverhältnis zwischen der Sozialwirklichkeit und den die Rechtsnorm tragenden Normtexten veranschaulichen, wie ein unerwünschtes Sozialverhalten – z.B. hier der Umgang mit rauschgifthaltigen Pilzen – aufgrund des entsprechenden Normtextes reguliert werden kann und soll. Es ist ein Prozess der Einbettung des sozialen Sachverhalts in die Rechtstexte und ein Prozess der sprachlichen Konstitution von Recht. Um Lebenssachverhalte und Recht aufeinander abzustimmen (besonders falls dabei Schwierigkeiten auftreten), stehen zwei grundlegende Anpassungsmuster zur Verfügung.75 Entweder verabschiedet man neue Gesetzestexte, damit bestimmte Lebenssachverhalte justitiabel gemacht werden können; oder die außerrechtliche Wirklichkeit wird durch Handeln oder Denken, d.h. „sprachliche Zubereitung“ der juristischen Funktionsträger auf die rechtliche Welt zugeschnitten, so dass man ohne weiteres sie und den Rechtstext in Be-

72 73

74 75

Kudlich/Christensen/Sokolowski, 2007. Dabei handelt es sich um den 2. Absatz des Artikels 103 des Grundgesetzes. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 2009. URL: http://www.gesetze-im-internet. de/bundesrecht/gg/gesamt.pdf (letzter Zugriff: 2010–11–25). Da für Gesetzestexte herkömmlich keine Autorschaft bei der Quellenangabe angegeben wird, übernimmt dies auch die vorliegende Arbeit für ihre zitierten Gesetzestexte in Fußnoten und im Literaturverzeichnis. Die in der vorliegenden Arbeit zitierten Gesetzestexte umfassen: Grundgesetz, Strafgesetzbuch, EG-Vertrag, Anlage I zum § 1 Abs. 1 BtMG. Das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) enthält drei Anlagen, in denen Stoffe und Zubereitungen aufgeführt werden, die als Betäubungsmittel klassifiziert werden. In der 19. Betäubungsmittelrechts-Änderungsverordnung werden die problematischen Ausdrücke „Pflanzen und Pflanzenteile, Tiere und tierische Körperteile“ durch den umfassenden Begriff „Organismen und Teile von Organismen“ ersetzt. Vgl. Felder, 2003a, S. 302.

1.3. Legitimation des Textkorpus









19

ziehung setzt. Der Umgang mit den sog. „Zauberpilzen“ ist einer dieser schwierigen Rechtsfälle. Insofern ist es von besonders hohem Interesse, wenn man den einschlägigen sprachlichen Prozess verfolgt. Die Untersuchung dieses Rechtsproblems und der entsprechenden Rechtsfälle ist nicht nur juristisch, sondern auch linguistisch interessant. In den Fällen kommt es nämlich vor allem auf die Auslegung des Pflanzenbegriffs im Rahmen des Betäubungsmittelgesetzes an. Das stellt letztendlich eine semantische Fragestellung dar. Linguistisch gesehen kann man den Semantisierungsprozess eines bestimmten Rechtsbegriffs mit einem semantischen Kampf zwischen verschiedenen Bedeutungsvarianten, die unterschiedliche Rechtsarbeiter vertreten, vergleichen. Jede Partei hat ihre eigene Auslegungshypothese und versucht diese im Streit gegenüber anderen durchzusetzen. Es ist ebenfalls ein semantischer Kampf zwischen verschiedenen Wissensdisziplinen. Folgen die Gerichte bei der Auslegung des Pflanzenbegriffs der Autorität anderer Wissensdisziplinen – hier z.B. der Biologie – oder wird stattdessen eine andere Definition – z.B. aus dem Bereich des allgemeinen Wissens – geltend gemacht? Wie kann man das allgemeine Wissen bzw. den allgemeinen Sprachgebrauch ermitteln, wenn sie von den Juristen für die grammatische Auslegung des Gesetzestextes vorausgesetzt werden? Wie ist das Verhältnis zwischen Fachsprache (biologischer Fachsprache, rechtlicher Fachsprache) und Gemeinsprache? Es sind varietätenlinguistisch relevante Fragen, mit denen man bei diesem Rechtsproblem konfrontiert wird. Dieses Rechtsproblem ist motiviert durch das linguistisch viel untersuchte Phänomen des Bedeutungswandels. Der Pflanzenbegriff ist in der Biologie durch neue fachliche Erkenntnisse insofern verändert worden, als die Gruppe „Pilze“, die ursprünglich zu den Pflanzen gehörte, nun aus der Kategorie „Pflanze“ ausgegliedert wird und eine selbständige Kategorie bildet. Dabei handelt es sich um eine fachsprachliche Neuetikettierung deklarativer Natur, mit der sich relevante linguistische Fragestellungen verbinden lassen: Inwiefern kann sich die neue biologische Fachdefinition durchsetzen und auf das kollektive Wissen der einfachen Leute Einfluss nehmen? Wie ist der Bedeutungswandel zeitlich anzunehmen, und wie kann diese Annahme exemplarisch nachgewiesen werden? Wenn man gerichtliche Auslegungsverfahren diachronisch verfolgt, lassen sich bei der Frage nach dem allgemeinen Sprachgebrauch interessante Veränderungen beobachten. Früher gingen die Rechtsarbeiter meistens – wenig reflektierend – von eigenem semantischem Verständnis aus und benutzten oft Formulierungen wie „nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ist/bedeutet x …“. Jetzt versuchen immer mehr Rechtsarbeiter, objektivierbare Kriterien des Sprachgebrauchs zu finden, indem

20

1. Einleitung

sie Wörterbücher, Lehrwerke usw. als belegende Korpora heranziehen. Unter den zu untersuchenden Rechtsfällen wollten manche Rechtsarbeiter sogar über eine Internet-Recherche das allgemeine Sprachempfinden ermitteln. Das ist aus linguistischer Perspektive hochinteressant. 1.3.2. Textsammlung Nachdem das zu behandelnde Rechtsproblem festgelegt worden war, wurden Rechtsfälle mit unterschiedlichen Rechtstexten gesammelt, die – gemäß dem Untersuchungsziel – von verschiedenen juristischen Funktionsträgern stammen. Die wichtigsten Textsorten dabei sind die Anklageschrift, das Berufungs-/Revisionsschreiben, das Gerichtsurteil und der Schriftsatz zwischen verschiedenen Parteien.76 Daneben gibt es allerdings noch weitere Textsorten, die durch intertextuelle Bezugnahmen einbezogen werden, wenn man detailliert auf den Diskurs eingeht, wie z.B. Gesetzestexte, fachliche Gutachten, Gesetzgebungsmaterialien usw. Anders als bei alltäglichen Textsorten wie Zeitungsartikeln usw. ist die Textsammlung bei juristischen Texten besonders schwierig, denn manche Texte sind überhaupt nicht frei zugänglich, und es bedarf spezifischer Sammlungsmethoden. Die Textsammlung bei der vorliegenden Untersuchung erfolgte hauptsächlich durch drei Verfahren: Datenbank (Beck-Online und Juris), Bibliothek und Schreiben an die entsprechenden Institutionen77.

76

Im Rechtsfindungsprozess sind sicher mehr Textsorten beteiligt als die hier erwähnten. Dass diese angegebenen Textsorten als Untersuchungskorpus benutzt werden, liegt vielfach daran, dass sich in diesen die gesamte gerichtliche Diskussion vollzieht und verdichtet. Für eine Typologie juristischer Texte sei auf Busse, 2000a verwiesen. Dies wird in Abschnitt 4.1.2. der vorliegenden Arbeit ausführlich erläutert. 77 Die meisten Texte des vorliegenden Korpus bekam ich durch das Schreiben an die entsprechenden Institutionen. Da viele Rechtstexte – außer manchen Urteilstexten – weder in Datenbanken noch in Bibliotheken zu finden waren, blieb nichts anderes übrig, als einschlägige Gerichte, Staatsanwaltschaften und Rechtsanwälte anzuschreiben. Damit verschiedene Parteien durch entsprechende Texte vertreten sein konnten, waren beim Anschreiben folgende Textsorten gefordert: die Anklageschrift, die Entscheidung, die Revisions- und Berufungsschrift, das Sitzungsprotokoll inkl. der Plädoyers (Die Plädoyers gibt es nicht immer in schriftlichen Texten, sondern sie werden meistens vor Gericht mündlich frei vorgetragen. Deshalb wird auch das Sitzungsprotokoll verlangt, das eventuell die Plädoyers enthält). Daraufhin wurden mir einige Texte auf dem Postweg zugestellt. Bei persönlichen Gesprächen, zu denen ich in der Folge des Anschreibens eingeladen wurde, erhielt ich umfassendere Materialien, die z.B. auch Schriftsätze oder Vernehmungsprotokolle enthalten.

21

1.3. Legitimation des Textkorpus

Das aus einer monatelangen Textsammlung zusammengestellte Korpus umfasst 6 Rechtsfälle zu rauschgifthaltigen Pilzen, die zwischen 2000 bis 2007 entschieden wurden. In der folgenden Tabelle (Schaubild 1) werden die Rechtsfälle mit den Grundinformationen wie Instanzenzug, zuständige Instanzen, Verhandlungsdatum, Aktenzeichen angegeben.

Rechtsfall 1

Rechtsfall 2

Rechtsfall 3

Rechtsfall 4

Rechtsfall 5

Rechtsfall 6

LG Bamberg, 11.04.2006, Az. 101 Js 14056/04 – 2 KLs

AG Linz, 06.10.2004, Az. 2090 Js 24221/04.3 Ds

AG Mannheim, 11.09.2006, Az. 1 Ls 311 Js 31087/04

AG Bad Kissingen, 14.03.2002, Az. 1 Ls 11 Js 16726/2000

AG Hamburg, 18.03.2004, Az. 147 Ds 6001 Js 680/02

AG Brühl, 24.03.2003, Az. unbekannt

BGH, 25.10.2006, Az. 1 StR 384/06

LG Koblenz, 20.06.2005, Az. 2090 Js 24221/04 – 6 Ns

OLG Karlsruhe, 19.04.2007, Az. 3 ss 30/07

Bayerisches Oberstes Landesgericht, 25.09.2002, Az. 4 St RR 80/2002, 4 St RR 80/02

LG Köln, 15.05.2003, Az. unbekannt

AG Bad Kissingen, 05.01.2007, Az. 1 Ls 11 Js 16726/00

OLG Köln, 14.10.2003, Az. Ss 396– 397/03

OLG Koblenz, 15.03.2006, Az. 1 Ss 341/05

Schaubild 1: Rechtsfälle im Überblick

Die Menge der gesammelten Texte zu den 6 Rechtsfällen hängt von der jeweiligen Zugänglichkeit ab. Insofern konnte nicht bei jedem Fall die Vollständigkeit aller gewünschten Dokumente erlangt werden. Wichtiger ist, dass man anhand der erworbenen Exemplare, die an sich wegen des schwierigen Zugangs schon sehr wertvoll für empirische Untersuchungen sind, die Einsicht in die Rechtskommunikation durch linguistische Modellierung schärfen kann. Der wichtigste Textbestand der einzelnen Rechtsfälle lässt sich wie folgt (Schaubild 2) bilanzieren.

22

1. Einleitung Erste Instanz

Zweite Instanz

Dritte Instanz

Rechtsfall 1

Anklageschrift, Protokoll, Urteil

Revisionsbegründung, Beschluss

Rechtsfall 2

Anklageschrift, Schriftsatz, Urteil

Berufungsbegründung, Schriftsatz, Protokoll, Urteil

Rechtsfall 3

Anklageschrift, Schriftsatz, Urteil, Vernehmungsprotokoll, Polizeibericht, gerichtliche Entscheidung im Ermittlungsverfahren

Revisionsbegründung, Schriftsatz, Urteil

Rechtsfall 4

Anklageschrift, Schriftsatz, Protokoll, Urteil, gerichtliche Entscheidung im Ermittlungsverfahren

Revisionsbegründung, Protokoll, Schriftsatz, Urteil

Protokoll, Urteil

Rechtsfall 5

Anklageschrift, Urteil

Rechtsfall 6

Anklageschrift

Protokoll

Beschluss

Revisionsbegründung, Schriftsatz, Urteil

Schaubild 2: Textbestand der Rechtsfälle

1.3.3. Technische Bereitstellung Alle gesammelten Rechtstexte können gemäß dem Untersuchungsziel zur unterschiedlichen empirischen Behandlung in ein Primär- und ein Sekundärkorpus unterteilt werden. Das Primärkorpus besteht aus denjenigen Texten, in denen sich der Rechtsstreit zwischen den verschiedenen Gerichtsparteien hauptsächlich vollzieht und die Rechtspositionen der beteiligten Rechtsarbeiter unmittelbar zum Ausdruck kommen. Die wichtigsten Textsorten dazu sind die Anklageschrift, das Sitzungsprotokoll, das Urteil, das Berufungs- und Revisionsschreiben, der Schriftsatz.78 Texte, die diesen Textsorten zugehören, leisten den wesentlichsten Beitrag zum Fortgang des Instanzenzugs und spiegeln insofern die eigentliche Gestalt der Rechtskommunikation während des Rechtsfindungsprozesses wider. 78

Dazu gehören auch das Vernehmungsprotokoll, der Polizeibericht und untergeordnete gerichtliche Entscheidungen im Ermittlungsverfahren (in Form von Beschluss oder Verfügung). Da diese Textsorten nur im Rechtsfall 3 und Rechtsfall 4 vereinzelt zu finden sind, gelten sie nicht als die wichtigsten Textsorten im Primärkorpus, die mit anderen Textsorten wie Anklageschrift, Urteil usw. in der gleichen Rangordnung sind, und werden auch bei der Namengebung, die demnächst vorgestellt werden wird, eher zu einer gemeinsamen Gruppe mit der Abkürzung „doc“ zusammengefasst.

23

1.4. Ab- und Eingrenzung der Untersuchung

Zum Sekundärkorpus gehören diejenigen Texte, die durch intertextuelle Bezugnahme in den Rechtsdiskurs eintreten und als latenter Hintergrund des Rechtsfindungsverfahrens fungieren. Beispielsweise gelten hier Gesetzestexte, Gesetzgebungsmaterialien, Gesetzeskommentare und biologische Gutachten. Beide Gruppen werden in der empirischen Untersuchung unterschiedlich behandelt, indem sich die detaillierte Analyse hauptsächlich auf das Primärkorpus richtet und das Sekundärkorpus nur bei Bedarf zum Vergleich herangezogen wird. Vor der Analyse müssen die Texte technisch vorbereitet werden. Zuerst werden alle Texte des Primärkorpus jeweils in eine PDF-Datei eingescannt. Bei der Namengebung der einzelnen Dateien werden Informationen der Rechtsfälle, des Instanzenzugs und der Textsorten berücksichtigt.79 Nach dem Einscannen erfolgt die OCR-Verarbeitung,80 damit eine elektronische effizientere Suche ermöglicht wird. In dem folgenden Schaubild (Schaubild 3) werden die Abkürzungen der einzelnen Textsorten bei der Namengebung aufgelistet. as

Anklageschrift

ber

Berufung

pro

Protokoll

re

Revision

ur

Urteil

ss

Schriftsatz

bes

Beschluss

doc81

Dokument

Schaubild 3: Die Abkürzungen der einzelnen Textsorten im Korpus

81

1.4. Ab- und Eingrenzung der Untersuchung Die vorliegende Arbeit beabsichtigt, durch eine empirische Untersuchung den textbasierten Rechtsstreit zwischen verschiedenen juristischen Funktionsträgern anhand von linguistischen Sprachhandlungsmustern zu beleuchten und die dabei verwendeten Strategien der sprachlichen Zubereitung bzw. Perspektivierung darzulegen. Das Textkorpus wird also vor allem hinsichtlich ers-

79

Das Urteil der ersten Instanz im Rechtsfall 1 wird beispielsweise „rf1-1-ur“ genannt: rf = Rechtsfall, 1 = die erste Instanz, ur = Urteil. Wenn es in demselben Instanzenzug mehrere Exemplare geben sollte, die zu derselben Textsorte gehören, werden den Abkürzungen von Textsorten arabische Zahlen hinzugefügt, z.B.: rf2-1-ss1 und rf2-1-ss2. 80 OCR = Optical Character Recognition. Die Verarbeitung kann in einer PDF-Datei automatisch ausgeführt werden. 81 Dazu gehören das Vernehmungsprotokoll, der Polizeibericht und untergeordnete gerichtliche Entscheidung im Ermittlungsverfahren (in Form von Beschluss oder Verfügung).

24

1. Einleitung

tens der realisierten Sprecherhandlungen82 und zweitens der unternommenen sprachlichen Perspektivierungsanstrengungen untersucht. Es kommt der vorliegenden Arbeit nicht darauf an, alle realisierten Sprecherhandlungen und unternommenen Perspektivierungsversuche ausführlich aufzulisten. Da Streitigkeiten in den Vordergrund gerückt werden, werden im empirischen Teil hauptsächlich die relevanten streitigen83 Sprecherhandlungen verschiedener Gerichtsparteien, die am besten geeignet sind, den streitenden Charakter der Rechtskommunikation widerzuspiegeln, dargestellt. Auch bei der Darstellung der dabei verwendeten spezifischen Perspektivierungsmittel als produktives Konstitutionsmedium kann nicht bezüglich jedes einzelnen Perspektivierungsmittels ein vollständiges Spektrum aller Verwendungsweisen erstellt werden. Die vorliegende Textanalyse arbeitet also mit verschiedenen Kategorien, um damit einen gesamten Überblick über Handlungsmuster und Handlungsstrategien im Rechtsfindungsprozess zu erarbeiten, ohne aber bei jeder Kategorie alle Exemplare aufzählen zu müssen und zu können. Die vorliegende Untersuchung übernimmt den Stil vorhandener rechtslinguistischer Einzelstudien und arbeitet in erster Linie eher qualitativ mit dem zu untersuchenden Textkorpus. Eine quantitative Untersuchung mit statistischen Methoden gilt nicht als zentrales Anliegen der vorliegenden Arbeit und könnte im Anschluss an die qualitativen Untersuchungsergebnisse in weiterführenden Forschungen aufgegriffen werden.

1.5. Aufbau und Gliederung der Arbeit Aus dem Untersuchungsgegenstand, dem Erkenntnisinteresse und den damit verbundenen Problemen ergibt sich die Gliederung der gesamten Untersuchung.

82

83

Die terminologische Differenzierung zwischen „Sprecherhandlung“, „Sprachhandlungstyp“ und „Sprachhandlungsklasse“ übernimmt die vorliegende Arbeit von Felder, 2003a, S. 65. Einzelne Sprachhandlungen, die konkret von einer oder mehreren Personen in einem Text vollzogen werden, werden „Sprecherhandlungen“ genannt. Ausführlich siehe Abschnitt 3.2.2.1. der vorliegenden Arbeit. Das Wort „streitig“ benutze ich in der Bezeichnung „streitige Sprecherhandlungen“ im Sinne von „kontrovers“, nicht etwa im Sinne von „umstritten“. Mit „streitigen Sprecherhandlungen“ meine ich die kontroversen Sprecherhandlungen verschiedener Parteien, die gegeneinander kämpfen und in denen sich der Rechtsstreit überhaupt realisiert. Ich habe bewusst die Wortform „streitig“ statt „kontrovers“ präferiert, weil sie einerseits dem juristischen Fachwortschatz entspringt und andererseits besser mit dem Haupttitel der Arbeit „Recht ist Streit“ korrespondiert.

1.5. Aufbau und Gliederung der Arbeit

25

Im theoretischen Teil, der Kapitel 2 bis 4 umfasst, werden die sprachtheoretischen und methodischen Grundlagen für die vorliegende Untersuchung ausgeführt. Im zweiten Kapitel werden zunächst die relevanten semantischen und pragmatischen Voraussetzungen, die für die adäquate Auffassung der Rechtskommunikation und des Rechtsstreits notwendig sind, erörtert. Dazu gehört zunächst eine pragmatische Auffassung der Semantik (2.1), die bei der Diskussion über Bedeutung den aktiv handelnden Sprecher und die Möglichkeit der unterschiedlichen Akzentuierung des Bedeutungspostulats aufgrund der vielfältigen Verwendungsweisen in realen Kommunikationssituationen in den Vordergrund rückt. Darauf folgt eine Diskussion über Alltagssemantik und Fachsemantik (2.2.), wobei die Eigenschaften der Rechtssprache – unter Berücksichtigung ihrer Wechselbeziehung zur Gemeinsprache – unter konstruktivistischen, kognitiven und varietätenlinguistischen Gesichtspunkten beleuchtet werden sollen. Dann wird die Konzeption der semantischen Kämpfe erläutert (2.3), die plausible Erklärungsansätze und nachvollziehbare Beschreibungskriterien für den semantischen Streit liefert und für die Explizierung des Rechtsstreits fruchtbar gemacht werden kann. Im dritten Kapitel werden relevante rechtslinguistische Ansätze dargelegt. Die Darstellung gilt zunächst der Strukturierenden Rechtslehre (3.1), die als grundlegendes Gedankengebäude der Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik fungiert. Im Rahmen dieser Lehre werden der Normtext als vorgegebene Zeichenkette für die juristische Textarbeit und die Norm als erzeugtes Resultat aus der juristischen Textarbeit auseinandergehalten. Der Rechtsarbeiter setzt während des Semantisierungsprozesses den Normtext und andere relevante Rechtstexte in Form des Normprogramms und den Sachverhalt aus dem Wirklichkeitsbereich in Form des Normbereichs in eine strukturierte Beziehung, um daraufhin die gültige Rechtsnorm aufgrund der wechselseitigen Abstimmung des Normprogramms und des Normbereichs zu konkretisieren. Dann wird ein daran anschließender arbeitspraktischer Ansatz ausgeführt (3.2), in dem die Rechtsarbeit als juristische Textarbeit mit verschiedenen Textstufen modelliert und die juristische Entscheidungstätigkeit mit drei grundlegenden Sprachhandlungstypen näher skizziert wird. Daraus ergibt sich einer der beiden methodischen Ansätze, anhand dessen der zu untersuchende Rechtsstreit expliziert werden soll, und zwar hinsichtlich realisierter streitiger Sprecherhandlungen im Rahmen grundlegender Sprachhandlungstypen. Im vierten Kapitel werden die Ansätze in der Textlinguistik und der Diskursanalyse erläutert, aufgrund deren der andere methodische Ansatz zur vorliegenden Untersuchung erarbeitet wird. Da diese die juristische Textarbeit in einem exemplarischen Rechtsdiskurs als Untersuchungsgegenstand hat, werden zunächst entsprechende Ansätze bezüglich des Textes und des Diskurses

26

1. Einleitung

ausgeführt (4.1). Dann erfolgt die Vorstellung der sprachlichen Perspektivität (4.2), die als wichtige Orientierungsdimension für die Beschreibung streitiger Sprecherhandlungen genutzt wird. Schließlich wird auf der Basis der erläuterten text- bzw. diskursanalytischen Ansätze ein analytisches Modell zur perspektivitätsorientierten Textanalyse mit einzelnen Untersuchungskategorien relevanter Perspektivierungsmittel auf verschiedenen Ebenen zusammengestellt (4.3). Das gilt als der andere methodische Ansatz. Bei der Untersuchung und Beschreibung streitiger Sprecherhandlungen werden also die Perspektivität und die Perspektivierungsmittel besonders berücksichtigt. Im darauf folgenden empirischen Teil von Kapitel 5 bis Kapitel 8 werden die Untersuchungsergebnisse systematisch angeführt. Das fünfte Kapitel erläutert aus Verständnis- und Übersichtsgründen die rechtliche Kontroverse im juristischen Kontext; außerdem werden die sechs Rechtsfälle hinsichtlich ihres Rechtsergebnisses und Instanzenzugs skizziert. Im sechsten Kapitel wird anhand von zwei relevanten Rechtsfällen (Rechtsfall 1 und Rechtsfall 2) die Kontroverse zwischen verschiedenen Rechtsarbeitern hinsichtlich streitiger Sprecherhandlungen und unternommener Perspektivierungsanstrengungen in ausführlichem Umfang detailliert dargestellt. Mittels einer Graphik bringt der Abschnitt 6.4. eine Bilanzierung des von mir erweiterten Modells der grundlegenden Sprachhandlungstypen mit differenzierten Subkategorien für juristische Textarbeit, anhand dessen die gesamte Darstellung empirischer Ergebnisse erfolgt. Im siebten Kapitel werden die Untersuchungsergebnisse der weiteren vier Rechtsfälle dargelegt. Im achten Kapitel werden die bei der Erläuterung streitiger Sprecherhandlungen verzeichneten Perspektivierungen noch einmal anhand des von mir angesetzten Modells der perspektivitätsorientierten Textanalyse systematisch und exemplarisch zusammengefasst. Das abschließende Resümee im neunten Kapitel bilanziert zunächst die gesamte Arbeit, und zwar anhand eines veranschaulichenden Schemas (9.1). Dann werden die Untersuchungsergebnisse mittels Thesen zugespitzt (9.2).

2. Semantische und pragmatische Voraussetzungen In diesem Kapitel werden die semantischen und pragmatischen Ansätze, die als notwendige Voraussetzung für die adäquate Auffassung der Rechtskommunikation gelten, ausgeführt. Zuerst wird die „praktische Semantik“1, welche die Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik als wichtigste linguistische Voraussetzung für ihre Lehre betrachtet,2 erörtert. Dann erfolgt die Diskussion über die Wechselbeziehung zwischen Alltagssemantik und Fachsemantik, um die Bedeutungsproblematik von Normtexten und Rechtsbegriffen im Spiegel dieser Wechselbeziehung zu erhellen. Zum Schluss wird die Konzeption der semantischen Kämpfe vorgestellt, die den plausiblen Erklärungsansatz für das streitende Wesen der Rechtskommunikation darstellt.

2.1. Pragmatische Semantikauffassung Der Untersuchung der Textarbeit juristischer Funktionsträger geht die Klärung der Frage voraus, welche Semantikauffassung in diesem Zusammenhang zugrunde gelegt wird. Denn es geht immerhin um semantische Probleme, wenn man über die Bedeutung eines Rechtsbegriffs bzw. eines Normtextes diskutiert. Im Rahmen der linguistischen Semantik gibt es reichliche Überlegungen, Erörterungen und Diskussionen über die Bedeutungslehre, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen vorgestellt und bilanziert werden können und müssen. Unter den diversen Semantikauffassungen wird hier die pragmatische Semantikauffassung, die von den Rechtslinguisten der Heidelberger Gruppe für ihre Untersuchungen herangezogen und weiterentwickelt wird, als adäquate theoretische Grundannahme für die vorliegende Untersuchung angenommen und hinsichtlich ihrer theoretischen Relevanz für die rechtslinguistische Textarbeit erläutert. In den Schriften der Heidelberger Gruppe kommt das Konzept „praktische Semantik“ als einer der beiden wichtigsten Bestandteile ihres gesamten Gedankengebäudes häufig vor oder bleibt zumindest im latenten Hin-

1 2

In der vorliegenden Arbeit wird dafür im Anschluss an Felder der breitere Terminus „pragmatische Semantikauffassung“ verwendet. Vgl. Felder, 2003a, S. 42. Vgl. Müller, 2007a, S. 270.

28

2. Semantische und pragmatische Voraussetzungen

tergrund.3 Es ist eine Bezeichnung für „Ansätze der pragma-linguistischen Bedeutungstheorie, die sich (wenigstens zum Teil) auf den Bedeutungsbegriff des späten Wittgenstein beziehen“4. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts haben Heringer und andere Autoren unter demselben Titel ähnliche und vergleichbare – wenn auch nicht in allen Details übereinstimmende – Überlegungen vorgetragen.5 Der Grundgedanke der praktischen Semantik basiert auf der Gebrauchstheorie Wittgensteins: 6 –

– – –

Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens kennen heißt wissen, wie es verwendet werden kann, d.h., wie man mit ihm handeln kann, welche Regeln für seinen Gebrauch gelten. Das Verstehen sprachlicher Handlungen beruht auf der Kenntnis von Regeln. Missverstehen ist gewöhnlich darauf zurückzuführen, dass die Kommunikationspartner nach unterschiedlichen Regeln handeln. Wenn wir die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens beschreiben wollen, müssen wir seinen Zusammenhang innerhalb einer sozialen Lebensform berücksichtigen.

Demzufolge wird die Bedeutung eines Zeichens in den durch Regeln gesteuerten Sprachgebrauch eingebettet. Bedeutung ist nicht – wie in manchen gängigen Semantikauffassungen – reduziert bzw. isoliert im Sprachsystem zu konzipieren, sondern sie ist immer in konkrete kommunikative Handlungszusammenhänge einzuordnen. Der Sprachgebrauch hat Auswirkungen auf die Bedeutung.7 Sowohl im Rahmen der Pragmatik als auch im Rahmen der pragmatischen Semantikauffassung wird das Sprechen als soziales Handeln erfasst, das bestimmten Regeln unterliegt. Bedeutung ist keine ontisch an das Zeichen geknüpfte, außerhalb der sozialen Kommunikation liegende objektive Entität, sondern sie wird in der menschlichen Kommunikation praktiziert. Die pragmatische Semantikauffassung geht nicht davon aus, dass es eine einheitliche Bedeutung eines Zeichens in einer Sprache gebe, sondern sie legt die Vielfalt sprachkommunikativer Verwendungsmöglichkeiten eines Wortes in unterschiedlichen Kontexten bei der Diskussion von „Bedeutung“ zugrunde.8 Ein Ausdruck kann in vielfältigen Verwendungsweisen benutzt werden. Es wäre kaum möglich, die Vielfalt der Verwendungsmöglichkeiten zu über-

3 4 5 6 7 8

Der andere der beiden wichtigsten Bestandteile ist die Strukturierende Rechtslehre. Vgl. Müller, 2007a, S. 270f; Wimmer/Christensen, 1989, S. 36ff. Busse, 1992b, S. 213. Vgl. Heringer, 1974; Heringer/Öhlschläger/Strecker/Wimmer, 1977. Busse, 1992b, S. 49f; Heringer/Öhlschläger/Strecker/Wimmer, 1977, S. 7. Vgl. Felder, 2003a, S. 55. Vgl. Busse, 1992b, S. 50.

2.1. Pragmatische Semantikauffassung

29

schauen. „Zwischen den Verwendungsweisen bestehen oft Zusammenhänge, aber nicht immer der Art, dass allen Verwendungsweisen etwas gemeinsam ist. Wittgenstein bezeichnet eine Art des Zusammenhangs zwischen Verwendungsweisen als Familienähnlichkeit.“9 Das Konzept der pragmatischen Semantikauffassung lässt folgende Einsichten zu, die für die vorliegende rechtslinguistische Untersuchung von Interesse sind. – Die pragmatische Semantikauffassung schaltet den aktiv handelnden Sprecher in die Bedeutungsproblematik ein und schreibt ihm grundlegende Relevanz im Semantisierungsprozess zu. Bei jeder kommunikativen Verwendung praktiziert bzw. aktualisiert der Sprecher den Sprachgebrauch, der zur Bedeutung eines Zeichens verdichtet wird. Jeder akzeptierte Sprachgebrauch hat Einfluss auf die Bedeutung, wenn dieser sich auch nicht immer explikativ und exakt beschreiben lässt. Bedeutung wird demnach nicht als Entität an dem Zeichen selbst erfasst, sondern sie wird zum Gegenstand kommunikativer Handlung aktiver Sprecher. Sowohl bei der Textproduktion als auch bei der Textrezeption geht es um eine aktive Bedeutungsrealisation handelnder Sprecher. – Sprachliche Kommunikation ist ein soziales Handeln, das bestimmten Regeln unterliegt und auf intersubjektiven Übereinstimmungen basiert. Sprachliches Handeln ist regelgeleitet. „Die präskriptive Kraft sprachlicher Regeln besteht in der kollektiven Anerkennung oder Akzeptanz […] einer Äußerung als Teil der jeweiligen sprachlichen Praxis […] durch die Gemeinschaft der Teilnehmer an dieser Praxis.“10 Sprachliche Regeln befinden sich nicht außerhalb der sprachlichen Kommunikation (wie Naturgesetze), sondern sie ergeben sich erst aus der sozialen sprachlichen Praxis und stützen sich auf intersubjektive Vereinbarungen. Sprachliche Regeln, welche die Bedeutung eines Zeichens bestimmen, lassen sich allerdings nur schwer exakt und umfassend explizieren. Dafür gibt es vielfache Gründe. Zunächst liegen abstrahierten Regeln semantische Ähnlichkeitsurteile von konkreten Verwendungssituationen zugrunde. „Wenn Sprachteilhaber also semantische Ähnlichkeitsurteile fällen, so abstrahieren sie notwendig von einer Vielzahl von Aspekten, welche die jeweilige Verwendungssituation (-zweck u.a.m.) bestimmen. Die außer Acht gelassenen Aspekte können aber zu anderen Beschreibungszwecken wieder Relevanz gewinnen.“11 Es ist daher möglich, dass von unterschiedlichen sprachlichen Akteuren unterschiedliche Aspekte

9 10 11

Felder, 2006a, S. 32. Liptow, 2004, S. 116. Busse, 1992b, S. 54.

30



2. Semantische und pragmatische Voraussetzungen

bei ihrem konkreten Sprachgebrauch dominant gesetzt werden. Felder redet in diesem Sinne von „Teilbedeutungen“, „Bedeutungsaspekten“ oder „Bedeutungskomponenten“, die zusammen zu einem holistischen Bedeutungskonzept verwoben werden, wobei dies schwer expliziert werden kann.12 Zweitens sind sprachliche Regeln keine naturgesetzlichen Regeln, die meistens konstant bleiben. Sprachliche Regeln, da sie von schöpferischer sozialer Kommunikationspraxis abhängen und auf sozialen Übereinstimmungen basieren, sind offene Regeln, die sich im Laufe der Zeit entwickeln können. Bedeutung ist damit eine dynamische Größe. Der aktiv handelnde Sprecher, die in gewissem Sinne offenen sprachlichen Regeln und das dynamische Entwicklungspotential der Bedeutung führen dazu, dass die Wortcontainer-Metapher abgelehnt werden muss.13 Bedeutung ist keine feste Entität, die man bei der Textproduktion in eine Wortform einpacken und dann bei der Textrezeption unverändert aus der Wortform auspacken kann. Bei der Bedeutungsexplikation darf die interpretative Leistung des handelnden Menschen nicht ignoriert werden. „Bedeutung ist keine Entität, sondern ein Bedeutungspostulat bzw. eine interpretative Hypothese, die sich aus Text- und Situationsdeutungen zusammensetzt.“14

Busse betont in seinem Konzept der praktischen Semantik, dass ein sprachliches Zeichen nie isoliert vorkommt, sondern dass es immer nur als Teil von Sätzen bzw. Äußerungen verwendet wird: „Die Funktion einzelner Sprachzeichen (Wörter) und grammatischer Muster ergibt sich nicht aus quasi selbstwirkenden Leistungen der isolierten Einheiten ‚an sich‘, sondern stets nur im Zusammenhang einerseits längerer Zeichenkette (Sätze und Texte), andererseits außersprachlicher situativer, kontextueller und lebenspraktischer Gegebenheiten.“15 Das ist eine weitere relevante Einsicht der pragmatischen Semantikauffassung. Der unmittelbare sprachliche Kontext und die weitere Kommunikationssituation haben Auswirkungen auf den Sprachgebrauch bzw. die Bedeutung eines Zeichens, die bei der Interpretation berücksichtigt werden müssen. Damit verläuft der Prozess von der Wortsemantik weg und zur Satz- und Textsemantik hin. Auslegung und Interpretation sind damit nicht mehr rein an dem Zeichen selbst aufgrund der systembedingten Verbindung zwischen Ausdrucksseite und Inhaltsseite zu erledigen, sondern sie müssen sich immer auf sprachliche und nicht sprachliche Kontexte beziehen. 12 13 14 15

Vgl. Felder, 2003a, S. 60. Den Terminus „Teilbedeutung“ benutzt Felder nicht in lexikographischer Tradition, sondern im Sinne von Bedeutungsaspekt im Paradigma holistischer Bedeutungstheorien. Siehe auch Abschnitt 2.3. der vorliegenden Arbeit. Vgl. Felder, 2005b, S. 100; Felder, 2003a, S. 222. Felder, 2003a, S. 60. Busse, 1991b, S. 46.

2.2. Alltagssemantik und Fachsemantik

31

Dass man im Rahmen der pragmatischen Semantikauffassung von vielfältigen Verwendungsweisen eines Zeichens ausgeht, heißt bei weitem nicht, dass man das Zeichen beliebig verwenden kann. Die Bedeutungsaktualisierung bewegt sich immer in einem semantischen Spielraum, der zugelassen wird, wobei und wenngleich die Grenze schwer feststellbar ist. In diesem Zusammenhang sei besonders auf Felders Unterscheidung zwischen „lexikalischer Semantik“ einerseits und „Wortsemantik im Äußerungskontext“ andererseits verwiesen: Während „lexikalische Semantik“ meist „eine aus typologisierten Kontexten (= Verwendungssituationen) abstrahierte Bedeutung zu umschreiben“ versucht und sich auf „die langue-Ebene“ bezieht, bezieht „die aktuelle Äußerungsbedeutung eines Wortes in konkreten Verwendungssituationen“ dagegen „sprachliche und außersprachliche Situationsfaktoren so weit wie möglich“ ein und fokussiert damit „die Ebene der parole“.16 Die lexikalische Semantik eröffnet den Spielraum für die Aktualisierung der Wortsemantik im Äußerungskontext. Die pragmatische Semantikauffassung geht von realistischen Beobachtungen sprachlicher Praxis aus und liefert wichtige Erklärungsansätze für Aushandlungen der Bedeutung von Rechtsbegriffen und Normtexten durch juristische Funktionsträger. Die juristischen Funktionsträger als Handlungsakteure sollen in den Vordergrund des Semantisierungsprozesses gerückt werden. Sie spielen eine aktive Rolle bei der Bedeutungsexplikation von Gesetzesbegriffen bzw. -texten. Der veränderte Sprachgebrauch kann zum Bedeutungswandel mancher Schlüsselbegriffe führen. Es ist in Bezug auf die Offenheit sprachlicher Regeln möglich, dass unterschiedliche Rechtsarbeiter bei der Bedeutungsaushandlung andere Aspekte als relevant einstufen und dominant setzen, was zum Rechtsstreit führen mag.

2.2. Alltagssemantik und Fachsemantik Die Unterscheidung zwischen Alltagssemantik und Fachsemantik geht auf die Unterscheidung von Alltagssprache und Fachsprache zurück. Hier wird diese alte Problematik im konstruktivistischen, kognitiven bzw. varietätenlinguistischen Licht erneut diskutiert. Dass hier statt der Gemeinsprache die Alltagssprache als linguistisches Pendant zur Fachsprache genutzt wird, liegt daran, dass in Anlehnung an Steger und Löffler der funktionale Unterschied beider Varietäten hervorgehoben werden sollte.17 16 17

Felder, 2006a, S. 33. Vgl. Steger, 1991, S. 59f; Löffler, 2005, S. 94ff. Die Alltagssprache steht für die Sprachvarietät, die auch als Umgangssprache, Gemeinsprache, Standardsprache bezeichnet wird. In der vorliegenden Arbeit wird keine feine Unterscheidung vorgenommen.

32

2. Semantische und pragmatische Voraussetzungen

2.2.1. Konstruktivistische, kognitive und varietätenlinguistische Sichtweise Wenn von der Konstitution der Welt und des Wissens in Sprache die Rede ist, sind zunächst ganz große Namen wie Humboldt, Sapir, Whorf usw. zu nennen: „Der Mensch lebt auch hauptsächlich mit den Gegenständen, so wie sie ihm die Sprache zuführt, und da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängt, sogar ausschließlich so.“18 Damit schreibt Humboldt der Sprache eine schöpferische Rolle im Erkenntnisprozess des Menschen zu. Der Gegenstand wird erst durch sprachliche Formung so zum Erkenntnisobjekt gemacht, wie die Sprache ihn dem Menschen zuführt. Whorf weist darauf hin, dass „Menschen, die Sprachen mit sehr verschiedenen Grammatiken benutzen, durch diese Grammatiken zu typisch verschiedenen Beobachtungen und verschiedenen Bewertungen äußerlich ähnlicher Beobachtungen geführt werden.“19 Indem er von „Beobachtungen“ redet, rückt er wie Humboldt statt der ontischen außersprachlichen Welt die intersubjektiv bedingten Ansichten der Welt für die menschliche Erkenntnis in den Vordergrund. Auch in moderneren Schriften gibt es zahlreiche Diskussionen über die sprachliche Konstitution der Welt. Berger und Luckmann haben das Konzept „die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ geprägt. „Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint bereits objektiviert, das heißt konstituiert durch eine Anordnung der Objekte, die schon zu Objekten deklariert worden waren, […]. Die Sprache, die im alltäglichen Leben gebraucht wird, versorgt mich unaufhörlich mit den notwendigen Objektivationen und setzt mir die Ordnung, in welcher diese Objektivationen Sinn haben und in der die Alltagswelt mir sinnhaft erscheint.“20 Nach Berger und Luckmann wird die Alltagswelt für die menschliche Erkenntnis bereitgestellt, indem sie zu Objekten deklariert und in einer bestimmten Ordnung angeordnet wird. Die Sprache ist ein Medium, in dem sich die Objektivationen bilden und transferieren. Das Wort „deklarieren“ deutet an, dass es nicht um natürliche, sondern um einzelgesellschaftlich-subjektiv bedingte Kategorisierungen geht, die dann als Tatsache in die Welt projiziert werden. Felder hat ein Forschungsnetz „Sprache und Wissen“ gegründet, um die Wissenskonstitution in Sprache zu erforschen. Ihm zufolge ist die Sprache, in der das Wissen über die Welt ausgedrückt wird, kein neutrales Medium, das die sprachlich zu objektivierenden Gegenstände und Sachverhalte unver-

18 Zit. n. von Kutschera, 1975, S. 291f. 19 Whorf, 1963, S. 20. 20 Berger/Luckmann, 1966/1980, S. 24.

2.2. Alltagssemantik und Fachsemantik

33

ändert in das Bewusstsein der Menschen projiziert, sondern die gesamtgesellschaftlichen Wissensbestände werden durch die eingesetzten sprachlichen Mittel mitgeformt.21 Auch Köller verweist in seinem Konzept der Perspektivität darauf hin, dass jede Objektivation – sei es in Bildern, sei es in Sprachen – immer einer bestimmten Perspektivierung unterliegt.22 Diesen Schriften kann entnommen werden, dass die Sprache in engem Zusammenhang mit der kognitiven Kategorisierung bzw. Wahrnehmung von Menschen steht. Die außersprachliche Welt steht allerdings nicht einfach da – ausgestattet mit fertigen Kategorien, die sich unmittelbar zur Übernahme eignen. Vielmehr liefert die Welt nur ungeordnete Phänomene, Eindrücke, Exemplare usw., die erst durch geistige Verarbeitung und Kategorisierung zu einer begreifbaren Ordnung geformt werden. Die Sprache liefert mit ihren immanenten Kategorien (mit Begriffssystemen, Aspektprioritäten und grammatischen Beschreibungsschemata) die typische Art und Weise, wie die außersprachliche Wirklichkeit zu kategorisieren und zu interpretieren ist. Das dadurch entstandene kollektive Wissen wird in Sprache dokumentiert und mittels Sprache transferiert. Wie die außersprachliche Wirklichkeit sprachlich modelliert wird, hängt mit dem Erkenntnisinteresse und Erkenntnisvermögen der erkennenden Subjekte zusammen, wobei gruppenspezifische Unterschiede festgestellt werden können. Es kann um Unterschiede verschiedener Kulturen gehen, aber auch – in Anlehnung an varietätenlinguistische Ansätze – um Unterschiede verschiedener Sprachvarietäten. Fachsprachen sind funktionale Varietäten, die sich im Konzept von Steger und Löffler von der Alltagssprache und anderen Funktionsvarianten unterscheiden.23 Alltagssprache und Fachsprachen dienen verschiedenen Kommunikationszwecken und kommen aufgrund anders gelagerter Relevanzfokussierung bezüglich entsprechender Wissensbestände unterschiedlichem Bedarf an Genauigkeit entgegen.24 Die Alltagssprache mit ihrer Semantik ist für die lebenspraktische Kommunikation im Alltag gedacht. In der Alltagssprache wird hauptsächlich zu diesem Zweck relevantes Alltagswissen gebildet. Demgegenüber stellen Fachsprachen mit ihrer fachspezifischen Wirklichkeitsmodellierung eher auf die Kommunikation zwischen Fachleuten ab. Da wird die außersprachliche Welt, welche auch die Alltagssprache als Gegenstand hat, je nach dem spezifischen Erkenntnisinteresse und Erkenntnisvermögen verschiedener Fächer und entsprechender Experten anders klassifiziert und 21 22 23 24

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Felder, 2009a, S. 11. Köller, 1993, 2004. Ausführlicher siehe Abschnitt 4.2. der vorliegenden Arbeit. Steger, 1988, S. 296ff; Steger, 1990, S. 46ff; Löffler, 2005, S. 94ff. Steger, 1991, S. 87ff.

34

2. Semantische und pragmatische Voraussetzungen

gewertet. Bei der Erschließung neuer Gegenstandsbereiche und bei der Bewertung neuer Aspekte bzw. Dimensionen der auch in der Alltagssprache existierenden Gegenstandsbereiche wird eine fachlich relevante Kategorisierung bzw. Semantik geprägt, um der fachlichen Erkenntnisrelevanz gerecht zu werden. Dabei schafft man sich entweder neue Begriffe oder übernimmt aus der Alltagssprache Ausdrücke und schreibt diesen fachspezifische Bedeutungen zu, damit fachliche Erkenntnisse bzw. Wissensbestände sprachlich adäquat – zum Austausch oder zur Weitergabe – dokumentiert werden und damit sich Fachleute mit diesen Begriffen ökonomisch und effizient verständigen können. Wie Steger behauptet, werden verschiedene fachliche Semantiken ausgebildet, weil „durch die intelligente Absonderung des Menschen von anderen Lebewesen, das […] Motiv der Erkundung (in Verbindung mit anderen Motiven, z.B. dem von Leistung), menschlich zweckrational weiterentwickelt, in den Dienst naturwissenschaftlich-analysierender oder philosophisch-sinnsuchender Welterkenntnis gestellt wurde und dazu wissenschaftliche Begriffssysteme und wissenschaftliche Semantik brauchte.“25 Was die Genauigkeit und Differenziertheit angeht, folgen beide Sprachvarietäten dem Prinzip der ausreichenden Genauigkeit, ausreichend in dem Sinne, dass die jeweilige Kommunikationsfunktion ausreichend bewältigt wird. Ähnliche Gedanken findet man auch bei Wittgenstein. Ihm zufolge sei „unexakt“ ein Tadel und „exakt“ ein Lob in dem Sinne, dass das Unexakte nicht so vollkommen wie das Exakte sein Ziel erreiche.26 In diesem Zusammenhang muss noch auf die Hypothese der sprachlichen Arbeitsaufteilung von Putnam hingewiesen werden, die in Ergänzung zu den angeführten konstruktivistischen, kognitiven und varietätenlinguistischen Ansätzen weiterführende Erklärungshilfen für unterschiedliche Semantiken der Alltagssprache und der Fachsprache anbietet. Demzufolge gibt es Unterschiede zwischen einfachen Sprechern und Experten bei ihrer sprachlichen Kategorienbildung, was auf die unterschiedliche soziale Arbeitsaufteilung zurückzuführen ist. Normale Sprecher kategorisieren aufgrund dessen, was Putnam „Stereotyp“ nennt. Stereotypen sind sozial fundierte Einheiten, die konventionell verankerte Meinungen darüber beinhalten, wie ein bestimmtes Objekt beschaffen ist.27 Insofern beeinflusst das alltägliche Wissen, das normale Sprecher aufgrund sozialer Interaktion und persönlicher Erfahrung erworben haben, den Sprachgebrauch und die Semantik der Alltagssprache. Demgegenüber orientieren sich Fachexperten bei ihrer kognitiven bzw. sprachlich etablierten Kategorisierung eher an den im Fachstudium

25 Steger, 1988, S. 299. 26 Vgl. Schmidt, 1972, S. 395. 27 Vgl. Putnam, 1975, S. 249ff.

2.2. Alltagssemantik und Fachsemantik

35

erlernten exakten Kategorisierungskriterien und Definitionen. Manchmal treffen der alltägliche Begriff und der fachsprachliche Begriff in der Wortform zusammen, aber das heißt bei weitem nicht, dass normale Sprecher und Fachexperten bei derselben Wortform dieselbe Kategorisierung voraussetzen oder befolgen, so dass beide Begriffe in gleichem Maße differenziert definiert sind. Einfache Sprecher verfügen normalerweise nicht über ein so detailliertes Wissen und über Kategorisierungskriterien mit logisch klaren Grenzen. Hier ist wiederum auf das bereits angeführte Prinzip der ausreichenden Genauigkeit zu verweisen. 2.2.2. Rechtssprache und juristische Semantik Die vorliegende Arbeit sieht es nicht als ihre Aufgabe, die Rechtssprache hinsichtlich ihrer Besonderheiten in semantischer, grammatischer, pragmatischer Hinsicht usw. zu skizzieren. Dennoch müssen hier einige Vormerkungen hinsichtlich der Rechtssprache, die für die vorliegende Untersuchung von Relevanz sind, aufgeführt werden. Die Rechtssprache ist eine funktionale Varietät, die auf die Rechtskommunikation zugeschnitten ist. Die außersprachliche Wirklichkeit, die nicht nach ontischen Strukturen gegliedert ist, wird durch sprachliche Mittel in juristische Kategorien und Relationen einbezogen und zu juristisch relevanten Gebilden modelliert.28 Der Gegenstand des Rechts ist die menschliche Gesellschaft mit den allgemein erfahrbaren Gegebenheiten des menschlichen Daseins.29 Die natürlichen (d.h. außersprachlichen) Sachverhalte und Relationen des menschlichen Daseins werden allerdings nicht als solche in das Recht projiziert, sondern sie bieten nur Rohstoffe an, die eine sprachliche Verarbeitung zu durchlaufen haben und erst dann zu rechtlicher Ordnung gelangen können. An – manchmal holistisch – zu erfahrenden Sachverhalten und Relationen werden besondere Strukturen herausgearbeitet, denen dann juristische Relevanz beigemessen wird. Aus den natürlichen vorrechtlichen Erkenntnisgegenständen werden rechtlich relevante Erkenntnisobjekte herausgebildet. Die Rechtssprache ist an sich ein sehr komplexes Konstrukt, das wiederum in verschiedene Subgruppen oder Abstraktionsschichten unterteilt werden kann.30

28 Vgl. Jeand’Heur, 1998, S. 1292. 29 Vgl. Oksaar, 1979, S. 101. 30 Damit schließe ich mich der horizontalen und vertikalen Gliederung von Lothar Hoffmann an. In Bezug auf die „Subgruppen“ werden die verschiedenen Rechtsgebiete zugrunde gelegt. Mit „Abstraktionsschichten“ werden die verschiedenen, kommunikativ

36

2. Semantische und pragmatische Voraussetzungen

Bezüglich des Spannungsverhältnisses der Rechtssprache zur Alltagssprache ist die Aufteilung von Busse in zwei Teilbereiche besonders erwähnenswert:31 In dem einen Bereich geht es um „Fachausdrücke im engeren Sinne, bei denen schon die Wortformen im Sprachgebrauch der Gemeinsprache unbekannt sind“, während der andere, bei weitem größere Bereich der Gesetzessprache – aus Gründen der Allgemeinverständlichkeit des Rechts – „durch eine fachliche Überformung von Wortformen gekennzeichnet ist, die zugleich Teil der Gemeinsprache sind und dieser häufig erst entnommen wurden“. Im ersten Bereich erhalten die Fachausdrücke durch Legaldefinitionen rechtsspezifische Bedeutung, während die Semantikproblematik bei den Wortformen im zweiten Bereich viel komplexer ist. Es gibt einerseits Wortformen, denen „die aus der alten lateinischen Fachterminologie übernommenen rechtswissenschaftlichen Bedeutungen“ beigelegt werden. In diesem Fall lassen sich bei derselben Wortform oft große semantische Abweichungen zwischen dem juristischen und alltäglichen Sprachgebrauch feststellen. Es gibt andererseits aber auch Wortformen, die der Gemeinsprache angehören und in Gesetzestexten als Gesetzessprache verwendet werden.32 Wenn es auch in diesem Fall nach der Wortlautgrenze heißt, diese Begriffe seien nach dem allgemeinen Sprachgebrauch auszulegen, bedeutet das bei weitem nicht, dass diese Ausdrücke exakt dieselbe Bedeutung wie die in der Alltagssprache haben, denn es handelt sich dabei immerhin um unterschiedlich motivierte Kategorisierungen und Wirklichkeitsmodellierungen,33 die anders gelagerten Kommunikationszwecken dienen, und auch ihre frühere Verwendungsgeschichte in der Rechtsprechung hat einen gewissen Einfluss auf ihre Semantik.34 Der Normtext, auf den es bei der vorliegenden Untersuchung besonders ankommt, enthält Ausdrücke aus beiden Bereichen. In Bezug auf die Semantik ist beiden Bereichen gemeinsam, dass das Vagheitspotential nicht ganz abzuschaffen ist, selbst wenn durch Legaldefinitionen oder durch die Verwendungsgeschichte der Exaktheitsgrad des rechtlichen Sprachgebrauchs bedingten Abstraktionsstufen bezüglich der verwendeten Sprachformen gemeint. Vgl. Hoffmann, Lothar, 1976, S. 185ff; ằ䮋/䫡᭿⊍, 1991, S. 37ff. 31 Busse, 1991a, S. 161. 32 Busse hat nicht offensichtlich angedeutet, ob er mit Rechtssprache auch diese Wortformen umfasst. Es ist nämlich eine schwierige theoretische Frage, die davon abhängt, wie man Fachsprache definiert. Darauf will die vorliegende Diskussion nicht eingehen. Ich habe diese Gruppe der Wortformen hier aufgeführt, weil solche Begriffe als wichtige Bestandteile die Gesetzessprache bilden und weil besonders bei ihnen sehr häufig – auch in der vorliegenden Untersuchung – Semantisierungsschwierigkeiten bzw. -diskrepanzen entstehen. 33 Vgl. das Modell der sprachlichen Arbeitsaufteilung von Putnam im letzten Abschnitt der vorliegenden Arbeit. 34 Vgl. Jeand’Heur, 1989a, S. 163f; Jeand’Heur, 1998, S. 1294.

2.3. Semantische Kämpfe

37

im Vergleich zur alltäglichen Anwendungsweise erhöht werden kann. Denn es handelt sich dabei immerhin um natürliche Sprache, nicht um künstliche Symbole. Im Anschluss an die praktische Semantik eröffnet sich bei der Bedeutungskonstitution immer ein gewisser Spielraum für erlaubte konkurrierende Möglichkeiten, wobei dieser Spielraum durch Legaldefinitionen oder die juristische Verwendungsgeschichte (Präzedenzfälle) usw. verringert werden kann.35 Die Präzedenzfälle sind insoweit für die juristische Semantik wichtig, als sie historische Sprachgebrauchsexemplare für eine neue Rechtsprechung liefern. Der aus verschiedenen Rechtsprechungen bestehende juristische Diskurs, den ein Begriff erlebt hat, hat Auswirkungen auf seinen Sprachgebrauch und auf seine in der juristischen Praxis zu aktualisierende Bedeutung. Insofern kann man den Rechtsfindungsprozess als einen sich kontinuierlich fortsetzenden Präzisierungs- bzw. Konkretisierungsvorgang der entsprechenden Rechtsbegriffe und Normtexte im möglichen semantischen Raum ansehen, die bereits durch einen erlebten juristischen Fachdiskurs präzisiert worden sind und noch weiter präzisiert werden können (kontinuierliche Disambiguierung). In der vorliegenden Untersuchung wird dieser Vorgang mit der Zielsetzung der besseren Überschaubarkeit hinsichtlich typisierter Handlungsmuster und spezifischer Handlungsstrategien linguistisch beleuchtet.

2.3. Semantische Kämpfe Wegen thematischer Relevanz muss nicht zuletzt noch das Konzept „semantische Kämpfe“ ausgeführt werden. Das Konzept „semantische Kämpfe“ steht in engem Zusammenhang mit der Agonalität von Kommunikation.36 Lyotard hat in seinen philosophischen Werken auf das kämpferische Wesen des Sprechens und auf die Agonistik in Bezug auf Sprechakte hingewiesen37 und hat hervorgehoben, „dass Wissen ein Resultat von agonalen Diskursen ist“38. In der Sprachwissenschaft geht das Konzept „semantische Kämpfe“ ursprünglich auf Studien politischer Sprache und öffentlicher Diskurse zurück. Da werden auch Termini wie „semantische Konflikte“, „Streit um Worte“ mit ähnlichen oder etwas abweichenden Inhalten verwendet.39 In jüngster Zeit wird dieses Konzept von Wissenschaftlern differenziert und in Untersuchun-

Vgl. die Präzisierungsstruktur juristischer Ausdrücke von ᵾ႗, 2005, S. 64ff; Li, 2009, S. 148ff. 36 Zur Agonalität der Kommunikation siehe Lyotard, 1986, 1987. 37 Vgl. Lyotard, 1986, S. 40. 38 Warnke, 2009, S. 114. 39 Vgl. Stötzel, 1990; Wengeler, 2005a. 35

38

2. Semantische und pragmatische Voraussetzungen

gen von Wortgebräuchen in Fachdomänen transferiert. Skizziert wird hier das differenzierte Modell von Felder über semantische Kämpfe, an dem einige relevante Termini und semantische Auffassungen geklärt werden, denen sich die vorliegende Arbeit anschließt. Unter semantischen Kämpfen versteht Felder den Versuch, „in einer Wissensdomäne bestimmte sprachliche Formen als Ausdruck spezifischer, interessengeleiteter Handlungs- und Denkmuster durchzusetzen“40. Es geht also um eine diskursive Etablierung einer bestimmten Hypothese zur gegenseitigen Anpassung von sprachlichen Ausdrucksformen und außersprachlichen Sachverhalten, um Konflikt und Streit um angemessene bzw. angemessenere Versprachlichungsformen. Seinem Konzept zu semantischen Kämpfen legt Felder das von ihm modifizierte Zeichenmodell nach Ogden und Richards zugrunde (Schaubild 4). Begriffe bzw. Konzepte, an denen Attribute identifiziert werden können, die mit den Teilbedeutungen in Texten und Eigenschaften bzw. Aspekten der Sachverhalte korrespondieren

Sprachliche Zeichen in konkreten Texten, an denen Teilbedeutungen expliziert werden können

Konstituierte Objekte & Sachverhalte mit partiellen Eigenschaften bzw. Aspekten

Schaubild 4: Das modifizierte Modell des triadischen Zeichenmodells nach Ogden und Richards von Felder41

Vorausgesetzt wird hier eine holistische Bedeutungsauffassung, die annimmt, dass man zu Analysezwecken mit Teilbedeutungen, Bedeutungsaspekten oder Bedeutungskomponenten als Beschreibungshilfe arbeitet und dass sich Bedeutung zum Teil – aber nicht vollständig – durch Teilbedeutungen, Bedeutung-

40 Felder, 2006a, S. 17; Felder, 2010, S. 19. 41 Felder, 2009b, S. 21.

2.3. Semantische Kämpfe

39

saspekte oder Bedeutungskomponenten explizieren lässt, ohne allerdings die falschen Annahmen der Merkmalssemantik zu übernehmen.42 Die holistische Bedeutungsauffassung distanziert sich insofern von der Merkmalssemantik, als sie nicht die Illusion vertritt, durch Ansammlung einzelner Merkmale die endgültige Bedeutung eines Zeichens ausreichend beschreiben zu können. Im Anschluss an die praktische Semantik wird hier angenommen, dass Bedeutung keine feste Entität ist, die systematisch eindeutig und konstant bleibt, sondern dass sie in Form eines Bedeutungspostulats oder einer interpretativen Hypothese aus dem praktischen sprachlichen Handeln aktualisiert wird.43 Unter „sprachlichen Zeichen in konkreten Texten“ werden nicht nur einzelne sprachliche Ausdrücke gefasst, sondern auch Ausdruckskomplexe, die als Ganzes in Korrelation zu bestimmten Handlungs- bzw. Denkmustern diskursiv durchgesetzt werden. Die Etablierung eines bestimmten Ausdrucks oder Ausdruckskomplexes wird als Benennungsfi xierung bezeichnet.44 Durch die Verwendung unterschiedlicher Ausdrücke oder Ausdruckskomplexe werden andere Aspekte an dem zu bezeichnenden Sachverhalt in den Vordergrund gerückt. Das Prägen eines Begriffs oder Konzepts, an dem bestimmte Attribute identifiziert werden können, wird als Bedeutungsfi xierung bezeichnet.45 An unterschiedlichen und selbst an identischen Ausdrücken können Begriffe bzw. Konzepte mit divergierenden Attributen herausgebildet werden. Im Anschluss an die praktische Semantik spielt der Sprecher beim Prägen von Begriffen und Konzepten eine aktive Rolle. Das Unterfangen, einen Terminus im text- bzw. diskursbasierten Referenzakt auf einen Sachverhalt der Lebenswelt anzuwenden und damit anzupassen, wird als Referenzfi xierung bezeichnet.46 Anschließend an Wimmer wird unter „Referieren“ eine sprachliche Handlung verstanden, in der ein Sprecher mittels eines sprachlichen Ausdrucks bzw. Ausdruckskomplexes auf einen bestimmten Gegenstand Bezug nimmt.47 In Anlehnung an die praktische Semantik ist in diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben, dass es kein natürliches Referenzverhältnis gibt, sondern dass es der Sprecher ist, der die Referenzregel für den referenziellen Gebrauch eines sprachlichen Ausdrucks festlegt und auf deren Basis den Referenzfi xierungsakt realisiert.48 Sprachliche Ausdrücke nehmen nicht von sich aus Bezug auf Sachverhalte der

42 43 44 45 46 47 48

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Felder, 2003a, S. 60. Felder, 2003a, S. 60. Felder, 2006a, S. 36. Felder, 2006a, S. 15. Felder, 2006a, S. 37. Wimmer, 1979, S. 9. Jeand’Heur, 1989a, S. 159–165.

40

2. Semantische und pragmatische Voraussetzungen

Lebenswelt, sondern sprachlich Handelnde nehmen mittels Sprache Bezug auf die außersprachliche Welt und etablieren mit den einzelnen Referenzfixierungsakten für bestimmte Gruppen von Sprachteilhabern Referenzfi xierungskonventionen, die dem zu aktualisierenden Sprachgebrauch zugrunde liegen. Dass in dem obigen Modell statt von Referenzobjekten von konstituierten Objekten bzw. Sachverhalten gesprochen wird, liegt an der Ansicht, betonen zu wollen, dass der Sachverhalt im sprachlichen Referenzfi xierungsakt erst konstituiert wird, wobei unterschiedliche Eigenschaften bzw. Aspekte bei der sprachlichen Sachverhaltskonstitution dominant gesetzt werden mögen. Im Anschluss an das modifizierte Modell nach Ogden und Richards können drei Sichtweisen zur Explizierung der semantischen Kämpfe differenziert werden. Die semantischen Kämpfe können nämlich als Kampf 1) um die angemessene Benennung, 2) um die gültige Bedeutung49 bzw. gültige Bedeutungsaspekte und 3) um referierte bzw. konstituierte Sachverhalte identifiziert werden:50 – Der Kampf um die angemessene Benennung: Die Diskursteilnehmer setzen unterschiedliche Aspekte dominant, indem sie andere Ausdrücke bzw. Ausdruckskomplexe zur Benennung eines Sachverhalts diskursiv durchzusetzen versuchen.51 Die verschiedenen Ausdrücke konkurrieren als Versprachlichungsformen, die auf unterschiedliche Interessen und Zwecke abstellen. Mit der Benennung wird gleichzeitig eine Klassifizierung realisiert. Einer Benennung ist oft eine Bewertung immanent. – Der Kampf um die gültige Bedeutung bzw. gültige Bedeutungsaspekte: Die Diskursteilnehmer können auch an demselben Ausdruck und Ausdruckskomplex Konzepte bzw. Begriffe mit divergierenden Akzentuierungen herausarbeiten und versuchen diejenigen Bedeutungsaspekte, die dem eigenen Interesse entsprechen, diskursiv gegenüber anderen zu etablieren. – Der Kampf um referierte bzw. konstituierte Sachverhalte: Der Sachverhalt, auf den Bezug genommen wird, kann unterschiedlich konstruiert werden, indem die Diskursteilnehmer durch verschiedene benennungsorientierte bzw. konzeptuelle Akzentuierungen unterschiedliche Eigenschaften relevant setzen. Die Benennungs-, Bedeutungs- und Referenzfi xierung, an denen sich die semantischen Kämpfe konkret beschreiben und umschreiben lassen, liefern 49

Den Terminus „Bedeutung“ benutzt Felder in diesem Zusammenhang für das Konzept, das an ein sprachliches Zeichen geknüpft wird, nicht aber in einem erweiterten und philosophischen Sinne. 50 Vgl. Felder, 2006a, S. 36f. 51 Bei der unterschiedlichen Benennung wird der Sachverhalt eigentlich auch unterschiedlich konstituiert.

2.4. Resümee

41

plausible Erklärungsansätze und handhabbare Beschreibungssichtweisen für die Explizierung des Rechtsstreits in juristischen Fachdiskursen. Es muss besonders unterstrichen werden, dass die gegenseitige Anpassung zwischen sprachlichen Ausdrücken, mentalen Konzepten und außersprachlichen Referenzobjekten kein natürliches Verhältnis ist, sondern von den Sprechern gesetzt wird. Das heißt aber nicht, dass sie diese willkürlich gestalten können. Die getätigten Benennungs-, Bedeutungs- und Referenzfi xierungsakte haben als konventionelle Basis Auswirkungen auf neuere Fixierungsversuche. Aus den Präzedenzfällen gewinnt man Handlungsmuster, gemäß denen man die bisherigen Benennungs-, Bedeutungs- und Referenzfi xierungen fortsetzen, modifizieren oder durch neue ersetzen kann.52

2.4. Resümee In diesem Kapitel wurden wichtige semantische und pragmatische Ansätze vorgestellt, mit deren Hilfe das Rechtsfindungsverfahren realistisch und adäquat aufgefasst und angesichts des Rechtsstreits beleuchtet werden kann. Die pragmatische Semantikauffassung schließt sich dem Bedeutungsbegriff des späten Wittgenstein an und geht davon aus, dass die Diskussion über Bedeutung immer in kommunikative Handlungszusammenhänge eingebettet werden sollte. Sie setzt nicht voraus, dass es eine einheitliche Bedeutung eines Zeichens in einer Sprache gibt, sondern sie legt die Vielfalt sprachkommunikativer Verwendungsmöglichkeiten eines Wortes in unterschiedlichen Kontexten zugrunde. Dementsprechend muss die zentrale Rolle des Sprechers im Rahmen der Bedeutungsaktualisierung und der Referenzfi xierung wahrgenommen werden. Dies darf aber nicht zu der irrigen Annahme führen, dass der Sprecher sprachliche Zeichen beliebig verwenden kann. Die Bedeutungsaktualisierung bewegt sich immer in einem semantischen Spielraum, der aufgrund vorhandener sprachlicher Regeln zugelassen ist. In der vorliegenden Arbeit werden konstruktivistische, kognitive und varietätenlinguistische Gesichtspunkte in Bezug auf die Wechselbeziehung zwischen Alltagssemantik und Fachsemantik dominant gesetzt. Alltagssprache und Fachsprache sind unterschiedliche funktionale Varietäten, die auf unterschiedliche Kommunikationszwecke abstellen. Ihnen liegen divergierende, kommunikativ bedingte, konstruktivistische Kategorisierungen zugrunde, so dass mögliche Unterschiede hinsichtlich der Präzisionsstufe auftreten. Dies gilt auch für die Wechselbeziehung zwischen Alltagssprache und Rechtssprache. Die Rechtssprache basiert auf der juristischen Kategorisierung der Welt.

52

Vgl. Jeand’Heur, 1989a, S. 163f; Felder, 2010, S. 21f.

42

2. Semantische und pragmatische Voraussetzungen

Im Vergleich zur Alltagssprache ist die Rechtssprache eine vielfach normierte Sprache. Rechtsbegriffe sind durch Legaldefinitionen oder durch weiterführende Prägungen im Fachdiskurs in einem hohen Maße präzisiert. Dennoch ist das Vagheitspotential nicht absolut abzuschaffen. Insofern kann man den Rechtsfindungsprozess als einen diskursbasierten, sich kontinuierlich fortsetzenden Präzisierungs- bzw. Konkretisierungsvorgang von Rechtsbegriffen und Normtexten im möglichen semantischen Raum ansehen. Unter der Konzeption der semantischen Kämpfe wird der Versuch der diskursiven Etablierung einer bestimmten Hypothese zur gegenseitigen Anpassung von sprachlichen Ausdrucksformen und außersprachlichen Sachverhalten verstanden. Im Anschluss an das Zeichenmodell von Ogden und Richards werden drei Beschreibungsdimensionen zur Explizierung der semantischen Kämpfe entwickelt: 1) der Kampf um die angemessene Benennung, 2) der Kampf um die gültige Bedeutung bzw. gültige Bedeutungsaspekte und 3) der Kampf um referierte bzw. konstituierte Sachverhalte. Dies kann auch auf die Beleuchtung des Rechtsstreits im Rechtsfindungsverfahren übertragen werden. In dem Rechtsfindungsprozess versuchen Rechtsarbeiter durch aktives sprachliches Handeln die Bedeutung entsprechender Rechtsbegriffe oder Normtexte im möglichen semantischen Spielraum, der aufgrund der Definition oder der Verwendungsgeschichte zugelassen ist, zu aktualisieren und die eigene Hypothese zur gegenseitigen Anpassung von Normtexten als sprachlichen Ausdrucksformen und Rechtsfällen als außersprachlichen Sachverhalten gegenüber möglichen Alternativen diskursiv zu etablieren. Dabei können die abweichenden Auseinandersetzungen der Rechtsarbeiter mittels der Sichtweise der Benennungsfi xierung, der Bedeutungsfi xierung und der Referenzfi xierung näher dargelegt werden.

3. Rechtslinguistische Ansätze Nachdem die einschlägigen semantischen und pragmatischen Voraussetzungen geklärt worden sind, widmet sich dieses Kapitel den relevanten rechtslinguistischen Ansätzen. Zunächst wird das Konzept der Strukturierenden Rechtslehre, das der vorliegenden Untersuchung als theoretische Basis zugrunde liegt, skizziert. Darauf folgt die Beleuchtung der juristischen Textarbeit anhand von typologisierten Sprachhandlungstypen, denen sich die vorliegende Textanalyse methodisch unmittelbar anschließt.

3.1. Strukturierende Rechtslehre – das Grundkonzept Die Strukturierende Rechtslehre ist keine abgeschlossene Theorie, die von den Rechtstheoretikern aus philosophischen Begriffen konzipiert wurde, sondern sie ergibt sich aus der Analyse juristischer Arbeitspraxis und versucht, die reale Arbeit juristischer Funktionsträger an und mit Texten adäquat in theoretischen Modellen zu erfassen und auf dieser Basis plausible und leistungsfähige Erklärungsansätze für die juristische Praxis anzubieten. 3.1.1. Norm und Normtext Die Strukturierende Rechtslehre sollte mit ihrem Gedankengebäude dem in der herkömmlichen Rechtsphilosophie und Methodenlehre verbreiteten Rechtspositivismus entgegenwirken. Der Rechtspositivismus lässt sich vor allem durch drei häufig verwendete Metaphern charakterisieren: die BehälterMetapher, die Brücken-Metapher und die Mund-Metapher.1 In rechtspositivistischen Konzepten wird der Normtext oft mit einem Behälter verglichen. Dementsprechend enthält er eindeutige, vorgegebene und objektive Bedeutung, welche die hinter dem Text stehende und ohne weiteres auf den Fall anzuwendende Rechtsnorm darstellt. Die Arbeit juristischer Funktionsträger besteht lediglich darin, die in dem Normtext enthaltene, von der Sprache objektiv vorgegebene Bedeutung zu erkennen. Die juristische Textarbeit wird also auf einen einzigen Erkenntnisvorgang eingeschränkt.

1

Vgl. Müller/Christensen, 1997, S. 72–76.

44

3. Rechtslinguistische Ansätze

Diese systembedingte, von konkreten, traditionell aufzufassenden Auslegungsarbeiten objektivierbare Bedeutung wirkt als Brücke zwischen Normtext und repräsentierter Rechtsnorm, zwischen der Geltung des Gesetzes und der Rechtfertigung des juristischen Handelns.2 Da die Bedeutung und die Rechtsnorm bereits vorgegeben sind, fungiert der Richter, der gemäß der Rechtsnorm entscheiden sollte, nicht als wirklich handelndes Subjekt, sondern nur als Mund des von sich sprechenden Gesetzes. Diese drei Metaphern lassen sich oft mit der ebenfalls gängigen Container-Metapher kombinieren. Demnach packt der Gesetzgeber seinen Willen in Form der Bedeutung in den Wortlaut des Gesetzes hinein, und der Rechtsarbeiter (z.B. der Richter) packt dieselbe Bedeutung bzw. denselben Willen unverändert aus dem Wortlaut des Gesetzes heraus. Solche rechtspositivistischen Gedanken sind unter Juristen verbreitet, weil sie ideal auf die Legitimations- und Rechtssicherheitsbedürfnisse der Entscheidungstätigkeit der Rechtsarbeiter zugeschnitten sind. Man sucht also in der Sprache und in den Texten die Garantie für die Rechtfertigung eigener Entscheidung und die gewünschte Rechtssicherheit, wobei die eigentliche Komplexität der natürlichen Sprache und des tatsächlichen Sprachspiels in der Rechtskommunikation unzulässig vereinfacht wird. Mit diesem Status der Leistungsfähigkeit sind Rechtssprache und Rechtstexte offensichtlich überfordert. Das größte Problem der rechtspositivistischen Gedanken, das sich linguistisch, vor allem im Rahmen der praktischen Semantik nicht bewährt, liegt darin, dass sie zwei nicht identische Begriffe, nämlich „Norm“ und „Normtext“, verwechselt haben. Die Unterscheidung zwischen Norm und Normtext, welche die Strukturierende Rechtslehre ausdrücklich unterstrichen hat, hat eine textlinguistische Parallele, nämlich die Gegenüberstellung von Text und Textformular. Während unter Textformular „die pure Zeichenausdruckskette“ verstanden wird, verweist Text auf „das sinngefüllte, vollständige Verstehens- oder Interpretationsergebnis“.3 Christensen und Sokolowski unterscheiden in diesem Sinne auch zwischen „Wortsinn“ und „Wortlaut“.4 Mit diesen Unterscheidungen wird die Diskrepanz zwischen dem, was im Normtext als Zeichenkette steht, und dem, was ein Rezipient aus dem Normtext als Verstehens- bzw. Interpretationsergebnis macht, erhellt. Darüber hinaus muss auch noch die Diskrepanz zwischen dem, was ein Textautor (z.B. der Gesetzgeber) gemeint hat, und dem, was ein Rezipient (z.B. der Richter) daraus machen könnte, berücksichtigt werden.

2 3 4

Vgl. Müller/Christensen, 1997, S. 72. Felder, 2003a, S. 32. Vgl. Christensen/Sokolowski, 2005, S. 89.

3.1. Strukturierende Rechtslehre – das Grundkonzept

45

Der Normtext liefert für die juristische Textarbeit nur Zeichenketten, die von den juristischen Funktionsträgern auf ihre Bedeutung untersucht werden müssen, nicht schon gleich die fertige Rechtsnorm, die auf den zu entscheidenden Fall unmittelbar angewandt werden kann. Im Anschluss an die praktische Semantik arbeiten die juristischen Funktionsträger als handelnde Subjekte an den Normtexten. Erst durch ihre Semantisierungs- bzw. Konkretisierungsarbeit wird die Rechtsnorm erzeugt. Die Rechtsnorm ergibt sich also nicht aus einem einfachen und einmaligen Erkenntnisvorgang, sondern aus komplexerer und fortlaufender Arbeit an den Rechtstexten und an dem zu entscheidenden Fall.5 In diesem Zusammenhang ist besonders auf zwei Anmerkungen von Müller hinzuweisen. Einerseits betont Müller, dass der Normtext als Textformular die Textbedeutung nicht vorgeben kann und die vom Gesetzgeber geschaffene Zeichenkette eigentlich ein Durchzugsgebiet für konkurrierende Interpretationen festlegt. Damit unterstellt Müller keine natürliche bzw. eindeutige Verbindung zwischen Normtext als Textformular und erzeugter Rechtsnorm als Textbedeutung, sondern spricht von konkurrierenden Interpretationsmöglichkeiten. „In diesem Rahmen gibt es keine notwendige Verknüpfung zwischen Normtext und vom Rechtsarbeiter hergestellter Rechtsnorm, zwischen Textformular und Text, sondern nur im Rahmen einer gegebenen Argumentationskultur miteinander vergleichbare Plausibilitäten.“6 Dadurch wird der Rechtsstreit – der Kampf um das Recht – als wesentliches Charakteristikum der juristischen semantischen Praxis bestätigt. Hinsichtlich dieses Kampfs geht es nicht darum, welche Interpretation aus der festgelegten sprachlichen Verknüpfung als die einzige richtige Lösung gilt, sondern es kommt eher darauf an, welche Interpretation sich aus dem Argumentationsprozess als die plausiblere herausstellt. Andererseits verweist Müller, obwohl er die Diskrepanz zwischen Normtext und Rechtsnorm pointiert, doch auch darauf, dass die Konkretisierungsarbeit, also die juristische semantische Praxis, immerhin von den Normtexten

5

6

Dass hier die Formulierung „Rechtstexte“ statt „Normtexte“ verwendet wird, liegt daran, dass auch andere rechtlich relevante Texte in den Konkretisierungsprozess eingeführt werden können. „Konkretisierung“ ist ein spezifischer Terminus im Rahmen der Strukturierenden Rechtslehre und steht für die komplexe Arbeit juristischer Funktionsträger, durch welche die Rechtsnorm aufgrund des entsprechenden Normtextes und in Bezug auf den zu lösenden Fall erzeugt wird. Andere Bezeichnungen, die im Konzept der Strukturierenden Rechtslehre dafür verwendet werden, umfassen „erzeugen“, „herstellen“, „semantisieren“, „strukturieren“ usw. Wie diese Konkretisierungsarbeit abläuft, wird in Abschnitt 3.2.1. der vorliegenden Arbeit dargestellt. In diesem Abschnitt wird nur die Unterscheidung zwischen Norm und Normtext akzentuiert. Müller/Christensen, 1997, S. 74.

46

3. Rechtslinguistische Ansätze

auszugehen hat und von diesen begrenzt wird. In diesem Zusammenhang hat Müller die Verknüpfung zwischen Gesetzgeber und Richter wie folgt problematisiert:7 „Die Verknüpfung zwischen Gesetzgeber und Richter darf dabei weder zu stark noch zu schwach gefaßt werden. Zu stark wäre sie gefaßt, wenn man vom Gesetzgeber verlangte, daß er alle künftigen Lesarten und damit die Bedeutung seiner Texte determinieren solle. Diese Forderung des Positivismus scheitert an den sprachlichen Realitäten. Zu schwach gefaßt wäre diese Verknüpfung, wenn die Wahl des Ausgangspunktes für die Rechtsnormsetzung ins freie Belieben des Richters gestellt wäre. Denn der Gesetzgeber kann durch die Vorgabe des Ausgangstextes den schöpferischen Prozeß der Rechtsnormsetzung immerhin ‚irritieren‘.“

Das heißt, dass die strukturelle Bindung an die Normtexte während der juristischen Rechtsnormerzeugungsarbeit nicht wegen der Hervorhebung der aktiven Interpretationsleistung der Rechtsarbeiter ignoriert werden darf, wobei aber die Fiktion der sprachlich vorgegebenen Determination, welche die Container-Metapher und die Behälter-Metapher postuliert haben, stetig aufgegeben werden muss. Die verfassungsrechtlich relevante Gesetzesbindung darf nicht im positivistischen Sinne verstanden werden. „Die Gesetzesbindung kann sich nicht auf die Rechtsnorm als etwas Vorgegebenes beziehen, sondern sie bezieht sich auf die Struktur eines Herstellungsprozesses.“8 3.1.2. Normprogramm und Normbereich Die durch juristische Konkretisierungsarbeit erzeugte Rechtsnorm ergibt sich aus zwei Bestandteilen – einerseits aus den Sprachdaten, die aus den Normtexten und auch anderen rechtlich relevanten Texten erarbeitet werden, und andererseits aus den Realdaten, die aus dem Sachverhaltskomplex des zu entscheidenden Falls herausgearbeitet werden. Im Konzept der Strukturierenden Rechtslehre werden dafür zwei Begriffe geprägt – „Normprogramm“ und „Normbereich“.9 Das Normprogramm ergibt sich aus der Verarbeitung sämtlicher Sprachdaten, zu denen in erster Linie die Normtexte gehören. Aber es gibt auch andere Textsorten, die für die juristische Konkretisierungsarbeit und für die

7 8

9

Müller/Christensen, 1997, S. 75. Christensen, 1988, S. 123. Die Gesetzesbindung ist an sich ein sehr komplexes Thema, das hier nicht ausführlich diskutiert werden kann. Interessierte Leser seien auf Christensen 1988, 1989a; Müller/Christensen, 1997 verwiesen. An dieser Stelle genügt die Einsicht, dass Normtexte, obwohl sie keine vorgegebene Rechtsnorm enthalten, doch als Ausgangstexte juristischer Semantisierungspraxis gesetzt werden müssen. Vgl. Müller, 1994, S. 237ff; Christensen, 1988, S. 124; Müller/Christensen, 2004, S. 217– 228; Müller, 2008, S. 40–42.

3.1. Strukturierende Rechtslehre – das Grundkonzept

47

Bildung des Normprogramms von Relevanz sind. Dazu gehören z.B. Gesetzeskommentare, Gerichtsurteile der Präzedenzfälle oder Gesetzgebungsmaterialien. Und die Verarbeitung dieser Sprachdaten lässt sich nicht einfach durch eine grammatische Interpretation oder eine Auslegung nach gängigen linguistischen Modellen ausschöpfen. Vielmehr geht es hier um einen strukturierten „Umgang mit einer untereinander explizit oder durch die richterliche Textarbeit verflochtenen Textmenge“10, der institutionellen Bedingungen und Handlungsmustern unterliegt. Dabei erfolgt diese Verarbeitung der Sprachdaten immer in reziproker Abstimmung mit den Eigenschaften des zu entscheidenden Sachverhalts. Es ist meistens kein einzelner isolierter Text, der zur Lösung eines Rechtsfalls herangezogen wird, sondern „ein Geflecht von Teiltexten verschiedener Herkunft (aus demselben Gesetz, verschiedenen Gesetzen, anderen Textsorten wie Gerichtsurteilen, Gesetzgebungsmaterialien usw.)“11. Auf dieser Basis wird das Normprogramm, also der sprachliche Bestandteil der Rechtsnorm, gebildet. Der Normbereich bezieht sich auf die für die Entscheidung des Rechtsfalls relevanten Realdaten aus dem Wirklichkeitsbereich. Der Normbereich ist allerdings „nicht mit den sachlichen Einzelheiten des Sachverhalts identisch“12. Er ergibt sich aus der an dem Normprogramm ausgerichteten Ermittlung der Realdaten und ist insofern bereits selektiert und strukturiert. In diesem Zusammenhang wird im Rahmen der Strukturierenden Rechtslehre ein Begriffspendant differenziert – „Sachbereich“ und „Normbereich“. „Sachgehalte dürfen nicht willkürlich, nicht wahllos in den Konkretisierungsvorgang eingehen, sondern nur in normorientierter und verallgemeinerungsfähiger Form.“13 Der Sachbereich stellt „die noch vage Menge aller von der fraglichen Rechtsnorm möglicherweise betroffenen faktischen Gegebenheiten“14 dar, aus welcher der Normbereich in wechselseitiger Anpassung an die fokussierten Normtexte und andere Texte ausgewählt und damit als relevant klassifiziert bzw. bewertet wird. Der Normbereich umfasst also Realdaten, die mit der Bildung der Rechtsnorm in unmittelbarem Zusammenhang stehen und durch juristische Konkretisierungsarbeit aus dem Sachbereich gefiltert bzw. strukturell geordnet werden. Insofern ist der Normbereich nicht mehr ontischer Natur, sondern er wird rechtlich geformt und konstituiert:15

10 11 12 13 14 15

Busse, 1992a, S. 191. Busse, 2007, S. 115. Vgl. auch Busse, 2005, S. 31; Busse, 1994, S. 39. Müller/Christensen, 2004, S. 222. Müller, 1994, S. 238. Müller, 1994, S. 238. Müller/Christensen, 2004, S. 223.

48

3. Rechtslinguistische Ansätze

„Der Normbereich ist nicht eine Summe von Tatsachen, sondern ein als real-möglich formulierter Zusammenhang von Strukturelementen, die in der auswählenden und wertenden Perspektive des Normprogramms aus der sozialen Realität herausgehoben werden und im Regelfall zumindest teilweise rechtlich geformt sind. Wegen seiner auch rechtlichen Formung und wegen seiner Auswahl durch die Perspektive des Normprogramms geht der Normbereich über bloße Faktizität eines Ausschnitts außerrechtlicher Wirklichkeit hinaus.“

Was dabei besonders betont werden muss, ist, dass die Realdaten, die dem Normbereich zugrunde gelegt werden, sobald sie sprachlich gefasst – also versprachlicht – werden, immer dann einer bestimmten sprachlichen Perspektivierung bzw. Zubereitung unterliegen.16 Auch Müller spricht vom Normbereich „in einer sekundär sprachlichen Formulierung“.17 Damit wird deutlich, dass der Normbereich zwar aus der nichtsprachlichen Wirklichkeit stammt und insofern nicht primär sprachlicher Natur ist, dass er aber im Konkretisierungsprozess sprachlich formuliert bzw. strukturiert wird, wobei das Perspektivierungspotential im Versprachlichungsprozess nicht ignoriert werden darf. Im Rahmen der Strukturierenden Rechtslehre setzt sich die Rechtsnorm sowohl aus dem Normprogramm als Sprachbestandteil als auch aus dem Normbereich als Sachbestandteil zusammen. Die herkömmlichen juristischen Ansätze, denen positivistische Gedanken zugrunde liegen, fokussieren für die juristische Arbeitspraxis vor allem die Normtexte als die einzige Quelle für die Rechtsnorm und verkennen dabei allerdings, dass für die Normtextinterpretation auch der Normbereich immer wieder herangezogen werden muss. Im Prozess der Rechtsnormerzeugung müssen die Normtexte (bzw. andere Texte) und der Sachverhalt ständig aneinander angepasst und aufeinander zugeschnitten werden. Beide müssen in strukturierte Beziehungen zueinander gebracht werden. In diesem Zusammenhang sei wieder auf die Konzeption der semantischen Kämpfe verwiesen.18 Die Juristen versuchen also durch komplexe institutionelle Arbeit gerechtfertigte und aktualisierte Referenzbeziehungen zwischen Normtexten und Sachverhalten herzustellen und diese im Rechtsstreit durchzusetzen.

16 17 18

Über sprachliche Perspektivierung und Zubereitung siehe ausführlich Abschnitt 4.2. der vorliegenden Arbeit. Zit. n. Felder, 2003a, S. 40. Im Rahmen der semantischen Kämpfe werden drei konkrete und nachvollziehbare Beschreibungsdimensionen zur Explizierung der Referenzbeziehung zwischen sprachlichen Formen und Sachverhalten in Fachdiskursen herausgearbeitet. Vgl. Felder, 2006a; Felder, 2010. Ausführlich siehe Abschnitt 2.3. der vorliegenden Arbeit.

3.2. Juristische Textarbeit

49

3.2. Juristische Textarbeit Aus der obigen Erläuterung des Grundkonzepts der Strukturierenden Rechtslehre ergibt sich, dass Rechtsarbeiter im Rechtsfindungsverfahren eine durch sprachliches Handeln strukturierte Beziehung zwischen den zugrunde gelegten Normtexten und den zu entscheidenden Sachverhalten herstellen. Zur handhabbaren Explizierung dieses Prozesses werden differenzierte linguistische Modelle entwickelt. 3.2.1. Konkretisierung in fünf Textstufen Für die Arbeitsvorgänge in dem Prozess, in dem die Rechtsarbeiter, ausgehend von den Normtexten und dem zu lösenden Rechtsfall, durch schöpferische Auseinandersetzung mit beiden zur Erzeugung der Rechtsnorm und letztendlich zur Lösung des vorgelegten Rechtsfalls kommen, wird im Rahmen der Strukturierenden Rechtslehre der Begriff „Konkretisierung“ geprägt. Die Konkretisierungsarbeit der juristischen Funktionsträger kann in folgenden Textstufen19 zusammengefasst bzw. expliziert werden:20 1.

2. 3. 4.

5.

6.

Ausgangspunkt ist der vorgelegte bzw. festgesetzte Sachverhalt. Dem Richter liegen als Eingangsdaten seiner Entscheidung (neben den Normtexten) die Fallerzählungen vor. Der Rechtsarbeiter wählt eine – zum Fall passende – Normtexthypothese aus der Gesamtmenge aller Normtexte aus. Als Zwischenergebnis entsteht das Normprogramm (als Sprachbestandteil einer Rechtsnorm) aufgrund der Interpretation der Sprachdaten. Auswahl des Normbereichs (als Sachbestandteil) aus dem Sach- bzw. Fallbereich, das heißt aus den im Fall aktuellen Realdaten. Der Normbereich wird also konstituiert als die Teilmenge der für die Entscheidung als normativ mitwirkenden Tatsachen. Normprogramm und Normbereich bilden zusammen die vom Rechtsarbeiter auf diesem Wege erzeugte, generell formulierte Rechtsnorm als den – die richterliche Entscheidung tragenden – Leitsatz. Der Rechtsarbeiter individualisiert die Rechtsnorm zur Entscheidungsnorm, die im Tenor (Urteilsformel) zum Ausdruck kommt.

Dieser Prozess lässt sich auch mit dem folgenden Schaubild 21 (Schaubild 5) veranschaulichen.

19 Die wichtigen Textstufen werden fettgedruckt. 20 Felder, 2003a, S. 40–41. Die Grundstruktur dieser Textarbeit findet sich bei Müller, 1994, S. 263ff und Müller/Christensen, 2004, S. 250ff. Die zusammenfassende Erläuterung übernehme ich von Felder, 2003a, S. 40–41. 21 Müller/Christensen, 2004, S. 258.

Schaubild 5: Elemente und Hauptphasen der Normkonkretisierung

[

]

50 3. Rechtslinguistische Ansätze

3.2. Juristische Textarbeit

51

Die juristische Konkretisierungsarbeit setzt nicht bei den Normtexten, sondern immer bei dem zu lösenden Rechtsfall an. In einer konkreten Rechtsfindungssituation geht der Rechtsarbeiter immer von dem vorgelegten bzw. festgesetzten Sachverhalt aufgrund der Fallerzählungen aus und sucht anhand der herausgearbeiteten Eigenschaften bzw. Merkmale an dem Sachverhalt nach treffenden Paragraphen aus der Gesamtmenge aller Normtexte. Hier ist die Einsicht besonders wichtig, dass der vorgelegte Sachverhalt nicht mit dem ontischen Geschehnis gleichzusetzen ist. Denn der Sachverhalt, auf den in den Fallerzählungen sprachlich zugegriffen wird und an dem die rechtlich relevanten Eigenschaften herausgearbeitet werden, unterliegt immer einer bestimmten sprachlichen Perspektivierung bzw. juristischen Zubereitung und stellt insofern ein sprachliches Konstrukt juristischer Auseinandersetzung dar. Angesichts des zu lösenden Rechtsfalls sucht der Rechtsarbeiter einschlägige Paragraphen aus. Es ist meistens nicht nur ein einzelner Gesetzesparagraph, sondern es sind mehrere Gesetzesparagraphen, die für die Entscheidung des vorgelegten Rechtsfalls relevant sind und zusammen die Normtexthypothese bilden. Bei der Erarbeitung des Normprogramms mögen neben der ausgewählten Normtexthypothese auch noch andere Textsorten herangezogen werden. Die Interpretation der Sprachdaten, die zur Bildung des Normprogramms führt, muss in einem erweiterten Sinne verstanden werden. Wie das Schaubild zeigt, werden dabei verschiedene Auslegungsaspekte (Systematik des Normtextes, Genetik des Normtextes, Rechtsgeschichte des Normtextes usw.) berücksichtigt, die sich aus Textsorten wie z.B. Gesetzgebungsmaterialien, früheren Rechtsprechungen usw. herausarbeiten lassen. Ausgerichtet an der Normtexthypothese bzw. am Normprogramm wählt der Rechtsarbeiter aus den Realdaten des Sach- bzw. Fallbereichs die Strukturelemente aus, die den Normbereich bilden und zur Erzeugung der Rechtsnorm genutzt werden. Aufgrund des Normprogramms und des Normbereichs erarbeitet der Rechtsarbeiter zunächst „eine allgemeine, den Fall typologisch betreffende Rechtsnorm“, die er dann „gezielt auf den zu entscheidenden Fall hin zuspitzt“ und „zur Entscheidungsnorm individualisiert“.22 Während die Rechtsnorm als allgemeiner Rechtsbefehl, den der Rechtsarbeiter aus dem Normtext in Bezug auf die typologisierte Konstellation des vorliegenden Rechtsfalls konkretisiert hat, angesehen werden kann, stellt die im Tenor genannte Entscheidungsnorm das weiterführende konkretisierte Ergebnis dieser Rechtsnorm dar. Normtext, Normprogramm, Normbereich, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm sind die fünf wichtigen Textstufen der Konkretisierungsarbeit juristischer Funktionsträger im Rahmen der Strukturierenden Rechtslehre.

22 Müller/Christensen, 2004, S. 252.

52

3. Rechtslinguistische Ansätze

Sie sind rechtslinguistische Konstrukte zur Modellierung des Konkretisierungsablaufs. Diese Konkretisierungsarbeit ist im Grunde genommen institutionell strukturiertes Arbeiten an und mit verschiedenen juristisch relevanten Texten. Input und Output dieses Prozesses realisieren sich immer in Form von Texten. Der Rechtsarbeiter geht von Normtexten, von anderen rechtlich relevanten Textsorten der rechtlichen Seite und von zu vertextenden Realdaten der faktischen Seite aus, erzeugt „die das Normprogramm und den Normbereich umschreibenden Texte sowie die Texte von Rechtsnorm (Leitsätze) und Entscheidungsnorm (Tenor)“23. Der Rechtsarbeiter vernetzt also eine Vielzahl verschiedener Texte bzw. Textstücke unter Berücksichtigung institutioneller Arbeitsprinzipien und -verfahren zu einem neuen Entscheidungstext.24 Damit stellt das Arbeiten mit Texten das zentrale Charakteristikum der Rechtskommunikation im Rechtsfindungsverfahren dar. Dabei ist die Einsicht wichtig, dass es der Rechtsarbeiter ist, der als verantwortliches Subjekt durch schöpferische und rationale Auseinandersetzung mit den Rechtstexten und dem vertexteten Sachverhalt den Rechtsfall löst. 3.2.2. Juristische Textarbeit anhand dreier grundlegender Sprachhandlungstypen Für die Entscheidungstätigkeit im Rahmen der juristischen Textarbeit hat Felder drei grundlegende Sprachhandlungstypen aufgestellt, um damit auf die allgemeine Fragestellung der Rechtslinguistik einzugehen, was tatsächlich geschieht, wenn Juristen einen Rechtsfall entscheiden. Vor der Darlegung dieses Modells müssen zuerst ein paar Anmerkungen zu den verwendeten Begriffen angeführt werden. 3.2.2.1. Sprachhandlungsklassen, Sprachhandlungstypen und Sprecherhandlungen Im Anschluss an pragmatische Ansätze wird die Auffassung zugrunde gelegt, dass die Juristen mit ihren Texten sprachlich handeln, d. h. textgestützte Sprachhandlungen vollziehen. Sprachhandlungen, welche die zentrale Größe der Sprechakttheorie darstellen, werden hier zur Orientierungsfigur, anhand deren die juristische Textarbeit und der Rechtsstreit im Rechtsfindungsprozess transparent gemacht werden. Die vorliegende Untersuchung übernimmt die folgende terminologische Differenzierung in Bezug auf Sprachhandlungen von Felder, die er für sein handlungsorientiertes Konzept der juristischen Textarbeit ausgeführt hat (Schaubild 6).

23 Müller/Christensen, 2004, S. 259. 24 Vgl. Busse, 2000b, S. 809.

3.2. Juristische Textarbeit

53

Bezeichnungen

Erläuterungen

Sprachhandlungsklassen oder Oberklassen von Sprachhandlungen

Die aus der Sprechakttheorie bekannten, aber unterschiedlich bezeichneten Klassen wie Repräsentativa/Assertiva, Deklarativa, Expressiva, Direktiva, Kommissiva

Kulturspezifische Sprachhandlungstypen (= Handlungsmuster), die in der deutschen Sprache auf mehrere Weisen ausgedrückt werden können

Sinnverwandte Sprachhandlungen z.B. des Behauptens

Einzelne Sprachhandlungen, die Sprecherhandlungen genannt werden, wenn sie konkret von einer oder mehreren Personen in einem Text vollzogen werden

Mittels Sprachhandlungsverben realisierte oder nur implizierte (mittels indirekter illokutionärer Indikatoren wie Satzform, Verwendung von Modalverben usw.) Sprachbzw. Sprecherhandlungen wie behaupten, unterstellen, eine Behauptung/These aufstellen, feststellen etc. (als Beispiele für den Sprachhandlungstyp des Behauptens)

Schaubild 6: Die Differenzierung zwischen Sprachhandlungsklassen, Sprachhandlungstypen und Sprecherhandlungen25

Unter „Sprachhandlungsklassen“ werden die fünf großen Sprachhandlungsgruppen, die auf die Sprechaktklassifikation von Searle zurückzuführen sind, verstanden: Repräsentativa/Assertiva, Deklarativa, Expressiva, Direktiva und Kommissiva.26 Mit dem Begriff „Sprachhandlungstyp“ wird eine mittlere Abstraktionsebene zwischen den fünf Sprachhandlungsklassen und den einzeln realisierten Sprachhandlungen angesetzt. Unter einem Sprachhandlungstyp werden die einzelnen Sprachhandlungen aufgefasst, die sinnverwandt sind und demselben Handlungsmuster zugeordnet werden können. Als „Sprecherhandlungen“ werden diejenigen einzelnen Sprachhandlungen bezeichnet, die in konkreten Kommunikationssituationen realisiert werden. In diesem Zusammenhang soll noch auf das Phänomen der Polyfunktionalität verwiesen werden. In ein und derselben Äußerung können mehrere Sprachhandlungen vollzogen werden. Im juristischen Diskurs ist das Zu-

25 Felder, 2003a, S. 65; Felder, 2005a, S. 139. 26 Ausführlicher dazu siehe Felder, 2003a, S. 70; Rolf, 1997, S. 29; von Polenz, 1988, S. 204–205. Es gibt im Schrifttum auch andere Klassifizierungsversuche. Von Polenz hat beispielsweise dazu noch eine weitere Gruppe Interrogativa (Fragehandlungen) differenziert. In der vorliegenden Arbeit werden die fünf klassischen Gruppen übernommen.

54

3. Rechtslinguistische Ansätze

sammentreffen von Assertiva und Deklarativa besonders häufig und wichtig. Indem der Rechtsarbeiter (vor allem der Richter wegen der institutionellen Autorität) z.B. darstellt bzw. festsetzt, was der Fall ist, wird der Fall als Tatsache in die Welt gesetzt. Deklarative Sprachhandlungen können in der juristischen Kommunikation implizit realisiert werden. Neben diesen Begriffen ist in vorliegendem Zusammenhang noch ein weiterer Begriff – die „Sprechereinstellung“ – zu erwähnen. Das Konzept der Sprechereinstellung kann auf die Ausdrucksfunktion in Bühlers Modell zurückgeführt werden. Damit sind „Attitüden/Einstellungen des Sprechers/ Verfassers zum propositionalen Gehalt (Aussagegehalt) gemeint, von Gewißheit und Vermutung über Distanzierung und Bewertung bis zu Wollen, Erwarten, Hoffen usw.“27 Von Polenz hat vier Grundtypen der Sprechereinstellungen differenziert: Für-Wahr-Halten, Verneinen, Bewerten, Wollen und Verwandtes, für die er jeweils Beispiele sprachlicher Äußerungsmittel gesammelt und angeführt hat.28 Sprachmittel, an denen Sprechereinstellungen untersucht werden können, umfassen Adverbien, Modalpartikeln, Wortkonnotationen usw. In der vorliegenden Arbeit werden bei der Untersuchung streitiger Sprecherhandlungen durch unterschiedliche sprachliche Zubereitung bzw. Perspektivierung zum Teil auch die Sprechereinstellungen als Orientierungsgröße herangezogen.29 3.2.2.2. Drei grundlegende juristische Sprachhandlungstypen Durch eine empirische Untersuchung entsprechender Gerichtsurteile der Sitzblockadenjudikatur30 hat Felder die einzelnen vollzogenen Sprecherhandlungen in Bezug auf die richterliche Entscheidungstätigkeit zu drei grundlegenden Sprachhandlungstypen zusammengefasst. Anders als die fünf großen Sprachhandlungsklassen, die allgemein für alle Kommunikationszwecke gelten, werden diese drei Sprachhandlungstypen spezifisch für die juristische Entscheidungstätigkeit nachgezeichnet. Sie sind typologische Handlungsmuster, mit denen die juristische Textarbeit, einen Rechtsfall ausgehend von den Normtexten zu entscheiden, abstrahierend modelliert und transparent gemacht werden soll. Diese drei Sprachhandlungstypen umfassen:31

27 Von Polenz, 1988, S. 212. 28 Vgl. von Polenz, 1988, S. 213–222. 29 Sowohl Sprecherhandlungen als auch Sprechereinstellungen lassen sich oft an bestimmten sprachlichen Indikatoren identifizieren. Aber die systematische Zuordnung von Sprecherhandlungen bzw. Sprechereinstellungen und typologisierten sprachlichen Indikatoren bildet hier nicht den Untersuchungsgegenstand. 30 Es ging darum, ob eine Sitzblockade rechtswidrige Gewalt darstellt und somit als strafbare Nötigung dem Nötigungsparagraphen im Strafgesetzbuch zugeordnet werden darf. Vgl. Felder, 2003a. 31 Felder, 2003a, S. 206.

3.2. Juristische Textarbeit

– –



55

Sachverhalt-Festsetzen mit Bezug auf den verhandelten Sachverhalt; Rechtliche Sachverhaltsklassifizierung mit Bezug auf den ausgewählten Normtext auf der Grundlage diverser Normtexthypothesen und der Bildung des Normprogramms und Normbereichs; Entscheiden mit Bezug auf die Rechts- und Entscheidungsnorm, wobei mit der Sprecherhandlung des Entscheidens eine des Argumentierens einhergeht.

Dieses Modell korrespondiert mit den fünf Textstufen im Paradigma der Strukturierenden Rechtslehre, hat sie aber zum praktizierbaren handlungsorientierten und diskursanalytischen Ansatz entwickelt. Beide Modelle versuchen zu veranschaulichen, was die Rechtsarbeiter tatsächlich tun, wenn sie einen Rechtsfall entscheiden. Wie das Modell der fünf Textstufen die Fallerzählungen als Ausgangspunkt nimmt, setzt dieses Modell ebenfalls bei dem Sachverhalt an. Statt der eher neutralen Bezeichnung „Fallerzählung“, die nicht ausdrücklich zwischen Sachverhalt-Feststellen und Sachverhalt-Festsetzen unterscheidet, rückt der Sprachhandlungstyp „Sachverhalt-Festsetzen“ die konstituierende Kraft des sprachlichen Zugriffs auf den rechtlich relevanten Lebensabschnitt in den Vordergrund. Der auszuhandelnde Sachverhalt entstammt zwar dem realen Wirklichkeitsbereich, darf aber nicht mit dem ontischen Geschehnis identifiziert werden, sondern er wird durch rechtliche Zubereitung erst zum Aushandlungsgegenstand konstituiert. Denn diesen „Sachverhalt“, der sich meistens in der zurückliegenden Vergangenheit befindet, sieht man nicht, sondern man hört oder liest sprachliche Texte über diesen „Sachverhalt“. Die sprachliche Fassung ist keine hundertprozentig realitätsgetreue Abbildung der Wirklichkeit, sondern unterliegt immer – dem Handelnden bewusst oder unbewusst, beabsichtigt oder unbeabsichtigt – einer sprachimmanenten Perspektivierung und juristisch motivierten Zubereitung, so dass z.B. manche – vor allem argumentativ relevante – Eigenschaften an dem Sachverhalt herausgebildet werden. Die den Sachverhalt enthaltende Vergangenheit stellt eine unendliche Menge dar, aus der die relevanten Strukturelemente ausgewählt und zu dem auszuhandelnden Sachverhalt korreliert werden. Insofern wird der Sachverhalt nicht festgestellt, sondern durch juristische Textarbeit konstituiert und als solcher festgesetzt. Unter dem Sprachhandlungstyp der rechtlichen Sachverhaltsklassifizierung werden Klassifikationen erfasst, die während des Prozesses der InBeziehung-Setzung des Sachverhalts und der Normtexte der Bildung des Normprogramms und des Normbereichs dienen und zur Herstellung der Rechtsnorm und der Entscheidungsnorm führen sollen. Im Rahmen des dritten Sprachhandlungstyps werden Entscheidungen und die damit verbundenen argumentierenden Sprecherhandlungen gefasst. Vor allem gilt die Untersuchung den verwendeten Argumentationstopoi, und zwar im Zusammenhang mit linguistischen Reflexionen darüber.

56

3. Rechtslinguistische Ansätze

In diesem Rahmen sei nicht zuletzt noch auf die Wirklichkeitsverarbeitung und Wirklichkeitsherstellung von Seibert und die Zubereitungsfunktion von Jeand‘Heur verwiesen. Mit „Wirklichkeitsverarbeitung“ meint Seibert „die normative Stellungnahme zu einer Situation“.32 Und durch die „Wirklichkeitsherstellung“ werden vergangene Fälle mit sprachlichen Mitteln rekonstruiert, die dann als hergestellte Wirklichkeit selbst zum Gegenstand normativer Stellungnahmen werden.33 Mit „Zubereitungsfunktion“ meint Jeand‘Heur, dass Gegenstand juristischer Überlegungen nicht „Lebenswirklichkeit als solche“ ist, sondern „sprachlich gefaßte in eine spezifische Fachterminologie übersetzte Sachverhaltsbeschreibung“, wobei diejenigen Informationen herausgefiltert werden sollen, die für eine juristische Bewertung des jeweiligen Geschehens interessant sind.34 Mit solchen Konzepten versuchen Seibert und Jeand‘Heur eine wichtige Einsicht zum Ausdruck zu bringen. Die juristische Textarbeit besteht nämlich im Wesentlichen darin, die soziale Wirklichkeit in juristische Kategorien aufzunehmen. Das kann sowohl bei der Gesetzgebung und der Prägung juristischer Fachtermini erfolgen35 als auch bei dem Entscheidungsprozess eines zu lösenden Rechtsfalls. Die soziale Wirklichkeit ist nicht als solche schon Gegenstand juristischer Entscheidungstätigkeit, sondern muss durch sprachliche Zubereitung in wechselseitiger Anpassung an juristische Kategorien und Tatbestandsmerkmale aus den Normtexten zum juristisch profilierten Sachverhalt mit akzentuierten Eigenschaften umgestaltet werden. Der juristische Sachverhalt ist kein Abbild der Wirklichkeit, sondern ein festgesetztes Konstrukt. Die vorliegende Untersuchung will das Modell der drei grundlegenden juristischen Sprachhandlungstypen zur Analyse des Rechtsstreits zwischen verschiedenen Parteien während des Rechtsfindungsprozesses anwenden. Aus diesem Forschungsanliegen richtet sich das Erkenntnisinteresse vor allem auf die streitigen Sprecherhandlungen. Das oben erläuterte Modell basiert in erster Linie auf richterlichen Entscheidungstexten. Wegen des um neue Textsorten (Anklageschriften, Revisions- und Berufungsschreiben, Schriftsätze usw.) und neue Akteure (Staatsanwaltschaft, Rechtsanwalt usw.) erweiterten Textkorpus wird das ursprüngliche Modell durch die Ergebnisse der vorliegenden empirischen Untersuchung modifiziert bzw. differenziert.36

32 33 34 35 36

Seibert, 1981, S. 20. Vgl. Seibert, 1981, S. 20. Jeand’Heur, 1998, S. 1292. Vgl. Abschnitt 2.2. der vorliegenden Arbeit. Das erweiterte Modell mit differenzierten Subkategorien wird – aus Verständlichkeitsgründen – nach der Aufführung der ersten Untersuchungsergebnisse dargestellt. Siehe Abschnitt 6.4. der vorliegenden Arbeit.

3.3. Resümee

57

3.3. Resümee In diesem Kapitel werden die Grundgedanken der Strukturierenden Rechtslehre und die sich daran anschließende Konzeption der juristischen Textarbeit ausgeführt. In Übereinstimmung mit der pragmatischen Semantikauffassung differenziert die Strukturierende Rechtslehre zwischen Norm und Normtext. Der Normtext bietet für Auslegungsarbeiten und Entscheidungstätigkeiten nur Zeichenketten an, die von juristischen Funktionsträgern im Rechtsfindungsprozess auf deren Bedeutung untersucht werden müssen, nicht die fertige, unmittelbar auf den anstehenden Rechtsfall anwendbare Rechtsnorm. Die Rechtsnorm ergibt sich aus einem komplexen Erzeugungs- bzw. Konkretisierungsvorgang. Dabei müssen einerseits die Normtexte und auch andere Rechtstexte (Kommentare, Gesetzgebungsmaterialien usw.) und andererseits der zu entscheidende Sachverhalt aufeinander bezogen und in eine strukturierte Beziehung gesetzt werden. Daraus entwickelt sich das andere rechtslinguistische Begriffspaar – Normprogramm und Normbereich. Das Normprogramm ergibt sich aus der Verarbeitung sämtlicher Sprachdaten, zu denen in erster Linie Normtexte, aber auch Gesetzeskommentare, Gerichtsurteile der Präzedenzfälle oder Gesetzgebungsmaterialien usw. gehören. Der Normbereich bezieht sich auf die für die Entscheidung des Rechtsfalls relevanten Realdaten aus dem Wirklichkeitsbereich, die in wechselseitiger Abstimmung auf das Normprogramm aus dem Wirklichkeitsbereich ausgewählt und miteinander korreliert werden. Hierbei muss einerseits betont werden, dass es keine natürliche und eindeutige Verbindung zwischen Normtext und Norm gibt; andererseits muss aber unterstrichen werden, dass die Erzeugung der Rechtsnorm immerhin an die Normtexte gebunden ist und von diesen begrenzt wird. Die Verknüpfung zwischen Norm und Normtext darf also weder zu stark noch zu schwach gefasst werden. Zur adäquaten Modellierung dieses Prozesses, wie Rechtsarbeiter ausgehend von den Normtexten und dem zu lösenden Rechtsfall durch schöpferische Auseinandersetzung mit beiden zur Erzeugung der Rechtsnorm und letztendlich zur Lösung des vorgelegten Rechtsfalls gelangen, wird das Konzept der Konkretisierung in fünf Textstufen geprägt. Die fünf Textstufen umfassen: Normtexthypothese, Normprogramm, Normbereich, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm. Aufgrund der wesentlichen Merkmale an dem zu entscheidenden Rechtsfall wird eine zu diesem passende Normtexthypothese aus der Gesamtmenge aller Normtexte ausgewählt. Durch die Bildung und das Aufeinander-Abstimmen des Normprogramms und des Normbereichs wird die eher generell formulierte Rechtsnorm erzeugt. Diese wird dann weiter zur Entscheidungsnorm für den anstehenden Rechtsfall konkretisiert. Auf dieser Basis wird das Modell der drei grundlegenden juristischen Sprach-

58

3. Rechtslinguistische Ansätze

handlungstypen zur Abstrahierung der vollzogenen Sprachhandlungen der Rechtsarbeiter in diesem Konkretisierungsprozess entwickelt. Die einzelnen realisierten Sprecherhandlungen werden nämlich zu drei größeren Sprachhandlungstypen zusammengefasst. Diese umfassen das Sachverhalt-Festsetzen, die rechtliche Sachverhaltsklassifizierung und das Entscheiden. Die Strukturierende Rechtslehre geht von einer realistischen Beobachtung der juristischen Praxis aus und qualifiziert das Rechtsfindungsverfahren als einen schöpferischen Prozess der Rechtsarbeiter mit Normtexten und Sachverhalten. Das darauf basierende Modell der drei grundlegenden juristischen Sprachhandlungstypen bietet für die vorliegende empirische Untersuchung einen leistungsfähigen Beschreibungsansatz an, mit dessen Hilfe der Rechtsstreit systematisch analysiert und dargelegt werden kann. Dieser Ansatz wird selber auch durch die empirische Untersuchung eine Erweiterung um differenzierte Kategorien erfahren.

59

4. Text- und diskurslinguistische Ansätze Aus den dargestellten rechtslinguistischen Ansätzen ergibt sich, dass die juristische Tätigkeit als institutionalisierter Umgang mit verschiedenen Texten charakterisiert werden kann und dass die Rechtskommunikation eine textgestützte Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Parteien darstellt. Da die vorliegende Untersuchung gerade diese juristische Textarbeit in einem exemplarischen Rechtsdiskurs zum Untersuchungsgegenstand macht und eine diskursbasierte Textanalyse vornehmen möchte, werden in diesem Kapitel entsprechende text- und diskurslinguistische Ansätze ausgeführt. Zunächst werden relevante begriffliche und methodische Grundgedanken bezüglich des Textes und des Diskurses vorgestellt. Darauf folgen die Typologisierung juristischer Textsorten und die Diskussion des vorliegenden Textkorpus auf der Grundlage dieser Texttypologie. Im Anschluss daran wird die Konzeption der sprachlichen Perspektivität vorgestellt, die als wichtige Orientierungsdimension bei der diskursbasierten Textanalyse zur Beschreibung streitiger Sprecherhandlungen zwischen verschiedenen Rechtsarbeitern genutzt werden sollte. Zuletzt wird aufgrund der vorher dargelegten Ansätze ein differenziertes analytisches Modell mit konkretisierten grammatischen Kategorien relevanter Perspektivierungsmittel auf verschiedenen Untersuchungsebenen zusammengestellt.

4.1. Text und Diskurs 4.1.1. Begriffliche und methodische Grundlage Adamzik hat darauf hingewiesen, dass es wegen der unterschiedlichen Zugriffsperspektiven keine klare und eindeutige Verwendung bezüglich des Textbegriffs in den meisten textlinguistischen Ansätzen gibt.1 Insofern wird an dieser Stelle statt der Diskussion2 über die divergierenden Varianten des Textkonzepts die pragmatisch orientierte Textauffassung von Qian Minru, die in konzeptioneller Nähe zur Strukturierenden Rechtslehre steht, skizziert. 1 2

Vgl. Adamzik, 2004, S. 47. Zu linguistischen Diskussionen des Textbegriffs sei auf Adamzik, 2004, S. 31–48; Coseriu, 2007, S. 7–15; Gansel/Jürgens, 2007, S. 35–52; Brinker, 2005, S. 12–20; Vater, 2001, S. 8–22; Heinemann/Viehweger, 1991, S. 19–85 verwiesen.

60

4. Text- und diskurslinguistische Ansätze

Qian Minru vertritt eine dynamische Textauffassung und versteht unter „Text“ alle strukturierten, absichtlichen Codierungs- und Decodierungsaktivitäten der Menschen.3 Für sie ist Text keine statische Größe, die als reale Entität in der Welt steht, sondern ein dynamischer Prozess, der von den handelnden Menschen praktiziert wird. Insofern beansprucht sie – wie in der Strukturierenden Rechtslehre – eine Trennung zwischen dem Text und dem Textformular. Mit Codierung und Decodierung hat sie sowohl die Textproduktion vonseiten des Autors als auch die Textrezeption vonseiten des Empfängers berücksichtigt. In Bezug auf die Relation zwischen Menschen, Text und Welt legt sie folgendes Verhältnis zugrunde (Schaubild 7).

M1

Text

M2

Raum

Zeit

Schaubild 7: Die Relation zwischen Menschen, Text und Welt4

Die Welt liefert Zeit und Raum als zwei Orientierungsdimensionen, vor deren Hintergrund Kommunikation stattfindet. Die Texte dürfen nicht isoliert, sondern müssen, eingebettet in die Handlungspraxis und Kommunikationssituation der Menschen, beobachtet und beschrieben werden. In Übereinstimmung mit der Strukturierenden Rechtslehre rückt die dynamische Textauffassung von Qian Minru die handelnde Person in den Mittelpunkt textgestützter Kommunikation. Untersucht werden soll, was man mit Texten macht und wie man mit ihnen sprachlich handelt. In der jüngsten Entwicklungsphase der Textlinguistik lässt sich die Tendenz beobachten, dass der Text nicht mehr als „selbständige und unabhängige Größe“ und auch nicht mehr als „oberste Einheit linguistischer Beschreibung“ gilt, sondern immer mehr in den einzeltextübergreifenden Diskurs eingebettet wird.5 Der linguistische Untersuchungsgegenstand wird

3 4 5

Vgl. 䫡᭿⊍, 2001, S. 224. 䫡᭿⊍, 2001, S. 331. Adamzik, 2004, S. 46.

4.1. Text und Diskurs

61

auf textübergreifende Kommunikationsformen erweitert. Insofern kommt der Begriff „Diskurs“ vielfach in Betracht. Ähnlich wie bei dem Textbegriff wird der Diskursbegriff sehr unterschiedlich gebraucht. Die Vielfalt der Diskurskonzeptionen reicht vom amerikanischen Strukturalismus über Literaturtheorie, Wissenssoziologie bis zur Kritischen Diskursanalyse und Historischen Semantik.6 Insofern muss man Warnke zustimmen, wenn er behauptet, dass „Diskurs“ „alles andere als Klarheit einer wissenschaftlichen Theorie, Konzeption oder Methode“ vermittelt.7 Während der Diskursbegriff in der früheren Phase einzeltextbezogen ist, verweist er in seiner Begriffsgeschichte – vor allem nach der Rezeption von Foucault – eher auf eine transtextuelle Einheit. Die vorliegende Untersuchung legt den inzwischen vielfach zitierten Diskursbegriff von Busse und Teubert zugrunde. „Diskurs“ definieren sie im forschungspraktischen Sinn als die Menge aller Texte, die –





„sich mit einem als Forschungsgegenstand gewählten Gegenstand, Thema, Wissenskomplex oder Konzept befassen, untereinander semantische Beziehungen aufweisen und/oder in einem gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang stehen“, „den als Forschungsprogramm vorgegebenen Eingrenzungen in Hinblick auf Zeitraum/Zeitschnitte, Areal, Gesellschaftsausschnitt, Kommunikationsbereich, Texttypik und andere Parameter genügen“, „und durch explizite oder implizite (text- oder kontextsemantisch erschließbare) Verweisung aufeinander Bezug nehmen bzw. einen intertextuellen Zusammenhang bilden“.8

Im Mittelpunkt steht der inhaltliche bzw. thematische Zusammenhang zwischen den einzelnen Texten bzw. Äußerungen. Diese Diskurskonzeption hat für die vorliegende Untersuchung insofern große Bedeutung, als das Erkenntnisinteresse des Rechtsstreits anhand von typologisierten Sprachhandlungen nicht an einzelnen rechtlichen Texten, sondern immer im übergreifenden juristischen Diskursausschnitt zu behandeln ist. Die Methoden der linguistischen Diskursanalyse sind ebenso vielfältig wie die Diskursbegriffe. Auf der Basis diverser empirischer Arbeiten und aufgrund der Projizierung der vor allem textlinguistischen Untersuchungsmethoden auf die Diskursebene haben Warnke und Spitzmüller ein arbeitspraktisches Modell der Diskurslinguistischen Mehr-Ebenen-Analyse (DIMEAN) entwickelt, in dem verschiedene diskursanalytische Gegenstandsbereiche und Operationsverfahren zusammengestellt sind (Schaubild 8).

6 7 8

Vgl. Warnke, 2007a, S. 3–9. Warnke, 2007a, S. 3. Busse/Teubert, 1994, S. 14.

62

4. Text- und diskurslinguistische Ansätze Intertextualität Schemata (Frames/Scripts) Diskurssemantische Grundfiguren Transtextuelle Ebene

Diskursorientierte Analyse

Topoi Sozialsymbolik Indexikalische Ordnungen Historizität Ideologien/Mentalitäten Allgemeine gesellschaftliche und politische Debatten

Diskursprägung

Akteure

Diskursregeln

– Autor Interaktionsrollen – Antizipierte Adressaten

Textorientierte Analyse

Intratextuelle Ebene

Propositionsorientierte Analyse

Wortorientierte Analyse

– Soziale Stratifizierung/Macht – Diskursgemeinschaften Diskurspositionen – Ideology Brokers – Voice – Vertikalitätsstatus – Medium – Kommunikationsformen Medialität – Kommunikationsbereiche – Textmuster – Layout/Design – Typographie Visuelle – Text-Bild-Beziehungen Textstruktur – Materialität/Textträger – Lexikalische Felder Makrostruktur: – Metaphernfelder Textthema – Lexikalische Oppositionslinien Mesostruktur: – Themenentfaltung – Textstrategien/Textfunktionen Themen in Textteilen – Textsorte – Syntax – Rhetorische Figuren – Metaphernlexeme – soziale, expressive, Mikrostruktur: deontische Bedeutung Propositionen – Präsuppositionen – Implikaturen – Sprechakte – Schlüsselwörter Mehr-Wort– Stigmawörter Einheiten – Namen Ein-Wort– Ad-hoc-Bildungen Einheiten

Schaubild 8: Diskurslinguistische Mehr-Ebenen-Analyse (DIMEAN) von Warnke und Spitzmüller9 9

Warnke/Spitzmüller, 2008a, S. 44. Eine ausführliche Vorstellung einzelner Untersuchungskategorien entspricht nicht dem Anliegen der vorliegenden Arbeit. Interessierte

4.1. Text und Diskurs

63

Neben den einzelnen Untersuchungsmöglichkeiten, die interessant und aufschlussreich sind, ist dieses Modell für die vorliegende Untersuchung besonders insofern von konstitutiver Bedeutung, als die Analyse auf unterschiedlichen Untersuchungsebenen unternommen werden kann. Die vorliegende Arbeit beabsichtigt nämlich auch, durch die Untersuchung sprachlicher Perspektivierungen auf verschiedenen intratextuellen und transtextuellen Ebenen den Rechtsstreit in den typologisierten Sprachhandlungsmustern transparent zu machen. Ein weiteres diskursanalytisches Modell, das ebenfalls mit verschiedenen Untersuchungsebenen operiert und für die Entwicklung des vorliegenden methodischen Ansatzes große Relevanz aufweist, ist das Untersuchungsprogramm der pragma-semiotischen Textarbeit von Felder. Es wurde zur Analyse von Mediendiskursen konzipiert und umfasst fünf Untersuchungsebenen: Ebene der Lexik zur Untersuchung des Einzelwortes mit Schlüsselwortcharakter, Ebene der Syntagmen in Bezug auf komplexere Wortverbindungen unterhalb der Satzebene, Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit auf oder unter-/oberhalb der Satzebene, Ebene des Textes im Hinblick auf intertextuelle Transformation und Ebene der Text-Bild-Beziehungen inkl. Interpikturalität.10 Durch dieses Untersuchungsprogramm soll systematisch exemplifiziert werden, wie in Versprachlichungsprozessen aufgrund der außermedialen Wirklichkeit mediale Realitäten konstituiert und perspektiviert werden. Die vorliegende Untersuchung möchte dieses grundlegende Modell aufgrund der Konzeption der sprachlichen Perspektivität11 mit grammatischen Kategorien relevanter sprachlicher Perspektivierungsmittel konkretisieren12 und es als relevanten methodischen Ansatz der detaillierten Textanalyse zugrunde legen. 4.1.2. Juristische Textsorten und die Diskurskonstellation Da die vorliegende Untersuchung juristische Textarbeit mit verschiedenen Rechtstexten fokussiert, ist es sinnvoll, die Grundproblematik der juristischen Textsorten kurz zu erläutern und auf der Grundlage einer Typologie juristischer Textsorten den Textbestand des zu untersuchenden Korpus zu beleuchten.

10 11 12

Leser seien auf Warnke/Spitzmüller, 2008a verwiesen. Es ist besonders hervorzuheben, dass dieses Modell keinesfalls ein geschlossenes System darstellt, sondern dass es offen für weitere Ergänzungen und Differenzierungen ist. Vgl. Felder, 2007, S. 361; Felder, 2009b, S. 26–49. Die Konzeption der sprachlichen Perspektivität wird von Köller übernommen. Ausführlich siehe Abschnitt 4.2. der vorliegenden Arbeit. Das konkretisierte Modell mit differenzierten Untersuchungskategorien wird „das Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse“ genannt. Ausführlich siehe Abschnitt 4.3. der vorliegenden Arbeit.

64

4. Text- und diskurslinguistische Ansätze

Die gängigen linguistischen Beschreibungsmuster der Textsorten, die vielfach bei den auf die Klassen der Sprechakte zurückzuführenden Textfunktionen ansetzen,13 scheinen in der Typologisierung juristischer Textsorten wenig zu helfen. Denn es tritt häufig das Phänomen der Polyfunktionalität auf. In den Gesetzestexten werden z.B. gleichzeitig assertive, deklarative und direktive Sprechakte realisiert.14 Die Abgrenzung der einzelnen Textsorten soll deshalb in die Untersuchung der institutionellen Handlungspraxis der Juristen einbezogen werden. Erst an der Einsicht, wie man im konkreten juristischen Verfahren tatsächlich mit den jeweiligen Texten umgeht, kann man die institutionell bedingte, handlungspraktische Funktion und den Status dieser Texte im Ablauf juristischer Textarbeit kennen und dann aufgrund dieser Kenntnisse einen Versuch der Typologisierung vornehmen. Insofern behauptet Busse zu Recht, dass „im Bereich institutionellen Sprachhandelns und Textgebrauchs eine sprachbezogene Abgrenzung (hier: von Textsorten) nicht allein aufgrund von innersprachlichen Aspekten erfolgen kann, zu denen hier etwa linguistisch feststellbare Textmerkmale zählen würden, sondern die Berücksichtigung funktionaler Merkmale erfordert, die nur aus den institutionellen Regeln, Verfahrensweisen und wechselseitigen Abgrenzungen erklärt werden können“15. Nach Busse müssen bei der Differenzierung sowohl innersprachliche Aspekte, die sonst auch bei anderen gängigen Ansätzen üblich sind, als auch handlungsorientierte Zusammenhänge, die für juristische Textsorten von besonderer Relevanz sind, berücksichtigt werden. Die vorliegende Untersuchung übernimmt die Typologie juristischer Textsorten von Busse, die wie folgt zusammengefasst werden kann (Schaubild 9). Dabei ist vor allem anzumerken, dass die Gliederung in verschiedene Oberklassen nicht kategorisch angenommen werden darf, sondern dass es durchaus möglich ist, dass Überlappungen bestehen.16

13 14 15 16

Vgl. das Modell der Mehrebenenklassifi kation von Heinemann/Viehweger, 1991, S. 145ff. Auch in Vater, 2001, S. 177ff. Vgl. die Differenzierungskategorien von Brinker, 2005, S. 145ff. Vgl. auch Gansel/Jürgens, 2007, S. 58; Adamzik, 2004, S. 107–109. Vgl. Busse, 2000a, S. 659. Auch Adamzik hat über das Problem der Polyfunktionalität vs. Unifunktionalität diskutiert. Vgl. Adamzik, 2004, S. 109ff. Busse, 2000a, S. 662. Die Typologie sollte hier als Hintergrund fungieren, vor dem die einzelnen von der vorliegenden Untersuchung herangezogenen Textsorten in Bezug auf deren Status bzw. Funktion im Ablauf juristischer Textarbeit erläutert werden. Über die einzelnen Oberklassen und Unter-Textsorten sowie die Überschneidungsmöglichkeiten wird hier nicht ausführlich diskutiert. Interessierte Leser seien auf Busse, 2000a, S. 669–675 verwiesen.

4.1. Text und Diskurs

65

Oberklassen

Beispiele der subsumierbaren Teil-Klassen oder Unter-Textsorten

1.

Textsorten mit normativer Kraft

Gesetz, Verordnung, Verwaltungsvorschrift, Satzung, Gesetzgebungsmaterialien, Staatsvertrag, überregionale Rechtsvorschriften (Völkerrecht, EU-Recht)

2.

Textsorten der NormtextAuslegung

Gesetzeskommentar, Urteils-Kommentierung in Fachliteratur, Leitsatz einer obergerichtlichen Entscheidung

3.

Textsorten der Rechtsprechung

Gerichtsurteil, Beschluss, Verfügung

4.

Textsorten des Rechtsfindungs- Anklageschrift, anwaltlicher Schriftsatz (Klageschrift, verfahrens Klageerwiderung, Berufung, Revision17, Beschwerde usw.), Plädoyer, Gerichtsprotokoll, Vernehmungsprotokoll, Aktenvermerk, Rechtsgutachten, Erklärung, Eid

5.

Textsorten der Rechtsbeanspruchung und Rechtsbehauptung

Eingabe, Antrag, Widerspruch, Klage [siehe auch: Textsorten des Rechtsfindungsverfahrens], Verfassungsbeschwerde

6.

Textsorten des Rechtsvollzugs und der Rechtsdurchsetzung

Haftbefehl, Durchsuchungsbefehl, Vollstreckungsbefehl, Sicherstellungsanordnung

7.

Textsorten des Vertragswesens

Vertrag, Vereinssatzung, Gesellschaftssatzung

8.

Textsorten der Beurkundung

Urkunde, Bescheinigung, Beglaubigung, Eintrag (Grundbuch, Familienbuch, Handelsregister usw.)

9.

Textsorten der Rechtswissenschaft und juristischen Ausbildung

Lehrbuch, Fachbuch, Fachaufsatz, Urteilskommentierung, Rechtswörterbuch, Urteilssammlungen

Schaubild 9: 17 Typologie der juristischen Textsorten18

Die vorliegende Arbeit hat den Rechtsstreit zwischen verschiedenen juristischen Funktionsträgern im Rechtsfindungsverfahren als Untersuchungsgegenstand. Das zu untersuchende Textkorpus wird aus forschungspraktischem Grund in ein Primärkorpus und ein Sekundärkorpus eingeteilt, wobei das Primärkorpus hinsichtlich der Explizierung des Rechtsstreits detailliert analysiert wird und das Sekundärkorpus als latenter Hintergrund nur bei Bedarf – z.B. zum Vergleich der intertextuellen Verarbeitung – herangezogen wird. Das Primärkorpus, in dem sich der Rechtsstreit hauptsächlich vollzieht, besteht aus Textsorten aus dem Bereich der Rechtsprechung und des Rechts17 18

Die Revision hat Busse nicht in sein Modell aufgenommen. Sie ist wegen der funktionalen Nähe zur Berufung – trotz prozessualer Unterschiede – von mir in dieses Modell ergänzt worden. Vgl. Busse, 2000a, S. 669–675.

66

4. Text- und diskurslinguistische Ansätze

findungsverfahrens. Die wichtigsten Textsorten umfassen die Anklageschrift, den anwaltlichen Schriftsatz, die Berufung bzw. die Revision, das Protokoll aus der Oberklasse des Rechtsfindungsverfahrens und das Gerichtsurteil bzw. den Beschluss19 aus der Oberklasse der Rechtsprechung. Das Gerichtsurteil und der Beschluss, obwohl sie auch dem Rechtsfindungsverfahren zugeordnet werden können, werden wegen ihrer überwiegend nach außen gerichteten Wirkung bei Busse doch als eigenständige Oberklasse erfasst. Unter anwaltlichen Schriftsätzen werden die Niederschläge institutionellen Schreibens zwischen den beteiligten Institutionen (meistens von den Rechtsanwälten als Autoren an das Gericht als Adressaten) gefasst, wobei es sich nicht um eine personelle, sondern um eine institutionelle Identität handelt.20 Die Schriftsätze sind insofern für die vorliegende Untersuchung interessant, als in ihnen die unterschiedlichen Rechtspositionen der Parteien oft explizit zum Ausdruck kommen. Auf der Grundlage der Abgrenzung Busses werden Berufung und Revision in dem vorliegenden Korpus von der Gruppe des anwaltlichen Schriftsatzes wegen ihrer verfahrensrechtlichen Relevanz, d.h., ob der Rechtsstreit prozessual noch fortgesetzt wird, gesondert, obwohl diese meistens auch in Form eines Schriftsatzes dem Gericht vorgelegt werden. Berufung und Revision gelten beide als Rechtsmittel gegen Urteile, wobei bei der Berufung sowohl rechtliche als auch tatsachenbezogene Rügen, bei der Revision lediglich Rechtsfehler verfolgt werden können. Das heißt aber nicht, dass bei der Revision, obwohl dort keine neuen Tatsachen und keine neuen Beweise angeführt werden, die anstehenden Strukturelemente aus dem Sachbereich nicht neu strukturiert und verknüpft werden können, so dass der Sachverhalt anders profiliert und aus der Perspektive des Normprogramms anders klassifiziert werden kann. Nicht zuletzt ist in Bezug auf die Protokolle zu berücksichtigen, dass sie (sowohl die Gerichtsprotokolle als auch die Vernehmungsprotokolle) nicht mit den realen mündlichen Aussagen identifiziert werden dürfen. Denn „der gesprochene Text erfährt bei der Übertragung ins Protokoll […] charakteristische Umformungen in Richtung einer rechtlichen Vor-Bearbeitung (durch Auswahl, Zuspitzung, Umformulierung)“21. Insofern unterliegen sie als intertextuelles Vergleichspendant bestimmten Einschränkungen.

19

Beschluss zählt wie Urteil ebenfalls als gerichtliche Entscheidung, ist aber weniger streng. Ein Beschluss hat zum Mindestinhalt eine kurze Bezeichnung des Rechtsstreits (z.B. das Aktenzeichen, das entscheidende Gericht, die Parteien oder Beteiligten usw.), eine Formel (Urteilstenor) und die Unterschrift(en). Gründe, die den Tatbestand und die Entscheidungsgründe umfassen, können entbehrt werden. Vgl. Rechtswörterbuch, 2007, S. 179, S. 1291. 20 Vgl. Altehenger, 1996, S. 67. 21 Busse, 2000a, S. 672.

4.2. Perspektivität

67

Zu dem Sekundärkorpus, das als Hintergrund des Rechtsstreits fungiert, gehören Texte aus dem Bereich der Textsorten mit normativer Kraft, der Normtext-Auslegung und des Rechtsfindungsverfahrens. Die wichtigen Textsorten dabei umfassen Gesetzestexte, Gesetzgebungsmaterialien, Gesetzeskommentare und Rechtsgutachten. Sie werden zum intertextuellen Vergleich herangezogen, damit die unternommenen Zubereitungen und Perspektivierungen überprüft werden können. Das vorliegende Textkorpus umfasst 6 Rechtsfälle, in denen es darum geht, ob Pilze als Pflanzen im Rahmen des Betäubungsmittelgesetzes klassifiziert werden können und der Umgang mit bestimmten Sorten von Pilzen als strafbare Handlung mit Betäubungsmitteln verurteilt werden darf. Da sie das gemeinsame Rechtsproblem haben, insofern thematisch zusammenhängen und teilweise auch durch explizite gegenseitige Bezugnahme miteinander verknüpft werden, gehören sie zu einem Rechtsdiskurs. Dabei ist vor allem anzumerken, dass der Begriff „Diskurs“ eher für eine offene Gesamtheit von zusammengehörigen Texten bzw. Aussagen reserviert ist, wobei man den gesamten Diskurs immer nur exemplarisch und in Ausschnitten als zusammengestellte Korpora untersuchen kann.22 Insofern darf man bei dem vorliegenden Textkorpus nicht von einem kompletten Pilze-Diskurs reden, sondern nur von exemplarischen Ausschnitten eines Rechtsdiskurses. Dazu kommt auch noch die Tatsache, dass wegen der begrenzten Zugänglichkeit institutioneller Textsorten kein Anspruch auf die Vollständigkeit bezüglich der Textsammlung erhoben werden kann.

4.2. Perspektivität Das Konzept der sprachlichen Perspektivität, das hier als wichtige methodische Orientierungsdimension zur Beschreibung streitiger Sprecherhandlungen fungieren sollte, stammt von Köller. Er hat, ausgehend von visuellen Wahrnehmungsprozessen, über das Phänomen der Perspektivität kognitiver Wahrnehmungsprozesse diskutiert, die sprachlich dokumentiert sind. Ihm zufolge sind die Wahrnehmung und die Objektivation des Wahrgenommenen – sei es in Bildern, sei es in Sprachen – immer von der Zusammenwirkung der Objektsphäre und der Subjektsphäre bedingt. Dies versucht er anhand einiger Grundbegriffe – Aspekt, Sehepunkt und Perspektive – klarzustellen:23 Der Begriff „Aspekt“ ist objektorientiert. Das wahrzunehmende Objekt kann nicht in seiner Totalität, sondern nur hinsichtlich derjenigen Seiten

22 Vgl. Warnke, 2007a, S. 18; Jung, 2005, S. 168. 23 Vgl. Köller, 1993, S. 16; Köller, 2004, S. 9f.

68

4. Text- und diskurslinguistische Ansätze

bzw. Aspekte, die dem wahrnehmenden Subjekt als zugewandt erscheinen, erfasst werden. Der Terminus „Sehepunkt“ ist dagegen subjektorientiert. Jede konkrete Wahrnehmung muss immer von einem bestimmten räumlichen und zeitlichen Standpunkt und nicht zuletzt von einer bestimmten geistigen Position aus erfolgen. Der Begriff „Perspektive“ weist auf der Grundlage der beiden anderen Begriffe auf die Struktur hin, wie die Wahrnehmungsinhalte aus der Zusammenwirkung der Objektsphäre und der Subjektsphäre konstituiert werden. Nach Köller ist jede Objektivation des Wahrgenommenen keine Verdoppelung der Welt in z.B. Bildern oder Sprachen, sondern immer eine interpretative Repräsentation und damit eine perspektivische Konstruktion der Wirklichkeit. Wie Köller selbst behauptet hat, dient die Sprache letztlich nicht dazu, „Realität abzubilden, sondern sie von bestimmten Sehepunkten her aspektuell zu erschließen“24. In diesem Zusammenhang ist besonders zu berücksichtigen, dass das Subjekt beim Wahrnehmungsprozess eine wichtige Rolle einnimmt. Denn durch die Auswahl des Sehepunkts wird präjudiziert, „welche potenziellen Aspekte des jeweiligen Wahrnehmungsgegenstandes überhaupt erfahrbar werden bzw. in welcher Schärfe und Detaildifferenzierung diese in Erscheinung treten können“25. Daher stehen die potentiellen Wahrnehmungsergebnisse in engem Zusammenhang mit der Auswahl des Standpunkts durch das Subjekt, die bewusst oder nicht bewusst durch die Intention gesteuert ist. Köllers Konzept weist insofern mit der pragmatischen Semantikauffassung, der Strukturierenden Rechtslehre und der dynamischen Textauffassung derartige Gemeinsamkeiten auf, dass das handelnde Subjekt in den Vordergrund gerückt wird. In Bezug auf die sprachliche Perspektivität unterscheidet Köller zwischen der kognitiven Perspektivität und der kommunikativen Perspektivität:26 „Von der kommunikativen Perspektivität können wir immer dann sprechen, wenn wir uns auf der Analyseebene der Sprachverwendung danach fragen, in welcher Wahrnehmungsperspektive konkrete Vorstellungsinhalte für einen Adressaten objektiviert werden.“ „Von der kognitiven Perspektivität sprachlicher Formen können wir dagegen immer dann sprechen, wenn sich unser Analyseinteresse nicht gegenstandsthematisch auf die Gestaltung konkreter Sachvorstellungen richtet, sondern reflexionsthematisch auf die konventionalisierte immanente Perspektivität der sprachlichen Muster, mit denen wir konkrete Vorstellungen objektivieren.“

24 Köller, 2004, S. 25. 25 Köller, 2004, S. 10. 26 Köller, 2004, S. 21f.

4.2. Perspektivität

69

Dementsprechend werden unter der kognitiven Perspektivität solche Perspektivierungen erfasst, die sich bereits als konventionalisierte Muster in einem bestimmten Sprachsystem verfestigt haben. Unterschiedliche Sprachen haben nämlich unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt und benutzen unterschiedliche Wortschatzinventare und grammatische Ordnungsmuster, um ihren spezifischen Perspektivierungen gerecht zu werden. Die manifestierten kognitiven Perspektivierungen bieten sprachimmanente Ordnungs- bzw. Deutungsmuster bezüglich der Gegenstände und Relationen auf der Welt für die Sprachgemeinschaft an und instruieren sie mit solchen Organisationsmustern bei ihrer Wahrnehmung und Objektivation. Insofern zeigt die kognitive Perspektivität eine gewisse Nähe zu Konzepten wie „sprachliches Relativitätsprinzip“, „sprachliche Konstruktion der Wirklichkeit“, „sprachliche Vorordnung der Welt“ usw., die teilweise in früheren theoretischen Überlegungen erläutert worden sind.27 Kommunikative Perspektivität untersucht das konkrete Produkt eines sprachlichen Objektivierungsvorgangs und versucht herauszustellen, „hinsichtlich welcher Aspekte ein Sachverhalt objektiviert wird und in welcher Konstellation einzelne Elemente thematisiert werden“28. Unter der kommunikativen Perspektivität werden also die in konkreten Kommunikationssituationen unternommenen Perspektivierungsanstrengungen eines Sprechers erfasst, durch die spezifische Aspekte an dem zu objektivierenden Sachverhalt hervorgehoben werden. Die kognitive und kommunikative Perspektivität hängen trotz der terminologischen Trennung jedoch eng zusammen. Einerseits kann sich die ursprünglich individuelle kommunikative Perspektivität durch Habitualisierungs- und Konventionalisierungsprozesse zu einer allgemeinen kognitiven Perspektivität transformieren. Andererseits nutzt man die kognitive Perspektivität sprachlicher Formen für individuelle Perspektivierungsziele im konkreten kommunikativen Objektivierungsprozess. Wenn man versucht, mit sprachlichen Mitteln auf die Welt zu referieren und wenn man überhaupt zu Sprache greift, unterliegt man immer einer bestimmten sprachlichen Perspektivität. Einerseits ist das Medium, mit dem man referiert, sowohl lexikalisch als auch grammatisch von kognitiver Perspektivität durchstrukturiert. Andererseits muss man bei der Kommunikation unvermeidlich einen Standpunkt einnehmen und von diesem aus seine Objektivierung realisieren. In diesem Zusammenhang ist besonders hervorzuheben, dass der Wahrnehmungs- und Objektivierungswille Auswirkungen auf den Wahrnehmungs- und Objektivierungsprozess und seine Ergebnisse

27 Vgl. Köller, 2004, S. 24. Vgl. Abschnitt 2.2.1. der vorliegenden Arbeit. 28 Köller, 2004, S. 21.

70

4. Text- und diskurslinguistische Ansätze

haben. Wie Köller ausgeführt hat, kann ein spezifischer Wahrnehmungswille „bestimmte Sinnesreize verstärken oder wegfiltern, so dass dieselben Gegenstände in Wahrnehmungsprozessen zur Objektivierung sehr verschiedener Wahrnehmungsgestalten führen können“29. Durch die Untersuchung, wie verschiedene Rechtsarbeiter von der kognitiven Perspektivität Gebrauch machen und unterschiedliche Perspektivierungsversuche in der Rechtskommunikation durchführen, kann der Rechtsstreit, den die vorliegende Arbeit transparent machen will, expliziert werden. Die sprachliche Perspektivität von Köller, die auch mit der Wirklichkeitsherstellung von Seibert und der Zubereitungsfunktion von Jeand’Heur verbunden werden darf, fungiert als methodische Basis für die vorliegende Untersuchung, die im anschließenden Abschnitt zu einem handhabbaren arbeitspraktischen Ansatz erarbeitet wird.

4.3. Das Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse Die diskurslinguistische Mehr-Ebenen-Analyse von Warnke und Spitzmüller hat aus traditionellen textlinguistischen Forschungen und aufgrund vorhandener Forschungsarbeiten für die verschiedenen Untersuchungsebenen ausführliche Kategorien zusammengestellt, mit denen man in gewissem Sinne deduktiv am Diskurs arbeiten kann. Im Vergleich zu Warnke und Spitzmüller geht das Untersuchungsprogramm der pragma-semiotischen Textarbeit von Felder zwar auch von einer in mehrere Ebenen untergliederten Analyse aus, aber er hat keine vorgängigen ausführlichen Kategorien für jede Untersuchungsebene herausgearbeitet, sondern untersucht in einem eher induktiven Verfahren die empirischen Daten. Die vorliegende Arbeit wurde von beiden Modellen inspiriert und will aus beiden Modellen und in Bezug auf die Perspektivitätsproblematik einen differenzierten Arbeitsansatz erstellen, um den vorliegenden Rechtsdiskurs gründlich und systematisch zu analysieren. Dieser Arbeitsansatz übernimmt die Grundgliederung des Untersuchungsprogramms der pragma-semiotischen Textarbeit und versucht zudem – wie bei der diskurslinguistischen Mehr-Ebenen-Analyse – elementare Kategorien in das Grundmodell einzubauen, an denen die sprachlichen Perspektivierungsanstrengungen zum vorliegenden Rechtsstreit expliziert werden können. Dieses differenzierte Analysemodell arbeitet hauptsächlich mit vier Untersuchungsebenen: Ebene der Lexik, Ebene der Syntagmen, Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit, Ebene des Textes. Die Ebene der Text-Bild-Beziehung fällt hier aus, da diese Problematik in dem untersuchten Korpus nicht

29

Köller, 2004, S. 16.

4.3. Das Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse

71

vorkommt. Die Trennung in verschiedene Untersuchungsebenen ergibt sich aus heuristischen Gründen, wobei einzelne Überschneidungsmöglichkeiten nicht ausgeschlossen werden können. Auf den einzelnen Ebenen werden jeweils die Kategorien aufgeführt, an denen das besondere Erkenntnisinteresse des Perspektivitätspotentials besteht. Der vorliegende Ansatz will hier allerdings nur generell und allgemein auf das Perspektivitätspotential der eingebauten – vor allem grammatischen – Kategorien aufmerksam machen, das dann in der empirischen Untersuchung an konkreten Beispielen exemplifiziert wird. Es wäre nicht möglich und entspricht auch nicht dem primären Anliegen der vorliegenden Arbeit, die verschiedenartigen Perspektivierungsmöglichkeiten der einzelnen Elemente der aufgeführten Kategorien (z.B. der einzelnen Konjunktionen oder Präpositionen) sehr ausführlich zu spezifizieren. Es genügt an dieser Stelle eine allgemeine Darstellung. Im empirischen Teil werden die unternommenen Perspektivierungen der verschiedenen Rechtsarbeiter an exemplarischen Beispielen detailliert erläutert, wobei die Perspektivitätsleistung der hier aufgeführten Kategorien besonders berücksichtigt wird. Zur Verdeutlichung, dass es bei manchen Formulierungen nicht um eine elementare Abbildung ontischer Strukturen, sondern um eine perspektivierte Modellierung der Wirklichkeit geht, kann die Leitfrage besonders hilfreich sein: „Welche Formulierungsalternativen kreieren ähnliche, aber anders geartete Wirklichkeiten?“30 Genau durch den Vergleich verschiedener Formulierungsalternativen einzelner Rechtsarbeiter, die mit unterschiedlichen Sprecherhandlungen korrespondieren, können die sprachlich realisierten Perspektivierungen transparent gemacht werden. 1. Ebene der Lexik Auf der Ebene der Lexik steht die sprachliche Perspektivität besonders im Zusammenhang mit der Benennungs- und Bedeutungsfi xierung, die im Konzept der semantischen Kämpfe schon thematisiert wurden. Verschiedene Rechtsarbeiter benennen den zu bezeichnenden Sachverhalt bzw. die zu bezeichnende Handlung anders, indem sie unterschiedliche lexikalische Ausdrücke zum Referieren benutzen, so dass andere Eigenschaften an dem zu bezeichnenden Objekt hervorgehoben werden, was zu unterschiedlichen Sprecherhandlungen z.B. des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens (oder auch anderer Sprachhandlungstypen) führen mag. Durch die Explizierung der jeweils dominant gesetzten Teilbedeutungen (und/oder Wortkonnotationen) lassen sich die Perspektivierungen veranschaulichen. Konkurrierende Benennungen fokussieren unterschiedliche

30 Felder, 2006b, S. 168.

72

4. Text- und diskurslinguistische Ansätze

Aspekte der Wirklichkeit und konstruieren die Lebenssachverhalte mit. Die Rechtsarbeiter versuchen durch die Durchsetzung eigener Benennungen dem Sachverhalt ein je bestimmt geprägtes Image und eine bestimmte Etikettierung zu verleihen. Verschiedene Rechtsarbeiter können auch bei demselben Ausdruck unterschiedliche Bedeutungsaspekte dominant setzen, so dass die Referenzbildung anders gestaltet werden kann. Durch die Explizierung der jeweils zugrunde gelegten Bedeutungspostulate können die beabsichtigten Perspektivierungen transparent gemacht werden. Der Rechtsstreit besteht gerade darin, dass verschiedene Rechtsarbeiter manche Schlüsselbegriffe im Normtext unterschiedlich auslegen und dabei unterschiedliche Bedeutungsaspekte in den Vordergrund rücken. 2. Ebene der Syntagmen Perpektivierungspotential auf der Ebene der Syntagmen gibt es hauptsächlich in zwei Kategorien. In der einen Kategorie geht es um die Benennungskonkurrenz, so wie auf der Ebene der Lexik. Denn man benutzt zum Referieren oft nicht nur einen einzigen Ausdruck, sondern auch Ausdruckskomplexe, die sich jeweils aus mehreren Zeichen zusammensetzen und als teilweise feste Syntagmen diskursiv durchgesetzt werden sollen. Sie konkurrieren mit den einzelnen Lexiken als unterschiedliche Benennungsmöglichkeiten, die den Sachverhalt sprachlich anders zubereiten. In der anderen Kategorie geht es um das Perspektivitätspotential, wie einzelne Zeichen in dem Syntagma durch bestimmte Verknüpfungsmittel korreliert werden, so dass beabsichtigte Verhältnisse bzw. Strukturen hergestellt werden. Das häufigste Verknüpfungsmittel auf der Syntagma-Ebene ist die Präposition. Über die verschiedenen semantischen Konstellationen, die durch die Präposition bewirkt werden können, wird zusammen mit anderen Verknüpfungsmitteln auf der Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit genauer diskutiert. An dieser Stelle genügt die Einsicht, dass Präpositionen wegen ihrer Funktion zur Spezifizierung der Relation zwischen den durch sie verbundenen Elementen genutzt werden können. 3. Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit Hier geht es um Perspektivierungsmöglichkeiten, die auf der Satzebene realisiert werden können. Im Voraus muss schon angemerkt werden, dass auch satzübergreifende Perspektivierungsphänomene – wie z.B. perspektivierte Verknüpfung von zwei oder mehreren Sätzen durch Konjunktionen oder Adverbien – dazu gerechnet werden.31

31

Solche Verknüpfungen werden im gängigen Schrifttum oft unter dem Titel „Textkohä-

4.3. Das Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse

73

Bei der Differenzierung und Erläuterung folgender Untersuchungskategorien habe ich versucht (immer unter Berücksichtigung des vorliegenden Korpus), verschiedene Grammatiken zu verzahnen, damit ein differenziertes Modell erarbeitet werden kann, das dem Untersuchungsanliegen entspricht.32 Die Grundstruktur bei der Einteilung der einzelnen Kategorien wird bezüglich der Relevanz für das anstehende Korpus selektiv von Köller übernommen.33 Das Perspektivitätspotential auf der Satzebene lässt sich hauptsächlich in drei Bereichen untersuchen: Perspektivität im Bereich grammatischer Grundformen, Perspektivität im Bereich der Verknüpfungszeichen und Perspektivität im Bereich der Kommentierungszeichen. 1) Perspektivität im Bereich grammatischer Grundformen – Modusformen Die Modusformen (Indikativ, Konjunktiv und Imperativ) stehen in engem Zusammenhang mit dem komplizierten und inhaltsreichen Begriff „Modalität“.34 Es geht etwa um das Problem, „wie Sachverhalte, Äußerungen oder Informationen verstanden, beurteilt oder eingeschätzt werden sollen“35. Vor dem Hintergrund, dass Kant die Kategorie der Modalität von der Ebene des Seins auf die Ebene des Urteils über das Sein verlagert hat, muss besonders angemerkt werden, dass die zur Qualifizierung der Modalität oft herangezogenen differenzierenden Subkategorien Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit weniger über die faktische Existenzweise von Sachverhalten aussagen, als darüber, welche Existenzweise ein Sprecher einem Sachverhalt zuschreiben möchte.36 Es geht dabei also weniger um reale Existenzeigenschaften von Sachverhalten, als um den sprachlich markierten, intersubjektiv zu vermittelnden Geltungsanspruch der Aussagen über die Sachverhalte. Diesen kann der Sprecher mit bestimmten sprachlichen Mitteln lexikalischer und grammatischer Natur metakommunikativ spezifizieren. Das Perspektivitätspotential bezüglich der Modusformen liegt besonders in der Gegenüberstellung von Indikativ und Konjunktiv. Aber die ein-

sion“ erfasst. Es geht also um Verknüpfungen auf textueller Ebene. In dem vorliegenden Modell werden sie allerdings der Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit zugeordnet, während die Ebene des Textes im vorliegenden Ansatz eher für Perspektivierungen, die durch intertextuellen Vergleich ermittelt werden können, reserviert ist. 32 Hierbei werden vor allem drei Grammatiken herangezogen: Köller, 2004; Duden – Die Grammatik, 2006 und Eisenberg, 2006. Auch andere Literatur wird zur Ergänzung und Differenzierung genutzt, wie von Polenz, 1988. 33 Vgl. Köller, 2004. 34 Modalität ist ein sehr komplizierter Begriff, der an dieser Stelle nicht ausführlich problematisiert werden kann. Interessierte Leser seien auf Köller, 1995, 1997, 2004 verwiesen. 35 Köller, 1995, S. 39. 36 Vgl. Köller, 1997, S. 123.

74

4. Text- und diskurslinguistische Ansätze

fache Annahme des Indikativs als Wirklichkeitsform und des Konjunktivs als Möglichkeitsform greift nicht weit, denn der Indikativ wird – vor allem in der Alltagssprache – oft als nicht markierte Standardform vom Sprecher spontan herangezogen. Eine Perspektivierung liegt dann deutlicher vor, wenn der Sprecher in einer konkreten Äußerungssituation (z.B. bei indirekten bzw. abhängigen Reden) die Wahl zwischen verschiedenen Modusformen hat und seine Entscheidung für die Indikativform gleich eine Entscheidung gegen die Konjunktivform ist.37 In juristischen Kontexten, wo mit den Modusformen oft sehr bewusst umgegangen wird, kann generell von der Tendenz gesprochen werden, dass die Verwendung des Indikativs bei abhängigen Reden oft bewirken kann, dass der Sachverhalt ohne einschränkende Bedingungen objektiviert wird. Durch die Verwendung des Konjunktivs I kann signalisiert werden, dass es dabei um eine vermittelte Information geht, deren Abhängigkeitsverhältnis und Verantwortlichkeit geklärt werden muss. Demgegenüber kann der Konjunktiv II wegen seines inneren Negationspotentials38 die Gültigkeit des Sachverhalts ganz anders postulieren und vermitteln als bei Konjunktiv I oder Indikativ. „Den Indikativ benutzt ein Sprecher in der indirekten Rede immer dann, wenn er dem wiedergegebenen Inhalt ohne Bedenken gegenübersteht, wenn er keinerlei Distanz zu der Position des ursprünglichen Sprechers signalisieren will und wenn er seine Rolle als Vermittler und Interpret nicht besonders akzentuieren will.“39 „Den K I kann ein Sprecher immer dann wählen, wenn er seine natürliche, sachliche, zeitliche oder örtliche Distanz zu dem im abhängigen Satz objektivierten Sachverhalt kenntlich machen will und wenn er seine Rolle als Vermittler einer Information akzentuieren möchte, um persönlich keinerlei Gewähr für den Wahrheitsgehalt des vermittelten Inhalts übernehmen zu müssen. Den K II kann ein Sprecher in abhängigen Sätzen immer dann verwenden, wenn er den jeweiligen Aussageinhalt hinsichtlich seiner Faktizität oder Vertrauenswürdigkeit implizit problematisieren oder gar negieren möchte.“40

Es gibt neben den Modusformen auch andere Mittel zur Markierung der Modalität (wie z.B. Modalverben, Modalwörter, Modalpartikeln usw.), die ebenfalls ein Perspektivitätspotential aufweisen und in einer empirischen Untersuchung berücksichtigt werden müssen.

37 38 39 40

Vgl. Köller, 1997, S. 131. Vgl. Köller, 2004, S. 456; Köller, 1997, S. 142. Köller, 1997, S. 148. Köller, 2004, S. 458.

4.3. Das Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse

75

– Genusformen Das Perspektivitätspotential durch Genusformen besteht einerseits darin, dass Aktiv- und Passivformen „denselben Tatbestand mit unterschiedlichen Akzentsetzungen thematisieren“, indem die Aktivformen „die Kategorie des Wirkens“ und die Passivformen „die Kategorie der Wirkung“ hervortreten lassen.41 Bei der Verwendung der Aktivformen wird nämlich der Prozess und bei der Verwendung der Passivformen das Resultat in den Vordergrund gerückt. Andererseits wird der Aktant, der im Aktiv als Subjekt eine zentrale Rolle einnimmt, im Passiv zu einer Präpositionalphrase (Agensphrase) marginalisiert oder kann überhaupt getilgt werden.42 Die Akzentuierung durch die Genusformen kann auch in einem generellen bzw. übertragenen Sinne verstanden werden. Bei der Beschreibung einer Interaktion zwischen zwei Objekten kann der Sprecher durch die Wahl, aus welcher Perspektive er die Handlung darstellt (aus der Täterperspektive oder aus der Opferperspektive), eine andere Akzentsetzung – vor allem im Kausalitätszusammenhang – schaffen.43 2) Perspektivität im Bereich der Verknüpfungszeichen Wie einzelne Sachverhalte oder Strukturelemente eines Sachverhalts miteinander verknüpft werden können, kann durch die Einsetzung verschiedener Verknüpfungszeichen anders gestaltet werden, was bestimmten Perspektivierungszwecken entspricht. Hier wird zunächst auf die wichtigsten Klassen der Verknüpfungszeichen aufmerksam gemacht. Darauf folgt eine Klassifikation der verschiedenen semantischen Verhältnisse der Verknüpfung, an die sich die empirische Untersuchung hält. – Präpositionen Präpositionen werden auch als Beziehungswörter oder Verhältniswörter bezeichnet. Durch unterschiedliche Präpositionen können Gegenstände oder Phänomene in andere Relationen zueinander gesetzt werden. – Konjunktionen Konjunktionen dienen als explizite Verknüpfungsmittel dazu, „Ordnungsstrukturen auszubilden und aus dem Chaos isolierter Eindrücke und Aussagen einen Kosmos zu machen bzw. das Chaos für kommunikative Zwecke als

41 Köller, 2004, S. 467. 42 Vgl. Duden – Die Grammatik, 2006, S. 550; Weinrich, 2003, S. 167f. 43 Vgl. das Beispiel von Felder mit den Fahrzeuginsassen in der Sitzblockadenjudikatur. Die Fahrzeuginsassen, die den Befehl zum Anhalten geben, werden im Urteil des Amtsgerichts ausdrücklich als Opfer des Zwangs der Sitzblockade dargestellt. Ausführlich siehe Felder, 2003a, S. 124f.

76

4. Text- und diskurslinguistische Ansätze

Kosmos darzustellen“44. Sie sind oft nicht dafür eingesetzt, ontisch bedingte Ordnungsstrukturen an den Sachverhalten als solche abzubilden, sondern mit ihnen werden strukturelle Korrelationen, die dem kommunikativen Zweck entsprechen, von den Sprechern konstruiert. Konjunktionen können in koordinierende und subordinierende Konjunktionen eingeteilt werden, wobei die einzelnen Phänomene bei der Verbindung durch koordinierende Konjunktionen immerhin als eigenständige Phänomene fungieren und bei der Verbindung durch subordinierende Konjunktionen eher in einen hierarchischen Ordnungszusammenhang gebracht werden.45 – Adverbien und Abtönungspartikeln Nicht zuletzt können Adverbien und Abtönungspartikeln in konkreten Äußerungssituationen auch als Verknüpfungsmittel eingesetzt werden und unterschiedliche Perspektivierungsleistungen erfüllen. Besonders die Konjunktionaladverbien46 (z.B. außerdem, nämlich, daher, trotzdem, hingegen usw.) verhalten sich wie Konjunktionen und thematisieren explizit die Korrelation zwischen den Sachverhalten. Aufgrund verschiedener Klassifikationen semantischer Verhältnisse der Verknüpfung aus unterschiedlichen Grammatiken wird die folgende Klassifizierung zugrunde gelegt (Schaubild 10): 47 1) kopulativ

– additiv (und, nebst, außerdem, übrigens usw.) Eine Aussage wird an eine weitere Aussage additiv angereiht. – alternativ (oder, beziehungsweise, entweder usw.) Damit wird ein Feld gleichberechtigter Möglichkeiten eröffnet und zur Wahl gestellt.

2) temporal

– vorzeitig (nach, nachdem, dann, danach usw.) – nachzeitig (vor, bevor, vorher usw.) – gleichzeitig (während, solange, zugleich usw.)

44 45 46 47

Köller, 2004, S. 502. Vgl. Köller, 2004, S. 518. Den Terminus übernehme ich von Duden – Die Grammatik, 2006, S. 590. Duden – Die Grammatik, 2006, S. 1085–1114; Köller, 2004, S. 505–525; Eisenberg, 2006, S. 203–207; von Polenz, 1988, S. 268–287. Die Grundstruktur der Klassifizierung wird von Duden – Die Grammatik übernommen, da sie einerseits im Vergleich zu anderen Grammatiken am meisten differenziert und systematisch auf diese Problematik eingeht und andererseits die verschiedenen semantischen Verhältnisse explizit auf alle Kategorien (Konjunktionen, Präpositionen, Adverbien und ggf. Abtönungspartikeln) überträgt und die einzelnen Elemente exemplarisch aufgeführt hat, die zwar an dieser Stelle nicht im Einzelnen dargestellt werden können, aber wichtige Orientierungshilfe für die empirische Untersuchung anbieten. Die einzelnen Erläuterungen und Beispiele stammen hauptsächlich von Duden – Die Grammatik und werden auch durch andere Grammatiken ergänzt.

4.3. Das Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse

77

3) konditional

(bei, unter, wenn, falls, eventuell, sonst usw.) Damit werden Bedingungsverhältnisse zwischen zwei Aussagen objektiviert.

4) im weiteren Sinne kausal

– im engeren Sinne kausal (wegen, aufgrund, weil, da, denn, deswegen, daher usw.) Dabei muss besonders differenziert werden, ob es um eine eher „natürliche“ Kausalität geht, die sich auf das ontisch erfahrbare und wiederholbare Ursache-Wirkung-Verhältnis stützt, oder um eine eher soziale Kausalität, die von den Sprechern während der Modellierung der Realität behauptet wird. – konsekutiv (so dass, infolge, folglich, konsequenterweise usw.) Damit wird die Perspektive dominant gesetzt, dass sich aus einem faktischen Ausgangszustand ein Folgezustand ergibt. – modal-instrumental (mit, mittels, indem, dadurch…dass usw.) Dadurch wird ein Sachverhalt als Mittel zur Erreichung des anderen Sachverhalts erklärt. – final (zwecks, für, damit usw.) Ein Sachverhalt wird im Sinne eines Zwecks, eines Ziels oder eines Motivs dem anderen Sachverhalt zugeschrieben. – adversativ (gegen, entgegen, aber, vielmehr, jedoch usw.) Adversative Kohäsion lenkt die Aufmerksamkeit auf die Gegensätzlichkeit von Sachverhalten. Dadurch kann darauf aufmerksam gemacht werden, dass zwei Aussagen zwar sachlich zusammengehören, dass sie aber nicht zu einer Grundvorstellung verschmolzen werden können, sondern in einem Spannungsverhältnis zueinander wahrgenommen werden müssen. Auf diese Weise dient die adversative Verknüpfung oft der pointierten Anfügung weiter gehender Information. – konzessiv (trotz, trotzdem, obwohl, selbst/auch wenn usw.) Die konzessiven Konjunktionen dienen dazu, ein Bedingungsverhältnis zu objektivieren, bei dem im abhängigen Satz ein Gegengrund zu dem im Obersatz thematisierten Sachverhalt genannt wird. Dieser wird aber nicht als so durchschlagend gekennzeichnet, dass er den jeweiligen Sachverhalt aufheben könnte. Diese Verknüpfung wird insofern auch als „Verhältnis des unwirksamen Gegengrundes“ bezeichnet.

5) spezifizierend

– explikativ (d.h., und zwar usw.) Ein Sachverhalt wird durch weitere Einzelheiten näher erläutert. – restriktiv (es sein denn, außer wenn usw.) Eine Äußerung wird durch weitere Äußerung in ihrer Gültigkeit eingeschränkt.

6) vergleichend

– komparativ (so…wie usw.) Damit wird die Grundlage eines Vergleichsverhältnisses bestimmt. – proportional (in dem Maße, wie… usw.) Proportionale Verknüpfungszeichen stellen eine besondere Form des Vergleichs her, indem sie die beiden Sachverhalte graduierend aufeinander beziehen.

Schaubild 10: Klassifizierung semantischer Verhältnisse der Verknüpfung

78

4. Text- und diskurslinguistische Ansätze

Mit unterschiedlichen Verknüpfungszeichen können die Relationen zwischen den einzelnen Sachverhalten bzw. Strukturelementen unterschiedlich festgesetzt werden. Besonders in juristischen Kontexten werden die Verknüpfungszeichen als leistungsfähige Perspektivierungsmittel immer wieder von den Rechtsarbeitern bei sprachlicher Zubereitung der Wirklichkeit und bei der Argumentation eingesetzt. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass mit dem Festsetzen von Korrelationen zwischen einzelnen Sachverhalten oder Strukturelementen immer gleichzeitig bestimmte juristische Wertungen bzw. Klassifikationen zustande gebracht werden können. Nicht zuletzt soll noch darauf hingewiesen werden, dass sprachliche Einzelaussagen grundsätzlich immerhin in gewissen Relationen stehen, wenn sie auch nicht explizit durch Kohäsionsmittel miteinander verknüpft werden. Die relationalen Bezüge zwischen Einzelaussagen „können sich auch implizit aus Kontexten, Erwartungen, Hypothesen und Wahrnehmungskonventionen von selbst ergeben“48. 3) Perspektivität im Bereich der Kommentierungszeichen In Köllers Konzept ist der Terminus Kommentierungszeichen ein nicht scharf abgrenzbarer Arbeitsbegriff für perspektivitätstheoretische Überlegungen, unter dem sprachliche Mittel (vor allem Wörter) erfasst werden, deren primäre Funktion darin liegt, ganze Aussagen metakommunikativ hinsichtlich ihres Sinns zu kommentieren.49 Zu den Kommentierungszeichen gehören hauptsächlich die Kommentaradverbien50 (vermutlich, vielleicht, leider, hoffentlich, glücklicherweise usw.) und die Abtönungspartikeln (doch, wohl, halt, bloß usw.). – Kommentaradverbien Kommentaradverbien werden in verschiedenen Grammatikbüchern auch als Modalwörter, Satzadverbien oder modale Adverbien bezeichnet.51 Sie dienen primär dazu, kenntlich zu machen, in welcher persönlichen Einstellung ein Sprecher einen Sachverhalt sprachlich objektivieren bzw. anderen mitteilen will. Bei den Kommentaradverbien kann zwischen zwei Gruppen unterschieden werden. Die eine Gruppe (vielleicht, sicherlich, zweifellos, vermutlich, tatsächlich, bekanntlich usw.) bezieht sich auf den Geltungsanspruch des bezeichneten Geschehens aus der Perspektive des Sprechers. Man spricht hier deshalb auch von epistemischen Adverbien.52 Sie geben „den Grad der Wahr48 49 50 51 52

Köller, 2004, S. 503. Vgl. Köller, 2004, S. 526. Den Terminus übernehme ich von Duden – Die Grammatik, 2006, S. 592. Vgl. Köller, 2004, S. 531; Duden – Die Grammatik, 2006, S. 592; Eisenberg, 2006, S. 218. Vgl. Eisenberg, 2006, S. 218; Duden – Die Grammatik, 2006, S. 593.

4.3. Das Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse

79

scheinlichkeit an, mit der das bezeichnete Geschehen nach Ansicht des Sprechers bzw. der Sprecherin eintritt oder eingetreten ist, und betreffen damit den Wahrheitsgehalt des Satzes“53. Neben dieser geltungsbezogenen Gruppe gibt es noch eine bewertende Gruppe (leider, klugerweise, richtigerweise, erstaunlicherweise, glücklicherweise usw.). Damit wird „nicht die Geltung eines Sachverhalts thematisiert, vielmehr gibt der Sprecher eine Bewertung dieses Sachverhalts zum Besten“54. An beiden Gruppen können die divergierenden Einstellungen des Sprechers hinsichtlich der unterschiedlichen Perspektivität in der Gültigkeitsmarkierung oder Evaluierung untersucht werden. – Abtönungspartikeln Sowohl die Abgrenzung der Kategorie „Partikel“ an sich als auch ihre innere Gliederung in Subgruppen sind in verschiedenen Grammatiken uneinheitlich. In der vorliegenden Arbeit wird in Anlehnung an Eisenberg unter der Abtönungspartikel die Subgruppe der Partikeln verstanden, die dazu dient, die Stellung des Sprechers zum Gesagten mitzuteilen, was zu den Sehepunkten führen kann, von denen aus der Sprecher den Sachverhalt objektiviert.55 Bei der Untersuchung des Perspektivitätspotentials der Kommentierungszeichen kann die Sprechereinstellung als hilfreiche Beschreibungskategorie herangezogen werden. Bei genauer Betrachtung gilt die Sprechereinstellung als latente Hilfskategorie bei der Beschreibung von Sprachhandlungen überhaupt. Sowohl an den Kommentierungszeichen als auch an anderen grammatischen Kategorien (hier z.B. Modusformen oder Verknüpfungszeichen) kann man die Sprechereinstellung überprüfen, um damit divergierende Positionen der Rechtsarbeiter deutlicher transparent zu machen. Nicht zuletzt ist besonders darauf hinzuweisen, dass in Bezug auf das Perspektivitätspotential auf der Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit aus heuristischen Gründen nur die wichtigsten Kategorien an dieser Stelle aufgeführt werden können. Das schließt allerdings die Möglichkeit der Perspektivierung durch andere sprachliche Mittel nicht aus. Eine solche Kategorisierung bietet vor allem Orientierungsdimensionen, mit denen zielorientierter und effektiver am Korpus gearbeitet werden kann, wobei weitere Perspektivierungsmöglichkeiten nicht damit ausgeschlossen werden dürfen. 4. Ebene des Textes Auf der Ebene des Textes werden spezifische Intertextualitätsphänomene hinsichtlich ihrer Perspektivität untersucht. Die juristischen Texte – vor allem im

53 Duden – Die Grammatik, 2006, S. 593. 54 Eisenberg, 2006, S. 219. 55 Vgl. Eisenberg, 2006, S. 233f.

80

4. Text- und diskurslinguistische Ansätze

Rechtsfindungsverfahren – vernetzen sich stark miteinander und bilden ein juristisches Textgeflecht. Gewichtung und Reformulierung stellen zwei empirisch bewährte, für die vorliegende Untersuchung wichtige Kategorien der intertextuellen Bezugnahme dar, bei denen besonderes Erkenntnisinteresse der Perspektivität besteht. 1) Gewichtung In einem juristischen Text wird manchmal Bezug auf einen anderen Text oder auf Sprachhandlungen in einem anderen Text genommen und hinsichtlich deren Geltung explizit gewichtet. Die unterschiedlichen Rechtsarbeiter gehen von divergierenden Standpunkten aus und gewichten andere Texte bzw. andere Sprachhandlungen aus eigener Perspektive jeweils anders. 2) Reformulierung In Bezug auf juristische Textarbeit besteht ein besonders starkes Erkenntnisinteresse daran, wie einzelne Sachverhalte, Strukturelemente, Argumente usw. in einem Text von anderen Texten aufgenommen und wiedergegeben werden, so dass durch die sprachliche Weiterverarbeitung andere Nuancierungen entstehen. Um dies näher zu qualifizieren, wird die Konzeption „Reformulierung“ von Steyer zugrunde gelegt. Im Anschluss an Gülich und Kotschi vertritt Steyer die Ansicht, dass eine Reformulierungsaktivität darin besteht, dass „ein Sprecher eine semantische Beziehung zwischen einem Bezugsausdruck (BA) und einem Reformulierungsausdruck (RA) herstellt“56. In ihrem Konzept wird der Terminus „Reformulierung“ in Übereinstimmung mit der einschlägigen Literatur sowohl für die „sprachliche textbildende Handlung“ als auch für „das Ergebnis dieser Handlung“ verwendet.57 An Reformulierungen können die Perspektivierungsversuche juristischer Funktionsträger besonders gut überprüft werden. Nach Steyer lassen sich drei Hauptfunktionen von Reformulierungen differenzieren – Information, (Um-)Interpretation und Bewertung,58 wobei die drei Funktionen in realen Reformulierungssituationen oft durchaus verzahnt werden können. Indem ein Sprecher eine Information aus einem anderen Text übernimmt und im eigenen Text wiedergibt, leitet er diese Information nicht nur dem anderen weiter, sondern er signalisiert mit seinen Reformulierungen (vor allem durch die Art und Weise, wie er seine Reformulierung sprachlich gestaltet), wie er die ursprüngliche Äußerung verstanden, interpretiert bzw. bewertet hat, und macht dies dem Hörer kenntlich und versucht dadurch die Interpretation des Hörers in gewissem Sinne zu steuern. Durch die Reformulierung ist es möglich, dass aufgrund der perspektivierten sprachlichen Zubereitung ein ganz anderes Stimmungsbild entsteht.

56 Steyer, 1994, S. 144. 57 Steyer, 1997, S. 44. 58 Vgl. Steyer, 1997, S. 67.

4.3. Das Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse

81

Das heißt, dass durch perspektivierte Reformulierungen Sinnverschiebungen, Auf-, Ab- und Umbewertungen und ggf. Uminterpretationen bewirkt werden können.59 Nach Steyer stellen Hinzufügungen, Selektionen und Kombinationsvarianten typische sprachliche Umgestaltungsmöglichkeiten bei der Reformulierung dar.60 Das hier angesetzte Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse kann in folgender Tabelle (Schaubild 11) zusammengefasst werden. Ebene der Lexik

1) Benennungskonkurrenz 2) Bedeutungskonkurrenz

Ebene der Syntagmen

1) Benennungskonkurrenz

Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit

1) Bereich grammatischer Grundformen

– Modusformen (Indikativ vs. Konjunktiv), andere Modalitätsmarkierungsmittel (z.B. Modalverben) – Genusformen (Aktiv vs. Passiv)

2) Bereich der Verknüpfungszeichen

– Präpositionen – Konjunktionen – Adverbien und Abtönungspartikeln

2) Verknüpfungsmodalität zwischen den einzelnen Zeichen

Bedeutungsrelationen: 1) kopulativ (additiv, alternativ) 2) temporal (vorzeitig, nachzeitig und gleichzeitig) 3) konditional 4) im weiteren Sinne kausal (im engeren Sinne kausal, konsekutiv, modal-instrumental, final, adversativ, konzessiv) 5) spezifizierend (explikativ, restriktiv) 6) vergleichend (komparativ, proportional) 3) Bereich der Kommentierungszeichen Ebene des Textes

– Kommentaradverbien (geltungsbezogen, bewertend) – Abtönungspartikeln

1) Gewichtung 2) Reformulierung – Information – (Um-)Interpretation – Bewertung

΍

– Hinzufügungen – Selektionen – Kombinationsvarianten

Schaubild 11: Das Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse

59 Vgl. Steyer, 1994, S. 149. 60 Vgl. Steyer, 1994, S. 149.

82

4. Text- und diskurslinguistische Ansätze

Die Untersuchung der Perspektivität soll in Wechselbeziehung zur Untersuchung der streitigen Sprecherhandlungen bzw. Sprechereinstellungen dazu beitragen, den vorliegenden linguistisch interessanten Rechtsdiskurs hinsichtlich der Streitigkeiten zu analysieren und systematisch auszulegen.

4.4. Resümee In diesem Kapitel werden die wichtigen text- und diskurslinguistischen Ansätze ausgeführt, da die vorliegende Arbeit die juristische Textarbeit in einem ausgesuchten Rechtsdiskurs zum Untersuchungsgegenstand macht. Der vorliegenden Textanalyse wird die dynamische Textauffassung zugrunde gelegt, nach der unter „Text“ alle strukturierten, absichtlichen Codierungs- und Decodierungsaktivitäten der Menschen verstanden werden. Die handelnden Menschen werden im Rahmen der textgestützten Kommunikation in den Mittelpunkt gestellt. Die zu untersuchenden Rechtstexte kommen nicht isoliert vor, sondern vernetzen sich zu einem Textgeflecht. Sie bilden durch ihren engen thematischen Zusammenhang einen Rechtsdiskurs, in dem verschiedene Rechtsarbeiter mittels unterschiedlicher juristischer Textsorten ihre institutionellen Funktionen ausüben. Die wichtigsten Textsorten dabei umfassen die Anklageschrift, die Berufung und die Revision, das Urteil und den Beschluss, das Protokoll, den Schriftsatz. Der diskursbasierte Rechtsstreit zwischen verschiedenen Rechtsarbeitern kann unter dem Gesichtspunkt der Perspektivität näher beleuchtet werden. Die Perspektivität ist ein grundlegendes Phänomen bei der Wahrnehmung und der Objektivation. Durch die Erläuterung der drei zusammenhängenden Grundbegriffe – Aspekt, Sehepunkt und Perspektive – soll klargestellt werden, dass jede Objektivation des Wahrgenommenen – sei es in Bildern, sei es in Sprachen – keine einfache Abbildung der realen Welt, sondern immer eine interpretative Repräsentation der Welt bzw. eine perspektivierte Konstruktion der Wirklichkeit darstellt. In Bezug auf die sprachliche Perspektivität kann man zwischen der kognitiven und der kommunikativen Perspektivität unterscheiden. Während unter der kognitiven Perspektivität solche Perspektivierungen erfasst werden, die sich als konventionalisierte immanente Muster in einem bestimmten Sprachsystem verfestigt haben, richtet sich kommunikative Perspektivität auf die konkreten Perspektivierungen eines Objektivationsvorgangs in realen Kommunikationssituationen. Durch die Untersuchung, welche unterschiedlichen Perspektivierungen die verschiedenen Rechtsarbeiter in ihrer textgestützten bzw. diskursbasierten Kommunikation vom jeweiligen Standpunkt aus geltend machen wollen, kann der Rechtsstreit transparent beschrieben werden.

4.4. Resümee

83

Inspiriert von der diskurslinguistischen Mehr-Ebenen-Analyse und dem Untersuchungsprogramm der pragma-semiotischen Textarbeit und mit Rücksicht auf die Perspektivitätsproblematik wird ein differenzierter Arbeitsansatz erstellt, um die streitigen Sprecherhandlungen in dem vorliegenden juristischen Diskurs systematisch zu analysieren. Das angesetzte Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse übernimmt die Grundgliederung des Untersuchungsprogramms der pragma-semiotischen Textarbeit und operiert mit vier Analyseebenen: Ebene der Lexik, Ebene der Syntagmen, Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit, Ebene des Textes. In die einzelnen Ebenen werden aufgrund der empirischen Untersuchung und unter Berücksichtigung vorhandener Ansätze differenzierte Untersuchungskategorien eingebaut, an denen besonderes Erkenntnisinteresse der Perspektivität besteht.

5. Zum Gegenstand der juristischen Kontroverse 5.1. Skizzierung der Kontroverse im juristischen Kontext In den sechs Rechtsfällen, die das Korpus der vorliegenden Arbeit bilden, geht es jeweils um die Frage, ob Pilze vom Pflanzenbegriff im Rahmen des Betäubungsmittelgesetzes erfasst werden können, so dass psilocin-/psilocybinhaltige Pilze als Betäubungsmittel klassifiziert werden und der Umgang mit solchen Pilzen unter den Wirkungsbereich des Betäubungsmittelgesetzes in der entsprechend der Tatzeit gültigen Fassung fällt. Diese Frage entspringt der Entwicklung der biologischen Sichtweise, die den Umfang des Pflanzenbegriffs umgestaltet und die Pilze als eigenständige Kategorie qualifiziert hat. Dass die Pilze-Pflanzen-Zuordnungsproblematik, die eigentlich keine rechtliche Fragestellung darstellt, einen derartigen Einfluss auf das Rechtsergebnis zu haben vermag, geht auf den juristischen Kontext zurück. Das Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland ist im Gegensatz zum angelsächsischen Recht eher normtextorientiert.1 Wie im Artikel 103 des Grundgesetzes formuliert wurde, legen Verfassung und Gesetze durch kodifizierte Normen das Recht fest und bestimmen, welche Handlungen verboten und strafbar sind. Die rechtsstaatliche Bestrafung setzt insofern voraus, dass die zu bestrafende Tat vom Wortlaut des Normtextes erfasst wird: Artikel 103 (2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Paragraphen, die den Schlüsselbegriff „Betäubungsmittel“ definieren und überhaupt den Ausgangspunkt aller sonstigen Vorschriften im Betäubungsmittelgesetz bilden, lauten wie folgt:2 § 1 Betäubungsmittel. (1) Betäubungsmittel im Sinne dieses Gesetzes sind die in den Anlagen I bis III aufgeführten Stoffe und Zubereitungen.

1 2

Vgl. Busse, 1989, S. 95. Strafgesetzbuch, 2007, S. 210.

86

5. Zum Gegenstand der juristischen Kontroverse

§ 2 Sonstige Begriffe (1) Im Sinne dieses Gesetzes ist 1. Stoff: eine Pflanze, ein Pflanzenteil oder ein Pflanzenbestandteil in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand sowie eine chemische Verbindung und deren Ester, Ether, Isomere, Molekülverbindungen und Salze – roh oder gereinigt – sowie deren natürlich vorkommende Gemische und Lösungen; Demnach werden nur diejenigen Stoffe oder Zubereitungen als Betäubungsmittel klassifiziert, die namentlich in den Anlagen I bis III als Betäubungsmittel aufgelistet worden sind. Die problematischen Wirkstoffe, welche die Pilze enthalten, sind Psilocin und/oder Psilocybin und werden in der Anlage I aufgeführt. Alle drei Anlagen erleben vielfach Veränderungen, die in mehreren Betäubungsmittelrechts-Änderungsverordnungen (BtMÄndV) kodifiziert werden. Darunter sind die zehnte, fünfzehnte und neunzehnte Betäubungsmittelrechts-Änderungsverordnung für die untersuchten Rechtsfälle von großer Bedeutung und wurden in den einzelnen Rechtstexten immer wieder zitiert. Die wichtigsten Veränderungen, welche die Pilze-Pflanzen-Problematik betreffen, befinden sich an der Textstelle nach dem letzten Gedankenstrich am Ende der Anlage I. Hierunter werden die entsprechenden Textstellen mit Unterstreichung relevanter Veränderungen wiedergegeben. 10. BtMÄndV 3 – Pflanzen und Pflanzenteile, Tiere und tierische Körperteile in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand mit in dieser oder einer anderen Anlage aufgeführten Stoffen, wenn sie als Betäubungsmittel mißbräuchlich verwendet werden sollen. 15. BtMÄndV 4 – Pflanzen und Pflanzenteile, Tiere und tierische Körperteile in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand mit in dieser oder einer anderen Anlage aufgeführten Stoffen, sowie Früchte, Pilzmycelien,5 Samen, Sporen und Zellkulturen, die zur Gewinnung von Organismen mit in dieser oder einer anderen Anlage aufgeführten Stoffen geeignet sind, wenn ein Mißbrauch zu Rauschzwecken vorgesehen ist. 19. BtMÄndV 6 – Organismen und Teile von Organismen in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand mit in dieser oder einer anderen Anlage aufgeführten Stoffen sowie die

3 4 5 6

Bundesrat, 1997, S. 3. Bundesrat, 2001, S. 12. Da in den entsprechenden Gesetzestexten und den hier untersuchten Rechtstexten immer die Wortform „Pilzmycelien“ statt der Standardform „Pilzmyzelien“ verwendet ist, wird sie auch von der vorliegenden Arbeit übernommen. Bundesrat, 2004, S. 2.

5.2. Die Rechtsfälle im Überblick

87

zur Reproduktion oder Gewinnung dieser Organismen geeigneten biologischen Materialien, wenn ein Missbrauch zu Rauschzwecken vorgesehen ist. Seit der 10. BtMÄndV wurde auch die natürliche Form, in der die problematischen Stoffe vorkommen, vom BtMG erfasst. Durch die 15. BtMÄndV sind auch Früchte, Pilzmycelien usw., die zur Gewinnung von Organismen mit den verbotenen Stoffen geeignet sind, dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt. Solange die Pilze der Kategorie „Pflanze“ angehören, werden sie, wenn sie Stoffe wie Psilocin oder Psilocybin enthalten und als Betäubungsmittel missbräuchlich verwendet werden, als natürlich vorkommende Form gesetzwidriger Stoffe vom Betäubungsmittelgesetz erfasst. Aber die biologische Zuordnung von Pilzen erlebt während des Zeitraums, in dem die Straftaten der einzelnen Rechtsfälle erfolgten, eine neue Entwicklung, welche die Pilze nicht mehr als Subgruppe der Kategorie „Pflanze“, sondern als eigenständige Kategorie neben Pflanzen und Tieren etikettiert. Daraus ergibt sich die juristische Kontroverse, welchen Einfluss dieser biologisch motivierte Bedeutungswandel auf die juristische Auslegung des Pflanzenbegriffs im Betäubungsmittelgesetz nehmen sollte. Erst ab der 19. BtMÄndV, in der durch die Verwendung des umfassenden Begriffes „Organismen“ die Kategorie „Pilze“ auf jeden Fall mitberücksichtigt wird, ist die schwierige rechtliche Zuordnung behoben.

5.2. Die Rechtsfälle im Überblick Obwohl es bei den Rechtsfällen im Grunde genommen um das gleiche Problem geht, liegen diesen Fällen jedoch etwas anders gelagerte Sachverhalte und somit auch unterschiedlich strukturierte Verhandlungen zugrunde. Aus Übersichtsgründen werden hier die behandelten Fälle hinsichtlich der wesentlichen Rechtslage im Instanzenzug synoptisch vorgestellt. 1) Rechtsfall 1 (Schaubild 12) – Die Staatsanwaltschaft Bamberg legte aufgrund ihrer Ermittlung dem Angeschuldigten die Sachverhalte zur Last, dass er zwischen 2001 und 2005 in einer Vielzahl von Fällen über Versandhandel und Ladengeschäft psilocybin- und psilocinhaltige Pilze verkaufte. Der Angeklagte wurde beschuldigt, in 55 Fällen vorsätzlich mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unerlaubt Handel getrieben zu haben und in 16 weiteren Fällen vorsätzlich und gewerbsmäßig mit Betäubungsmitteln unerlaubt Handel getrieben zu haben. – Das Landgericht Bamberg verurteilte den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 8 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 8 Monaten. Gegen das Urteil des Landgerichts Bamberg legte der Rechtsanwalt des

88

5. Zum Gegenstand der juristischen Kontroverse

Schaubild 12: Skizze des textgestützten Instanzenzugs vom Rechtsfall 1



Angeklagten mit dem Ziel des Freispruchs Revision ein, in der er sich auf das Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 15. März 2006 berief und demnach die Pilze nicht dem Begriff „Pflanzen“ zuordnen wollte. Der Bundesgerichtshof verwarf in seinem Beschluss die Revision des Angeklagten als unbegründet und vertrat die Ansicht, dass die Pilze für den Tatzeitraum (von Anfang 2001 bis Mitte des Jahres 2004) doch vom Pflanzenbegriff des Betäubungsmittelgesetzes erfasst werden.

2) Rechtsfall 2 (Schaubild 13) – Von der Staatsanwaltschaft Koblenz wurde der Angeschuldigte angeklagt, am 09. April 2004 in der Gemarkung Neustadt/Wied und anderen Orten durch ein und dieselbe Handlung a) mit Betäubungsmitteln gewerbsmäßig unerlaubt Handel getrieben zu haben und b) Betäubungsmittel unerlaubt eingeführt zu haben. In der Anklageschrift wurde weiterhin noch berichtet, dass der Angeschuldigte unter Drogeneinfluss Auto fuhr. Auf die Anklageschrift hin schrieben der Angeklagte und seine Rechtsanwältin an das in dieser Strafsache zuständige Amtsgericht Linz und bestritten die Klassifikation der entsprechenden Pilze als Betäubungsmittel. – Das Amtsgericht Linz verurteilte den Angeklagten wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu 30 Euro. Im Übrigen – vor allem bezüglich des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln – wurde er freigesprochen. Gegen dieses Urteil legten die Staatsanwaltschaft mit dem Anspruch, den Angeklagten dennoch

5.2. Die Rechtsfälle im Überblick

89

Schaubild 13: Skizze des textgestützten Instanzenzugs vom Rechtsfall 2





wegen unerlaubten gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu verurteilen, und der Angeklagte mit dem Ziel des Freispruchs Berufung ein. Bis zur neuen Verhandlung bei dem Landgericht Koblenz legten die Staatsanwaltschaft und die Rechtsanwältin durch Schriftsätze ihre unterschiedlichen Rechtspositionen gegenüber dem Rechtsproblem dar, ob der Umgang mit Pilzen vom Betäubungsmittelgesetz erfasst werden kann. Das Landgericht Koblenz hob auf die Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft hin das Urteil des Amtsgerichts auf und verurteilte den Angeklagten wegen vorsätzlichen Führens eines Kraftfahrzeuges im Straßenverkehr unter dem Einfluss eines berauschenden Mittels zu einer Geldbuße von 250 Euro. Gegen dieses Urteil legte die Staatsanwaltschaft Revision mit dem Antrag ein, das Urteil vom Landgericht Koblenz aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Koblenz zurückzuverweisen. Die Revision der Staatsanwaltschaft wurde vom Oberlandesgericht Koblenz im Urteil vom 15. März 2006 als unbegründet verworfen. Nach der Rechtsposition des Oberlandesgerichts Koblenz fielen die Pilze zur Tatzeit (im Jahre 2004) nicht mehr in den Anwendungsbereich des Betäubungsmittelgesetzes.

90

5. Zum Gegenstand der juristischen Kontroverse

3) Rechtsfall 3 (Schaubild 14)

Schaubild 14: Skizze des textgestützten Instanzenzugs vom Rechtsfall 3





Die Staatsanwaltschaft legte den Angeschuldigten P. und M. den Sachverhalt zur Last, in der Zeit zwischen März 2004 bis November 2004 mit psilocinhaltigen Pilzen in verschiedenen Orten Handel getrieben zu haben. Die Angeschuldigten G. und L. als verantwortlich Handelnde eines Geschäfts, an das die Pilze geliefert und in dem diese weiter veräußert wurden, wurden strafrechtlich mitverfolgt. Sie wurden angeklagt, gemeinschaftlich unerlaubt mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben bzw. gemeinschaftlich gewerbsmäßig unerlaubt mit Betäubungsmitteln Handel getrieben zu haben. In einer weiteren Nachtragsanklage wurden die Angeschuldigten P. und M. zusätzlich noch wegen der Veräußerung von mescalinhaltigen Kakteen angeschuldigt. Sie wurden angeklagt, vorsätzlich unerlaubt mit Betäubungsmitteln Handel getrieben zu haben. Das Amtsgericht Mannheim hat die Angeklagten von beiden Vorwürfen freigesprochen. Der Richter vertrat – in Berufung auf die Argumentationskette des OLG Koblenz – die Position, dass der Handel mit Pilzen zur Tatzeit nicht strafbar war, weil die Pilze wegen des Bedeutungswandels des Pflanzenbegriffs als Lebewesen eigener Art gelten. In Bezug auf die Kakteen besteht nach Ansicht des Richters keine zu einer Verurteilung hinreichende Gewissheit darüber, dass die Angeklagten die Kakteen zum Missbrauch als Rauschgift veräußerten. Gegen das Urteil legte die

5.2. Die Rechtsfälle im Überblick



91

Staatsanwaltschaft Revision ein. Hierbei hat sie vor allem die Auslegung des Pflanzenbegriffs des Amtsgerichts Mannheim bestritten. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hin hat das Oberlandesgericht Karlsruhe das Urteil des Amtsgerichts Mannheim aufgehoben. Nach Ansicht des Oberlandesgerichts Karlsruhe erfassen im Tatzeitraum die Strafvorschriften des BtMG auch den Umgang mit psilocinhaltigen Pilzen, selbst wenn aus heutiger wissenschaftlicher Sicht Pilze keine Pflanzen sind. Auch die rechtliche Beurteilung des Amtsgerichts Mannheim bezüglich der Kakteen hat das Oberlandesgericht Karlsruhe aufgehoben.

4) Rechtsfall 4 (Schaubild 15)

Schaubild 15: Skizze des textgestützten Instanzenzugs vom Rechtsfall 4



Die Staatsanwaltschaft Schweinfurt legte aufgrund ihrer Ermittlung den drei Angeschuldigten H., R. und A. die Sachverhalte zur Last, dass sie im Ladengeschäft und über das Internet unerlaubt Betäubungsmittel wie Knasterhanf und psilocybinhaltige Pilze enthaltende Airfresher vertrieben. Die Angeschuldigten wurden angeklagt, gemeinschaftlich gewerbsmäßig vorsätzlich unerlaubt mit Betäubungsmitteln Handel getrieben zu haben. Der Angeschuldigte R. wurde darüber hinaus angeklagt, durch dieselbe Handlung Betäubungsmittel an eine Person unter 18 Jahren abgegeben zu haben. In einem weiteren Beschluss des Amtsgerichts Bad Kissingen wird auf Antrag der Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den Angeklagten H. vorläufig eingestellt.

92 –







5. Zum Gegenstand der juristischen Kontroverse

Das Amtsgericht Bad Kissingen hat die beiden Angeklagten R. und A. wegen des gewerbsmäßigen vorsätzlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu jeweils einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten und einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 25 Euro verurteilt. Nach Ansicht des Richters galt der Vorwurf nur der Veräußerung des Knasterhanfs. In Bezug auf den Verkauf der Airfresher, die psilocybinhaltige Pilze enthielten, wurden die Angeklagten wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums von dem Vorwurf freigesprochen, weil Pilze nach aktuellen botanischen Erkenntnissen nicht zur Kategorie „Pflanze“ gehören. Gegen dieses Urteil legten sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Rechtsanwälte beider Angeklagten Revision ein. Die Staatsanwaltschaft bestritt die Rechtsposition des Amtsgerichts Bad Kissingen über das Vorliegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums bezüglich der psilocybinhaltigen Pilze. Die Rechtsanwälte beider Angeklagten befürworteten diese Klassifikation, rügten aber die Verletzung formellen und materiellen Rechts mit dem Fokus auf die Verurteilung wegen des Handels mit dem Knasterhanf. Das Bayerische Oberste Landesgericht vertrat die Ansicht, dass sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Rechtsanwälte beider Angeklagten mit ihrer Revision Erfolg hatten. Nach Meinung der Richter entspricht der Pflanzenbegriff des Betäubungsmittelrechts abweichend von spezifischen naturwissenschaftlichen Unterscheidungen dem allgemeinen Sprachverständnis, wobei die Pilze doch den Pflanzen zugerechnet werden. Das Urteil des Amtsgerichts Bad Kissingen wurde aufgehoben. Die Sache wurde zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Bad Kissingen zurückverwiesen. Das Amtsgericht Bad Kissingen hat den Angeklagten R. wegen der Beihilfe zum vorsätzlichen unerlaubten gewerbsmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen in Bezug auf die psilocybinhaltigen Pilze zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt. Das Verfahren gegen den Angeklagten A. wurde wegen dessen Wegzugs abgetrennt.

5) Rechtsfall 5 (Schaubild 16) – Die Staatsanwaltschaft Hamburg legte aufgrund ihrer Ermittlung dem Angeschuldigten die Sachverhalte zur Last, dass er in Hamburg im Zeitraum vom 16.09.2001 bis zum 16.04.2002 Duftkissen mit getrockneten psilocybinhaltigen Pilzen bestellte bzw. veräußerte und dass er in den von ihm privat genutzten Räumen psilocybinhaltiges Pilzmaterial, Haschisch, Opium und MDMA aufbewahrte. Der Angeschuldigte wurde angeklagt, gewerbsmäßig unerlaubt mit Betäubungsmitteln Handel getrieben und vorsätzlich unerlaubt Betäubungsmittel besessen zu haben.

5.2. Die Rechtsfälle im Überblick

93

Schaubild 16: Skizze des textgestützten Instanzenzugs vom Rechtsfall 5



Das Amtsgericht Hamburg verurteilte den Angeklagten wegen vorsätzlichen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln. In Bezug auf das vorgeworfene Handeltreiben mit Betäubungsmitteln wurde der Anklagte freigesprochen. Das Gericht vertrat die Ansicht, dass Pilze keine Pflanzen im Sinne der Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG sind. Da die in den Anlagen genannten Begriffe allesamt wissenschaftlicher Art sind, kommt es für die Auslegung des Pflanzenbegriffs nicht auf den allgemeinen Sprachgebrauch an, sondern auf die spezifische wissenschaftliche Begrifflichkeit.

6) Rechtsfall 6 7 (Schaubild 17) – Aus der Ermittlung der Staatsanwaltschaft Köln ergab sich, dass die Angeschuldigten in der Zeit von August 2000 bis Juni 2001 Duftkissen, gefüllt mit psilocybinhaltigen Pilzen, von unterschiedlichen Quellen bezogen und an verschiedene Endabnehmer und Wiederverkäufer veräußerten. Sie wurden angeklagt, gemeinschaftlich durch 18 selbständige Handlungen mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unerlaubt Handel getrieben zu haben. – Gegen das Urteil des Schöffengerichts in Brühl hat die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt. Auf diese Berufung hin wurde die Hauptverhandlung des Landgerichts Köln eröffnet. Hierbei beantragte die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von insgesamt einem Jahr. Die Verteidiger der Angeklagten beantragten dagegen den Freispruch und die Zurückweisung der Berufung. Das Landgericht Köln hat die Angeklagten des unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln schuldig gesprochen und

7

Wegen der begrenzten Zugangsmöglichkeit gelangt man hier nur zu drei Rechtstexten – der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Köln, dem Sitzungsprotokoll des Landgerichtes Köln und dem Beschluss des Oberlandesgerichtes Köln. Der Instanzenzug und die einzelnen Ausführungen werden den vorhandenen Rechtstexten entnommen.

94

5. Zum Gegenstand der juristischen Kontroverse

Schaubild 17: Skizze des textgestützten Instanzenzugs vom Rechtsfall 6



zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 30 Euro verurteilt. Gegen das Urteil haben die Angeklagten Revision eingelegt. Sie beantragten die Aufhebung des Urteils des Landgerichts Köln und ihre Freisprechung. Das Oberlandesgericht Köln hat auf die Revision der Angeklagten hin beschlossen, das angefochtene Urteil mit seinen Feststellungen aufzuheben. Das Gericht vertrat die Ansicht, dass das Landgericht in Bezug auf die Klassifikation der psilocybinhaltigen Pilze als Betäubungsmittel Recht hat. Aber die Urteilsfeststellungen des Landgerichts zum Vorliegen einer nicht geringen Menge von Betäubungsmitteln sind nach Meinung des Oberlandesgerichtes nicht vollständig.

6. Streitige Sprecherhandlungen im Rahmen grundlegender Sprachhandlungstypen – anhand der Kontroverse zwischen BGH und OLG Koblenz Die empirische Untersuchung, deren Ergebnisse in den folgenden drei Kapiteln dargestellt werden sollen, basiert auf dem Gedankengebäude der Strukturierenden Rechtslehre und legt zur Explizierung des Rechtsstreits zwei linguistische Methoden zugrunde. Einerseits gilt die Konkretisierung des Rechtsstreits anhand von realisierten streitigen Sprecherhandlungen. Da in Anlehnung an pragmatische Ansätze die Rechtsarbeiter mit ihren Rechtstexten textbasierte Sprachhandlungen vollzogen haben, kann der Rechtsstreit adäquat durch die Aufführung streitiger Sprecherhandlungen zwischen verschiedenen Parteien ausgelegt werden. Um die Darstellung zu systematisieren, müssen die einzelnen Sprecherhandlungen zu größeren Kategorien zusammengefasst werden. Dafür wird zunächst das Modell der drei grundlegenden juristischen Sprachhandlungstypen zugrunde gelegt.1 Auf deren Basis werden durch die empirische Untersuchung differenzierte Subkategorien herausgearbeitet. Gemäß diesem differenzierten Modell strukturiert sich die gesamte Auslegung der Untersuchungsergebnisse. Dieses Modell wird zum Schluss dieses Kapitels mittels einer Graphik zusammengefasst und näher erläutert (6.4). Andererseits wird der Untersuchung der im theoretischen Teil entwickelte Ansatz zur perspektivitätsorientierten Textanalyse mit besonderer Rücksicht auf die Perspektivitätsproblematik zugrunde gelegt.2 Bei den streitigen Sprecherhandlungen rücken die Rechtsarbeiter von unterschiedlichem Standpunkt aus oft unterschiedliche Perspektivierungen in den Vordergrund. Insofern gilt die Perspektivierung als wichtige Form der sprachlichen Zubereitung und als bedeutende Beschreibungsdimension zur Explizierung des Rechtsstreits. Die empirische Untersuchung der vorliegenden Arbeit besteht aus insgesamt 6 Rechtsfällen. Zunächst werden in diesem Kapitel anhand von zwei

1 2

Ausführlich siehe Abschnitt 3.2.2.2. der vorliegenden Arbeit. Siehe Abschnitt 4.3. der vorliegenden Arbeit.

96

6. Streitige Sprecherhandlungen

ausgesuchten, relevanten Rechtsfällen (BGH 1 StR 284/06 vs. OLG Koblenz 1Ss 341/05)3 die streitigen Sprecherhandlungen unter Berücksichtigung der unternommenen Perspektivierungsanstrengungen in ausführlichem Umfang dargestellt. Dass die beiden Rechtsfälle zur detaillierten Darstellung der Analyse ausgewählt werden, ergibt sich aus folgenden Gründen: – Beide Rechtsfälle haben sich jeweils bis zur Instanz von Obergerichten entwickelt. Der Bundesgerichtshof gilt als das oberste Gericht des Bundes in Straf- und Zivilrechtssachen, die Oberlandesgerichte entscheiden letztinstanzlich auf der Ebene eines Bundeslandes. Das rechtfertigt die grundlegende rechtliche Bedeutsamkeit beider Rechtsfälle. Dies bestätigt auch die Tatsache, dass sie beide immer wieder von anderen Rechtsarbeitern zitiert werden. – Die beiden Rechtsfälle laufen auf genau entgegengesetzte Ergebnisse hinaus, obwohl sie beide von höchstinstanzlichen Gerichten und in demselben Jahr – mit einem zeitlichen Abstand von lediglich sieben Monaten – entschieden wurden. Sie stehen wegen der gemeinsamen Rechtsfrage in engem Zusammenhang. Der Bundesgerichtshof ist sogar in seinem Beschluss explizit auf das Urteil des OLG Koblenz eingegangen und hat darauf Bezug genommen. – Beide Rechtsfälle wollten bahnbrechenderweise den allgemeinen Sprachgebrauch über eine Internet-Sprachgebrauchsrecherche ermitteln. Das ist aus linguistischer Perspektive von höchstem Interesse. Die unterschiedlichen Streitpunkte, zu denen die verschiedenen Rechtsarbeiter kontroverse Sprecherhandlungen vollzogen haben, werden mit „*****“ voneinander abgetrennt. Die zitierten Texte aus dem Korpus werden in Kursivschrift wiedergegeben. Die entsprechenden Textquellen werden in spitzen Klammern hinter dem zitierten Text angegeben.

6.1. Sachverhalt-Festsetzen Den Ausgangspunkt juristischer Textarbeit bildet das Festsetzen des Sachverhalts. Jedem Rechtsprozess liegt ein rechtlich zu beurteilender Fall aus dem Alltag zugrunde. Von den verschiedenen Parteien werden an dem, was tatsächlich geschehen ist, je nach der Position unterschiedliche Sachverhaltseigenschaften oder Perspektiven herausgearbeitet und gegenüber anderen dominant positioniert, so dass ein und dasselbe Geschehnis zu unterschiedlichen Sachverhaltsgebilden nuanciert wird. 3

BGH und OLG Koblenz sind die jeweils höchste Instanz der beiden Rechtsfälle.

6.1. Sachverhalt-Festsetzen

97

6.1.1. Fallorientiertes Sachverhalt-Festsetzen Die Subkategorie des fallorientierten Sachverhalt-Festsetzens umfasst Sprecherhandlungen, die sich hauptsächlich auf den auszuhandelnden Sachverhalt richten. Darunter können wieder zwei Gruppen differenziert werden, und zwar mit dem jeweiligen Schwerpunkt auf dem objektivierten Ereignis und auf den subjektiven Einstellungen. 6.1.1.1. Festsetzungen in Bezug auf das objektivierte Ereignis Diese Gruppe umfasst festsetzende Sprecherhandlungen, die sich mehr mit den sachlichen Sachverhaltseigenschaften am realen Geschehnis auseinandersetzen. – Rechtsfall 1 Die psilocybin- und psilocinhaltigen Pilze verkaufte der Angeklagte in seinem Laden nicht als solche, sondern als „Duftkissen“ oder „Duftdosen“. Diese Einzelheit wird in den Texten immer wieder aufgenommen, aber sprachlich unterschiedlich konturiert. In der Anklageschrift wird durch die Verwendung der Aktionsverben „tarnen“, „deklarieren“ und der Ausdrücke „die Fassade aufbauen“ die verdeckende Handlung des Angeklagten zwar hervorgehoben, aber die Intention der Verdeckung wird an diesen Stellen nicht expliziert. Den Verzehr als wahren Bestimmungszweck der von ihm gehandelten psilocybinsowie psilocinhaltigen Pilze tarnte er durch Deklarierung als „Duftkissen“ und „Duftdosen“, letztere mit Füllmengen von 5 Gramm bzw. 2,5 Gramm bzw. 1 Gramm .4 Die als Duftdosen deklarierten Dosen stellte der Angeschuldigte nicht offen aus, sondern lagerte sie für Kunden unsichtbar unter der Ladentheke . Er baute (nicht gegenüber seinen Kunden, wohl aber) gegenüber potentiell gegen ihn ermittelnder [sic] Behörden aber auch Finanzbehörden, von ihm mit Buchführung oder Rechtsberatung beauftragten Personen die Fassade eines „Duftartikelhandels“ auf . In dem Urteil des LG Bamberg wird der Aktion, die Pilze als Duftdosen oder Airfresher zu vertreiben, durch die finale Ergänzung um so deren Verwendung

4

Der zitierte Text aus dem Korpus wird in der vorliegenden Arbeit in Kursivschrift wiedergegeben. Die Textquelle wird in spitzen Klammern angegeben. Wie in Abschnitt 1.3.3. der vorliegenden Arbeit bereits dargelegt wird, bedeutet z.B. die Quellenangabe : Rechtsfall 1, erste Instanz, Anklageschrift, Seite 3.

98

6. Streitige Sprecherhandlungen

als Betäubungsmittel zu kaschieren , eine Intention zugeschrieben. Innerhalb dieser Sprecherhandlung werden Relationen zwischen den beiden Sachverhalten „Pilze als Duftdosen verkaufen“ und „die Verwendung als Betäubungsmittel kaschieren“ an der Textoberfläche hergestellt, indem die Richter den einen Sachverhalt nutzen, um dem anderen eine bestimmte Intention zu unterlegen. Unter linguistischen Gesichtspunkten der Polyfunktionalität kann diesbezüglich noch postuliert werden, dass der Textproduzent durch diese Formulierung gleichzeitig eine Sprecherhandlung der Sachverhaltsklassifizierung vollzieht, indem er die Pilze ohne weitere Diskussion als Betäubungsmittel identifiziert. An einer weiteren Textstelle wird in diesem Zusammenhang noch auf den fischartigen Geruch der Pilze hingewiesen: […] diese entwickeln einen unangenehmen, fischartigen Geruch . Im Beschluss des BGH wird diese Aktion in der sprachlichen Darstellung wieder anders profiliert. Er veräußerte die Pilze anschließend gewinnbringend an gewerbliche und nichtgewerbliche Abnehmer, nachdem er sie – trotz ihres unangenehmen fischigen Geruchs – in „Duftdosen“ und „Duftkissen“ gefüllt hatte, um ihre Bestimmung für den Konsum zu verschleiern . Durch die Präpositionalphrase trotz ihres unangenehmen fischigen Geruchs wird anders als die separate Ausführung im Urteil des LG Bamberg das Element des Geruchs in die Aktionskette des Angeklagten eingebaut. Mit der Präposition „trotz“ wird eine derartige Verknüpfung zwischen den einzelnen Elementen zustande gebracht, welche die von der gewöhnlichen Erwartung abweichende Handlung des Angeklagten unterstreicht. Ähnlich wie bei dem LG Bamberg wird der Aktion durch eine finale Um-zu-Struktur eine Intention aufgeladen. Aber anders als bei dem LG Bamberg spricht der BGH nur von der Verschleierung des Konsums. Eine weiterführende klassifizierende Sprecherhandlung der Pilze als Betäubungsmittel ist jedoch nicht angenommen. * * * * * In der Anklageschrift wird in getrennten Abschnitten berichtet, dass der Angeklagte keine Belege über die Ankäufe der Pilze von den Lieferanten in seine Buchführung aufnahm und dass Rechnungen und Aufstellungen über die Verkäufe bei ihm aufgefunden werden konnten . Die beiden in der Anklageschrift nicht korrelierten Sachverhalte werden allerdings in der Fallerzählung des Urteils der Richter des LG Bamberg mit dem Adverb „demgegenüber“ in eine kontrastive Beziehung gesetzt: Aufzeichnungen über den oder die Lieferanten, insbesondere Lieferscheine und/ oder Rechnungen konnten in den Geschäfts- und Privaträumen des Anklagten nicht aufgefunden werden. Demgegenüber fertigte der Angeklagte Rechnungen über die von ihm an gewerbliche Weiterverkäufer getätigten Lieferungen, die bei

6.1. Sachverhalt-Festsetzen

99

Versand erfolgten, an, die er auch aufbewahrte, um so den Anschein zu erwecken, dass er den Verkauf für legal hielt . Mit der Gegenüberstellung unterschiedlicher Behandlung beider Papiere, die im Wesentlichen von der gleichen Art – Buchführung für das Geschäft – sind, wird die Inkonsequenz der Handlung des Angeklagten aus dem gesamten kontinuierlichen Geschehnis hervorgehoben. * * * * * Ein weiterer interessanter Beleg zeigt sich in dem jeweils anders postulierten Wirkstoffgehalt von Psilocin bzw. Psilocybin in den Pilzen. In der Anklageschrift wird schlicht behauptet, dass der Wirkstoffgehalt 0,15% betrug . Im Urteil des LG Bamberg wird in relativ ausführlichem Umfang über die Untersuchungsergebnisse des Sachverständigen berichtet. Aufgrund des Durchschnittswerts wird der Wirkstoffgehalt zugunsten des Angeklagten auf 0,08% geschätzt . Die Revision seitens des Angeklagten hat sich sehr eingehend mit der Akzeptabilität der Untersuchung des LG Bamberg auseinandergesetzt und kommt zu dem Ergebnis, dass der Wirkstoff auf unter 0,01% kalkuliert werden sollte . Im Rahmen dieser Sprecherhandlung des Rechtsanwaltes wird gleichzeitig eine Sprechereinstellung geäußert, dass er den vom LG Bamberg angenommenen Wert zu hoch fand und dass dieser Wert zugunsten des Angeklagten herabgesetzt werden sollte. Diese Sprechereinstellung berücksichtigte der BGH jedoch nicht. Ohne auf die eigentlich gegeneinander kämpfenden Sprecherhandlungen des LG Bamberg und der Revision einzugehen, übernahm er den vom LG Bamberg festgesetzten Wert von 0,08% . Dieser Wert wird von den Richtern des BGH im Beschluss so festgesetzt, als ob er überhaupt nicht strittig sei. An diesem Beispiel lässt sich auch verdeutlichen, welchen Einfluss die Diskurserfahrung auf das umfassende Verständnis des Rezipienten bezüglich des einzelnen Diskursfragments zu nehmen vermag. Wenn man den Beschluss vom BGH isoliert läse, könnte man den Wert 0,08% eher als eine einfache ontisch gegebene Tatsache, nicht aber als ein unter konkurrierenden Meinungen durchgesetztes Ergebnis ansehen. – Rechtsfall 2 Diesem Fall liegt als Sachverhalt zugrunde, dass der Angeklagte Pilze, die zum Teil psilocinhaltig sind, aus den Niederlanden in die Bundesrepublik Deutschland einführte. Er hat insgesamt 12 Packungen frischer Pilze mit je 6 × 30g „San Isodoro“ und 6 × 15g „Philosopher Stones“ eingeführt. Nur die Pilze des Typs „San Isodoro“ enthalten den verbotenen Wirkstoff Psilocin. Nach dem Trocknen beträgt das Gewicht der Pilze „San Isodoro“ 12,1g. Von den verschiedenen Parteien wird bezüglich der Menge und des Zustands der Pilze unterschiedlich gesprochen, so dass im Rahmen des Sprachhand-

100

6. Streitige Sprecherhandlungen

lungstyps des Sachverhalt-Festsetzens mit divergierenden Sprecherhandlungen eine andere Fokussierung vorgenommen wird. In der Anklageschrift , welche die Verurteilung des Angeklagten wegen Verstoßes gegen das BtMG anstrebte, und dem Urteil der ersten Instanz (vom AG Linz) , das die Rechtsposition der Staatsanwaltschaft übernahm und den Angeklagten auch tatsächlich wegen des Verstoßes gegen das BtMG verurteilte, wird nur der Pilztyp „San Isodoro“ in seinem Netto-Gewicht nach dem Trocknen erwähnt. Mit diesen selektierenden Sprecherhandlungen wird beim Sachverhalt-Festsetzen die Fokussierung auf den einen der beiden vorhandenen Pilztypen gesetzt. Dadurch werden die problematischen Pilze aus dem gesamten Geschehnis herausgehoben. Demgegenüber werden im Urteil der zweiten Instanz (vom LG Koblenz) , das den Angeklagten nicht wegen des Verstoßes gegen das BtMG, sondern nur wegen vorsätzlichen Führens eines Kraftfahrzeugs unter Rauschgifteinfluss verurteilte, beide Pilztypen genannt, ohne schon von vornherein die Aufmerksamkeit des Rezipienten gleich auf die problematischen Pilze zu lenken, wie es bei der Staatsanwaltschaft und der Richterin des AG Linz der Fall ist. Anders als in der Anklageschrift und im Urteil des AG Linz, die im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens von getrockneten Pilzen ausgehen, betonen der Angeklagte in seinem Schriftsatz an das AG Linz und die Rechtsanwältin des Angeklagten an mehreren Stellen in ihrem Schriftsatz an das AG Linz und in ihrer Berufungsschrift das Merkmal des frischen Zustandes der Pilze, um auf dieser Basis die Pilze als Lebensmittel klassifizieren zu können. Linguistisch gesehen bereitet der Rechtsarbeiter schon im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens den Sachverhalt derart zu, dass sich eine weitergehende Sprecherhandlung des Sprachhandlungstyps der rechtlichen Klassifikation aufgrund der sprachlich akzentuierten Sachverhaltseigenschaft ergibt. Im Weiteren gehen der Angeklagte und die Rechtsanwältin davon aus, dass die Trocknung, die vom Sachverständigen unternommen wurde, Auswirkung auf die Wirkung der Pilze hat . * * * * * Ziemlich unglaubhafte Unterschiede zeichnen sich bei den Festsetzungen hinsichtlich einer anderen Tatsache ab, ob der Angeklagte unter Einfluss berauschender Mittel sein Fahrzeug geführt hatte. Der in der Anklageschrift erwähnte und angeklagte Sachverhalt, dass der Angeklagte unter Drogeneinfluss seinen PKW führte, wird von diesem in seinem Schriftsatz an das AG Linz bestritten und im Urteil vom AG Linz im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens ersatzlos gestrichen .

6.1. Sachverhalt-Festsetzen

101

Nach erneuter Verhandlung kehrt in den Urteilen des LG Koblenz und des OLG Koblenz dieser vom AG Linz sprachlich unterdrückte Sachverhalt wieder in die sprachliche Darstellung ein . Ausführlicher als in der Anklageschrift, die lediglich mit einem schlichten Satz wobei er den hierbei benutzten PKW Opel Omega, amtliches Kennzeichen SZ 7****, unter Drogeneinfluss führte dieses Sachverhaltssegment in seinem objektiv feststellbaren Geschehen skizziert, wird in den Urteilen des LG Koblenz und des OLG Koblenz nicht nur über den gesamten Vorgang, sondern auch über die subjektiven Kenntnisse des Angeklagten berichtet. Durch eingehende Beschreibung des ungewöhnlichen Körperzustands des Angeklagten und die Angabe vom Ergebnis einer Blutprobe wird die deklarative Sprecherhandlung der Richter des LG Koblenz, die den Zustand des Angeklagten beim Fahren als unter der Wirkung des berauschenden Mittels festsetzt, in ihrer Glaubwürdigkeit bestärkt. In den dabei verwendeten gemeinsprachlichen Ausdrücken könnte und nahm billigend in Kauf vollzieht sich gleichzeitig eine für Laien quasi unsichtbare juristische Wertung zum Eventualvorsatz: Er führte die Fahrt mit dem PKW auf öffentlichen Straßen auch in dem Bewusstsein durch, dass er noch unter der Wirkung des berauschenden Mittels stehen könnte; dies nahm er zumindest billigend in Kauf . Denn beide verweisen jeweils grammatisch und semantisch auf die Merkmale „für-möglich-halten“ und „sich-abfinden“ des Eventualvorsatzes.5 An diesem Beispiel lässt sich verdeutlichen, wie der Rechtsarbeiter durch sprachlichen Zugriff einen textgestützten Abgleich zwischen Lebenssachverhalt und Tatbestandsmerkmal hervorbringt. 6.1.1.2. Festsetzungen in Bezug auf subjektive Einstellungen Dabei handelt es sich um Festsetzungen, die im Bereich der subjektiven Einstellungen des Angeklagten angesiedelt sind und ebenfalls als Eingangsdaten zu dem der rechtlichen Beurteilung vorgelegten Sachverhalt gerechnet werden.6

5

6

In Bezug auf den Vorsatz des Täters sind drei Erscheinungsformen zu unterscheiden: die Absicht, der direkte Vorsatz und der Eventualvorsatz. Absicht gilt als gesteigerte Form des direkten Vorsatzes und ist dann gegeben, wenn es dem Täter gerade darauf ankommt, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges herbeizuführen oder den Umstand zu verwirklichen. Direkter Vorsatz ist zu bejahen, wenn der Täter weiß oder als sicher voraussieht, dass sein Handeln zur Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes führt. Eventualvorsatz liegt vor, wenn der Täter ernstlich für möglich hält und sich damit abfindet, dass sein Verhalten zur Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes führt. Vgl. Wessels, 1996, S. 60ff. Der Übergang von den mehr objektiven Sachverhaltseigenschaften zu den mehr subjektiven Einstellungen ist eher fließend anzunehmen. Diese Differenzierung ergibt sich

102

6. Streitige Sprecherhandlungen

– Rechtsfall 1 Über die subjektiven Einstellungen, wie der Angeklagte den Verwendungszweck der von ihm veräußerten Pilze sowie die strafrechtliche Konsequenz seines Verhaltens sieht, wird von den verschiedenen Parteien durch unterschiedliche Verben bzw. verbale Phrasen anders geurteilt. 1) Wie sieht der Angeklagte den Verwendungszweck der von ihm veräußerten Pilze? In der Anklageschrift wird mit dem Verb wußte eine relativ hohe Bestimmtheit bezüglich der Einsicht des Angeklagten in den wahren Verwendungszweck der Pilze – nämlich den Konsum der Pilze – von der Staatsanwaltschaft postuliert.7 Diese Bestimmtheit haben die Richter des LG Bamberg jedoch nicht übernommen. Stattdessen wird diese Bestimmtheit durch das Verb annahm und die wiederholt verwendeten verbalen Phrasen nahm billigend in Kauf relativiert. Anders als die Staatsanwaltschaft und die Richter des LG Bamberg bringen die Richter des BGH ihre diesbezügliche Festsetzung nicht direkt mittels Verben, sondern indirekt in der Um-zu-Struktur um ihre Bestimmung für den Konsum zu verschleiern zustande. Damit übernahmen sie eher die Rechtsposition der Staatsanwaltschaft. 2) Wie sieht der Angeklagte die strafrechtliche Konsequenz seines Verhaltens? In der Anklageschrift und im Beschluss vom BGH wird jeweils mit dem Verb wußte 8 und erkannte 9 über die subjektive Einstellung berichtet, während die Richter des LG Bamberg mit einer Relativierung nahm zumindest billigend in Kauf 10 und der Rechtsanwalt in der Revision mit habe in Kauf genommen 11 sich eher einschränkend darüber äußerten. Der semantische Unterschied zwischen wusste und nahm billigend in Kauf, der zunächst gemeinsprachlich festgestellt werden kann, bedarf hier noch einer Beleuchtung hinsichtlich des juristischen Wissensrahmens. In den beiden Ausdrücken werden zwei Arten der Erkenntnis modelliert, die

7 8 9 10 11

aus heuristischen Gründen, wobei die Überlappungsmöglichkeiten nicht ausgeschlossen werden können und die aufgeführten Beispiele von unterschiedlichem prototypischem Grad sind. Der Angeschuldigte wußte, daß es sich bei dem auf Pilzbehältnissen angegebenen Verwendungszweck um einen von ihm vorgeschobenen handelt; die Pilze nicht der Raumluftverbesserung dienen sollten und dienten, sondern dem Konsum . Er wußte um die Strafbarkeit seines Tuns . Der Angeklagte erkannte die Strafbarkeit seines Verhaltens . […] dass der Angeklagte wusste und zumindest billigend in Kauf nahm, dass die Pilze unter den Anwendungsbereich des BtmG fielen . […] er habe die strafrechtliche Relevanz seines Handelns in Kauf genommen .

6.1. Sachverhalt-Festsetzen

103

unterschiedliche Stufen des Tatbestandsvorsatzes12 andeuten, was auf unterschiedliche juristische Beurteilungen hinauslaufen mag. Des Weiteren ist der sprachliche Zugriff auf die strafrechtliche Konsequenz erwähnenswert. Für dasselbe Referenzobjekt werden divergierende Lexeme bzw. Syntagmen angewendet, wobei je nach der Art des Bezugnehmens unterschiedliche Sprechereinstellungen mit geäußert werden. Die Staatsanwaltschaft und die BGH-Richter verwenden das Wort Strafbarkeit , damit wird im Vollzug der Sprecherhandlung des Sachverhalt-Festsetzens zugleich eine implizierte rechtliche Klassifikation des Umgangs mit Pilzen als strafbar realisiert. Demgegenüber wird in der Revision, die auf den Freispruch des Angeklagten abzielt, die Bezeichnung die strafrechtliche Relevanz gebraucht, wobei sich die Sprechereinstellung offenbart, dass der Textproduzent die Handlung des Angeklagten nicht als strafbar einstufen wollte. Bezüglich des Geltungsanspruchs hinsichtlich der Aussagen in den Rechtstexten, die subjektive Einstellungen des Angeklagten betreffen, müssen folgende Punkte berücksichtigt werden. Es sei besonders auf das Problem der Reformulierung und der Modalitätsmarkierung hingewiesen. Die subjektiven Einstellungen des Angeklagten stammen hauptsächlich von ihm selbst. Die Einlassungen des Angeklagten werden von den juristischen Akteuren in ihren Texten wiedergegeben. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um Redewiederaufnahmen. Bei der Reformulierung kann man einerseits durch anders gestaltetes Referieren den Inhalt, der aufgenommen und wiedergegeben wurde, unterschiedlich konturieren, wie eben die Beispiele mit wusste, nahm billigend in Kauf, Strafbarkeit, die strafrechtliche Relevanz zeigen. Andererseits können durch die Auswahl divergierender Verbmodi oder anderer Modalitätsmarkierungen (z.B. Modalverb) Unterschiede im Geltungsanspruch hinsichtlich der Aussagen über die subjektiven Einstellungen bewirkt werden. Wenn man nicht über eigene subjektive Einstellungen spricht, sondern sich über subjektive Einstellungen eines anderen äußern will, hat man hauptsächlich zwei Möglichkeiten zur Ermittlung dieser subjektiven Informationen. Entweder stützt man sich auf die Einlassungen des anderen, oder man erschließt diese aus dessen Handeln. Auf jeden Fall geht es dabei um ein Ergebnis dialogischer oder gedanklicher Prozesse, zu dessen Geltung man beim sprachlichen Referieren durch Modalitätsmarkierung Stellung hätte nehmen

12

Wenn der Täter weiß oder als sicher voraussieht, dass sein Handeln zur Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes führt, liegt ein direkter Vorsatz vor. Wenn der Täter ernstlich für möglich hält und sich damit abfindet, dass sein Verhalten zur Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes führt, liegt ein Eventualvorsatz vor. Vgl. Wessels, 1996, S. 60ff.

104

6. Streitige Sprecherhandlungen

können und müssen.13 An den obigen Beispielen ist zu beobachten, dass in der Anklageschrift und im BGH-Beschluss der Modus Indikativ (wusste, erkannte) ohne eine sonstige modale Abtönung eingesetzt wird. Damit wird im Rahmen festsetzender Sprecherhandlungen die Aussage über die subjektive Einstellung des Angeklagten ohne Geltungsvorbehalte als uneingeschränkt gültige Wahrheit akzentuiert.14 – Rechtsfall 2 Über die Verwendung der eingeführten Pilze gibt es auch im Rechtsfall 2 unterschiedliche Behauptungen. In der Anklageschrift hat die Staatsanwaltschaft mit der finalen Um-zu-Struktur um sie gewinnbringend in der Bundesrepublik zu veräußern auf den Zweck des Handels hingewiesen, um die beanspruchte Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln durch Fakten zu rechtfertigen. Durch die beiden Lexeme gewinnbringend und veräußern wird beim Referieren der Fokus auf die normtextorientierten Tatbestandsmerkmale des Handeltreibens gerichtet. Demgegenüber behauptet der Angeklagte, die Pilze als Werbegeschenke für seine Freunde und Bekannten mitgenommen zu haben. Das wird vom AG Linz, LG Koblenz und OLG Koblenz übernommen. Sie verwenden dabei Ausdrücke wie um sie an Familie und Freunde zu verteilen , die Pilze kostenlos an Verwandte und Bekannte, u.a. an seine Mutter und seine Großmutter, weiterzugeben ,15 um auf die Nicht-Gewerbsmäßigkeit seines Verhaltens zu verweisen. 6.1.2. Prozessorientiertes Sachverhalt-Festsetzen Eine besondere Gruppe bilden die Sprecherhandlungen, die sich – vor allem in den Texten von Berufungs- oder Revisionsinstanzen – auf rechtliche Klassifikationen und Beurteilungen vorheriger Instanzen beziehen und diese als Ausgangspunkt eigener Klassifikation, Argumentation und Beurteilung in weiterer Textarbeit benützen. Wegen der Ähnlichkeit mit dem Festsetzen

13

14

15

In diesem Zusammenhang sei auf das Konzept „indirekte Rede“ von Köller verwiesen. In der indirekten Rede werden „in einer bestimmten Situation fremde oder eigene Rede-, Denk-, und Gefühlsinhalte aus einer anderen Situation in abhängigen Sätzen reproduziert“. Köller, 1997, S. 147. Vgl. Köller, 1997, S. 131; Köller, 2004, S. 449. In diesem Zusammenhang ist es relativ unerheblich, ob die Abweisung möglicher Geltungsvorbehalte bewusste sprachliche Strategie oder unreflektierter spontaner Sprachgebrauch ist. Wichtiger ist, dass der Sachverhalt von dem Rechtsarbeiter derartig gestaltet wird, dass für den Rezipienten keine Einschränkung bezüglich der Geltung des Sachverhalts ins Bewusstsein tritt. Vgl. Köller, 2004, S. 449. Das OLG Koblenz hat keine eigene Darstellung zum Sachverhalt-Festsetzen versucht, sondern die Fallerzählung vom LG Koblenz wortwörtlich übernommen.

6.1. Sachverhalt-Festsetzen

105

des fallorientierten Sachverhalts, der als Eingangsdaten weiterer Entscheidungstätigkeit vorgelegt wird, werden solche Sprecherhandlungen ebenfalls dem Sprachhandlungstyp des Sachverhalt-Festsetzens untergeordnet. Der sprachliche Zugriff gilt hierbei nicht dem fallorientierten Sachverhalt, was der Angeklagte getan hat, sondern dem prozessorientierten Sachverhalt, was die Rechtsarbeiter der vorhergehenden Instanzen getan haben, z.B. wie sie ihre Entscheidung anhand einzelner klassifizierender und argumentierender Sprecherhandlungen rechtfertigen. In juristischen Texten besteht ggf. der institutionell bedingte Bedarf, sich auf das sprachliche Handeln anderer Rechtsarbeiter zu beziehen. Es hat den Anschein, dass es sich dabei um einfache Wiederaufnahmen handelt. Aber wenn man die Reformulierungen mit den originalen Textstellen vergleicht, lassen sich Spuren sprachlicher Zubereitung feststellen. Insofern kann man dabei ebenfalls vom Sprachhandlungstyp des Festsetzens reden. Als Beispiel wird der reformulierende Abschnitt aus dem Urteilstext des OLG Koblenz über die Entscheidung und Begründung des LG Koblenz untersucht. Vergleicht man zuerst den Umfang beider Texte,16 so erkennt man, dass es sich bei dem um mehrere Seiten gekürzten reformulierenden Abschnitt um eine selektierende Zusammenfassung handelt. Ohne ausführlich – wie im Urteil des LG Koblenz – auf den juristischen Vorgang, wie der Umgang mit den Betäubungsmittel enthaltenden Pflanzen und Pflanzenteilen durch Gesetzesveränderung unter das BtMG fällt , einzugehen, geht das OLG Koblenz unmittelbar von diesem Ergebnis aus und korreliert es mit Hilfe einer adversativen Zwar-aber-Konstruktion mit der wichtigen Klassifikation, dass Pilze weder Pflanzen noch Tiere seien: Im Jahre 2004 sei zwar auch der Umgang mit Pflanzen, Pflanzenteilen oder Teilen von Tierkörpern, die eine der in der Anlage zu § 1 Abs. 1 BtMG aufgeführten Substanzen enthalten, strafbar gewesen. Pilze seien aber weder Pflanzen noch Tiere . Damit haben die Richter des OLG Koblenz die ursprünglich breit angelagerte Erörterung der Richter des LG Koblenz auf das Wesentlichste abgekürzt und mit modaler Verknüpfung den in der ursprünglichen ausführlichen Erörterung fast verschwommenen logischen Zusammenhang zwischen zwei separat ausgeführten Strukturelementen – 1) Pflanzen und Pflanzenteile, die problematische Wirkstoffe enthalten, gelten auch als Betäubungsmittel und 2) Pilze sind weder Pflanzen noch Tiere – unterstrichen. Dadurch werden Schwerpunkte und die gewünschte Interpretation zum logischen Zusammenhang der einzelnen Begründungselemente durch eine raffinierte sprachliche Zugriffsweise explizit gesetzt.

16

Der Originaltext umfasst über 5 Seiten, während der reformulierende Abschnitt sich auf weniger als einer Seite findet.

106

6. Streitige Sprecherhandlungen

Ähnlich funktioniert das hinzugefügte Adverb daher im Satz Der rechtsprechenden Gewalt sei es daher verboten, über die Voraussetzung einer Bestrafung selbst zu entscheiden . Mit diesem Konjunktionaladverb haben die Richter des OLG Koblenz die kausale Beziehung zwischen diesem Verbot und seinem normtextorientierten Ursprung expliziert, die im Urteil des LG Koblenz eher mittelbar geäußert wird. Die Selektion besteht noch darin, dass viele konkrete Beispiele bei der Wiederaufnahme weggelassen werden. Für den Satz Auch in juristischen Veröffentlichungen werde darauf hingewiesen, dass die Einordnung der Rauschpilze unter den „Rechtsbegriff “ der Pflanze wissenschaftlich inkorrekt sei wird im Urteilstext des LG Koblenz der Standard-Kommentar zum BtMG von Körner als Beispiel für juristische Veröffentlichungen genannt. Im Urteilstext des OLG Koblenz wird diese Information ersatzlos gestrichen. Wegen dieser Ausblendung hat der Rezipient nicht mehr die Möglichkeit, an den genannten Beispielen die Gültigkeit der These zu überprüfen. Aber gerade auch dadurch wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten umgelenkt, von dem einzelnen Beispiel auf die umfassende These. Wie oben dargestellt wurde, wird durch Selektionen, Kombinationsvarianten und Hinzufügungen eine detaillierte Umgestaltung des prozessorientierten Sachverhalts realisiert.17 Darin fasst der Textproduzent die Sprecherhandlungen der Vorinstanzen zusammen und setzt diese gemeinsam mit dem fallorientierten Sachverhalt in Bezug auf das Verhalten des Angeklagten als Eingangsdaten für die eigene Rechtsarbeit voraus. Unter polyfunktionalem Aspekt handelt es sich bei dieser Subgruppe des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens um sehr komplexe Sprecherhandlungen. Einerseits signalisiert der Sprecher, wie er Äußerungen anderer Sprecher verstanden hat; andererseits versucht er durch seine reformulierende bzw. zubereitende Repräsentation den Rezipienten bei der Interpretation in die gewünschte Richtung zu lenken, indem er perspektivierte Interpretationsangebote liefert.

6.2. Rechtliche Klassifizierung Unter diesem Sprachhandlungstyp werden in der vorliegenden Arbeit vor allem die Sprecherhandlungen verstanden, mit denen die Rechtsarbeiter aufgrund der Wechselbeziehung zwischen Normtexten und Sachverhalten bestimmten Segmenten am Sachverhalt oder an den Handlungen anderer Rechtsarbeiter unterschiedliche Eigenschaften zuschreiben oder diese unterschiedlich etikettieren, damit auf dieser Basis weitere rechtliche Schlussfol-

17

In diesem Zusammenhang sei auf Steyer, 1994, S. 149 verwiesen.

6.2. Rechtliche Klassifi zierung

107

gerungen erfolgen können, die gemeinsam zur rechtlichen Beurteilung des vorgelegten Sachverhalts führen. Rechtliche Klassifizierung ist ein umfassender Sprachhandlungstyp, der mit den beiden anderen Sprachhandlungstypen des Sachverhalt-Festsetzens und der rechtlichen Beurteilung einschließlich der Argumentation gewisse Überschneidungsbereiche teilt. Vielen Sprecherhandlungen im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens ist eine klassifizierende Stellungnahme des Textproduzenten immanent. An dem (vor allem fallorientierten) Sachverhalt werden im Rahmen des Sachverhalt-Festsetzens aus der Perspektive einschlägiger Normtexte relevante Eigenschaften, Merkmale oder Ordnungsstrukturen18 vom Hintergrund des gesamten Geschehnisses abgehoben und gegenüber Alternativen dominant gesetzt. Polyfunktional lässt sich dabei gleichzeitig eine klassifizierende Sprachhandlung abzeichnen, indem diese abgehobenen Eigenschaften, Merkmale oder Ordnungsstrukturen als solche klassifiziert und als rechtlich relevant etikettiert werden. Dem dritten Sprachhandlungstyp rechtlicher Beurteilung in Bezug auf das Rechtsergebnis, mit dem argumentierende Sprecherhandlungen einhergehen, liegt der Sprachhandlungstyp der rechtlichen Klassifizierung überhaupt zugrunde. Die Argumentation realisiert sich zum großen Teil gerade auf diese Weise. Wenn sich z.B. ein Richter in seinem Urteil an einer anderen Rechtsprechung orientiert, klassifiziert er gleichzeitig diese Rechtsprechung und ihren Argumentationsvorgang als glaubwürdig und relevant. Der Sprachhandlungstyp der rechtlichen Klassifizierung kann in drei Gruppen eingeteilt werden: 1) Sachverhaltsklassifizierung, bei der die einzelnen Sachverhaltselemente klassifiziert werden; 2) Klassifizierung der Rechtsklassifikation, bei der die Klassifikation nicht den Sachverhaltselementen, sondern den unternommenen Sprachhandlungen anderer Rechtsarbeiter aus den Vorinstanzen gilt; 3) Klassifizierung argumentativ relevanter Umstände, bei der die argumentativ einschlägigen Umstände klassifiziert werden. 6.2.1. Sachverhaltsklassifizierung Dabei handelt es sich um klassifizierende Sprecherhandlungen, die sich vor allem auf den Sachverhalt richten.

18

Damit wird vor allem die Verknüpfungsmodalität gemeint, d.h., wie mehrere Segmente, Elemente oder Momente, die dem gesamten Sachverhalt zu entnehmen sind, miteinander verknüpft werden, wie der Sachverhalt bezüglich ihrer Komponenten strukturiert wird.

108

6. Streitige Sprecherhandlungen

– Rechtsfall 1 Die wichtigste Klassifikation für den gesamten Rechtsfall ist, ob psilocybinund psilocinhaltige Pilze als Betäubungsmittel klassifiziert werden können. In der Anklageschrift werden diese Pilze mit relativ expliziter klassifizierender Sprecherhandlung als Betäubungsmittel eingestuft: Es handelt sich bei diesen Pilzen um Betäubungsmittel im Sinne des § 1 BtMG . Zu dieser Klassifikation kommt die Staatsanwaltschaft, nachdem sie mit einer repräsentativen/assertiven Sprecherhandlung kurz über ihre Wirkung berichtet hat: Das Wirkungsspektrum entspricht weitgehend dem eines LSD-Rausches. Die Pilze des Angeschuldigten enthalten starke Halluzinogene . Durch die Erwähnung beider Begriffe „LSD-Rausch“ und „Halluzinogen“, die eine starke, betäubungsmittelrechtlich negative Assoziation für rechtswissenschaftliche Fachleute hervorrufen können,19 wird die darauf folgende Klassifikation mittelbar gerechtfertigt. Bei der Textarbeit der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift unterbleibt die Diskussion über die Pilze-Pflanzen-Problematik, die sonst in anderen Texten – wenn auch in unterschiedlicher Ausführlichkeit – immer wieder vorkommt. Im Urteil der ersten Instanz des LG Bamberg wird bereits im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens die Klassifikation der Pilze als Betäubungsmittel indirekt unternommen: um so deren Verwendung als Betäubungsmittel zu kaschieren . Im nachfolgenden Text wird wieder einmal mit relativ expliziter klassifizierender Sprecherhandlung darauf eingegangen: Bei den verfahrensgegenständlichen psilocybin- und psilocinhaltige [sic] Pilzen handelt es sich um „Pflanzen“ im Sinne von § 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 Nr. 1 BtmG i. V. m. der Anlage I und damit um Betäubungsmittel . Anders als in der Anklageschrift werden die Pilze zuerst anhand einer deklarativen Sprecherhandlung zu der Kategorie „Pflanze“ im rechtlichen Sinne erklärt und dann erst daraufhin als Betäubungsmittel klassifiziert. In der Revision wird die Klassifikation der Pilze als Pflanze von dem Rechtsanwalt des Angeklagten in Anlehnung an das Urteil des OLG Koblenz bestritten: Dies hat zur Folge, dass Pilze im gesamten Tatzeitraum des Angeklagten nicht den Pflanzen bzw. den Pflanzeteilen [sic] zugeordnet werden konnten . In dem zweitinstanzlichen Beschluss des BGH werden die Pilze – ähnlich wie bei der vorherigen Instanz (LG Bamberg), entgegen der Revision des

19

LSD ist ein Rauschgift und gilt aufgrund seiner Aufführung in der Anlage I des BtMG als ein nicht verkehrsfähiges Betäubungsmittel in der Bundesrepublik Deutschland. Der Umgang ohne Erlaubnis ist grundsätzlich strafbar. Vgl. Körner, 1985, S. 33. Unter Halluzinogenen versteht man natürliche und synthetische Substanzen, die das Wahrnehmungsvermögen beeinträchtigen und Sinnestäuschungen hervorrufen. Vgl. Körner, 1985, S. 778.

6.2. Rechtliche Klassifi zierung

109

Rechtsanwalts des Angeklagten – als vom Pflanzenbegriff im betäubungsmittelrechtlichen Sinne erfasst klassifiziert . Wie die Revision setzt sich der Beschluss zum größten Teil mit der Diskussion über die Pilze-Pflanzen-Problematik auseinander. Daran kann man erkennen, welchen zunehmenden Stellenwert diese Problematik im Lauf des Verfahrens einnimmt. * * * * * Eine weitere wichtige Klassifizierung richtet sich auf die Gefährlichkeit der entsprechenden Pilze. Obwohl die Rechtsarbeiter in der Anklageschrift, im Urteil des LG Bamberg und im Beschluss des BGH für die Klassifikation der Pilze als Betäubungsmittel sprechen, wird nur im Urteil des LG Bamberg der Konsum der Pilze explizit als gefährlich etikettiert: Hierdurch besteht für die Konsumenten ein erhebliches Gefahrenrisiko für Leib und Leben . Dieser klassifizierenden Sprecherhandlung geht eine repräsentative/assertive Sprecherhandlung voraus, welche die möglichen, vom Konsum der Pilze bedingten Wahrnehmungsveränderungen beschreibt . In der Anklageschrift wird nur am Rande erwähnt, dass es Wahrnehmungsveränderungen gibt, wobei die Wahrnehmungsveränderungen mit Adjektiven intensiv, kräftig und sogar angenehm attribuiert werden . Eine Klassifikation des Konsums als „gefährlich“ wird jedoch nicht unternommen. Im Beschluss des BGH wird weder die repräsentative/assertive Sprecherhandlung im Hinblick auf mögliche Wahrnehmungsveränderung noch eine deklarative Sprecherhandlung zur Etikettierung des Konsums der Pilze als gefährlich vollzogen. Wiederum nur von den Richtern des LG Bamberg werden die Pilze bezüglich der enthaltenen Wirkstoffe „Psilocin“ und „Psilocybin“ – neben der Gefährlichkeitsetikettierung – als weiche Drogen klassifiziert: Bei den von ihm verkauften Betäubungsmitteln (Psilocin/Psilocybin) handelt es sich um eine sogenannte „weiche Droge“, deren Gefährlichkeit und Suchtpotenzial innerhalb der verschiedenen Rauschgifte am unteren Rand liegt . Durch diese weitergehende klassifizierende Sprecherhandlung wird die anfangs postulierte Gefährlichkeit in der Intensität relativiert, was sich zugunsten des Angeklagten auf die Strafzumessung auswirkt. * * * * * In der Anklageschrift, im Urteil des LG Bamberg, in der Revision des Rechtsanwalts des Angeklagten und im Beschluss des BGH wird im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens in unterschiedlichen Varianten darauf hingewiesen, dass der Angeklagte mit möglicher strafrechtlicher Konsequenz für seine Handlungen rechnet. Diese Erkenntnis wird von den Rechtsarbeitern in allen anderen Rechtstexten – außer der Revision – als eine

110

6. Streitige Sprecherhandlungen

so deutliche Einsicht in die Strafbarkeit angesehen, dass ein Verbotsirrtum20 ausgeschlossen ist: Er unterlag dabei nicht einem Verbotsirrtum . Dagegen klassifiziert der Rechtsanwalt diese Erkenntnis in der Revision eher als strafloses Wahndelikt .21 Hierbei zeichnet sich der Streit zwischen zwei gänzlich unterschiedlichen Alternativen der rechtlichen Klassifikation gegenüber demselben Sachverhalt ab: die richtige Einsicht in die Strafbarkeit (damit die Ausschließung des Verbotsirrtums) vs. das Wahndelikt. Die Position des Rechtsanwalts, die entgegen der Rechtsansicht der vorhergehenden Instanz des LG Bamberg steht, wird von der nachfolgenden Instanz des BGH nicht übernommen. Während des Kampfs um die gültige Klassifikation hat sich also die diesbezügliche Rechtsmeinung der Staatsanwaltschaft über die erste Instanz des LG Bamberg trotz des Widerspruchs des Rechtsanwalts erfolgreich bis zum BGH durchgesetzt. * * * * * Ein weiterer interessanter Beleg für die rechtliche Klassifizierung liefert die Gruppierung der einzelnen Verkaufsfälle. Die Staatsanwaltschaft hat in der Anklageschrift die Vielzahl von Fällen in drei Gruppen eingeteilt: a) über seinen Groß- und Versandhandel an gewerbliche Abnehmer, bestimmt für den Weiterverkauf an Betäubungsmittelkonsumenten b) über seinen Versandhandel an Betäubungsmittelkonsumenten als Endkunden c) über sein Ladengeschäft „S.“ in F., V-Straße 1*, dessen Warensortiment auf (im offen [sic] und für den Kunden sichtbaren Bereich legalen) Bedarf von Betäubungsmittelkonsumenten abgestimmt war, im Ladenverkauf an Betäubungsmittelkonsumenten als Endkunden . Als Unterscheidungskriterien gelten 1) Verkaufskanäle – ob über den Versandhandel oder über das Ladengeschäft verkauft wird – und 2) Kundentypen – ob an gewerbliche Abnehmer oder an Endkunden verkauft wird. Diese Gliederung hat sich aber nicht durchgesetzt. Die Richter des LG Bamberg unterscheiden lediglich anhand der Kundentypen zwischen dem Verkauf an gewerbliche Abnehmer und dem Verkauf an Einzelkunden. Im Urteil des LG Bamberg werden die in der Anklageschrift separat aufgeführten Gruppen b) und c) zu einem Ganzen kombiniert.

20 Ein Verbotsirrtum liegt dann vor, wenn dem Täter bei der Begehung der Tat die Einsicht fehlt, dass er rechtswidrig handelt, also Unrecht tut. Wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte, so handelt er ohne Schuld. Vgl. § 17, StGB. Strafgesetzbuch, 2007, S. 17. 21 Beim Wahndelikt nimmt der Täter irrig an, sein Verhalten falle unter eine Verbotsnorm, die nur in seiner Einbildung existiert oder die er infolge falscher Auslegung zu seinen Ungunsten überdehnt. Er nimmt also die Strafbarkeit seiner Handlung an, obwohl diese in Wahrheit erlaubt oder nicht strafbar ist. Vgl. Wessels, 1996, S. 176.

6.2. Rechtliche Klassifi zierung

111

Dieses Beispiel lässt auch eine Betrachtungsmöglichkeit unter varietätenlinguistischem Aspekt zu. An dem aus gemeinsprachlicher Sicht eigentlich holistisch zu erfassenden Sachverhalt werden in Bezug auf den juristischen Wissensrahmen unterschiedliche, fein differenzierte Kategorien herausgearbeitet. Gegenüber der Alltagssprache wird hier im juristischen Handlungsrahmen so kategorisiert, dass die Juristen Unterschiede erfassen können, denen sie bei der rechtlichen Klassifizierung Bedeutung beimessen, die aber für Laien gewissermaßen von geringer Relevanz sind. – Rechtsfall 2 Wie im Rechtsfall 1 werden im Rechtsfall 2 im Hinblick auf die relevanteste Klassifizierung bezüglich der Pilze ebenfalls abweichende Positionen vertreten. Der Streit kann in zwei Phasen mit fließendem Übergang eingeteilt werden. In der ersten Phase dreht sich die Debatte darum, ob die Pilze als nicht verkehrsfähige Betäubungsmittel oder als frei handelbare Genussmittel klassifiziert werden sollen. In der zweiten Phase wird im Rahmen der PilzePflanzen-Beziehung über die Klassifikation der Pilze als Pflanzen diskutiert. Die Staatsanwaltschaft klassifiziert in der Anklageschrift die Pilze als Betäubungsmittel, indem sie im nachfolgenden Text das ursprüngliche Textelement Psylocibinpilze mit dem anderen Textelement Betäubungsmittel wieder aufnimmt: Am Tattag wurden […] insgesamt 12,1 Gramm (netto) Psylocibinpilze sichergestellt. Die Betäubungsmittel hatte der Angeklagte zuvor aus den Niederlanden in die Bundesrepublik eingeführt . Dabei handelt es sich um eine gesteuerte Substitution an der Textoberfläche.22 Dadurch, dass der Textproduzent durch einen deklarativ klassifizierenden Ausdruck (Betäubungsmittel) ein anderes eher „neutrales“23 Textelement (Psylocibinpilze) wieder aufnimmt, vollzieht er gleichzeitig eine rechtliche Klassifizierung gegenüber demselben Objekt, auf das sich die beiden Textelemente gemeinsam beziehen. Diesem wird gerade durch die unterschiedliche Bezugnahme ein anderes Image verliehen.

22 Den Terminus „Substitution“ übernehme ich von Linke/Nussbaumer/Portmann, 2004, S. 246. „Von Substitutionen sprechen wir dann, wenn ein Textelement, also ein Wort oder eine Wortgruppe, im nachfolgenden Text durch ein ihm inhaltlich verbundenes Textelement wieder aufgenommen wird und wenn sich beide Textelemente (das ursprüngliche und das Substitutionselement) auf dasselbe außersprachliche Objekt beziehen, d.h. dieselbe Referenz haben.“ 23 Eigentlich ist keine Bezeichnung hundertprozentig neutral. Durch die Auswahl des bezeichnenden Ausdrucks werden immer bestimmte Aspekte an dem Bezugsobjekt hervorgehoben, wenn sich der Sprecher des Klassifi kationscharakters auch nicht unbedingt bewusst ist. Hier steht das Wort „neutral“ im kontrastiven Sinne gegenüber der eindeutigen strafrechtlichen Klassifizierung.

112

6. Streitige Sprecherhandlungen

Auf die Anklageschrift hin haben der Angeklagte und seine Rechtsanwältin beide an das AG Linz geschrieben. In ihren Schriftsätzen bestreiten sie die Klassifikation der Staatsanwaltschaft und klassifizieren dagegen die eingeführten Pilze als Genussmittel bzw. gängiges Lebensmittel . Das ist auch der Grund, weshalb sie im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens den frischen Zustand der Pilze unterstreichen wollten. Die Richterin des AG Linz hat sich ungeachtet der Anfechtung seitens des Angeklagten der rechtlichen Klassifizierung der Staatsanwaltschaft angeschlossen. Eine Besonderheit bei der rechtlich klassifizierenden Sprecherhandlung der Richterin des AG Linz liegt darin, dass sie bei ihrer Formulierung eher die Wirkstoffe Psilocin und Psilocibin statt der Pilze als das zu klassifizierende Objekt fokussiert: Nach Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG handelt es sich sowohl bei Psilocin als auch bei Psilocibin um nicht verkehrsfähige Betäubungsmittel . Nach dem Urteil des AG Linz besteht die Rechtsanwältin des Angeklagten immer noch auf ihrer Klassifizierung der Pilze als Lebensmittel und erwähnt diese wieder in ihrem Berufungsschreiben, die im weiteren Instanzenzug allerdings unberücksichtigt bleibt. In selbigem Schreiben wird zum ersten Mal auf die Pilze-Pflanzen-Problematik hingewiesen, welche die nachfolgende Diskussion über die Klassifizierung der Pilze in eine andere Richtung steuert. Im Zusammenhang mit der Pilze-Pflanzen-Beziehung klassifiziert die Rechtsanwältin in Anlehnung an eine gegebene Rechtsprechung und einen biologischen Gutachter die psilocybinhaltigen Pilze als nicht vom BtMG erfasst . Diese Rechtsposition wird von den Richtern des LG Koblenz übernommen. Im Urteilstext klassifizieren sie die Pilze als nicht vom Betäubungsmittelgesetz erfasst . Dieser klassifizierenden Sprecherhandlung geht eine andere rechtliche Klassifizierung voraus: Pilze sind weder Pflanzen noch Tiere . Die Staatsanwaltschaft bestreitet in der Revisionsschrift und einem weiteren Schriftsatz an die nächste Instanz des OLG Koblenz die Klassifizierung der Richter des LG Koblenz hinsichtlich der Pilze-Pflanzen-Beziehung. Die Richter des OLG Koblenz schließen sich – entgegen der Staatsanwaltschaft – der rechtlichen Klassifizierung des LG Koblenz an: Jedoch hat ein Bedeutungswandel des Begriffes „Pflanze“, der damals bereits im Gange war, dazu geführt, daß diese Pilze jedenfalls im Jahre 2004 – und damit zur Tatzeit – aus dem Anwendungsbereich herausgefallen waren . Mit dem Kommentaradverb jedenfalls wird diese klassifizierende Sprecherhandlung hinsichtlich der Geltung der unternommenen Klassifizierung bestärkt.

6.2. Rechtliche Klassifi zierung

113

* * * * * Wie im Rechtsfall 1 wird hier ebenfalls hinsichtlich der Gefährlichkeit der Pilze klassifiziert, was sich allerdings in einem anderen Ergebnis gegenüber dem Rechtsfall 1 herausstellt. In Anlehnung an ein in den Niederlanden erstelltes Gutachten über Zauberpilze24 klassifiziert die Rechtsanwältin in einem Schriftsatz an das AG Linz die entsprechenden Pilze insgesamt als nicht gefährlich: Aus dem Gutachten ergibt sich, daß von den besagten Pilzen keinerlei Gefahr an der Beeinträchtigung der Gesundheit ausgehen kann und der Konsum auch zu keiner Sucht führen kann und ein Mißbrauch ausgeschlossen ist . Durch detaillierten intertextuellen Vergleich mit dem Gutachten lässt sich feststellen, dass die letzte Behauptung, ein Missbrauch sei ausgeschlossen, nicht vom eigentlichen Gutachter stammt, sondern die Rechtsanwältin hat sie an dieser Stelle ergänzt. Mit dieser Hinzufügung setzt sie diese Klassifizierung über die Gefährlichkeit der Pilze – im Hinblick auf die Beeinträchtigung der Gesundheit und die Suchtmöglichkeit – in Verbindung mit einem bedeutenden Tatbestandsmerkmal für die Klassifikation von Betäubungsmitteln: dem Missbrauch. Mit einer Klassifikation als nicht gefährlich schließt die Rechtsanwältin gleichzeitig den Missbrauch aus, der die Strafbarkeit begründet. Dadurch werden die Sachverhaltseigenschaften und Tatbestandsmerkmale aufeinander abgestimmt, so dass der Sachverhalt in das Schema des Normtextes eingebettet wird. Entgegen der klassifizierenden Sprecherhandlung des LG Bamberg im Rechtsfall 1 wird im Rechtsfall 2 vonseiten des Angeklagten im Hinblick auf die Pilze und ihren Konsum keine Gefahr postuliert. Obwohl es sich hierbei um zwei selbständige Rechtsfälle handelt und die beiden unterschiedlichen Klassifizierungen nicht im Instanzenzug unmittelbar gegeneinander kämpfen, stehen sie aber immerhin unter dem Dach des gemeinsamen Rechtsdiskurses in indirektem Kontrast. Interessanterweise lässt sich beobachten, dass bei den beiden Klassifizierungen unterschiedliche Momente aus dem Sachverhalt für die Klassifikation dominant gesetzt werden. Während das LG Bamberg im Rechtsfall 1 die möglichen Wahrnehmungsveränderungen zur Gefährlichkeitsklassifizierung nutzt, bezieht sich die Rechtsanwältin auf die Beeinträchtigung der Gesundheit und die Suchtmöglichkeit als Klassifizierungskriterium.

24 Das Gutachten ist ein von der Inspektion des niederländischen Gesundheitsamts erstellter Risikoeinschätzungsbericht für Zauberpilze (Psilocin und Psilocybin). Es ist in den Niederlanden erstellt und wurde von David Schlesinger ins Deutsche übersetzt. Dieses Gutachten wird auch CAM-Studie genannt. Vgl. CAM, 2000.

114

6. Streitige Sprecherhandlungen

* * * * * Die schlichte Tat, die der Angeklagte „eigentlich“ begangen hat, wird ebenfalls von verschiedenen Parteien mehrfach unterschiedlich klassifiziert. 1) Handeltreiben mit Betäubungsmitteln vs. Transport von Genussmitteln Die Staatsanwaltschaft klassifiziert in der Anklageschrift das Verhalten des Angeklagten als unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln . Demgegenüber klassifiziert der Angeklagte in einem Schriftsatz an das AG Linz seine Handlung als reinen Transport von frischen Genussmitteln zu Kunden seines Arbeitgebers: Ich treibe keinerlei Handel mit Betäubungsmittel [sic], sondern ich bringe gekühlte, frische Genussmittel zu den Kunden meines Arbeitgebers in der ganzen EU . Damit tilgt der Angeklagte die von der Staatsanwaltschaft unterstrichene Gewerbsmäßigkeit seines Verhaltens und setzt die Perspektive eines nicht selbständigen Arbeitnehmers dominant. 2) Einfuhr vs. keine Einfuhr Die Staatsanwaltschaft klassifiziert in der Anklageschrift den ganzen Sachverhalt als unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln aus den Niederlanden in die Bundesrepublik Deutschland . Das Konzept der Einfuhr bestreitet der Angeklagte in seinem Schriftsatz an das AG Linz: Somit konnte ich sie auch nicht „einführen“, weil die EU eine Zollunion darstellt und zollrechtlich also keine „Einfuhr“ geschah . Offensichtlich werden bei den klassifizierenden Sprecherhandlungen der jeweiligen Parteien unterschiedliche Konzepte zu dem Begriff „Einfuhr“ herangezogen. Während sich die Staatsanwaltschaft an der Landesgrenze orientiert, betont der Angeklagte die zollrechtliche Einheit. Jede Partei versucht bezüglich der Bezeichnung „Einfuhr“ unterschiedliche Konzepte geltend zu machen. Von den beiden kontroversen Klassifizierungen hat sich die Richterin des AG Linz derjenigen der Staatsanwaltschaft angeschlossen. Mit einer deklarativen Sprecherhandlung klassifiziert sie im Urteil der ersten Instanz das gesamte Geschehen als unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln . 3) Einfuhr vs. Handeltreiben Die Richterin des AG Linz klassifiziert im Urteil der ersten Instanz das Verhalten des Angeklagten als Einfuhr von Betäubungsmitteln, und zwar als eine eigenständige Straftat . Diesen Rechtsstatus der Tat bestreitet die Staatsanwaltschaft in der Berufungsbegründung, indem sie die Einfuhr lediglich als unselbständigen Teilakt des Handeltreibens klassifiziert: Die vom Gericht ausgeurteilte Einfuhr von Betäubungsmitteln war lediglich unselbständiger Teilakt des angeklagten gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln . In Anlehnung an einen ausgewählten25 Kommentar 25

Die Staatsanwaltschaft hat an dieser Stelle den Kommentar von Klaus Weber herange-

6.2. Rechtliche Klassifi zierung

115

zum BtMG versucht die Staatsanwaltschaft eine weite Auslegung des Begriffs „Handeltreiben“ geltend zu machen, nach der jedes eigennützige Bemühen, das darauf gerichtet ist, den Umsatz von Betäubungsmitteln zu ermöglichen oder zu fördern, Handeltreiben bedeutet. Kombiniert mit den Sprecherhandlungen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens werden aufgrund der herausgearbeiteten Sachverhaltseigenschaft „Werbezwecke“ die Förderung zum Umsatz und damit die Gewerbsmäßigkeit des Verhaltens des Angeklagten dominant gesetzt, so dass die Klassifizierung als Handeltreiben im erweiterten Sinne gerechtfertigt wird: Der Angeklagte gab darüberhinaus [sic] an, er habe die sichergestellten Pilze zu Werbezwecken nach Deutschland eingeführt. Bei dieser Sachlage dürfte das Einführen der Pilze in die Bundesrepublik zweifelsfrei darauf gerichtet gewesen sein, den Umsatz von Betäubungsmitteln zu fördern, selbst wenn der Angeklagte beabsichtigt hätte, diese im Einzelfall aus Werbezwecken unentgeltlich abzugeben . An diesem kleinen Textausschnitt lässt sich beobachten, wie sich die beiden Sprachhandlungstypen des Sachverhalt-Festsetzens und der rechtlichen Klassifizierung aufeinander abstimmen. Zuerst wird im Rahmen des Sprachhandlungstyps des SachverhaltFestsetzens das Element „Werbezwecke“ durch Hervorhebung vom gesamten Geschehen unterstrichen, während es im Urteilstext des AG Linz, in dem der Sachverhalt nur als Einfuhr – nicht als Handeltreiben – klassifiziert wird, beim Sachverhalt-Festsetzen überhaupt nicht erwähnt wird. Dieses Moment wird im nachfolgenden Text in das Schema des Sprachhandlungstyps der rechtlichen Klassifizierung eingebettet. Durch die Hinzufügung dieser Information aus Werbezwecken zu der auch von anderen Texten festgesetzten Absicht unentgeltlich abzugeben entsteht eine neue Kombinationsvariante von Sachverhaltselementen hinsichtlich der Einfuhrabsicht, die zu einem anders gelagerten Stimmungsbild bei der Klassifizierung des gesamten Geschehens führen mag. Durch den Einbau der Aussage über diese Absicht in den konzessiven Satzteil mit der Konjunktion selbst wenn26 wird die Tatsache, dass der Angeklagte die Pilze unentgeltlich verteilen wollte, derartig mit der vorausgehenden deklarativen Sprecherhandlung zur Klassifizierung des Einführens27 verknüpft, dass sie als möglicher Gegengrund (unentgeltlich) in ihrer Wirksamkeit abgeschwächt wird.28 Somit entsteht eine zu Lasten des Angeklagten

zogen, während sie an anderen Stellen eher den Kommentar von Harald Hans Körner verwendet. Vgl. Weber, 2003, S. 672ff. 26 Damit wird der zweite Satzteil selbst wenn der Angeklagte beabsichtigt hätte, diese im Einzelfall aus Werbezwecken unentgeltlich abzugeben gemeint. 27 Damit wird der erste Satzteil Bei dieser Sachlage dürfte das Einführen der Pilze in die Bundesrepublik zweifelsfrei darauf gerichtet gewesen sein, den Umsatz von Betäubungsmitteln zu fördern gemeint. 28 Vgl. Duden – Die Grammatik, 2006, S. 1106; Bußmann, 2002, S. 380f.

116

6. Streitige Sprecherhandlungen

perspektivierte Verknüpfung, welche die Gewerbsmäßigkeit an der Handlung des Angeklagten zugunsten der Klassifizierung als Handeltreiben hervorhebt. An diesen konkurrierenden Klassifizierungen spiegelt sich auch die spezifische rechtliche Kategorisierung der außersprachlichen Wirklichkeit wider. Die Idee der Staatsanwaltschaft, das Einführen von problematischen Pilzen nicht als eigenständige Straftat, sondern als unselbständigen Teilakt einer anderen Straftat zu klassifizieren, kommt auf das im juristischen Kommentar postulierte Konzept der Bewertungseinheit beim Handeltreiben zu § 29 BtMG zurück. Danach kann das Handeltreiben mit verschiedenen Delikten des Betäubungsmittelrechts (z.B. dem Anbau, der Herstellung, der Einfuhr usw.) zusammentreffen und bildet eine Bewertungseinheit.29 Während im gemeinsprachlichen Wissensrahmen eine Einfuhr oft eine einfache Einfuhr bleibt, ergibt sich aus dem juristischen Wissensrahmen der Unterschied, ob man Betäubungsmittel mit dem Ziel des Handeltreibens einführt oder ohne dieses Ziel. Eine für die Laien möglicherweise als selbständig vollzogen erscheinende Tätigkeit kann durch die vorgeschaltete, rechtlich systematische Folie von den Juristen als unselbständiger Bestandteil einer komplexeren Tätigkeit kategorisiert werden. 6.2.2. Klassifizierung der Rechtsklassifikation Eine besondere Variante rechtlicher Klassifizierung bilden die Sprecherhandlungen, die fremde oder eigene Sprachhandlungen aus dem früheren Instanzenweg sowie die Ergebnisse, die sich aus diesen Sprachhandlungen ergeben haben, klassifizieren. Diese Variante wird „rechtliche Klassifizierung der Rechtsklassifikation“ genannt. Denn es handelt sich dabei um eine Klassifizierung einer anderen, bereits vollzogenen Klassifikation im weiteren Sinne. Als zu klassifizierender Gegenstand liegen nämlich die früheren, bereits getätigten Klassifikationsergebnisse anderer Rechtsarbeiter bzw. seiner selbst vor. Diese Variante mag sich mithilfe sehr unterschiedlicher Sprachmittel realisieren. Das streitende und kämpferische Wesen des Rechtsdiskurses kommt hierbei oft unmittelbar in Form negativer Klassifizierung vor. – Klassifizierung durch Adverbialien: Zunächst hat das Gericht den Angeklagten zu Unrecht vom Vorwurf des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln freigesprochen . Hiermit wird die rechtliche Beurteilung der Vorinstanz als fehlerhaft klassifiziert. Zu Unrecht geht die Strafkammer in dem angefochtenen Urteil davon aus, dass die Unterstellung psilocinhaltiger Pilze unter den Betäubungsmittelbegriff die Grenzen des Wortlauts der Vorschrift […] überschreite und damit gegen das 29

Vgl. Weber, 2003, S. 714.

6.2. Rechtliche Klassifi zierung

117

verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) verstoße . Die Staatsanwaltschaft nimmt die klassifizierende Sprecherhandlung der vorigen Strafkammer auf und klassifiziert diese als falsch. – Klassifizierung durch prädikative Ergänzungen: Darüberhinaus [sic] ist auch die Wertung des Gerichts, ein Handeltreiben könne dem Angeklagten nicht nachgewiesen werden, unzutreffend . Die Auffassung des Gerichts, bei Pilzen handele es sich unstreitig weder um Pflanzen noch Tiere, ist unzutreffend . Bei beiden Sprecherhandlungen geht es um eine gegen die vorhergehende Instanz gerichtete Klassifizierung ihrer Sachverhaltsklassifikationen. – Klassifizierung durch Attribute: Diese an sich selbstverständliche Zuordnung gilt im Bereich des Betäubungsmittelrechts erst recht, da in den Anlagen zum BtMG die genannten Begriffe überwiegend spezifisch wissenschaftlicher Art (z.B. Isomere, Ester und konkret genannte chemische Verbindungen) sind, die sich nur auf der Grundlage der entsprechenden Fachsprache und des zugrunde liegenden Fachwissens einem Verständnis erschließen . Mit der Zuordnung meinen die Richter des LG Koblenz die im vorausgegangenen Satz unternommene Klassifikation, dass der Pflanzenbegriff im BtMG an den biologischen Begriff der Pflanze anknüpfen soll. Und diese klassifizieren sie nun mit einer attributiven Ergänzung als selbstverständlich – ungeachtet der dagegen gerichteten Klassifikation der Staatsanwaltschaft: Die Frage, ob es sich bei Pilzen biologisch um Pflanzen handelt, ist irrelevant . – Klassifizierung durch Verben bzw. verbale Phrasen Soweit das Gericht insoweit ausführt, die Rechtsprache [sic] und Rechtsliteratur könne nicht maßgeblich sein, wenn sie ein der allgemeinen und fachwissenschaftlichen Auffassung entgegenstehendes Verständnis aufweise […], so überzeugt dies nicht . Dass das LG Koblenz die Rechtssprache und Rechtsliteratur wegen der Abweichung von der allgemeinen und fachwissenschaftlichen Auffassung als nicht maßgeblich klassifiziert, nimmt die Staatsanwaltschaft in ihrer Revision auf und klassifiziert dies wiederum als nicht überzeugend. 6.2.3. Klassifizierung argumentativ relevanter Umstände Aus der empirischen Untersuchung hat es sich ergeben, dass es im Rahmen des Sprachhandlungstyps der rechtlichen Klassifizierung neben den beiden genannten Gruppen noch eine andere Variante gibt. Im Rechtsfindungsverfahren gelten nicht nur die Sachverhaltselemente oder die bereits vollzogenen Sprachhandlungen anderer Rechtsarbeiter als Gegenstand, der klassifiziert werden wird. Zu klassifizieren sind ebenfalls andere Umstände, die für die

118

6. Streitige Sprecherhandlungen

systematische Argumentation genutzt werden. Der Gesetzgeberwille, ob er mit dem BtMG die Pilze erfassen wollte, wird z.B. von verschiedenen Parteien unterschiedlich klassifiziert. Auch die biologische Erkenntnis, dass Pilze eine eigenständige Kategorie neben Pflanzen und Tieren bilden, wird von manchen Rechtsarbeitern als „die neue“ Entwicklung, von anderen lediglich als eine „andere“ Meinung klassifiziert. Auch in Bezug auf den gültigen Sprachgebrauch für den Pflanzenbegriff haben manche Rechtsarbeiter denjenigen Sprachgebrauch (z.B. den biologischen Sprachgebrauch), der eigenem Argumentationszweck nicht entspricht, als „nicht relevant“ klassifiziert. Für solche streitigen Sprecherhandlungen, die eigentlich in engem Zusammenhang mit der Argumentation stehen, wird die Subkategorie „Klassifizierung argumentativ relevanter Umstände“ angenommen. Wegen ihrer Relevanz für die Argumentationsschemata wird darauf ausführlich im Rahmen des nächsten Sprachhandlungstyps der rechtlichen Beurteilung einschließlich der Argumentation eingegangen. In diesem Zusammenhang sei besonders auf die biologisch bezogenen Klassifizierungen verwiesen. Anders als bei den gewöhnlichen Rechtsfällen, die normalerweise zwei Wissensrahmen – den allgemeinen und den juristischen Wissensrahmen – heranziehen, steht der vorliegende Rechtsdiskurs in engem Verhältnis mit dem biologischen Wissensrahmen. Insofern bilden manche Umstände im Rahmen der Biologie ebenfalls Gegenstände rechtlicher Klassifizierung.

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation Der Sprachhandlungstyp rechtlicher Beurteilung inklusive Argumentation umfasst zwei grundlegende Sprachhandlungen, die wegen des engen Zusammenhalts in einem umfassenden Sprachhandlungstyp übergehend angenommen werden.30 In diesem Abschnitt werden zunächst die vollzogenen streitigen Sprecherhandlungen exemplifiziert. Auf deren Basis werden einige reflektierende Bemerkungen über das sprachliche Handeln der Rechtsarbeiter – vor allem in Bezug auf die linguistisch hochinteressanten Argumentationstopoi – aufgeführt.

30 In vielen Rechtstexten werden den Sprecherhandlungen der rechtlichen Beurteilung inklusive Argumentation andere verfahrensrechtlich fungierende Sprachhandlungsmuster beigefügt. Solche verfahrensrechtlichen Sprecherhandlungen sind zwar für das Rechtsfindungsverfahren von prozessualer Bedeutung, bilden jedoch nicht den Hauptuntersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit und werden hier deshalb nicht diskutiert.

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

119

6.3.1. Realisierte Sprecherhandlungen 6.3.1.1. Rechtliche Beurteilung Die rechtliche Beurteilung bezieht sich auf das rechtliche Werten unterschiedlicher Parteien aus ihrer jeweiligen textgestützten Rechtsfindungspraxis. So wie der Richter im Urteilstext den Rechtsfall entscheidet, gelangen auch der Staatsanwalt und der Rechtsanwalt des Angeklagten in ihren Texten zu bestimmten rechtlichen Beurteilungsergebnissen gegenüber dem verhandelten Sachverhalt, obwohl diese nicht in Form des richterlichen Tenors erscheinen. Neben dem förmlichen Unterschied liegt ein weiterer Unterschied im Grad der von der Machtkonstellation der jeweiligen Parteien abhängigen Deklarativität der vollzogenen Sprachhandlung. – Rechtsfall 1 Die Staatsanwaltschaft kommt in der Anklageschrift zu dem Ergebnis, dass der Angeklagte in 55 Fällen vorsätzlich mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unerlaubt Handel getrieben und in 16 weiteren Fällen vorsätzlich und gewerbsmäßig mit Betäubungsmitteln unerlaubt Handel getrieben hat. In der Anzahl deutlich reduzierend verurteilte das LG Bamberg den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 8 Fällen. Der Rechtsanwalt des Angeklagten kommt nach seiner Argumentation zu dem Rechtsergebnis, dass der Angeklagte freizusprechen ist. Der BGH bleibt entgegen der rechtlichen Beurteilung des Rechtsanwalts beim Rechtsergebnis der ersten Instanz des LG Bamberg. – Rechtsfall 2 Die Staatsanwaltschaft kommt in der Anklageschrift zu der rechtlichen Beurteilung, dass der Angeklagte durch ein und dieselbe Handlung mit Betäubungsmitteln gewerbsmäßig unerlaubt Handel getrieben und Betäubungsmittel unerlaubt eingeführt hat. Die einzelnen Klassifikationen in der Anklageschrift haben der Angeklagte und seine Rechtsanwältin in ihren Schriftsätzen an die verurteilende Instanz bestritten. Aufgrund der Erwägung der Rechtsklassifikationen und der Beurteilungsergebnisse vorausgehender Parteien kommt die Richterin des AG Linz in ihrem Urteil zu der rechtlichen Beurteilung, dass der Angeklagte unerlaubt Betäubungsmittel eingeführt hat. Gegen dieses Rechtsergebnis legen sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte Berufung ein. Während die Staatsanwaltschaft ihre rechtliche Beurteilung des Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln vertritt, setzt sich die Rechtsanwältin des Angeklagten für die rechtliche Beurteilung in Form eines Freispruchs ein. In einigen darauf folgenden Schriftsätzen haben die Staatsanwaltschaft und die Rechtsanwältin ihrer jeweiligen rechtlichen Beurteilung entsprechend weitere Klassifikationen

120

6. Streitige Sprecherhandlungen

zur problematischen Einordnung der Pilze getroffen. Nach einer erneuten Verhandlung gelangen die Richter des LG Koblenz aufgrund der Klassifikation, dass Pilze weder Pflanzen noch Tiere sind, zu der rechtlichen Beurteilung, dass der Angeklagte keine Betäubungsmittel eingeführt, keinen Handel mit Betäubungsmitteln getrieben und nur vorsätzlich ein Kraftfahrzeug unter der Wirkung eines berauschenden Mittels benutzt hat. Dagegen legt die Staatsanwaltschaft Revision mit der rechtlichen Beurteilung ein, dass das vorherige Urteil auf dem Rechtsfehler bezüglich der Klassifikation der Pilze beruhe und insofern aufzuheben sei. Diese rechtliche Beurteilung bestärkt die Staatsanwaltschaft in einem weiteren Schriftsatz an das OLG Koblenz. Entgegen dieser Rechtsposition kommen die Richter des OLG Koblenz zu der rechtlichen Beurteilung, dass die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das vorige Urteil des LG Koblenz unbegründet ist. 6.3.1.2. Argumentation Unter Berücksichtigung der sich aus verschiedenen Auslegungsmethoden zusammensetzenden Begründungslehre31 werden folgende Kategorien im Rahmen der Argumentationstopoi angenommen, an denen das besondere Erkenntnisinteresse des Rechtsstreits besteht und anhand deren die streitigen Sprecherhandlungen der verschiedenen Parteien systematisch beschrieben werden sollen. 6.3.1.2.1. Berufung auf den Sprachgebrauch – Rechtsfall 1 Die Richter des LG Bamberg unterscheiden explizit zwischen dem juristischen32 (Rechtssprache und Rechtsliteratur), dem naturwissenschaftlichen (spezifische naturwissenschaftliche Unterscheidung) und dem allgemeinen (dem allgemeinen Sprachverständnis) Sprachgebrauch beim Pflanzenbegriff und klassifizieren den juristischen und allgemeinen Sprachgebrauch als identisch bzw. vom naturwissenschaftlichen Verständnis abweichend .33 Demgegenüber unterscheiden der Rechtsanwalt in der Revision und die Richter des BGH im Beschluss – ohne die Rechtssprache und Rechtslite-

31 32 33

Vgl. die vier gängigen Auslegungsmethoden aus juristischer Begründungslehre – grammatische Auslegung, systematische Auslegung, historisch-genetische Auslegung und teleologische Auslegung. Ausführlich siehe Busse, 1989, S. 96. Mit dem „juristischen Sprachgebrauch“ an dieser Stelle wird vor allem der Sprachgebrauch gemeint, der sich aus der Rechtssprache und Rechtsliteratur ergibt. Der Gesetzgeber hat in Übereinstimmung mit Rechtssprache und Rechtsliteratur die Pilze den Pfl anzen zugerechnet. Dieser weite, über spezifische naturwissenschaftliche Unterscheidung hinausgehende Pfl anzenbegriff entspricht auch dem allgemeinen Sprachverständnis, […] .

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

121

ratur anzusprechen – nur zwischen dem allgemeinen und dem biologischen Sprachgebrauch . Der allgemeine und der biologische Sprachgebrauch sind von den Richtern des LG Bamberg, dem Rechtsanwalt des Angeklagten und den Richtern des BGH jeweils unterschiedlich klassifiziert. Die Richter des LG Bamberg gehen von einem über die naturwissenschaftliche Unterscheidung hinausgehenden allgemeinen Sprachverständnis aus, nach dem Pilze Pflanzen zugerechnet werden . Demgegenüber macht der Rechtsanwalt des Angeklagten einen allgemeinen Sprachgebrauch – in Anlehnung an die neue biologische Entwicklung – geltend, nach dem die Pilze als eigene Art und nicht als Pflanzen klassifiziert werden .34 Die Richter des BGH stützen sich – trotz der neuen biologischen Erkenntnis – bei ihrer Argumentation auf eine derartige Fassung des allgemeinen Sprachgebrauches, nach der Pilze Pflanzen zugeordnet werden .35 Mit dem Satzadverbial nach wie vor wird der Aspekt unterstrichen, dass der allgemeine Sprachgebrauch stabil bleibt und nicht von der neuen biologischen Kategorisierung beeinflusst wird. * * * * * Bei der Gewichtung der biologischen Einordnung – Pilze seien keine Pflanzen mehr – lassen sich interessante Unterschiede zwischen dem Rechtsanwalt und den Richtern des BGH feststellen. In der Revision wird die Ansicht, dass Pilze eine selbständige Kategorie neben Pflanzen und Tieren bilden, als wissenschaftliche Erkenntnis manifestiert, während die Einordnung der Pilze zu den Pflanzen eher als überholt , fehlerhaft klassifiziert wird. Die neue biologische Erkenntnis wird in der Revision quasi als die einzige richtige Entwicklungstendenz, die man bei der Auslegung des betäubungsmittelrechtlichen Pflanzenbegriffs berücksichtigen muss, dargestellt. Demgegenüber wird in dem BGH-Beschluss die Relevanz der neuen biologischen Erkenntnis in doppelter Weise herabgesetzt: Zwar ist in der Biologie mittlerweile anerkannt, dass Pilze als eine eigene Organismengruppe neben den (Grün-)Pflanzen stehen. Diese Abgrenzung wird jedoch nicht trennscharf durchgehalten . Die Ansicht, dass Pilze als eigene Kategorie neben Pflanzen stehen, wird hier zunächst nicht als die neue wissenschaftliche Entwicklungstendenz der Biologie qualifiziert, sondern ledig-

34 Bereits ab 2002 ging das allgemeine Sprachverständnis dahin, Pilze als eigene Art und nicht als Pfl anzen zu verstehen . 35 Vor dem Hintergrund der Einteilung der lebenden Natur mittels des Begriffspaars Flora und Fauna werden die Pilze (Pilzfruchtkörper) wegen ihrer für den Laien augenscheinlichen Nähe zu den Pfl anzen nach dem allgemeinen Sprachgebrauch vielmehr nach wie vor – jedenfalls im Tatzeitraum – diesen zugeordnet.

122

6. Streitige Sprecherhandlungen

lich als eine Meinung, die mittlerweise anerkannt ist. Dann folgt auf diese an sich schon in der Gültigkeit relativierte Ansicht gleich die entgegengesetzte Feststellung, dass diese Einteilung nicht trennscharf durchgehalten wird. Die vom Rechtsanwalt als einzig richtig gewichtete biologische Einteilung wird von den BGH-Richtern in der sprachlichen Darlegung – und zwar in der adversativen Satzverbindung mit zwar und jedoch – als alternative Meinung qualifiziert, zu der auch noch eine kontrastive Tendenz unterstrichen wird. Ferner klassifizieren die BGH-Richter die Terminologie in der Biologie – bezüglich des Pflanzenbegriffs – als uneinheitlich: Wenngleich die teilweise uneinheitliche Terminologie in der Biologie zwar einen Hinweis […] . * * * * * Über die Frage, wieweit sich die biologische Erkenntnis, Pilze seien nicht mehr den Pflanzen zuzuordnen, im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzt, vertreten der Rechtsanwalt in der Revision und die BGH-Richter im Beschluss unterschiedliche Positionen. Der Rechtsanwalt spricht vom zunehmenden Eingang dieser Einteilung in Schulbücher, populärwissenschaftliche Veröffentlichungen usw. , während die BGH-Richter eher vom fragmentarischen Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch reden . Mit den beiden Adjektivattributen zunehmend und fragmentarisch werden unterschiedliche Aspekte bei der Art und Weise des Eingangs hervorgehoben. Bei zunehmend wird der Aspekt der Steigerung geltend gemacht, hingegen bei fragmentarisch der der Unvollständigkeit. Daraufhin wird das Ergebnis des Eingangs unterschiedlich von beiden juristischen Parteien klassifiziert. Der Rechtsanwalt vertritt die Ansicht, dass spätestens ab 2002 in keiner Publikation mehr Pilze den Pflanzen zugeordnet worden seien. Dagegen weisen die BGH-Richter – um die uneinheitliche Terminologie in der Biologie nachzuweisen – auf Publikationen nach dem Jahr 2002 hin, in denen Pilze immer noch zu Pflanzen gerechnet werden. * * * * * Zu der Frage, wie (an welchen Textkorpora) der Sprachgebrauch zu ermitteln ist, verhalten sich die jeweiligen Parteien bei ihren Textarbeiten sehr verschiedenartig. Sie haben verschiedene Textbelege zur Rechtfertigung des von ihnen jeweils zugrunde gelegten Sprachgebrauchs in den Vordergrund gerückt. Die Richter des LG Bamberg verzichten auf eigene Ermittlung des Sprachgebrauchs an Textkorpora und schließen sich dem Konzept zum allgemeinen Sprachverständnis einer anderen Rechtsprechung an. Der Rechtsanwalt lehnt sich zwar bei seiner Argumentation in dem Revisionsschreiben ebenfalls an eine andere Rechtsprechung, hat aber im Argumentationsverlauf Textkorpora erwähnt, die er mit dem allgemeinen

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

123

Sprachgebrauch in Verbindung setzt. Dazu zählen Schulbücher, populärwissenschaftliche Veröffentlichungen, Standardnachschlagewerke. Die BGH-Richter versuchen sowohl den biologischen als auch den allgemeinen Sprachgebrauch immer empirisch zu belegen. Für die biologischsystematische Terminologie werden fachliche Standardwerke, vor allem Lehrbücher und Fachwörterbücher geltend gemacht. Natürlich werden nur diese ausgewählt, in denen die Pilze immer noch als Untergruppe des Pflanzenreichs beschrieben werden. Für den allgemeinen Sprachgebrauch haben die BGH-Richter abweichend von dem Rechtsanwalt den Status der Nachschlagewerke und Lehrbücher als vorherrschende Textkorpora relativiert, indem sie wie folgt über die Beziehung zwischen den Nachschlagewerken, Lehrbüchern und dem allgemeinen Sprachgebrauch reflektieren: Denn Nachschlagewerke und Lehrbücher können zwar den allgemeinen Sprachgebrauch prägen, die dort verwendete Terminologie spiegelt ihn aber häufig nicht genau wider und gibt mithin keine sichere Auskunft über dessen aktuellen Stand . Während der Rechtsanwalt in seiner Argumentation den allgemeinen Sprachgebrauch mit dem ausformulierten Sprachgebrauch der Nachschlagewerke und Lehrbücher fast gleichsetzt, legen die BGH-Richter in Bezug auf die Wechselbeziehung zwischen dem allgemeinen Sprachgebrauch und den Nachschlagewerken bzw. Lehrbüchern zwei Aspekte zugrunde. Einerseits wird die prägende Funktion dieser Textkorpora auf den allgemeinen Sprachgebrauch zugegeben – Denn Nachschlagewerke und Lehrbücher können zwar den allgemeinen Sprachgebrauch prägen; andererseits wird deklarativ festgesetzt, dass diese Textkorpora keine sichere Auskunft über den aktuellen Stand des allgemeinen Sprachgebrauchs zu geben vermögen – die dort verwendete Terminologie spiegelt ihn aber häufig nicht genau wider und gibt mithin keine sichere Auskunft über dessen aktuellen Stand. Mit einer in Form der Zwar-aber-Struktur gestalteten Verbindung adversativer Art werden die zwei Teile, die sachlich zusammengehören, nicht zu einer Grundvorstellung verschmolzen, sondern eher in einem Spannungsverhältnis zueinander wahrgenommen.36 Dabei wird der zweite Teil, der dem Gleichsetzungsakt des Rechtsanwalts kritisch entgegenwirkt, dem ersten Teil, der wie beim Rechtsanwalt den Zusammenhang zwischen dem allgemeinen Sprachgebrauch und den erwähnten Textkorpora zugibt, in pointierter Weise angefügt.37 Als Beweis für den allgemeinen Sprachgebrauch haben die BGH-Richter auch noch die Tatsache erwähnt, dass man die Pilze beim Obst- und Gemüsehändler kauft . Sie versuchen den allgemeinen Sprach-

36 Vgl. Köller, 2004, S. 505f. 37 Vgl. Duden – Die Grammatik, 2006, S. 1104.

124

6. Streitige Sprecherhandlungen

gebrauch mit einem realen Ausschnitt, den sie gezielt aus dem Komplex des Alltagslebens herausgreifen, zu belegen. Somit stufen sie die alltägliche Einteilung beim Warenverkauf als relevantere Textkorpora im weiteren Sinne gegenüber Nachschlagewerken und Lehrbüchern ein. Ein weiteres, linguistisch sehr interessantes Textkorpus – das Internet – bringen die BGH-Richter zur Geltung, indem sie durch eine Recherche im Internet die alltägliche Zuordnung von Pilzen, die sich aus dem Warenverkauf ergibt, zu bestätigen versuchen. Dass sie durch die Internet-Recherche das allgemeine Sprachempfinden ermitteln können, rechtfertigen sie damit, dass jedermann das Internet zur Veröffentlichung eigener Texte nutzen und das Internet insofern umfassende Auskunft über das gesamte Spektrum des aktuellen Sprachgebrauchs geben kann . Insofern verhalten sich die BGH-Richter in Bezug auf die Ermittlung des allgemeinen Sprachgebrauchs mehr reflektierend als die Rechtsarbeiter aus den vorhergehenden Instanzen, als sie erstens selber nach dem allgemeinen Sprachgebrauch forschen und zweitens nicht die relativ starren Publikationen, sondern das viel dynamischere Internet als geltendes Textkorpus qualifizieren. Da es aber im Internet zur Zuordnung von Pilzen ganz konkurrierende Ansichten gibt, versuchen die BGH-Richter beim sprachlichen Zugriff derartig über die Pro- und Kontrameinungen zu referieren, dass die Promeinungen, Pilze seien Pflanzen, in der Geltung gesteigert werden: Dort finden sich zwar durchaus etliche Webseiten, auf denen darauf hingewiesen wird, dass Pilze – aus wissenschaftlicher Sicht – keine Pflanzen seien, selbst dort aber auch mit dem Zusatz, dass Pilze irrtümlich (d.h. umgangssprachlich) immer noch den Pflanzen zugerechnet werden (vgl. d. Nachw. bei OLG Koblenz, Urt. vom 15. März 2006 – 1 Ss 341/05, teilweise nicht abgedruckt in NStZ-RR 2006, 218). Auf anderen Webseiten werden Pilze hingegen wie selbstverständlich als Pflanzen bezeichnet (vgl. d. Nachw. in der Antragsschrift der Generalbundesanwältin vom 16. August 2006 sowie exemplarisch „Bertelsmann Wörterbuch“ bei www.wissen.de unter dem Stichwort „Pilz“: „Pflanze ohne Chlorophyll, die von organischen Stoffen lebt ...“) . Zunächst werden die Pro- und Kontrameinungen mit den adversativen Konjunktionaladverbien zwar und hingegen verknüpft, so dass den Kontrameinungen die Promeinungen in pointierter Weise angefügt werden. Bei der Darstellung der Kontrameinungen, Pilze seien keine Pflanzen, wird erstens der Konjunktiv I statt des Indikativs, der an den übrigen Stellen des Satzes sonst benutzt wird, eingesetzt. Dadurch wird – auf jeden Fall für die Wahrnehmung des Rezipienten – eine distanzierende Haltung der Textproduzenten gegenüber der Aussage signalisiert. Durch die Einschiebung der Information selbst dort aber auch mit dem Zusatz, dass Pilze irrtümlich (d.h. umgangssprachlich) immer noch den Pflanzen zugerechnet werden in den Darlegungskomplex der Kontrameinungen, und vor allem durch die Einleitung selbst dort aber auch wird die Gültigkeit der Kontrameinungen zugunsten

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

125

ihrer gegenläufigen Variante herabgesetzt. Die deklarative Sprecherhandlung, welche die als irrtümlich eingestufte Meinung zu umgangssprachlich uminterpretiert – dass Pilze irrtümlich (d.h. umgangssprachlich) immer noch den Pflanzen zugerechnet werden – und als solche klassifiziert, bestärkt die These, dass der allgemeine Sprachgebrauch dahin geht, Pilze doch der Kategorie „Pflanze“ zuzuordnen. Genauso wird die Promeinung durch das kommentierende Satzadverbial wie selbstverständlich in der Gültigkeit bestärkt. Mit der geschickten Gewichtung der Pro- und Kontrameinungen haben die BGH-Richter auf die entgegengesetzte Argumentation des OLG Koblenz aus einem anderen Rechtsfall, an der sich der Rechtsanwalt in der Revision orientiert, erwidert. – Rechtsfall 2 Auch im Rechtsfall 2 wird bezüglich der Pilze-Pflanzen-Beziehung von verschiedenen Rechtsarbeitern eine unterschiedliche Konstellation im Rahmen des Sprachgebrauchs zum jeweiligen Argumentationszweck geltend gemacht. In Bezug auf den Pilz- bzw. Pflanzenbegriff wird nicht nur anders zwischen dem allgemeinen und dem fachspezifischen Sprachgebrauch unterschieden, sondern der einzelne Sprachgebrauch wird auch unterschiedlich klassifiziert und gegenüber anderem gewichtet. Anders als im Rechtsfall 1, in dem bereits in der ersten Instanz schon bewusst auf die Pilze-Pflanzen-Problematik eingegangen wird, taucht die diesbezügliche Kontroverse im Rechtsfall 2 erst in der Textarbeit nach der ersten Instanz auf. In der ersten Instanz konzentriert sich der Streit darauf, ob die eingeführten Pilze als Betäubungsmittel oder als gängige Lebensmittel zu klassifizieren sind. Die deklarative beurteilende Sprecherhandlung des AG Linz, welche die problematischen Pilze schließlich doch als Betäubungsmittel klassifiziert, begründet sich darauf, dass die Richterin den Fokus auf die verbotenen Inhaltsstoffe und nicht mehr auf die Pilze lenkt: Nach Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG handelt es sich sowohl bei Psilocin als auch bei Psilocibin um nicht verkehrsfähige Betäubungsmittel . In der Berufungsbegründung hat die Rechtsanwältin zum ersten Mal auf die Pilze-Pflanzen-Problematik hingewiesen und damit den Streit eröffnet. Mit dem Verweis auf botanische Erkenntnisse wird im Berufungstext der biologische Sprachgebrauch in den Vordergrund des Argumentierens gerückt. Demgegenüber wird in einem Schriftsatz der Staatsanwaltschaft an das LG Koblenz der biologische Sprachgebrauch des Pflanzenbegriffs eher als irrelevant eingestuft: Die Frage, ob es sich bei Pilzen biologisch um Pflanzen handelt, ist irrelevant . Die Richter des LG Koblenz haben bei ihrer Textarbeit zwischen dem biologischen, dem allgemeinen und dem rechtlichen Sprachgebrauch unterschieden und ihre Beziehung zueinander wie folgt klassifiziert. Wie die

126

6. Streitige Sprecherhandlungen

Rechtsanwältin des Angeklagten stützen die Richter ihre Argumentation auf die Geltung des biologischen Sprachgebrauchs, dass die Pilze weder Pflanzen noch Tiere sind. Nach der Festsetzung dieses biologischen Sprachgebrauchs klassifizieren die Richter des LG Koblenz diese fachspezifische Erkenntnis, dass die Pilze den Pflanzen und Tieren als gleichwertige systematische Einheit gegenüberstehen, als über den rein biologischen Bereich hinaus durchgesetzt . Damit wird der Einfluss der biologischen Fachsprache auf andere Diskurse postuliert. Betroffen sind nicht nur der allgemeine Sprachgebrauch in nicht-wissenschaftlichen Publikationen, sondern auch die juristischen Veröffentlichungen . Die Richter des LG Koblenz gehen von einem allgemeinen Sprachgebrauch aus, der in Bezug auf den Pflanzenbegriff an die biologische Auffassung anknüpft und wegen des Bestimmtheitsgebots für die juristische Auslegung des Pflanzenbegriffs maßgebend sein sollte. Damit übernehmen sie die Rechtsposition der Rechtsanwältin des Angeklagten und machen im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Argumentierens den inhaltlich gleichen Sprachgebrauch wie den der Rechtsanwältin bezüglich des Pflanzenbegriffs geltend. Im Gegensatz zu der Staatsanwaltschaft, welche die Relevanz der biologischen Einordnung für die juristische Auslegung heruntergesetzt hat, stufen die Richter des LG Koblenz mit einer deklarativen Sprecherhandlung die biologische Auffassung als relevant ein, indem sie das Tatbestandsmerkmal „Pflanze“ an den biologischen Begriff der Pflanze anschließen und dies dann noch als unmissverständlich bzw. als an sich selbstverständliche Zuordnung bezeichnen . Mit dieser etikettierenden Sprecherhandlung bestärken sie den Geltungsanspruch der an sich eigentlich nicht unstrittigen Zuordnung.38 Den sich aus der vorhandenen Rechtsliteratur ergebenden juristischen Sprachgebrauch des Pflanzenbegriffs, an dem sich die Gegenpartei orientiert, klassifizieren die Richter des LG Koblenz als im Gegensatz zu der allgemeinen und fachwissenschaftlichen Auffassung stehendes Begriffsverständnis und daraufhin als für den Normadressaten nicht maßgeblich . Auch die Art und Weise, wie sie die Rechtssprache und Rechtsliteratur referieren, die unmittelbar mit dem juristischen Sprachgebrauch zusammenhängen, schwächt die Gültigkeit dieses juristischen Sprachgebrauchs ab: Selbst wenn Rechtssprache und Rechtsliteratur diese Auffassung verträten, […] . Zunächst wird durch die Verwendung des Konjunktivs II, der wegen seines immanenten Negationspotentials den Wahrheitsanspruch relativiert,39 metakommunikativ der Inhalt des juristischen Sprachgebrauchs bezweifelt. Darüber hinaus wird die Wirk38 Die Staatsanwaltschaft ist beispielsweise eindeutig gegen diese Zuordnung. Sie vertritt die Rechtsposition, dass Pilze in Überstimmung mit Rechtssprache und Rechtsliteratur dem Pflanzenreich zugeordnet werden müssen. 39 Vgl. Köller, 1997, S. 142.

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

127

samkeit dieses juristischen Sprachgebrauchs, der als Gegengrund fungieren sollte, durch die konzessive Konjunktion selbst wenn auch noch vermindert. Die Staatsanwaltschaft hat sowohl in der gegen das Urteil eingelegten Revision als auch in einem weiteren Schriftsatz an die nächste Instanz des OLG Koblenz zwischen dem biologischen, dem juristischen und dem allgemeinen Sprachgebrauch unterschieden. Anders als die Richter des LG Koblenz, die den juristischen Sprachgebrauch in Frage stellen, setzt die Staatsanwaltschaft mit einer deklarativen Sprecherhandlung den juristischen Sprachgebrauch wie folgt fest: Im Übrigen werden – unabhängig von der biologischen Einordnung der Pilze – in der nationalen und internationalen Rechtsprache [sic] und Rechtsliteratur Pilze als Pflanzen bezeichnet . Dadurch, dass die Präpositionalphrase unabhängig von der biologischen Einordnung der Pilze mit Gedankenstrichen an der Textoberfläche vom gesamten Satzkomplex herausgehoben wird, wird die Auseinanderfächerung zwischen der biologischen Einordnung und dem juristischen Sprachgebrauch in Bezug auf die Pilze-Pflanzen-Problematik unterstrichen. Auf die Klassifizierung der Richter des LG Koblenz, dass die Auffassung der Rechtssprache und Rechtsliteratur wegen der Abweichung von der allgemeinen und fachwissenschaftlichen Auffassung nicht maßgeblich sei, erwidert die Staatsanwaltschaft mit der entgegengesetzten Reflexion über die generelle Beziehung (hier nicht spezifisch für die Pilze-Frage!) zwischen der Rechtssprache und der Gemeinsprache: dass die Rechtsprache [sic] in vielen Fällen nicht mit den im allgemeinen Lebensgebrauch üblichen Begriffen übereinstimmt . Des Weiteren klassifiziert die Staatsanwaltschaft im Schriftsatz den juristischen Sprachgebrauch gegenüber dem naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch als relevanter für die Auslegung der Tatbestandsmerkmale: […] kommt es bei der Auslegung der Tatbestandsmerkmale allein auf den juristischen und nicht auf den naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch an . Interessant ist, dass sich die Staatsanwaltschaft im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Argumentierens – wie die Richter des LG Koblenz – ebenfalls auf den allgemeinen Sprachgebrauch beruft: Im übrigen ist bei der Auslegung des Begriffs „Pflanze“ auf das allgemeine Sprachverständnis abzustellen, […] . Dabei ist aber die staatsanwaltschaftliche Auffassung zum allgemeinen Sprachgebrauch offensichtlich anders – d.h. in Abweichung von der Auffassung der Richter des LG Koblenz – konturiert. Die Staatsanwaltschaft nimmt nämlich in Bezug auf den Pflanzenbegriff ein über spezifische naturwissenschaftliche Unterscheidungen hinausgehendes bzw. von den rein fachwissenschaftlichen Begriffsdefinitionen abweichendes allgemeines Sprachverständnis an . Als die höchste entscheidende Instanz in diesem Rechtszug haben die Richter des OLG Koblenz in Bezug auf die Pilze-Pflanzen-Zuordnung lediglich auf die naturwissenschaftliche Erkenntnis und den allgemeinen Sprach-

128

6. Streitige Sprecherhandlungen

gebrauch hingewiesen. Den von der Gegenpartei viel öfters zur Geltung gebrachten juristischen Sprachgebrauch aufgrund der Rechtssprache und Rechtsliteratur haben sie nur allgemein, nicht in Bezug auf den Pflanzenbegriff angesprochen. Diesen haben sie als unerheblich klassifiziert . Demgegenüber rücken sie bei der Auslegung des Pflanzenbegriffs den allgemeinen Sprachgebrauch, der unter dem Einfluss der neueren biologischen Erkenntnis im Wandel steht, in den Vordergrund und konzentrieren sich im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Argumentierens auf die Ermittlung dieses Sprachgebrauchs . Im Ergebnis gehen die Richter des OLG Koblenz – entsprechend dem Urteil der Richter des LG Koblenz, aber entgegen der Klassifikation der Staatsanwaltschaft – von einem objektivierten allgemeinen Sprachverständnis aus, nach dem Pilze keine Pflanzen sind . Der Streit bezüglich des Sprachgebrauchs lässt sich nach der ausführlichen Darstellung kurz und prägnant wie folgt zusammenfassen. Die Rechtsanwältin des Angeklagten macht mit dem Ziel der Ausklammerung der Betäubungsmittel und damit des Freispruchs in der Berufungsschrift zum ersten Mal auf die Pilze-Pflanzen-Zuordnung aufmerksam und rückt den biologischen Sprachgebrauch, Pilze seien keine Pflanzen, im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Argumentierens in den Vordergrund. Die Staatsanwaltschaft setzt dagegen mit einer deklarativen Sprecherhandlung die Relevanz des biologischen Sprachgebrauchs bezüglich des Pflanzenbegriffs herunter und macht stattdessen bei ihrer Rechtfertigung der Einordung der Pilze zu den Pflanzen ein „allgemeines Sprachverständnis“ geltend, das über die spezifische biologische Fachterminologie hinausgeht und die Pilze der Kategorie „Pflanze“ zuordnet. Genau wie die Staatsanwaltschaft berufen sich die Richter des LG Koblenz und des OLG Koblenz bei ihren Argumentationen ebenfalls auf den Topos des allgemeinen Sprachgebrauchs und setzen allerdings – im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft – eine andere Auffassung vom allgemeinen Sprachgebrauch fest, die der biologischen Erkenntnis entspricht und die Pilze als eigenständige Kategorie neben Pflanzen und Tieren einstuft. * * * * * Im Hinblick auf die Frage, wie der zur Geltung gebrachte Sprachgebrauch ermittelt werden kann, weisen auch im Rechtsfall 2 verschiedene Parteien große Unterschiede im Rahmen argumentierender Sprecherhandlungen auf. Indem sie sich bei der Argumentation auf unterschiedliche Textkorpora beziehen, stufen sie damit die von ihnen in Anspruch genommenen Textkorpora als relevant ein. Dabei handelt es sich im Grunde genommen auch um Sprecherhandlungen klassifizierender Natur. Die Rechtsanwältin hat in der Berufungsschrift die von ihr in den Vordergrund gerückten botanischen Erkenntnisse überhaupt nicht durch Text-

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

129

belege nachgewiesen . Sie scheint vom eigenen Verständnis der Biologie ausgegangen zu sein. Der Tatsache, dass der bevorzugte Sprachgebrauch gerechtfertigt werden muss, schreibt sie keine Relevanz zu. Im Gegensatz zur Rechtsanwältin versucht die Staatsanwaltschaft den von ihr präferierten Sprachgebrauch anhand anderer Texte zu belegen. In Bezug auf den traditionellen juristischen Sprachgebrauch aus der nationalen und internationalen Rechtssprache und Rechtsliteratur stützt sie sich auf die Ansicht des Gesetzeskommentars von Körner, während sie sich bezüglich des allgemeinen Sprachgebrauchs und dessen Beziehung zur naturwissenschaftlichen Unterscheidung auf die Rechtsposition einer anderen Rechtsprechung beruft, und zwar die des viel zitierten Urteils des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 25.09.2002.40 Sowohl bei dem juristischen Sprachgebrauch in der nationalen und internationalen Rechtsprache [sic] und Rechtsliteratur als auch bei dem allgemeinen Sprachgebrauch handelt es sich um ein komplexes Konstrukt, das an breiten Textkorpora ermittelt und nachgewiesen werden muss. Die Staatsanwaltschaft schließt sich aber anstelle einer selbstständigen Ermittlung anhand umfassender empirischer Belege eher festgesetzten Konzepten in anderen Texten an. Sie stellt sich insofern sowohl inhaltlich als auch methodisch in ein kritisches Spannungsverhältnis zu denjenigen Rechtsarbeitern, die den Sprachgebrauch selber an empirischen Textkorpora zu ermitteln und zu belegen versuchen. Schon die Richter des LG Koblenz – die vorhergehende Instanz des OLG Koblenz – berufen sich im Zusammenhang mit dem biologischen Sprachgebrauch auf konkrete Textbelege. Erwähnt werden sowohl das traditionelle ausgedruckte Lehrbuch als auch das modernere Internethypertextbuch zur Botanik . Zum ersten Mal wird das Internet als relevantes Korpus in die Argumentationsschemata eingeschaltet. Für den weiteren, über die Biologie hinausgehenden Sprachgebrauch heben die Richter das Zeit-Lexikon, einen Lehrervortrag für den Sachkundeunterricht an einer Grundschule und den populärwissenschaftlichen „Ravensburger Naturführer“ aus der großen Menge der als Beleg zu geltenden Textkorpora heraus. Diese Auswahl ist insofern linguistisch sehr interessant, als sie sowohl das enzyklopädische Nachschlagewerk in 20 Bänden (das Zeit-Lexikon) als auch die populärwissenschaftliche Einführung für Kinder (Ravensburger Naturführer) umfasst und sowohl schriftliche als auch mündliche Textbelege (Lehrervortrag) enthält . Über die Beziehung zwischen dem Sprachgebrauch und den in Anspruch genommenen Textkorpora wird von den Richtern des LG Koblenz nicht viel reflektiert und differenziert, wie es

40 Dieses Urteil wird ebenfalls von den Richtern des LG Bamberg im Rechtsfall 1 in ihrer Argumentation herangezogen.

130

6. Streitige Sprecherhandlungen

bei den BGH-Richtern des Rechtsfalls 1 der Fall ist. Sie gehen eher – wie viele andere Rechtsarbeiter – von einer einfachen Gleichsetzung des allgemeinen Konzepts des Sprachgebrauchs mit diesen einzelnen realisierten Varianten in den erwähnten Textkorpora aus. Die Richter des OLG Koblenz sind bei ihrer Argumentation sehr aufwendig vorgegangen, um den Sprachgebrauch des im Bedeutungswandel stehenden Pflanzenbegriffs selber an größeren Mengen von Textkorpora empirisch zu ermitteln. Die Richter des OLG Koblenz rücken den von der naturwissenschaftlichen Erkenntnis beeinflussten allgemeinen Sprachgebrauch in den Mittelpunkt ihrer Argumentation. Sehr sorgfältig und problembewusst distanzieren sie sich bei der Ermittlung des Sprachgebrauchs von der subjektiven Semantik des Rechtsarbeiters, die sonst oft der vagen und abstrakten Größe des Sprachgebrauchs gleichgesetzt wird, und stufen dagegen die Objektiviertheit in Publikationen als wichtiges Kriterium ein. Und diese Klassifikation leiten sie an der Textoberfläche mit dem Satz Es liegt auf der Hand ein, um der eigentlich deklarativen Sprecherhandlung den Schein der selbstverständlichen Geltung zu verleihen: Es liegt auf der Hand, daß für die Feststellung des Wortsinns aus Sicht des Bürgers – auch als allgemeiner Sprachgebrauch, allgemeines Sprachverständnis (BayObLG NStZ 03, 270) oder Alltagssprachgebrauch bezeichnet – weder die subjektive Vorstellung noch der aktuelle Stand der Allgemeinbildung eines Richters, Staatsanwalts, Rechtsanwalts oder Angeklagten maßgeblich sein kann. Entscheidend ist vielmehr der objektivierte Sinngehalt, wie er sich in Publikationen findet, die den Sprachgebrauch sowohl widerspiegeln als auch prägen . Besonders reflektiert differenzieren sie zwischen der subjektiven Vorstellung und dem aktuellen Stand der Allgemeinbildung eines Richters, Staatsanwalts, Rechtsanwalts oder Angeklagten als zwei möglichen Varianten der subjektiven Semantik des Rechtsarbeiters. Die Beziehung zwischen dem Sprachgebrauch und den Publikationen, in denen der Sprachgebrauch objektiviert wird, klassifizieren die Richter des OLG Koblenz mit einer deklarativen Sprecherhandlung als sowohl widerspiegeln als auch prägen. Das steht im Gegensatz zu der Rechtsposition der BGH-Richter im Rechtsfall 1. Da haben die BGH-Richter trotz der Anerkennung der prägenden Funktion die widerspiegelnde Funktion durch eine adversative Zwaraber-Struktur relativiert. Hier stehen aber die beiden Momente – 1) prägen und 2) widerspiegeln – jedoch in einer additiven Sowohl-als-auch-Relation.41

41

Der Beschluss des Bundesgerichtshofs und das Urteil des Oberlandesgerichts gehören zwar unterschiedlichen Rechtsfällen an; sie stehen aber in engem Zusammenhang, weil sie beide von hohen Entscheidungsinstanzen stammen und insofern einen großen Einfluss auf spätere Rechtsprechungen zu nehmen vermögen. Sie stehen einander sowohl im Ergebnis als auch in vieler Hinsicht in der Argumentation direkt entgegen, was das streitende Wesen des juristischen Entscheidungsprozesses besonders auszeichnet.

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

131

Durch dieses Beispiel lässt sich die Zubereitungsfunktion der Verknüpfungszeichen klar veranschaulichen. Als Belege des biologischen Sprachgebrauchs werden – vor allem fachliche – Nachschlagewerke angeführt. Als die den allgemeinen Sprachgebrauch objektivierenden Publikationen werden 1) Standardnachschlagewerke wie Wahrig, Duden, Brockhaus, Zeit-Lexikon, 2) Lehrmaterialien für Schulen und Lehrerausbildung und 3) Beiträge aus dem Internet erwähnt. Anders als bei den anderen Rechtsarbeitern, die in vielen Fällen nur die Informationsquellen (Titel, Jahrgang und ggf. Seitennummer) als die Argumentation unterstützende Textkorpora angeben, zitieren die Richter des OLG Koblenz im Urteilstext auch ausführlichere Auszüge aus den ursprünglichen Textkorpora . Besonders bemerkenswert ist, dass sie bei dem Duden-Lexikon explizit durch einen Vergleichssatz mit der adversativen Konjunktion während zwei konkurrierende Definitionen aus unterschiedlichen Auflagen skizzieren und somit den Bedeutungswandel unterstreichen: Während im Duden – Das große Lexikon der Allgemeinbildung, Ausgabe 2000 – noch zu lesen war, Pilze seien „eine Art Pflanze“, heißt es in der jüngsten Ausgabe aus dem Jahre 2003, daß die Pilze nicht zu den Pflanzen gehören . Wie die Richter des LG Koblenz haben auch die Richter des OLG Koblenz das Internet in die Argumentationsschemata eingeschaltet. Statt der Beschränkung der Richter des LG Koblenz auf die Online-Version von Lehrwerken machen die Richter des OLG Koblenz verschiedene Beiträge aus dem Internet geltend. Wenn man die von ihnen aufgelisteten Beiträge mit den Ergebnissen der Internet-Recherche der BGH-Richter vergleicht, lässt sich interessanterweise beobachten, dass sich die Richter des OLG Koblenz nicht mit den möglichen Pro- und Kontrameinungen bei der Pilze-PflanzenZuordnung auseinandergesetzt haben, wie es bei den BGH-Richtern der Fall ist, sondern dass sie lediglich die Beiträge, in denen die Pilze nicht als Pflanzen kategorisiert werden, als relevante Ergebnisse ihrer Internet-Recherche in die Argumentationsschemata aufgenommen haben. Bei dem zitierten Internet-Beitrag Der größte Irrtum, den viele begehen…, ist zu glauben, dass der Pilz eine Pflanze sei. Doch dafür fehlen ihm einige wichtige Eigenschaften […] haben die Richter des OLG Koblenz trotz der Angabe des Irrtums nicht wie die BGH-Richter eine Uminterpretation des Irrtums zum umgangssprachlichen Sprachgebrauch unternommen.42 Ein Vergleich mit dem BGH-Beschluss in Bezug auf die in Anspruch genommenen Textkorpora zeigt, dass sich beide bei der Argumentation auf

42 […] selbst dort aber auch mit dem Zusatz, dass Pilze irrtümlich (d.h. umgangssprachlich) immer noch den Pfl anzen zugerechnet werden […] .

132

6. Streitige Sprecherhandlungen

Nachschlagewerke, Lehrwerke und Internet-Beiträge berufen. Offensichtlich haben beide Entscheidungsinstanzen unterschiedliche Einzeltexte der gleichen Informationstypen ausgesucht, die dem eigenen Argumentationszweck entsprechen. Dies veranschaulicht, dass die Ermittlung des Sprachgebrauchs an Textkorpora nicht zu absoluten Ergebnissen führt. Der Kunstgriff und der daraus resultierende Streit liegen meistens in der Auswahl adäquater Texte aus der unendlichen Menge der Textwelt. Sogar bei demselben Textausschnitt könnte eine raffinierte sprachliche Zugriffsweise zu entgegengesetzten Interpretationen führen. * * * * * Im Rahmen der geltend gemachten Textkorpora zur Ermittlung bzw. Belegung des Sprachgebrauchs sei besonders auf den BtMG-Kommentar von Körner verwiesen. Dieses Werk wird aufgrund seines hohen Autoritätsanspruchs mehrfach verwendet. Das Interessante dabei ist, dass dasselbe Werk in derselben Auflage von den streitenden Gerichtsparteien zu entgegengesetzten Argumentationszwecken benutzt wird.43 Es geht um den Streit zwischen den Richtern des LG Koblenz und der Staatsanwaltschaft. Die Richter des LG Koblenz wollten im Urteil auf der Grundannahme, Pilze seien keine Pflanzen, die psilocybin- und psilocinhaltigen Pilze nicht als Betäubungsmittel klassifizieren. Demgegenüber wollte die Staatsanwaltschaft in der diesem Urteil folgenden Revisionsschrift die Uneinheitlichkeit der biologischen Zuordnung der Pilze unterstreichen und dementsprechend die Pilze dennoch dem Regulierungsbereich des Betäubungsmittelgesetzes unterordnen. Die Richter des LG Koblenz verweisen auf den Anhang C1, Randnummer 325, um den Eingang der biologischen Erkenntnis, Pilze seien keine Pflanzen, auch in die juristischen Veröffentlichungen zu beweisen: Auch in juristischen Veröffentlichungen, z.B. im Standard-Kommentar zum BtMG von Körner, 5. Auflage 2001, wird unter Anhang C 1, Randnr. 325, darauf hingewiesen, dass ein Zuordnen der Rauschpilze zu dem „Rechtsbegriff “ Pflanze wissenschaftlich unkorrekt sei . Der Hinweis, dass ein Zuordnen der Rauschpilze zu dem „Rechtsbegriff “ Pflanze wissenschaftlich unkorrekt sei, lässt sich im Grunde genommen in doppelter Art und Weise interpretieren, dass es erstens in der Rechtssprache die Zuordnung der Rauschpilze zu dem Rechtsbegriff der Pflanze gibt und dass zweitens diese Zuordnung wissenschaftlich unkorrekt ist. Aus dem Kontext, der gerade die Durchsetzung der biologischen Erkenntnis auch in anderen nicht-biologischen Bereichen unterstreicht, wird die zweite Interpretation in den Vordergrund gerückt und die erste eher unterdrückt.

43 Körner, 2001.

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

133

Die Staatsanwaltschaft benutzt eine andere Stelle aus demselben Gesetzeskommentar (§ 2 Randnummer 18), um ihr Argument, dass es im Jahr 1998 in der Biologie noch höchst umstritten war, ob es sich bei Pilzen um Pflanzen, Tiere oder einen eigenständigen Lebensbereich handelt, zu unterstützen: Zu diesem Zeitpunkt war in der Biologie höchst streitig, ob es sich bei Pilzen um Pflanzen, Tiere oder einen eigenständigen Lebensbereich handelt (vgl. Körner, BtMG, 5. Aufl., § 2 Randnr. 18) . Bemerkenswert ist, dass sich die Staatsanwaltschaft zur Feststellung einer biologischen Streitfrage nicht auf biologische, sondern auf juristische Fachliteratur beruft. Damit wird die Einbettung des biologischen Fachwissens in juristischen Kontext unterstrichen. Wenn es sich bei der Zuordnung der Pilze um eine Streitfrage handelt – wie es die Staatsanwaltschaft darstellen wollte, lässt solcher Streit beide Auffassungen, die Pilze als Pflanzen oder nicht als Pflanzen zu kategorisieren, zu. Die Staatsanwaltschaft rückt aber auf der Basis dieses Streits mit einer deklarativen Sprecherhandlung und ohne jede Rechtfertigung für ihre Entscheidung die von ihr gewünschte Auffassung, die Pilze als Pflanzen ansieht, explizit in den Vordergrund, ohne die entgegengesetzte Möglichkeit überhaupt anzudeuten: Es stand dem Gesetzgeber frei, sich der Auffassung anzuschließen, die Pilze als Pflanzen ansah . * * * * * Den Status, welchen die Erkenntnis, nach der Pilze als eigenständige Kategorie neben Pflanzen und Tieren gelten, einnimmt, setzen die unterschiedlichen Gerichtsparteien mit deklarativen Sprecherhandlungen jeweils anders fest. In der Berufungsschrift, wo die Pilze-Pflanzen-Problematik in diesem Rechtsfall zum ersten Mal in die Argumentationsschemata eingeschaltet wird, setzt die Rechtsanwältin des Angeklagten fest, dass es eindeutig und ohne jeden Zweifel ist, dass die Pilze einer völlig eigenständigen Eingruppierung unterliegen . Auch die Richter des LG Koblenz klassifizieren diese biologische Erkenntnis als seit vielen Jahren bekannt und dementsprechend den Wortlaut des Pflanzenbegriffs als klar . Sowohl die Rechtsanwältin als auch die Richter des LG Koblenz haben die biologische Erkenntnis bei ihrer Textarbeit sprachlich derart etabliert, als ob sie die einzige und absolut richtige Erkenntnis in der Biologie sei. Dagegen unterstreicht die Staatsanwaltschaft den Streit innerhalb der Biologie, ob es sich bei Pilzen um Pflanzen, Tiere oder einen eigenständigen Lebensbereich handelt . Auch durch die anders gestaltete Attribuierung kommt die unterschiedliche Evaluierung der Gerichtsparteien ins Spiel. Die Richter des OLG Koblenz machen in dem Urteil durch das Adjektivattribut „früh“ bei der Nominalphrase die frühere Zuordnung der Pilze zu den Pflanzen den zeitlichen Unterschied geltend . Die Staatsanwaltschaft – um die Strei-

134

6. Streitige Sprecherhandlungen

tigkeit innerhalb der Biologie zu unterstreichen – tilgt in der Revisionsschrift den zeitlichen Unterschied und klassifiziert die Auffassung, Pilze seien keine Pflanzen, bloß als andere Meinung. Während die beiden Meinungen, ob Pilze dem Pflanzenreich zugeordnet werden oder nicht, von der Staatsanwaltschaft als in gleichem Maße gültig und insofern frei anschließbar dargestellt werden, unterstreichen die Richter des OLG Koblenz die durch die zeitliche Abfolge bedingte Hierarchie der beiden Meinungen zugunsten des propagierten Bedeutungswandels. Eine völlig andere Gewichtung des Status der biologischen Erkenntnis, Pilze aus dem Pflanzenreich auszuschließen, liefert die Staatsanwaltschaft in einem Schriftsatz an das OLG Koblenz, indem sie durch die Bezeichnung Mindermeinung den geltenden Status dieser biologischen Erkenntnis herabsetzt. 6.3.1.2.2. Berufung auf die Gesetzessystematik – Rechtsfall 1 Dass die BGH-Richter bei der Auslegung des Pflanzenbegriffs nicht die wissenschaftliche Terminologie der Biologie übernehmen, sondern den allgemeinen Sprachgebrauch präferieren, rechtfertigen sie mit dem Argument des Kontexts, was explizit der Argumentation einer anderen, bereits entschiedenen Rechtsprechung (AG Hamburg, Az. Ds 6001 Js 680/02) zuwiderläuft.44 Das AG Hamburg vertritt die Ansicht, dass es für die Auslegung nicht auf den allgemeinen Sprachgebrauch, sondern auf die biologisch-systematische Begriffsbestimmung ankommt, weil die in der Anlage genannten Begriffe allesamt wissenschaftlicher Art sind. Genau das bestreiten die BGH-Richter.45 Sie klassifizieren mit einer deklarativen Sprecherhandlung diese Argumentation des AG Hamburg als dringt nicht durch . Als Gegenargumente werden erstens angeführt, dass in den Anlagen auch wissenschaftlich nicht eindeutige Bezeichnungen („Trivialnamen“) zu finden sind. Dies wird durch das adversativ verbindende Adverb vielmehr eingeleitet, das den Kontrast zur vorausgegangenen Argumentation des AG Hamburg in Bezug auf die wissenschaftliche Begrifflichkeit der Anlagen unterstreicht. Zweitens berufen sich die BGH-Richter zur Rechtfertigung ihrer Entscheidung für den allgemeinen Sprachgebrauch statt für die biologische 44 Das Urteil des AG Hamburg gehört zum Rechtsfall 5. Es handelt sich hier wieder um einen über einzelnen Rechtsfall hinausgehenden Streit unterschiedlicher Rechtsarbeiter. 45 Der Einwand, es sei ausnahmsweise eine biologisch-systematische Begriffsbestimmung geboten und Pilze seien daher […] nicht erfasst gewesen, da die in den Anlagen zu § 1 Abs. 1 BtMG genannten Begriffe allesamt wissenschaftlicher Art seien (so AG Hamburg StraFo 2004, 360, 361), dringt nicht durch. Denn die Anlagen wenden sich […] auch an den Bürger und berücksichtigen […] dessen Sprachverständnis. So sind dort etwa für die Wirkstoffe nicht nur die chemischen Namen […] genannt. Vielmehr finden sich auch wissenschaftlich nicht eindeutige Bezeichnungen („Trivialnamen“) .

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

135

Terminologie auf den § 2 BtMG, der ebenfalls den Pflanzenbegriff, aber keine spezifisch wissenschaftliche Terminologie enthält.46 Wir haben es hier mit einem interessanten Kontext-Argument zu tun. Die BGH-Richter und der Richter des AG Hamburg haben sich gleichermaßen bei ihrer Argumentation zur Auslegung des Pflanzenbegriffs auf das Moment des Kontexts berufen. Aber durch den unterschiedlichen Rahmen, den sie jeweils als „Kontext“ für den Pflanzenbegriff geltend gemacht haben, gelangen sie zu gegeneinander konkurrierenden Schlussfolgerungen: Der Richter des AG Hamburg verwendet die Anlagen an sich und bedient sich nahezu ausschließlich einer wissenschaftlichen Begrifflichkeit; die BGHRichter hingegen richten zunächst bezüglich der Anlagen den Fokus auf die Trivialnamen, die nicht wissenschaftlicher Art sind, und ziehen zusätzlich noch den § 2 BtMG heran, der keine spezifisch wissenschaftliche Terminologie enthält. Das veranschaulicht die sprachgestützten Zubereitungsmöglichkeiten juristischer Funktionsträger bei ihren Textarbeiten. – Rechtsfall 2 Wie im Rechtsfall 1 wird auch hier die Gesetzessystematik im Rahmen argumentierender Sprecherhandlungen zur Geltung gebracht. Die Richter des LG Koblenz versuchen im Urteilstext die Anknüpfung der juristischen Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Pflanze“ an den biologischen Begriff mit der Gesetzessystematik zu rechtfertigen, indem sie darauf hinweisen, dass in den Anlagen zum BtMG die genannten Begriffe überwiegend spezifisch wissenschaftlicher Art […] sind, die sich nur auf der Grundlage der entsprechenden Fachsprache und des zugrunde liegenden Fachwissens einem Verständnis erschließen . Damit rücken sie die wissenschaftliche Herkunft betäubungsmittelrechtlicher Begriffe in den Vordergrund. Demgegenüber stützt sich die Staatsanwaltschaft in einem Schriftsatz an das OLG Koblenz ebenfalls explizit auf die Gesetzessystematik – Aus diesem systematischen Zusammenhang sowie dem Kontext der in § 2 BtMG verwendeten Begriffe – und gelangt genau zu dem entgegengesetzten Ergebnis, dass die Wörter „Pflanze und Pflanzenteile“ der Rechtssprache und nicht einer naturwissenschaftlichen Fachsprache entnommen sind .47 Sie geht offensichtlich von einer anders konzipierten Gesetzessystematik aus, indem sie unterstreicht, dass die Wörter „Pflanze und Pflanzenteile“ in der Anlage I dem Normtext des Betäubungsmittelgesetzes entstammen und insofern

46 Überdies könnte der Pfl anzenbegriff in der Anlage I nicht anders bestimmt werden als in § 2 BtMG, der jedenfalls keine spezifisch wissenschaftliche Terminologie enthält . 47 Die Staatsanwaltschaft vertritt die Ansicht, dass der juristische Sprachgebrauch des Pflanzenbegriffs von seiner biologischen Definition abweicht.

136

6. Streitige Sprecherhandlungen

juristischer, nicht naturwissenschaftlicher Art sind: Hinzu kommt, dass der Gesetzestext mit den Worten „Pflanzen und Pflanzenteile“ in Anlage I a. E – 5. Gedankenstrich (a.F.) lediglich die Begriffe aufgenommen hat, die in § 2 Abs. Nr. 1 BtMG zur Definition des Begriffes des „Stoffes“ herangezogen sind. Aus diesem systematischen Zusammenhang sowie dem Kontext der in § 2 BtMG verwendeten Begriffe ergibt sich, dass Wörter „Pflanze und Pflanzenteile“ der Rechtssprache und nicht einer naturwissenschaftlichen Fachsprache entnommen sind . Während sich die Richter des LG Koblenz bei der Argumentation auf den „näheren“ Kontext der Gesetzesanlage beschränken, bringt die Staatsanwaltschaft unter dem geschickt eingesetzten Konzept der „Begriffswiederaufnahme“ den „weiteren“ Kontext des Normtexts ins Spiel. Linguistisch ist noch zu bemerken, dass sowohl der Anlagentext als auch der Paragraphentext Begriffe dieser oder jener – d.h. juristischer oder nichtjuristischer, naturwissenschaftlicher oder nicht-naturwissenschaftlicher – Art umfassen. Die streitenden Parteien haben jeweils zum eigenen Argumentationszweck den gewünschten Aspekt akzentuiert und andere ausgeblendet. 6.3.1.2.3. Berufung auf andere Rechtsprechungen Obwohl Deutschland dem normtextorientierten Rechtssystem folgt, bei dem die Richter ihre Entscheidung weniger durch Berufung auf vorherige Präzedenzfälle als durch Berufung auf geschriebene Gesetzesnormen rechtfertigen, werden frühere Rechtsprechungen dennoch oft als tragfähiger Stützpunkt in die Argumentationsschemata eingebettet. – Rechtsfall 1 Bei der Definition des allgemeinen Sprachgebrauchs zum Pflanzenbegriff schließen sich die Rechtsarbeiter verschiedener Parteien unterschiedlichen Rechtsprechungen an. Die Richter des LG Bamberg lehnen sich im Urteil bei ihrem Pflanzenkonzept explizit an das Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts (Az. 4 St RR 80/2002) an,48 während sich der Rechtsanwalt des Angeklagten in der Revision auf die Argumentation des OLG Koblenz (Az. 1 Ss 341/05)49 beruft. Um die Gültigkeit der von den Richtern des LG Bamberg herangezogenen Rechtsprechung zu bestreiten, hat sich der Rechtsanwalt auch bei seiner Textarbeit mit dieser Rechtsprechung auseinandergesetzt: Er verweist zunächst auf den Unterschied der Tatzeiten zwischen dem Rechtsfall des Bayerischen Obersten Landesgerichts und dem vorliegenden Rechtsfall und

48 Dieses Urteil ist die zweitinstanzliche Entscheidung im Rechtsfall 4. 49 Dieses Urteil ist die drittinstanzliche Entscheidung im Rechtsfall 2.

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

137

klassifiziert daraufhin die Ansicht des Bayerischen Obersten Landesgerichts über den Sprachgebrauch des Pflanzenbegriffs explizit als überholt . Damit macht er entgegen den Richtern des LG Bamberg einen anderen Text – die Rechtsprechung vom OLG Koblenz – geltend. – Rechtsfall 2 Im Vergleich zum Rechtsfall 1 berufen sich die Rechtsarbeiter im Rechtsfall 2 im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Argumentierens in erhöhtem Ausmaß auf frühere Rechtsprechungen. Die streitenden Parteien haben unterschiedliche Rechtsprechungen herausgesucht und in die Argumentation gebracht, um die eigene Rechtsposition zu unterstützen. Es besteht besonderes Erkenntnisinteresse, wie – d.h. aufgrund welchen Zusammenhangs bzw. welcher Ähnlichkeit – die Rechtsarbeiter die jeweils angeführte Rechtsprechung mit dem vorliegenden Fall in Beziehung setzen. Die Rechtsanwältin des Angeklagten hat in der Berufungsbegründung auf die Entscheidung des AG Hamburg vom 18.03.2004 verwiesen, in der die Pilze nicht der Kategorie „Pflanze“ zugeordnet und die psilocybinhaltigen Pilze deshalb auch nicht als Betäubungsmittel vom BtMG erfasst werden . In der angeführten Rechtsprechung geht es genau um dasselbe Rechtsproblem wie in dem vorliegenden Fall. In einem weiteren Schriftsatz hat die Rechtsanwältin wieder eine andere Entscheidung, den Beschluss des OVG Niedersachsen vom 8.7.2004, genannt . Da geht es nicht um frische Pilze, sondern um Pilzpulver. Im Vergleich zu der Entscheidung des AG Hamburg handelt es sich hier um eine eher mittelbare Gleichartigkeit. Um ihre Entscheidung für den biologischen Begriff der Pflanze bei der Pilze-Pflanzen-Zuordnung zu rechtfertigen, haben die Richter des LG Koblenz die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 87, S. 225) angeführt, in der sich dieses – als höchste Gerichtsinstanz – bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Mensch“ an dem biologischen Begriff des Menschen orientiert . Während das Pilzpulver vom Beschluss des OVG Niedersachsen – trotz des bloß mittelbaren Zusammenhangs – immerhin noch etwas mit „Pilzen“ zu tun hat, geht es hier um eine noch entferntere Vergleichbarkeit. Das Pilz-Element wird ausgeschaltet. Stattdessen wird der von der höchsten Gerichtsinstanz bei der Auslegung von Tatbestandsmerkmalen präferierte biologische Sprachgebrauch in den Vordergrund gerückt. Demgegenüber verweist die Staatsanwaltschaft auf das im Rechtsfall 1 viel zitierte Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts, in dem das für die Auslegung maßgebliche allgemeine Sprachverständnis zum Pflanzenbegriff als über spezifische naturwissenschaftliche Unterscheidungen hinausgehend klassifiziert wird . Dabei ist – wie bei der Entscheidung des

138

6. Streitige Sprecherhandlungen

AG Hamburg – die für den vorliegenden Rechtsfall relevante Pilze-PflanzenZuordnung unmittelbar angesprochen, obwohl beide Rechtsprechungen auf entgegengesetzte Ergebnisse hinauslaufen. In einem weiteren Schriftsatz hat die Staatsanwaltschaft noch einige andere Rechtsprechungen genannt, um unmittelbar zu beweisen, dass in der Rechtsgeschichte die psilocinhaltigen Pilze als Betäubungsmittel im Sinne des §§ 1 Abs. 1, 3, 29 BtMG klassifiziert worden waren. In der dritten – in diesem Rechtsfall der letzten – Instanz erwidern die Richter des OLG Koblenz, die offensichtlich eine andere Ansicht als die Staatsanwaltschaft vertreten, explizit auf das von der Staatsanwaltschaft angeführte Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts und schwächen dieses Argument ab, indem sie auf den unterschiedlichen Tatzeitraum aufmerksam machen: Zwar sind das (nicht mehr existierende) Bayerische Oberste Landesgericht (NStZ 03,270) und das OLG Köln (in einem nicht veröffentlichten Beschluß vom 15.03.03 – Ss 396–397/03) davon ausgegangen, im allgemeinen Sprachgebrauch gehörten zu den Pflanzen auch die Pilze. Diesen Entscheidungen lagen jedoch andersgelagerte Sachverhalte zugrunde, weil die abgeurteilten Taten in der Zeitspanne von September 2000 bis Juni 2001 begangen worden waren und der Wandel in der Bedeutung des Begriffs „Pflanzen“ damals noch nicht so weit fortgeschritten war wie im April 2004 . Bei der sprachlichen Darstellung der entgegengesetzten Rechtsposition im allgemeinen Sprachgebrauch gehörten zu den Pflanzen auch die Pilze, die sie gleich im nachfolgenden Satz bestreiten wollten, haben die Richter des OLG Koblenz äußerst vorsichtig die Formulierung davon ausgegangen ausgewählt. Dadurch wird diese Klassifikation nicht als eine echte Tatsache dargestellt, sondern in erhöhtem Maße als eine lediglich von den beiden im vorhergehenden Text erwähnten Gerichten präferierte Entscheidung markiert. Mit dem adversativ verknüpfenden Adverb jedoch wird das Argument des Zeitraums gegenüber der von dem anderen Adverb zwar eingeleiteten Rechtsposition der Gegenpartei hervorgehoben.50 Aus der obigen Skizzierung wird deutlich, dass die Rechtsgeschichte in Bezug auf die Pilze-Pflanzen-Problematik – auch hinsichtlich der hierarchischen Stellung des Fachwissens im juristischen Auslegungskontext – keine Einheitlichkeit aufweist. Es gibt sowohl Rechtsprechungen, die zur Erfassung der Pilze vom BtMG führen, als auch Rechtsprechungen, die im entgegengesetzten Rechtsergebnis resultieren. Bei der Auswahl spielen die verhandelnden Parteien eine aktive und entscheidende Rolle. Sie arbeiten – ausgehend von diversen Standpunkten und verschiedenen Beobachtungsperspektiven – an dem gemeinsam zu verhandelnden Sachverhalt unterschiedliche Eigen-

50 Vgl. Duden – Die Grammatik, 2006, S. 630.

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

139

schaften als Vergleichsbasis heraus, suchen daraufhin die passenden Rechtsprechungen aus, klassifizieren sie mit deklarativen Sprecherhandlungen als relevant und machen sie im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Argumentierens geltend. Der Rechtsarbeiter kann durch die Hervorhebung mancher von ihm herausgearbeiteten Eigenschaften das Argument seiner Gegenpartei unwirksam machen. 6.3.1.2.4. Berufung auf den Gesetzgeberwillen – Rechtsfall 1 Die Richter des LG Bamberg setzen mit einer deklarativen Sprecherhandlung in Bezug auf den Gesetzgeberwillen51 fest: Der Gesetzgeber hat in Übereinstimmung mit Rechtssprache und Rechtsliteratur die Pilze den Pflanzen zugerechnet . Im Urteilstext des Bayerischen Obersten Landesgerichts, an den sich die Richter des LG Bamberg bei der Argumentation hauptsächlich anlehnen, gibt es eine in der Formulierung sehr ähnliche Aussage: Der Gesetzgeber hat – in Übereinstimmung mit Rechtssprache und Rechtsliteratur – die Pilze den Pflanzen zurechnen wollen . Wenn man die beiden Aussagen vor dem Hintergrund ihrer intertextuellen Beziehung des Anlehnens vergleicht, liegt die Annahme nahe, dass die Richter des LG Bamberg die Grundproposition dieser Aussage von der bereits vollzogenen Sprecherhandlung der Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichts übernommen und diese wieder mit modaler Modifikation in eigenem Urteilstext zur Geltung gebracht haben. Im Urteilstext des Bayerischen Obersten Landesgerichts wird die Zurechnung der Pilze zu den Pflanzen sprachlich als die Absicht des Gesetzgebers – hat zurechnen wollen – etikettiert, während von den Richtern des LG Bamberg die Zurechnung der Pilze zu den Pflanzen als vollzogene Handlung des Gesetzgebers – hat zugerechnet – dargestellt wird. Durch das Streichen des Modalverbs „wollen“ bei der Wiederaufnahme haben die Richter des LG Bamberg eine Änderung im Geltungsanspruch und in der modalen Struktur des Sachverhalts bewirkt. Damit können sie ein ganz anderes, durch sprachlichen Zugriff beeinflusstes Stimmungsbild bezüglich des Gesetzgeberwillens bei dem Rezipienten hervorrufen, was ihrer Argumentationsintention entspricht. In der Revision führt der Rechtsanwalt eine entgegengesetzte Klassifikation bezüglich des Gesetzgeberwillens an, indem er behauptet, dass der Gesetzgeber die Pilze nicht in das Reich der Pflanzen einordnet und dass er überdies noch auf eine Aufnahme der Pilze in die Anlage verzichtet hat.52 51 52

Im Schrifttum wird dafür auch die Bezeichnung „der gesetzgeberische Wille“ verwendet. Trotz bereits einsetzender Entwicklung, hat der Gesetzgeber darauf verzichtet, Pilze in die Anlage aufzunehmen. Dabei scheint er bereits erkannt zu haben, dass die Einordnung der Pilze in das Reich der Pfl anzen nicht mehr vertretbar erscheint .

140

6. Streitige Sprecherhandlungen

Im Beschluss der zweiten Instanz klassifizieren die BGH-Richter entgegen dem Rechtsanwalt den Willen des Gesetzgebers als darauf gerichtet, bestimmte halluzinogen wirkende Pilze dem BtMG zu unterstellen . * * * * * Im Rahmen argumentierender Sprecherhandlungen bezüglich des Gesetzgeberwillens haben sich fast alle Rechtsarbeiter (außer der Staatanwaltschaft in der Anklageschrift) mit der 15. BtMÄndV auseinandergesetzt, wobei jeder dieselbe Änderung des Normtexts gegenüber seiner älteren Version – die Aufnahme der Pilzmycelien – anders interpretiert bzw. qualifiziert.53 Die Richter des LG Bamberg klassifizieren die Aufnahme der Pilzmycelien als Konkretisierung, die den Umfang der Festlegung nach der 10. Betäubungsmittelrechts-Änderungsverordnung vom 20.01.1998 nicht erweitern, sondern nur klarstellen wollte . Sie versuchen die Änderung des Normtexts für den Rezipienten so zu erklären, dass die Pilzmycelien nur als konkretes Beispiel von den im Normtext vorkommenden „Pflanzen und Pflanzenteilen“ genannt werden, und kommen zu der Schlussfolgerung, dass die Pilze […] von der Strafbarkeit umfasst sind . Der Rechtsanwalt bestreitet das Postulat der Klarstellung und qualifiziert die Aufnahme der Pilzmycelien entgegen den Richtern des LG Bamberg als eine Erweiterung um neue, nicht vom Pflanzenbegriff erfasste Organismen. Damit rückt er die Gegenüberstellung von Pflanzen und Pilzmycelien/Pilzen in den Vordergrund: Es ist nicht zu erklären, weshalb der Gesetzgeber diese54, soweit er damalig beim Pilz von einer Pflanze ausging, in die Anlage aufgenommen hat, den Pilz jedoch nicht. Konsequenterweise hätte es einer Aufnahme der Mycelien nicht bedurft. Aus Sicht des Gesetzgebers hätten auch diese als ein Teil der Pflanze angesehen werden müssen. Weshalb bei einer Pflanze zwischen unterirdischem Wurzelwerk und überirdischen Pflanzenteilen differenziert werden soll, ist nur nachvollziehbar, wenn der Gesetzgeber selbst davon ausging[,] Weshalb bei einer Pfl anze zwischen unterirdischem Wurzelwerk und überirdischen Pfl anzenteilen differenziert werden soll, ist nur nachvollziehbar, wenn der Gesetzgeber selbst davon ausging[,] dass es sich bei Pilzen nicht um Pfl anzen handelt . Da er dabei jedoch auf eine Aufnahme der Pilze selbst verzichtete, kann eine Strafbarkeit im Hinblick hierauf, nicht durch Auslegung des Tatbestandes, unter dem Aspekt des Willens des Gesetzgebers, begründet werden . 53 Änderung aus der 15. BtMÄndV: – Pfl anzen und Pfl anzenteile, Tiere und tierische Körperteile in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand mit in dieser oder einer anderen Anlage aufgeführten Stoffen, sowie Früchte, Pilzmycelien, Samen, Sporen und Zellkulturen, die zur Gewinnung von Organismen mit in dieser oder einer anderen Anlage aufgeführten Stoffen geeignet sind, wenn ein Mißbrauch zu Rauschzwecken vorgesehen ist. Bundesrat, 2001, S. 12. Siehe auch Abschnitt 5.1. der vorliegenden Arbeit. 54 Dies bezieht sich auf die „Pilzmycelien“ aus dem vorherigen Satz.

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

141

dass es sich bei Pilzen nicht um Pflanzen handelt. Nur dann bedurfte es einer Erweiterung der Norm . Mit diesen argumentierenden Sprecherhandlungen versucht er den Rezipienten von der Schlussfolgerung zu überzeugen, dass der Gesetzgeber selbst davon ausging[,] dass es sich bei Pilzen nicht um Pflanzen handelt. Diese Klassifikation hat sich aber nicht bei den BGH-Richtern durchgesetzt. Die BGH-Richter qualifizieren die Aufnahme der Pilzmycelien zwar auch als eine Erweiterung, aber nicht als eine Erweiterung um neue, im Kontrast zu Pflanzen stehende Organismen, wie es beim Rechtsanwalt der Fall ist, sondern als eine Erweiterung um Organismen, die selbst noch keine der verbotenen Wirkstoffe enthalten, aber zur Gewinnung der Organismen mit solchen Wirkstoffen dienen.55 Dabei klassifizieren die BGH-Richter die Pilzmycelien nicht als vom Pflanzenbegriff nicht erfasste Organismen, sondern als Organismen, die selbst noch keine der verbotenen Wirkstoffe enthalten. Mit dieser klassifizierenden Sprecherhandlung haben die BGH-Richter statt der vom Rechtsanwalt pointierten Gegenüberstellung zwischen Pflanzen und Pilzmycelien (Nicht-Pflanzen) die Gegenüberstellung von zwei Gruppen der Organismen – 1) Organismen, die selbst problematische Wirkstoffe enthalten, und 2) Organismen, die selbst keine solchen Wirkstoffe enthalten, aber zur Gewinnung von Organismen mit diesen Wirkstoffen genutzt werden können – in den Vordergrund gerückt. An diesem Beispiel lässt sich veranschaulichen, wie unterschiedlich verschiedene Rechtsarbeiter dieselbe Handlung des Gesetzgebers bzw. dieselbe Normtextveränderung interpretieren können. Gleichzeitig wird auch gezeigt, dass unterschiedliche Diskurserfahrungen auf die Interpretationsarbeit einzelner juristischer Funktionsträger Einfluss nehmen können. Denn den von den BGH-Richtern angeführten Gesetzgeberwillen, den Anwendungsbereich auf bestimmte Organismen auszudehnen, die selbst noch keine der verbotenen Wirkstoffe enthalten, aber zur Gewinnung von Organismen mit diesen Stoffen verwendet werden können, hat auch der Gesetzgeber selber in der Begründung zur 15. BtMÄndV angegeben. Wenn man dies gelesen hätte, dürfte man eigentlich nicht zu anderen Klassifikationen kommen. – Rechtsfall 2 Im Rechtsfall 1 dreht sich der Streit lediglich darum, ob der Gesetzgeber die Pilze unter das BtMG stellen wollte oder nicht. Im Rechtsfall 2 wird ein neuer Punkt von den streitenden Parteien ins Spiel gebracht. Die Richter des 55

Die Erweiterung diente dazu, den Anwendungsbereich des BtMG auf bestimmte Organismen zu erstrecken, welche selbst noch keine der aufgelisteten Wirkstoffe enthalten, ihrerseits aber der Gewinnung von derartigen [sic] Wirkstoffen [sic] enthaltenden Organismen dienen .

142

6. Streitige Sprecherhandlungen

LG Koblenz haben trotz der Zustimmung dazu, dass der Gesetzgeber die Pilze unter das BtMG subsumieren wollte, jedoch auf dessen nicht geglückte Wortwahl in Bezug auf den Pflanzenbegriff hingewiesen und kommen daraufhin mit deklarativen Sprecherhandlungen zu der Schlussfolgerung, dass der Gesetzgeber, obwohl er die Pilze unter das BtMG stellen wollte, seinen Willen aber nicht durch anpassenden Wortlaut umgesetzt habe: Bezüglich der Strafbarkeit des Umgangs mit psilocinhaltigen Pilzen ist zwar davon auszugehen, dass der Gesetzgeber mit der 10. BtMÄndV die entsprechenden Pilze dem BtMG unterstellen wollte, wobei er offenbar davon ausging, dass Pilze Pflanzen seien (vgl. Bundesratsdrucksache 881/97 – Anlage VI. zum Protokoll). Dieser Wille des Gesetzgebers ist jedoch durch den Wortlaut der gesetzlichen Bestimmung nicht umgesetzt worden . Die Richter des LG Koblenz rücken statt des Gesetzgeberwillens das von der Verfassung festgelegte Bestimmtheitsgebot in den Vordergrund und gewichten es als relevanter gegenüber der Strafwürdigkeit: Dies gilt auch dann, wenn als Folge der wegen des Bestimmtheitsgebots möglichst konkret abzugrenzenden Strafnorm besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, obwohl das Verhalten – wie im vorliegenden Fall – in ähnlicher Weise strafwürdig erscheinen mag . Es sei hier besonders auf die Wortwahl und die Modalitätsform in Bezug auf die Strafwürdigkeit verwiesen. Die Richter des LG Koblenz haben dabei kein schlichtes kopulatives Verb bei der Behauptung der Strafwürdigkeit gebraucht – wie etwa „obwohl das Verhalten strafwürdig ist“; sondern sie haben durch die Wortwahl erscheinen und durch die Modalitätsmarkierung mag semantisch und syntaktisch die Geltung der Strafwürdigkeit herabgesetzt. Die Strafwürdigkeit wird nicht als eine zugegebene Tatsache, sondern als eine bloße Möglichkeit dargestellt. Die Rechtsposition der Richter des LG Koblenz bezüglich der Relevanz des Bestimmtheitsgebots gegenüber der möglichen Strafwürdigkeit haben die Richter des OLG Koblenz dem Grunde nach übernommen. Sie sind sogar einen Schritt weitergegangen, indem sie die Strafwürdigkeit nicht als bloße Möglichkeit, sondern als Tatsache zugeben und diese dann immer noch mit einer deklarativen Sprecherhandlung gegenüber dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot unwirksam machen: Dieser […] Bedeutungswandel des Pflanzenbegriffs […] steht in einem Rechtsstaat einer Bestrafung […] entgegen, und zwar ungeachtet der Sanktionswürdigkeit seines Tuns, die auch der Senat nicht in Zweifel zieht . Den viel verwendeten Argumentationstopos des Gesetzgeberwillens klassifizieren die Richter des OLG Koblenz als unerheblich, wenn dessen Wortwahl nicht geeignet ist, dem Normadressaten diesen Willen zu vermitteln . Damit werden der Gesetzgeberwille und die Wortlautgrenze auseinandergehalten und unter diesen beiden üblichen Argumentationsmustern Prioritäten gesetzt.

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

143

* * * * * Die Bezugnahme auf die 10. BtMÄndV nutzen unterschiedliche juristische Funktionsträger, um im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Argumentierens unterschiedliche Funktionen zu erfüllen. Die Staatsanwaltschaft beruft sich in einem Schriftsatz an das OLG Koblenz auf die 10. BtMÄndV, um zu beweisen, dass der Gesetzgeber mit der damit verbundenen Neufassung der Anlage I zu § 1 Abs. 1. BtMG gerade durch die Verwendung des Begriffs „Pflanze“ psilocybin- sowie psilocinhaltige Pilze dem Betäubungsmittelgesetz unterstellen wollte . Sie wollte durch die Berufung auf den Gesetzgeberwillen die Pilze als Betäubungsmittel klassifizieren. Dagegen wird diese Bezugnahme im Urteilstext des OLG Koblenz von den Richtern in den ersten Teil einer adversativen Zwar-jedoch-Struktur gestellt, wobei die Gültigkeit dieses Arguments zugunsten des durch das Adverb jedoch hervorgehobenen Bedeutungswandels abgeschwächt wird: Die Staatsanwaltschaft weist zwar zutreffend darauf hin, daß der Gesetzgeber mit der 10. BtMÄndV vom 20. Januar 1998 (BGBl. I S. 74) die von ihm damals als niedere Pflanzen angesehenen psilocybin- und/oder psilocinhaltigen Pilze (Magic Mushrooms) dem Anwendungsbereich des Betäubungsmittel(straf)rechts unterstellen wollte. Jedoch hat ein Bedeutungswandel des Begriffes „Pflanze“ [..] dazu geführt, daß diese Pilze jedenfalls im Jahre 2004 – und damit zur Tatzeit – aus dem Anwendungsbereich herausgefallen waren . Die Richter des OLG Koblenz nutzen die Bezugnahme auf die 10. BtMÄndV – abweichend von der Staatsanwaltschaft – nicht als die gesamte Aussage, sondern als den ersten Teil einer Aussage, der durch den zweiten Teil dieser Aussage unwirksam gemacht wird. * * * * * Im Rechtsfall 1 wird bereits skizziert, wie unterschiedlich die Veränderung der 15. BtMÄndV von den verschiedenen juristischen Funktionsträgern interpretiert wird. Die Richter des LG Koblenz aus dem Rechtsfall 2 haben an der Textoberfläche dieser Veränderungsverordnung wieder neue Perspektiven herausgearbeitet. Durch die Gegenüberstellung von Pilzmycelien, Samen, Sporen und Organismen setzen sie mit einer deklarativen Sprecherhandlung fest, dass dem Gesetzgeber spätestens ab diesem Zeitpunkt bewusst war, dass Pilze keine Pflanzen sind . Diese Festsetzung führen sie vor allem darauf zurück, dass der Gesetzgeber in der 15. BtMÄndV den Oberbegriff „Organismen“ statt „Pflanzen“ verwendet hat: Diese Änderungsverordnung unterwirft u.a. Pilzmycelien, Samen, Sporen usw., die selbst keine berauschenden Wirkstoffe enthalten, dem Betäubungsmittelstrafrecht, wenn sie zur Gewinnung von „Organismen“ mit in den Anlagen aufgeführten Stoffen geeignet sind. Die Verwendung des Oberbegriffes „Organismus“ und nicht „Pflanze“ weist auf das nunmehr vorhandene Problembewusstsein bezüglich der Einordnung der Pilze

144

6. Streitige Sprecherhandlungen

(als einem der Hauptanwendungsfälle von Organismen, die aus Pilzmycelien, Samen, Sporen usw. gewonnen werden) hin . Aber wenn man diese Wiederaufnahme der 15. BtMÄndV durch die Richter des LG Koblenz mit der originalen Version der 15. BtMÄndV genauer vergleicht, kann man sehen, dass die Richter des LG Koblenz bei der Reformulierung durch usw. ganz wichtige Gruppen Früchte und Zellkulturen ersetzt haben, so dass der eigentliche Zweck der Verwendung des Obergriffs „Organismen“ statt „Pflanzen“ – nämlich das Umfassen von den Lebewesen, die aus den Zellkulturen entwickelt werden können und nicht dem Pflanzenreich angehören56 – uminterpretiert werden kann. Es geht dabei um eine selektierende Reformulierung, die eine Uminterpretation herbeiführt. * * * * * In der 19. BtMÄndV wird die bisherige Aufzählung von Pflanzen und Tieren endlich durch die allgemeinere Bezeichnung „Organismen“ ersetzt. Die offizielle Begründung für diese Veränderung lautet: Nach der bisherigen Formulierung war unklar, ob Pilze als Betäubungsmittel anzusehen sind. In der neuen botanischen Literatur werden Pilze nicht mehr zum Pflanzenreich gezählt, sondern als eigene Gruppe angesehen. Pilze wie z.B. Psilocybe-Arten und deren Mycelien, werden häufig missbräuchlich verwendet. Durch die Neufassung wird klargestellt, dass Pilze, sofern sie Stoffe enthalten, die in einer der Anlagen genannt sind, Betäubungsmittel sind.57 Diese Begründung wird sowohl von den Gerichtsparteien, welche die Pilze als Betäubungsmittel klassifizieren wollen, als auch von den Gerichtsparteien mit der genau entgegengesetzten Rechtsklassifikation zitiert. Das Interessante daran ist, zu demonstrieren, wie die unterschiedlichen Gerichtsparteien je nach Intention dieselbe Begründung bei der Wiederaufnahme auf den von ihnen jeweils als wichtig eingestuften Formulierungsausschnitt verkürzen, so dass ganz andere Hervorhebungen durch gezielte Perspektivierungsanstrengungen bewirkt werden. Die Rechtsanwältin des Angeklagten und die Richter des OLG Koblenz, welche die Erfassung der Pilze vom BtMG verneinen wollten, haben beide bei der Reformulierung die vom Gesetzgeber zugegebene Unklarheit betont: Dort wird ausgeführt, daß die gegenwärtige Formulierung unklar ist, ob Pilze als Betäubungsmittel anzusehen sind . Nach der bisherigen Formulierung war unklar, ob Pilze als Betäubungsmittel anzusehen sind . Diese hervorgehobene Unklarheit verknüpfen die Rechtanwältin und die Richter des OLG Koblenz dann noch mit der Ausgrenzung der Pilze aus

56 Bei den Zellkulturen kann es sich um pflanzliche oder tierische Zellen handeln. 57 Bundesrat, 2004, S. 4.

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

145

dem Pflanzenreich, was eigentlich Sprecherhandlungen deklarativer Natur darstellt, weil die Unklarheit nur den Bedeutungswandel indiziert und nicht zwangsläufig zur Ausgrenzung der Pilze aus dem Pflanzenreich führt. Dagegen hat die Staatsanwaltschaft, welche die Pilze als Betäubungsmittel klassifizieren wollte, im Revisionsschreiben bei der Berufung auf die 19. BtMÄndV den ersten Teil der Aussage über die Unklarheit ausgelassen und nur den letzten Satz wiedergegeben. Daraufhin setzt sie mit einer deklarativen Sprecherhandlung die Veränderung als eine Klarstellung der bisherigen gesetzlichen Regelung fest, als ob es keine Unklarheit gegeben hätte. In einem weiteren Schriftsatz an das OLG Koblenz ignoriert die Staatsanwaltschaft ebenfalls das Potential der Unklarheit, welches der Gesetzgeber in der Begründung zur 19. BtMÄndV offenbart hat bzw. eventuell zur Ausgrenzung der Pilze aus dem Pflanzenreich führen könnte, und kommt zu der Schlussfolgerung, dass hierdurch lediglich klargestellt werden sollte, dass Pilze, sofern sie Stoffe enthalten, die in einer der Anlagen genannt sind, Betäubungsmittel sind und dass der Ersatz eines Begriffs durch einen anderen keine abweichende Beurteilung rechtfertigt . Hierbei geht es wieder um selektierende Reformulierungen, die unterschiedlichen Uminterpretationen dienen. 6.3.1.2.5. Berufung auf andere Rechtssysteme und Textsorten – Rechtsfall 2 Im Rechtsfall 2 werden im Rahmen des argumentierenden Sprachhandlungstyps neben den Rechtsprechungen auch andere Textsorten herangezogen. Kommentare zu gesetzlichen Regelungen stellen beispielsweise eine wichtige Textsorte da, auf die sich die Rechtsarbeiter häufig berufen. Hier sei besonders auf eine neue Textsorte verwiesen, die im Rechtsfall 2 in die Argumentationsschemata eingeführt wird: das biologische Gutachten. In einem Schriftsatz an das AG Linz hat die Rechtsanwältin des Angeklagten zum ersten Mal auf ein biologisches Gutachten „Risikoeinschätzungsbericht für Zauberpilze“ – die sog. CAM-Studie – hingewiesen. Sie wollte damit beweisen, dass von den besagten Pilzen keinerlei Gefahr an der Beeinträchtigung der Gesundheit ausgehen kann und der Konsum auch zu keiner Sucht führen kann und Mißbrauch ausgeschlossen ist . Auch in der Berufungsschrift hat die Rechtsanwältin die CAM-Studie wiederholt angeführt. Neben der Feststellung in Bezug auf die Gefahr für die Volksgesundheit hat sie diesmal noch die Empfehlung genannt, den Umgang mit diesen Pilzen weder strafrechtlich noch in anderer Weise einzuschränken , um damit die biologische Schlussfolgerung über die Gesundheitsgefährdung in die gesetzlichen Verbotsschemata einzubetten und auf dieser Basis einer möglichen Bestrafung der problematischen Pilze als Betäubungsmittel entgegenzuwirken.

146

6. Streitige Sprecherhandlungen

Obwohl es hierbei um intertextuelle Reformulierungen geht,58 wird statt des gewöhnlichen Konjunktivs, der die Information eher als vermittelt markiert, ständig der Indikativ verwendet. Somit wird ein erhöhter Geltungsanspruch in Bezug auf den reformulierten Inhalt ins Bewusstsein des Rezipienten bewirkt. Wenn man die Reformulierungen genau mit dem originalen Text – hier der CAM-Studie – vergleicht, lassen sich abweichende Uminterpretationen feststellen. Hinsichtlich der Gefährdung der Gesundheit wird in der CAM-Studie zwischen der individuellen Gesundheit und der Volksgesundheit unterschieden. Während es für die individuelle Gesundheit kein Risiko gibt, wird für die Volksgesundheit ein geringes Risiko festgestellt.59 Die beiden Reformulierungen keinerlei Gefahr und der Volksgesundheit nicht schaden kann entsprechen den Stellungnahmen der CAM-Studie nicht ganz. Sie werden offensichtlich durch die Rechtsanwältin zugunsten des Rechtsinteresses ihres Mandanten in eine die Gefahr entschärfende Richtung modifiziert. Mit der Einführung des biologischen Gutachtens wird offensichtlich ein anderer Fachdiskurs in den Rechtsdiskurs eingebettet. Damit entsteht das Problem der Kompetenzkonkurrenz zwischen verschiedenen Diskursen in der Fachkommunikation. Offensichtlich geht die Rechtsanwältin von der Priorität des biologischen Diskurses aus, was aber von anderen juristischen Funktionsträgern – hier vor allem von der Staatsanwaltschaft – nicht immer geteilt wird, indem sie z.B. bei der Gerichtsverhandlung die Einladung des biologischen Sachverständigen als überflüssig klassifiziert . Im vorliegenden Rechtsfall wird nicht nur eine neue Textsorte im Rahmen des argumentierenden Sprachhandlungstyps herangezogen, sondern es wird auch neue Konkurrenz aus einem anderen Rechtssystem ins Spiel gebracht. Im Rechtsfall 1 wird das Rechtsproblem mit den psilocin- und psilocybinhaltigen Pilzen allein im deutschen Rechtskontext diskutiert. Dagegen berufen sich die juristischen Funktionsträger im Rechtsfall 2 auch auf gesetzliche Regelungen und Rechtsprechungen aus dem Ausland, und zwar aus den Niederlanden. Die Rechtsanwältin verweist in der Berufungsschrift darauf, dass der Vertrieb der Pilze in den Niederlanden frei ist und dort auch der Mehrwertsteuer unterliegt , und rückt die Nicht-Strafbarkeit des Vertriebs in den Vordergrund. Dagegen betont die Staatsanwaltschaft trotz der strafrechtlich nicht verfolgten Einzelfälle mit den Pilzen die Illegalität des Umgangs mit diesen Pilzen. Diese Umgewichtung realisiert sie sprachlich durch eine konzessive Satzverbindung mit selbst wenn: Selbst wenn

58 59

Das zeigen die einleitenden Sätze wie aus dem Gutachten ergibt sich oder weiter hat eine Studie […] festgestellt […] und empfohlen . CAM, 2000, S. 9.

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

147

in den Niederlanden […] im Einzelfall das Handeltreiben mit Psilocybinpilzen nicht verfolgt werden sollte, ändert dies nichts daran, dass der Umgang mit diesen Stoffen auch in den Niederlanden illegal ist . Die von der Rechtsanwältin in den Mittelpunkt gestellte Tatsache, dass der Vertrieb der Pilze in den Niederlanden nicht strafbar ist, wird von der Staatsanwaltschaft zuerst in der Anzahl auf Einzelfall beschränkt und dann in den ersten Satzteil der konzessiven Selbst-wenn-Verknüpfung eingebaut, dem die vom zweiten Satzteil betonte Illegalität in der Gewichtung übergeordnet wird. Dass das niederländische Rechtssystem in die Argumentationsschemata einbezogen wird, liegt daran, dass der Angeklagte die problematischen Pilze aus den Niederlanden nach Deutschland einführte und gerade auf dem Transportweg ertappt wurde. Die juristischen Funktionsträger haben diese Eigenschaft dem gesamten Sachverhaltsgeschehen entnommen und ließen sich von dieser Eigenschaft zu neuen Argumentationselementen inspirieren. Das alles veranschaulicht, dass die Rechtsarbeit keinesfalls eine einfache Entdeckung der in den Normtexten versteckten Bedeutungen darstellt, sondern eine kreative und dynamische In-Beziehung-Setzung des Sachverhalts in die vielfältige Textwelt. 6.3.2. Das sprachliche Handeln der Rechtsarbeiter – linguistische Reflexionen Hier werden aufgrund der realisierten Sprecherhandlungen einige Bemerkungen zu den untersuchten Argumentationsschemata aufgeführt, um damit unter linguistischen Gesichtspunkten über das sprachliche Handeln in der Rechtskommunikation zu reflektieren. 6.3.2.1. Sprachgebrauch und Textkorpora Der von den juristischen Funktionsträgern häufig herangezogene Argumentationstopos – der sog. „allgemeine Sprachgebrauch“ hat genau genommen keine reale Existenz, sondern ist ein linguistisches Konstrukt. Ein allgemeiner Fortschritt gegenüber früheren Rechtsprechungen zeichnet sich dadurch ab, dass immer mehr Rechtsarbeiter es für notwendig halten, nicht von der eigenen Semantik aus den Inhalt des allgemeinen Sprachgebrauchs zu bestimmen, sondern versuchen, den behaupteten Sprachgebrauch empirisch zu belegen. Dennoch sei auf einige Anmerkungen zur Beziehung zwischen dem Sprachgebrauch und den belegenden Textkorpora verwiesen. Auch wenn das Konzept „der allgemeine Sprachgebrauch“ unter linguistischem Aspekt ein abstraktes Konstrukt darstellt, muss es für die juristische Auslegung handhabbar gemacht werden. Aufschlussreich haben die Richter des OLG Koblenz darauf hingewiesen, dass bezüglich des Alltagssprachgebrauchs weder die subjektive Vorstellung noch der aktuelle Stand der

148

6. Streitige Sprecherhandlungen

Allgemeinbildung eines Richters, Staatsanwalts, Rechtsanwalts oder Angeklagten maßgeblich sein kann. Entscheidend sei der objektivierte Sinngehalt, wie er sich in Publikationen findet, die den Sprachgebrauch sowohl widerspiegeln als auch prägen . Aus linguistischer Sicht sind die Richter des OLG Koblenz beim Festsetzen des allgemeinen Sprachgebrauchs auf reflektierende Art und Weise vorgegangen. Anstelle der subjektiven Vorstellung des einzelnen Rechtsarbeiters rücken sie den objektivierten Sinngehalt in den Vordergrund. Die Pointe dabei ist, dass sie nicht vom „objektiven“ Sinngehalt, sondern vom „objektivierten“ Sinngehalt reden. Damit distanzieren sie sich von der unter linguistischen Gesichtspunkten nicht haltbaren Fiktion, die aber unter den Juristen große Verbreitung findet, nämlich dass Wörter ontische, objektive Bedeutungen haben, die von Textproduzenten in einzelne Ausdrücke eingepackt und von Textrezipienten unverändert ausgepackt werden können.60 Mit der Einsicht in den „objektivierten Sinngehalt“ tendieren die Richter des OLG Koblenz zur Grundposition der pragmatischen Semantikauffassung, die bei der Diskussion über Bedeutung konkrete Verwendungsweisen zugrunde legt. Aber welche Textkorpora werden als relevant klassifiziert, um zu dem sog. objektivierten Sinngehalt zu gelangen? Bei dieser Frage kann man hinsichtlich der vorliegenden Untersuchung unter den handelnden Rechtsarbeitern verschiedene Gruppen unterscheiden. Manche berufen sich bei der Belegung des allgemeinen Sprachgebrauchs auf bereits gegebene Rechtsprechungen. Somit ersparen sie sich die Mühe zur eigenen Belegung des allgemeinen Sprachgebrauchs an Textkorpora und schieben gleichzeitig die Verantwortung für die inhaltliche Gültigkeit auf die jeweiligen Autoren der zitierten Rechtsprechungen. Dabei haben sie aber verkannt, dass der allgemeine Sprachgebrauch eines bestimmten Begriffs nicht immer statisch bleibt, sondern dass er mit der Entwicklung menschlicher Erkenntnis und mit neuen Phänomenen in der Sprachverwendung durchaus variieren mag. Die viel zitierte Rechtsprechung – das Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts – behandelt Straftaten, die im Zeitraum vom Oktober 2000 bis Juli 2001 lagen. Die im Urteil getroffene Festsetzung zum Sprachgebrauch des Pflanzenbegriffs sollte streng genommen auch nur für diesen Zeitraum gelten, besonders wenn der Pflanzenbegriff wegen biologischer Entwicklungen gerade einem Bedeutungswandel unterliegt. Aber in beiden oben dargestellten Rechtsfällen wird dieses Urteil von manchen Rechtsarbeitern immer wieder ohne weiteres angeführt, wobei der Hand-

60 Vgl. Felder, 2003a, S. 222.

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

149

lungszeitraum in den beiden Rechtsfällen zum größten Teil ein anderer ist.61 Diese Rechtsarbeiter nehmen entgegen dem dynamischen Entwicklungspotential der Sprache einen konstanten Sprachgebrauch an und gehen – linguistisch wenig reflektierend – bei der Argumentation von diesem nicht aktuellen und daher auch nicht adäquaten Sprachgebrauch aus. Manche Rechtsarbeiter versuchen, den von ihnen festgesetzten allgemeinen Sprachgebrauch des Pilz- und Pflanzenbegriffs durch Berufung auf empirische Textkorpora nachzuweisen. Die sehr häufig angeführten Belege sind Wörterbücher/Lexika/Enzyklopädien. Linguistisch gesehen können Wörterbücher zwar wichtige Informationen über ein Wort vermitteln, die den allgemeinen Sprachgebrauch teilweise widerspiegeln bzw. prägen, aber sie können keinesfalls mit dem realen und aktuellen Stand des allgemeinen Sprachgebrauchs gleichgesetzt werden. Denn die Bedeutungserläuterungen zu den einzelnen Lexikonartikeln sind hochabstrahierte und kontextfreie Zusammenfassungen aus der Gebrauchsvielfalt in realen Lebenssituationen.62 Obwohl die Herstellung von Wörterbüchern meistens auf einem größeren Textkorpus basiert,63 ändert es nichts daran, dass es eine selektierende Abstrahierungsarbeit ist, die nicht allen einzelnen Gebrauchsweisen gerecht werden kann, und dass der aktuelle Stand des allgemeinen Sprachgebrauchs nicht immer in den zeitlich oft etwas zurückliegenden Textkorpora in genügendem Maße repräsentiert wird. Ganz besondere Textkorpora bringen die Richter des BGH vom Rechtsfall 1 und die Richter des OLG Koblenz vom Rechtsfall 2 in die Argumentation. Das in früheren Rechtsprechungen selten verwendete Internet wird in beiden Rechtsfällen zur Ermittlung des allgemeinen Sprachgebrauchs eingeführt. Das neue Phänomen bringt linguistisch gesehen sowohl neue Perspektiven als auch neue Probleme mit sich. Mit der Entstehung und Entwicklung der Computer- und Internettechniken gewinnt man an neuen Möglichkeiten zum Informationsaustausch, zur Kommunikation und zur Interaktikon.64 Eines der wichtigsten Merkmale des Web 2.0 ist die Teilnahme. Anders als traditionelle Massenmedien stellt das Internet die einfachste Plattform zur Veröffentlichung eigener Meinungen dar. Bei dem Internet kann man insofern mit einem weitaus größeren Autorenkreis rechnen als bei traditionellen Medien. Da die Hauptkommunikation

61

Nur 2 von den 8 zu verurteilenden Einzelfällen im Rechtsfall 1 fallen unter den Zeitraum Oktober 2000 bis Juli 2001. Die anderen sechs Einzelfälle lagen im Zeitraum zwischen Anfang 2002 bis Mitte 2004. Die zu verurteilende Handlung im Rechtsfall 2 geschah am 09. April 2004. 62 Vgl. Herbermann, 1995, S. 148. 63 Vgl. Scherer, 2006, S. 11. 64 Vgl. Freyermuth, 2006; Schlobinski, 2006a.

150

6. Streitige Sprecherhandlungen

im Internet in schriftlicher Form abläuft, kann das Internet in gewissem Sinn als dokumentierende Plattform der sprachlichen Praxis einer größeren Bevölkerung angesehen werden. Mit Hilfe von Suchmaschinen kann man sehr schnell im unermesslich großen Textkorpus des Internets die gewünschte Information herausfinden. Dass die Richter beider Instanzen im Rahmen ihrer argumentierenden Sprecherhandlungen überhaupt auf die Idee kommen, das Internet als größeres Textkorpus zur Ermittlung des allgemeinen Sprachgebrauchs zu nutzen, ist ein interessantes linguistisches Phänomen. Erstens entspricht es der Idee der praktischen Semantik, dass man Wortbedeutungen in ihren Gebrauchsweisen sucht. Zweitens wird die dynamische Entwicklung der Sprache bzw. des Sprachgebrauchs berücksichtigt. Denn das Internet kann wegen seiner Aktualität den Sprachgebrauch prägen und auf dem neuesten Stand repräsentieren. Das Internet als Informationsquelle bzw. als größeres Textkorpus ist jedoch nicht nur von Vorteil. Wegen der leichten Zugänglichkeit ist das Internet oft von Informationen überflutet, die nicht wissenschaftlich überprüft sind. Das führt zu den Fragen, inwiefern man die Informationen im Internet wirklich ernstnehmen kann und ob diese Informationen im Internet eine ähnliche Stellung im Informations- und Auswirkungssystem wie die Lehrbücher usw. einzunehmen vermögen. Dass die BGH-Richter aufgrund der Behauptung, dass das Internet jedem die Veröffentlichung eigener Texte ermöglicht, zu der Schlussfolgerung gelangen, dass das Internet Auskunft über das gesamte Spektrum des aktuellen Sprachgebrauchs gibt, ist bei genauerer Überlegung nicht unproblematisch. Obwohl das Internet im Vergleich zu traditionellen Medien am leichtesten zugänglich ist, um eigene Texte zu veröffentlichen, lässt sich dieses größere Veröffentlichungspotential bei weitem nicht mit realen Veröffentlichungsaktivitäten gleichsetzen. In Wirklichkeit schauen sich viele InternetBenutzer bloß verschiedene Webseiten oder Blogs an. Ein gewisser Teil der Bevölkerung nutzt die Möglichkeit des Internets überhaupt nicht. Das Alter, der Beruf und andere soziale Faktoren spielen bei der individuellen Internetbenutzung eine gewisse Rolle. Es sind soziolinguistisch relevante Fragestellungen, welche die Richter bei ihrer Argumentation mit dem Internet auch berücksichtigen sollten. Wichtig ist allerdings, dass es im Internet gerade wegen der einfachen Zugänglichkeit und des größeren Autorenkreises unterschiedliche Meinungen geben könnte. Wenn die Rechtsarbeiter bei anderen Belegen wie Wörterbüchern und Lehrbüchern einem verinnerlichten Autoritätsprinzip folgen, d.h., dass meistens die Werke von höherer Autorität (z.B. Duden usw.) zum Nachweis bevorzugt werden, hätten sie auch bei der Auswahl der Ergebnisse aus der Internet-Recherche dieses Prinzip durchsetzen müssen, was aber nicht

6.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

151

der Fall ist. Besonders bemerkenswert ist, dass die Richter des OLG Koblenz nur die Ergebnisse aufgelistet haben, in denen die Pilze nicht als Pflanzen kategorisiert werden. Dagegen haben die BGH-Richter zwar Ergebnisse beider Meinungen aufgestellt, aber doch durch gezielte modale Verknüpfung diejenigen Ergebnisse, in denen Pilze doch noch als Pflanzen bezeichnet werden, hervorgehoben. 6.3.2.2. Konkurrenzbeziehung zwischen verschiedenen Sorten des Sprachgebrauchs aus unterschiedlichen Diskursrahmen Im Rahmen argumentierender Sprecherhandlungen wird nicht nur der allgemeine, sondern auch der biologische Sprachgebrauch zum Pflanzenbegriff erörtert. Die Kategorie „Pflanze“ ist zuallererst eine biologische Aufteilung des Gegenstandes in der Welt. Der biologische Sprachgebrauch gründet sich auf genaue Definitionen zur Abgrenzung der Pflanze von anderen Kategorien. Da dieser ein Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnis ist, entwickelt er sich folgerichtig mit der wissenschaftlichen Erkenntnisentwicklung. Den Pflanzenbegriff verwendet man aber auch in der Alltagssprache. Bei dieser Verwendung wird das enzyklopädische Wissen zugrunde gelegt, das man aufgrund persönlicher Erfahrungen im Alltagsleben erworben hat. Linguistisch gesehen treffen bei vielen Begriffen der allgemeine und der fachgebundene Sprachgebrauch nicht immer zusammen.65 Denn beide erwirbt man auf unterschiedliche Art und Weise, und beide dienen verschiedenen Kommunikationszwecken. Während der fachgebundene Sprachgebrauch aufgrund wissenschaftlich definierter Kriterien eine möglichst klare Abgrenzung erlaubt, ist der semantische Prototypen-Effekt relevant für den allgemeinen Sprachgebrauch, wobei man z.B. bei der Alltagsverständigung mit dem Pflanzenbegriff eher an die grünen Blattpflanzen denkt, aber kaum auf die problematische Einordnung des Randphänomens der Pilze stößt. Aufgrund möglicher Unterschiede beider Sorten des Sprachgebrauchs bei vielen Begriffen ist vor allem zu klären, auf welchen Sprachgebrauch es bei der juristischen Auslegung ankommen sollte. Wenn es auf den allgemeinen Sprachgebrauch ankommen sollte, müssen die Rechtsarbeiter im Rahmen argumentierender Sprecherhandlungen vorsichtig mit dem biologischen Sprachgebrauch umgehen. Es reicht insofern für die Argumentation nicht, wenn sie allein auf den biologischen Sprachgebrauch des Pflanzenbegriffs hinweisen oder diesen ohne weiteres mit dem allgemeinen Sprachgebrauch gleichsetzen, sondern sie müssen sich bewusst mit der Auswirkung der biologischen Fachsprache auf die Alltagssprache auseinandersetzen.

65

Vgl. Daum, 1981, S. 86.

152

6. Streitige Sprecherhandlungen

Nicht zuletzt ist noch kurz auf den juristischen Sprachgebrauch bezüglich der Pilze-Pflanzen-Problematik einzugehen. In beiden Rechtsfällen wird die Zuordnung der Pilze in der nationalen und internationalen Rechtssprache und Rechtsliteratur als Argument genutzt . Dieser juristische Sprachgebrauch hat allerdings einen anderen Status als der biologische bzw. allgemeine Sprachgebrauch. Denn „Pilz“ und „Pflanze“ sind streng genommen keine juristischen Fachtermini (wie z.B. „Mord“ oder „Totschlag“), die in Normtexten oder Rechtswörterbüchern ausführlich definiert worden sind. Sie sind letztendlich juristisch relevante Begriffe, die wegen des Normtextzusammenhangs Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wie die beiden Begriffe in der nationalen und internationalen Rechtssprache und Rechtsliteratur gebraucht werden, gilt nicht als verbindliche Definition, sondern bietet nur Informationen über historische Gebrauchsweisen beider Begriffe in der Jurisprudenz an. Der sog. juristische Sprachgebrauch stellt im Prinzip einen historischen deklarativen Referenzfi xierungsakt dar, der sich dem derzeitigen biologischen oder allgemeinen Sprachgebrauch anschließt und in der Gültigkeit eingeschränkt ist. Wenn beide Begriffe aufgrund der Entwicklung biologischer Erkenntnis einem möglichen Bedeutungswandel unterliegen, müssen die Rechtsarbeiter bei der Argumentation über die Gültigkeit dieses sog. juristischen Sprachgebrauchs nachdenken. Sie hätten sich nicht ohne jegliche Rechtfertigung auf diesen berufen dürfen.

6.4. Resümee In diesem Kapitel werden anhand des von mir erweiterten Modells der grundlegenden Sprachhandlungstypen mit differenzierten Subkategorien für juristische Textarbeit die streitigen Sprecherhandlungen verschiedener juristischer Funktionsträger und die dabei unternommenen Perspektivierungsanstrengungen systematisch dargestellt. Die einzelnen Sprachhandlungstypen mit differenzierten Subkategorien und ihre Beziehungen zueinander lassen sich anhand der folgenden Graphik (Schaubild 18) zusammenfassen. Der Sprachhandlungstyp „Sachverhalt-Festsetzen“ kann vor allem in zwei Subkategorien eingeteilt werden: fallorientiertes Sachverhalt-Festsetzen und prozessorientiertes Sachverhalt-Festsetzen. Das fallorientierte Sachverhalt-Festsetzen richtet sich überwiegend auf den zu verhandelnden Sachverhalt an sich, wobei wieder zwei Gruppen mit dem jeweiligen Schwerpunkt auf dem objektivierten Ereignis und auf den subjektiven Einstellungen differenziert werden können. In Bezug auf das objektivierte Ereignis kann festgestellt werden, dass verschiedene Parteien vor Gerichten, obwohl sie demselben Geschehnis ge-

6.4. Resümee

153

Sachverhalt-Festsetzen – Fallorientiertes Sachverhalt-Festsetzen – Festsetzungen in Bezug auf das objektivierte Ereignis – Festsetzungen in Bezug auf subjektive Einstellungen

– Prozessorientiertes Sachverhalt-Festsetzen

Rechtliche Klassifizierung – Sachverhaltsklassifizierung – Klassifizierung der Rechtsklassifikation – Klassifizierung argumentativ relevanter Umstände

Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation – Rechtliche Beurteilung – Argumentation – Berufung auf den Sprachgebrauch – Berufung auf die Gesetzessystematik – Berufung auf andere Rechtsprechungen – Berufung auf den Gesetzgeberwillen – Berufung auf andere Rechtssysteme, Rechtsvorschriften, Textsorten

Schaubild 18: Das erweiterte Modell der grundlegenden Sprachhandlungstypen mit differenzierten Subkategorien für juristische Textarbeit

genüberstehen, je nach dem Standpunkt andere Eigenschaften, logische Beziehungen an dem Sachverhalt herausarbeiten und in ihrer Textarbeit durch sprachliche Perspektivierungsmöglichkeiten unterschiedliches Gebilde auf der Grundlage des ursprünglichen Sachverhalts konstruieren können. Dies gilt auch für Festsetzungen mit Schwerpunkt auf subjektiven Einstellungen. Es ist insofern linguistisch hochinteressant, als subjektive Einstellungen als innere Tatseite im Vergleich zu eher „objektiven“ Sachverhaltseigenschaften in erhöhtem Maße schwer feststellbar sind und deshalb einen größeren Spielraum sprachlicher Perspektivierung erlauben. Der Rechtsfall 1 liefert beispielsweise interessante Belege für die unterschiedliche Nuancierung verschiedener Rechtsarbeiter bei der Festsetzung, wie der Angeklagte selbst die strafrechtliche Relevanz seines Verhaltens sieht. Gegenüber dem fallorientierten Sachverhalt-Festsetzen bezieht sich das prozessorientierte Sachverhalt-Festsetzen auf die Textarbeit nachgehender

154

6. Streitige Sprecherhandlungen

Rechtsarbeiter, bei der der Textproduzent das sprachliche Handeln der vorhergehenden Instanzen wieder aufnimmt bzw. skizziert und zusammen mit Ergebnissen aus dem fallorientierten Sachverhalt-Festsetzen als Eingangsdaten für weitere Textarbeit vorlegt. Es handelt sich dabei nicht um eine einfache Kopie der vorgenommenen Sprachhandlungen, sondern um durch gezielte Reformulierung bereits perspektivierte Festsetzungen deklarativer Natur. Dadurch wird vor allem Fokus erarbeitet und werden Relationen zwischen einzelnen Strukturelementen expliziert. Der Sprachhandlungstyp „rechtliche Klassifizierung“ umfasst Sprecherhandlungen, in denen Klassifikationen getroffen werden. Anhand des klassifizierten Gegenstandes werden drei Varianten modelliert: 1) Sachverhaltsklassifizierung, 2) Klassifizierung der Rechtsklassifikation, 3) Klassifizierung argumentativ relevanter Umstände. Die Sachverhaltsklassifizierung konzentriert sich vor allem auf den Sachverhalt an sich. Einzelne Elemente oder Eigenschaften an dem Sachverhalt können von verschiedenen Rechtsarbeitern unterschiedlich aufgrund der Wechselbeziehung zwischen Normprogramm und Normbereich etikettiert werden. Im Rechtsfall 2 werden die Pilze vom Angeklagten und seiner Rechtsanwältin als Genussmittel und von der Staatsanwaltschaft allerdings als Betäubungsmittel klassifiziert. Klassifizierung der Rechtsklassifikation hat die bereits getroffene Klassifizierung anderer Rechtsarbeiter zum Gegenstand. Dies kommt in den untersuchten Rechtstexten meistens durch sprachliche Mittel wie Adverbialien (z.B. zu Recht/zu Unrecht), prädikative Ergänzungen (z.B. unzutreffend), Attribute, Verben bzw. verbale Phrasen zustande. Klassifizierung argumentativ relevanter Umstände richtet sich überwiegend auf Probleme, die für die Argumentation von Bedeutung sind. Beispielsweise wird im Rechtsfall 2 die biologische Einordnung der Pilze von der Staatsanwaltschaft als irrelevant eingestuft.66 Der Sprachhandlungstyp „rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation“ umfasst zwei grundlegende Sprachhandlungen – die rechtliche Beurteilung und die Argumentation. Verschiedene Parteien kommen in ihrer Textarbeit manchmal zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen, wie der Sachverhalt rechtlich zu beurteilen ist. Es ist besonders zu bemerken, dass sich diese unterschiedlichen Schlussfolgerungen keinesfalls allein aus der Argumentation ergeben, sondern sie setzen schon viel früher an. Viele Perspektivierungsbemühungen beim

66 Diese Kategorie umfasst Sprecherhandlungen, die bei der Darstellung eher dem Rahmen des dritten Sprachhandlungstyps untergeordnet werden. Deshalb wird sie an ihrer Stelle in dem Modell grau markiert.

6.4. Resümee

155

allerersten Sachverhalt-Festsetzen bereiten sich bereits auf solche Schlussfolgerungen vor. Aus der empirischen Untersuchung und unter Berücksichtigung der herkömmlichen Begründungslehre lassen sich hauptsächlich folgende Kategorien der Argumentationstopoi annehmen, an denen besonderes Erkenntnisinteresse des Rechtsstreits besteht: Sprachgebrauch, Gesetzessystematik, andere Rechtsprechungen, Gesetzgeberwillen. Vereinzelt erfolgt dabei auch eine Berufung auf unterschiedliche Rechtssysteme, Rechtsvorschriften oder Textsorten.67 In den untersuchten Texten nehmen der Sprachgebrauch und der Gesetzgeberwille unter den aufgeführten Kategorien einen zentralen Stellenwert ein,68 wobei die Gesetzessystematik, andere Rechtsprechungen und Textsorten usw. oft zur Rechtfertigung des präferierten Sprachgebrauchs oder Gesetzgeberwillens genutzt werden. Die drei grundlegenden Sprachhandlungstypen sind abstrahierte Konstrukte zur linguistischen Modellierung bzw. Beleuchtung der textbasierten Rechtskommunikation während des Rechtsfindungsprozesses. Sie sind – anders als die separate Darstellung – jedoch nicht immer zeitlich aufeinander folgend und eindeutig voneinander abgrenzbar. Sie treffen manchmal in konkreten Äußerungs- und Kommunikationssituationen zusammen. Reale Kommunikation ist viel komplexer als die abstrahierte Modellierung. Wie die Graphik darstellt, bilden der Sprachhandlungstyp „Sachverhalt-Festsetzen“ und der Sprachhandlungstyp „rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation“ zwei Pole der gesamten Rechtsfindungshandlung, die allen Textarbeiten verschiedener Handlungsrollen zugrunde liegen. Der Sprachhandlungstyp „rechtliche Klassifizierung“ auf der Basis des juristischen Wissensrahmens verbindet die beiden Pole – Sachverhalt und Rechtsergebnis – und zieht sich durch die gesamte Rechtsfindungshandlung hindurch. Dabei ergibt sich der juristische Wissensrahmen nicht nur aus Normtexten, Kommentaren usw., sondern auch aus praktischen Erfahrungen der Rechtsarbeiter in der Jurisprudenz. Nicht zuletzt muss noch kurz auf die Relationen zwischen den einzelnen Sprachhandlungstypen und den vielfältigen Textsorten im Rechtsfindungsprozess eingegangen werden. Die drei grundlegenden Sprachhandlungstypen sind anhand richterlicher Entscheidungstexte herausgearbeitet. Aber sie sind übertragbar auf andere Textsorten (Anklageschrift, Berufung, Revision, Schriftsatz). Denn der Unterschied dieser Textsorten liegt hauptsächlich in ihren ausführenden Handlungsrollen und ihren institutionell gebundenen 67

Wegen der eher untergeordneten Relevanz wird diese Kategorie in dem entworfenen Modell grau markiert. 68 Sie werden wegen ihres zentralen Stellenwerts jeweils mit einem Unterstrich in dem Modell hervorgehoben.

156

6. Streitige Sprecherhandlungen

Funktionen. Immerhin handelt es sich hierbei um juristische Bewertung des zu verhandelnden Sachverhalts und um die In-Beziehung-Setzung des Sachverhalts und des Normtextes. Dennoch führen die empirischen Untersuchungsergebnisse zu der Einsicht, dass verschiedene Sprachhandlungstypen in verschiedenen Textsorten doch in divergierender Ausführlichkeit erscheinen. Darunter weisen die Urteils- bzw. Beschlusstexte die höchste Ausführlichkeit auf. Sie enthalten meistens alle drei Sprachhandlungstypen, wobei die Argumentation normalerweise sehr ausführlich und detailliert formuliert ist und die rechtliche Beurteilung gegenüber anderen Textsorten die höchste deklarative Kraft hat. In der Anklageschrift wird der Schwerpunkt meist auf den ersten Sprachhandlungstyp – das Sachverhalt-Festsetzen – gelegt. Es wird auch fast immer eine rechtliche Beurteilung – welche Straftat die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten zur Last legen wollte – vorgenommen. Oft fehlen argumentierende Sprecherhandlungen oder es gibt sie nur in ganz beschränktem Umfang. In der Berufungs- bzw. Revisionsschrift konzentriert der Rechtsarbeiter seine Textarbeit auf den Sprachhandlungstyp der rechtlichen Klassifizierung bzw. der Argumentation und nicht zuletzt auch auf die Neu-Strukturierung von Elementen des Sachverhalt-Festsetzens und gelangt somit zu einer von der früheren Instanz abweichenden rechtlichen Beurteilung mit prozessrelevanter Konsequenz. Der Schriftsatz ist im Vergleich zu anderen Textsorten in Bezug auf realisierte Sprachhandlungstypen relativ flexibel. Vor diesem Hintergrund lässt sich zusammenfassen, dass verschiedene juristische Funktionsträger in der Rechtskommunikation während des Rechtsfindungsverfahrens unterschiedliche Rechtstexte produzieren und dabei verschiedene textbasierte Sprecherhandlungen vollziehen, bei denen sie vom jeweiligen Standpunkt aus divergierende Perspektivierungen zugrunde legen, und zwar mit dem Ziel, eigene Rechtsposition im Rechtsstreit durchzusetzen.

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle Nach der detaillierten Erläuterung der streitigen Sprecherhandlungen in den ersten zwei Rechtsfällen werden nun wichtige Untersuchungsergebnisse der weiteren vier Fälle zusammenfassend und prägnant dargestellt. Die Darstellung erfolgt in der Struktur des von mir erweiterten Modells der grundlegenden Sprachhandlungstypen mit differenzierten Subkategorien für juristische Textarbeit, damit die Untersuchungsergebnisse systematisch nachgezeichnet werden können. Aus der Untersuchung ergibt sich, dass die streitigen Sprecherhandlungen der sechs Rechtsfälle zum Teil gleiche gemeinsame Streitpunkte („agonale Zentren“1) betreffen und zum Teil neue spezifische Streitfragen aufweisen. Insofern können an diesem Diskursausschnitt sowohl die Systematizität und Institutionalität der Textarbeit juristischer Funktionsträger als auch die Variabilität und Dynamik dieser Textarbeit beobachtet werden. Die gemeinsamen Streitpunkte, welche die Aufmerksamkeit der Rechtsarbeiter in mehreren Rechtsfällen auf sich gelenkt haben, werden jeweils mit „ࢇ“ und die spezifischen Streitpunkte, die nur im einzelnen Rechtsfall mit streitigen Sprecherhandlungen erörtert wurden, jeweils mit „“ markiert, so dass ein Überblick über die mögliche Verteilung erleichtert wird.

7.1. Sachverhalt-Festsetzen 7.1.1. Fallorientiertes Sachverhalt-Festsetzen 7.1.1.1. Festsetzungen in Bezug auf das objektivierte Ereignis  Wie unterschiedlich wird die Szene der vorhergehenden Erkundigung der Angeklagten nach der strafrechtlichen Konsequenz in Bezug auf den Umgang mit psilocybinhaltigen Pilzen festgesetzt? (Rechtsfall 3) 1

Den Terminus „agonale Zentren“ übernehme ich von Felder, 2011. Unter „agonalen Zentren“ versteht Felder einen sich in Sprachspielen manifestierenden Wettkampf um strittige Akzeptanz von Ereignisdeutungen, Handlungsoptionen, Geltungsansprüchen, Orientierungswissen und Werten in Gesellschaften. Hier können die Streitpunkte als „agonale Zentren“ im erweiterten Sinne verstanden werden, die sich als thematische Konstrukte mittlerer Abstraktionsebene induktiv aus empirischer Textanalyse ergeben und zur einleuchtenden Darstellung der Untersuchungsergebnisse dienen.

158

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

Im vorliegenden Rechtsfall hatten sich die Angeklagten, bevor sie psilocybinhaltige Pilze verkauften, bei verschiedenen Personen bzw. Institutionen nach der strafrechtlichen Relevanz bzw. Konsequenz erkundigt. Diese Szene wird von den Angeklagten in der Vernehmung, von dem Polizeibeamten in seinem Ermittlungsbericht und von der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift aufgegriffen, allerdings unterschiedlich festgesetzt. In diesem Zusammenhang sei besonders auf die im theoretischen Teil erörterten unterschiedlichen Strategien der Reformulierung, die zu anders gelagerten Stimmungsbildern führen mögen, verwiesen.2 Da das Vernehmungsprotokoll aus dem Grund der möglichen Vor-Bearbeitung durch den Protokollführer nicht in jedem sprachlichen Detail mit den realen Aussagen des Angeklagten identifiziert werden kann, beschränkt sich die diesbezügliche Untersuchung auf inhaltlich, nicht auf rein sprachlich motivierte Unterschiede bzw. Abweichungen. Bezüglich der Erkundigung hat die Angeklagte M. 1) Informationsmaterial (Lebensmittelrecht, Europarecht, Betäubungsmittelgesetz, Arzneimittelgesetz), 2) Kontakt zu verschiedenen Rechtsanwälten, 3) Diskussionen im Internet bzw. im privaten Bereich und schließlich auch 4) einen Beamten vom Rauschgiftdezernat Mannheim angeführt . In der Anklageschrift hat die Staatsanwaltschaft die letzte Informationsquelle – einen Beamten von einer einschlägigen Institution, die als aussagekräftiges Argument genutzt werden kann – ersatzlos gestrichen. Im selbigen Text wurde sogar explizit festgesetzt, dass eine verlässliche Auskunft nicht eingeholt worden ist . Damit wollte die Staatsanwaltschaft die nicht ausreichende Bemühung der Angeklagten um Erkundigungen geltend machen und die mögliche Verteidigung unter Berufung auf den Verbotsirrtum im Voraus erschweren. Darüber hinaus hat die Angeklagte M. auch noch erwähnt, dass der WKD3 einmal in ihrem Geschäft war und nichts bezüglich der vorgezeigten Pilze bzw. Unterlagen zu beanstanden hatte . Auch dieses Sachverhaltselement wurde weder in den Polizeibericht noch in die Anklageschrift wieder aufgenommen, sondern ersatzlos gestrichen. Bei der Vernehmung hat die Angeklagte M. als Ergebnis der Erkundigung genannt, dass zum einen diese Pilze in Holland als Lebensmittel eingestuft werden und ausdrücklich vom Hogerat legalisiert wurden, zum anderen ein holländisches Gutachten von einem internationals [sic] anerkannten Institut, dem Trimbos, über diese Pilze vorliegt, in dem die „Ungefährlichkeit“ für die Gesundheit bestätigt wurde . Aber der Polizeibeamte hat in seinem Bericht darüber lediglich erwähnt, dass die Angeklagten zu dem

2 3

Vgl. Steyer, 1994, S. 149. WKD ist die Abkürzung für „Wirtschaftskontrolldienst“. Es war ein ehemaliger Dienstzweig der Polizei in Baden-Württemberg.

7.1. Sachverhalt-Festsetzen

159

Entschluss gekommen sind, dass das Bundesrecht dem EU-Recht nicht entgegenstehen dürfte . Offensichtlich haben beide diesbezüglich unterschiedliche Schwerpunkte im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens gesetzt. Während die Angeklagte die Legalität der Pilze in Holland und deren von einer autoritativen Institution anerkannte Ungefährlichkeit unterstreicht, rückt der Polizeibeamte die Relation zwischen dem Bundesrecht und dem EU-Recht, die in nachfolgenden Argumentationen verschiedener Rechtsarbeiter vielfach thematisiert wird, in den Vordergrund und deutet damit die mögliche strafrechtliche Konsequenz im Bundesrecht an. Bei der diesbezüglichen Reformulierung der Staatsanwaltschaft werden zwar die Legalität und die Ungefährlichkeit wiedergegeben: zu dem Ergebnis, dass die Frischpilze in Holland als Lebensmittel eingestuft werden und außerdem ungefährlich seien . Aber die Information, dass die Ungefährlichkeit von einer autoritativen Institution stammt, wird getilgt. In der Vernehmung hat die Angeklagte erwähnt: Ende 2003 haben wir im Internet durch die Fa. N. von der Legalisierung der sog. Stropharia Cubensis erfahren . Das wurde von der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift aufgenommen: Die Angeschuldigten P. und M. erfuhren Ende 2003 im Internet durch die holländische Firma N., dass der Handel mit den Frischpilzen Stropharia Cubensis angeblich erlaubt sei . Durch die Hinzufügung des kommentierenden Adjektivs angeblich und durch die Verwendung des Konjunktivs I hat die Staatsanwaltschaft ihre distanzierende Sprechereinstellung in Bezug auf diese Sachverhaltseigenschaft signalisiert. * * * * *  Welche Unterschiede können insgesamt bei Festsetzungen in Bezug auf das objektivierte Ereignis zwischen dem Angeklagten im Vernehmungsprotokoll, dem Polizeibeamten im Polizeibericht und der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift festgestellt werden? (Rechtsfall 3) Der Rechtsfall 3 ist der einzige Rechtsfall im vorliegenden Korpus, in dem das Vernehmungsprotokoll und der Polizeibericht erfasst werden. Beide Rechtstexte sind sehr wertvolle Verfahrensmaterialien, zu denen normalerweise kaum Zugang besteht. Die dominanten Sprecherhandlungen in beiden Rechtstexten gehören dem Sprachhandlungstyp des Sachverhalt-Festsetzens an. Insofern lässt ein Vergleich zwischen ihnen und der Anklageschrift, die ebenfalls den Schwerpunkt auf den Sprachhandlungstyp des Sachverhalt-Festsetzens legt, die Einsicht zu, wie das eigentlich gleiche Ereignis wegen divergierender Rechtspositionen der festsetzenden Parteien und damit verbundener verschiedener Darstellungszwecke unterschiedlich konturiert wird. Im Grunde genommen können solche festsetzenden Sprecherhandlungen als Reformulierung im weiteren Sinne interpretiert werden, denn es geht

160

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

eigentlich immerhin um Rekonstruktionen auf der Grundlage des ursprünglichen Ereignisses, das strafrechtlich zu verfolgen ist. Insofern können die von Steyer zusammengefassten drei Verfahren – Selektionen, Hinzufügungen und Kombinationsvarianten – darauf übertragen werden. 1) Selektionen: Im Polizeibericht werden in Bezug auf die durch Durchsuchungen aufgefundenen Pilze insgesamt drei Sorten genannt: stropharia cubensis, Philosopher Stones, copelandia cyanensceus . Darunter enthalten nach medizinischer Untersuchung nur die beiden Sorten stropharia cubensis und copelandia cyanensceus den in den Anlagen des Betäubungsmittelrechts angeführten Stoff Psilocin. In der Anklageschrift werden dementsprechend beim Berichten über die aufgefundenen Gegenstände nur diese beiden Sorten erwähnt . Die andere Sorte Philosopher Stones wird dagegen, weil sie für das strafrechtliche Verfahren nicht von Relevanz ist, ersatzlos gestrichen. Das Selektieren geschieht nicht nur aus Gründen der Relevanz bzw. des Fokus, sondern muss auch dem eigenen Argumentationszweck gerecht werden. Die Staatsanwaltschaft hat z.B. in der Anklageschrift die von der Angeklagten M. im Vernehmungsprotokoll genannte institutionelle Persönlichkeit, bei der sie sich nach möglicher strafrechtlicher Konsequenz erkundigt habe, zugunsten eigener Argumentation gegen die Möglichkeit des unvermeidbaren Verbotsirrtums getilgt . In der Nachtragsanklage wird z.B. in Bezug auf den anderen problematisierten Gegenstand – mescalinhaltige Kakteen – die von der Angeklagten M. erwähnte Relation zu der Natur-Religion, dass solche Kakteen nämlich zu manchem Ritual benutzt werden können, wieder ersatzlos gestrichen . Damit wollte die Staatsanwaltschaft, dass die von der Anklage mit umfassten Kakteen nicht aus dem Grund, dass ihr Gebrauch als Betäubungsmittel ausgeschlossen werden müsste, aus dem Regulierungsrahmen des Betäubungsmittelrechts herausfallen. 2) Hinzufügungen: Die Staatsanwaltschaft hat im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens in Bezug auf die Einrede der Angeklagten M., dass sie sich an kompetenter Stelle nach möglicher strafrechtlicher Konsequenz erkundigt gehabt habe, durch die Hinzufügung des kommentierenden Adjektivs angeblich ihre distanzierende Sprechereinstellung gegenüber der von der Angeklagten behaupteten Legalität des Umgangs mit psilocybinhaltigen Pilzen signalisiert. Weder im Vernehmungsprotokoll noch im Polizeibericht wird die Qualität der Pilze thematisiert. Aufgrund eines rechtsmedizinischen Gutachtens, das über den Psilocin-Gehalt im normalen und im vorliegenden Fall berichtet hat, setzt die Staatsanwaltschaft mit einer deklarativen Sprecherhandlung fest, dass die Angeklagten einen schwunghaften Handel mit psilocinhaltigen Frischpilzen guter Qualität betrieben haben . Durch die hin-

7.1. Sachverhalt-Festsetzen

161

zugefügte Wertung über die Qualität der veräußerten Pilze wurde die mögliche Wirkungsintensität, die von großer betäubungsmittelrechtlicher Relevanz sei, unterstrichen. 3) Kombinationsvarianten: Im Vernehmungsprotokoll und im Polizeibericht wird lediglich der Sachverhalt an sich festgesetzt. In der Anklageschrift hat die Staatsanwaltschaft dagegen die grundlegenden Sachverhaltsgeschehnisse meistens mit bestimmter subjektiver Tatseite in Beziehung gesetzt, um dadurch entsprechende juristische Deutungen des Sachverhalts geltend zu machen. In der Berichterstattung über das Handeltreiben mit den Pilzen hat die Staatsanwaltschaft explizit durch die finale Infinitivkonstruktion die gewinnbringende Absicht der Angeklagten unterstrichen: […] um sich hierdurch eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer zu verschaffen und ihren Lebensunterhalt zu finanzieren . Auch in Bezug auf die aufgefundenen Pilzverpackungen im Geschäft wird festgesetzt, dass die Angeklagten diese wissentlich und willentlich zum gewinnbringenden Weiterverkauf aufbewahrten . Auch im Zusammenhang mit den mescalinhaltigen Kakteen hat die Staatsanwaltschaft festgesetzt, dass die Angeklagten sie wissentlich und willentlich aufbewahrten, um diese Kakteen durch einen späteren Verkauf als Halluzinogen zu Konsumzwecken an Kunden abzugeben . Durch diese finale Infinitivkonstruktion mit um…zu wird nicht nur der gewinnbringende Aspekt betont, sondern auch der betäubungsmittelrechtlich relevante Verwendungszweck der Kakteen als Halluzinogen festgesetzt. Insgesamt darf zusammengefasst werden, dass bereits im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens durch die Hervorhebung der gewinnbringenden Absicht auf die gewollte Klassifizierung als Handeltreiben mit Betäubungsmitteln vorbereitet wird. Eine ähnliche Korrelierung zwischen dem objektivierten Veräußerungstatgeschehen und der subjektiven gewinnbringenden Absicht findet man auch in den deklarativen Sprecherhandlungen der verschiedenen Parteien im Rechtsfall 4: um sich durch die wiederholte Tatbegehung eine fortlaufende Einnahmequelle von einiger Dauer und einigem Umfang zu verschaffen , zum gewinnbringenden Weiterverkauf . * * * * *  Wie wird der Pilz-Sachverhalt – vor allem unter dem Gesichtspunkt der Ausführlichkeit und der Gewichtung – von der Staatsanwaltschaft und den Richtern verschiedener Instanzen unterschiedlich festgesetzt? (Rechtsfall 4) Zwar befinden sich die Sprecherhandlungen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens nicht unbedingt im Teil der Fallerzählung am An-

162

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

fang eines Rechtstextes, aber die wiederholt veränderte Platzierung der festsetzenden Sprecherhandlungen bezüglich des Pilz-Sachverhalts im vorliegenden Fall kann jedoch die damit verbundene unterschiedliche Gewichtung der strafrechtlichen Relevanz durch die verschiedenen Rechtsarbeiter transparent machen. Im vorliegenden Fall werden die Angeklagten wegen der Veräußerung der psilocybinhaltigen Pilze und des THC-haltigen Hanfs strafrechtlich angeschuldigt. Die verschiedenen Rechtsarbeiter haben in ihrem Rechtstext den Pilz-Sachverhalt – vor allem in Gegenüberstellung zu dem Hanf-Sachverhalt – anders gelagert und in unterschiedlichem Umfang so festgesetzt, dass es ihrem jeweiligen Argumentationszweck gerecht wird. Die Staatsanwaltschaft hat sehr ausführlich im Teil der Fallerzählung am Anfang der Anklageschrift festsetzende Sprecherhandlungen bezüglich des Pilz-Sachverhalts unternommen . Daraufhin hat sie die Veräußerung der Pilze und des Hanfs als unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln klassifiziert. Dagegen hat der Richter der ersten Instanz des AG Bad Kissingen, der die Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelrecht allein bezüglich des Hanfs verurteilen und sie sonst in Bezug auf die Pilze freisprechen wollte, die Festsetzungen angesichts des Pilz-Sachverhalts aus dem Teil der Fallerzählung herausgenommen und darüber hinaus den in der Anklageschrift eigentlich weniger detailliert festgesetzten Hanf-Sachverhalt grundlegend erweitert . Damit wird der Hanf-Sachverhalt, den er in seiner Argumentation hauptsächlich aufgreifen wollte, als Hauptsachverhalt etabliert. Demgegenüber hat er den Pilz-Sachverhalt in den Rahmen argumentierender Sprecherhandlungen, die auf den Freispruch der Angeklagten vom diesbezüglichen Vorwurf abzielen, verlagert. Damit wird der Pilz-Sachverhalt – entgegen seiner Hauptstellung in der Anklageschrift – in der Gewichtung der strafrechtlichen Relevanz herabgesetzt, was dem Argumentationsanliegen des Richters entspricht. Außerdem ist von großem linguistischem Interesse, dass der Richter des AG Bad Kissingen die gesamten Festsetzungen in Bezug auf den Pilz-Sachverhalt durch das Konjunktionaladverb trotzdem mit den argumentierenden Sprecherhandlungen mit dem Ziel des Freispruchs in eine konzessive Verbindung gebracht hat: Trotzdem befanden sich beide Angeklagte bezüglich der Airfresher in einem für sie nicht vermeidbaren Verbotsirrtum hinsichtlich der Frage, ob es sich bei dem Vertrieb dieser Dosen um Betäubungsmittel handelt oder nicht . Damit werden die Festsetzungen, obwohl dabei der Veräußerungsakt eingeräumt worden war, durch die sprachliche Zubereitung mittels einer konzessiven Verknüpfung zum unwirksamen Gegengrund verarbeitet, so dass der PilzSachverhalt angesichts der Gewichtung der strafrechtlichen Relevanz neben der dezentralisierten Platzierung noch einmal abgeschwächt wird.

7.1. Sachverhalt-Festsetzen

163

In der zweiten Instanz des Bayerischen Obersten Landesgerichtes, in der die Richter – entgegen der Rechtsposition der ersten Instanz – die Pilze doch dem Betäubungsmittelrecht unterstellen wollten, haben sie den Pilz-Sachverhalt, wenn auch nicht sehr ausführlich, jedoch wieder in den Rahmen der Fallerzählung – und zwar wieder neben den Hanf-Sachverhalt – eingereiht . Im Urteilstext der dritten Instanz des AG Bad Kissingen, die auf den Hinweis des Bayerischen Obersten Landesgerichtes die Pilze dem Betäubungsmittelrecht unterordnen wollte, hat der Richter erneut ausführliche Festsetzungen in Bezug auf den Pilz-Sachverhalt unternommen . Damit gewinnt der Pilz-Sachverhalt, gemäß dem veränderten Argumentationszweck, wieder die zentrale Stellung als Hauptsachverhalt im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens. * * * * *  In welchem Umfang können die Pilze als Lebensmittel veräußert werden? (Rechtsfall 3) Sowohl von der Polizei und der Staatsanwaltschaft als auch von dem Rechtsanwalt des Angeklagten P. wird im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens erwähnt, dass die Pilze in manchen Regionen als Lebensmittel veräußert werden dürfen. Aber sie haben jeweils andere Regionen, in denen die Pilze als Lebensmittel veräußert werden dürfen, ins Feld geführt. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft haben im Rahmen ihrer festsetzenden Sprecherhandlungen betont, dass die Pilze als Lebensmittel in den Niederlanden zugelassen sind . Die Staatsanwaltschaft hat insbesondere unterstrichen, dass es eine automatische Verkehrsfähigkeit der in Holland als Lebensmittel zugelassenen Zauberpilze in der BRD nicht gibt . Sie hat also in Bezug auf den zugelassenen Umfang Holland und Deutschland ausdrücklich einander gegenübergestellt. Dagegen hat der Rechtsanwalt des Angeklagten P. in drei Schriftsätzen behauptet, dass die betreffenden Pilze als Lebensmittel in der EU zugelassen sind . Der Rechtsanwalt geht also von einem erweiterten Zulassungsbereich aus, in dem die Gegenüberstellung zwischen Holland und Deutschland getilgt wird. Durch das unterschiedliche Festsetzen des Zulassungsbereiches entsteht unterschiedliche juristische Deutung gegenüber demselben Sachverhalt. 7.1.1.2. Festsetzungen in Bezug auf subjektive Einstellungen ࢇ

Zu welchem Zweck bieten die Angeklagten die Pilze an? Wie sehen die Angeklagten den Verwendungszweck der veräußerten Pilze? Was wird bezüglich des Verwendungszwecks der problematischen Pilze bzw. ange-

164

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

sichts der subjektiven Einstellungen der Angeklagten in Bezug auf den Verwendungszweck festgesetzt? (Rechtsfall 4, Rechtsfall 6) – Rechtsfall 4 In der Anklageschrift wurde über 3 Verkaufsfälle der problematischen Pilze berichtet. In jedem Einzelfall hat die Staatsanwaltschaft durch die finalen Präpositionalphrasen zum Konsum bzw. zu Konsumzwecken den Verwendungszweck als Konsum festgesetzt. Dadurch hat sie diesen problematischen Verwendungszweck, der mit dem Tatbestandsmerkmal „Missbrauch“ übereinstimmt, in den Vordergrund gerückt. Dem Protokoll kann entnommen werden, dass der Angeklagte A. zum Verwendungszweck etwas anderes geäußert hat. Er betont gegenüber der Staatsanwaltschaft die Verwendung als Raumluftverbesserer . Damit versucht er sich schon im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens vom Tatbestandsmerkmal „Missbrauch“ zu distanzieren. Demgegenüber hat ein Zeuge D. mit der Formulierung er sagte[,] ich soll langsam damit machen[,] da die Dosis doch ziemlich hoch sei dennoch den Konsumzweck wieder angedeutet. Der Richter des AG Bad Kissingen hat beide Sachverhaltselemente „Raumluftverbesserung“ und „die starke Wirkung der Pilze“, die jeweils von dem Angeklagten A. bzw. dem Angeklagten R. und vom Zeugen D. in den Vordergrund gerückt wurden, in eine adversative Verbindung gebracht: Dabei wies er zwar vordergründig daraufhin [sic], dass diese Dosen für sauberes Raumklima sorgen sollten, wies aber gleichzeitig daraufhin [sic], dass bei dem Genuss aufgepasst werden soll, da sie in der Wirkung erheblich wären . Damit wird die Gegensätzlichkeit beider Elemente explizit an der Textoberfläche unterstrichen. Entgegen der Staatsanwaltschaft relativieren die Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichts mit dem oft verwendeten Ausdruckskomplex nahmen zumindest billigend in Kauf die Bestimmtheit über die Einsicht der Angeklagten in den wahren Verwendungszweck: […] sie nahmen zumindest billigend in Kauf, daß diese nicht dem vorgeschobenen Verwendungszweck zur Raumluftverbesserung dienten, sondern dem Konsum . Diese Relativierung hat die nächste Instanz – das AG Bad Kissingen – nicht übernommen. Wie die Staatsanwaltschaft hat der Richter des AG Bad Kissingen im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens erneut durch die Präpositionalphrase zum Konsum den Konsumzweck als uneingeschränkte Wahrheit festgesetzt . – Rechtsfall 6 In der Anklageschrift wird durch die Ausdrücke rechneten damit und nahmen billigend in Kauf eine relativierte Bestimmtheit über die Einsicht der Ange-

7.1. Sachverhalt-Festsetzen

165

klagten, dass die Abnehmer die Pilze verzehren, festgesetzt: Die Angeschuldigten rechneten damit und nahmen billigend in Kauf, daß die Abnehmer die Pilze verzehren würden . * * * * * ࢇ

Wie sehen die Angeklagten die strafrechtliche Konsequenz ihres Verhaltens? (Rechtsfall 3, Rechtsfall 4)



Rechtsfall 3

1) Legal oder unter BtMG fallen? Der Rechtsanwalt hat in einem Schriftsatz darauf hingewiesen, dass der Angeklagte P. davon ausgeht, daß der die sicher gestellten [sic] Frischpilze, die Gegenstand des Verfahrens sind, rechtmäßig vertreiben darf . Als Rechtfertigung dieser Einstellung hat er mit einem Kausalsatz mit da die Zulassung der Pilze als Lebensmittel in der EU angegeben. Die Staatsanwaltschaft hat in der Anklageschrift darauf verwiesen: Die Angeschuldigten P. und M. haben erklärt, davon ausgegangen zu sein, dass es sich um legale Ware handelt, die legal in Deutschland verkauft werden dürfe . Mit dem Konjunktiv I hat die Staatsanwaltschaft die von den Angeklagten behauptete Legalität nicht als uneingeschränkte Tatsache dargestellt, sondern als reine Redewiedergabe markiert, von der sie sich distanzieren wollte. Trotz dieser Wiedergabe hat die Staatsanwaltschaft dennoch betont, dass den Angeklagten bewusst war, dass die Pilze […] den unter das Betäubungsmittelgesetz fallenden Stoff Psilocin enthalten . Damit rückt sie – ungeachtet der Zuordnungsproblematik der Pilze – den strafrechtlich problematischen Wirkstoff Psilocin in den Vordergrund. Auch ein Richter des AG Mannheim hat genauso in einem Beschluss im Ermittlungsverfahren darauf hingewiesen, dass den Beschuldigten bewußt war, dass der Stoff „Psilocybin“ unter das Betäubungsmittelgesetz fällt . Insofern haben sie im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens die jeweilige Sachverhaltseigenschaft, die sie gemäß ihrer Rechtsposition unterstreichen wollten, vor dem gesamten Hintergrund hervorgehoben und den Fokus auf sie gerichtet. In ihrer Revisionsschrift hat die Staatsanwaltschaft wieder die subjektive Einstellung der Angeklagten gegenüber der Strafbarkeit ihres Verhaltens thematisiert. Diesmal ging sie gegenüber ihrer letzten Formulierung in der Anklageschrift einen Schritt weiter und setzte fest, dass die Angeklagten selbst […] davon ausgegangen sind, dass die Pilze unter das Betäubungsmittelgesetz fallen . Dabei ist erstens anzumerken, dass die Staatsanwaltschaft diesmal nicht mehr den problematischen Stoff zum Objekt macht, das unter das Betäubungsmittelgesetz fällt, sondern unmittelbar die Pilze. Zweitens ist zu beobachten, dass die Staatsanwaltschaft in dieser festsetzenden

166

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

Sprecherhandlung über subjektive Einstellung anderer Personen den festgesetzten Inhalt nicht durch modale Markierung in der Geltung eingeschränkt hat. Sie hat hier statt des Konjunktivs I, den sie in Bezug auf die Legalität benutzt hat, den Indikativ verwendet. Diese festsetzende Sprecherhandlung widerspricht allerdings offensichtlich der des Rechtsanwalts in seinem Schriftsatz. 2) Wertung der Aussage des Zeugen O. Die oben dargestellte Festsetzung in Bezug auf die subjektive Einstellung der Angeklagten führt die Staatsanwaltschaft zum Teil auf eine Aussage vom Zeugen O. zurück: Da uns bekannt ist, dass Psilocybinpilze unter das Betäubungsmittelgesetz fallen . Aus dem Kontext dieser Aussage ergibt sich, dass der Zeuge O. mit uns sich selbst und den Angeklagten P. gemeint hat. An einer unmittelbar darauf folgenden Textstelle wiederholte die Staatsanwaltschaft seine Festsetzung bezüglich der subjektiven Einstellung der Angeklagten: dass die Angeklagten P. und M. davon ausgegangen sind, dass Psilocybinpilze unter das Betäubungsmittelgesetz fallen . Dieses Zurückführen bestritt der Rechtsanwalt, indem er darauf hinwies, dass die Behauptung des Zeugen O. bezüglich der Einsicht der Angeklagten in die Strafbarkeit sich seiner Beobachtung entzieht . Sehr interessant ist hier die sprachliche Zubereitung der Staatsanwaltschaft. Zunächst hat sie die Behauptung des Zeugen im Hinblick auf die innere Tatseite übernommen, die der Zeuge allerdings nicht nur für sich, sondern auch – aufgrund eigener Beobachtung bzw. Schlussfolgerung – für eine „andere Person“ (hier den Angeklagten P.) gemacht hat. Dann kommt die Staatsanwaltschaft aufgrund dieser Behauptung zu einer Schlussfolgerung in Bezug auf die subjektive Einstellung dieser „anderen Person“ (des Angeklagten P.) und erweitert diese noch auf eine weitere Person (die Angeklagte M.). Es handelt sich im Grunde genommen um eine Reformulierung mit Hinzufügung. Und diese eigentlich erweiterte Schlussfolgerung hat die Staatsanwaltschaft nicht mit modaler Markierung relativiert bzw. eingeschränkt, sondern stellt sie ohne Signalisierung bezüglich ihrer Bestimmtheit als bloße Tatsache dar. – Rechtsfall 4 Ähnlich wie im Rechtsfall 3 zeichnet sich hier eine Kontroverse zwischen dem Angeklagten und dem Richter des AG Bad Kissingen ab. Dem Protokoll ist zu entnehmen, dass der Angeklagte A. die Legalität in den Vordergrund gerückt hat: Ich dachte es sei legal . Das versucht er explizit an der Textoberfläche durch die kausale Konjunktion da mit der Tatsache zu verbinden, dass Werbung in Zeitung für die Airfresher gemacht wurde . Demgegenüber hat der Richter des AG Bad Kissingen mit einer deklarativen Sprecherhandlung festgesetzt, dass der Angeklagte A. doch um

7.1. Sachverhalt-Festsetzen

167

die Tatsache wusste, dass diese Airfresher psilocybinhaltige Pilze enthalten und daher grundsätzlich dem Betäubungsmittelgesetz unterfallen könnten . Im Vergleich zum Rechtsfall 3 wird hier die Bestimmtheit, dass die Airfresher unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, durch das im Konjunktiv II realisierte Modalverb könnten und das relativierende Adjektiv grundsätzlich eher eingeschränkt. * * * * *  Zu welchem Zweck bieten die Angeklagten die mescalinhaltigen Kakteen an? Wie wird bezüglich des Verwendungszwecks dieser Kakteen bzw. angesichts der subjektiven Einstellungen der Angeklagten in Bezug auf den Verwendungszweck festgesetzt? (Rechtsfall 3) Im vorliegenden Fall haben die Angeklagten neben den viel diskutierten Pilzen auch mescalinhaltige Kakteen veräußert. Dass um die Frage danach, zu welchem Zweck die Angeklagten solche Kakteen angeboten haben, mehrfach gestritten wird, liegt daran, dass der Verwendungszweck unmittelbar mit der Strafbarkeit zusammenhängt. Denn eine Strafe kann nur unter der Bedingung verhängt werden, dass die Kakteen zu Rauschzwecken missbräuchlich veräußert werden. Wenn sie aber zu anderen (z.B. dekorativen) Zwecken angeboten werden, fallen sie nicht unter das Betäubungsmittelgesetz. Vonseiten der Angeklagten wird der Rauschzweck zurückgewiesen. Im Vernehmungsprotokoll hat die Angeklagte M. deutlich ihre Einstellung dazu geäußert: Ich gehe nicht davon aus, daß jemand so viel Geld ausgibt, um sich zu berauschen . Stattdessen hat sie den Zierzweck und den rituellen Verwendungszweck in den Vordergrund gerückt, indem sie die Sachverhaltselemente, dass es sich bei den Kakteen um eine artengeschützte Sorte handelt, dass sie von deren Gehalt an Mescalin nichts wusste und dass diese Kakteen nach ihrem Wissen in Natur-Religionen auch für das ursprüngliche Ritual benutzt werden, vor dem gesamten Hintergrund hervorhebt.4 Auch der Rechtsanwalt des Angeklagten P. hat in einem Schriftsatz die geschäftliche Anleitung zu den Kakteen beigefügt, in der die rituelle Verwendung und die Verwendung als Zierpflanze wiederholt unterstrichen werden . Entgegen den Einlassungen der Angeklagten M. hat die Staatsanwaltschaft mit einer deklarativen Sprecherhandlung festgesetzt: Den Angeschul-

4

Diese Kakteen verkaufen wir ausschließlich zur [sic] Zierzwecken. Es handelt sich dabei um eine artengeschützte Sorte. Ich weiß auch gar nicht, ob diese speziellen Peyote-Kakteen Mescalin enthalten. Ich bin davon ausgegangen, daß diese Kakteen als reine Zierpfl anze von unseren Kunden nur zu diesem Zwecke gekauft werden. Durch mein Interesse an Natur-Religionen weiß ich, daß für das ursprüngliche Ritual, zu dem der Peyote-Kaktus benutzt wird bzw. wurde, ca. 20 bis 30 von diesen Kakteen benutzt werden .

168

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

digten ist sowohl die Wirkung beim Verzehr der Kakteen bekannt als auch die Tatsache, dass potentielle Käufer diese Kakteen überwiegend zum Verzehr, nicht hingegen zu dekorativen Zwecken, erwerben . Mit dem Gebrauch des Indikativs und mit dem Wort Tatsache (nicht z.B. „Möglichkeit“) versucht die Staatsanwaltschaft ihre Festsetzung bezüglich der beiden subjektiven Einstellungen der Angeklagten, dass sie erstens von der betäubungsmittelrechtlich relevanten Wirkung und zweitens vom betäubungsmittelrechtlich relevanten Verwendungszweck wussten, ohne jegliche modale Abtönung als uneingeschränkte Wahrheit geltend zu machen. Die Rechtsposition der Staatsanwaltschaft hat sich beim Richter des AG Mannheim nicht durchgesetzt. Mit der Hervorhebung von drei Sachverhaltselementen aus dem gesamten Hintergrund, dass 1) im Geschäft der Angeklagten neben diesen Kakteen auch andere botanische Raritäten von gewisser Seltenheit vertrieben werden und dass 2) die Angeklagten in ihrer Werbung nicht auf die berauschende Wirkung der Kakteen hingewiesen haben und dass 3) solche Kakteen zwischenzeitlich im Fachhandel beliebig frei zu erwerben sind, setzt der Richter des AG Mannheim deklarativ fest, dass keine zu einer Verurteilung hinreichende Gewissheit besteht, dass die Angeklagten in der Absicht gehandelt haben, die Peyote-Kakteen zur unerlaubten Rauscherzeugung zu veräußern und dass es sich nicht mit Gewissheit ausschließen lässt, dass sie die Kakteen zu botanischen und dekorativen Zwecken im Angebot haben . Dass der Richter des AG Mannheim aufgrund von drei von ihm geltend gemachten Sachverhaltseigenschaften den Geltungsanspruch dessen, dass die Angeklagten zu Rauschzwecken die Pilze angeboten haben, relativiert hat, wird sowohl von der Staatsanwaltschaft in der Revision als auch von den Richtern der Revisionsinstanz des OLG Karlsruhe im Urteil angegriffen. Die drei von dem Richter des AG Mannheim zugrunde gelegten Sachverhaltselemente haben die Staatsanwaltschaft in der Revision und die Richter des OLG Karlsruhe im Urteil daraufhin problematisiert, dass daraus nicht zwingend zu folgern ist, dass ein Verkauf zu Rauschzwecken nicht erfolgen sollte und dass es wenig für die gerade von den Angeklagten […] verfolgten Zwecke besagt . Die Richter des OLG Karlsruhe haben sogar ein anderes Sachverhaltselement angeführt, dass die Kakteen in örtlichem und zeitlichem Zusammenhang mit den zweifelfrei zum Verzehr bestimmten psilocinhaltigen Pilzen angeboten wurden, um damit die naheliegende, sich aufdrängende Möglichkeit, dass die Kakteen, wenn sie auch nicht ohne Weiteres – wie etwa die besagten Pilze – zum Verzehr geeignet sein mögen, ebenfalls zur Erzeugung von Rauschzuständen verwendet und in den Verkehr gebracht werden (sollten), in den Vordergrund zu rücken . In diesem Zusammenhang muss besonders auf zwei Punkte hingewiesen werden.

7.1. Sachverhalt-Festsetzen

169

Erstens kann durch das Relevant-Setzen von unterschiedlichen Sachverhaltselementen unterschiedlich in Bezug auf subjektive Einstellungen festgesetzt werden. Während der Richter des AG Mannheim drei ausgewählte Sachverhaltselemente zugrunde legt und daraufhin die Bestimmtheit des Bestehens des betäubungsmittelrechtlich relevanten Verwendungszweckes relativiert, führen die Richter des OLG Karlsruhe ein anderes Sachverhaltselement an und steigern daraufhin den Geltungsanspruch der Möglichkeit des Bestehens des betäubungsmittelrechtlich relevanten Verwendungszweckes. Zweitens ist sehr interessant zu beobachten, dass die streitenden Parteien im vorliegenden Fall mit deklarativen Sprecherhandlungen die eigentlich offenen Möglichkeiten in unterschiedliche juristisch wertende Richtungen verarbeiten. Während der Richter des AG Mannheim die Möglichkeit, dass die Angeklagten die Kakteen nicht unbedingt zu Rauschzwecken, sondern vielleicht auch zu botanischen oder dekorativen Zwecken anbieten, dazu interpretiert, dass keine zur Verurteilung hinreichende Gewissheit besteht, nutzen die Richter des OLG Karlsruhe diese Unbestimmtheit, zu welchem Zweck die Kakteen angeboten wurden, zugunsten dessen, dass sich die Möglichkeit der Verwendung der Kakteen zur Erzeugung von Rauschzuständen aufdrängt. Eigentlich hat der Richter des AG Mannheim die Möglichkeit, dass die Angeklagten die Kakteen zu Rauschzwecken veräußerten, nicht verneint. Aber er hat auch auf die andere Möglichkeit, dass sie diese zu botanischen oder dekorativen Zwecken anbieten, hingewiesen und ist insofern zugunsten der Angeklagten zur Schlussfolgerung gekommen, dass keine zur Verurteilung ausreichende Gewissheit besteht. Aber die Richter des OLG Karlsruhe bestärken zuungunsten der Angeklagten den Geltungsanspruch der Möglichkeit der Verwendung zu Rauschzwecken, indem sie die andere Möglichkeit – eine Verwendung zu botanischen oder dekorativen Zwecken – unterdrücken. 7.1.2. Prozessorientiertes Sachverhalt-Festsetzen ࢇ

Wie wird auf das sprachliche Handeln der Vorinstanzen zugegriffen und es als prozessorientierter Sachverhalt festgesetzt? (Rechtsfall 3, Rechtsfall 4)

– Rechtsfall 3 Erstens ist zu beobachten, dass die Richter der zweiten Instanz des OLG Karlsruhe bei der Reformulierung durch unterschiedliche Methoden auf die Informationen, die sie unterstreichen wollen, aufmerksam machen. Die beiden Anklagen der Staatsanwaltschaft, die sich zusammen über 30 Seiten ausdehnen, haben sie zunächst auf wenige Sätze verdichtet. Bei dieser Verdichtung haben sie dennoch durch eine explikative Ergänzung mit und zwar die als Betäubungsmittel problematisierten Stoffe „psilocinhaltige Frischpilze“

170

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

und „mescalinhaltige Kakteen“ aufgezählt: […] gewerbsmäßig unerlaubt mit Betäubungsmitteln und zwar jeweils mit psilocinhaltigen Frischpilzen Handel getrieben zu haben und […] unerlaubt mit Betäubungsmitteln und zwar mit mescalinhaltigen Kakteen Handel getrieben zu haben . Bei der Reformulierung der Argumentation des AG Mannheim haben die Richter des OLG Karlsruhe durch Kursivschrift die beiden von dem Richter des AG Mannheim angeführten Aspekte im Tatzeitraum und nach heutiger Auffassung, die sie selber an einer nachfolgenden Textstelle anfechten wollen, unterstrichen: […] weil psilocinhaltige Pilze im Tatzeitraum nicht dem Anwendungsbereich des BtMG unterfielen […] Pilze seien nach heutiger Auffassung weder Pflanzen noch Tiere . Zweitens kann man den Reformulierungen der Richter des OLG Karlsruhe entnehmen, dass sie im Rahmen des Sprachhandlungstyps des prozessorientieren Sachverhalt-Festsetzens das sprachliche Handeln des Richters des AG Mannheim durch Konjunktionen bzw. Konjunktionaladverbien in einen bestimmten logischen Zusammenhang setzen, der in dem ursprünglichen Urteilstext meist nicht oder nicht explizit hergestellt wird. Die Einzelelemente des sprachlichen Handelns der Vorinstanzen werden somit neu kombiniert bzw. strukturiert. Die Richter des OLG Karlsruhe haben zwei Sachverhalte bezüglich des sprachlichen Handelns des Richters des AG Mannheim, nämlich dass er einerseits das objektive Tatgeschehen als erwiesen ansah und dass er andererseits die Angeklagten wegen der Pilze-Pflanzen-Zuordnung freisprach, in eine adversative Verbindung zusammengefasst, um die Gegensätzlichkeit hervorzuheben: […] sieht das Amtsgericht das […] objektive Tatgeschehen zwar als erwiesen an […] hat das Amtsgericht die Angeklagten aber freigesprochen, weil […] . Diese beiden Sachverhalte sind im Urteilstext des AG Mannheim nicht explizit miteinander korreliert. Ein weiteres Beispiel bezieht sich auf die Reformulierung bezüglich der Schlussfolgerung des Richters des AG Mannheim darüber, wie er den Verwendungszweck der in der Anklage aufgeführten Kakteen sieht: Vor diesem nur lückenhaft dargestellten objektiven Hintergrund gelangt das Amtsgericht in subjektiver Hinsicht zu dem Ergebnis, dass nicht mit einer zu einer Verurteilung hinreichenden Gewissheit festzustellen sei, dass die Angeklagten in der Absicht handelten, die Kakteen zur unerlaubten Rauscherzeugung zu veräußern; vielmehr lasse sich nicht mit Gewissheit ausschließen, dass sie die Kakteen zu botanischen Zwecken und dekorativen Zwecken im Angebot hatten . Zwar haben die Richter des OLG Karlsruhe die Schlussfolgerung des Richters des AG Mannheim im Konjunktiv I wiedergegeben, um dies als vermittelte Aussage zu markieren; aber bei genauem Vergleich lässt sich feststellen, dass sie die beiden Gesichtspunkte – nicht mit einer zu einer Verurteilung hinreichenden Gewissheit festzustellen sei, dass die Angeklagten in der

7.1. Sachverhalt-Festsetzen

171

Absicht handelten, die Kakteen zur unerlaubten Rauscherzeugung zu veräußern und nicht mit Gewissheit ausschließen, dass sie die Kakteen zu botanischen Zwecken und dekorativen Zwecken im Angebot hatten – mit dem hinzugefügten adversativen Adverb vielmehr verknüpft haben. Im ursprünglichen Text hat der Richter des AG Mannheim die beiden Gesichtspunkte eher als gleichberechtigte Möglichkeiten nebeneinander aufgereiht, ohne einen davon explizit zu unterstreichen. Durch die Hinzufügung des Adverbs vielmehr wird der zweite Gesichtspunkt aus der Aufreihung herausgehoben. Außerdem haben die Richter des OLG Karlsruhe durch das hinzugefügte Adjektiv lückenhaft die Darstellung des AG Mannheim klassifiziert. Dabei handelt es sich um eine rechtliche Klassifizierung der Rechtsklassifikation. Ähnlich wie im Rechtsfall 2 realisiert sich auch hier die sprachliche Zubereitung beim prozessorientierten Sachverhalt-Festsetzen hauptsächlich in Form der Fokusbildung und der Explizierung von Relationen. Wie einzelne Belege gezeigt haben, können die Fokusbildung und die Explizierung von Relationen unterschiedlichen Zwecken dienen. Manchmal können sie dazu genutzt werden, bestimmte Gegenstände oder Relationen vom gesamten Hintergrund hervorzuheben, damit sie in stärkerem Maße vom Rezipienten wahrgenommen werden. Manchmal kann aber diese Hervorhebung auch dazu dienen, dass die Rechtsarbeiter auf deren Basis die als solche festgesetzten Gegenstände oder Relationen an einer weiteren Stelle des eigenen Rechtstextes problematisieren bzw. anfechten. – Rechtsfall 4 In Bezug auf das sprachliche Handeln der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift haben die Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichtes neben der gewöhnlichen gestrafften Zusammenfassung bestimmte Information getilgt und dafür andere ergänzt, was offensichtlich von den ursprünglichen Sprecherhandlungen der Staatsanwaltschaft abweicht: Die Anklageschrift bezeichnet die Stoffe (Hanf und Pilze), Art und Umfang ihrer betäubungsmittelrelevanten Bestandteile (0,03% THC, Psilocybin) sowie bezüglich des Hanfes auch den Verwendungszweck (Tabakersatz) . Eigentlich hat die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift mehrfach mit den Präpositionalphrasen zum Konsum und zu Konsumzwecken den Verwendungszweck der Pilze betont. Diese Festsetzung der Staatsanwaltschaft haben die Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichtes ersatzlos gestrichen; stattdessen haben sie mit einer deklarativen Sprecherhandlung der Staatsanwaltschaft die festsetzende Sprecherhandlung bezüglich des Verwendungszwecks des Hanfes als Tabakersatz aufgeladen, welche die Staatsanwaltschaft in ihrer Textarbeit eigentlich gar nicht unternommen hat. Ein ähnliches Beispiel dafür bezieht sich auf die festsetzenden Sprecherhandlungen der Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichtes darüber,

172

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

welche Festsetzungen der Richter des AG Bad Kissingen bezüglich des HanfSachverhalts getroffen hat. In Bezug auf den Hanf hat der Richter des AG Bad Kissingen im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens mit der Präpositionalphrase zum gewinnbringenden Weiterverkauft die Gewerbsmäßigkeit des in den Läden der Angeklagten aufgefundenen Hanfes in den Vordergrund gerückt. Daraufhin werden die Angeklagten wegen gewerbsmäßigen vorsätzlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verurteilt. Demgegenüber haben die Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichtes bei der Reformulierung diese Gewerbsmäßigkeit unterstreichende Präpositionalphrase gestrichen und stattdessen das Adjektiv vorrätig benutzt. An einer späteren Textstelle haben sie – mit Hinweis auf die fehlenden Feststellungen zum tatsächlichen Verkauf des Hanfes – den Schuldgehalt des gewerbsmäßigen Handeltreibens bezweifelt. In diesem Zusammenhang lässt sich veranschaulichen, dass sich die Rechtsarbeiter schon im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens auf spätere klassifizierende und beurteilende Sprecherhandlungen vorbereiten, indem sie derselben Handlung unterschiedliche Deutungsgesichtspunkte zuschreiben, so dass ganz andere juristische Interpretationen gefolgert werden können.

7.2. Rechtliche Klassifizierung 7.2.1. Sachverhaltsklassifizierung Wie werden die verfahrensgegenständlichen Pilze klassifiziert? Werden sie als Betäubungsmittel oder als etwas anderes (z.B. als Lebensmittel) klassifiziert? (Rechtsfall 3, Rechtsfall 4, Rechtsfall 5) Um den diesbezüglichen Streit zwischen verschiedenen Parteien verdichtet zu veranschaulichen, strukturiert sich die Darstellung hier nicht mehr gemäß dem chronologischen Verfahren, sondern gemäß den beteiligten Parteien. ࢇ

– Rechtsfall 3 In der Strafanzeige hat die Polizei die Pilze als Betäubungsmittel klassifiziert, indem sie durch einen entsprechenden explikativen Einschub die im vorhergehenden Text genannten Betäubungsmittel spezifiziert: […] einen illegalen gewerbsmäßigen Handel mit Btm in nicht geringen Mengen – Psilocybin-Pilze u.a. – betrieben zu haben . Diese Klassifizierung hat die Polizei allerdings nicht gerechtfertigt. Grundsätzlich wollte die Staatsanwaltschaft die Pilze als Betäubungsmittel klassifizieren. Diese rechtliche Klassifizierung findet sich in drei Rechtstexten der Staatsanwaltschaft. In der Anklageschrift hat die Staatsanwaltschaft mit einer expliziten klassifizierenden Sprecherhandlung die Pil-

7.2. Rechtliche Klassifi zierung

173

ze als Betäubungsmittel eingestuft: Der Verkauf von psilocinhaltigen Pilzen oder Mycelien (in sog. Anbauboxen) stellt damit ein unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln dar . In einem Schriftsatz an das AG Mannheim hat die Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Rechtsprechung eines anderen Amtsgerichtes (AG Dillingen) diese Rechtsposition unterstrichen: Damit verstößt der Handel mit derartigen Pilzen gegen das Betäubungsmittelgesetz . In der Revisionsschrift ist sie aufgrund der Erläuterung der Gesetzesauslegung aus verschiedenen Aspekten zu der klassifizierenden Sprecherhandlung gekommen: Die Gesetzesauslegung ergibt damit, dass „Pilze“ vom Wortlaut des Betäubungsmittelgesetzes zur Tatzeit noch erfasst waren . Entgegen der Staatsanwaltschaft wollten die Rechtsanwälte der Angeklagten die Pilze nicht als Betäubungsmittel, sondern eher als Lebensmittel klassifizieren. In zwei Schriftsätzen jeweils an die Staatsanwaltschaft Mannheim und an das AG Mannheim hat der Rechtsanwalt des Angeklagten P. die Pilze als Lebensmittel eingestuft, die zum Im- und Export innerhalb der EU zugelassen sind: Mein Mandant geht derzeit davon aus, daß der die sicher gestellten [sic] Frischpilze, die Gegenstand des Verfahrens sind, rechtmäßig vertreiben darf, da sie in der EU als Lebensmittel zugelassen sind und […] wenn ein EU-Land nach sachverständiger Beratung die betreffende Handelsware als Lebensmittel zum Im- und Export innerhalb der EU zugelassen hat . Dass der Rechtsanwalt diese Klassifizierung in den Vordergrund rückt, dient dazu, dass er auf dieser Basis den EU-Vertrag, der die Warenfreiheit zwischen den EU-Staaten garantieren soll, in die Argumentationskette einführen kann. In einem Schriftsatz an das AG Mannheim hat die Rechtsanwältin der anderen Angeklagten M. mit Hinweis auf die PilzePflanzen-Problematik die Pilze als nicht vom BtMG erfasst klassifiziert . Sehr detailliert hat sie die naturwissenschaftlichen Unterschiede zwischen der Kategorie „Pilz“ und der Kategorie „Pflanze“ erläutert. In einer weiteren klassifizierenden Sprecherhandlung hat sie die Pilze auch noch als Naturprodukt etikettiert , um damit von der chemisch isolierten Substanz Psilocybin/Psilocin, die oft von anderen Rechtsarbeitern bei der Beurteilung der Strafbarkeit unmittelbar fokussiert wird, eine gewisse Distanz zu verschaffen.5 Sehr interessant ist zu beobachten, dass die verschiedenen Richter des AG Mannheim selbst unter sich unterschiedliche Klassifizierungen unternommen haben. Der Richter des AG Mannheim, der einen Beschluss im Ermittlungsverfahren formuliert hat, hat darin mit einer deklarativen Sprecherhandlung

5

Vgl. die entsprechenden Sprecherhandlungen der Staatsanwaltschaft und des Richters des AG Mannheim in und .

174

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

durch einen explikativen Einschub die verfahrensgegenständlichen Pilze als Betäubungsmittel klassifiziert: […] nach folgenden Gegenständen: Betäubungsmittel, insbesondere psilocybinhaltige Pilze, schriftliche Unterlagen […] . Ein anderer Richter des AG Mannheim hat in einem anderen Beschluss ebenfalls explizit die Pilze als Betäubungsmittel klassifiziert: Unabhängig von dieser naturwissenschaftlichen Frage handelte es sich aber auch schon vor der 19. BtMÄndV bei psilocybinhaltigen Pilzen um Betäubungsmittel im Sinne der §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit Anlage I BtMG . Durch die Präpositionalphrase unabhängig von dieser naturwissenschaftlichen Frage hat er die Wichtigkeit der Pilze-Pflanzen-Problematik für die juristische Klassifizierung der Pilze herabgesetzt. Der Richter des AG Mannheim, der in der ersten Instanz entschieden hat, hat eine unmittelbare Klassifizierung der Pilze umgangen. Stattdessen fokussiert er im Rahmen seiner klassifizierenden Sprecherhandlung den Handel mit Pilzen und stuft ihn deklarativ als nicht strafbar ein: Der Handel mit Pilzen „s.c.“, bestehend aus Fruchtkörpern, Stiel mit Hut und hutähnlichen Gebilden, war zur Tatzeit nicht strafbar . Bei dieser klassifizierenden Sprecherhandlung hat er die Bestandteile der Pilze detailliert dargestellt, um klarzustellen, dass die Pilzmycelien darin nicht enthalten sind. Denn die Pilzmycelien werden im klaren Wortlaut von der zur Tatzeit schon in Kraft getretenen 15. BtMÄndV erfasst. Entgegen dieser Klassifikation haben die Richter der zweiten Instanz des OLG Karlsruhe den Umgang mit psilocinhaltigen Pilzen als von den Strafvorschriften des BtMG erfasst klassifiziert: Auch wenn aus heutiger wissenschaftlicher Sicht Pilze keine Pflanzen sind, sondern biologisch eine eigenständige Kategorie von Organismen darstellen, erfassten auch im Tatzeitraum die Strafvorschriften des BtMG den Umgang mit psilocinhaltigen Pilzen . Durch die konzessive Verbindung mit auch wenn haben die Richter des OLG Karlsruhe die Geltung des in diesem Zusammenhang vielfach erwähnten Gegenarguments, Pilze seien keine Pflanzen, abgeschwächt. – Rechtsfall 4 Die Staatsanwaltschaft hat in der Anklageschrift im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens durch die Aufzählung der Beispiele gleichzeitig eine klassifizierende Sprecherhandlung realisiert: […] unerlaubt Betäubungsmittel wie Knaster-Hanft [sic] und Airfresher, die psilocybinhaltige Pilze enthalten […] . Damit werden die verfahrensgegenständlichen Pilze durch die Klassifizierung der Airfresher indirekt auch als Betäubungsmittel klassifiziert. Auf die Anklageschrift hin haben beide Rechtsanwälte der beiden Angeklagten A. und R. in ihren Schriftsätzen diese Klassifikation angefochten. Vor allem durch den Hinweis auf die biologische Einordnung, Pilze seien

7.2. Rechtliche Klassifi zierung

175

keine Pflanzen, klassifizieren sie die Handlung der Angeklagten als nicht strafbar: […] daß ein strafbares Verhalten meines Mandanten nicht gegeben ist ; Eine Strafbarkeit des Vertriebes von Pilzen ist deshalb grundsätzlich ausgeschlossen ; Auch hier handelt es sich um eine [sic] Vorwurf, der einen Sachverhalt betrifft, der nicht strafbar ist ; Die Anklage enthält einen Sachverhalt, der nicht strafbar ist . Der Richter der ersten Instanz des AG Bad Kissingen hat im Rahmen des Sprachhandlungstyps der rechtlichen Beurteilung bezüglich der Pilze die Angeklagten wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums freigesprochen. Sehr interessant ist zu beobachten, dass er im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens die oben diskutierte Formulierung der Staatsanwaltschaft fast wortwörtlich übernommen und dabei allerdings bei der Aufzählung der Beispiele die die verfahrensgegenständlichen Pilze enthaltenden Airfresher gestrichen hat: […] unerlaubt Betäubungsmittel, wie Knasterhanf zum Konsum […] . Dieser Unterlassung der Klassifizierung der Pilze als Betäubungsmittel durch explikative Aufzählung kann eine distanzierende Sprechereinstellung entnommen werden. Die Richter der zweiten Instanz des Bayerischen Obersten Landesgerichtes haben dagegen im expliziten Wortlaut die Pilze zunächst als Pflanzen im betäubungsmittelrechtlichen Sinne und daraufhin als Betäubungsmittel klassifiziert: Bei den verfahrensgegenständlichen psilocybinhaltigen Pilzen handelt es sich um „Pflanzen“ im Sinn von § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 Nr. 1 BtMG in Verbindung mit Anlage I und damit um Betäubungsmittel . Durch das konsekutiv verbindende Adverb damit wird der folgebezogene Zusammenhang beider Klassifizierungen explizit markiert. Diese Klassifizierung wird vielfach zitiert. Die Richter des LG Bamberg im Rechtsfall 1 haben z.B. bei ihrer klassifizierenden Sprecherhandlung angesichts der Pilze diese Klassifikation wortwörtlich übernommen. Auf den Hinweis der zweiten Instanz des Bayerischen Obersten Landesgerichts hat der Richter der dritten Instanz des AG Bad Kissingen den Angeklagten R. wieder wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt. Durch den Vergleich mit der Anklageschrift und mit dem Urteil der ersten Instanz kann man bemerken, dass der Richter bei der Fallerzählung die die psilocybinhaltigen Pilze enthaltenden Airfresher wieder in die explikative Aufzählung der Beispiele aufgenommen und damit die verfahrensgegenständlichen Pilze erneut als Betäubungsmittel klassifiziert hat: […] unerlaubt Betäubungsmittel wie Knaster-Hanf und Airfresher, die psilocybinhaltige Pilze enthalten . In diesem Zusammenhang wird veranschaulicht, wie Rechtsarbeiter ihre klassifizierenden Sprecherhandlungen auf beurteilende Sprecherhandlungen abstimmen.

176

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

– Rechtsfall 5 Die Staatsanwaltschaft hat im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens durch perspektivierte Substitution im nachfolgenden Text die Pilze als Betäubungsmittel klassifiziert. Sie hat zunächst bei der Aufzählung der bei dem Angeklagten aufgefundenen Gegenstände wie Haschisch, Opium auch psilocobynhaltiges Pilzmaterial genannt und dann im nachfolgenden Text durch den Begriff Betäubungsmittel alle Gegenstände, unter denen auch die Pilze sind, wieder aufgenommen: […]1,435g psilocobynhaltiges Pilzmaterial sowie 1,49g Haschisch und 0,945g Opium sowie 0,23g MDMA […] Die Einziehung der sichergestellten Betäubungsmittel wird beantragt werden . Entgegen dieser rechtlichen Klassifizierung der Staatsanwaltschaft hat der Richter des AG Hamburg mit einer deklarativen Sprecherhandlung die Pilze als nicht in der Anlage I zum BtMG aufgeführt klassifiziert . * * * * * ࢇ

Wie wird die Gefährlichkeit der problematischen Pilze klassifiziert? (Rechtsfall 3) 6

– Rechtsfall 3 Anders als im Rechtsfall 1 und 2 wird der Klassifizierung der Gefährlichkeit der Pilze im Rechtsfall 3 besondere juristische Bedeutung beigemessen. Denn diese Klassifizierung steht in enger Verbindung mit einem in diesem Rechtsfall neu eingeführten Gesichtspunkt bei der Argumentation. Nach Artikel 28 des EG-Vertrags sind Einfuhreinschränkungen zwischen den Mitgliedsstaaten der EU verboten. Nach Artikel 30 können aber nationale Verbote bzw. Beschränkungen aus Gründen des Schutzes der Gesundheit und des Lebens von Menschen usw. gerechtfertigt werden. Ob die verfahrensgegenständlichen Pilze, die aus den Niederlanden bezogen worden sind, gefährlich für die Gesundheit sind, ist daher eine wichtige Klassifizierung, die unmittelbaren Einfluss auf die Argumentation zu nehmen vermag. Die Angeklagte M. hat bei der Vernehmung explizit mit dem Verweis auf ein Gutachten die Pilze als ungefährlich klassifiziert: […] zum anderen ein holländisches Gutachten von einem internationals [sic] anerkannten Institut, dem Trimbos, über diese Pilze vorliegt, in dem die „Ungefährlichkeit“ für die Gesundheit bestätigt wurde. Ich meine mit Ungefährlichkeit die Ungefährlichkeit im Vergleich zu anderen Lebensmitteln wie Alkohol . Besonders anzumerken ist, dass sie die Pilze angesichts der Ungefährlichkeit

6

Diese Streitfrage gibt es auch im Rechtsfall 1 und Rechtsfall 2 und wird daher als gemeinsame, sich wiederholende Streitfrage markiert.

7.2. Rechtliche Klassifi zierung

177

in den Vergleich mit dem Alkohol bringt. Denn der Konsum des Alkohols kann in gewisser Hinsicht auch die Gesundheit negativ beeinflussen. Aber aus verschiedenen Gründen ist Alkohol eine frei verkehrsfähige Handelsware. Durch diesen sehr geschickten Vergleich hat die Angeklagte M. ein sehr spezifisches Konzept zur Ungefährlichkeit entwickelt, wobei trotz der negativen Einflüsse auf die Gesundheit die Legalität und die freie Verkehrsfähigkeit nicht beeinträchtigt werden müssen. Wegen des begrenzten Fachwissens hat die Angeklagte M. diese Klassifizierung nicht mit dem Gesichtspunkt des EG-Vertrags korreliert. Demgegenüber hat der Rechtsanwalt des anderen Angeklagten P. im Rahmen argumentierender Sprecherhandlungen explizit auf den EG-Vertrag und auf die Wechselbeziehung zwischen Art. 28 und Art. 30 hingewiesen und in diesem Zusammenhang in den Vordergrund gerückt, dass ein die Beschränkung im Warenverkehr rechtfertigender Gefahrennachweis nicht vorliegt: Im Hinblick auf die hier in Rede stehenden Pilze liegt ein derartiger Gefahrennachweis nicht vor. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall . Entgegen solcher Klassifikation vonseiten der Angeklagten hat die Staatsanwaltschaft mit indirekt klassifizierenden Sprecherhandlungen in verschiedenen Rechtstexten die Gefährlichkeit der Pilze wiederholt in den Vordergrund gerückt. Anders als der Vergleich der Angeklagten M. mit dem Alkohol hat die Staatsanwaltschaft die Pilze mit einem anderen Betäubungsmittel LSD, dessen Gefährlichkeit und Strafbarkeit betäubungsmittelrechtlich nicht bezweifelt wird,7 in Vergleich gesetzt: Die Wirkung ist vergleichbar mit der von LSD ; Wegen der vergleichbaren Wirkung mit LSD hat der Gesetzgeber die missbräuchliche Verwendung der psilocin- bzw. psilocybinhaltigen Pilze unter Strafe stellen wollen ; […] dass die Gefährlichkeit und Wirkung von Psilocin und Psilocybin durchaus mit LSD zu vergleichen sei . Neben dem Vergleich mit LSD hat die Staatsanwaltschaft auch noch durch die Verwendung betäubungsmittelrechtlich belasteter Vokabeln bei der Beschreibung der Wirkung die Gefährlichkeitsklassifikation der Pilze in eine eher negative Richtung gesteuert: […] dass der Verzehr der Pilze zu einer Bewusstseinserweiterung bzw. einem Rausch führt und Die gebräuchliche Dosis von 10 Gramm Frischpilzen kann zu Illusionen und Halluzinationen führen . Dabei hat die Staatsanwaltschaft nicht nur die allgemeinsprachlichen Vokabeln Bewusstseinserweiterung und Illusionen, sondern auch die Vokabeln Rausch und Halluzinationen verwendet, die vielfach in der betäubungsmittelrechtlich relevanten Fachliteratur8 auftreten und insofern stark negativ assoziiert sind.

7 8

Vgl. Joachimski/Haumer, 2002, S. 42f. Vgl. Weber, 2003, S. 53, S. 65f; Joachimski/Haumer, 2002, S. 29.

178

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

Die Richter des OLG Karlsruhe haben bei ihrer diesbezüglichen Klassifizierung die psilocinhaltigen Pilze ebenfalls mit LSD in Vergleich gesetzt: Die Wirkung und Gefährlichkeit von Psilocin ist, wenn auch nicht so intensiv, mit der von LSD vergleichbar . Durch den Einbau der konzessiven Verknüpfung mit wenn auch haben sie die Unterschiede in der Intensität, die als Gegenargument von einer anderen Partei angeführt werden könnten, schon im Voraus in ihrer Relevanz abgeschwächt. * * * * *  Wie werden die verfahrensgegenständlichen Kakteen klassifiziert? Werden sie als Betäubungsmittel oder als etwas anderes (z.B. Zierpflanze usw.) klassifiziert? (Rechtsfall 3) Der Streit um diese Klassifizierung verzeichnet sich vor allem zwischen der Staatsanwaltschaft und den Angeklagten bzw. ihren Rechtsanwälten. In der Nachtragsanklage, die sich speziell auf die Anklage wegen solcher mescalinhaltigen Kakteen richtet, hat die Staatsanwaltschaft zunächst explizit die Kakteen als Halluzinogen zu Konsumzwecken klassifiziert: […] um diese Kakteen durch einen späteren Verkauf gewinnbringend als Halluzinogen zu Konsumzwecken an Kunden abzugeben . Dann hat sie durch gesteuerte Substitution die Klassifizierung der Kakteen als Betäubungsmittel zustande gebracht, indem sie im nachfolgenden Text mit dem Wort Betäubungsmittel auf die im vorhergehenden Text genannten Kakteen referiert: Die Angeschuldigten werden daher beschuldigt, vorsätzlich unerlaubt mit Betäubungsmitteln Handel getrieben zu haben […] Die sichergestellten Betäubungsmittel unterliegen gemäß §§ 33 BtMG, 74 StGB der Einziehung . Aufgrund der ersten Klassifizierung der Kakteen als Halluzinogen zu Konsumzwecken macht sie den strafrechtlich relevanten Missbrauch dieser Kakteen geltend und geht im Anschluss daran zu einer weiteren Klassifizierung als Betäubungsmittel über. Entgegen den vorwerfenden klassifizierenden Sprecherhandlungen der Staatsanwaltschaft verneinen die Angeklagten und ihre Rechtanwälte die betäubungsmittelrechtliche Relevanz dieser Kakteen und versuchen sie als harmlose, sogar nützliche Pflanzen zu klassifizieren. In dem Vernehmungsprotokoll hat die Angeklagte M. sie als Zierpflanze klassifiziert. Darüber hinaus hat sie noch die rituelle Gebrauchsmöglichkeit erwähnt. Einem Schriftsatz des Rechtsanwalts ist die Geschäftsanleitung beigefügt. Darin haben die Angeklagten als Geschäftsführer die Kakteen explizit als 1) heilige Pfl anzen zum kultischen Verzehr, 2) wichtiges Heilmittel und 3) Zierpfl anze im Rahmen des Washingtoner Artenschutzabkommens klassifiziert . Durch das Korrelieren mit den Natur-Religionen, der Behandlungswirkung und dem Artenschutzabkommen versuchen die Angeklagten

7.2. Rechtliche Klassifi zierung

179

sowie ihre Rechtsanwälte eine positive Fassade bezüglich der Kakteen aufzubauen. Das stellt insofern ein veranschaulichendes Beispiel für den semantischen Streit dar, als die verschiedenen Parteien unterschiedliche Komponenten bzw. Eigenschaften an demselben Gegenstand herausgreifen und relevant setzen, so dass ganz andere Stimmungsbilder hervorgerufen werden. * * * * *  Wie wird der verfahrensgegenständliche Hanf klassifiziert? (Rechtsfall 4) Die Staatsanwaltschaft hat in der Anklageschrift durch die Konjunktion wie den betreffenden Hanf als Beispiel der Betäubungsmittel aufgezählt und damit den Hanf als Betäubungsmittel klassifiziert: Über diese Einrichtungen vertreiben die Angeschuldigten […] unerlaubt Betäubungsmittel wie Knaster-Hanft [sic] und Airfresher […] . Dagegen versucht der Rechtsanwalt des Angeklagten R. den betreffenden Hanf nicht als Betäubungsmittel, sondern lediglich als Tabakersatz, der keinen Rauschzustand hervorrufen und in keiner Weise als Rauschmittel verwendet werden kann, zu klassifizieren . Mit dem Hinweis auf das Sachverständigengutachten wollte der Rechtsanwalt das Nicht-Geeignet-Sein des Hanfs als Rauschmittel in den Vordergrund rücken. Auch im Revisionsschreiben hat er durch den Hinweis auf den geringen THCGehalt explizit die Klassifizierung als Betäubungsmittel abgelehnt: Deshalb kann Knasterhanf als solcher nicht als Betäubungsmittel gleichrangig mit allen anderen im BtMG genannten Stoffen und Zubereitungen gesehen werden . Damit hat er das Sachverhaltselement des niedrigen Gehalts am betäubungsmittelrechtlich relevanten Stoff unterstrichen und daraufhin den betreffenden Hanf bezüglich der strafrechtlichen Relevanz eindeutig von anderen Betäubungsmitteln unterschieden. Die Richter aller drei Instanzen haben entgegen der Rechtsposition des Rechtsanwalts die Klassifizierung der Staatsanwaltschaft übernommen. Durch die aufzählende Konjunktion wie haben der Richter des AG Bad Kissingen in der ersten Instanz und der Richter des AG Bad Kissingen in der dritten Instanz den betreffenden Hanf deklarativ als Betäubungsmittel klassifiziert . Die Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichts in der zweiten Instanz haben diese Klassifizierung seiner Vorinstanz (des AG Bad Kissingen) explizit als zutreffend klassifiziert . Sehr erwähnenswert ist, dass der Richter des AG Bad Kissingen in der ersten Instanz die von dem Rechtsanwalt unternommene Klassifizierung als Tabakersatz grundsätzlich übernimmt und statt des Wortes Tabakersatz das Wort Rauchersatz benutzt und dies dann mit der Zielrichtung der Erzielung

180

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

eines Rausches bzw. rauschähnlichen Zustandes in Beziehung setzt . Somit hat er die von seiner Gegenpartei unternommene Klassifizierung in die gewünschte Richtung umgesteuert, die seinem Argumentationszweck entspricht. * * * * *  Unvermeidbarer Verbotsirrtum oder Ausnutzung vermeintlicher Regelungslücken? (Rechtsfall 4) Im vorliegenden Fall haben die Angeklagten mit psilocybinhaltigen Pilzen Handel getrieben und sich bei der Verteidigung darauf berufen, dass die Pilze nach wissenschaftlichen Definitionen weder Pflanzen noch Tiere sind und insofern nicht unter das BtMG fallen. Diese Grundeinstellung wird von dem Richter des AG Bad Kissingen mit Hinweis auf die Mehrdeutigkeit des Pflanzenbegriffs aus dem botanischen und juristischen Wissensrahmen als „unvermeidbarer Verbotsirrtum“ klassifiziert . Dagegen klassifizieren die Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichtes durch die Herabsetzung der Wichtigkeit fachwissenschaftlicher Begriffsdefinition und die Hervorhebung des juristischen Sprachgebrauches aus Kommentarliteratur und Gesetzgebungsmaterialien den Pflanzenbegriff als eindeutig und daraufhin die Handlung der Angeklagten als einen Versuch, eine gesetzliche Regelung spitzfindig unter Ausnutzung vermeintlicher Regelungslücken zu unterlaufen . Damit verneinen sie durch das Attribut vermeintlich, dass es eine Regelungslücke gibt. Darüber hinaus werfen sie noch durch das offensichtlich abwertende Adjektiv spitzfindig den Angeklagten die ungerechte, wortklauberische Auslegung gesetzlicher Normen vor. Durch unterschiedliche Klassifizierungen sind beide Instanzen zu abweichenden juristischen Beurteilungen gekommen. Während der Richter des AG Bad Kissingen die Angeklagten wegen des unvermeidbaren Verbotsirrtums vom Vorwurf des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelrecht freispricht, heben die Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichtes dieses freisprechende Urteil auf. * * * * *  Handeltreiben oder Besitz? (Rechtsfall 3, Rechtsfall 4 und Rechtsfall 5) Von großem linguistischem Interesse ist, dass im Rechtsfall 3, 4 und 5 auf der Grundlage des eigentlich ähnlichen Ereignisses durch gezielte sprachliche Zubereitung unterschiedliche Klassifizierungen unternommen werden. In allen drei Rechtsfällen werden neben den diskutierten Pilzen auch andere Betäubungsmittel bei Durchsuchungen aufgefunden – im Rechtsfall 3 Kakteen, im Rechtsfall 4 Knasterhanf und im Rechtsfall 5 Haschisch, Opium und MDMA. Aber angesichts der unterschiedlichen Fundstellen haben die Staatsanwaltschaften zwei Gruppen bei der Klassifizierung bezüglich dieser aufgefundenen

7.2. Rechtliche Klassifi zierung

181

Betäubungsmittel differenziert. Im Rechtsfall 3 und 4 werden die jeweiligen Betäubungsmittel im Geschäft und im Rechtsfall 5 in den privat genutzten Räumen aufgefunden. Wenn auch in allen Fällen in der Anklageschrift keine Festsetzungen zu den detaillierten Veräußerungshandlungen bezüglich dieser aufgefundenen Betäubungsmittel angeführt werden, haben die Staatsanwaltschaften 1) im Rechtsfall 3 und 4 es als unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln und 2) im Rechtsfall 5 als unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln klassifiziert. Sehr erwähnenswert ist der unterschiedliche sprachliche Zugriff auf das Bewahren dieser Betäubungsmittel im Rahmen des Sprachhandlungstyps des SachverhaltFestsetzens. Im Rechtsfall 3 und im Rechtsfall 5 wird das Verb aufbewahren und im Rechtsfall 4 das Verb bereithalten verwendet. Gegenüber der einfachen Darstellung des Aufbewahrens im Rechtsfall 5 hat die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 3 durch eine finale Verknüpfung der bloßen Handlung des Aufbewahrens eine kommerzielle Absicht zugeschrieben: […] um diese Kakteen durch einen späteren Verkauf gewinnbringend als Halluzinogen zu Konsumzwecken an Kunden abzugeben . Im Rechtsfall 4 hat die Staatsanwaltschaft – ähnlich wie im Rechtsfall 3 – durch die finale Präpositionalphrase zum gewinnbringenden Weiterverkauf die kommerzielle Zielrichtung, die für die Klassifizierung als Handeltreiben spricht, unterstrichen . Durch diesen Vergleich wird einerseits veranschaulicht, dass die Rechtsarbeiter kleinen Unterschieden (hier Fundstellen) juristische Relevanz zuschreiben und daraus unterschiedliche rechtliche Klassifizierungen vollziehen können, und andererseits, dass die Rechtsarbeiter bereits im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens den Sachverhalt sprachlich so zubereiten, dass er auf weiterführende rechtliche Klassifizierung abgestimmt wird. * * * * *  Täterschaft oder Beihilfe? (Rechtsfall 4) Im Rechtsfall 4 werden zwei Angeklagte R. und A. verfolgt. Die unterschiedliche Klassifizierung zwischen dem Richter des AG Bad Kissingen und den Richtern des Bayerischen Obersten Landesgerichtes richtet sich darauf, ob die strafrechtlich relevante Handlung des Angeklagten R. juristisch als Täterschaft oder als Beihilfe zu werten ist. Der Angeklagte R. ist als Geschäftsführer für den Laden, dessen Inhaber der Angeklagte A. ist, tätig. Trotz dieses arbeitshierarchischen Unterschieds hat der Richter des AG Bad Kissingen die beiden Angeklagten als selbständige Täter des gewerbsmäßigen vorsätzlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln klassifiziert . Dagegen heben die Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichtes diesen arbeitshierarchischen Unterschied zwischen beiden Angeklagten hervor und klassifizieren insofern den Angeklagten R. als Gehilfen, der lediglich Beihilfe zu einer Straftat leistet .

182

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

Für die Klassifizierung als Täterschaft oder als Beihilfe werden unterschiedliche Rechtsnormen aus dem allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches zugrunde gelegt.9 Der Streit der Rechtsarbeiter im Rechtsfindungsverfahren erschöpft sich nicht nur im semantischen Streit bezüglich der Auslegung einer bestimmten Rechtsnorm, sondern besteht auch in der Auswahl der zutreffenden Rechtsnorm. 7.2.2. Klassifizierung der Rechtsklassifikation Wie im letzten Kapitel dargestellt wurde, erfolgen die klassifizierenden Sprecherhandlungen, die sich auf getätigte Rechtsklassifikationen anderer Rechtsarbeiter richten, hauptsächlich durch vier Verfahren: Klassifizierung durch Adverbialien, Klassifizierung durch prädikative Ergänzungen, Klassifizierung durch Attribute und Klassifizierung durch Verben bzw. verbale Phrasen. Hier werden die entsprechenden Sprecherhandlungen aus dem Rechtsfall 3 bis 6 angeführt. – Klassifizierung durch Adverbialien: Das Amtsgericht Mannheim hat den Inhalt der Pflegeanleitung, die ausdrücklich auf die Verwendung des Kaktus als Heilmittel, zur Behandlung von Krankheiten und zum Alkoholentzug, und damit auf deren Verzehr verweist, zu Unrecht nicht in die Hauptverhandlung eingeführt . Dass das AG Mannheim die Pflegeanleitung nicht in die Hauptverhandlung eingeführt hat, wird von der Staatsanwaltschaft als nicht richtig klassifiziert. Sehr interessant ist die eigentlich auch selektierende Festsetzung der Staatsanwaltschaft über den Inhalt der Pflegeanleitung. Die Pflegeanleitung wurde erstmals von dem Rechtsanwalt des Angeklagten P. in einem Schriftsatz in den Rechtsfindungsprozess eingeführt. Er wollte damit nicht auf den bloßen Verzehr der Kakteen, den die Staatsanwaltschaft hiermit geltend machen wollte, aufmerksam machen, sondern auf den kultischen Hintergrund, wobei die Verzehrmöglichkeit nicht als solche, sondern als Teil eines Rituals anzunehmen ist . Damit wird veranschaulicht, wie durch divergierende Reformulierungen unterschiedliche Eigenschaften an demselben Sachverhalt herausgearbeitet und relevant gesetzt werden können. Das Amtsgericht hat beide Angeklagte insoweit zu Unrecht wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums aus subjektiven Gründen nicht verurteilt und deshalb die Strafe gering bemessen . Ich teile die Auffassung der Staatsanwaltschaft Schweinfurt, daß das angefochtene Urteil an einem sachlich-rechtlichen Mangel leidet, weil es den Angeklagten zu Unrecht einen unvermeidbaren Verbotsirrtum zugebilligt hat . 9

Vgl. § 25 Täterschaft und § 27 Beihilfe des StGB. Strafgesetzbuch, 2007, S. 18.

7.2. Rechtliche Klassifi zierung

183

Das Amtsgericht hat rechtlich unzutreffend angenommen, die halluzinogen wirkenden Pilze seien dem Betäubungsmittelrecht nicht unterstellt (BGH, Beschluss vom 25.10.2006 – 1 StR 384/06 – bei juris und bei Beck, RS 2006 13970, Umdruck Bd III, Bl. 554–563) . Hier hat die Staatsanwaltschaft die Klassifizierung des Richters der Vorinstanz, Pilze seien dem Betäubungsmittelrecht nicht unterstellt, als rechtlich unzutreffend klassifiziert und versucht durch die Berufung auf einen Beschluss des Bundesgerichtshofs, den sie in der Klammer angegeben hat, diese Klassifizierung zu rechtfertigen. Das Amtsgericht geht rechtlich unzutreffend davon aus, dass der Handel mit psilocinhaltigen Pilzen im Tatzeitraum nicht dem Anwendungsbereich des BtMG unterfallen [sic], mithin nicht strafbar sei . Das Tatgericht hat auch zutreffend einen Ausnahmetatbestand gemäß Anlage I Teil B Stichwort „Cannabis“ lit. b verneint . Zu Recht geht das Landgericht allerdings davon aus, psilocybinhaltige Pilze seien Betäubungsmittel im Sinne des § 1 Abs. 1 BtMG . – Klassifizierung durch prädikative Ergänzung: Die Ausführungen des OLG Koblenz zum Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG sind nicht zutreffend . Die Auslegung des OLG Koblenz orientiert sich an einem naturwissenschaftlichen, biologischen Sprachgebrauch und ist damit fehlerhaft . Nicht richtig ist dagegen die Verurteilung des Angeklagten wegen des Handels mit Knasterhanf . Mit seiner zulässigen Revision rügt der Angeklagte R. die Verletzung des formellen und des materiellen Rechts. Das Rechtsmittel ist unbegründet . Mit der zulässigen Revision der Staatsanwaltschaft wird die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt. Das Rechtsmittel ist begründet und wird vertreten . Soweit die Staatsanwaltschaft vorträgt, auf Seite 17 der formellen Revisionsbegründung sei nur eine Rechtsfolge, nicht dagegen eine Tatsache vorgetragen, ist dies unzutreffend . Rechtlich zutreffend ist die Ausgangserwägung des Tatgerichts, bei dem Vertrieb des Knasterhanfs habe es sich um erlaubnispflichtiges Handeltreiben mit Betäubungsmitteln gehandelt . – Klassifizierung durch Attribute: Mit der Revision gegen das Urteil des Amtsgerichts Mannheim vom 11.09.2006 wird die fehlerhafte Rechtsanwendung des § 1 Abs. 1 BtMG i.V.m. der Anlage (nicht verkehrsfähige Betäubungsmittel) in der vom 01.02.1998 bis zum 17.03.2005 geltenden Fassung gerügt . Die Urteilsbegründung des Amtsgerichts Mannheim trägt den Freispruch nicht, weil das Amtsgericht entgegen § 267 Abs.1 Satz 3 StPO in unzulässiger Weise auf die Argumentationskette des OLG Koblenz Bezug nimmt .

184

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

– Klassifizierung durch Verben bzw. verbale Phrasen: Soweit das Amtsgericht die Angeklagten P. und M. vom Vorwurf des Handeltreibens mit mescalinhaltigen Kakteen freigesprochen hat, genügt das Urteil nicht den gesetzlichen Anforderungen . Der Freispruch der Angeklagten hält einer rechtlichen Prüfung nicht Stand [sic] . Insoweit unterliegt das freisprechende Urteil schon deshalb der Aufhebung, weil es den in sachlich-rechtlicher Hinsicht zu stellenden Anforderungen an die Begründungspflicht freisprechender Urteile nicht genügt . Mit beiden klassifizierenden Sprecherhandlungen haben die Richter des OLG Karlsruhe die freisprechenden Beurteilungen der Vorinstanz als falsch deklariert. 7.2.3. Klassifizierung argumentativ relevanter Umstände Die Subkategorie „Klassifizierung argumentativ relevanter Umstände“ umfasst streitige Sprecherhandlungen bezüglich der für die Argumentation wichtigen Momente. Für den vorliegenden Rechtsstreit sind z.B. folgende Punkte relevant: Wie unterschiedlich wird der allgemeine, biologische und juristische Sprachgebrauch angesichts der Pilze-Pflanzen-Zuordnung jeweils gegenüber dem anderen in der Geltung für juristische Auslegungsarbeit gewichtet? Wie wird die biologische Einordnung, Pilze seien nicht mehr als Pflanzen einzuordnen, für den Rechtsdiskurs gewichtet? usw. Wegen des engen Zusammenhangs mit der Argumentation werden diese Sprecherhandlungen im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Argumentierens dargestellt.

7.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation 7.3.1. Rechtliche Beurteilung Gegenüber dem eigentlich gleichen Sachverhalt – nämlich dem Umgang mit psilocin- und psilocybinhaltigen Pilzen – kommen verschiedene Rechtsarbeiter zu unterschiedlichen rechtlichen Beurteilungen. Solches Spannungsverhältnis gibt es nicht nur zwischen unterschiedlichen Parteien innerhalb eines Rechtsfalls, sondern auch zwischen verschiedenen Rechtsfällen. – Rechtsfall 3 Die Staatsanwaltschaft kommt zu der rechtlichen Beurteilung, dass die Angeklagten bezüglich der Pilze und der Kakteen vorsätzlich unerlaubt Handel mit Betäubungsmitteln getrieben haben. Der Richter des AG Mannheim hat dagegen die Angeklagten bezüglich der beiden Verhandlungsgegenstände aus unterschiedlichen Gründen freigesprochen. Gegen den Freispruch hat die

7.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

185

Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Auf diese Revision haben die Richter des OLG Karlsruhe das Urteil des AG Mannheim aufgehoben. Sie vertraten die Ansicht, dass die Pilze dem Betäubungsmittelrecht zu unterstellen seien. – Rechtsfall 4 Die Staatsanwaltschaft kommt zu der rechtlichen Beurteilung, dass die Angeklagten bezüglich der Pilze und des Knasterhanfs vorsätzlich unerlaubt mit Betäubungsmitteln Handel getrieben haben. Abweichend von der Staatsanwaltschaft hat der Richter des AG Bad Kissingen die Angeklagten nur bezüglich des Knasterhanfs wegen vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verurteilt. In Bezug auf die Pilze wurden sie wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums freigesprochen. Gegen dieses Urteil haben sowohl die Staatsanwaltschaft mit dem Ziel der Verurteilung bezüglich der Pilze als auch die Rechtsanwälte beider Angeklagten mit dem Ziel des Freispruchs bezüglich des Hanfs Revision eingelegt. Die jeweilige Zielrichtung der Revision erhellt die rechtliche Beurteilung entsprechender Rechtsarbeiter gegenüber dem Sachverhalt. Auf die Revision haben die Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichtes das Urteil des AG Bad Kissingen aufgehoben. Sie kommen zu der rechtlichen Beurteilung, dass die Revisionen beider Seiten zum Teil Erfolg haben. Sowohl die Pilze als auch der Hanf fielen nach ihrer Ansicht unter das Betäubungsmittelrecht. In Bezug auf den Hanf haben sie auf die fehlenden Feststellungen bezüglich des Handeltreibens verwiesen. Darüber hinaus haben sie noch auf die Prüfung der Beihilfe hingewiesen. Daraufhin hat die dritte Instanz des AG Bad Kissingen, an das die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, den Angeklagten R. in Bezug auf die Pilze wegen Beihilfe zum vorsätzlichen unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln verurteilt. Der Knasterhanf wurde in der rechtlichen Beurteilung des AG Bad Kissingen nicht erwähnt. – Rechtsfall 5 Die Staatsanwaltschaft kommt zu der rechtlichen Beurteilung, dass der Angeklagte bezüglich der veräußerten Pilze unerlaubt mit Betäubungsmitteln Handel getrieben hat und in Bezug auf die anderen aufgefundenen Gegenstände (Haschisch, Opium und MDMA) vorsätzlich unerlaubt Betäubungsmittel besessen hat. Abweichend von dieser Beurteilung hat der Richter des AG Hamburg den Angeklagten nur wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln verurteilt. In Bezug auf die veräußerten Pilze wurde er freigesprochen. – Rechtsfall 6 Die Staatsanwaltschaft kommt zu der rechtlichen Beurteilung, dass die Angeklagten durch 18 selbständige Handlungen mit Betäubungsmitteln unerlaubt Handel getrieben haben. Die Richter der zweiten Instanz des LG Köln

186

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

haben die Angeklagten wegen unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln verurteilt. Gegen das Urteil haben die Angeklagten Revision mit dem Ziel des Freispruchs eingelegt. Daraufhin hat das OLG Köln das Urteil des LG Köln aufgehoben. Nach ihrer Ansicht fielen die Pilze zwar unter das Betäubungsmittelrecht, aber die Urteilsfeststellungen des LG Köln zum Vorliegen einer nicht geringen Menge waren nicht vollständig. 7.3.2. Argumentation ࢇ

7.3.2.1. Berufung auf den Sprachgebrauch Auf welche Sorten des Sprachgebrauchs beruft sich die Argumentation hinsichtlich der Pilze-Pflanzen-Problematik? Wie werden sie jeweils inhaltlich klassifiziert? Welche Beziehungen zwischen ihnen werden zugrunde gelegt? (Rechtsfall 3, Rechtsfall 4, Rechtsfall 5, Rechtsfall 6)

– Rechtsfall 3 In der Anklageschrift hat die Staatsanwaltschaft, ohne bewusst auf die PilzePflanzen-Problematik einzugehen, den allgemeinen Sprachgebrauch in den Vordergrund gerückt: […] da nach allgemeinem Sprachgebrauch die Pilze den Pflanzen zugeordnet wurden und werden . Durch das verwendete Tempus wurden und werden hat sie den Inhalt des allgemeinen Sprachgebrauchs als konsequent markiert, ohne den Bedeutungswandel anzudeuten. Nach ihrer Ansicht werden die Pilze im allgemeinen Sprachgebrauch als Pflanzen klassifiziert. In einem weiteren Schriftsatz, nachdem die PilzePflanzen-Problematik vonseiten der Angeklagten thematisiert wurde, hat die Staatsanwaltschaft zwischen dem allgemeinen (aus der Sicht des Bürgers), dem naturwissenschaftlichen (naturwissenschaftlich, die Biologie) und dem juristischen (in der nationalen und internationalen Rechtssprache und Rechtsliteratur) Sprachgebrauch unterschieden . Den allgemeinen und den juristischen Sprachgebrauch hat sie als identisch klassifiziert, nach denen Pilze Pflanzen zugeordnet werden. Die Geltung dieses Sprachgebrauchs hat sie durch das kommentierende Adjektiv unzweifelhaft und durch das Kommentaradverb jedenfalls bestärkt . Der naturwissenschaftliche Sprachgebrauch in Bezug auf die Pilze-Pflanzen-Problematik wird als umstritten erklärt . In Bezug auf die Auslegung von Gesetzestexten hat sie den allgemeinen Sprachgebrauch als relevant und den naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch gegenüber dem juristischen Sprachgebrauch als unerheblich klassifiziert: Gesetze und gesetzliche Begriffe, wie hier der Begriff der „Pilze“ sind allein aus der Sicht des Bürgers, nicht aus der Sicht der Wissenschaftler auszulegen […] Dieser naturwissenschaftliche Streit ist für die Auslegung indes unerheblich, weil jedenfalls in der nationalen und internationalen Rechtssprache und Rechtsliteratur Pilze als Pflanzen bezeichnet werden . Die-

7.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

187

selbe Unterscheidung wird auch in der Revisionsschrift von der Staatsanwaltschaft ausgeführt . Die Rechtsanwältin der Angeklagten M. hat in einem Schriftsatz an das AG Mannheim nur den biologischen Sprachgebrauch, der sich aus einem biologischen Gutachten ergibt, in den Vordergrund gerückt. Nach diesem biologischen Sprachgebrauch sind Pilze Organismen, die zu einem eigenständigen Organismenreich zusammenzufassen sind . Der Rechtsanwalt des Angeklagten P. hat in einem Schriftsatz hinsichtlich der Pilze-PflanzenProblematik sehr reflektierend auf die Wechselbeziehung zwischen dem allgemeinen und dem fachsprachlichen Sprachgebrauch hingewiesen: Die vom Bundesgerichtshof in der Entscheidung vom 25.10.2006 – 1 StR 384/06 vorgenommene Auslegung krankt bereits an der künstlichen Gegenüberstellung von allgemeinem Sprachgebrauch und Fachsprache. Insoweit wird nicht ausreichend gewürdigt, daß Erkenntnisse aus der Fachsprache zunehmend bereits nach kurzer Zeit die sogenannte Alltagssprache beeinflussen und prägen . Daneben hat er auch noch angemerkt, dass man nicht den eigenen Sprachgebrauch als allgemeinen ansehen darf . In Bezug auf die Pilze-Pflanzen-Problematik hat er keine Unterscheidung zwischen dem allgemeinen, biologischen bzw. juristischen Sprachgebrauch gemacht, die gewöhnlich gemacht wird, sondern eine Unterscheidung zwischen der älteren und der jüngeren Generation. Während die ältere Generation zu einer Zeit die Schule besucht hat, als die Einordnung der Pilze als eigenes Reich neben den Pflanzen die Schulbücher und den Schulunterricht noch nicht erreicht hatte, wird dagegen für die jüngere Generation diese Unterscheidung jedoch bereits seit einigen Jahren in der Schule gelehrt und gelernt . Nach der pointierten Anfügung des Sprachgebrauchs der jüngeren Generation in der adversativen Verbindung durch das Konjunktionaladverb jedoch hat der Rechtsanwalt die ältere Kategorisierung in Frage gestellt: Es ist daher höchst zweifelhaft, ob es überhaupt noch eine Mehrheit in der Gesellschaft gibt, für die Pilze vom Begriff der Pflanzen umfaßt sind . Durch das Konjunktionaladverb daher hat der Rechtsanwalt seine Rechtsposition in eine kausale Verbindung mit seiner Unterscheidung zwischen beiden Sprachgebrauchstypen gebracht. Es ist besonders anzumerken, dass diese Relation der Kausalität nicht zwangsläufig ontisch gegeben, sondern von ihm hergestellt ist. Diese Herstellung realisiert sich nicht nur mithilfe des Konjunktionaladverbs daher, sondern bereits bei der pointierten Anfügung durch das Konjunktionaladverb jedoch bereitet der Rechtsanwalt seine Formulierung schon durch gezielte sprachliche Zubereitung auf die Herstellung dieser Kausalverbindung vor. Der Richter des AG Mannheim, der einen Beschluss zum Ermittlungsverfahren getroffen hat, unterscheidet zwischen dem botanischen und dem allgemeinen Sprachgebrauch. Nachdem er den biologischen Sprachgebrauch

188

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

ausformuliert hatte, dass die Pilze nicht mehr zum Pflanzenreich gezählt werden, hat er gleich danach mit der Präpositionalphrase unabhängig von dieser naturwissenschaftlichen Frage die Geltung dieses Sprachgebrauchs für juristische Deutung wieder relativiert . Im nachfolgenden Text rückt er das allgemeine Sprachverständnis, das unter Pilzen eine Unterabteilung des Pflanzenreichs sieht, in den Vordergrund und klassifiziert es als identisch mit dem Gesetzgeberwillen. Der Richter des AG Mannheim, der das erstinstanzliche Urteil gefällt hat, hat nicht offensichtlich zwischen dem allgemeinen, dem biologischen oder dem juristischen Sprachgebrauch unterschieden, sondern er hat den Bedeutungswandel zugrunde gelegt und die heutige Auffassung, nach der Pilze weder Pflanzen noch Tiere seien, geltend machen wollen . Diese Auffassung hat er nicht explizit auf eine bestimmte Sprachgebrauchssorte (z.B. biologische oder allgemeine) zurückgeführt. Die Richter des OLG Karlsruhe haben zwischen dem wissenschaftlichen (aus heutiger wissenschaftlicher Sicht), dem juristischen (diese – hier maßgebliche – richterliche Auslegung) und dem allgemeinen Sprachgebrauch (nach dem allgemeinen Sprachgebrauch) unterschieden. Der wissenschaftliche Sprachgebrauch, nach dem Pilze keine Pflanzen seien, wird in die konzessive Verbindung mit auch wenn gesetzt und damit in der Relevanz und Geltung für die juristische Auslegung herabgesetzt: Auch wenn aus heutiger wissenschaftlicher Sicht Pilze keine Pflanzen sind, sondern biologisch eine eigenständige Kategorie von Organismen darstellen, erfassten auch im Tatzeitraum die Strafvorschriften des BtMG den Umgang mit psilocinhaltigen Pilzen . Den juristischen und allgemeinen Sprachgebrauch haben sie als identisch klassifiziert, nach denen Pilze nach wie vor Pflanzen zugeordnet werden . Mit nach wie vor haben die Richter des OLG Karlsruhe die Konsequentheit des juristischen und des allgemeinen Sprachgebrauchs in Bezug auf die Pilze-Pflanzen-Problematik unterstrichen, was dem vom Richter der ersten Instanz betonten Bedeutungswandel zuwiderläuft. – Rechtsfall 4 In Bezug auf die Pilze-Pflanzen-Zuordnung hat die Staatsanwaltschaft in der Revisionsschrift zwischen dem naturwissenschaftlichen (im naturwissenschaftlichen Sinne) und dem juristischen (in der nationalen und internationalen Rechtssprache und Rechtsliteratur) Sprachgebrauch unterschieden . Den naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch, nach dem Pilze keine Pflanzen seien, hat die Staatsanwaltschaft durch den Einbau in die konzessive Verbindung mit auch wenn gegenüber dem juristischen Sprachgebrauch, nach dem die Pilze als Pflanzen bezeichnet und behandelt werden, sprachlich zum unwirksamen Gegengrund verarbeitet: Auch wenn im naturwissenschaftlichen Sinne Pilze keine Pflanzen darstellen sollten, so werden sie jedoch in der nationa-

7.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

189

len und internationalen Rechtssprache und Rechtsliteratur als Pflanzen bezeichnet und behandelt . Darüber hinaus wird noch durch das Modalverb sollten dieser oft von der Gegenpartei als Gegenargument angeführte Sprachgebrauch nicht als absolute Wahrheit, sondern eher als vermittelte Information markiert, so dass die Geltung nochmals relativiert wird. In einem danach gefertigten Schriftsatz von der Staatsanwaltschaft an das Bayerische Oberste Landesgericht wird ohne die Unterscheidung zwischen verschiedenen Sprachgebrauchssorten eine Grobunterteilung der Lebewesen in Pflanzen, Tier und Menschen zugrunde gelegt, nach der es keine Sonderkategorie für Pilze gäbe . Die beiden Rechtsanwälte der beiden Angeklagten A. und R. haben in ihren Schriftsätzen in Bezug auf die Pilze-Pflanzen-Problematik im Rahmen ihrer argumentierenden Sprecherhandlungen nur den Sprachgebrauch zugrunde gelegt, nach dem Pilze weder Pflanzen noch Tiere seien . Im Schriftsatz 10 wird dieser Sprachgebrauch noch mithilfe von Adjektivattributen als aktuell bzw. wissenschaftlich bezeichnet . Andere Sorten des Sprachgebrauchs werden nicht erwähnt. Eine sehr bemerkenswerte Variante liefert die Gegenüberstellung von den diesbezüglichen Argumentationen beider Instanzen. Der Richter der ersten Instanz des AG Bad Kissingen hat im Rahmen argumentierender Sprecherhandlungen vor allem den systematischen Sprachgebrauch der Botanik zugrunde gelegt, nach dem Pilze weder als Pflanzen noch als Tiere anzusehen seien. Im nachfolgenden Text hat er auch auf den juristischen Sprachgebrauch (mit Rücksicht auf internationale Vereinbarungen), nach dem unter Pflanzen auch Pilze verstanden werden, hingewiesen . Aber bei der Einführung dieses juristischen Sprachgebrauchs hat er durch den einleitenden Satz Daran ändert auch nichts seine Geltung und Relevanz herabgesetzt . Nach der gewichteten Darstellung beider Sprachgebrauchssorten hat er die Mehrdeutigkeit des Begriffes bzw. die unterschiedliche mögliche Auslegung unterstrichen , so dass seine rechtliche Beurteilung – Freispruch wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums – gerechtfertigt werden kann. Demgegenüber haben die Richter der zweiten Instanz des Bayerischen Obersten Landesgerichts zwischen dem juristischen (Rechtssprache und Rechtsliteratur), dem allgemeinen (dem allgemeinen Sprachverständnis) und dem naturwissenschaftlichen (spezifische naturwissenschaftliche) Sprachgebrauch unterschieden . Darunter haben sie den juristischen Sprachgebrauch in den Vordergrund gerückt. Diesen haben sie mit dem allgemeinen Sprachgebrauch und dem Gesetzgeberwillen als identisch und gegenüber dem naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch als darüber hinausgehend klassifiziert . Dadurch, dass die Richter dem juristischen Sprachgebrauch

190

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

große Relevanz zumessen, klassifizieren sie das Begriffsverständnis insgesamt als eindeutig, was der vom Richter der ersten Instanz unterstrichenen Mehrdeutigkeit zuwiderläuft . Während der Richter der ersten Instanz aufgrund der beiden dargestellten Sprachgebrauchssorten zur Schlussfolgerung der Mehrdeutig des Begriffsverständnisses kommt, haben die Richter der zweiten Instanz mit Absicht die andere Meinung des naturwissenschaftlichen Sprachgebrauchs ignoriert und nur einseitig vonseiten des juristischen Sprachgebrauchs die Eindeutigkeit geltend gemacht. – Rechtsfall 5 In Bezug auf die Unterscheidung bzw. Beziehung zwischen den verschiedenen Sprachgebrauchssorten können im Rechtsfall 5 nur die argumentierenden Sprecherhandlungen des Richters des AG Hamburg untersucht werden.10 Insofern handelt es sich hier um eine über einzelnen Rechtsfall hinausgehende Vergleichsmöglichkeit. Der Richter des AG Hamburg hat zwischen dem allgemeinen Sprachgebrauch, Pilze seien Pflanzen, und dem fachsprachlichen Sprachgebrauch, Pilze seien keine Pflanzen, unterschieden und den allgemeinen Sprachgebrauch als vorrangig für Gesetzesauslegung klassifiziert: Bei der Gesetzesauslegung kommt es hinsichtlich der grammatikalischen Auslegung vorrangig auf den allgemeinen Sprachgebrauch und nicht auf eine besondere Fachsprache an . Kurz nach dieser Anerkennung der Relevanz des allgemeinen Sprachgebrauchs hat der Richter des AG Hamburg jedoch mit Hinweis auf die Wissenschaftlichkeit der im Kontext des Pflanzenbegriffs vorkommenden Begriffe den vorliegenden Rechtsfall als Sonderfall klassifiziert, in dem der fachsprachliche Sprachgebrauch in Bezug auf die Pilze-Pflanzen-Problematik präferiert werden muss: Vorliegend kommt es aber nicht auf den allgemeinen Sprachgebrauch für die Auslegung an, sondern auf die spezifisch wissenschaftliche Begrifflichkeit. Anders als bei anderen Gesetzen, sind die in der Anlage I und II genannten Begriffe allesamt wissenschaftlicher Art, die sich durch den allgemeinen Sprachgebrauch nicht erschließen lassen . Bei dieser Argumentation nutzt der Richter die Gesetzessystematik zur Rechtfertigung seiner Entscheidung für eine bestimmte Sorte des Sprachgebrauchs. Daran lässt sich veranschaulichen, dass verschiedene Topoi (hier z.B. „Sprachgebrauch“ und „Gesetzessystematik“) nicht durchweg getrennt vorkommen, sondern auch ineinander vereinigt werden können. Durch die adversative Verknüpfung mit aber wird der vorliegende Fall als besondere Variante von dem im vorhergehenden Text erläuterten allgemeinen Auslegungsprinzip abgehoben.

10

Im Rechtsfall 5 sind nur zwei Rechtstexte vorhanden – die Anklageschrift und das Urteil des AG Hamburg. In dieser Anklageschrift findet sich keine Argumentation.

7.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

191

– Rechtsfall 6 Die Richter des OLG Köln unterscheiden zwischen dem biologischen und dem allgemeinen Sprachgebrauch. Im Rahmen des biologischen Sprachgebrauchs differenzieren sie wieder zwischen der einen Auffassung, welche die Pilze nicht den Pflanzen zurechnet, und der anderen Auffassung, die höhere und niedere Pflanzen unterscheidet und die Pilze zu den niederen Pflanzen zählt: Pilze werden in der neueren Biologie mangels Photosynthese zwar vielfach nicht den Pflanzen zugerechnet, sondern, weil sie auch nicht zu den Tieren gehören, in einem eigenen Reich mit über 100. 000 Arten zusammengefasst. Nach anderer Auffassung, die höhere und niedere Pflanzen unterscheidet, gehören die Pilze mit den Algen und Moosen hingegen zu den so genannten niederen Pflanzen . Zunächst haben sie durch gezielte sprachliche Zubereitung mit adversativer Verknüpfung (zwar, hingegen) die zweite Auffassung pointiert. Dann haben sie diese Auffassung als identisch mit dem allgemeinen Sprachgebrauch und mit dem Gesetzgeberwillen erklärt . * * * * * ࢇ

An welchen Korpora wird der jeweils zugrunde gelegte Sprachgebrauch ermittelt? (Rechtsfall 3, Rechtsfall 4, Rechtsfall 5, Rechtsfall 6)

– Rechtsfall 3 In Bezug auf den allgemeinen Sprachgebrauch hat die Staatsanwaltschaft in ihren Rechtstexten meist keine Belege angeführt. Es wird spontan vom allgemeinen Sprachgebrauch und von dessen Inhalt geredet. Nur in der Revisionsschrift hat sie mithilfe einer Nachschau im Internet beweisen wollen, dass Pilze umgangssprachlich immer noch der Pflanzenwelt zugeordnet werden, während wissenschaftliche Abhandlungen darüber streiten . Als exemplarische Ergebnisse dieser Nachschau werden aber nur Beispiele für den behaupteten naturwissenschaftlichen Streit, allerdings keine Beispiele für den allgemeinen Sprachgebrauch angeführt. Daneben hat sie noch auf eine Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hingewiesen und dadurch den von ihr behaupteten allgemeinen Sprachgebrauch belegen wollen. Für den biologischen/wissenschaftlichen Sprachgebrauch, der als umstritten bezeichnet wird, hat sie drei Ergebnisse aus der Internetnachschau angegeben, wobei die Pilze zweimal den Tieren und einmal den Pflanzen zugerechnet worden sind . Als Beweis für den juristischen Sprachgebrauch werden die wichtigen Kommentare von Körner und von Weber angeführt.11 Die Rechtsanwältin der Angeklagten M. hat den von ihr zugrunde gelegten biologischen Sprachgebrauch an einem biologischen Gutachten ermittelt

11

Körner, 2001; Weber, 2003.

192

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

. Durch den Gebrauch des Indikativs wird die eigentlich vermittelte Information über den biologischen Sprachgebrauch als ontische Tatsache dargestellt und somit in ihrer Geltung bestärkt. Der Rechtsanwalt des Angeklagten P. hat im Rahmen seiner argumentierenden Sprecherhandlungen für den beschleunigten Einfluss der Fachsprache auf den allgemeinen Sprachgebrauch zwei Internetquellen (www.wissen.de und Wikipedia) angegeben . Sehr bemerkenswert ist, dass der Rechtsanwalt hierbei darauf hingewiesen hat, dass die Internetquelle www.wissen.de, die auch der von seiner Gegenpartei, der Staatsanwaltschaft, in den Vordergrund gerückte BGH zur Rechtfertigung gebraucht hat,12 Inhalte enthält, die entgegen der Rechtsposition der Staatsanwaltschaft wirken. Wie bei der Kontroverse zwischen dem BGH vom Rechtsfall 1 und dem OLG Koblenz vom Rechtsfall 2 haben die Staatsanwaltschaft und der Rechtsanwalt in diesem Rechtsfall – in Bezug auf die Ergebnisse der Internetrecherche – unterschiedliche Internetquellen angeführt, die ihrem jeweiligen Argumentationszweck entsprechen. Es geht also um eine selektierende Wiedergabe. Der Richter des AG Mannheim für den Beschluss des Ermittlungsverfahrens ist gar nicht dazu gekommen, den von ihm zugrunde gelegten Sprachgebrauch an Textkorpora zu belegen. Der Richter des AG Mannheim, der den Rechtsfall in der ersten Instanz entschieden hat, hat zunächst einige Rechtsprechungen (vom AG Mannheim, vom Bayerischen Obersten Landesgericht, vom OLG Köln) genannt, die entgegen seiner Rechtsposition die Pilze doch dem Betäubungsmittelrecht untergeordnet haben . Diese hat er aber in eine adversative Verbindung mit der Rechtsprechung des OLG Koblenz eingebaut und somit ihre Geltung gegenüber der Rechtsprechung des OLG Koblenz, auf die er seine Argumentation stützt, herabgesetzt . Die Richter des OLG Karlsruhe haben bei der Argumentation für den allgemeinen Sprachgebrauch, den sie gegenüber dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch als relevant eingestuft haben, zwei Belege aus dem realen Leben angeführt, die auch der BGH-Beschluss, den sie zitiert haben, im Rahmen der Argumentation genannt hat: 1) augenscheinliche Nähe zu den Pflanzen; 2) Man kauft Pilze beim Obst- und Gemüsehändler . Für den biologischen Sprachgebrauch haben sie keine Belege angeführt.

12

Es geht hier um den BGH-Beschluss im Rechtsfall 1. In dem vorliegenden Rechtsfall 3 hat die Staatsanwaltschaft in einem Schriftsatz an das OLG Karlsruhe auf diesen BGHBeschluss hingewiesen und damit die verfahrensgegenständlichen Pilze dem Betäubungsmittelrecht zurechnen wollen . Der Rechtsanwalt des Angeklagten P. hat mit einer Diskussion über die Inhalte aus dieser Internetquelle auf diesen Schriftsatz der Staatsanwaltschaft erwidert.

7.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

193

– Rechtsfall 4 Die Staatsanwaltschaft hat in ihren Rechtstexten beim Festsetzen des juristischen Sprachgebrauchs auf die Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts (4 St RR 7/2002) hingewiesen . Den biologischen Sprachgebrauch, dessen Geltung sie gegenüber dem juristischen herabgesetzt hat, hat sie einfach nicht belegt. Die beiden Rechtsanwälte haben den von ihnen in den Vordergrund gerückten biologischen Sprachgebrauch dem biologischen Gutachten der Universität Würzburg entnommen. Bei der Wiedergabe der Ansicht des Gutachters wird durch die Verwendung des Indikativs die hohe Akzeptanz dieser Ansicht signalisiert . Der Richter der ersten Instanz, der die Angeklagten in Bezug auf die Pilze wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums freigesprochen hat, versucht den biologischen Sprachgebrauch mit dem biologischen Gutachten der Universität Würzburg, das auch die beiden Rechtsanwälte als Textbelege herangezogen haben, nachzuweisen . In Bezug auf den juristischen Sprachgebrauch hat er auf den Kommentar von Körner hingewiesen. Die Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichtes, die entgegen der Rechtsposition ihrer Vorinstanz die Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelrecht verurteilt haben, haben als Textbelege für den juristischen Sprachgebrauch, den sie unterstreichen wollten, 1) die Kommentare von Körner, Weber und Joachimski und 2) die Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts (4 St RR 7/2002) angeführt . Als Textbeleg für den allgemeinen Sprachgebrauch, den sie als identisch mit dem juristischen Sprachgebrauch klassifiziert haben, wird das Nachschlagewerk – Meyers Enzyklopädisches Lexikon genannt . – Rechtsfall 5 Der Richter des AG Hamburg hat in Bezug auf den allgemeinen Sprachgebrauch auf zwei Nachschlagewerke – Knaurs Deutsches Wörterbuch vom Jahr 1985 und Brockhaus vom Jahr 1992 – hingewiesen . Im Urteil hat er ausführlich die Pilz-Definitionen in den beiden Nachschlagewerken wiedergegeben. Für den biologischen Sprachgebrauch hat er sich auf die Meinungsäußerung eines Sachverständigen berufen . – Rechtsfall 6 Die Richter des OLG Köln haben bei ihrer Argumentation zum geltenden Sprachgebrauch die Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichtes13 bzw. die Kommentare von Körner und von Weber als Textbelege angeführt . 13

Das ist nämlich das Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts im Rechtsfall 4.

194

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

Zusammenfassend lässt sich beobachten, dass die Rechtsarbeiter in den vorliegenden Rechtsfällen den bevorzugten Sprachgebrauch meist mit Gutachten, Rechtsprechungen und Kommentaren belegen wollen. Es geht dabei um eher vermittelte Ansichten anderer Rechtsarbeiter oder Experten. Sie haben meist nicht versucht, an größeren Mengen von Textkorpora den problematischen Pilze- und Pflanzenbegriff selbst empirisch zu ermitteln bzw. zu belegen, sondern sie führen vielfach lediglich ausgewählte einzelne Gutachten, Rechtsprechungen oder Kommentare an. * * * * * Wie wird die biologische Einordnung, Pilze seien keine Pflanzen, gewichtet? (Rechtsfall 3, Rechtsfall 4, Rechtsfall 5 und Rechtsfall 6) Im Grunde genommen können drei Möglichkeiten zusammengefasst werden. ࢇ

1) Manche Rechtsarbeiter betonen bei der Argumentation nur diese biologische Einordnung und versuchen sie als den einzigen richtigen Sprachgebrauch bezüglich der Pilze-Pflanzen-Problematik durchzusetzen . 2) Manche Rechtsarbeiter setzen diese biologische Einordnung in ein kritisches Spannungsverhältnis mit anderen allgemeinsprachlich oder juristischfachsprachlich motivierten Zuordnungsmöglichkeiten. Entweder wird diese biologische Einordnung durch sprachliche Zubereitung zum unwirksamen Gegengrund verarbeitet oder in ihrer Geltung gegenüber anderen Alternativen bestärkt . 3) Diese biologische Einordnung wird von einigen Rechtsarbeitern als eine Meinungsalternative innerhalb der Biologie festgesetzt. In Bezug auf die Pilze-Pflanzen-Zuordnung wird die biologische Meinungsbildung von manchen Rechtsarbeitern als nicht einheitlich dargestellt.14 Der Richter des AG Mannheim im Rechtsfall 3 und der Rechtsanwalt des Angeklagten P. haben – wenn auch nicht immer offensichtlich – zwischen der älteren und der neueren biologischen Auffassung unterschieden und diese Einordnung, Pilze seien keine Pflanzen, als „heutige“ oder „jüngere“ Entwicklung klassifiziert . Die Richter des OLG Köln im Rechtsfall 6 haben diese biologische Einordnung als spezifische naturwissenschaftliche Unterscheidung, und zwar in der neueren Biologie klassifiziert, gegenüber der auch andere

14

Bei der zweiten Möglichkeit wird diese biologische Einordnung als die biologische Meinungsvariante im Spannungsverhältnis zu anderen, z.B. allgemeinsprachlichen bzw. juristischen Meinungsvarianten dargestellt. Hierbei wird sie als eine Meinungsvariante innerhalb der Biologie dargestellt.

7.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

195

Auffassung geltend gemacht wird . Die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 3 hat im Rahmen ihrer argumentierenden Sprecherhandlungen diese biologische Einordnung als Mindermeinungen in der Kontroverse innerhalb der Biologie klassifiziert . Die Bezeichnung Mindermeinung bringt gleichzeitig eine abwertende Sprechereinstellung zum Ausdruck. * * * * * Inwiefern setzt sich die biologische Erkenntnis, die Pilze als eigenständige Kategorie neben Pflanzen und Tieren anzusehen, im allgemeinen Sprachgebrauch durch? (Rechtsfall 3, Rechtsfall 6) In den vorliegenden vier Rechtsfällen wird wenig über die Wechselbeziehung zwischen Fachsprache und Gemeinsprache reflektiert. Vielmehr werden die biologische Fachsprache und der allgemeine Sprachgebrauch auseinandergehalten und einander gegenübergestellt. Im Rechtsfall 3 hat der Rechtsanwalt des Angeklagten P. in einem Schriftsatz an das OLG Karlsruhe auf den beschleunigten Einfluss der Fachsprache auf die Gemeinsprache hingewiesen: […] daß Erkenntnisse aus der Fachsprache zunehmend bereits nach kurzer Zeit die sogenannte Alltagssprache beeinflussen und prägen . Dabei hat er vor allem zwei Gesichtspunkte unterstrichen. Erstens hat er den zunehmenden, d.h. steigenden Eingang biologischer Erkenntnisse in allgemeinen Sprachgebrauch betont. Zweitens wird die verkürzte Periode dieses Eingangs, die auf moderne Publikationsmöglichkeiten im Internet zurückzuführen ist, in den Vordergrund gerückt. Eine ähnliche Rechtsposition vertritt auch der Rechtsanwalt in der Revision im Rechtsfall 1. Damit wird der eigentlich enge Zusammenhang zwischen Fachsprache und Gemeinsprache expliziert und zum gewünschten Argumentationszweck genutzt. Eine entgegengesetzte Ansicht vertreten die Richter des LG Köln im Rechtsfall 6. Mit dem Hinweis darauf, dass diese wissenschaftliche Erkenntnis bisher im allgemeinen Sprachgebrauch keinen Niederschlag gefunden hat ,15 streiten sie grundsätzlich den Eingang dieser biologischen Einordnung in die Gemeinsprache ab. ࢇ

* * * * *  Wie wird der relevante Relativsatz bezüglich der betäubungsmittelrechtlichen Ausnahmeregelung angesichts des Verkehrs mit dem Knasterhanf von verschiedenen Rechtsarbeitern unterschiedlich ausgelegt? (Rechtsfall 4)

15

Das entnehme ich dem Urteilstext des LG Köln, der im vorhandenen Urteilstext des OLG Köln wiedergegeben ist.

196

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

Der semantische Streit angesichts der Auslegung des Normtextes richtet sich nicht nur auf einzelne Begriffe wie „Pflanzen“, sondern auch – wie im vorliegenden Fall – auf syntaktische Beziehungen einzelner Satzelemente. Durch die Bildung unterschiedlicher Auslegungsschwerpunkte können entgegengesetzte juristische Schlussfolgerungen gezogen werden. Gestritten wird hier um die Ausnahmeregelung angesichts des Verkehrs mit dem Knasterhanf. Im Grunde genommen gehören Pflanzen der Gattung Cannabis, von denen auch der Hanf erfasst wird, nach der Anlage I des Betäubungsmittelgesetzes zu den nicht verkehrsfähigen Betäubungsmitteln. Ausgenommen werden sie allerdings, wenn ihr Gehalt an THC 0,3% nicht übersteigt und der Verkehr mit ihnen ausschließlich gewerblichen oder wissenschaftlichen Zwecken dient, die einen Missbrauch zu Rauschzwecken ausschließen.16 Im vorliegenden Rechtsfall geht es um Knasterhanf, dessen THC-Gehalt weit unter 0,3% liegt und der wegen des niedrigen THC-Gehaltes eigentlich keinen Rauschzustand bewirken kann. Die beteiligten Parteien streiten darüber, ob der betreffende Knasterhanf aufgrund dieser Ausnahmeregelung vom Betäubungsmittelrecht ausgenommen werden kann oder nicht. Der Kern des Streits ist, wie die syntaktische Beziehung zwischen den beiden Satzteilen des Relativsatzes in der Ausnahmeregelung auszulegen ist. Die entsprechenden beiden Satzteile sind 1) der Verkehr ausschließlich gewerblichen oder wissenschaftlichen Zwecken dient und 2) die einen Missbrauch zu Rauschzwecken ausschließen: […] wenn […] der Verkehr mit ihnen ausschließlich gewerblichen oder wissenschaftlichen Zwecken dient, die einen Missbrauch zu Rauschzwecken ausschließen.17 Diese Ausnahmeregelung wurde zum ersten Mal vom Richter des AG Bad Kissingen in die Argumentationskette eingeführt. Er hat zunächst durch die deklarative Festsetzung der berauschenden Zielrichtung mit dem Knasterhanf die zur Ausnahme führenden gewerblichen oder wissenschaftlichen Zwecke verneint . Dass diese berauschende Wirkung wegen des niedrigen THC-Gehalts nicht tatsächlich erzielt werden kann, klassifiziert er explizit mit einer deklarativen Sprecherhandlung als nicht wichtig: Dass dies […] letztlich faktisch nicht erreicht werden kann, […] spielt dabei keine Rolle . Das hat dann einen Streit im nachfolgenden Rechtsfindungsverfahren ausgelöst.

16 17

Vgl. . In der aktuellen Fassung wird der Gehalt an THC auf 0,2% reduziert. Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG, 2009. URL: http://www.gesetze-im-internet.de/ btmg_1981/BJNR106810981.html (letzter Zugriff: 2010–11–25). Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG, 2009. URL: http://www.gesetze-im-internet.de/btmg_1981/BJNR106810981.html (letzter Zugriff: 2010–11–25).

7.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

197

In einem Schriftsatz hat die Staatsanwaltschaft schon bei der Reformulierung dieser Ausnahmeregelung durch den Unterstrich an der Textoberfläche den ersten Satzteil vom gesamten Relativsatz hervorgehoben: Diese setzte aber voraus, dass der Verkehr mit ihnen (ausgenommen der Anbau) ausschließlich gewerblichen oder wissenschaftlichen Zwecken dient, die einen Missbrauch zu Rauschzwecken ausschließen . Durch die Betonung der Sachverhaltseigenschaft zum Konsum verneint sie die gewerblichen bzw. wissenschaftlichen Zwecke und damit auch das Greifen dieser Ausnahmeregelung . Ob der betreffende Knasterhanf einen Rauschzustand bewirken und damit tatsächlich zum Missbrauch zu Rauschzwecken genutzt werden kann, dem misst die Staatsanwaltschaft keine Bedeutung bei. Dieselbe Rechtsposition vertreten auch die Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichts. Bei ihrer Argumentation haben sie sogar die syntaktische Beziehung zwischen beiden Satzteilen explizit thematisiert: Damit fehlt es schon am Vorliegen „gewerblicher Zwecke“, so daß es auf die weitere Frage, ob diese einen Mißbrauch zu Rauschzwecken ausschließen, nicht mehr ankommt . Mit einer deklarativen Sprecherhandlung räumen sie dem einen Satzteil Priorität ein und setzen sie die Relevanz des anderen Satzteils herab. Dagegen rückten die Rechtsanwälte eine andere Auslegung dieses Relativsatzes in den Vordergrund, indem sie geltend machen wollten, dass der betreffende Knasterhanf an sich wegen des niedrigen THC-Gehalts nicht geeignet ist, einen tatsächlichen Rausch zu erzielen, und dass der Knasterhanf insofern nicht als Betäubungsmittel zu klassifizieren ist: Wie der Sachverständige nachvollziehbar ausgeführt hat, ist eine berauschende Wirkung durch Konsum des gelben Knasterhanfes am Rauchen über die Lunge nahezu unmöglich […] Daher ist ein Missbrauch zu ausstrecken [sic] ebenfalls nahezu ausgeschlossen. Eine Einordnung unter die Betäubungsmittel kann daher für das Produkt Knasterhanf-gelb nicht erfolgen ; Dies kann […] unter Beachtung der darin enthaltenen Ausnahmeregelung keinen Bestand haben. […] In diesem Fall – dies wurde bereits detailliert dargestellt – ist der THC-Gehalt so gering, daß eine Gefährlichkeit grundsätzlich ausscheiden [sic]. Die Verwendung als Droge ist bei „Knasterhanf “ ausgeschlossen . Dabei haben sie ihr Augenmerk hauptsächlich auf den zweiten Satzteil des Relativsatzes bezüglich des Missbrauchs zu Rauschzwecken gerichtet. Durch die andere Festsetzung der syntaktischen Beziehung zwischen beiden Satzteilen des Relativsatzes kommen die streitenden Parteien zu anders gelagerten Auslegungen. Während die Staatsanwaltschaft und die Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichts, die eine Anwendbarkeit dieser Ausnahmeregelung verneinen wollen, den Satzteil der Verkehr mit ihnen ausschließlich gewerblichen oder wissenschaftlichen Zwecken dient in den Vordergrund rücken, stufen die Rechtsanwälte der Angeklagten mit dem Ziel des Freispruchs

198

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

mithilfe dieser Ausnahmeregelung eher den Satzteil die einen Missbrauch zu Rauschzwecken ausschließen als relevant ein. 7.3.2.2. Berufung auf die Gesetzessystematik Gesetzessystematik in Bezug auf die adäquate Auslegung des Pflanzenbegriffs (Rechtsfall 5)18 Der Richter des AG Hamburg hat zwar zwischen dem allgemeinen Sprachgebrauch, Pilze seien Pflanzen, und dem fachsprachlichen Sprachgebrauch, Pilze seien keine Pflanzen, unterschieden . Aber mit Hinweis auf die Wissenschaftlichkeit der im Kontext des Pflanzenbegriffs vorkommenden Begriffe wird der fachsprachliche Sprachgebrauch präferiert: Vorliegend kommt es aber nicht auf den allgemeinen Sprachgebrauch für die Auslegung an, sondern auf die spezifisch wissenschaftliche Begrifflichkeit. Anders als bei anderen Gesetzen, sind die in der Anlage I und II genannten Begriffe allesamt wissenschaftlicher Art, die sich durch den allgemeinen Sprachgebrauch nicht erschließen lassen . ࢇ

7.3.2.3. Berufung auf andere Rechtsprechungen Auf welche unterschiedlichen Rechtsprechungen haben sich die Rechtsarbeiter bei ihrer Argumentation berufen? (Rechtsfall 3, Rechtsfall 4) In diesem Zusammenhang ist nicht nur interessant zu beobachten, welche unterschiedlichen Rechtsprechungen verschiedene Rechtsarbeiter zugrunde gelegt haben, sondern auch, wie sie durch sprachliche Zubereitung die angeführten Rechtsprechungen der Gegenpartei zugunsten eigener Argumentation gewichtet haben.



– Rechtsfall 3 Die Staatsanwaltschaft hat in verschiedenen Rechtstexten vor allem drei Rechtsprechungen angeführt: das Urteil des AG Dillingen , das Urteil des Bundesgerichtshofs mit Fundstelle NStZ 2005, Seite 229 und das Urteil des Bundesgerichtshofs mit dem Aktenzeichen 1 StR 384/06 . Darunter haben das Urteil des AG Dillingen und das Urteil des BGH (1 StR 384/06)19 trotz der biologischen Unterscheidung zwischen Pilzen und Pflanzen die psilocin-/ psilocybinhaltigen Pilze als Betäubungsmittel klassifiziert und den Umgang mit solchen Pilzen dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt. Das andere Urteil des BGH hat den Pflanzenbegriff gar nicht bezüglich der Pilze-Pflanzen-

18 19

Dies wird ebenfalls im Rechtsfall 1 und Rechtsfall 2 erörtert und gilt daher als gemeinsamer Streitpunkt. Es ist der zweitinstanzliche Beschluss im Rechtsfall 1.

7.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

199

Zuordnung problematisiert. Diese Unterlassung der Problematisierung hat die Staatsanwaltschaft durch gezielte sprachliche Verknüpfung mit der Schlussfolgerung zusammengeführt, dass im allgemeinen Sprachgebrauch Pilze als Pflanzen angesehen werden . Der Richter der ersten Instanz des AG Mannheim hat sich hauptsächlich auf das Urteil des OLG Koblenz gestützt .20 Auch drei andere Rechtsprechungen des AG Mannheim, des Bayerischen Obersten Landesgerichts bzw. des OLG Köln21, in denen die Pilze als Pflanzen klassifiziert wurden, hat der Richter erwähnt. Allerdings werden sie durch den Einbau in eine adversative Verknüpfung mit dem Urteil des OLG Koblenz in ihrer Gültigkeit herabgesetzt. Dementgegen wird aufgrund des in pointierter Weise angefügten Urteils des OLG Koblenz der Bedeutungswandel des Pflanzenbegriffs betont. Diese Rechtsprechung des OLG Koblenz wird auch von dem Rechtsanwalt des Angeklagten P. bei seiner Argumentation angeführt . Sehr bemerkenswert ist, dass er darüber hinaus in einem anderen Schriftsatz gezielt die beiden einander entgegenstehenden Rechtsprechungen des BGH und des OLG Koblenz aufgelistet hat, um damit den von ihm betonten Aspekt unklar22, der zugunsten seines Mandanten genutzt werden sollte, zu rechtfertigen: Und wenn die Top-Juristen am OLG Koblenz (und etlicher Instanzgerichte) und die am BGH bei der Auslegung einer Strafnorm zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen kommen, ist es nicht sachgerecht, die jeweils andere Meinung in den Irrtumsbereich zu verschieben. Die Norm ist dann eben in einem bestimmten Bereich unklar und kann auf diesen nicht angewendet werden . Damit hat er sich ganz geschickt mit der Pro- und Kontra-Rechtsprechung auseinandergesetzt und sie zugunsten seines Argumentationszwecks genutzt. Die Richter des OLG Karlsruhe haben sich – in Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft und entgegen dem Richter des AG Mannheim und dem Rechtsanwalt – hauptsächlich auf den BGH-Beschluss (1 StR 384/06) berufen . – Rechtsfall 4 Die Staatsanwaltschaft hat sowohl in der Revisionsschrift als auch in einem weiteren Schriftsatz an das Bayerische Oberste Landesgericht einen Beschluss dieses Gerichts (4St RR 7/02) angeführt, der die Frage, ob Pilze Pflanzen zuzuordnen sind, kaum der Erörterung wert gefunden hat. In dem Schriftsatz hat 20 Es ist das drittinstanzliche Urteil im Rechtsfall 2. 21 Es ist der drittinstanzliche Beschluss im Rechtsfall 6. 22 Siehe die Streitfrage in Bezug auf die anders selektierende Reformulierung des Begründungstextes zu der 19. BtMÄndV.

200

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

sie diese Rechtsprechung mit der Schlussfolgerung der Vermeidbarkeit eines möglichen Verbotsirrtums durch das Konjunktionaladverb daher in die kausale Verbindung gesetzt: Der Senat hat […] die Frage, ob Pilze den Pflanzen zuzuordnen sind, kaum der Erörterung wert gefunden. Daher muss zumindest von einer Vermeidbarkeit eines möglichen Verbotsirrtums ausgegangen werden . Diese kausale Verknüpfung ist im Grunde genommen keine natürliche, sondern eine von der Staatsanwaltschaft hergestellte Verbindung. Diese wird aber gleich in einem darauf folgenden Schriftsatz vom Rechtswalt des Angeklagten A. explizit bezweifelt: Soweit weiterhin von einem Verbotsirrtum auszugehen sein sollte, ist unklar, warum sich aus dem Umstand, dass der Senat in einem Beschluss die Frage, ob die Pilze den Pflanzen zuzuordnen sind, kaum der Erörterung wert gefunden hat, die Vermeidbarkeit eines möglichen Verbotsirrtums ergibt . Daran lässt sich ein interessantes Wechselspiel der Rechtsarbeiter beobachten. Ein Rechtsarbeiter hat zwei Umstände in eine kausale Verbindung gesetzt und diese eigentlich selbst hergestellte Kausalität durch Unterlassung einer sprachlichen Relativierung als Tatsache mit hohem Geltungsanspruch durchzusetzen versucht. Ein anderer Rechtsarbeiter akzeptiert diese Kausalität nicht, weil sie seinem eigenen Argumentationszweck widerspricht, und bestreitet insofern explizit diese Verknüpfungsmodalität. 7.3.2.4. Berufung auf den Gesetzgeberwillen Wie unterschiedlich wird bei der Argumentation hinsichtlich des Gesetzgeberwillens auf die 10., 15. und 19. BtMÄndV Bezug genommen? (Rechtsfall 3, Rechtsfall 4, Rechtsfall 5, Rechtsfall 6) Die 10., 15. und 19. BtMÄndV werden häufig in argumentierenden Sprecherhandlungen in Bezug auf den Gesetzgeberwillen erwähnt. Die Berufung darauf erfüllt oft unterschiedliche, dem jeweiligen Argumentationszweck gerechte Funktionen. ࢇ

1) Berufung auf die 10. BtMÄndV – Rechtsfall 3 und Rechtsfall 4 Die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 3 beruft sich in einem Schriftsatz auf die Begründung der 10. BtMÄndV, um zu beweisen, dass der Gesetzgeber Pilze als niedere Pflanzen angesehen hat und mit der Generalklausel am Ende der Anlage I sowohl die höheren als auch die niederen Pflanzen […] erfassen wollte . Damit will die Staatsanwaltschaft die Pilze mit dem Argument des Gesetzgeberwillens dem Pflanzenreich und somit dem Betäubungsmittelrecht unterstellen. Ein intertextueller Vergleich mit dem erwähnten Begründungstext ergibt, dass der Gesetzgeber da durch Psilocybin in Pilzen explizit die Pilze erfassen wollte. Aber die von der Staatsanwaltschaft in den Vordergrund gerückte Differenzierung zwischen niederen und höheren

7.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

201

Pflanzen entstammt jedoch nicht dem Gesetzgeber, sondern der Staatsanwaltschaft selbst. Die Staatsanwaltschaft hat also ihre eigene Differenzierung, die sie gegenüber seiner Gegenpartei durchsetzen wollte, in den Rahmen argumentierender Sprecherhandlungen in Bezug auf den Gesetzgeberwillen eingebaut, so dass deren Gültigkeit mithilfe des Autoritätstopos bestärkt werden kann. Eine gleiche Sprecherhandlung zum gleichen Argumentationszweck hat auch die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 4 vollzogen . Da wollte sie ebenfalls die Unterscheidung zwischen höheren und niederen Pflanzen mithilfe des Autoritätstopos gegenüber dem Freispruch der ersten Instanz wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums aufgrund der zweifelhaften Pilze-Pflanzen-Zuordnung durchsetzen. – Rechtsfall 5 Der Richter des AG Hamburg hat in Bezug auf die 10. BtMÄndV den Gesetzgeberwillen, psilocybinhaltige Pilze durch den Pflanzenbegriff in den Regulierungsbereich des Betäubungsmittelrechts aufzunehmen, zugegeben. Er hat aber diesen Gesetzgeberwillen in einen adversativen Zusammenhang eingebaut, so dass der Aspekt pointiert wird, dass dieser Gesetzgeberwille wegen der ungeschickten Wortwahl jedoch nicht zustande kommen kann: Aus den Gesetzesmaterialien geht hervor, dass der Gesetzgeber psilocybinhaltige Pilze gerade durch den Begriff der Pflanzen bereits 1998 mit aufnehmen wollte. Dies ist dem Gesetzgeber aber nicht gelungen. Gerade im Strafrecht bildet der Wortlaut des Gesetzes die Auslegungsgrenze. Vorliegend enthält der Wortlaut des Gesetzes aber gerade keine Pilzmycelien . – Rechtsfall 6 Die Staatsanwaltschaft wollte in der Anklageschrift die Pilze als Betäubungsmittel klassifizieren. Diese Klassifikation wollte sie bei der Argumentation durch den Gesetzgeberwillen aus der 10. BtMÄndV rechtfertigen. Sehr geschickt hat sie die Problematik der Pilze-Pflanzen-Zuordnung, die oft bestritten wird, umgangen und bei der Interpretation der 10. BtMÄndV den Aspekt in den Mittelpunkt gestellt, dass der Gesetzgeber durch die 10. BtMÄndV auch die natürlichen Träger betäubungsmittelrechtlich relevanter Wirkstoffe dem Betäubungsmittelgesetz zu unterstellen beabsichtigt: Seit Inkrafttreten der 10. BtM-Änderungsverordnung vom 01.02.1998 waren die in der Anlage des BtMG aufgeführten Stoffe auch in ihrer natürlich vorkommenden Form dem Betäubungsmittelrecht unterstellt . Mit dem Fokus auf die „natürlich vorkommende Form“ werden die Pilze unabhängig davon, ob sie Pflanzen sind oder nicht, auf jeden Fall vom Betäubungsmittelrecht erfasst. Die Angeklagten haben im Zusammenhang mit der 10. BtMÄndV betont, dass nur psilocybinhaltige Pflanzenteile bzw. tierische Körperteile aufge-

202

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

führt sind, wohingegen Pilze naturwissenschaftlich eine eigene Spezies darstellen, und dass die Begriffsbestimmung „Stoff “ in § 2 Abs. 1 Nr. 1 BtMG als Pflanze oder Pflanzenbestandteil nicht auf Pilze erweitert werden darf .23 Damit wollten sie durch die Unterstreichung der naturwissenschaftlichen Zuordnungen der Pilze eine offensichtlich von der Staatsanwaltschaft abweichende Interpretationsart der 10. BtMÄndV geltend machen. Die Richter des LG Köln haben dagegen durch die gezielte Wiedergabe der relevanten Textstelle aus dem Begründungstext – Psilocybin in Pilzen – explizit darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber die Pilze dem Betäubungsmittelrecht unterstellen wollte, und haben dies als eindeutig klassifiziert: Aus der Drucksache 881/97 des Bundesrats ergibt sich eindeutig, dass auch Psilocybin in Pilzen dem Betäubungsmittelrecht unterstellt werden sollte . Darüber hinaus haben sie noch mit einer deklarativen Sprecherhandlung die biologische Erkenntnis bezüglich der Zuordnung der Pilze zunächst als in Fluss klassifiziert und dann die offizielle Etablierung der biologischen Einordnung, Pilze seien keine Pflanzen, auf das Jahr 1999 gesetzt und insofern als nachträgliche Änderung in der Wissenschaft qualifiziert, die nicht zurückweisend auf die schon im Jahr 1998 erlassene 10. BtMÄndV wirken darf: immerhin befand sich die wissenschaftliche Meinungsbildung insoweit ab etwa 1970 in Fluss und erst auf einer internationalen Tagung von Botanikern vom 01. Bis 07.08.1999 in St. Louis/USA ist „für alle Staaten“ beschlossen worden, dass Pilze neben den Pflanzen ein eigenes Lebewesenreich darstellen […] dass nachträgliche wissenschaftliche Erkenntnisse Motive für davor erlassene Gesetze nicht ändern können . Indem die Richter des LG Köln diese internationale Tagung aus der Gesamtheit einschlägiger Ereignisse herausgenommen und relevant gesetzt haben, verschaffen sie sich die Möglichkeit, den zeitlichen Unterschied zwischen dem Inkrafttreten der 10. BtMÄndV und der offiziellen „Verfestigung“ der neuen biologischen Erkenntnis als tragfähiges Gegenargument gegen den Einwand aufgrund der Pilze-PflanzenZuordnung anzuführen. Ähnlich wie die Richter des LG Köln haben auch die Richter des OLG Köln auf den Begründungstext zur 10. BtMÄndV Bezug genommen, um zu beweisen, dass der Gesetzgeber die Pilze den Pflanzen zuordnen und somit dem Betäubungsmittelrecht unterstellen wollte . Sonst haben sie noch explizit die Ansicht der Angeklagten angegriffen, dass der „Stoff“ in § 2 Abs. 1 Nr. 1 BtMG erweitert worden sei. Sie geben eine Erweiterung zu, und zwar eine Erweiterung um natürliche Träger problematischer Wirkstoffe. Während die Angeklagten in Bezug auf die Erweiterung

23 Das entnehme ich dem Urteilstext des LG Köln, der im vorhandenen Urteilstext des OLG Köln wiedergegeben ist.

7.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

203

Pilze gegenüber Pflanzen bzw. Pflanzenbestandteilen positionieren, stellen die Richter des OLG Köln bezüglich der Erweiterung die natürlichen Träger den problematischen Wirkstoffen gegenüber . 2) Berufung auf die 15. BtMÄndV – Rechtsfall 3 Im Zusammenhang mit der 15. BtMÄndV versucht die Rechtsanwältin der Angeklagten M. durch die gezielte Gegenüberstellung zwischen Pilzen als überirdischen Teilen und Pilzmycelien als unterirdischen Teilen die Rezipienten zu überzeugen, dass Pilze auch nicht durch den Ausdruck „Pilzmyzelien“ in der Anlage zum BtmG erfasst sind . Damit hat sie die naturwissenschaftliche Differenzierung an einem eigentlich holistisch zu erfassenden Gegenstand genutzt, um die Interpretation eines Rechtstextes in die gewünschte Richtung zu steuern.24 Dagegen versuchen die Richter des OLG Karlsruhe gerade durch die Aufnahme der Pilzmycelien in die Anlage zu beweisen, dass der Gesetzgeber die Pilze dem Betäubungsmittelrecht unterstellen wollte . Entgegen der Rechtsanwältin haben die Richter des OLG Karlsruhe den biologisch differenzierten Unterschied zwischen überirdischen und unterirdischen Teilen an dem Pilz abgeschwächt und unterstreichen eher die holistische Einheit. 3) Berufung auf die 19. BtMÄndV – Rechtsfall 3 In Bezug auf die 19. BtMÄndV ist besonders interessant zu beobachten, wie die unterschiedlichen Rechtsarbeiter im Rahmen argumentierender Sprecherhandlungen angesichts des Gesetzgeberwillens durch gezieltes Selektieren bei der Reformulierung des Begründungstextes zur 19. BtMÄndV unterschiedliche Perspektiven hervorheben. Eigentlich hat der Gesetzgeber im Begründungstext zur 19. BtMÄndV beide Aspekte, dass einerseits nach der bisherigen Formulierung „Pflanzen und Pflanzenteile“ unklar ist, ob Pilze als Betäubungsmittel anzusehen sind, und dass andererseits durch die 19. BtMÄndV klargestellt werden soll, dass psilocin- bzw. psilocybinhaltige Pilze vom Betäubungsmittelrecht zu erfassen

24 Die von anderen Rechtsarbeitern in Bezug auf die 10. BtMÄndV vielfach geltend gemachte Erklärung Psilocybin in Pilzen befindet sich nicht im Normtext (also nicht in der 10. BtMÄndV) an sich, sondern im Begründungstext des Gesetzgebers. Aber der hier in den Vordergrund gerückte Begriff Pilzmycelien befindet sich im eigentlichen Normtext (also in der 15. BtMÄndV). Insofern sind beide von unterschiedlicher juristischer Relevanz.

204

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

sind, genannt.25 Aber diejenigen Rechtsarbeiter, welche die Pilze nicht als Betäubungsmittel klassifizieren und die Angeklagten wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums freisprechen wollen, haben in Bezug auf die 19. BtMÄndV meistens nur den Aspekt unklar betont . Diejenigen Rechtsarbeiter, welche die Pilze als Betäubungsmittel klassifizieren und die Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelrecht verurteilen wollen, haben diesbezüglich immer unterstrichen, dass es lediglich um eine Klarstellung geht . Sie haben – ausgehend von unterschiedlichem Standpunkt – aus dem gesamten Begründungstext jeweils den Gesichtspunkt herausgenommen und in den Mittelpunkt gestellt, der ihrem Argumentationszweck entspricht. 7.3.2.5. Berufung auf andere Rechtssysteme bzw. Rechtsvorschriften  Wie wird das europäische Recht gegenüber dem nationalen Recht gewichtet? (Rechtsfall 3) Im vorliegenden Fall wird nicht nur über die Auslegung nationaler Normtexte gestritten, sondern die Rechtsarbeiter haben bei der Argumentation auch europäische Rechtsvorschriften eingeführt und über deren Geltung bzw. Auslegung für nationale Rechtsfindungsverfahren gestritten. Die betreffenden europäischen Rechtsvorschriften sind der Artikel 28 und der Artikel 30 des EG-Vertrags:26 Artikel 28 Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung sind zwischen den Mitgliedstaaten verboten. Artikel 30 Die Bestimmungen der Artikel 28 und 29 stehen Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchfuhrverboten oder -beschränkungen nicht entgegen, die aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen

25

Der originale Begründungstext lautet: Nach der bisherigen Formulierung war unklar, ob Pilze als Betäubungsmittel anzusehen sind. In der neuen botanischen Literatur werden Pilze nicht mehr zum Pfl anzenreich gezählt, sondern als eigene Gruppe angesehen. Pilze wie z.B. Psilocybe-Arten und deren Mycelien, werden häufig missbräuchlich verwendet. Durch die Neufassung wird klargestellt, dass Pilze, sofern sie Stoffe enthalten, die in einer der Anlagen genannt sind, Betäubungsmittel sind. Vgl. Bundesrat, 2004, S. 4. 26 Vgl. EG-Vertrag, 2007. URL: http://dejure.org/gesetze/EG (letzter Zugriff: 2010–11– 25). Dieser Vertrag ist aber zurzeit mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags zum 1.12.2009 in „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ umbenannt worden und hat eine neue Artikelabfolge erhalten.

7.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

205

und kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind. Diese Verbote oder Beschränkungen dürfen jedoch weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen. Es wird gestritten, ob die betäubungsmittelrechtliche Bestrafung der in den Niederlanden als Lebensmittel zugelassenen Pilze in deutschen Rechtsverhältnissen dem Artikel 28 des EG-Vertrags zuwiderläuft und ob diese Bestrafung aufgrund des Artikels 30 des EG-Vertrags mithilfe eines Gefahrennachweises gerechtfertigt werden kann. Erstmals hat der Rechtsanwalt des Angeklagten P. den EG-Vertrag in die Argumentationskette eingeführt. Zunächst hat der Rechtsanwalt im Zusammenhang mit der möglichen Klassifizierung der Pilze als Betäubungsmittel und dem damit verbundenen Verbot der Einfuhr aus den Niederlanden nach Deutschland ausdrücklich auf den Artikel 28 des EG-Vertrags hingewiesen, nach dem Einfuhrbeschränkungen und ähnliche Maßnahmen zwischen den Mitgliedstaaten verboten sind . Dann hat er noch explizit den EG-Vertrag in der Rangordnung als relevanter als das deutsche Recht klassifiziert: Die Vorschriften des EG-Vertrags sind unmittelbar geltendes Recht, die im Range sogar über den nationalen Verfassungen stehen . Darüber hinaus hat er auch die rechtfertigende Funktion des Artikels 30 für nationale Einschränkungsbestimmungen erwähnt. Aber dadurch, dass er die Gefährlichkeit der betreffenden Pilze verneint, wird die Geltung dieses Artikels für den vorliegenden Fall infrage gestellt. Die Staatsanwaltschaft hat in der Anklageschrift explizit die Rechtsausführungen vonseiten der Angeklagten als unzutreffend klassifiziert und rückt in den Vordergrund, dass der Grundsatz des freien Warenverkehrs nicht dazu missbraucht werden darf, nationale Zulassungs- und Genehmigungsregelungen und nationale Verbots- und Strafvorschriften zu umgehen . In Bezug auf die Möglichkeit der Rechtfertigung nationaler Verbote durch den Artikel 30 hat sie in einem Schriftsatz auf das Urteil des AG Dillingen hingewiesen, in dem die Gefährlichkeit der Pilze mit dem betäubungsmittelrechtlich strafbaren LSD verglichen und daraufhin der Verstoß gegen den Artikel 28 explizit verneint wurde . Eine ähnliche Auseinandersetzung mit dem Artikel 28 und dem Artikel 30 haben auch die Richter des OLG Karlsruhe in ihrem Urteil unternommen . Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass unterschiedliche Rechtsarbeiter selbst bei der Berufung auf dieselben Rechtsvorschriften unterschiedliche Aspekte geltend machen können, um damit ihren jeweiligen Argumentationszwecken gerecht zu werden. Während der Rechtsanwalt bezüglich des Artikels 28 den Inhalt dieses Artikels an sich – nämlich das Verbot nationaler Einfuhrbeschränkungen – in den Vordergrund rückt, unterstrei-

206

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

chen die Staatsanwaltschaft und die Richter des OLG Karlsruhe den nicht zugebilligten Missbrauch dieses Artikels gegen nationale Strafvorschriften. Während der Rechtsanwalt in Bezug auf den Artikel 30 durch die Verneinung der Gefährlichkeit die Rechtfertigung nationaler Verbote durch diesen Artikel infrage stellt, nutzen die Staatsanwaltschaft und die Richter des OLG Karlsruhe dagegen mit einer deklarativen Klassifizierung der bestehenden Gefährlichkeit gerade diesen Artikel zur Rechtfertigung nationaler Verbote und daraufhin zur Rechtfertigung der Bestrafung der Angeklagten gemäß dem BtMG. Dabei werden klassifizierende Sprecherhandlungen explizit mit argumentierenden Sprecherhandlungen korreliert.

7.4. Resümee Durch die Darstellung der Untersuchungsergebnisse wird veranschaulicht, dass der Rechtsdiskurs während des Rechtsfindungsprozesses als eine textgestützte, streitige Auseinandersetzung bzw. In-Beziehung-Setzung von Normtexten und Sachverhalten durch verschiedene Rechtsarbeiter betrachtet werden kann. Es entspricht dem Grundgedanken der Strukturierenden Rechtslehre, die beim juristischen Rechtsfindungsverfahren die von Rechtsarbeitern hergestellte Wechselbeziehung zwischen Normprogramm und Normbereich in den Mittelpunkt stellt. Die dabei relevante Auslegungsproblematik kann adäquat mit dem Konzept der semantischen Kämpfe erhellt werden. Dabei mag sich der Streit – wie die vorliegende Untersuchung zeigt – auf einzelne kritische Begriffe (z.B. den Pflanzenbegriff des BtMG), auf syntaktische Relationen einzelner Satzelemente (z.B. den Relativsatz der Ausnahmeregelung zu Cannabis in der Anlage I des BtMG) oder sogar auf die Auswahl zutreffender Normtexte (z.B. den EG-Vertrag als hochrangige Rechtsnorm) richten. Besonders anzumerken ist, dass sich die Auslegung keinesfalls in einer grammatischen Interpretation des Normtextes an sich ausschöpft, sondern immer in Bezug auf den verhandelten Sachverhalt und durch die wechselseitige Abstimmung von Normprogramm und Normbereich getätigt wird. Da versuchen verschiedene Parteien von unterschiedlichen Standpunkten aus durch positionsbezogene Perspektivierungsanstrengungen eigene Rechtsansichten und Rechtsinteressen durchzusetzen. Das erweiterte Modell der grundlegenden Sprachhandlungstypen mit differenzierten Subkategorien für juristische Textarbeit bewährt sich durch die empirische Untersuchung als ein geeignetes Instrumentarium, um das streitende Wesen des Rechtsfindungsverfahrens systematisch darzulegen. Im Rahmen dieses Modells werden die streitigen Sprecherhandlungen der Staatsanwaltschaft, der Angeklagten bzw. ihrer Rechtsanwälte und der Richter systematisch angeordnet und in Bezug auf ihre sprachlichen Perspektivierungs-

7.3. Rechtliche Beurteilung inklusive Argumentation

207

versuche analysiert. Aus der vorliegenden Untersuchung der sechs Rechtsfälle ergeben sich folgende Einsichten: 1) Unter den einzelnen streitigen Sprecherhandlungen gibt es sowohl gemeinsame als auch unterschiedliche Streitpunkte. Das kann einerseits die Systematizität und Institutionalität juristischer Textarbeit und andererseits die Variabilität und Dynamik dieser Textarbeit belegen. 2) Die gemeinsamen Streitpunkte befinden sich vor allem im Sprachhandlungstyp des Sachverhalt-Festsetzens, und zwar in der Subkategorie des Festsetzens in Bezug auf subjektive Einstellungen, und im Sprachhandlungstyp der rechtlichen Beurteilung inklusive Argumentation, und zwar in der Subkategorie des Argumentierens. Dass es viele Gemeinsamkeiten in den argumentierenden Sprecherhandlungen gibt, hängt vielfach damit zusammen, dass die juristische Argumentation eine stark institutionell gebundene Tätigkeit ist, die viele bestimmte Argumentationstopoi (z.B. Wortlautgrenze, Gesetzgeberwille usw.) pflegt. 3) Wenn man die einzelnen Rechtsfälle vom Anfang bis zum Ende verfolgt, ist zu beobachten, dass sich viele Streitpunkte nicht durch das ganze Verfahren hindurchziehen, sondern dass während des gesamten Prozesses manche Streitpunkte aufgehen und manche untergehen. Im Rechtsfall 2 wird z.B. der grundlegende Streit um den gültigen Sprachgebrauch des Pflanzenbegriffs in Bezug auf die Pilze-Pflanzen-Problematik erst ab der Berufungsbegründung eingeführt. Vorher bleibt dieser Streitpunkt unerwähnt. Das beleuchtet den dynamischen Prozess juristischer Textarbeit. 4) Ein Vergleich der Sprecherhandlungen verschiedener Rechtsarbeiter bezüglich der beiden Streitpunkte – 1) An welchen Korpora wird der jeweils zugrunde gelegte Sprachgebrauch ermittelt? und 2) Inwiefern setzt sich die biologische Erkenntnis, die Pilze als eigenständige Kategorie neben Pflanzen und Tieren ansieht, im allgemeinen Sprachgebrauch durch? – lässt die Einsicht zu, dass die Rechtsarbeiter der sechs Rechtsfälle – angesichts linguistischer Reflektiertheit und Problembewusstheit – bei ihrem sprachlichen Handeln enorme Unterschiede aufweisen. Während manche Rechtsarbeiter, z.B. die BGH-Richter im Rechtsfall 1 und die Richter des OLG Koblenz im Rechtsfall 2, den allgemeinen Sprachgebrauch in gewissem Sinne bewusst als linguistisches Konstrukt ansehen und dessen Inhalt selbst an größerer Menge von Korpora (Nachschlagewerke, Internet-Beiträge usw.) zu ermitteln bzw. zu belegen versuchen und interessante Gedanken über die Wechselbeziehung zwischen dem allgemeinen und dem fachsprachlichen Sprachgebrauch entwickeln, setzen viele andere Rechtsarbeiter den allgemeinen Sprachgebrauch entweder ohne Belege fest oder stützen sich dabei auf die Ansichten anderer Rechtsprechungen und gehen nicht reflektierend auf die mögliche Wechselbeziehung zwischen Alltagssprache und Fachsprache ein.

208

7. Untersuchungsergebnisse weiterer Rechtsfälle

5) Nicht zuletzt sei noch anzumerken, dass es Äußerungen gibt, in denen mehrere Sprachhandlungstypen oder mehrere Subkategorien zusammentreffen. Dies ergibt sich einerseits aus der Multifunktionalität natürlicher Sprache bzw. sprachlicher Äußerungen und andererseits aus der Integration verschiedener Sprachhandlungstypen aufgrund ihres engen Zusammenhangs bei der juristischen Textarbeit.

8. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse bezüglich der Perspektivierungsversuche im Lichte des Modells der perspektivitätsorientierten Textanalyse Die juristische Textarbeit ist eine sprachliche, textgestützte Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und dem Normtext, wobei sprachliche Perspektivierungen immanent sind. Selbst die anscheinend ontische Wirklichkeit wird als sprachlich konstruierte Realität in diese Auseinandersetzung integriert. Durch die Darstellung der streitigen Sprecherhandlungen wird veranschaulicht, dass die Rechtsarbeiter ausgehend vom anders gelagerten Standpunkt – teilweise bewusst – bestimmte Perspektivierungen zugrunde legen, um ihrem Rechtsinteresse gerecht zu werden. Es ist insofern von großem linguistischem Interesse, ihre Perspektivierungsanstrengungen durch sprachliche Zubereitungsmittel anhand von linguistischen Modellen nachzuzeichnen, um solche Perspektivierungsmuster im bestimmten Fachdiskurs auch für normale Bürger transparent zu machen. Die folgende Darstellung hat es zum Ziel, die im vorliegenden Rechtsstreit verzeichneten Perspektivierungsversuche der Rechtsarbeiter unter besonderer Berücksichtigung der dabei eingesetzten Perspektivierungsmittel exemplarisch zu bilanzieren. Dies sollte dazu beitragen, dass sich einerseits normale Bürger durch einen geschärften Einblick in die diversen Perspektivierungsmittel einen besseren Zugang zur juristischen Fachkommunikation verschaffen können und dass sich andererseits juristische Funktionsträger bewusster mit den erhellten Perspektivierungsstrategien in ihrer Textarbeit auseinandersetzen können. Die Darstellung erfolgt anhand des von mir entwickelten „Modells der perspektivitätsorientierten Textanalyse“, das bereits im theoretischen Teil erläutert wird.1 Angeführt werden hauptsächlich ausgewählte Beispiele, die bereits in den letzten zwei Kapiteln diskutiert worden sind. Sie werden hierbei aufgrund einer gestrafften Erläuterung systematisch im Lichte dieses Modells zusammengestellt.

1

Siehe Abschnitt 4.3. der vorliegenden Arbeit. Die hier aufgeführten Ebenen und Kategorien werden ausführlich im theoretischen Teil erläutert. An dieser Stelle werden sie vor allem mit ausgewählten Beispielen belegt.

210

8. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

Zum Schluss dieses Kapitels wird aufgrund der gesamten Untersuchungsergebnisse ein kleines Resümee mit reflektierenden Bemerkungen über den Rechtsstreit und die Rechtssicherheit gegeben (8.4).

8.1. Ebene der Lexik und der Syntagmen 8.1.1. Benennungskonkurrenz Auf der Ebene der Lexik bzw. der Syntagmen2 kommt es in der vorliegenden Untersuchung besonders auf die Benennungskonkurrenz zwischen verschiedenen Rechtsarbeitern an. Sie versuchen, durch unterschiedliche Bezeichnungen mit divergierenden Ausdrücken bzw. Ausdruckskomplexen gegenüber dem gleichen Referenzobjekt unterschiedliche Sachverhaltseigenschaften zu akzentuieren und dementsprechend verschiedene Stimmungsbilder hervorzurufen. Ein interessantes Beispiel liefert die im Rechtsfall 1 bereits verzeichnete Gegenüberstellung der Bezeichnung Strafbarkeit durch die Staatsanwaltschaft bzw. die BGH-Richter und der Bezeichnung die strafrechtliche Relevanz durch den Rechtsanwalt des Angeklagten . Durch die unterschiedlichen Bezeichnungen der strafrechtlichen Konsequenz für das Verhalten des Angeklagten bringen die Rechtsarbeiter ihre divergierenden juristischen Etikettierungen und Wertungen zum Ausdruck. Während die Staatsanwaltschaft und die BGH-Richter das Verhalten des Angeklagten als strafbar einstufen, distanziert sich der Rechtsanwalt von dieser juristischen Bewertung, indem er bewusst den Begriff Strafbarkeit vermeidet und dafür die strafrechtliche Relevanz bevorzugt. Ein weiteres Beispiel ist die Gegenüberstellung von wußte, erkannte, nahm billigend in Kauf bezüglich der Einsicht des Angeklagten in die strafrechtliche Konsequenz im Rechtsfall 1 . Durch die unterschiedlichen Verben bzw. verbalen Phrasen werden nicht nur umgangssprachliche Unterschiede bezüglich der Art und Weise der Einsicht des Angeklagten in die strafrechtliche Relevanz seines Verhaltens realisiert, sondern auch fachsprachliche Differenzierungen zustande gebracht, die unmittelbar mit dem Handlungsvorsatz des Angeklagten zusammenhängen und für Nicht-Juristen wegen fehlenden fachdomänenspezifischen Wissensrahmens nicht gleich erkannt werden können. Manche Rechtsarbeiter versuchen durch bestimmte Benennungen gezielte Assoziationen hervorzurufen. Im Rechtsfall 3 hat die Staatsanwaltschaft,

2

Die Perspektivierungsversuche auf der Ebene der Syntagmen werden hier wegen des engen Zusammenhangs teilweise im Rahmen der Ebene der Lexik und teilweise im Rahmen der Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit angeführt.

8.1. Ebene der Lexik und der Syntagmen

211

die den Angeklagten unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln vorwerfen wollte, in der Anklageschrift angesichts der Wirkung der psilocinhaltigen Pilze neben den allgemeinsprachlichen Bezeichnungen Bewusstseinserweiterung und Illusionen auch die betäubungsmittelrechtlich belasteten Benennungen Rausch und Halluzinationen verwendet , die wegen ihrer vielfachen Verwendung in betäubungsmittelrechtlicher Literatur negative Assoziationen auszulösen vermögen. Eine besondere Variante ist, dass verschiedene Rechtsarbeiter im Rechtsfall 2 und 3 die verfahrensgegenständlichen Pilze mittels unterschiedlicher Benennungen anders klassifizieren. Es ist ein semantischer Kampf in dem Sinne, dass an demselben Sachverhalt durch divergierende Benennungen unterschiedliche Aspekte herausgegriffen und relevant gesetzt werden. Während manche Rechtsarbeiter die Pilze als Genussmittel, Lebensmittel bezeichnen , um den Teil-Aspekt des Genusses an den Pilzen zu unterstreichen, verwenden andere Rechtsarbeiter den Begriff Betäubungsmittel , um den betäubungsmittelrechtlichen Aspekt an den Pilzen geltend zu machen. Dabei ist auch besonders bemerkenswert, wie die Rechtsarbeiter im Rechtsfall 2 beim sprachlichen Referieren auf die verfahrensgegenständlichen Pilze Bezug nehmen. Während der Angeklagte und seine Rechtsanwältin das Wort Zauberpilze verwenden , um dadurch eine eher positive Assoziation für ihre bewusstseinsändernde Wirkung zustande zu bringen, macht die Staatsanwaltschaft durch die Bezeichnung Psylocibinpilze auf den betäubungsmittelrechtlich strafbaren Inhaltsstoff aufmerksam . Ähnliche Beispiele, dass durch unterschiedliche Benennungen klassifizierende Sprecherhandlungen realisiert werden, findet man besonders in der Subkategorie der Sachverhaltsklassifizierung im Rahmen des Sprachhandlungstyps der rechtlichen Klassifizierung. Dazu gehören beispielsweise die Benennungs- bzw. Klassifizierungskonkurrenz zwischen „Zierpflanze“ vs. „Betäubungsmittel“ bezüglich der mescalinhaltigen Kakteen im Rechtsfall 3 , die Benennungsbzw. Klassifizierungskonkurrenz zwischen „Handeltreiben mit Betäubungsmitteln“ vs. „Transport von Genussmitteln“ bezüglich der Handlung des Angeklagten im Rechtsfall 2 , die Benennungs- und Klassifizierungskonkurrenz zwischen „unvermeidbarem Verbotsirrtum“ und „Ausnutzung vermeintlicher Regelungslücken“ im Rechtsfall 4 usw.

212

8. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

8.1.2. Bedeutungskonkurrenz Die Bedeutungskonkurrenz stellt die zentrale Perspektivierung dar, denn die gesamte Diskussion dreht sich um die unterschiedliche Bedeutungskonstitution bezüglich des Pflanzenbegriffs im Betäubungsmittelgesetz. Verschiedene Rechtsarbeiter gehen bei ihren Argumentationen von einem jeweils unterschiedlichen Konzept des Pflanzenbegriffs aus. Bei ihrer Diskussion über die Frage, ob Pilze Pflanzen sind, verbinden sie mit dem Pflanzenbegriff ein unterschiedliches Bedeutungspostulat. Für den Pflanzenbegriff wird zwischen dem allgemeinen, dem biologischen und dem juristischen Sprachgebrauch differenziert. Es handelt sich dabei also um einen semantischen Streit zwischen verschiedenen Verwendungsweisen eines Begriffs in unterschiedlichen Fachdiskursen (biologischer Fachdiskurs vs. juristischer Fachdiskurs). Diejenigen Rechtsarbeiter, die auf den Freispruch der Angeklagten abzielen, rücken meistens den biologischen Sprachgebrauch, nach dem Pilze keine Pflanzen sind, in den Vordergrund . Diejenigen Rechtsarbeiter, die die Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelrecht verurteilen wollen, legen meist den juristischen Sprachgebrauch, nach dem Pilze nach wie vor dem Pflanzenreich zugerechnet werden, zugrunde . Sehr interessant ist zu beobachten, dass die unterschiedlichen Rechtsarbeiter je nach der Rechtsposition den Inhalt des allgemeinen Sprachgebrauchs anders klassifizieren. Der juristische Hintergrund dafür ist, dass es bei der Gesetzesauslegung auf das allgemeine Sprachverständnis ankommen sollte. Infolgedessen wurde der allgemeine Sprachgebrauch von manchen Rechtsarbeitern als identisch mit dem juristischen Sprachgebrauch (Pilze sind Pflanzen) , von anderen als identisch mit dem biologischen Sprachgebrauch (Pilze sind keine Pflanzen) klassifiziert. Ein anderer Beleg dafür ist, dass der Angeklagte im Rechtsfall 2 mit dem Verb „einführen“ ein offensichtlich von dem der Staatsanwaltschaft abweichendes Konzept verbindet, indem er darauf hinweist: Somit konnte ich sie auch nicht „einführen“, weil die EU eine Zollunion darstellt und zollrechtlich also keine „Einfuhr“ geschah . Dagegen rückt die Staatsanwaltschaft, welche die Handlung des Angeklagten als Einfuhr von Betäubungsmitteln aus den Niederlanden in die Bundesrepublik klassifiziert, für das Verb „einführen“ die Landesgrenze in den Vordergrund .

8.2. Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit

213

8.2. Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit 8.2.1. Perspektivität im Bereich grammatischer Grundformen Aus der empirischen Untersuchung geht hervor, dass Rechtsarbeiter durch den Gebrauch verschiedener Modi unterschiedliche Sprechereinstellungen signalisieren, die ebenfalls als wichtige Komponente des Rechtsstreits angesehen werden dürfen. Ansatzweise kann beobachtet werden, dass die Rechtsarbeiter vor allem bei der Redewiedergabe durch den Gebrauch des Indikativs statt des Konjunktivs I die hohe Akzeptanz gegenüber der wiedergegebenen Ansicht signalisieren wollen und durch den Gebrauch des eigentlich üblichen Konjunktivs I teilweise jedoch eine distanzierende Sprechereinstellung gegenüber dem Inhalt zustande bringen. Am deutlichsten kann dies an den folgenden zwei Beispielen illustriert werden. Die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 3 ist im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens mehrfach auf die subjektiven Einstellungen der Angeklagten eingegangen. Es geht im Grunde genommen um vermittelte Informationen. Für den Inhalt, dass die Angeklagten statt der Einsicht in die Strafbarkeit von der Legalität ihrer Handlung sprechen, womit die Staatsanwaltschaft eindeutig nicht einverstanden ist, hat sie den Konjunktiv I gebraucht, um damit ihre distanzierende Sprechereinstellung zu signalisieren: Die Angeschuldigten P. und M. erfuhren Ende 2003 im Internet durch die holländische Firma N., dass der Handel mit den Frischpilzen Stropharia Cubensis angeblich erlaubt sei ; Die Angeschuldigten P. und M. haben erklärt, davon ausgegangen zu sein, dass es sich um legale Ware handelt, die legal in Deutschland verkauft werden dürfe . Demgegenüber hat sie bezüglich der Einsicht in die Zugehörigkeit der Pilze zum Regulierungsbereich des Betäubungsmittelgesetzes, was ihrem Argumentationszweck entspricht, den Indikativ verwendet, um dies als uneingeschränkte Wahrheit darzustellen: dass die Angeklagten P. und M. davon ausgegangen sind, dass Psilocybinpilze unter das Betäubungsmittelgesetz fallen . Die BGH-Richter haben sich im Rahmen ihrer argumentierenden Sprecherhandlungen mit den Pro- und Kontra-Meinungen im Internet zur Pilze-Pflanzen-Zuordnung auseinandergesetzt. Bei der Wiedergabe der Internet-Beiträge haben sie innerhalb eines Satzes sowohl Indikativ als auch Konjunktiv I verwendet: Dort finden sich zwar durchaus etliche Webseiten, auf denen darauf hingewiesen wird, dass Pilze – aus wissenschaftlicher Sicht – keine Pflanzen seien, selbst dort aber auch mit dem Zusatz, dass Pilze irrtümlich (d.h. umgangssprachlich) immer noch den Pflanzen zugerechnet werden . Bei demselben Beitrag haben sie für diejenige Stelle, die ihrem Argu-

214

8. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

mentationszweck entspricht und die Pilze der Kategorie „Pflanze“ zurechnet, den Indikativ (werden), aber für diejenige Stelle, die ihrem Argumentationszweck zuwiderläuft und die Pilze der Kategorie „Pflanze“ nicht zuordnet, den Konjunktiv I (seien) verwendet, um sich davon zu distanzieren. Weitere Beispiele der Verwendung des Indikativs liefern die Schriftsätze im Rechtsfall 2 und im Rechtsfall 4. Da haben die Rechtsanwälte den zitierten Inhalt der biologischen Gutachten immer im Indikativ wiedergegeben, um dies als uneingeschränkte Wahrheit zu akzentuieren . Die zitierten Ansichten der biologischen Gutachten entsprechen jeweils ihrem Argumentationszweck. Weitere Beispiele der Verwendung des Konjunktivs als Distanzsignal findet man bei einigen Sprecherhandlungen der Rechtsarbeiter, die auf die Rechtspositionen ihrer Vorinstanzen Bezug nehmen . 8.2.2. Perspektivität im Bereich der Verknüpfungszeichen In der vorliegenden Untersuchung haben sich die Verknüpfungszeichen als sehr relevante und häufig verwendete Perspektivierungsmittel bewährt. Die Rechtsarbeiter verwenden vor allem im Rahmen des argumentierenden Sprachhandlungstyps verschiedene Verknüpfungszeichen wie Präpositionen,3 Konjunktionen, Adverbien bzw. Abtönungspartikeln, um bestimmte Relationen zwischen einzelnen Strukturelementen der Argumentationskette zugunsten des eigenen Argumentationszwecks zu konstruieren. Es muss besonders angemerkt werden, dass die Rechtsarbeiter mit den Verknüpfungszeichen meist nicht oder nicht nur ontisch vorhandene Relationen der realen Welt abbilden, sondern vielmehr gezielte Verbindungen zugunsten des eigenen Perspektivierungszwecks herstellen. Hierbei sei besonders auf die Unterscheidung von Köller zwischen „der sprachlichen Objektivierung von real gegebenen Korrelationen unter Sachverhalten einerseits und der sprachlichen Objektivierung von sprecherbezogenen Verknüpfungshandlungen andererseits“4 hingewiesen. Unter den divergierenden semantischen Relationsklassen haben sich konzessive, adversative und kausale5 Verknüpfung in der vorliegenden Unter-

3 4 5

Die Syntagmen in Form von Präpositionalphrasen werden aus engem Zusammenhang mit dem Bereich der Verknüpfungszeichen bei der Darstellung der Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit zugeordnet. Köller, 2004, S. 521. Damit wird die kausale Verknüpfung im engeren Sinne gemeint. Vgl. Duden – Die Grammatik, 2006, S. 1096.

8.2. Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit

215

suchung als die wichtigsten bzw. bemerkenswertesten Bedeutungsrelationen erwiesen. Die häufige Verwendung von konzessiven und adversativen Verknüpfungszeichen im Diskurs des Rechtsfindungsverfahrens liegt vor allem daran, dass sie sich hauptsächlich mit „Gegenargumenten“ auseinandersetzen. In beiden Verknüpfungsrelationen werden Gegenargumente zugunsten der jeweils zu unterstreichenden Strukturelemente der Argumentationskette in ihrer Geltung sprachlich relativiert. In konzessiven Verknüpfungen werden die nicht gewünschten Argumente zum unwirksamen Gegengrund verarbeitet. In adversativen Verknüpfungen wird das zu unterstreichende Strukturelement dem aufgeführten Gegenargument in pointierter Weise angefügt. In beiden Verknüpfungsrelationen kann nicht zuletzt auch die Gegensätzlichkeit zwischen zwei Strukturelementen akzentuiert werden. Mit kausalen Verknüpfungszeichen wird die Kausalität, die im Rahmen des argumentierenden Sprachhandlungstyps eine dominierende Rolle spielt, expliziert. Es kann exemplarisch demonstriert werden, dass es sich in der vorliegenden Untersuchung bezüglich expliziter kausaler Verbindungen nicht unbedingt um reale Ursache-Wirkung-Verhältnisse, sondern eher um sinnstiftende Interpretationshandlungen von Rechtsarbeitern handelt. 1) Konzessive Verknüpfungen In der vorliegenden Untersuchung haben die Rechtsarbeiter mit Präpositionen wie ungeachtet, unabhängig von, Konjunktionen wie obwohl, selbst wenn, auch wenn und Adverbien wie trotzdem konzessive Verknüpfungen zur gezielten Perspektivierung realisiert. An folgenden ausgewählten Beispielen sollte veranschaulicht werden, wie die Rechtsarbeiter durch bewusste sprachliche Zubereitung die Strukturelemente, die als tragfähige Gegenargumente von den Gegenparteien angeführt wurden bzw. werden, zum unwirksamen Gegengrund verarbeitet haben. Die Richter der dritten Instanz des OLG Koblenz im Rechtsfall 2 haben mit der Präposition ungeachtet die Sanktionswürdigkeit der Handlung des Angeklagten – gegenüber dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot – bezüglich ihrer Relevanz herabgesetzt: Dieser […] Bedeutungswandel des Pflanzenbegriffs […] steht in einem Rechtsstaat einer Bestrafung […] entgegen, und zwar ungeachtet der Sanktionswürdigkeit seines Tuns, die auch der Senat nicht in Zweifel zieht . Ähnlich haben die Richter der zweiten Instanz des LG Koblenz im Rechtsfall 2 mit der Konjunktion obwohl diese Sanktionswürdigkeit zum unwirksamen Gegengrund verarbeitet: Dies gilt auch dann, wenn als Folge der wegen des Bestimmtheitsgebots möglichst konkret abzugrenzenden Strafnorm besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, obwohl das Verhalten – wie im vorliegenden Fall – in ähnlicher Weise strafwürdig erscheinen mag .

216

8. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

Die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 2 und der Richter des AG Mannheim im Rechtsfall 3 haben beide mit der Präposition unabhängig von die biologische/naturwissenschaftliche Einordnung, Pilze seien keine Pflanzen, die ihrem Argumentationszweck zuwiderläuft, gegenüber dem juristischen Sprachgebrauch, den sie dominant setzen wollen, zum unwirksamen Gegengrund gemacht: Im Übrigen werden – unabhängig von der biologischen Einordnung der Pilze – in der nationalen und internationalen Rechtsprache [sic] und Rechtsliteratur Pilze als Pflanzen bezeichnet ; Unabhängig von dieser naturwissenschaftlichen Frage handelte es sich aber auch schon vor der 19. BtMÄndV bei psilocybinhaltigen Pilzen um Betäubungsmittel im Sinne der §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit Anlage I BtMG . Ähnlich haben die Richter des OLG Karlsruhe im Rechtsfall 3 und die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 4 mit der Konjunktion auch wenn diesen biologischen Sprachgebrauch zum unwirksamen Gegengrund verarbeitet und dessen Gültigkeit für die Auslegung herabgesetzt: Auch wenn aus heutiger wissenschaftlicher Sicht Pilze keine Pflanzen sind, sondern biologisch eine eigenständige Kategorie von Organismen darstellen, erfassten auch im Tatzeitraum die Strafvorschriften des BtMG den Umgang mit psilocinhaltigen Pilzen ; Auch wenn im naturwissenschaftlichen Sinne Pilze keine Pflanzen darstellen sollten, so werden sie jedoch in der nationalen und internationalen Rechtssprache und Rechtsliteratur als Pflanzen bezeichnet und behandelt . Dagegen haben die Richter des LG Koblenz im Rechtsfall 2 statt der biologischen Einordnung den juristischen Sprachgebrauch, der die Pilze der Kategorie „Pflanze“ zurechnet, gegenüber dem als identisch deklarierten biologischen und allgemeinen Sprachgebrauch, den sie der Auslegung zugrunde legen wollten, mit der Konjunktion selbst wenn sprachlich zum unwirksamen Gegengrund umgewandelt: Selbst wenn Rechtssprache und Rechtsliteratur diese Auffassung verträten, könnte ein solches im Gegensatz zu der allgemeinen und fachwissenschaftlichen Auffassung stehendes Begriffsverständnis für den Normadressaten nicht maßgeblich sein . Daraus, dass die Rechtsarbeiter je nach Rechtsposition entweder den biologischen oder den juristischen Sprachgebrauch durch sprachliche Zubereitung zum unwirksamen Gegengrund verarbeiten, wird veranschaulicht, dass durch Verknüpfungszeichen oft nicht Realzusammenhänge dargestellt, sondern perspektivierte Verhältnisse konstruiert werden. Die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 2 hat auf die Berufung des Angeklagten hin das von der Rechtsanwältin des Angeklagten angeführte Gegenargument, dass der Vertrieb der Pilze in den Niederlanden rechtmäßig ist und dass dies durch eine gerichtliche Entscheidung bestätigt werden kann, durch den Einbau in die konzessive Verbindung mit der Konjunktion selbst wenn zum unwirksamen Gegengrund gemacht: Selbst wenn in den Nieder-

8.2. Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit

217

landen […] im Einzelfall das Handeltreiben mit Psilocybinpilzen nicht verfolgt werden sollte, ändert dies nichts daran, dass der Umgang mit diesen Stoffen auch in den Niederlanden illegal ist . Der Richter der ersten Instanz des AG Bad Kissingen im Rechtsfall 4 hat die gesamten festsetzenden Sprecherhandlungen bezüglich des Sachverhalts mit den psilocybinhaltigen Pilzen mit dem Konjunktionaladverb trotzdem in eine konzessive Verbindung eingebaut, um dies trotz des Gestehens des Veräußerungsakts zum unwirksamen Gegengrund zugunsten des Freispruchs wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums zu verarbeiten: Trotzdem befanden sich beide Angeklagte bezüglich der Airfresher in einem für sie nicht vermeidbaren Verbotsirrtum hinsichtlich der Frage, ob es sich bei dem Vertrieb dieser Dosen um Betäubungsmittel handelt oder nicht . Konzessive Verknüpfungen können nicht nur im Rahmen des argumentierenden Sprachhandlungstyps eingesetzt werden, sondern auch im Rahmen anderer Sprachhandlungstypen. Die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 2 hat z.B. bei der Klassifizierung der Handlung des Angeklagten als unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln – statt als unerlaubte Einfuhr – das von der Gegenpartei in den Vordergrund gerückte Sachverhaltselement, dass der Angeklagte die Pilze unentgeltlich weitergegeben hat, mit der Konjunktion selbst wenn zum unwirksamen Gegengrund gemacht und die kommerzielle Absicht, den Umsatz zu fördern, betont: Bei dieser Sachlage dürfte das Einführen der Pilze in die Bundesrepublik zweifelfrei darauf gerichtet gewesen sein, den Umsatz von Betäubungsmitteln zu fördern, selbst wenn der Angeklagte beabsichtigt hätte, diese im Einzelfall aus Werbezwecken unentgeltlich abzugeben . Auch bei der Klassifizierung der Gefährlichkeit der Pilze haben die Richter des OLG Karlsruhe im Rechtsfall 3 beim Vergleich zwischen psilocinhaltigen Pilzen und LSD den Unterschied in der Wirkungsintensität, der als mögliches Gegenargument von anderen Parteien angeführt werden kann, im Voraus durch den Einbau in die konzessive Verknüpfung mit der Konjunktion wenn auch zum unwirksamen Gegenargument verarbeitet, damit dies nicht der von ihnen vollzogenen Klassifizierung solcher Pilze als gefährlich entgegengehalten werden kann: Die Wirkung und Gefährlichkeit von Psilocin ist, wenn auch nicht so intensiv, mit der von LSD vergleichbar . Eine konzessive Verknüpfung kann auch zum Unterstreichen der Gegensätzlichkeit genutzt werden. Die BGH-Richter im Rechtsfall 1 haben z.B. im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens mit der Präposition trotz auf die Widersprüchlichkeit zwischen dem unangenehmen fischartigen Geruch und dem vom Angeklagten deklarierten Gebrauch als Duftdosen hingewiesen: Er veräußerte die Pilze anschließend gewinnbringend an gewerbliche und nichtgewerbliche Abnehmer, nachdem er sie – trotz ihres unangenehmen fischigen Geruchs – in „Duftdosen“ und „Duftkissen“ gefüllt hatte

218

8. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

. Damit wollen die BGH-Richter durch die Betonung dieser Widersprüchlichkeit den versteckten Verwendungszweck geltend machen. 2) Adversative Verknüpfungen In der vorliegenden Untersuchung werden hauptsächlich mit Konjunktionaladverbien wie zwar, jedoch, hingegen und Konjunktionen wie aber adversative Verknüpfungen hergestellt. Damit versuchen die Rechtsarbeiter im Rahmen des argumentierenden Sprachhandlungstyps die Gültigkeit möglicher Gegenargumente zugunsten des eigenen Argumentationszwecks abzuschwächen und daraufhin eigene Argumente zu pointieren. Wie bei den konzessiven werden adversative Verknüpfungen ebenfalls vielfach zur bewussten Gewichtung der verschiedenen Sorten des Sprachgebrauchs verwendet. Die BHG-Richter im Rechtsfall 1 haben – bei ihrer Auseinandersetzung mit den Pro- und Kontra-Meinungen über die Pilze-Pflanzen-Zuordnung aus dem Internet – durch adversative Verknüpfung den Sprachgebrauch, welcher die Pilze den Pflanzen zurechnet, gegenüber der entgegengesetzten Variante dominant gesetzt: Dort finden sich zwar durchaus etliche Webseiten, auf denen darauf hingewiesen wird, dass Pilze – aus wissenschaftlicher Sicht – keine Pflanzen seien, selbst dort aber auch mit dem Zusatz, dass Pilze irrtümlich (d.h. umgangssprachlich) immer noch den Pflanzen zugerechnet werden (vgl. d. Nachw. bei OLG Koblenz, Urt. vom 15. März 2006 – 1 Ss 341/05, teilweise nicht abgedruckt in NStZ-RR 2006, 218). Auf anderen Webseiten werden Pilze hingegen wie selbstverständlich als Pflanzen bezeichnet (vgl. d. Nachw. in der Antragsschrift der Generalbundesanwältin vom 16. August 2006 sowie exemplarisch „Bertelsmann Wörterbuch“ bei www.wissen.de unter dem Stichwort „Pilz“: „Pflanze ohne Chlorophyll, die von organischen Stoffen lebt ...“) . Die Richter des OLG Koblenz im Rechtsfall 2 haben mit den Konjunktionaladverbien zwar und jedoch den Bedeutungswandel und dessen Konsequenz für die juristische Auslegung gegenüber dem ursprünglichen Gesetzgeberwillen pointiert: Die Staatsanwaltschaft weist zwar zutreffend darauf hin, daß der Gesetzgeber mit der 10. BtMÄndV vom 20. Januar 1998 (BGBl. I S. 74) die von ihm damals als niedere Pflanzen angesehenen psilocybin- und/ oder psilocinhaltigen Pilze (Magic Mushrooms) dem Anwendungsbereich des Betäubungsmittel(straf)rechts unterstellen wollte. Jedoch hat ein Bedeutungswandel des Begriffes „Pflanze“ [..] dazu geführt, daß diese Pilze jedenfalls im Jahre 2004 – und damit zur Tatzeit – aus dem Anwendungsbereich herausgefallen waren . Ähnlich hat der Rechtsanwalt des Angeklagten P. im Rechtsfall 3 mit dem adversativ verknüpfenden Konjunktionaladverb jedoch die neuere biologische Unterscheidung gegenüber der älteren dominant gesetzt . Demgegenüber haben die Richter des OLG Köln

8.2. Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit

219

im Rechtsfall 6 zwar ebenfalls zwei Meinungsvarianten innerhalb der Biologie differenziert, wobei sie nicht wie der Rechtsanwalt im Rechtsfall 3 von der Unterscheidung zwischen der neueren und der älteren Meinungsvariante, sondern von der Unterscheidung zwischen der engeren und der weiteren Meinungsvariante redeten; diese beiden Meinungsvarianten haben sie jedoch durch adversative Verknüpfung mit hingegen in genau umgekehrter Richtung miteinander korreliert . Während im Rechtsfall 3 die neuere Unterscheidung, Pilze seien keine Pflanzen, pointiert wird, wird im Rechtsfall 6 die weitere Unterscheidung, nach der die Pilze immer noch den Pflanzen zugeordnet werden, dominant gesetzt. Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang das Beispiel vom Richter des AG Hamburg im Rechtsfall 5. Er hat durch das adversativ verknüpfende Konjunktionaladverb aber die Besonderheit des vorliegenden Rechtsfalls hervorgehoben, so dass das gängige Auslegungsverfahren, das er auch selbst im vorausgegangenen Text erläutert hat, nicht mehr zutrifft: Vorliegend kommt es aber nicht auf den allgemeinen Sprachgebrauch für die Auslegung an, sondern auf die spezifisch wissenschaftliche Begrifflichkeit . Daraufhin wird hier der biologische Sprachgebrauch statt des in normalen Auslegungssituationen üblich verwendeten allgemeinen Sprachgebrauchs in den Vordergrund gerückt. Adversative Verknüpfungen werden von Rechtsarbeitern nicht nur zur gezielten Relativierung ungewünschter und zur bewussten Hervorhebung gewünschter Sprachgebrauchssorten benutzt, sondern ebenfalls zur solchen Zubereitung von Rechtsprechungen, die sie in ihren Rechtstexten zitiert haben. Dementsprechend haben z.B. die Richter des OLG Koblenz im Rechtsfall 2 und der Richter des AG Mannheim im Rechtsfall 3 auf diese Möglichkeit zurückgegriffen, um die Gültigkeit derjenigen Rechtsprechungen, die dem von ihnen angestrebten Argumentationszweck nicht entsprechen, herabzusetzen und daraufhin diejenigen Rechtsprechungen, die ihre eigene Argumentation unterstützen, in pointierter Weise anzufügen . Ein weiteres interessantes Beispiel für adversative Verknüpfung liefert die Diskussion der BGH-Richter im Rechtsfall 1 über die Wechselbeziehung zwischen Nachschlagewerken bzw. Lehrbüchern und dem allgemeinen Sprachgebrauch: Denn Nachschlagewerke und Lehrbücher können zwar den allgemeinen Sprachgebrauch prägen, die dort verwendete Terminologie spiegelt ihn aber häufig nicht genau wider und gibt mithin keine sichere Auskunft über dessen aktuellen Stand . Die BGH-Richter haben mit einer deklarativen Sprecherhandlung die beiden Elemente, dass Nachschlagewerke bzw. Lehrbücher einerseits den allgemeinen Sprachgebrauch prägen können und dass sie andererseits nicht immer eine sichere Auskunft über dessen aktuellen Stand liefern können, in eine adversative Verknüpfung gesetzt, um

220

8. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

damit gegen die Rechtsprechung des OLG Koblenz, auf die sich der Rechtsanwalt des Angeklagten in der vorherigen Revision berufen hat, zu wirken. In der Rechtsprechung des OLG Koblenz wird bezüglich der Wechselbeziehung zwischen den Standardnachschlagewerken und dem allgemeinen Sprachgebrauch deklarativ behauptet, dass sie ihn sowohl widerspiegeln als auch prägen . Demgegenüber haben die BGH-Richter die beiden Funktionselemente prägen und widerspiegeln durch eine adversative Verknüpfung auseinandergehalten und trotz des Einräumens der prägenden die widerspiegelnde Funktion jedoch infrage gestellt. Adversative Verknüpfungen können auch in anderen Sprachhandlungstypen und zur Pointierung der Gegensätzlichkeit der durch sie verbundenen Strukturelemente verwendet werden. Der Richter des AG Bad Kissingen hat beispielsweise im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens beide Sachverhaltselemente „Raumluftverbesserung“ und „die starke Wirkung der Pilze beim Genuss“ in eine adversative Verbindung gebracht: Dabei wies er zwar vordergründig daraufhin [sic], dass diese Dosen für sauberes Raumklima sorgen sollten, wies aber gleichzeitig daraufhin [sic], dass bei dem Genuss aufgepasst werden soll, da sie in der Wirkung erheblich wären . Damit wird die Gegensätzlichkeit beider Elemente explizit an der Textoberfläche unterstrichen. 3) Kausale Verknüpfungen In der vorliegenden Untersuchung haben die Rechtsarbeiter vor allem mit Präpositionen wie angesichts, aus, mit Konjunktionen wie da, weil und mit Konjunktionaladverbien wie daher kausale Verknüpfungen zwischen verschiedenen Strukturelementen der Argumentationskette hergestellt. An folgenden Beispielen kann besonders beobachtet werden, dass die Rechtsarbeiter explizite kausale Verknüpfungen meist nicht nur dafür verwenden, um reale UrsacheWirkung-Verhältnisse auszulegen, sondern eher dafür, um selbstkonstruierte Kausalität zu akzentuieren bzw. durchzusetzen. Die Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichts im Rechtsfall 4 haben mit der kausal verknüpfenden Präposition angesichts die Eindeutigkeit der Kommentarliteratur und der Gesetzesmaterialien mit der Verneinung des unvermeidbaren Verbotsirrtums korreliert: Ein Verbotsirrtum wäre nur dann nicht vermeidbar gewesen, wenn die Angeklagten auch bei Anwendung der gesteigerten Erkundigungspflicht nach ihren persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen die Einsicht in die Unrechtmäßigkeit ihres Handelns nicht zu gewinnen vermochten. Angesichts der Eindeutigkeit der Kommentarliteratur und der Gesetzesmaterialien ist dies zu verneinen . Der Rechtsstreit in der vorliegenden Untersuchung beweist gerade, dass die Gesetzesmaterialien nicht „eindeutig“ sind und dass die Rechtsarbeiter dadurch, dass sie unterschiedliche Sprachgebrauchssorten ins Spiel bringen, die Gesetzesma-

8.2. Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit

221

terialien unterschiedlich auslegen können. Ähnlich hat die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 3 mit der Konjunktion weil den klaren juristischen Sprachgebrauch als Rechtfertigung für ihre Klassifizierung des naturwissenschaftlichen Sprachgebrauchs als unerheblich positioniert: Dieser naturwissenschaftliche Streit ist für die Auslegung indes unerheblich, weil jedenfalls in der nationalen und internationalen Rechtssprache und Rechtsliteratur Pilze als Pflanzen bezeichnet werden . Dass es andere Rechtsarbeiter gibt, die gegenüber dem juristischen Sprachgebrauch den naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch als relevant einstufen, beweist jedoch, dass es sich hierbei nicht um eine zwangsläufige Kausalität handelt. Zwei sehr bemerkenswerte Beispiele liefern die Staatsanwaltschaften im Rechtsfall 3 und im Rechtsfall 4. Die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 4 hat im Rahmen des argumentierenden Sprachhandlungstyps eine Rechtsprechung genannt, in der nicht über die Pilze-Pflanzen-Zuordnungsproblematik diskutiert wird, und diese durch explizite kausale Verknüpfung mit der Schlussfolgerung korreliert, dass zumindest von einer Vermeidbarkeit eines möglichen Verbotsirrtums ausgegangen werden muss: In der Grobunterteilung der Lebewesen in Pflanzen, Tier und Menschen gibt es keine Sonderkategorie für Pilze. Der Senat hat deswegen auch in seinem Beschluss vom 21.2.2002 […] die Frage, ob Pilze den Pflanzen zuzuordnen sind, kaum der Erörterung wert gefunden. Daher muss zumindest von einer Vermeidbarkeit eines möglichen Verbotsirrtums ausgegangen werden . Hierbei hat die Staatsanwaltschaft zunächst die Unterlassung der gerichtlichen Diskussion über die Pilze-Pflanzen-Zuordnung darauf zurückgeführt, dass es in der Grobunterteilung der Lebewesen keine Sonderkategorie für Pilze gibt, und dann diese Unterlassung als Rechtfertigung dafür genutzt, dass der Verbotsirrtum, auf den sich die vorhergehende Instanz mit dem Ziel des Freispruchs der Angeklagten berufen hat, vermeidbar ist. Die letztere Kausalität wurde aber gleich in einem darauf folgenden Schriftsatz vom Rechtsanwalt offensichtlich in Frage gestellt: Soweit weiterhin von einem Verbotsirrtum auszugehen sein sollte, ist unklar, warum sich aus dem Umstand, dass der Senat in einem Beschluss die Frage, ob die Pilze den Pflanzen zuzuordnen sind, kaum der Erörterung wert gefunden hat, die Vermeidbarkeit eines möglichen Verbotsirrtums ergibt . Durch diesen Streit wird veranschaulicht, dass es sich hierbei nicht um eine ontisch vorhandene, sondern um eine hergestellte kausale Verknüpfung handelt. Diese kann von einem Rechtsarbeiter zum adäquaten Argumentationszweck konstruiert und von einem anderen Rechtsarbeiter zum entgegengesetzten Perspektivierungsziel wieder abgestritten werden. Eine vergleichbare Kausalität hat auch die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 3 mit der Präposition aus hergestellt: Dass im allgemeinen Sprachgebrauch Pilze als Pflanzen angesehen werden und der Normadressat (Bürger) auch im

222

8. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

Jahre 2004 Pilze noch den Pflanzen zugeordnet hat, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. NStZ 2005, Seite 229)[,] der bei dem zugrunde liegenden Sachverhalt (Erwerb von psilocybinhaltigen Pilzen) den Begriff der Pflanze nicht einmal problematisiert hat . Besonders zu bemerken ist, dass die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 3 den allgemeinen Sprachgebrauch, nach dem Pilze keine Pflanzen sind, als zwangsläufige Schlussfolgerung aus der Unterlassung der gerichtlichen Diskussion über den Pflanzenbegriff erklärt, wobei dies – mit wenig Modifikation – von der Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 4 eher als Ursache für die Unterlassung der gerichtlichen Diskussion über die Pilze-Pflanzen-Zuordnung sprachlich etabliert wird. Die beiden Strukturelemente werden also von beiden Rechtsarbeitern in genau umgekehrter Richtung in kausale Verknüpfungen eingebaut. In der vorliegenden Untersuchung werden auch andere Verknüpfungen von den Rechtsarbeitern zum entsprechenden Perspektivierungsziel zugrunde gelegt. Die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 4 hat z.B. im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens wiederholt durch Syntagmen in Form von finalen Präpositionalphrasen wie zum Konsum bzw. zu Konsumzwecken den betäubungsmittelrechtlich relevanten Verwendungszweck unterstrichen . Die Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichts im Rechtsfall 4 haben explizit mit der konsekutiv verknüpfenden Konjunktion so…dass die syntaktische Relation zwischen beiden Teilen des Relativsatzes der Ausnahmeregelung bezüglich der Gattung Cannabis festgelegt: Damit fehlt es schon am Vorliegen „gewerblicher Zwecke“, so daß es auf die weitere Frage, ob diese einen Mißbrauch zu Rauschzwecken ausschließen, nicht mehr ankommt . Mit einer deklarativen Sprecherhandlung räumen sie dem einen Satzteil Priorität ein und erklären die Überprüfung der Bedingung im anderen Satzteil als nicht notwendig, wobei sie dieser eigentlich deklarativen Sprecherhandlung durch konsekutive Verknüpfung den Anschein der ontischen Folge-Verhältnisse geben. Insgesamt darf resümiert werden, dass Verknüpfungszeichen als produktive Perspektivierungsmittel vielfach von Rechtsarbeitern zur gezielten sprachlichen Zubereitung eingesetzt werden. 8.2.3. Perspektivität im Bereich der Kommentierungszeichen Mit Kommentierungszeichen machen Rechtsarbeiter kenntlich, in welcher persönlichen Einstellung sie einen Sachverhalt objektivieren und anderen mitteilen wollen. Daran lassen sich vor allem die unterschiedlichen Sprechereinstellungen, die den entsprechenden Sprecherhandlungen innewohnen, veranschaulichen. In diesem Zusammenhang sei besonders auf die Unterscheidung zwischen der geltungsbezogenen Klasse (wie vielleicht, zweifellos, angeblich,

8.2. Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit

223

vermeintlich usw.) und der bewertenden Klasse (wie leider, richtigerweise, bedauerlicherweise usw. ) verwiesen. 1) Geltungsbezogene Kommentierungszeichen Mit geltungsbezogenen Kommentierungszeichen wird vom Standpunkt des referierenden Rechtsarbeiters aus über die Geltung des bezeichneten Sachverhalts behauptet. Dabei kommt es nicht immer auf die reale Gültigkeit an, sondern darauf, wie der jeweilige Rechtsarbeiter diese Gültigkeit sehen und dem Rezipienten gegenüber mit deklarativen Sprecherhandlungen festsetzen will. In den vorliegenden Rechtsfällen versuchen die verschiedenen Rechtsarbeiter mit Kommentierungszeichen wie jedenfalls, selbstverständlich, unzweifelhaft usw. den von ihnen behaupteten Sachverhalt als uneingeschränkt gültige, ontisch vorhandene Wahrheit durchzusetzen. Damit wird der Geltungsanspruch bewusst durch sprachliche Zubereitung bestärkt. Die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 3 hat z.B. in einem Schriftsatz an das AG Mannheim innerhalb von einer Seite zweimal von solchem Kommentierungszeichen Gebrauch gemacht: Die Auslegung des Begriffes „Pflanze“ aus der Sicht des Bürgers erfasst unzweifelhaft auch Pilze, weil der Bürger im allgemeinen Sprachgebrauch nur zwischen 3 Kategorien (Mensch, Pflanze, Tier) unterscheidet und Pilze weder zu den Menschen noch Tieren gezählt werden […] Dieser naturwissenschaftliche Streit ist für die Auslegung indes unerheblich, weil jedenfalls in der nationalen und internationalen Rechtssprache und Rechtsliteratur Pilze als Pflanzen bezeichnet werden . Mit den Kommentierungszeichen unzweifelhaft und jedenfalls hat die Staatsanwaltschaft zwei Strukturelemente der Argumentation, deren Wahrheitsanspruch sich in dem untersuchten Rechtsstreit nicht immer als unstrittig erwiesen hat, jedoch bewusst und gezielt als uneingeschränkt gültige Wahrheit für Rezipienten darzustellen versucht, damit sie sich besser im Rechtsstreit durchsetzen. Ähnliche Beispiele finden sich auch in vor allem argumentierenden Sprecherhandlungen anderer Rechtsarbeiter . Sehr bemerkenswert ist dabei, dass die Rechtsanwältin und die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 2 jeweils mit den Kommentierungszeichen ohne jeden Zweifel und jedenfalls zwei Behauptungen, die grundsätzlich einander entgegenstehen, als ontisch vorhandene Tatsache, deren Wahrheitsanspruch nicht bezweifelt werden sollte, geltend machen wollen: Aus botanischen Erkenntnissen läßt sich aber eindeutig und ohne jeden Zweifel der Schluß ziehen, daß Pilze einer völlig eigenständigen Eingruppierung unterliegen . Danach wird jedenfalls allgemein unter „Pflanzen“ der Oberbegriff aller nicht zu den Menschen und Tieren gehörenden Organismen und unter „Pilzen“ eine (Unter-)Abteilung des Pflanzenreichs verstanden . Dazu kommt noch, dass der von der Rechtsanwältin hier als

224

8. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

ohne jeden Zweifel erklärte Schluss von der Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 3 als naturwissenschaftlicher Streit bezeichnet wird . Daran kann man erkennen, dass die Rechtsarbeiter in ihrer Textarbeit oft bewusst die Kommentierungszeichen als Perspektivierungsmittel einsetzen, um eigene Aspekte als allgemein gültige Grunderfahrungen zu etablieren. Mit geltungsbezogenen Kommentierungszeichen kann nicht nur ein erhöhter Wahrheitsanspruch bewirkt, sondern können auch Vorbehalte bezüglich der Gültigkeit signalisiert werden. Bei der Klassifizierung der Handlung der Angeklagten im Rechtsfall 4 haben die Richter der zweiten Instanz des Bayerischen Obersten Landesgerichts mit dem Kommentierungszeichen vermeintlich ihre ablehnende Sprechereinstellung zur Existenz von Regelungslücken zum Ausdruck gebracht: Wer, wie die Angeklagten, eine gesetzliche Regelung spitzfindig unter Ausnutzung vermeintlicher Regelungslücken zu unterlaufen versucht […] . Ein ähnliches Beispiel mit derartigen Kommentierungszeichen liefert die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 3. Da hat sie im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens bei der Reformulierung der Behauptung der Angeklagten, dass sie im Internet von der Legalisierung psilocinhaltiger Pilze erfahren haben, durch die Hinzufügung des kommentierenden Adjektivs angeblich ihre distanzierende Sprechereinstellung kenntlich gemacht: Die Angeschuldigten P. und M. erfuhren Ende 2003 im Internet durch die holländische Firma N., dass der Handel mit den Frischpilzen Stropharia Cubensis angeblich erlaubt sei . 2) Bewertende Kommentierungszeichen Bewertende Kommentierungszeichen stehen in engem Zusammenhang mit dem Sprachhandlungstyp der rechtlichen Klassifizierung, und zwar vor allem mit der Subkategorie der Klassifizierung der Rechtsklassifikation. Mit bewertenden Kommentierungszeichen können Rechtsarbeiter vom jeweiligen Standpunkt aus explizit die unternommenen Sprecherhandlungen anderer Rechtsarbeiter evaluieren, um daraufhin eigene Rechtspositionen geltend zu machen. Aus der empirischen Untersuchung ergibt sich, dass die bewertenden Kommentierungszeichen in der juristischen Fachkommunikation in Form von Einzelwörtern wie fehlerhaft, unerheblich, zutreffend oder festen Syntagmen wie zu Recht, zu Unrecht vorkommen können und dass sie in Form von verschiedenen Satzgliedern (Adverbialien, prädikativen Ergänzungen, Attributen usw.) ihre evaluative bzw. klassifizierende Funktion erfüllen können.

8.3. Ebene des Textes

225

8.3. Ebene des Textes 8.3.1. Gewichtung Juristische Texte vernetzen sich eng miteinander. Die Rechtsarbeiter haben in ihrer Textarbeit ständig andere Texte oder Sprachhandlungen in anderen Texten zu gewichten, um eigene Rechtsinteressen durch die Aufwertung unterstützender Rechtstexte und durch die Distanzierung von entgegenstehenden Rechtstexten zu erkämpfen. Diese Gewichtung kann explizit oder implizit unternommen werden. Explizite Gewichtung realisiert sich meist durch die Perspektivierung mittels der Kommentierungszeichen. Dabei kann auch zum Teil von konzessiven oder adversativen Verknüpfungszeichen Gebrauch gemacht werden.6 Neben dem Sprachhandlungstyp der rechtlichen Klassifizierung finden sich solche Perspektivierungsanstrengungen noch besonders viel im Rahmen des Sprachhandlungstyps der rechtlichen Beurteilung inklusive Argumentation. Vor allem in der Subkategorie der rechtlichen Beurteilung werden die Rechtstexte der Vorinstanzen oft explizit von Rechtsarbeitern der höheren Instanzen als begründet oder nicht begründet bewertet, wobei derselbe Rechtstext von unterschiedlichen Parteien je nach Position unterschiedlich gewichtet werden kann. Implizite Gewichtung besteht meist in den argumentierenden Sprecherhandlungen der Rechtsarbeiter. Indem sie passende Rechtsprechungen aussuchen und sich bei der Argumentation explizit auf diese berufen, stufen sie implizit diese Texte als relevant ein. 8.3.2. Reformulierung Wegen des engen Zusammenhangs juristischen Textgeflechts und der institutionell vorbestimmten Verweishandlungen erweisen sich Reformulierungen als ein bedeutsames Sprachphänomen im Diskurs juristischer Fachkommunikation. In fast allen Sprachhandlungstypen, die in der vorliegenden Untersuchung modelliert werden, lassen sich reformulierende Sprecherhandlungen finden. Durch bewusste sprachliche Zubereitung bei der Reformulierung können die Rechtsarbeiter den reformulierten Inhalt so gestalten, dass bestimmte Perspektivierungen unternommen werden und daraufhin gewünschte Stimmungsbilder entstehen. Es sollte exemplarisch dargelegt werden, wie die Rechtsarbeiter die Umgestaltungsmöglichkeiten der Reformulierung als

6

Vgl. z.B. die Auseinandersetzung der Richter des OLG Koblenz im Rechtsfall 2 und des Richters des AG Mannheim im Rechtsfall 3 mit den verschiedenartigen Pro- und KontraRechtsprechungen .

226

8. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

konstruktive Perspektivierungsmittel zum Rechtsstreit nutzen. Die folgende Darstellung orientiert sich an der Differenzierung von Steyer zwischen Hinzufügungen, Selektionen und Kombinationsvarianten.7 1) Hinzufügungen Durch Hinzufügungen kann der Rechtsarbeiter dem Rezipienten seine Sprechereinstellung gegenüber dem reformulierten Inhalt kenntlich machen oder im Rahmen der Reformulierung eigene Interpretationsangebote integrieren. Ein interessantes Beispiel der Hinzufügung zum Signalisieren der Sprechereinstellung liefert die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 3. In der Vernehmung hat die Angeklagte M. bezüglich ihrer Erkundigungshandlung nach der strafrechtlichen Konsequenz der Veräußerung von psilocinhaltigen Pilzen erwähnt: Ende 2003 haben wir im Internet durch die Fa. N. von der Legalisierung der sog. Stropharia Cubensis erfahren . Bei der diesbezüglichen Reformulierung hat die Staatsanwaltschaft durch die Hinzufügung des kommentierenden Adjektivs angeblich ihre distanzierende Sprechereinstellung zu der von der Angeklagten M. behaupteten Legalität zum Ausdruck gebracht: Die Angeschuldigten P. und M. erfuhren Ende 2003 im Internet durch die holländische Firma N., dass der Handel mit den Frischpilzen Stropharia Cubensis angeblich erlaubt sei . Ein weiteres Beispiel zur Integration eigener Interpretationsangebote in Form der Hinzufügung bringt die Rechtsanwältin im Rechtsfall 2 vor. Sie hat sich bei ihrer Argumentation auf das in den Niederlanden erstellte Gutachten – die CAM-Studie – berufen: Aus dem Gutachten ergibt sich, daß von den besagten Pilzen keinerlei Gefahr an der Beeinträchtigung der Gesundheit ausgehen kann und der Konsum auch zu keiner Sucht führen kann und ein Mißbrauch ausgeschlossen ist . Bei dieser reformulierenden Sprecherhandlung, die durch den Einleitungssatz aus dem Gutachten ergibt sich die Bezugnahme auf das Gutachten expliziert hat, hat die Rechtsanwältin den beiden reformulierten Informationen keinerlei Gefahr an der Beeinträchtigung der Gesundheit und der Konsum auch zu keiner Sucht führen, die inhaltlich noch auf das Gutachten zurückgeführt werden können, ihre eigene Schlussfolgerung, dass ein Missbrauch ausgeschlossen ist, hinzugefügt, um damit die Ergebnisse der CAM-Studie mit dem betäubungsmittelrechtlichen Tatbestandsmerkmal Missbrauch in Beziehung zu setzen, so dass durch die Verneinung dieses betäubungsmittelrechtlichen Merkmals ein anderes Stim-

7

Vgl. Steyer, 1994, S. 149. In diesem Zusammenhang sei besonders anzumerken, dass diese Differenzierung aus heuristischen Gründen angenommen wird, wobei Überlappungsmöglichkeiten nicht ausgeschlossen werden können. Die angeführten Beispiele werden je nachdem, auf welche vorwiegenden Merkmale es ihnen besonders ankommen sollte, den verschiedenen Kategorien zugeordnet.

8.3. Ebene des Textes

227

mungsbild gegenüber den verfahrensgegenständlichen Pilzen bewirkt und eine andere rechtliche Klassifizierung dieser Pilze gerechtfertigt werden kann. Ähnlich hat die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 3 eigene Interpretationsangebote in die Reformulierung des Begründungstextes des Gesetzgebers zur 10. BtMÄndV integriert: Aus der Begründung der 10. BtMÄndV (BR Drs 881/97, 40) ergibt sich, dass der Gesetzgeber Pilze als niedere Pflanzen angesehen hat und mit der Generalklausel am Ende der Anlage I sowohl die höheren als auch die niederen Pflanzen, die wie Betäubungsmittel rechtsmissbräuchlich verwendet werden sollen, erfassen wollte . Durch den intertextuellen Vergleich kann man erkennen, dass der Gesetzgeber im Begründungstext lediglich durch Psilocybin in Pilzen die Pilze erfasst hat und dass es sich bei den hier angeführten Inhalten bezüglich der niederen bzw. höheren Pflanzen um eine Interpretation der Staatsanwaltschaft handelt. Damit konnte sie ihre rechtliche Klassifizierung bezüglich der PilzePflanzen-Zuordnung durch die Zurückführung auf den Gesetzgeberwillen in der Plausibilität bestärken. 2) Selektionen Bei der Reformulierung können Rechtsarbeiter durch gezieltes Selektieren einerseits diejenigen Strukturelemente, die ihrem Perspektivierungsziel entsprechen, unterstreichen und andererseits andere Informationen, die ihrem Argumentationszweck zuwiderlaufen, tilgen, so dass eigene Rechtspositionen besser durchgesetzt werden können. Ein sehr relevantes Beispiel für das selektierende Unterstreichen verzeichnet sich im Zusammenhang mit der Reformulierung des Begründungstextes des Gesetzgebers zu der 19. BtMÄndV. In diesem Text hat der Gesetzgeber sowohl erwähnt, dass nach der bisherigen Formulierung unklar war, ob Pilze als Betäubungsmittel anzusehen sind, als auch genannt, dass durch die Neufassung klargestellt wird, dass Pilze, sofern sie Stoffe enthalten, die in einer der Anlagen genannt sind, Betäubungsmittel sind.8 Diejenigen Rechtsarbeiter, die das Merkmal unklar hervorheben und dies dann zugunsten des Freispruchs der Angeklagten nutzen wollen, haben bei der Reformulierung meist nur den ersteren Satzteil mit dem vom Gesetzgeber gestandenen Merkmal unklar wiedergegeben, um dadurch diesen Aspekt bei der Perspektivierung besonders zu unterstreichen . Dagegen haben diejenigen Rechtsarbeiter, die diese Unklarheit unterdrücken und die Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilen wollen, meist bei der Reformulierung nur den letzteren Satzteil mit der Klarstellung in den

8

Bundesrat, 2004, S. 4.

228

8. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

Vordergrund gerückt und behauptet, dass es lediglich um eine Klarstellung geht . Besonders mit der Partikel lediglich versuchen sie den Anschein zu geben, als ob es keine Unklarheit gegeben hätte. Ein weiteres Beispiel liefert die unterschiedlich perspektivierte Reformulierung bezüglich der Ausnahmeregelung zur Gattung Cannabis in der Anlage I des Betäubungsmittelgesetzes im Rechtsfall 4. Diese Ausnahmeregelung enthält einen Relativsatz, in dem beide Aspekte – 1) ausschließlich zu gewerblichen oder wissenschaftlichen Zwecken und 2) Ausschließung des Missbrauchs zu Rauschzwecken – enthalten sind: […] wenn […] der Verkehr mit ihnen ausschließlich gewerblichen oder wissenschaftlichen Zwecken dient, die einen Missbrauch zu Rauschzwecken ausschließen.9 Während die Staatsanwaltschaft und die Richter der zweiten Instanz des Bayerischen Obersten Landesgerichts, die bei der Argumentation diese Ausnahmeregelung verneinen wollen und die Angeklagten trotz des geringen THC-Gehalts des von ihnen veräußerten Knasterhanfs wegen Verstoßes gegen das BtMG verurteilen wollen, bei der Reformulierung dieser Ausnahmeregelung den ersteren Aspekt der Verkehr mit ihnen ausschließlich gewerblichen oder wissenschaftlichen Zwecken dient unterstreichen , berufen sich die Rechtsanwälte auf die Ausschließung des Missbrauchs wegen des geringen THC-Gehalts und rücken mit dem Ziel des Freispruchs mittels dieser Ausnahmeregelung eher den letzteren Satzteil die einen Missbrauch zu Rauschzwecken ausschließen in den Vordergrund . Durch selektierende Hervorhebung wird diese Ausnahmeregelung vom unterschiedlichen Perspektivierungsstandpunkt aus anders interpretiert und in die Argumentationskette eingebaut. Weitere Beispiele des Selektierens zur Hervorhebung bzw. Fokusbildung liefern z.B. die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 6 bei der Reformulierung des Begründungstextes zur 10. BtMÄndV, indem sie dabei statt der gewöhnlich zitierten Aufzählung Psilocybin in Pilzen die Aufmerksamkeit auf den anderen Satzteil in ihrer natürlich vorkommenden Form richtet, um damit bei der Argumentation die oft debattierte Pilze-Pflanzen-Zuordnungsproblematik zu umgehen oder die Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 3 mit der Reformulierung im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens, indem sie bei der Wiedergabe der in der Durchsuchung aufgefundenen Pilze nur zwei Sorten, die Psilocin enthalten, vom gesamten Spektrum

9

Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG, 2009. URL: http://www.gesetze-im-internet.de/btmg_1981/BJNR106810981.html (letzter Zugriff: 2010–11–25).

8.3. Ebene des Textes

229

der aufgefundenen Pilze aus dem Polizeibericht erwähnt hat . Ein interessantes Beispiel der Perspektivierungsversuche durch selektierendes Tilgen ergibt sich aus dem intertextuellen Vergleich zwischen dem Vernehmungsprotokoll der Angeklagten M. und der Anklageschrift im Rechtsfall 3. Im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens hat die Angeklagte M. bezüglich ihrer Erkundigungshandlung nach der strafrechtlichen Konsequenz der Veräußerung von psilocinhaltigen Pilzen eine institutionelle Persönlichkeit, einen Beamten vom Rauschgiftdezernat, und die polizeiliche Dienststelle WKD angeführt . Diese wurden in der Anklageschrift ersatzlos gestrichen, weil sie dem Argumentationszweck der Staatsanwaltschaft, aufgrund der Verweigerung gesteigerter Erkundigungspflicht den Verbotsirrtum auszuschließen, nicht entsprechen . Ein wichtiges Beispiel als besondere Variante der Perspektivierung durch selektierendes Tilgen liefert die argumentierende Sprecherhandlung der Richter des LG Bamberg im Rechtsfall 1. Bei der Argumentation haben sie eine viel zitierte Aussage der Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichts bezüglich des Gesetzgeberwillens übernommen. Die ursprüngliche Formulierung lautet: Der Gesetzgeber hat – in Übereinstimmung mit Rechtssprache und Rechtsliteratur – die Pilze den Pflanzen zurechnen wollen . Die Zurechnung der Pilze zu den Pflanzen wird hierbei sprachlich als die Absicht des Gesetzgebers – hat zurechnen wollen – etikettiert. Diese modale Markierung mittels des Modalverbs wollen haben die Richter des LG Bamberg bei der Reformulierung jedoch getilgt und stattdessen die Zurechnung der Pilze zu den Pflanzen als bereits vollzogene Handlung hingestellt: Der Gesetzgeber hat in Übereinstimmung mit Rechtssprache und Rechtsliteratur die Pilze den Pflanzen zugerechnet . Dadurch wird ein ganz anderes Stimmungsbild bezüglich des Gesetzgeberwillens hervorgerufen. 3) Kombinationsvarianten Bei der Reformulierung kann der Rechtsarbeiter durch bewusste Verwendung der Verknüpfungszeichen die im ursprünglichen Bezugstext10 nicht korrelierten Strukturelemente in bestimmte semantische Relationen übertragen und dies als deklarierte Interpretationsangebote wiedergeben, um gewünschte Stimmungsbilder, die dem eigenen Argumentationszweck gerecht werden, durch solche Perspektivierung für den Rezipienten zu verankern. Die Richter des LG Bamberg im Rechtsfall 1 haben z.B. im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens mit einem adversativ ver-

10

Dieser Terminus „Bezugstext“ stammt von Steyer. Vgl. Steyer, 1997, S. 51.

230

8. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

knüpfenden Konjunktionaladverb demgegenüber beide in der Anklageschrift eigentlich nicht korrelierten Sachverhalte in eine kontrastive Beziehung gesetzt: Aufzeichnungen über den oder die Lieferanten, insbesondere Lieferscheine und/oder Rechnungen konnten in den Geschäfts- und Privaträumen des Anklagten nicht aufgefunden werden. Demgegenüber fertigte der Angeklagte Rechnungen über die von ihm an gewerbliche Weiterverkäufer getätigten Lieferungen, die bei Versand erfolgten, an, die er auch aufbewahrte, um so den Anschein zu erwecken, dass er den Verkauf für legal hielt . Damit haben sie die Inkonsequenz des Angeklagten bei der Behandlung von zwei eigentlich gleichartigen Geschäftspapieren vom Hintergrund abgehoben, um der darauf folgenden Klassifizierung bezüglich des Handlungszwecks – um so den Anschein zu erwecken, dass er den Verkauf für legal hielt – eine erhöhte Plausibilität zu geben. Ähnlich haben die Richter des OLG Karlsruhe im Rechtsfall 3 im Rahmen prozessorientierter Festsetzungen bei der Wiedergabe der Rechtsklassifikationen ihrer Vorinstanz durch das Konjunktionaladverb vielmehr zwei ursprünglich eher als gleichberechtigte Möglichkeiten nebeneinander aufgereihte Gesichtspunkte in eine adversative Beziehung gesetzt: Vor diesem nur lückenhaft dargestellten objektiven Hintergrund gelangt das Amtsgericht in subjektiver Hinsicht zu dem Ergebnis, dass nicht mit einer zu einer Verurteilung hinreichenden Gewissheit festzustellen sei, dass die Angeklagten in der Absicht handelten, die Kakteen zur unerlaubten Rauscherzeugung zu veräußern; vielmehr lasse sich nicht mit Gewissheit ausschließen, dass sie die Kakteen zu botanischen Zwecken und dekorativen Zwecken im Angebot hatten . Dadurch wird der zweite Aspekt in der Aufreihung hervorgehoben, den die Richter des OLG Karlsruhe im nachfolgenden Text problematisieren wollten. Ein weiteres Beispiel liefert der Rechtsanwalt des Angeklagten R. im Rechtsfall 4. In einem Schriftsatz hat er durch die Konjunktionaladverbien einerseits…andererseits die wiedergegebenen Sprecherhandlungen des AG Bad Kissingen in eine adversative Verbindung gebracht: Einerseits stellt das Amtsgericht fest, daß ein Rauschzustand mit „Knasterhanf “ nicht erreicht werden kann. Andererseits wird in dem Urteil weiter ausgeführt, daß der Handel mit THC-armem Cannabis nicht mit der Zweckrichtung gestattet sei, daß er für Rauschzwecke mißbräuchlich verwendet werden dürfe . Durch diese sprachliche Zubereitung hat der Rechtsanwalt die Widersprüchlichkeit, die er den einzelnen Sprecherhandlungen des AG Bad Kissingen zuschreiben und in der nachfolgenden Textarbeit anfechten wollte, unterstrichen. Eine besondere Variante der Kombinationsvarianten liegt darin, dass die Rechtsarbeiter bei der Reformulierung die wiedergegebenen Strukturelemente mit anderen, im ursprünglichen Bezugstext nicht gegebenen Aspekten in Verbindung setzen, so dass anders gelagerte Interpretationsangebote vermittelt werden.

8.3. Ebene des Textes

231

Durch den intertextuellen Vergleich des Vernehmungsprotokolls, des Polizeiberichts und der Anklageschrift im Rechtsfall 3 kann man beobachten, dass die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift die in dem Vernehmungsprotokoll bzw. im Polizeibericht eher schlicht berichteten Sachverhaltsgeschehnisse mit bestimmter subjektiver Tatseite in Beziehung setzt, um die angestrebte juristische Deutung des Sachverhalts zu ermöglichen: […] um sich hierdurch eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer zu verschaffen und ihren Lebensunterhalt zu finanzieren . Dieser Perspektivierungsbedarf geht auf die institutionell bedingte Textfunktion zurück. In der Anklageschrift muss die kommerzielle Absicht der Angeklagten unterstrichen werden, damit der Sachverhalt durch solche Perspektivierung auf das Tatbestandsmerkmal des vorzuwerfenden Handeltreibens zugeschnitten wird, so dass eine entsprechende juristische Wertung daraufhin erfolgen kann. Ein weiteres besonderes Beispiel verzeichnet sich in der Berufungsbegründung der Staatsanwaltschaft im Rechtsfall 2. In der Anklageschrift hat die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten vorgeworfen, mit Betäubungsmitteln gewerbsmäßig unerlaubt Handel getrieben und Betäubungsmittel unerlaubt eingeführt zu haben. Dagegen wird im erstinstanzlichen Verfahren sowohl vom Angeklagten als auch von der Richterin des AG Linz im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-Festsetzens behauptet, dass der Angeklagte die problematischen Pilze von den Niederlanden in die BRD eingeführt hat, um sie kostenlos an Familie bzw. Freunde zu verteilen. Daraufhin wurde der Angeklagte – entgegen dem von der Staatsanwaltschaft beantragten Vorwurf wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln – von der Richterin des AG Linz lediglich wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln schuldig gesprochen. Die kommerzielle Absicht, die zur Verurteilung wegen des Handeltreibens führen sollte, hat die Richterin also verneint. In der daraufhin eingelegten Berufung der Staatsanwaltschaft, die ungeachtet der erstinstanzlichen Verurteilung immer noch den Schuldspruch wegen des Handeltreibens anstreben wollte, hat sie dieses von dem Angeklagten und von der Richterin unterstrichene Sachverhaltssegment, dass der Angeklagte die Pilze kostenlos an Familie und Freunde verteilte, mit einem kommerziell gerichteten Zweck aus Werbezwecken in Verbindung gesetzt: selbst wenn der Angeklagte beabsichtigt hätte, diese im Einzelfall aus Werbezwecken unentgeltlich abzugeben . Damit wird der Handlung, Pilze unentgeltlich abzugeben, durch die Korrelierung mit den Werbezwecken ein ganz anderes Stimmungsbild zugeschrieben, das die Interpretation dieser Handlung in die von der Staatsanwaltschaft beabsichtigte Richtung steuert. An diesen Beispielen wird veranschaulicht, dass die Rechtsarbeiter durch Reformulierungen meistens eigene Perspektivierungsresultate in den Vordergrund rücken, die dem jeweiligen Argumentationszweck entsprechen.

232

8. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

8.4. Resümee – Linguistische Reflexionen über den Rechtsstreit und die Rechtssicherheit Durch die Darstellung der Untersuchungsergebnisse wird der Rechtsstreit anhand von vollzogenen Sprecherhandlungen und unternommenen Perspektivierungsanstrengungen beleuchtet. Daraus werden grundlegende Sprachhandlungsmuster mit differenzierten Subkategorien und konstruktive Perspektivierungsstrategien herausgearbeitet. Dabei muss besonders angemerkt werden, dass die Handlungsstrategien in Form unterschiedlicher Perspektivierungen nicht als pure Techniken juristischer Argumentation verstanden werden sollten, sondern vielmehr als internalisierte Strukturen der juristischen Logik. Der Skizzierung des Rechtsstreits darf nicht die irrige Annahme entnommen werden, dass die Konkretisierung der Rechtsnorm je nach den vertretenen Rechtsinteressen willkürlich ablaufen könnte. Die Konkretisierung der Rechtsnorm ist nie willkürlich, sondern sie kann sich nur im begrenzten Rahmen des erlaubten semantischen Spielraums bewegen und unterliegt dabei institutionellen Prinzipien und Methoden. Dass es solchen Rechtsstreit gibt, liegt zum Teil an dem möglichen semantischen Spielraum entsprechender Rechtsbegriffe, wenn dieser auch im Vergleich zu dem der allgemeinsprachlichen Ausdrücke bereits verringert wird, und bestätigt gleichzeitig solchen Spielraum. Insofern muss aufgrund einer realistischen Beobachtung des authentischen Rechtsfindungsverfahrens die Einsicht gefördert werden, dass die Diskussion über die rechtssprachliche Präzision und daraufhin die Rechtssicherheit von der Ebene der sprachlichen Zeichen auf die Ebene des sprachlichen Handelns der Rechtsarbeiter verlagert werden sollte. Dabei müssen die beiden Ebenen aber in reziproker Relation zueinander aufgefasst werden. Denn beim sprachlichen Handeln der Bedeutungskonstitution und der Rechtsnormkonkretisierung geht der Rechtsarbeiter immer vom möglichen semantischen Rahmen entsprechender Rechtsbegriffe aus, der durch Legaldefinitionen oder die frühere Verwendungsgeschichte eingegrenzt wird. Und die im Anschluss daran vollzogene Konkretisierung im aktuellen Rechtsfall kann wiederum einen Beitrag zur Präzisionsstruktur entsprechender Rechtsbegriffe oder Normtexte leisten. Erhöhte Rechtssicherheit setzt vor allem voraus, dass man eine realistische Rechts- und Sprachwissenschaft fördert und auf deren Basis über die Optimierung der Rechtssicherheit diskutiert. Dazu will auch die vorliegende Arbeit beitragen, indem sie das Rechtsfindungsverfahren anhand von linguistischen Instrumentarien in stärkerem Maß verständlich macht, so dass ein zunehmend großer Kreis der Gesellschaft – dabei sowohl Rechtsarbeiter als auch normale Bürger – bewusster

8.4. Resümee

233

mit dem Recht umgeht und sich am Rechtsstaatssystem beteiligt. Aufgrund des verbesserten Rechtsverständnisses können die Rechtskompetenz und das Rechtsbewusstsein der Gesellschaft erhöht werden, was zur gesteigerten Rechtstransparenz und weiterhin zur größeren Rechtssicherheit führen könnte. Rechtssicherheit entsteht nicht durch die eindeutige Vorhersehbarkeit von Auslegungsspielräumen rechtlicher Begriffe (die es aus semiotischer Perspektive wegen der drei Eigenschaften sprachlicher Zeichen – Arbitrarität, Konventionalität und Repräsentativität – grundsätzlich sprachtheoretisch nicht geben kann)11, sondern durch die im Rechtsprozess angelegte Möglichkeit, vor anderen Gerichten und vor neuen Richtern die Plausibilität bestimmter Auslegungen darlegen zu können und gegebenenfalls recht zu bekommen. Die Rechtssicherheit ist schließlich keine absolute Größe, die endgültig erreicht werden kann, sondern sie muss ständig durch Kooperationen zwischen Rechtswissenschaft und Sprachwissenschaft und durch die zunehmende bewusste Beteiligung der breiten Masse optimiert werden.

11

Vgl. Felder, 2009b, S. 49.

9. Schlusswort 9.1. Bilanzierung der vorliegenden Untersuchung Die vorliegende Arbeit widmet sich der Fragestellung, die in der Einleitung erörtert wurde: Wie lässt sich durch empirische Untersuchungen das streitende Wesen der Rechtskommunikation im Rechtsfindungsverfahren anhand von typisierten und differenzierten Sprachhandlungsmustern und hinsichtlich spezifischer Perspektivierungsanstrengungen transparent machen? Damit setzt sie sich zum Ziel, den textgestützten bzw. diskursbasierten Rechtsstreit zwischen divergierenden gerichtlichen Parteien im Rechtsfindungsverfahren mithilfe von linguistischen Instrumentarien zu explizieren. Als Textkorpus der empirischen Untersuchung gelten schriftliche Texte (vor allem Anklageschriften, Berufungs- bzw. Revisionsbegründungen, Urteile und Schriftsätze) verschiedener juristischer Funktionsträger von sechs zusammenhängenden Rechtsfällen aus einem linguistisch hochinteressanten Rechtsdiskurs. Im Grunde genommen handelt es sich in der vorliegenden Arbeit um eine Diskursanalyse aus spezifischem fachsprachlichem Erkenntnisinteresse. Dieser Fragestellung und Zielsetzung geht die Klärung der Ausgangsfrage voraus, wie man das juristische Rechtsfindungsverfahren und den Rechtsstreit zwischen verschiedenen Rechtsarbeitern unter linguistischen Gesichtspunkten erfassen kann. Als grundlegende theoretische Fundamente dafür gelten die in Kapitel 2 erörterte pragmatische Semantikauffassung, die ebenfalls in Kapitel 2 erläuterte Konzeption der semantischen Kämpfe, die in Kapitel 3 dargelegte Strukturierende Rechtslehre und die in Kapitel 4 ausgeführte dynamische Textauffassung. Die pragmatische Semantikauffassung geht nicht davon aus, dass es eine einheitliche Bedeutung eines Zeichens in einer Sprache gebe, sondern sie legt die Vielfalt sprachkommunikativer Verwendungsmöglichkeiten eines Wortes in unterschiedlichen Kontexten bei der Diskussion von „Bedeutung“ zugrunde. Insofern werden der aktiv handelnde Sprecher und die Möglichkeit der unterschiedlichen Akzentuierung des Bedeutungspostulats aufgrund vielfältiger Verwendungsweisen in realen Kommunikationssituationen in den Vordergrund gerückt. Ähnlich wird im Rahmen der dynamischen Textauffassung der handelnde Mensch in den Mittelpunkt der textgestützten Kommunikation gestellt. Die Konstitution der Textbedeutung muss immer in die Handlungspraxis eingebettet werden.

236

9. Schlusswort

Im Anschluss an die Grundidee der pragmatischen Semantikauffassung und in Übereinstimmung mit der dynamischen Textauffassung differenziert die Strukturierende Rechtslehre in ihrem Gedankengebäude zwischen dem in Form der Zeichenkette vorkommenden Normtext als Textformular und der erzeugten Norm als Textbedeutung. Der Normtext liefert für die juristische Textarbeit nur das Textformular, das vom aktiv handelnden Rechtsarbeiter auf dessen Bedeutung untersucht werden muss, nicht aber schon gleich die fertige Rechtsnorm, die auf den zu entscheidenden Fall unmittelbar angewandt werden kann. Das juristische Rechtsfindungsverfahren lässt sich insofern als eine schöpferische und strukturierte Auseinandersetzung der Rechtsarbeiter mit den Normtexten und dem auszuhandelnden Sachverhalt zur Erzeugung geltender Rechtsnorm ansehen, wobei sich dieser Prozess immer in Form von verschiedenen Texten realisiert und als institutionell strukturierte Textarbeit aufzufassen ist. Im Anschluss an das Konzept der semantischen Kämpfe können verschiedene Rechtsarbeiter sowohl bei den auszulegenden Rechtstermini bzw. Normtexten unterschiedliche Bedeutungsaspekte unterstreichen als auch bei dem zu entscheidenden Sachverhalt verschiedene Eigenschaften bzw. Merkmale akzentuieren, so dass der Normtext und der Sachverhalt variiert aufeinander zugeschnitten werden, was auf unterschiedliche Rechtsnormen hinausläuft. Die Kommunikation im Rechtsfindungsverfahren lässt sich daher als ein Kampf zwischen verschiedenen Rechtsarbeitern um die gültige Rechtsnorm auffassen. Nachdem das juristische Rechtsfindungsverfahren bzw. der Rechtsstreit im Rahmen linguistischer Ansätze erhellt worden sind, gilt nun die methodisch relevante Frage, wie man mittels linguistischer Instrumentarien den Rechtsstreit zwischen verschiedenen Rechtsarbeitern explizieren und transparent beschreiben kann. Als methodische Ansätze, die zur systematischen Analyse und Darlegung dieses Rechtsstreits dienen, gelten das in Kapitel 3 dargestellte Modell der drei grundlegenden juristischen Sprachhandlungstypen, das aufgrund der empirischen Untersuchung um neue differenzierte Subkategorien erweitert wird, und das in Kapitel 4 angesetzte Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse mit einzelnen Kategorien relevanter Perspektivierungsmittel auf verschiedenen Untersuchungsebenen. Bei der Kommunikation im Rechtsfindungsverfahren handeln die Rechtsarbeiter in Anlehnung an pragmatische Ansätze mit ihren Texten und vollziehen textgestützte Sprachhandlungen. Insofern kann durch die Darstellung einzelner streitiger Sprecherhandlungen der eher abstrakt zu erfassende Rechtsstreit konkretisiert und transparent beschrieben werden. Um die Darlegung zu systematisieren, muss man zunächst einzelne Sprecherhandlungen zu größeren Kategorien, d.h. zu Sprachhandlungstypen, zusammenfassen und die Darlegung dann gemäß diesen Sprachhandlungstypen anordnen. Vor diesem Hintergrund wird das Modell der drei grundlegenden juristi-

9.1. Bilanzierung der vorliegenden Untersuchung

237

schen Sprachhandlungstypen herangezogen. Auf der Basis dieses Modells, das vor allem auf richterliche Entscheidungstexte zurückgreift, wird in der vorliegenden Untersuchung wegen des ausgebauten Textkorpus um neue Textsorten und Akteure ein erweitertes Modell mit differenzierten Subkategorien erarbeitet und für die systematische Darlegung der streitigen Sprecherhandlungen in den untersuchten Rechtsfällen eingesetzt. Ein anderer relevanter methodischer Gesichtspunkt ist die Konzeption der Perspektivität. Jede sprachliche Objektivation des Wahrgenommenen ist keine einfache Abbildung der realen Welt, sondern immer eine interpretative Repräsentation der Welt bzw. eine perspektivierte Konstruktion der Wirklichkeit. Unterschiedliche Rechtsarbeiter gehen von unterschiedlichen Standpunkten aus und rücken bei ihrer Textarbeit konkurrierende sprachliche Perspektivierungen in den Vordergrund. Durch die Analyse solcher Perspektivierungen kann der Rechtsstreit näher beleuchtet werden. Perspektivierungen realisieren sich vor allem mithilfe sprachlicher Perspektivierungsmittel. Insofern wird in der vorliegenden Arbeit ein differenziertes analytisches Modell mit einzelnen Untersuchungskategorien zur perspektivitätsorientierten Textanalyse angesetzt und zur Beschreibung bzw. Erläuterung der einzelnen streitigen Sprecherhandlungen genutzt. Nach der Darlegung theoretischer und methodischer Grundlagen erfolgt die Darstellung der empirischen Untersuchungsergebnisse. Diese Darstellung umfasst drei Teile. Im ersten empirischen Teil wird anhand von zwei exemplarischen relevanten Rechtsfällen (Rechtsfall 1 und Rechtsfall 2) die diskursbasierte Kontroverse hinsichtlich der streitigen Sprecherhandlungen und der relevanten Perspektivierungsanstrengungen der jeweiligen Rechtsarbeiter in ausführlichem Umfang detailliert skizziert. Im zweiten empirischen Teil werden weitere Untersuchungsergebnisse der anderen vier Rechtsfälle gestrafft zusammengefasst. Im letzten empirischen Teil werden die bei der Erläuterung der einzelnen streitigen Sprecherhandlungen verzeichneten Perspektivierungsanstrengungen erneut anhand des von mir angesetzten Modells der perspektivitätsorientierten Textanalyse resümiert, um die verwendeten spezifischen Perspektivierungsmittel und Perspektivierungsstrategien systematisch zu bilanzieren. Aufgrund der obigen Darlegung kann die Struktur der vorliegenden Arbeit mit dem folgenden Schaubild (Schaubild 19) verdeutlicht werden.

238

9. Schlusswort

Fragestellung Wie lässt sich durch empirische Untersuchungen das streitende Wesen der Rechtskommunikation im Rechtsfindungsverfahren anhand von typisierten und differenzierten Sprachhandlungsmustern und hinsichtlich spezifischer Perspektivierungsanstrengungen transparent machen?

Methodische Ansätze

Theoretische Ansätze Wie kann man das juristische Rechtsfindungsverfahren und den Rechtsstreit zwischen verschiedenen Rechtsarbeitern unter linguistischen Gesichtspunkten erfassen?

Wie kann man mittels linguistischer Instrumentarien den Rechtsstreit zwischen verschiedenen Rechtsarbeitern explizieren und transparent beschreiben? –

Das Modell der drei grundlegenden juristischen Sprachhandlungstypen, das erweiterte Modell



Pragmatische Semantikauffassung



Semantische Kämpfe



Strukturierende Rechtslehre



Dynamische Textauffassung

der grundlegenden Sprachhandlungstypen mit differenzierten Subkategorien für juristische Textarbeit –

Perspektivität, Perspektivierungen und Perspektivierungsmittel, das Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse

Ausführliche und detaillierte Darstellung der Untersuchungsergebnisse der ersten zwei Rechtsfälle

Gestraffte Zusammenfassung weiterer Untersuchungsergebnisse der anderen vier Rechtsfälle

Bilanzierung der relevanten Perspektivierungsversuche in den sechs Rechtsfällen anhand des Modells der perspektivitätsorientierten Textanalyse

Schaubild 19: Bilanzierung der vorliegenden Arbeit

9.2. Zusammenfassende Thesen

239

9.2. Zusammenfassende Thesen Die Bilanzierung der vorliegenden Untersuchung soll zum Abschluss mittels Thesen zugespitzt werden: These 1: Durch die empirische Untersuchung haben sich die pragmatische Semantikauffassung, die Konzeption der semantischen Kämpfe, die Strukturierende Rechtslehre und die dynamische Textauffassung als adäquate Erklärungsansätze für das streitende Wesen der Rechtskommunikation im Rechtsfindungsverfahren bewährt. Das Rechtsfindungsverfahren stellt streng genommen keine „Rechtsfindung“, sondern „Rechtserzeugung“ dar. Die Rechtsarbeiter gehen einerseits von den Normtexten und anderen relevanten Rechtstexten (wie Kommentaren, Gesetzgebungsmaterialien usw.) und andererseits von den in juristische Kategorien einzubettenden und durch sprachliche Zubereitung zu konstruierenden Sachverhalten aus und versuchen beide in strukturierte Beziehungen zu setzen. Sie können sowohl an den Normtexten (oder anderen relevanten Rechtstexten) als auch an den verhandelten Sachverhalten bestimmte Strukturelemente herausarbeiten und diese in bestimmter Art und Weise korrelieren, um durch gezieltes sprachliches Handeln beide Dimensionen aneinander anzupassen bzw. aufeinander zuzuschneiden und auf dieser Basis die geltende Rechtsnorm zu erzeugen. Der Rechtsfindungsprozess ist insofern kein bloßer Erkenntnisprozess der in den Normtexten vorgegebenen Rechtsnorm, sondern eine schöpferische Auseinandersetzung der Rechtsarbeiter mit Normprogramm und Normbereich zur Erzeugung der gültigen Rechtsnorm. Dabei versucht jeder, seine eigene Rechtsposition in dem Spielraum, der von der durch Fachdiskurse geprägten Fachsemantik und von institutionellen Prinzipien zugelassenen ist, über plausible Argumentationsprozesse durchzusetzen. These 2: In der vorliegenden Arbeit werden unter Berücksichtigung der vorhandenen Ansätze und aufgrund der empirischen Untersuchung das erweiterte Modell der grundlegenden Sprachhandlungstypen mit differenzierten Subkategorien für juristische Textarbeit (Schaubild 18) und das Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse (Schaubild 11) erarbeitet und als linguistische Instrumentarien zur adäquaten Modellierung der Rechtskommunikation im Rechtsfindungsverfahren und zur Explizierung des Rechtsstreits zwischen verschiedenen gerichtlichen Parteien etabliert. Das im theoretischen Teil dargestellte Modell von drei grundlegenden juristischen Sprachhandlungstypen ist um differenzierte Subkategorien erweitert worden. Der Sprachhandlungstyp des Sachverhalt-Festsetzens kann in ein fallorientiertes und ein prozessorientiertes Sachverhalt-Festsetzen untergliedert werden, wobei die erstere Subkategorie wiederum zwei Gruppen

240

9. Schlusswort

mit dem jeweiligen Schwerpunkt auf dem objektivierten Ereignis und auf den subjektiven Einstellungen umfasst. Unter dem Sprachhandlungstyp der rechtlichen Klassifizierung werden drei Subkategorien differenziert: Sachverhaltsklassifizierung, Klassifizierung der Rechtsklassifikation und Klassifizierung argumentativ relevanter Umstände. Der Sprachhandlungstyp der rechtlichen Beurteilung inklusive Argumentation umfasst zwei grundlegende Sprachhandlungen – die rechtliche Beurteilung und die Argumentation. Aus der empirischen Untersuchung und unter Berücksichtigung der herkömmlichen Begründungslehre lassen sich hauptsächlich folgende Kategorien der Argumentationstopoi annehmen, an denen besonderes Erkenntnisinteresse des Rechtsstreits besteht: Sprachgebrauch, Gesetzessystematik, andere Rechtsprechungen, Gesetzgeberwillen. Vereinzelt erfolgt auch eine Berufung auf andere Rechtssysteme, Rechtsvorschriften oder andere Textsorten. Bezüglich der Beziehung zwischen einzelnen Sprachhandlungstypen muss angenommen werden, dass sie nicht immer eindeutig voneinander abzugrenzen sind und dass sie in konkreten Äußerungs- und Kommunikationssituationen zusammentreffen können. Sie sind auch funktional nicht isoliert anzunehmen, sondern sie stehen in enger Korrelation zueinander und bereiten sich aufeinander vor. Für die Erläuterung streitiger Sprecherhandlungen kann das Modell der perspektivitätsorientierten Textanalyse mit den einzelnen Untersuchungskategorien der relevanten sprachlichen Perspektivierungsmittel besonders fruchtbar gemacht werden. Dieses Modell basiert auf dem Untersuchungsprogramm der pragma-semiotischen Textarbeit und operiert mit vier elementaren Untersuchungsebenen (Ebene der Lexik, Ebene der Syntagmen, Ebene des Satzes bzw. der Äußerungseinheit, Ebene des Textes). In diese Ebenen werden konkretisierte grammatische Kategorien mit besonderem Erkenntnisinteresse der Perspektivität eingebaut. Die beiden Modelle sollten einen Beitrag zur größeren Rechtssicherheit leisten, indem sie aufgrund einer realistischen Rechts- und Sprachwissenschaft juristisch relevante Handlungsmuster und Handlungsstrategien transparent beschreiben, so dass verbessertes Rechtsverständnis und erhöhte Rechtskompetenz zugunsten der Entwicklung des Rechtsstaatssystems gefördert werden können. Darüber hinaus bieten die beiden Modelle ein Spektrum von Untersuchungskategorien an, an denen weitere rechtslinguistische Forschungen zur Optimierung der Rechtssicherheit durch gerechtere Strukturierung von Sprachhandlungen und sprachlichen Argumenten fortgesetzt werden können. These 3: Durch empirische Untersuchung ergibt sich, dass die grundlegenden Sprachhandlungstypen mit differenzierten Subkategorien auf verschiedene Textsorten im Rechtsfindungsverfahren übertragen werden können, wobei die verschiedenen Sprachhandlungstypen bzw. die einzelnen Subkategorien in

241

9.2. Zusammenfassende Thesen

verschiedenen Textsorten in divergierender Ausführlichkeit bzw. Kombination vorkommen. Mit Rücksicht auf die Wechselbeziehung zwischen juristischen Textsorten, grundlegenden Sprachhandlungstypen mit Subkategorien und sprachlich realisierten Perspektivierungen mittels sprachlicher Perspektivierungsmittel kann die Rechtskommunikation im Rechtsfindungsverfahren mit der folgenden Graphik (Schaubild 20) modelliert werden.

Sachverhalte aus dem Wirklichkeitsbereich

Normtexte und andere relevante Rechtstexte Richter

Rechtskommunikation im Rechtsfindungsverfahren Juristische Textsorten

Staatsanwaltschaft

Sprachhandlungstypen mit Subkategorien

Perspektivierungen bzw. Perspektivierungsmittel

Rechtsanwalt

Schaubild 20: Rechtskommunikation im Rechtsfindungsverfahren

Die verschiedenen Rechtsarbeiter (vor allem die Staatsanwaltschaft, der Rechtsanwalt und der Richter) machen in der Rechtskommunikation im Rechtsfindungsverfahren von verschiedenen juristischen Textsorten Gebrauch und vollziehen damit unterschiedliche, den grundlegenden Sprachhandlungstypen zuzuordnende Sprecherhandlungen, wobei sie vor allem mittels einzelner sprachlicher Perspektivierungsmittel unterschiedliche Perspektivierungen zugrunde legen. Dabei werden einerseits Sachverhalte aus dem Wirklichkeitsbereich und andererseits Normtexte bzw. andere relevante Texte durch sprachliche Zubereitung aufeinander zugeschnitten und in Form des Normprogramms und des Normbereichs in den Rechtserzeugungsprozess einbezogen. These 4: Die Strategien der sprachlichen Zubereitung und Perspektivierung können im Grunde genommen wie folgt zugespitzt werden: Selektieren, Verknüpfen, Benennen. Im Rahmen des Sprachhandlungstyps des Sachverhalt-

242

9. Schlusswort

Festsetzens versucht der Rechtsarbeiter aus dem gesamten Tatgeschehen diejenigen Strukturelemente herauszuarbeiten, die dem eigenen Argumentationszweck entsprechen, und sie so zu korrelieren, dass bestimmte Relationen dominant gesetzt werden, aufgrund deren die angestrebten juristischen Wertungen erfolgen können. Dasselbe gilt auch für den Sprachhandlungstyp der Argumentation. Durch bewusstes Selektieren und Verknüpfen setzt sich der Rechtsarbeiter mit den verschiedenen Gesichtspunkten, die als Pro- bzw. Kontra-Argumente fungieren, auseinander und versucht diese so zu perspektivieren, dass sie dem eigenen Argumentationszweck gerecht werden. Besonders ist anzumerken, dass der Rechtsarbeiter mit Verknüpfungszeichen meist nicht oder nicht nur ontisch vorhandene Relationen der realen Welt abbildet, sondern vielmehr eine gezielte Verbindung zugunsten eigenen Perspektivierungszwecks herstellt. Durch unterschiedliches Benennen können juristische Etikettierungen und Wertungen vollzogen werden. These 5: Hinsichtlich der Rechtskommunikation kommt es nicht allein auf die Rechtstermini als solche an. Rechtstermini sollten anstelle der kontextabstrahierten Erforschung in stärkerem Maße hinsichtlich ihrer Semantisierungsprozesse in realen juristischen Diskursen untersucht werden. Insofern kommt es für die Rechtskommunikation vielmehr auf die Einsicht in die prozessualen Handlungsmuster sowie die häufig verwendeten Handlungsstrategien an, die meist hochkomplex sind und durch linguistische Modellierungen erhellt werden sollen. Mit dem Wissen über Erkenntniswert und Potential der Sprache im Rechtsverfahren wird sowohl Rechtsarbeitern als auch Laien ermöglicht, das eher intuitive sprachliche Handeln dadurch zu reflektieren und zu kontrollieren, dass Teilprozesse expliziert und Strategien der Textproduktion bzw. -rezeption bewusst werden.

Literaturverzeichnis 1. Monographien und Aufsätze Adamzik, Kirsten, 2004: Textlinguistik. Eine einführende Darstellung. Tübingen. Albert, Hans/Luhmann, Niklas/Maihofer, Werner/Weinberger, Ota (Hrsg.), 1972: Rechtstheorie als Grundlagentheorie der Rechtswissenschaft. Düsseldorf. Altehenger, Bernhard, 1996: Forensische Texte. Aspekte einer Explikation der im forensischen Diskurs vorkommenden Texte und ihrer Verarbeitung am Beispiel des Zivilprozesses. Hamburg. Baldauf, Christa, 2002: Autorenerkennung im BKA – Linguistik unter Zugzwang? In: HaßZumkehr, Ulrike (Hrsg.), 2002: S. 321–329. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas, 1966/1980: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. (Deutsche Übersetzung von Plessner, Monika). 5. Auflage. Frankfurt am Main. Bix, Brian, 1993: Law, language, and legal determinacy. Oxford. Böke, Karin/Jung, Matthias/Wengeler, Martin (Hrsg.), 1996: Öffentlicher Sprachgebrauch. Praktische, theoretische und historische Perspektiven. Georg Stötzel zum 60. Geburtstag gewidmet. Opladen. Braselmann, Petra, 2002: Gleiches Recht für alle – in allen Sprachen? In: Haß-Zumkehr, Ulrike (Hrsg.), 2002: S. 240–254. Brinckmann, Hans/Grimmer, Klaus (eds.), 1974: Rechtstheorie und Linguistik. Kassel. Brinker, Klaus, 2005: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 6., überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin. Brinker, Klaus/Antos, Gerd/Heinemann, Wolfgang/Sager, Sven F. (Hrsg.), 2000: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbband. Berlin/New York. Bülow, Edeltraud/Schneider, Rolf-Hubert, 1981: Materialien zu einer Bibliographie der Rechtslinguistik. Münster. Burkhardt, Armin, 1996: Das Zitat vor Gericht. Linguistische Anmerkungen zur Rezeption eines denk-würdigen Satzes von Kurt Tucholsky. In: Böke, Karin/Jung, Matthias/Wengeler, Martin (Hrsg.), 1996: S. 138–173. Busse, Dietrich, 1989: Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes? Sprachwissenschaftliche Argumente im Methodenstreit der juristischen Auslegungslehre – linguistisch gesehen. In: Müller, Friedrich (Hrsg.), 1989: S. 93–148. Busse, Dietrich, 1991a: Juristische Fachsprache und öffentlicher Sprachgebrauch. Richterliche Bedeutungsdefinitionen und ihr Einfluß auf die Semantik politischer Begriffe. In: Liedtke, Frank/Wengeler, Martin/Böke, Karin (Hrsg.), 1991: S. 160–185. Busse, Dietrich, 1991b: Angewandte Semantik. Bedeutung als praktisches Problem in didaktischer Perspektive. In: Der Deutschunterricht, 1991: Nr. 43, Heft 5. S. 42–61. Busse, Dietrich, 1992a: Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution. Tübingen. Busse, Dietrich, 1992b: Textinterpretation. Sprachtheoretische Grundlagen einer explikativen Semantik. Opladen. Busse, Dietrich, 1993: Juristische Semantik. Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht. Berlin.

244

Literaturverzeichnis

Busse, Dietrich, 1994: Verständlichkeit von Gesetzestexten – ein Problem der Formulierungstechnik? In: Gesetzgebung heute, 1994: Heft 2. S. 29–47. Busse, Dietrich, 1999: Die juristische Fachsprache als Institutionensprache am Beispiel von Gesetzen und ihrer Auslegung. In: Hoffmann, Lothar/Kalverkämper, Hartwig/Wiegand, Herbert Ernst (Hrsg.), 1999: S. 1382–1391. Busse, Dietrich, 2000a: Textsorten des Bereichs Rechtswesen und Justiz. In: Brinker, Klaus/ Antos, Gerd/Heinemann, Wolfgang/Sager, Sven F. (Hrsg.), 2000: S. 658–675. Busse, Dietrich, 2000b: Textlinguistik und Rechtswissenschaft. In: Brinker, Klaus/Antos, Gerd/Heinemann, Wolfgang/Sager, Sven F. (Hrsg.), 2000: S. 803–811. Busse, Dietrich, 2001: Semantik der Praktiker: Sprache, Bedeutungsexplikation und Textauslegung in der Sicht von Richtern. In: Müller, Friedrich/Wimmer, Rainer (Hrsg.), 2001: S. 45–81. Busse, Dietrich, 2002: Bedeutungsfeststellung, Interpretation, Arbeit mit Texten? Juristische Auslegungstätigkeit in linguistischer Sicht. In: Haß-Zumkehr, Ulrike (Hrsg.), 2002: S. 136–162. Busse, Dietrich, 2005: Ist die Anwendung von Rechtstexten ein Fall von Kommunikation? Rechtslinguistische Überlegungen zur Institutionalität der Arbeit mit Texten im Recht. In: Lerch, Kent D. (Hrsg.), 2005b: S. 23–54. Busse, Dietrich, 2007: Applikationen. Textbedeutung, Textverstehen, Textarbeit (am Beispiel der juristischen Textauslegung). In: Hermanns, Fritz/Holly, Werner (Hrsg.), 2007: S. 101–126. Busse, Dietrich/Hermanns, Fritz/Teubert, Wolfgang (Hrsg.), 1994: Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Opladen. Busse, Dietrich/Niehr, Thomas/Wengeler, Martin (Hrsg.), 2005: Brisante Semantik. Neuere Konzepte und Forschungsergebnisse einer kulturwissenschaftlichen Linguistik. Tübingen. Busse, Dietrich/Teubert, Wolfgang, 1994: Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik. In: Busse, Dietrich/Hermanns, Fritz/ Teubert, Wolfgang (Hrsg.), 1994: S. 10–28. Christensen, Ralph (Hrsg.), 1990: Essais zur Theorie von Recht und Verfassung. Berlin. Christensen, Ralph (Hrsg.), 1997: Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts. Berlin. Christensen, Ralph, 1987: Das Problem des Richterrechts aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 1987: Nr. 73. S. 75–92. Christensen, Ralph, 1988: Gesetzesbindung oder Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft – Eine skeptische Widerrede zur Vorstellung des sprechenden Textes. In: Mellinghoff, Rudolf/Trute, Hans-Heinrich (Hrsg.), 1988: S. 95–126. Christensen, Ralph, 1989a: Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung. Berlin. Christensen, Ralph, 1989b: Der Richter als Mund des sprechenden Textes. Zur Kritik des gesetzespositivistischen Textmodells. In: Müller, Friedrich (Hrsg.), 1989: S. 47–91. Christensen, Ralph/Jeand’Heur, Bernd, 1989: Themen einer problembezogenen Zusammenarbeit zwischen Rechtstheorie und Linguistik. In: Müller, Friedrich (Hrsg.), 1989: S. 9–12. Christensen, Ralph/Sokolowski, Michael, 2001: Die Bedeutung von Gewalt und die Gewalt von Bedeutung. In: Müller, Friedrich/Wimmer, Rainer (Hrsg.), 2001: S. 203–231. Christensen, Ralph/Sokolowski, Michael, 2005: „Die Worte hör ich wohl…“ – Die Linguistik des juristischen Wortlautarguments. In: Busse, Dietrich/Niehr, Thomas/Wengeler, Martin (Hrsg.), 2005: S. 87–102. Coseriu, Eugenio, 2007: Textlinguistik. Eine Einführung. 4. Auflage. Tübingen. Daum, Ulrich, 1981: Rechtssprache – eine genormte Fachsprache? In: Radtke, Ingulf (bearb.), 1981: S. 83–99. Eisenberg, Peter, 2006: Der Satz. Grundriss der deutschen Grammatik. Band 2. 3., durchgesehene Auflage. Stuttgart/Weimar. Eisenberg, Peter/Klotz, Peter (Hrsg.), 1993: Sprache gebrauchen – Sprachwissen erwerben. Stuttgart/Düsseldorf/Berlin/Leipzig.

1. Monographien und Aufsätze

245

Felder, Ekkehard, 2001: Sprachliche Argumente in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als fachdomänenspezifische und allgemeine Sprachgebrauchstopoi. In: Müller, Friedrich/Wimmer, Rainer (Hrsg.), 2001: S. 85–118. Felder, Ekkehard, 2003a: Juristische Textarbeit im Spiegel der Öffentlichkeit. Berlin/New York. Felder, Ekkehard, 2003b: Juristische Sprachnormierungskonflikte in Sitzblockadenentscheidungen. In: Linguistische Berichte, 2003: Heft 194. S. 153–182. Felder, Ekkehard, 2005a: Alltagsweltliche und juristische Wirklichkeitskonstitution im Modell der „Juristischen Textarbeit“. Ein sprachhandlungstheoretischer Beitrag zur Kommunikation im Recht. In: Lerch, Kent D. (Hrsg.), 2005b: S. 133–168. Felder, Ekkehard, 2005b: Grenzen der Sprache im Spiegel von Gesetzestext und Rechtsprechung. In: Kilian, Jörg (Hrsg.), 2005: S. 99–113. Felder, Ekkehard, 2006a: Semantische Kämpfe in Wissensdomänen. Eine Einführung in Benennungs-, Bedeutungs- und Sachverhaltsfi xierungs-Konkurrenzen. In: Felder, Ekkehard (Hrsg.), 2006c: S. 13–46. Felder, Ekkehard, 2006b: Form-Funktions-Analyse von Modalitätsaspekten zur Beschreibung von Geltungsansprüchen in politischen Reden. In: Scherner, Maximilian/Ziegler, Arne (Hrsg.), 2006: S. 157–178. Felder, Ekkehard (Hrsg.), 2006c: Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin/New York. Felder, Ekkehard, 2007: Text-Bild-Hermeneutik. Die Zeitgebundenheit des Bild-Verstehens am Beispiel der Medienberichterstattung. In: Hermanns, Fritz/Holly, Werner (Hrsg.), 2007: S. 357–385. Felder, Ekkehard, 2009a: Das Forschungsnetzwerk „Sprache und Wissen“ – Zielsetzung und Inhalte. In: Felder, Ekkehard/Müller, Marcus (Hrsg.), 2009: S. 11–18. Felder, Ekkehard, 2009b: Sprache – das Tor zur Welt!? Perspektiven und Tendenzen in sprachlichen Äußerungen. In: Felder, Ekkehard (Hrsg.), 2009c: S. 13–57. Felder, Ekkehard (Hrsg.), 2009c: Sprache. Berlin/Heidelberg. Felder, Ekkehard, 2010: Semantische Kämpfe – Die Macht des Deklarativen in Fachdiskursen. In: Fuchs, Thomas/Schwarzkopf, Grit (Hrsg.), 2010: S. 13–59. Felder, Ekkehard, 2011: Pragma-semiotische Textarbeit und der hermeneutische Nutzen von Korpusanalysen für die linguistische Mediendiskursanalyse. In: Felder, Ekkehard/Müller, Marcus/Vogel, Friedemann (Hrsg.), 2011. Felder, Ekkehard/Müller, Marcus (Hrsg.), 2009: Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes „Sprache und Wissen“. Berlin/New York. Felder, Ekkehard/Müller, Marcus/Vogel, Friedemann (Hrsg.), 2011: Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen. Berlin/New York. Freyermuth, Gundolf S., 2006: Internetbasierte Kommunikation und ihre Auswirkungen auf die soziale Kommunikation. In: Schlobinski, Peter (Hrsg.), 2006b: S. 9–25. Frilling, Sabine, 1995: Textsorten in juristischen Fachzeitschriften. Münster/New York. Fuchs, Thomas/Schwarzkopf, Grit (Hrsg.), 2010: Verantwortlichkeit – nur eine Illusion? Heidelberg. Gansel, Christina/Jürgens, Frank, 2007: Textlinguistik und Textgrammatik. Eine Einführung. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage. Göttingen. Gibbons, John, 2003: Forensic linguistics. An introduction to language in the justice system. Malden. Grasnick, Walter, 2001: Entscheidungsgründe als Textcollage. In: Müller, Friedrich/Wimmer, Rainer (Hrsg.), 2001: S. 27–44. Grewendorf, Günther (Hrsg.), 1992: Rechtskultur als Sprachkultur. Zur forensischen Funktion der Sprachanalyse. Frankfurt am Main. Große, Rudolf (Hrsg.), 1990: Sprache in der sozialen und kulturellen Entwicklung. Beiträge eines Kolloquiums zu Ehren von Theodor Frings (1886–1968). Berlin. Haß-Zumkehr, Ulrike (Hrsg.), 2002: Sprache und Recht. Berlin/New York. Heinemann, Wolfgang/Viehweger, Dieter, 1991: Textlinguistik. Eine Einführung. Tübingen. Herbermann, Clemens-Peter, 1995: Gebrauchsvielfalt, Mehrdeutigkeit und Bedeutungszusam-

246

Literaturverzeichnis

menhang bei lexikalischen Einheiten. In: Hindelang, Götz/Rolf, Eckard/Zillig, Werner (Hrsg.), 1995: S. 147–175. Heringer, Hans Jürgen, 1974: Praktische Semantik. Stuttgart. Heringer, Hans Jürgen/Öhlschläger, Günther/Strecker, Bruno/Wimmer, Rainer, 1977: Einführung in die praktische Semantik. Heidelberg. Hermanns, Fritz/Holly, Werner (Hrsg.), 2007: Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens. Tübingen. Hindelang, Götz/Rolf, Eckard/Zillig, Werner (Hrsg.), 1995: Der Gebrauch der Sprache. Festschrift für Franz Hundsnurscher zum 60. Geburtstag. Münster. Hoffmann, Lothar, 1976: Kommunikationsmittel Fachsprache. Eine Einführung. Berlin. Hoffmann, Lothar/Kalverkämper, Hartwig/Wiegand, Herbert Ernst (Hrsg.), 1998: Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. 1. Halbband. Berlin/New York. Hoffmann, Lothar/Kalverkämper, Hartwig/Wiegand, Herbert Ernst (Hrsg.), 1999: Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. 2. Halbband. Berlin/New York. Hoffmann, Ludger, 1983: Kommunikation vor Gericht. Tübingen. Hoffmann, Ludger, 1989a: Verstehensprobleme in der Strafverhandlung. In: Hoffmann, Ludger (Hrsg.), 1989b: S. 165–195. Hoffmann, Ludger (Hrsg.), 1989b: Rechtsdiskurse. Untersuchungen zur Kommunikation in Gerichtsverfahren. Tübingen. Hoffmann, Ludger, 1991: Vom Ereignis zum Fall. Sprachliche Muster zur Darstellung und Überprüfung von Sachverhalten vor Gericht. In: Schönert, Jörg (Hrsg.), 1991: S. 87–113. Jeand’Heur, Bernd, 1989a: Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit. Berlin. Jeand’Heur, Bernd, 1989b: Gemeinsame Probleme der Sprach- und Rechtswissenschaft aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre. In: Müller, Friedrich (Hrsg.), 1989: S. 17–26. Jeand’Heur, Bernd, 1989c: Der Normtext: Schwer von Begriff oder Über das Suchen und Finden von Begriffsmerkmalen. Einige Bemerkungen zum Referenzverhältnis von Normtext und Sachverhalt. In: Müller, Friedrich (Hrsg.), 1989: S. 149–187. Jeand’Heur, Bernd, 1998: Die neuere Fachsprache der juristischen Wissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Verfassungsrecht und Rechtsmethodik. In: Hoffmann, Lothar/Kalverkämper, Hartwig/Wiegand, Herbert Ernst (Hrsg.), 1998: S. 1286–1295. Joachimski, Jupp/Haumer, Christine, 2002: Betäubungsmittelgesetz. 7. Auflage. Stuttgart/München/Hannover/Berlin/Weimar/Dresden. Jung, Matthias, 2005: Diskurshistorische Analyse – eine linguistische Perspektive. In: Wengeler, Martin (Hrsg.), 2005b: S. 165–193. Kilian, Jörg (Hrsg.), 2005: Sprache und Politik. Deutsch im demokratischen Staat. Mannheim/ Leipzig/Wien/Zürich. Kniffka, Hannes, 1992: Sprachwissenschaftliche Hilfe bei der Täterermittlung. In: Grewendorf, Günther (Hrsg.), 1992: S. 157–193. Köller, Wilhelm, 1993: Perspektivität in Bildern und Sprachsystemen. In: Eisenberg, Peter/ Klotz, Peter (Hrsg.), 1993: S. 15–34. Köller, Wilhelm, 1995: Modalität als sprachliches Grundphänomen. In: Der Deutschunterricht, 1995: Nr. 47, Heft 4. S. 37–50. Köller, Wilhelm, 1997: Funktionaler Grammatikunterricht. Tempus, Genus, Modus: wozu wurde das erfunden? Baltmannsweiler. Köller, Wilhelm, 2004: Perspektivität und Sprache. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache. Berlin/New York. Körner, Harald Hans, 1985: Betäubungsmittelgesetz. 2., neubearbeitete Auflage. München. Körner, Harald Hans, 2001: Betäubungsmittelgesetz. 5., neubearbeitete Auflage. München. Kudlich, Hans/Christensen, Ralph/Sokolowski, Michael, 2007: Zauberpilze und Cybernau-

1. Monographien und Aufsätze

247

ten – oder: Macht Sprache aus Pilzen Pflanzen? Überlegungen zu BGH 1 StR 384/06 v. 25.10.2006 aus rechtslinguistischer Sicht. In: Müller, Friedrich (Hrsg.), 2007b: S. 119–133. Kutschera, Franz von, 1975: Sprachphilosophie. 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. München. Lerch, Kent D. (Hrsg.), 2004: Recht verstehen. Verständlichkeit, Missverständlichkeit und Unverständlichkeit von Recht. Berlin/New York. Lerch, Kent D. (Hrsg.), 2005a: Recht verhandeln. Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts. Berlin/New York. Lerch, Kent D. (Hrsg.), 2005b: Recht vermitteln. Strukturen, Formen und Medien der Kommunikation im Recht. Berlin/New York. Li, Jing, 2009: Empirische Untersuchung zum Exaktheitspostulat der Rechtssprache – exemplarisch an Begriffen aus dem deutschen Strafrecht. In: ljᗧ᜿ᘇ᮷ॆ⹄ウNJ(Studien zu deutschen Kulturen), 2009: Nr. 4. S. 146–158. Liedtke, Frank/Wengeler, Martin/Böke, Karin (Hrsg.), 1991: Begriffe besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik. Opladen. Linke, Angelika/Nussbaumer, Markus/Portmann, Paul R., 2004: Studienbuch Linguistik. 5., erweiterte Auflage. Tübingen. Lipold, Günter, 1992: Am Telephon: der Täter. Möglichkeiten der linguistischen Sprecheridentifizierung. In: Grewendorf, Günther (Hrsg.), 1992: S. 207–229. Liptow, Jasper, 2004: Regel und Interpretation. Eine Untersuchung zur sozialen Struktur sprachlicher Praxis. Weilerswist. Löffler, Heinrich, 2005: Germanistische Soziolinguistik. 3., überarbeitete Auflage. Berlin. Lyotard, Jean-François, 1986: Das postmoderne Wissen. Wien. Lyotard, Jean-François, 1987: Der Widerstreit. München. Luttermann, Karin, 1996: Gesprächsanalytisches Integrationsmodell am Beispiel der Strafgerichtsbarkeit. Münster. Mellinghoff, Rudolf/Trute, Hans-Heinrich (Hrsg.), 1988: Die Leistungsfähigkeit des Rechts. Methodik, Gentechnologie, internationales Verwaltungsrecht. Heidelberg. Mentrup, Wolfgang (Hrsg.), 1979: Fachsprachen und Gemeinsprache. Düsseldorf. Menzel, Jörg (Hrsg.), 2000: Verfassungsrechtsprechung. Hundert Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive. Tübingen. Müller, Friedrich (Hrsg.), 1989: Untersuchungen zur Rechtslinguistik. Interdisziplinäre Studien zu praktischer Semantik und Strukturierender Rechtslehre in Grundfragen der juristischen Methodik. Berlin. Müller, Friedrich, 1994: Strukturierende Rechtslehre. 2., vollständig neu bearbeitete und auf neuestem Stand ergänzte Auflage. Berlin. Müller, Friedrich, 2007a: Sprachen des Rechts. Überblick über eine Entwicklung in der Rechtstheorie. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 2007: Band 92/2. S. 270–293. Müller, Friedrich (Hrsg.), 2007b: Politik, (neue) Medien und die Sprache des Rechts. Berlin. Müller, Friedrich, 2008: Recht – Sprache – Gewalt. Elemente einer Verfassungstheorie I. 2., bearbeitete und stark erweiterte Auflage. Berlin. Müller, Friedrich/Burr, Isolde (Hrsg.), 2004: Rechtssprache Europas. Reflexion der Praxis von Sprache und Mehrsprachigkeit im supranationalen Recht. Berlin. Müller, Friedrich/Christensen, Ralph, 1997: Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre. In: Christensen, Ralph (Hrsg.), 1997: S. 71–92. Müller, Friedrich/Christensen, Ralph, 2004: Juristische Methodik. Band I. Grundlagen Öffentliches Recht. 9., neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage. Berlin. Müller, Friedrich/Christensen, Ralph/Sokolowski, Michael, 1997: Rechtstext und Textarbeit. Berlin. Müller, Friedrich/Wimmer, Rainer (Hrsg.), 2001: Neue Studien zur Rechtslinguistik: dem Gedenken an Bernd Jeand’Heur. Berlin. Neumann, Ulfrid, 1992: Juristische Fachsprache und Umgangssprache. In: Grewendorf, Günther (Hrsg.), 1992: S. 110–121.

248

Literaturverzeichnis

Nussbaumer, Markus, 1997: Sprache und Recht. Heidelberg. Oksaar, Els, 1979: Sprachliche Mittel in der Kommunikation zwischen Fachleuten und zwischen Fachleuten und Laien im Bereich des Rechtswesens. In: Mentrup, Wolfgang (Hrsg.), 1979: S. 100–113. Polenz, Peter von, 1988: Deutsche Satzsemantik: Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. 2., durchgesehene Auflage. Berlin/New York. Putnam, Hilary, 1975: Mind, language and reality. Cambridge. Radtke, Ingulf (bearb.), 1981: Die Sprache des Rechts und der Verwaltung. Stuttgart. Raible, Wolfgang (Hrsg.), 1991: Symbolische Formen, Medien, Identität. Tübingen. Rathert, Monika, 2006: Sprache und Recht. Heidelberg. Rave, Dieter/Brinckmann, Hans/Grimmer, Klaus (eds.), 1971a: Logische Struktur von Normsystemen am Beispiel der Rechtsordnung. Darmstadt. Rave, Dieter/Brinckmann, Hans/Grimmer, Klaus (eds.), 1971b: Paraphrasen juristischer Texte. Darmstadt. Rave, Dieter/Brinckmann, Hans/Grimmer, Klaus (eds.), 1972: Syntax und Semantik juristischer Texte. Darmstadt. Reitemeier, Ulrich, 1985: Studien zur juristischen Kommunikation. Eine kommentierte Bibliographie. Tübingen. Roelcke, Thorsten, 1999: Fachsprachen. Berlin. Rolf, Eckard, 1997: Illokutionäre Kräfte. Grundbegriffe der Illokutionslogik. Opladen. Sander, Gerald G., 2004: Deutsche Rechtssprache. Ein Arbeitsbuch. Tübingen/Basel. Scherer, Carmen, 2006: Korpuslinguistik. Heidelberg. Scherner, Maximilian/Ziegler, Arne (Hrsg.), 2006: Angewandte Textlinguistik. Perspektiven für den Deutsch- und Fremdsprachenunterricht. Tübingen. Schlobinski, Peter, 2006a: Die Bedeutung digitalisierter Kommunikation für Sprach- und Kommunikationsgemeinschaften. In: Schlobinski, Peter (Hrsg.), 2006b: S. 26–37. Schlobinski, Peter (Hrsg.), 2006b: Von *hdl* bis *cul8r*. Sprache und Kommunikation in den neuen Medien. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich. Schmidt, Jürgen, 1972: Einige Bemerkungen zur Präzision der Rechtssprache. In: Albert, Hans/Luhmann, Niklas/Maihofer, Werner/Weinberger, Ota (Hrsg.), 1972: S. 390–437. Schönert, Jörg (Hrsg.), 1991: Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Vorträge zu einem interdisziplinären Kolloquium, Hamburg, 10. – 12. April 1985. Tübingen. Schroth, Ulrich, 1992: Präzision im Strafrecht. Zur Deutung des Bestimmtheitsgebots. In: Grewendorf, Günther (Hrsg.), 1992: S. 93–109. Seibert, Thomas-Michael, 1981: Aktenanalysen. Zur Schriftform juristischer Deutungen. Tübingen. Simon, Heike/Funk-Baker, Gisela, 2009: Einführung in das deutsche Recht und die deutsche Rechtssprache. 4., neubearbeitete Auflage. München. Spranger, Tade Matthias, 2000: BVerfGE 93, 266ff. – Soldaten sind Mörder. Zur Bedeutung der Meinungsfreiheit für die strafgerichtliche Verurteilung wegen der Aussage „Soldaten sind Mörder“. In: Menzel, Jörg (Hrsg.), 2000: S. 592–598. Steger, Hugo, 1988: Erscheinungsformen der deutschen Sprache. ‚Alltagssprache‘ – ‚Fachsprache‘ – ‚Standardsprache‘ – ‚Dialekt‘ und andere Gliederungstermini. In: Deutsche Sprache. Zeitschrift für Theorie, Praxis, Dokumentation, 1988: 16. Jg., Heft 16. S. 289–319. Steger, Hugo, 1990: Über Sprachvarietäten und Existenzformen der Sprache. In: Große, Rudolf (Hrsg.), 1990: S. 39–50. Steger, Hugo, 1991: Alltagssprache. Zur Frage nach ihrem besonderen Status in medialer und semantischer Hinsicht. In: Raible, Wolfgang (Hrsg.), 1991: S. 55–112. Steyer, Kathrin, 1994: Reformulierungen. Zur Vernetzung von Äußerungen im Ost-West-Diskurs. In: Busse, Dietrich/Hermanns, Fritz/Teubert, Wolfgang (Hrsg.), 1994: S. 143–160. Steyer, Kathrin, 1997: Reformulierungen. Sprachliche Relationen zwischen Äußerungen und Texten im öffentlichen Diskurs. Tübingen.

1. Monographien und Aufsätze

249

Stickel, Gerhard (Hrsg.), 1990: Deutsche Gegenwartssprache: Tendenzen und Perspektiven. Berlin/New York. Stickel, Gerhard, 2002: Vorbemerkungen über Sprache und Recht. In: Haß-Zumkehr, Ulrike (Hrsg.), 2002: S. 1–6. Stötzel, Georg, 1990: Semantische Kämpfe im öffentlichen Sprachgebrauch. In: Stickel, Gerhard (Hrsg.), 1990: S. 45–65. Vater, Heinz, 2001: Einführung in die Textlinguistik. 3., überarbeitete Auflage. München. Warnke, Ingo H., 2007a: Diskurslinguistik nach Foucault – Dimensionen einer Sprachwissenschaft jenseits textueller Grenzen. In: Warnke, Ingo H. (Hrsg.), 2007b: S. 3–24. Warnke, Ingo H. (Hrsg.), 2007b: Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände. Berlin/New York. Warnke, Ingo H., 2009: Die sprachliche Konstituierung von geteiltem Wissen in Diskursen. In: Felder, Ekkehard/Müller, Marcus (Hrsg.), 2009: S. 113–140. Warnke, Ingo H./Spitzmüller, Jürgen, 2008a: Methoden und Methodologie der Diskurslinguistik – Grundlagen und Verfahren einer Sprachwissenschaft jenseits textueller Grenzen. In: Warnke, Ingo H./Spitzmüller, Jürgen (Hrsg.), 2008b: S. 3–54. Warnke, Ingo H./Spitzmüller, Jürgen (Hrsg.), 2008b: Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene. Berlin/New York. Weber, Klaus, 2003: Betäubungsmittelgesetz. Verordnungen zum BtMG. Kommentar. 2., neu bearbeitete Auflage. München. Weinrich, Harald, 2003: Textgrammatik der deutschen Sprache. 2., revidierte Auflage. Hildesheim/Zürich/New York. Wengeler, Martin, 2005a: „Streit um Worte“ und „Begriffe besetzen“ als Indizien demokratischer Streitkultur. In: Kilian, Jörg (Hrsg.), 2005: S. 177–194. Wengeler, Martin (Hrsg.), 2005b: Sprachgeschichte als Zeitgeschichte. Hildesheim/Zürich/New York. Wessels, Johannes, 1996: Strafrecht, allgemeiner Teil: die Straftat und ihr Aufbau. 26., neubearbeitete Auflage. Heidelberg. Whorf, Benjamin Lee, 1963: Sprache, Denken, Wirklichkeit. Reinbek bei Hamburg. Wimmer, Rainer (Hrsg.), 1998: Sprache und Recht. Themenheft 81 der Reihe „Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht“. Paderborn/München. Wimmer, Rainer, 1979: Referenzsemantik. Untersuchungen zur Festlegung von Bezeichnungsfunktionen sprachlicher Ausdrücke am Beispiel des Deutschen. Tübingen. Wimmer, Rainer/Christensen, Ralph, 1989: Praktisch-semantische Probleme zwischen Linguistik und Rechtstheorie. In: Müller, Friedrich (Hrsg.), 1989: S. 27–46. ᶌ䠁ῌˈ2001˖“Ӿ⌅ᖻ䈝䀰Ⲵ⁑㋺ᙗࡠਨ⌅㔃᷌Ⲵ⺞ᇊᙗ”DŽ䖭˖ lj⧠ԓཆ䈝NJˈ2001˖ㅜ24 ধㅜ3ᵏDŽ305–310亥DŽ ᶌ䠁ῌˈ2003˖“䇪⌅ᖻ䈝䀰ᆖ⹄ウ৺ަਁኅ”DŽ䖭˖ ljᒯьཆ䈝ཆ䍨བྷᆖᆖᣕNJˈ2003˖ㅜ14 ধㅜ1ᵏDŽ14–22亥DŽ ᶌ䠁ῌˈ2004˖ lj⌅ᖻ䈝䀰ᆖNJDŽк⎧ཆ䈝ᮉ㛢ࠪ⡸⽮DŽ ᶌ䠁ῌˈ2009˖“Ӿ⌅ᓝ䰞ㆄⲴ࣏㜭ⴻᓝᇑ਴ᯩӔ䱵ⴞḷⲴᇎ⧠”DŽ䖭˖ lj⧠ԓཆ䈝NJˈ2009˖ ㅜ32ধㅜ4ᵏDŽ360–368亥DŽ 㪋Ӂ䬻/ᶌ䠁ῌˈ2005˖“⌅ᓝ䰞䈍ѝⲴ䈍仈᧗ࡦоؑ᚟㧧ਆ”DŽ䖭˖ ljኡьཆ䈝ᮉᆖNJˈ2005˖ ㅜ6ᵏDŽ42–44亥DŽ 㜑㤳䬨ˈ2005˖“สҾ“䀰䈝㹼Ѫ࠶᷀”Ⲵ⌅ᖻ䈝䀰⹄ウ”DŽ䖭˖ ljॾьᐸ㤳བྷᆖᆖᣕNJˈ2005˖ ㅜ37ধㅜ1ᵏDŽ87–93亥DŽ 㜑㤳䬨ˈ2006˖“ѝഭ⌅ᖻ䀰䈝㹼Ѫ⹄ウⲴ㤕ᒢ䰞仈”DŽ䖭˖ lj‫؞‬䗎ᆖҐNJˈ2006˖ㅜ4ᵏDŽ1–7 亥DŽ 哴ส䗵ˈ2002˖lj⌅ᖻ䀰䈝㹼Ѫ——⌅ᖻ䈝䀰ᯭѪᙗ㹼Ѫ৺⌅ᖻ䈝ㇷㇷㄐ䈝⭘࠶᷀NJ  ˄Legal Speech Acts – Analysis of performative verbs and intertextual devices in legal discourse˅DŽ ˄к⎧⎧䘀ᆖ䲒⺅༛䇪᮷৏は˅DŽ ဌࢁӁˈ1995˖ lj⌅ᖻ䈝䀰о䀰䈝⹄ウNJDŽेӜ㗔Շࠪ⡸⽮DŽ

250

Literaturverzeichnis

ᵾ႗ˈ2005˖ lj⌅ᖻ䈝䀰ѝⲴ⁑㋺ᙗо㋮⺞ᙗ— —у⭘䈝⹄ウ䀂ᓖлⲴ䈝ѹ࠶᷀NJˈ ˄Vagheit und Exaktheit in der Rechtssprache. Semantische Analyse unter fachsprachlichem Forschungsaspekt.˅DŽ ˄ेӜཆഭ䈝བྷᆖ⺅༛䇪᮷৏は˅DŽ ᵾᥟᆷˈ2006˖ lj⌅ᖻ䈝䀰ᆖᯠ䈤NJDŽेӜѝഭỰሏࠪ⡸⽮DŽ ằ䮋/䫡᭿⊍ˈ1991˖“у⭘䈝⹄ウѝⲴࠐњѫ㾱⨶䇪䰞仈”DŽ䖭˖ ljഭཆ䈝䀰ᆖNJˈ1991˖ㅜ1 ᵏDŽ34–40亥DŽ ࡈ㓒Ⴄˈ2003˖ lj⌅ᖻ䈝䀰ᆖNJDŽेӜेӜབྷᆖࠪ⡸⽮DŽ ࡈ㭊䬝ˈ2003a˖ lj⌅ᖻ䈝䀰ᆖ⹄ウNJDŽेӜѝഭ㓿⍾ࠪ⡸⽮DŽ ࡈ㭊䬝ˈ2003b˖“⌅ᖻ䈝䀰Ⲵ⁑㋺ᙗ˖ᙗ䍘оᡀഐ࠶᷀”DŽ䖭˖ lj㾯ᆹཆഭ䈝ᆖ䲒ᆖᣕNJ, 2003˖ㅜ11ধㅜ2ᵏDŽ31–34亥DŽ ࡈ㭊䬝ˈ2009˖“䈝䀰䇱ᦞ㤳⮤лⲴ⌅ᖻ䈝䀰ᆖ⹄ウ”DŽ䖭˖ ljᒯьཆ䈝ཆ䍨བྷᆖᆖᣕNJˈ2009 ˖ㅜ20ধㅜ1ᵏDŽ68–72亥DŽ Ⳟ㢣⧢ˈ2008˖ lj㤡䈝⌅ᖻ䈝ㇷѝⲴ䀰䈝㹼ѪNJˈ ˄The speech acts in english legal texts˅DŽ  ˄㾯ই᭯⌅བྷᆖ⺅༛䇪᮷৏は˅DŽ 䫡᭿⊍ˈ2001˖ ljㇷㄐ䈝⭘ᆖᾲ䇪NJDŽेӜཆ䈝ᮉᆖо⹄ウࠪ⡸⽮DŽ 䫡᭿⊍/ằ䮋ˈ1990˖“у⭘䈝⹄ウⲴਁኅ઼⧠⣦”DŽ䖭˖ ljഭཆ䈝䀰ᆖNJˈ1990˖ㅜ3ᵏDŽ35–40 亥DŽ ᆻेᒣˈ2009˖“ᡁഭ⌅ᖻ䈝䀰⹄ウⲴ䗷৫ǃ⧠൘઼ሶᶕ”DŽ䖭˖ lj⌅ᆖᵲᘇNJˈ2009˖ㅜ2 ᵏDŽ30–33亥DŽ ⦻䬝⦹˄ѫ㕆˅ˈ1999˖ lj䗸ੁ21ц㓚Ⲵ䈝䀰о᮷ॆNJDŽेӜߋһ䈺᮷ࠪ⡸⽮DŽ ੤Տᒣˈ2002a˖ lj䈝䀰о⌅ᖻ——ਨ⌅亶ฏⲴ䈝䀰ᆖ⹄ウNJDŽк⎧ཆ䈝ᮉ㛢ࠪ⡸⽮DŽ ੤Տᒣˈ2002b˖“⌅ᖻ䈝䀰ᆖⲴ⹄ウᯩ⌅”DŽ䖭˖ ljᖃԓ䈝䀰ᆖNJˈ2002˖ㅜ1ᵏDŽ38–45亥DŽ ઘᏽ䴟ˈ2005˖ lj䈅⭘࣏㜭䈝⌅࠶᷀⌅ᖻ㤡䈝ㇷㄐ઼䀰䈝㹼ѪNJˈ ˄Analysis on legal english text and speech acts by functional grammar˅DŽ ˄к⎧⎧һབྷᆖ⺅༛䇪᮷৏は˅DŽ ᵡሿᆹˈ1999˖“䈍䈝࠶᷀Ⲵ⹄ウ⧠⣦৺ਁኅ䎻࣯”DŽ䖭˖⦻䬝⦹˄ѫ㕆˅ˈ1999˖68–81亥DŽ

2. Wörterbücher, Gesetzestexte und andere Dokumente Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG, 2009. URL: http://www.gesetze-im-internet.de/btmg_1981/ BJNR106810981.html (letzter Zugriff: 2010–11–25). Bundesrat, 1997: Drucksache 881/97. Bonn. Bundesrat, 2001: Drucksache 252/01. Bonn. Bundesrat, 2004: Drucksache 958/04. Köln. Bußmann, Hadumod, 2002: Lexikon der Sprachwissenschaft. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart. CAM (Coördinatiepunt Assessment en Monitoring nieuwe drugs), 2000: Risikoeinschätzungsbericht über Zauberpilze (Psilocin und Psilocybin). (Deutsche Übersetzung von Schlesinger, David). URL: http:// http://www.freedavid.org/content/CAM_de.pdf (letzter Zugriff: 2010–11–25). Duden – Die Grammatik, 2006. 7., völlig neu erarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim/ Leipzig/Wien/Zürich. EG-Vertrag, 2007. URL: http://dejure.org/gesetze/EG (letzter Zugriff: 2010–11–25). Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 2009. URL: http://www.gesetze-im-internet. de/bundesrecht/gg/gesamt.pdf (letzter Zugriff: 2010–11–25). Rechtswörterbuch, 2007. 19., neu bearbeitete Auflage. München. Strafgesetzbuch, 2007. 43. Auflage. München.

Anhang 1: Abkürzungsverzeichnis Abs.

Absatz

AG

Amtsgericht

Art.

Artikel

Az.

Aktenzeichen

BGBl

Bundesgesetzblatt

BGH

Bundesgerichtshof

BtMÄndV Betäubungsmittelrechts-Änderungsverordnung BtMG

Betäubungsmittelgesetz

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

LG

Landgericht

OLG

Oberlandesgericht

StGB

Strafgesetzbuch

StPO

Strafprozessordnung

Anhang 2: Detaillierter Bestand des Textkorpus Rechtsfall 1

Rechtsfall 2

Rechtsfall 3

Rechtsfall 4

Rechtsfall 5

Rechtsfall 6

rf1-1-as

rf2-1-as

rf3-1-as1

rf4-1-as

rf5-1-as

rf6-1-as

rf1-1-pro

rf2-1-ss1

rf3-1-as2

rf4-1-doc1

rf5-1-ur

rf6-2-pro

rf1-1-ur

rf2-1-ss2

rf3-1-doc1

rf4-1-doc2

rf1-2-re

rf2-1-ur

rf3-1-doc2

rf4-1-ss1

rf1-2-bes

rf2-2-ber1

rf3-1-doc3

rf4-1-ss2

rf2-2-ber2

rf3-1-doc4

rf4-1-ss3

rf2-2-pro

rf3-1-doc5

rf4-1-ss4

rf2-2-ss3

rf3-1-doc6

rf4-1-pro

rf2-2-ss4

rf3-1-ss1

rf4-1-ur

rf2-2-ss5

rf3-1-ss2

rf4-2-re1

rf2-2-ur

rf3-1-ss3

rf4-2-re2

rf2-3-re

rf3-1-ss4

rf4-2-re3

rf2-3-ss6

rf3-1-ss5

rf4-2-ss5

rf2-3-ur

rf3-1-ss6

rf4-2-ss6

rf3-1-ss7

rf4-2-ss7

rf3-1-ss8

rf4-2-ss8

rf3-1-ss9

rf4-2-ss9

rf3-1-ss10

rf4-2-ss10

rf3-1-ss11

rf4-2-pro

rf3-1-ss12

rf4-2-ur

rf3-1-ss13

rf4-3-pro

rf3-1-ur

rf4-3-ur

rf3-2-re rf3-2-ss14 rf3-2-ss15 rf3-2-ss16 rf3-2-ur

rf6-3-bes