Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit: Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799 [Reprint 2020 ed.] 9783110884029, 9783110145953

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Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit: Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799 [Reprint 2020 ed.]
 9783110884029, 9783110145953

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Bernd Oberdorfer Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit

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Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer • W. Härle • H.-P. Müller

Band 69

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1995

Bernd Oberdorfer

Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1995

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Oberdorfer, Bernd: Geselligkeit und Realisierung von Sitdichkeit : die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799 / Bernd Oberdorfer. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1995 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 69) Zugl.: München, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-11-014595-2 NE: GT

ISSN 0934-2575 © Copyright 1995 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Meinen fernen

Töchtern

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Sommersemester 1993 von der EvangelischTheologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen worden. Sie wurde für den Druck leicht überarbeitet. Ich habe vielfaltigen Anlaß zu danken. Herr Prof. Dr. Jan Röhls hat das Entstehen der Arbeit mit wachem Interesse und steter, völlig unkomplizierter, herzlicher Gesprächsbereitschaft begleitet; er hat auch das Erstgutachten erstellt. Herr Prof. Dr. Trutz Rendtorff hat freundlicherweise das Zweitreferat übernommen. Herr Prof. Dr. Gunther Wenz bot mir als seinem Wissenschaftlichen Mitarbeiter an der Universität Augsburg die denkbar besten Arbeitsbedingungen; sein Vertrauen und seinen freundschaftlichen Umgang empfand ich immer als Glücksfall im Wissenschaftsbetrieb. Herr Prof. Dr. Dr. Michael Welker hat fast seit Beginn meines Studiums meinen theologischen Weg in vielfältiger Weise gefördert. Er hat mich in meinem Interesse am jungen Schleiermacher bestärkt und das Wachsen der Arbeit mit Anteilnahme verfolgt. Allen Genannten danke ich von Herzen. Sehr dankbar bin ich den Herausgebern der Theologischen Bibliothek Töpelmann für die Aufnahme in diese Reihe und dem Verlag Walter de Gruyter für die freundliche Betreuung. Die wirklichen Mühen des Korrekturlesens haben auf sich genommen die Heidelberger Kollegin Dr. Sigrid Brandt und die Augsburger Studentischen Hilfskräfte Claudia Dunckern, Angela Nüsseier und Stefan Dieter. Ich danke ihnen herzlich. Kurt Zauner hat mich in Fragen des Schleiermacherschen Lateins beraten. Auch Dr. Alexander Keyserlingk danke ich für seine Hilfe. Der Freistaat Bayern hat mir durch großzügige Stipendien eine finanziell sorgenfreie Studien- und Promotionszeit ermöglicht. Stellvertretend sei hierfür den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Stipendienreferats der Universität München Dank gesagt. Gewidmet ist das Buch zwei jungen Nachfahrinnen Schleiermachers. Augsburg, im September 1994

Bernd Oberdorfer

Inhaltsverzeichnis Vorwort Einführung

ERSTER TEIL: FREUNDSCHAFT Erstes Kapitel: Fragilität und Kontinuierung: Ansätze zur Formierung von Theorie in den Anmerkungen zur Freundschaftslehre des Aristoteles Einleitung 1.

Empfindung, Pflicht und Freundschaft (Anmerkung 1 und 2 ) . . . .

1.1.

Wohltätigkeit als reine Pflicht

1.2.

Die zwei Faktoren der Freundschaft

1.2.1.

Wahrnehmung irreduzibler Andersheit

1.2.2.

Kritik und Korrektur von Verhalten und Einstellungen

2.

Konfigurationen der Freundschaftstheorie

2.1.

Vollkommenheit und Vervollkommnung: Die Ambivalenz der ethischen Perspektive

2.2.

Resonanzsensibilität und Selbstachtung

2.3.

Kommunikation von eigener und fremder Individualität und von sittlichen Urteilen: Die drei Gestalten sozialer Resonanz

2.4.

Komplexitätssteigerung der Theorie

2.4.1.

Überschreitung reiner Zweierverhältnisse

2.4.2.

Temporalisierung und Wechselseitigkeit

2.5.

Das entfaltete Konzept der Freundschaft

2.6.

Leistungsfähigkeit und Aporien der Konzeption

2.6.1.

Individualisierung und Sozialisierung

2.6.2.

Der theoretische Status unmittelbarer Selbstreferenz

2.6.3.

Die Herkunft des Tugendwissens

2.6.4.

Die Ausbreitung von Freundschaftsverhältnissen

X

Inhaltsverzeichnis

2.6.5.

Freundschaft - und die Sphäre realisierter Sittlichkeit

76

3.

Homogenität, Differenz - und Temporalisierung

78

3.1.

Charakter

79

3.2.

Temperament

83

3.3.

Empfindung

84

3.4.

Verstand

85

4.

Egalisierungsdynamik: Gesellschaftsstrukturelle Ausstrahlungen der Freundschaft

87

4.1.

Ehe

89

4.2.

Familie

91

4.3.

Herrschaft

92

5.

Abschattungen des Aristotelismus

94

Zweites Kapitel: Johann August Eberhards Sittenlehre und Vorstellungstheorie

98

Einleitung

98

1.

Pflicht zur (Selbst-)Vervollkommnung: Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

101

1.1.

D i e Ethik im Kanon der praktischen Wissenschaften

101

1.2.

Glückseligkeit und Vollkommenheit

104

1.3.

D e r Zusammenhang des ersten moralischen Grundsatzes und der Bestimmung der Wesensnatur des Menschen und der übrigen D i n g e

106

1.3.1.

D e r Grundsatz der Selbstvervollkommnung

106

1.3.2.

Selbstvervollkommnung und Altruismus

107

1.3.3.

Selbstvervollkommnung und Gottesverehrung

109

1.4.

Vollkommenheit und Vollkommenheitswissen

111

1.5.

Freundschaft als Konkretion der allgemeinen Menschenliebe

120

2.

Eberhards vorstellungstheoretische Auflösung und Rekonstruktion der Differenz von Empfinden und Denken

124

2.1.

Vorstellung als 'Indifferenzpunkt' von Denken und Empfinden

124

2.2.

Denken und Empfinden als Vorstellungsarten

125

2.3.

Übergänge

128

2.4.

Induktion und Deduktion im Spektrum der Vorstellungen

133

2.5.

Charakter und Charakterbildung

139

Inhaltsverzeichnis

XI

Drittes Kapitel: Geselliger Realismus und anthropologische Universalität: G r e n z b e s t i m m u n g e n und Grenzüberschreitungen der sozialtheoretischen Ausgangskonstellation

148

Einleitung

148

1.

K o n v e n t i o n und Authentizität: Geselligkeitstheoretische Rekonstruktion des Begriffs des Naiven

151

1.1.

U n e r w a r t e t e Simplizität: »Naiv« als soziales Relationsurteil

151

1.2.

Ü b e r r a s c h e n d e Authentizität: Der naive Charakter

152

1.3.

Naivität und Kultur

156

2.

Selbstverständigung und Selbstmitteilung: Probleme der sprachlich vermittelten Kommunikation in der Abhandlung »Ueber den Styl«

158

2.1.

D a s P r o b l e m der Kommunikation

159

2.2.

Stilistik als methodische Kontrolle und F ö r d e r u n g kommunikativer Vollzüge

3.

163

Krisis der Ordnungsgewißheit und biographische Integration: »An Cecilie«

167

3.1.

D i s s o n a n z in freundschaftlicher Geselligkeit

168

3.2.

D i e Krisis der Ordnungsinstanzen

171

4.

F r e u n d s c h a f t und Liebe zur Gattung: Die Weihnachtspredigt 1791 ... 181

ZWEITER TEIL: SITTLICHKEIT

187

Einleitung

189

Viertes Kapitel: Kontingente Realisierung von Sittlichkeit: Schleiermachers B e s c h ä f t i g u n g mit Kant

193

Einleitung

193

1.

D i e N e u b e s t i m m u n g des Verhältnisses von Tugend und Glückseligkeit in der Schrift »Ueber das höchste Gut«

1.1.

D i e Beurteilung von Schulphilosophie und Aristoteles und die Bedeutung Kants

1.2.

194

194

Kulturhistorische Rekonstruktion des Glückseligkeitsbegriffs und Nachweis von dessen systematischer Inkonsistenz

201

Inhaltsverzeichnis

XII

1.3.

D e r Vernunftbegriff des höchsten Gutes und das reine Sittengesetz . . . 2 0 4

1.4.

D i e Funktion der Glückseligkeit für das Dominantwerden reinvernünftig konstituierter Verhaltensorientierungen in der Einzelpsyche

1.5.

207

Systematisch-kritische Rekonstruktion der Geschichte des B e g r i f f s des höchsten Gutes

209

1.5.1.

Kants Inkonsequenz

210

1.5.2.

D e r Gang durch die »Annalen der Philosophie«

213

1.5.3.

Erträge der historischen Rekonstruktion

218

1.5.3.1.

Verdeutlichung des systematischen Ansatzes

218

1.5.3.2.

Schleiermachers ethikgeschichtliche Urteile im Vergleich zu Eberhards »Allgemeine(r) Geschichte der Philosophie«

1.5.3.3.

220

D i e ethikgeschichtliche Beurteilung des Christentums im Zusammenhang der frühen Äußerungen Schleiermachers zur Religion

2.

224

Vorstellungstheoretische Rekonstruktion der »EntstehungsGeschichte der Tugend«: Das »Freiheitsgespräch«

228

Fünftes Kapitel: Kausalkontinuum - Zurechnung - Intentionalität: D i e Schrift »Über die Freiheit«

244

Einleitung

244

1.

Vorstellungstheoretische Rekonstruktion der Fähigkeit zu Situationstranszendenz

248

1.1.

Situationstranszendenz als anthropologische Konstante

250

1.2.

Vorstellungstheoretische Implikate der moralischen Verbindlichkeit

254

1.3.

Das Begehrungsvermögen als Instanz der Individualisierung

260

2.

D e r W e r t der Person als Summe von Verhaltensbeurteilungen

262

3.

Unparteiische Verhaltensbeurteilung und Interesse am konkreten Anderen

265

4.

Selbstintransparenz und Selbstbestimmung: Das »Freiheitsgefühl« . . . . 2 7 5

5.

Historische Rekonstruktion

279

5.1.

Determinismus, Indifferentismus, Fatalismus

280

5.2.

Ein neues Stadium der Kant-Rezeption?

288

6.

Freiheit im differenzierten Kontinuum der Welt

296

Inhaltsverzeichnis

XIII

7.

Geselligkeit

303

8.

Individualisierung und Weltregierung

306

DRITTER TEIL: LEBENSSPHÄREN

313

Sechstes Kapitel: Realistische Selbstverhältnisse und Phänomenologie der Lebenssphären: Die Abhandlung »Über den Werth des Lebens«

315

Einleitung

315

1.

Die Genese realistischer Selbstverhältnisse

320

1.1.

Temporal ität

320

1.2.

Die synthetisch-reduktive (selektive) Konstitution von Identität

324

1.3.

Abstraktion von Gegenwartsinteressen als methodische Bedingung ... 328

1.4.

Probleme der Entwicklung eines Begriffs von der »Bestimmung des Menschen«

332

1.5.

Tugend und Glückseligkeit als »doppeltes Ziel meines Daseyns«

335

1.6.

Resignitative Perspektivenverkürzung: Die »Regeln des Verstandes fürs Leben«

339

1.7.

Intimität und Konvention

345

2.

Phänomenologie von Lebenssphären

348

2.1.

Arten und Objekttypen der Empfindung

351

2.2.

Die Ambiguität der Objekterfahrung

358

2.3.

Unverfügbarkeit und Verantwortung

362

2.4.

Gesellschaftliche Differenzen

365

2.4.1.

Sinnliche Eindrücke und Naturbeherrschung

366

2.4.2.

Politische Macht

367

2.4.3.

Reichtum und Ehre

369

2.4.4.

Qualitative Differenzierung und quantitative Nivellierung

370

2.5.

Differenzen der individuellen Vermögen und ihrer Entfaltung und Ausbildung

374

2.5.1.

Gesundheit

375

2.5.2.

Begleitumstände

376

2.5.3.

Bildung

377

2.6.

Relativierung der europäischen Verstandesbildung

380

Inhaltsverzeichnis

XIV

2.7.

Harmonisierung der Lebenschancen als immanente Apokatastasis

389

3.

Rückblick

391

Siebentes Kapitel: Historie und Recht als Faktoren von Selbstwahrnehmung und bestimmungsorientierter Existenz

398

Einleitung

398

1.

Geschichtliche Integration der Selbsterfassung: »Über den Geschichtsunterricht«

400

1.1.

Historie als Rekonstruktion der Genese »dessen, was ist«

402

1.2.

Stetigkeit des Geschichtskontinuums und perspektivische Selektion gegenwartsrelevanter Ereignisse

404

1.3.

Hinführung zu selbständiger Selbstorientierung

406

2.

Staat, Recht - und bestimmungsgemäße individuelle Existenz: D i e Abhandlung »Philosophia politica Piatonis et Aristotelis«

407

2.1.

D i e 'Historisierung' der Klassiker

409

2.2.

D i e Begründung des Staats auf das Recht und die Ausdifferenzierung von Staat und individueller anthropologischer Bestimmung

411

2.3.

Darstellung und Beurteilung von Piaton und Aristoteles

413

2.3.1.

Piaton: D i e Tyrannis der Tugend

414

2.3.2.

Aristoteles

415

VIERTER TEIL: METAPHYSIK DES ENDLICHEN

419

Achtes Kapitel: Phänomenalität von Individualität, kulturelle Determination und unmittelbares Realitätsbewußtsein: Schleiermachers J a c o b i - und Spinoza-Studien

421

Einleitung

421

1.

Geschichtlichkeit der Vernunft, unmittelbares Selbst- und Objektivitätsbewußtsein und vorreflexive Gottes- und Freiheitsgewißheit: D i e J a c o b i - E x z e r p t e

1.1.

428

Geschichtlich-kulturelle Determination als anthropologisches Axiom

429

1.2.

Ursprüngliche Abhängigkeit und wesentliche Freiheit

431

1.3.

V o r r e f l e x i v e Selbst- und Objektivitätsgewißheit

437

Inhaltsverzeichnis

XV

2.

Der »Fluß der endlichen Dinge«

440

2.1.

Radikale Phänomenalisierung der Einzeldinge

442

2.2.

Personalität und Selbstbewußtsein

445

2.3.

Metaphysik des Endlichen

450

3.

Inhärenz des Endlichen im Unendlichen: Der Neuansatz der Theologie als Funktion der Kosmologie

451

3.1.

Rekapitulation von Schleiermachers bisheriger Kritik der Theologie und von seinen Versuchen eines Neueinsatzes

451

3.2.

Spinozas Kritik eines persönlichen, extramundanen Gottes

454

3.3.

Jacobis nicht-theistischer Theismus

455

FÜNFTER TEIL: GESELLIGKEIT

459

Einleitung

461

Neuntes Kapitel: Selbst-Bildung und Gestaltung der sozialen Welt: Die Entwürfe, Fragmente und Gedankenhefte 1796-99

469

1.

Intersubjektivität und Recht

469

1.1.

Soziale Verbindlichkeit von Selbstfestlegungen: Die Texte zur Vertragstheorie

469

1.2.

Probleme der Legitimation politischer Herrschaft

475

1.3.

Staat und Privatsphäre

477

2.

Ethik und Sozialität

482

3.

'Menschenkunde'

489

Zehntes Kapitel: Geselligkeit: Individualität und Öffentlichkeit

492

1.

Kritik der unmittelbaren Selbstexpression

492

2.

Die Sozialform der freien Geselligkeit

495

3.

Theorie des geselligen Betragens

503

4.

Rückblick

507

5.

Zwischen Konvention und Authentizität: Anstand und Schamhaftigkeit

510

5.1.

Habitualisierte Sittlichkeit

510

5.2.

Authentische Selbstzurücknahme

515

XVI

Inhaltsverzeichnis

SECHSTER TEIL: AUSBLICK

519

Elftes Kapitel: Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung im Universum: Ausblick auf »Reden«, »Monologen« und »Vertraute Briefe«

521

Einleitung

521

1.

Partikulare Realisierungen der individuell-sozialen Bestimmung des Menschen

523

2.

Singularität und Relationierung

531

2.1.

Evolutionäre Rekonstruktion

532

2.2.

Moment und Kontinuierung

536

2.3.

Individualisierung und Vergesellung

539

2.4.

Autonomisierung und Vernetzung

543

2.5.

Liebe als Prinzip des universalen Zusammenhangs

546

3.

Interaktion und Institutionen

548

ANHANG

553

Verzeichnis der für Werktitel verwendeten Abkürzungen

555

Literaturverzeichnis

556

Namensregister

568

Einführung Die Wahrnehmung Schleiermachers in der Theologie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend abgelöst von den Problemstellungen, die mit der scharfen Kritik der Dialektischen Theologie der zwanziger Jahre an Schleiermachers vermeintlich die Gottheit Gottes schon methodisch verdunkelndem und den Glauben zu einer Möglichkeit der natürlichen Welt verfälschendem Anthropozentrismus gegeben war. Nicht nur ist deutlich geworden, daß eine solche Deutungsperspektive dem Ansatz und der Differenziertheit von Schleiermachers Denken selbst nicht gerecht zu werden vermag. Das neue Interesse an Schleiermacher wird vielmehr durchaus gegenwartsbezogen begründet mit den Anforderungen an Theologie und Kirche in der modernen westlichen, pluralistischen Gesellschaft der Nachkriegszeit; Schleiermacher erscheint dabei als ein Denker, der auf der einen Seite die moderne Befreiung des Einzelnen aus der Bevormundung durch autoritär normsetzende Instanzen und Institutionen auch für die Religion theoretisch erfaßt hat, dessen Werk auf der anderen Seite aber die Interferenzen von Religion und Kultur sowie die Funktion der Kirche als Institution in Interdependenz mit anderen Institutionen in einer ausdifferenzierten Gesellschaft präziser zu beschreiben erlaubt, als es mit einem theozentrisch hierarchisierten Diastasen-Modell möglich ist. Merkwürdigerweise ist die gängige Schleiermacherrezeption auch in diesem Problemkontext sehr stark am Leitbild des Individuums orientiert geblieben 1 . Sie betont mithin den genannten ersten Aspekt und liest die kulturelle, sozialtheoretische Dimension allenfalls als Konsequenz aus der vermeintlich ursprünglichen Einsicht in die religiös radikalisierte, alle innerweltlichen Relationen relativierende Individualität des Einzelmenschen. In der Schleiermacher-Forschung bildet sich dieses Gefälle ab in dem bevorzugten Interesse, Schleiermachers Denken individualitätstheoretisch, gefühlstheoretisch, subjektivitätstheoretisch zu erschließen. Dabei ist nicht die

So endet etwa Th. Lehnerers Schleiermacher-Beitrag (mit dem Titel »Religiöse Individualität«) in dem von F.W. Graf herausgegebenen Sammelband »Profile des neuzeitlichen Protestantismus« (Band 1, Gütersloh 1990, 173 - 201, hier: 193) mit dem Resümee, es sei »die übergreifende Intention« von Schleiermachers Denken, »dem Individuum absoluten Wert beizumessen«.

2

Einführung

Berechtigung derartiger Untersuchungen problematisch2, sondern nur der (nicht notwendig damit verbundene) Anspruch, hier sei die grundlegende und maßgebende Struktur für Schleiermachers Theoriebildung überhaupt gefunden. Denn dann müssen Sozialtheorie, Geselligkeitstheorie, Ethik (im Schleiermacherschen Sinn einer umfassenden Kultur- und Geschichtstheorie) einer als basal herausgearbeiteten, abgeschlossenen Denkfigur als wenngleich notwendige Folge-Aspekte gleichsam nachträglich zugeordnet und angegliedert werden. Eine solche Schleiermacher-Rezeption erreicht aber weder (a) die Komplexität des Denkens des reifen Schleiermacher, noch entspricht sie (b) den Dokumenten der Genese von Schleiermachers Denken vor seinen ersten Publikationen, welche Dokumente erst seit 1984 in den Bänden 1/1 und 1/2 der Kritischen Gesamtausgabe vollständig zugänglich sind3. Sie arbeitet zudem (c) mit stark reduktiven Parametern zur Erfassung der Entstehungsgeschichte der Neuzeit, blendet etwa sozialstrukturelle Veränderungen und Veränderungen der reflexiven Thematisierung sozialer Verhältnisse als relevante Faktoren auch für neuzeitliche Theoriebildung aus. (a) Das Theoriegefüge des reifen Schleiermacher läßt sich keineswegs einlinig aus seiner Theorie des unmittelbaren Selbstbewußtseins als des den Einzelnen aus seinen innerweltlichen (vermittelten) Bezügen herausindividualisierenden »Gefühl(s) schlechthinniger Abhängigkeit«4 entfalten. Dem widerspricht nicht nur die allgemeine Einsicht, daß Schleiermacher wissenschaftliche Zuordnungsprobleme nicht durch Hierarchisierung löst 5 . Schon die irreduzibel doppelte Perspektive der Religionskonzeption in den »Reden«, die die strikt individuelle und auch zeitlich momenthaft-singuläre Universumsanschauung notwendig verbindet mit der Gemeinschaftsbildung

Vgl. nur K. Cramer: D i e subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins. In: D. Lange (Hg.): Friedrich Schleiermacher 1768 - 1834. Theologe - Philosoph - Pädagoge. Göttingen 1985, 129 - 162; J. Röhls: Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Zu Schleiermachers Religionstheorie in der »Glaubenslehre«. In: K.-V. Selge (Hg.): Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Teilband 1. Berlin - N e w York 1985, 221 - 252; U . Barth: Christentum und Selbstbewußtsein. Göttingen 1983. Beide Bände herausgegeben von G. Meckenstock und erschienen Berlin - N e w York 1984: 1/1 Jugendschriften 1787 - 1796; 1/2 Schriften aus der Berliner Zeit 1796 - 1799. Der christliche Glaube, 2. Auflage, § 4 (dort allerdings »schlechthinnige[s] Abhängigkeitsgefühl«; die zitierte Version erst § 5,2). Vgl. dazu M. Welker: F . D . E . Schleiermacher: Universalisierung von Humanität. In: J. Speck (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit III. Göttingen 1983, 9 - 45, hier: 14.

Einführung

3

durch wechselseitige Mitteilung solcher Anschauungen 6 und die dabei sogar die Gewinnung personaler Kontinuität in den Zusammenhang selbstseligierter Anschlüsse an eigene und fremde Universumsanschauungen stellt, zudem die 'Selbst-Findung' empirisch-biographisch im sozial verfaßten Lebensprozeß des Einzelnen verortet, zeigt vielmehr an, daß Schleiermachers Individualitätskonzeption selbst mit der Relation 'entweltlichtes' Individuum - Universum nicht hinreichend bestimmt werden kann, und aufgrund der biographisch-genetischen Verortung auch nicht mit dem bloßen abstrakt-formalen Hinweis auf die 'Relationalität' der Struktur Individualität. Dies wird bestätigt durch die innere Architektur der »Glaubenslehre«, die nicht nur (worauf Schleiermacher selbst hinwies 7 ), sehr viel stärker von der Christologie her entworfen ist, als es der Ausgang von den »Lehnsätzen« aus anderen Wissenschaften anzunehmen nahelegt, sondern die ebenso - durch die kirchliche Lozierung der Glaubenslehre, durch die starke Betonung des »Gesamtlebens« in der Beschreibung des »frommen Selbstbewußtseins« sowohl im Stand der Sünde als auch im Stand der Gnade, mithin durch die hohe Beachtung sozialer Vermittlungs- und Bildungsprozesse - die Bestimmung des Glaubens als »unmittelbares Selbstbewußtsein« sehr viel deutlicher in die Behandlung sozialer Vollzüge und geschichtlich-evolutionärer Prozesse integriert, als es die isolierte Betrachtung der § § 3 und 4 der Glaubenslehre suggeriert; diese Paragraphen sind im übrigen Lehnsätze aus der Ethik, die den Begriff der Kirche erheben 8 . Betrachtet man darüber hinaus den kommunikationstheoretischen Ansatz von Schleiermachers Dialektik und erkennt, daß Schleiermacher seine Hermeneutik als Theorie interpersonalen und interkulturellen Verstehens entwirft, so ergibt sich ein im weitesten Sinne sozialtheoretisches Leitinteresse, das sich in allen Dimensionen der Theoriebildung artikuliert. Da Schleiermacher die Ethik als umfassende Theorie der sozialen Handlungssphären, als 'Kulturtheorie', konzipiert und da in der Ethik sowohl die Wissenschaft selbst als auch die anderen (in den verschiedenen Wissenschaften wiederum erfaßten) sozialen Handlungsfelder - Geselligkeit, Staat, Ökonomie - thematisch werden, kann man sie durchaus zwar nicht als

Vgl. Welker, Universalisierung, 19. 7

Vgl. das zweite Sendschreiben an Lücke, SW 1/2, 605 - 653, hier: 605 - 6 1 1 , besonders 6 0 5 f . und 611. Neu veröffentlicht in: KGA 1/10, 337 - 394, hier: 337 - 344.

8

Vgl. Der christliche Glaube, 7. Auflage Berlin i 9 6 0 , § 2 , 2 und § 3.

4

Einführung

basale, aber doch als integrativste und deshalb zentrale Bezugsgröße von Schleiermachers reifem Denken ansehen 9 . (b) Bereits ein oberflächlicher Überblick über den Textbestand der »Jugendschriften« (KGA 1/1) und der »Schriften und Entwürfe« der Berliner Zeit bis zum Erscheinen der »Reden« (vgl. KGA 1/2) belegt jedoch, daß auch Schleiermachers Anfänge weder quantitativ überwiegend noch zeitlich ursprünglich durch die Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen bzw. wissenschaftstheoretischen Fragestellungen 10 oder mit moralphilosophischen Grundlegungsproblemen 11 gekennzeichnet sind. Von der allerersten überlieferten Arbeit, den Anmerkungen zur Freundschaftslehre des Aristoteles (KGA 1/1, 1 - 43), spannt sich ein Bogen zu dem unmittelbar vor den »Reden« verfaßten und publizierten »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« (KGA 1/2, 163 - 184); dieser Bogen symbolisiert eine Kontinuität des Interesses an der Erfassung der Konstitution von und der kommunikativen Prozesse in spezifischen, noch näher zu bestimmenden Sozialformen, ein Interesse, das sowohl in den zwischen diesen Arbeiten entstandenen Texten immer wieder in vielfältigen Facetten aufscheint, wie es auch in den »Reden« in der Beschreibung der (wahren) Kirche als der Kommunikationsgemeinschaft religiöser Anschauungen erneut begegnet. Dieses ursprüngliche und kontinuierliche sozialtheoretische Interesse ist in der Erforschung "

So im übrigen schon E. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Bd. IV. 4. Auflage Gütersloh 1968, 555.

10

Diesen Eindruck erwecken besonders die beiden parallel entstandenen Arbeiten zum Wissenschaftsverständnis des jungen Schleiermacher: F. Weber: Schleiermachers Wissenschaftsbegriff. Eine Studie aufgrund seiner frühesten Abhandlungen. Gütersloh 1973; E. Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher. Gütersloh 1974. Herms abstrahiert allerdings methodisch vom materialen Duktus der Texte, beansprucht also gar nicht, ein Bild, ein facettenreiches Profil der Theorieentwicklung des jungen Schleiermacher geben zu wollen. - Implizit entsteht ein solcher Eindruck freilich nahezu zwangsläufig dort, wo die Auseinandersetzung mit Kant als der entscheidende Aspekt von Schleiermachers Frühwerk aufgefaßt wird, also in weiten Teilen der Sekundärliteratur. Eine Ausnahme ist hier G. Meckenstock: Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789 - 1794. Berlin - New York 1988, der den Kant der »Kritik der praktischen Vernunft« als wichtigsten Bezugspunkt wählt. Dazu weiter die folgende Anmerkung.

11

Meckenstock erreicht den Eindruck der Dominanz einer Grundlegungsorientierung nur durch die Eliminierung mehrerer Texte aus dem Untersuchungsgegenstand, was er ganz zirkulär damit begründet, diese »Ausarbeitungen« hätten »vom sachlichen Gewicht her eher marginalen Charakter«, da sie die »materiale Ethik« nicht in Richtung auf die »Prinzipienfrage«, die »Grundlegungsproblematik von Sittlichkeit« verließen (22) und daher nichts beitrügen zur Erhellung von »Schleiermachers argumentative(m) Beitrag zu den neuzeitlichen Konstitutionsfragen« (21).

Einführung

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von Schleiermachers Frühwerk bisher weitgehend unbeachtet geblieben; jedenfalls wurde es in seiner Bedeutung für 'Grundentscheidungen' seiner Theorieentwicklung kaum erkannt. Dies entspricht genauestens der mangelnden Rezeption der reifen Ethik, deren Schlüsselstellung für Schleiermachers Denken durch jenen Befund doch ihrerseits bestätigt wird. (c) Dabei ermöglicht die Einsicht in die elementare sozialtheoretische Orientierung Schleiermachers, sein Denken und dessen Genese im Zusammenhang umfassenderer Konzeptionen der neuzeitlichen Umformungsprozesse zu rekonstruieren, als es die Konzentration auf die Vergewisserung des Wissens im Selbstvollzug des Subjekts vermag. Soziologisch läßt sich diese Umformung etwa als gesellschaftsevolutionärer Übergang aus einer stratifizierten in eine funktional differenzierte Gesellschaftsform beschreiben und für verschiedene Teilbereiche verfolgen. Vor diesem Hintergrund wird Schleiermachers Frühwerk in seiner sozialtheoretischen Imprägnierung lesbar als Reflexion (oder vorsichtiger: als Reflex) gesellschaftsstruktureller Entwicklungen und als Arbeit an Theorieformen, die diesen Entwicklungen sowohl entsprechen als auch sie begrifflich zu erfassen erlauben und dadurch ihrerseits verstärken. Dies ist die (vorerst noch ganz vage) Ausgangsunterstellung der vorliegenden Untersuchung zum Frühwerk Friedrich Schleiermachers. Diese Unterstellung verdankt sich neben Beobachtungen am Hauptwerk vor allem Wahrnehmungen am Frühwerk selbst. Sie konkretisiert sich zu einer differenzierten Interpretationsthese und Untersuchungsperspektive in der Analyse der frühesten überlieferten theoretischen Arbeit Schleiermachers selbst, den bereits genannten Anmerkungen zur Freundschaftstheorie des Aristoteles (Nikomachische Ethik, Bücher VIII und IX). Dieser Text offenbart eine bereits sehr komplexe Konzeption der Kommunikation und Gemeinschaftsbildung, wobei in dieser Gestalt von Sozialität Individualität einerseits respektiert und gefördert wird, andererseits eben dadurch allererst die Bedingungen ihrer Realisierung und Entfaltung erfährt; umgekehrt konstituiert und kontinuiert sich die Sozialform der Freundschaft allererst in den Vollzügen der Kommunikation von Individualität. Individualität wird also bei Schleiermacher bereits ursprünglich im Zusammenhang der Beschreibung einer Sozialform thematisch, in der sie sich entfalten kann und ohne die sie unentwickelt bleibt bzw. wieder verkümmert und die umgekehrt nur in diesen Entfaltungsprozessen besteht. Entsprechendes gilt von der Ethik: Sittlichkeit kommt hier zur Sprache im Zusammenhang von individuellen und sozialen Instanzen ihrer Förderung (moralisches Gefühl, Religion und eben Freundschaft), also nicht unter dem Aspekt ihrer Begründung und

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nicht unter Abstraktion von den Vollzügen der konkreten Ausführung von Handlungsimpulsen, die immer in sozialen Bezügen steht, soziale Bedingungen und Umstände zu berücksichtigen hat. Diese intern bereits sehr anspruchsvolle Konzeption gewinnt eine unerwartete Tiefendimension durch die sozialgeschichtliche Bedeutung des Phänomens und der Semantik der Freundschaft für den Übergang von der ständischen zur bürgerlichen bzw. von der stratifizierten zur funktionsdifferenzierten Gesellschaft. Schon 1936 hat der Germanist Wolfdietrich Rasch gezeigt, daß Freundschaftspraxis und Freundschaftssemantik im 18. Jahrhundert eine Anfangsgestalt des Aufbaus neuer sozialer Verbindlichkeit nach dem Zusammenbruch der Plausibilität ontologischer Wirklichkeitsvergewisserungen und über Herkunft gesteuerter sozialer Hierarchisierungen darstellen, wobei Motive der Aufklärung (allgemeine Gleichheit aller Menschen, Menschenwürde jedes Exemplars der Gattung Mensch) und des Pietismus (wechselseitige Mitteilung individueller Glaubenserfahrungen) zusammenfließen 12 . Die Sozialform der Freundschaft - und deren reflexive Verstärkung durch literarisch-idealisierende Darstellung und Theorie - ist, bezogen auf das Deutschland des 18. Jahrhunderts, eine spezifische Entwicklungsstufe in der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist Ferment der Entwicklung und zugleich erste partikulare Realisierungsgestalt. Sie ist Surrogat gegenwärtiger und zugleich Modell zukünftiger Gesellschaftsgestaltung. Gerade ihre gegenwärtige Marginalität verschafft ihr den Freiraum, sich nach eigenen Gesetzen zu stabilisieren und so erst expansionsfähig zu werden. Sie ist mithin gerade als Rückzugssphäre Gesellschaftsmodell. Von der Mitgestaltung der politischen Verhältnisse war das Bürgertum, obgleich wirtschaftlich eine aufstrebende und unentbehrliche Macht, aufgrund des absolutistischen Regierungssystems und der ständischen gesellschaftlichen Gliederung weitgehend ausgeschlossen. Nicht zufällig ist Freundschaft als Alternative zur höfisch-konventionellen Lebensform das Thema der literarischen Öffentlichkeit,

12 Vgl. dazu und zum folgenden W. Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. Halle 1936, besonders 1 - 111; femer F. Tenbruck: Freundschaft. Ein Beitrag zur Soziologie der persönlichen Beziehungen. In: Ders.: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne. Opladen 1989, 227 - 250; W. Mauser: Geselligkeit. In: K. Eibl (Hg.): Entwicklungsschwellen im 18. Jahrhundert. Hamburg 1989 ( = Aufklärung, Heft 4/1), 5 - 36; N. Luhmann: Wie ist soziale Ordnung möglich? In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Band 2. Frankfurt (M) 1981, 195 - 285; Ders.: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt (M) 1982, besonders 97 - 106; R. Grimminger: Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen. Uber den notwendigen Zusammenhang von Literatur, Gesellschaft und Staat in der Geschichte des 18. Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1689 - 1789. München - Wien 1980 ( = Ders. [Hg.]: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Band 3).

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jener Kommunikationssphäre der Gebildeten, die das Bürgertum zu etablieren begonnen hatte und die es dominierte Die literarische Öffentlichkeit ist selbst schon eine Konkretionsgestalt jener in ihr postulierten Sonderöffentlichkeit der Freundschaft, in der differente Achtungskriterien gelten sollten: Sein statt Schein, Authentizität des Menschseins an sich statt Identität qua Standeszugehörigkeit, Kommunikation als Selbstexpression statt konventionsgebundener K o n v e r s a t i o n ^ . Der Anspruch auf Geltung dieser Achtungskriterien ist freilich nicht auf die partikulare Gegenöffentlichkeit beschränkt; daß sie in den herrschenden Kreisen von Hof und Adel nicht gelten, spricht gegen diese. Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft und Expansionsdynamik des Gegenmodells gehören zusammen. Nun sind ebenso wie die faktische Etablierung einer partikularen 'Gegengesellschaft' sowohl die darin postulierten Leitorientierungen als auch der Anspruch, nur aus einer so orientierten Partikularformation und mithin nur aufgrund von intersubjektiv dergestalt stabilisierten Plausibilitäten könne neu tragfähige gesamtgesellschaftliche Ordnung entstehen, Reflex eines ideengeschichtlichen Paradigmenwechsels, der in allen sozialen Bereichen als Plausibilitätsverlust von als übergeordnet gesetzten, als unbefragbar und konsensunabhängig gültig geltenden, 'ontologischen' Sinnzusammenhängen erkennbar und virulent wird und nach Alternativen der Vergewisserung und der Ordnungsbildung suchen läßt. Hatten in den Naturwissenschaften Beobachtungen und Berechnungen eine philosophisch deduktive Astronomie und Kosmologie nicht nur in Einzelerkenntnissen erschüttert, sondern geradezu als Methode ersetzt, so war in der Philosophie Descartes' rationalistische Rekonstruktion der philosophischen Inhalte über die unbedingte Selbstgewißheit des denkenden Ich nur der erste Schritt einer Kritik erfahrungsunabhängiger Existenzversicherungen, der selbst wiederum als ontologisch kritisiert und empiristisch überboten werden konnte. Wichtiger - bzw.: unmittelbarer wichtig - für die gesellschaftsstrukturelle und sozialtheoretische Entwicklung des 18. Jahrhunderts wurde freilich die Destruktion der Plausibilität des kirchlichen Dogmas und deren Ersetzung durch die j e individuelle Selbstvergewisserung in der unmittelbaren Gottesbeziehung im Pietismus sowie der Entzug der Legitimation für eine starr ständisch strukturierte Gesellschaftsordnung in der Auflclärung. Beide Entwicklungen forcieren freilich zunächst eine Isolierung des Einzelnen, eine Atomisierung der vorfindlichen Gesellschaft. Der Pietismus löst die christliche Glaubensgewißheit von der Zugehörigkeit zur verfaßten 'Heilsanstalt' Kirche, die Aufklärung abstrahiert den Bezugsrahmen der Existenz der Einzelnen hin auf die Gattung, die Menschheit, die sich in den einzelnen Exemplaren, unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung als Menschen an sich betrachtet, realisiert. In beiden Gestalten verliert die vorgegebene gesellschaftliche (staatliche und kirchliche) Ordnung wenigstens dem Anspruch nach ihre prägende Wirkung auf den Einzelnen in seiner Selbstbeschreibung. Problematisch wird dann, wie Sozialität theoretisch begründet und vor allem praktisch gelebt wird. Die immer noch verpflichtende Teilnahme an gegebenen Sozialformen wird als Entfremdung erfahren. Diese Erfahrung wird im

Zur Genese der bürgerlichen Öffentlichkeit vgl. J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied 1962. Vgl. aber die einschränkende Bemerkung bei Mauser, Geselligkeit, 18 (Anm. 29). Vgl. ähnlich Mauser, Geselligkeit, 25: »Gleichheit statt Rangabstufung, Freiwilligkeit statt Anordnung, Verdienstbewußtsein statt Gratifikation, Vernünftigkeit statt Willkür, Vertrauen statt Angst, Empathie statt Affekt.«

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Einführung englischen Puritanismus in gewisser Weise radikalisiert und prinzipialisiert: keine irdische Bindung darf als nicht-entfremdet gedacht und als sie selbst anderen vorgezogen werden; das Liebesgebot gilt universal und vergleichgültigt eben deshalb alle konkreten Sozialverhältnisse. Der deutsche Pietismus geht diesen Weg nicht. Sozialität kann er aber nicht mehr als Integration in ein festgefügtes Ganzes fassen; sie muß vielmehr aus Einzelkommunikationen religiöser Erfahrungen und Bekenntnisse emergieren. Ihr Bestand wird abhängig vom Fortdauern und von der Ausbreitung solcher Kommunikationen. Der Glaubensindividualismus läßt aber die Begründung der Geselligkeit labil bleiben; deren »verbindende(s) Prinzip« ist ja »gerade das, was im Grunde den einen vom andern trennt, die private Gottesbeziehung, die er mitbringt«^. Sozialität hat hier die Aufgabe der wechselseitigen Förderung und Stabilisierung religiöser Individualität, wovon die Notwendigkeit - abgesehen vom Liebesgebot - in der faktischen (und auch hamartiologisch begründbaren) Unmöglichkeit solitären Durchhaltens der Gottesbeziehung gesehen wird. Das Interesse an der Kommunikation persönlicher Glaubenserfahrungen trägt freilich, wie gerade Zinzendorf erkannte, den Keim der Verweltlichung in sich. Das Interesse an individuellen Glaubenserfahrungen erweitert sich leicht zum Bedürfnis der Mitteilung von Erfahrungen überhaupt. Zinzendorf versuchte diese von ihm und anderen als Gefahr'^ diagnostizierte Tendenz durch die Bildung einer dauerhaften, auf (über religiöse Kommunikation laufenden) personalen Bindungen beruhenden Sondergemeinschaft aufzuhalten. Das gelang ihm zwar »durch straffe Organisation und Disziplin und durch Ausbildung kultischer Sonderformen« 1 7 . Aber auch abgesehen von der Frage, wieweit selbst diese Strukturbildungen für das individuelle religiöse Bewußtsein äußerlich und kontingent bleiben mußten, war die Brüdergemeinde eine (für Schleiermacher immerhin höchst bedeutsame) Ausnahmeerscheinung. Der Sog hin auf aus der Kommunikation von Individuen emergierende profane Sozialformen wurde nämlich verstärkt dadurch, daß die Entwicklung in der Aufldärung ebendahin konvergierte. Durch ihren Rekurs auf Natur und Vernunft hatte sie den Einzelnen für unabhängig von Konfession, Religion und Stand erklärt. Die Betrachtung des Menschen als Mensch-an-sich involvierte einen - stoische Gedanken aufgreifenden Zug ins Kosmopolitische einerseits, andererseits eine Erklärung von Sozialität, die induktiv von den Bedürfnissen der Einzelwesen ausgeht. Gesellschaftliche und staatliche Ordnung beruhen auf dem Postulat eines Vertrags, d.h. auf der Annahme einer freiwilligen Zustimmung freier Menschen zu einem Zusammenschluß, der gegebenenfalls zugunsten längerfristigen Vorteils auch Rechtsverzicht impliziert. Die Position Hobbes', im Naturzustand keine positive soziale Verbindlichkeit anzunehmen, sondern nur die unmittelbare Selbstdurchsetzung aller Einzelnen gegeneinander, erlaubte zwar, mit nicht-metaphysischen Gründen den Zwangscharakter, die Objektivität und Institutionalität staatlicher Ordnung zu behaupten; aber ebendies behinderte ihre Rezeption in einer Entwicklungslinie, die hinlief auf die Kultivierung kommunikativ verfaßter Individualität und Sozialität^. Sehr viel wirksamer,

Rasch, Freundschaft, 60, mit Blick auf die Brüdergemeinde. 16

Vgl. Rasch, Freundschaft, 59.

17

Ebd. Vgl. etwa H.W. Arndt: Einleitung zu Christian Wolff: Vernünftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen (Deutsche Politik). Gesammelte Werke. I. Abteilung. Band 5. Hildesheim - New York

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vor allem in Deutschland, wurden Theorien, die schon anthropologisch-ursprünglich einen sozialen Trieb postulierten, ohne dessen Realisierung der Einzelne seiner Bestimmung als Mensch nicht entspricht, also etwa die Naturrechtskonzeptionen von Grotius und besonders von Pufendorf 1 9 . Freilich: auch wenn man die auf Leibniz zurückgehende und von Wolff übernommene Vorstellung hinzunimmt, Liebe in eminentem Sinn sei die Lust, die man »an der Vollkommenheit, dem Wohl oder Glück des geliebten Gegenstandes« empfindet2*^, ist die hohe Bedeutung von partikularer, individueller Freundschaft auch für die Ethik der Aufklärung noch nicht hinreichend erklärt. Das entscheidende Verbindungsglied findet sich bei dem im 18. Jahrhundert in Deutschland stark rezipierten Shaftesbury. Freundschaft ist für ihn das herausragende Paradigma einer im Gegensatz zum Christentum n/c/ir-transzendenten Ethik, einer Haltung, die die Beziehung zum andern nicht um des eigenen und sei es jenseitigen - Vorteils willen sucht, sondern um seiner selbst willen, einer Diesseitigkeit, die die konkreten interpersonalen Relationen nicht zugunsten eines allgemeinen Wohlwollens nivelliert. Zwar geht es auch Shaftesbury nicht primär um die Wahrnehmung der kontingent-einmaligen Individualität; aber in der konkreten Freundschaft und nur in ihr realisiert sich die allgemeine Menschenliebe, in der die Tugend besteht 2 *. Hier zeigt sich die Doppelfunktion der Freundschaft, als exemplarische Sozialform zugleich Realisierung und Defizienz anzuzeigen, als partikulare Realisierung über sich selbst hinaus zu verweisen. Die Tendenz, einer im strikten Jenseitsbezug begründeten Entwertung der in 'diesseitiger' Sozialität zu findenden Erfüllung, einer Entdifferenzierung gegenwärtig-konkreter Lebensverhältnisse gegenzusteuem, freilich unter anderen Differenzierungskriterien als die noch dominante statisch-hierarchische Gesellschaftsgliederung, - diese Tendenz hatte im deutschen Bürgertum des 18. Jahrhunderts solche Plausibilität gewonnen, daß auch eine christliche Antikritik der Christentumskritik Shaftesburys nicht die Bedeutung von weltlichen Bindungen und Beziehungen schlechthin leugnen konnte; sie mußte vielmehr so verfahren, daß sie deren Anerkennung und Pflege als genuin christlich interpretierte 22 . Die prononcierte Diesseitigkeit ließ freilich, nicht anders als schon im Renaissancehumanismus, Deutungsmuster und Deskriptionssemantiken eher in der griechischen (und römischen) Antike suchen. Besonders bot sich dafür der klassische Text antiker Freundschaftstheorie an, die Bücher VIII und IX der Nikomachischen Ethik des Aristoteles 2 ^.

1975, (V - LI), XV, der darauf hinweist, daß Hobbes und Spinoza kaum Einfluß auf Wolff ausübten. Zu Pufendorf vgl. Ueberweg, Philosophiegeschichte III, 344: »Seine Naturrechtsauffassung ist im wesentlichen durch Grotius und Hobbes bestimmt, indem er von jenem das Prinzip der Geselligkeit, von diesem das des individuellen Interesses übernimmt und durch den Satz vereinigt, daß die Geselligkeit im Interesse eines jeden einzelnen liege«. 2

® G.W. Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 1915 (PhB 69), 152. Zitiert nach Rasch, Freundschaft, 66. Vgl. Rasch, Freundschaft, 74 und besonders 78.

22

Vgl. Rasch, Freundschaft, 73f. Vgl. Rasch, Freundschaft, 3.

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Dieser Hintergrund erlaubt es, die Aristoteles-Anmerkungen in einem sehr weitreichenden Kontext zu interpretieren, was einerseits die Analyse differenziert, andererseits die Tragweite der herausgearbeiteten Konzeption erhöht: Schleiermacher nimmt hier teil an der Bewegung der Neubeschreibung und Neubegründung sozialer Verbindlichkeit, aber damit ipso facto auch an dem Prozeß der Neugewinnung von Instanzen und Methoden theoretischer und praktischer Wahrheitsvergewisserung. Das heißt aber, daß die sog. 'Grundlegungsfragen' ausweislich von Schleiermachers Texten selbst und ihrer sozialgeschichtlichen Verortung gar nicht unabhängig von den sozialtheoretischen (und d.h. gesellschaftstheoretischen und kommunikationstheoretischen) Beschreibungen und Konzeptionen behandelt werden können. Die Ausgangsthese für die Untersuchung lautet dann: In der sozialtheoretischen Ausgangskonfiguration der Aristoteles-Anmerkungen manifestiert sich ein elementares sozialtheoretisches Leitinteresse der Theoriebildung Schleiermachers; diese Konfiguration ist freilich nicht nur selbst eine erste reflexive Erfassung der gesellschaftsevolutionären Entwicklungsdynamik, eben deshalb müssen vielmehr alle frühen Theorieversuche auf sie bezogen werden, so daß deutlich wird, inwiefern sie sie widerspiegeln, weiterführen, an sie anschließen, angelagerte Probleme bearbeiten etc. Der Untersuchung stellt sich damit eine doppelte Aufgabe: Sie rekonstruiert zum einen die Theorieentwicklung des jungen Schleiermacher bis zu den »Reden« nach Maßgabe des sozialtheoretischen Leitinteresses der Erfassung realer Intersubjektivität, und zwar so, daß sie gewissermaßen die 'Geschichte' der sozialtheoretischen Ausgangskonfiguration als der ersten Konkretion jenes Leitinteresses bis zu dem geselligkeitstheoretischen »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« (und mit einem Ausblick auf die Hauptschriften der 'frühromantischen' Phase) verfolgt. Sie sieht Schleiermacher mithin beschäftigt mit der Beschreibung mehrstelliger sozialer Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse, mit den Problemen der Perspektivendifferenz und der 'Abgleichung' mehrerer Perspektiven, mit der Untersuchung der Auswirkungen sozialer Resonanz auf die individuelle Selbstwahrnehmung und die 'Bildung' des Selbsts, mit der Differenzierung öffentlicher und privater, rechtlicher, moralischer und intim-biographischer Wahrnehmungskriterien, mit den Entstehungs- und Erhaltungsbedingungen selbstbildungsförderlicher Sozialformen etc. und sucht die Genese von Schleiermachers diesbezüglicher Beschreibungskompetenz zu erhellen. Ein so bestimmtes Leitinteresse bedingt ohnehin bereits eine komplexe Theorieanlage, in der vielfältige, weder aufeinander abbildbare noch einfachhin einem gemeinsamen Grund zuzuführende Sachaspekte auf ein ein-

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heitliches Leitproblem bezogen sind. Trifft es nun zu, daß alle Sachdimensionen von Schleiermachers Theoriebildung jedenfalls nicht ohne Zusammenhang mit der in der genannten Weise spezifisch geprägten Dimension des Sozialen verstanden werden können, so muß - und hier setzt die zweite Aufgabe an - das die Theorieentwicklung vorantreibende Leitproblem so abstrakt und zugleich elementar formuliert werden, daß es auf der einen Seite auf die sozialtheoretische Ausgangskonfiguration bezogen bleibt, auf der anderen Seite aber in den Bearbeitungen vorstellungstheoretischer und ontologischer 'Grundlegungsfragen' identifiziert werden kann. Durchaus im Erkenntniszusammenhang der Freundschaftstheorie bietet sich hierfür die Formel 'Moment und Kontinuierung' an. Sie integriert das sozialtheoretische Problem der stabilen Gemeinschaftsbildung angesichts gesteigerter Individualisierung, transzendiert die Ebene des Sozialen aber und vermag das Problem des Wirklichwerdens situationsübergreifender sittlicher Orientierung in den als Sequenz momenthafter Vorstellungen verstandenen Vollzügen der menschlichen Psyche ebenso zu erfassen wie das ontologische Problem der Kontinuität und Identität von zusammengesetztem Seienden in einer als zeitliche Abfolge räumlicher, je momenthafter Agglomerationen von Elementareinheiten bestimmten Welt. Diese abstraktere Problemstellung wird bei Schleiermacher selbst zuerst greifbar in der Schrift »Über die Freiheit«24, vor allem aber in den Spinoza und Jacobi interpretierenden Texten 25 . In der vorliegenden Arbeit ist sie hingegen in der begrifflichen Fassung des sozial theoretischen Leitproblems durchgängig präsent und bildet so eine zweite, gewissermaßen subkutane Matrix für den Aufweis der inneren Konsistenz von Schleiermachers Theorieentwicklung. Der gewählte Ansatz bedingt verschiedene Vorentscheidungen, Beschränkungen und Ausgrenzungen für das Vorgehen: a) Die Arbeit identifiziert das Leitproblem konkretisiert in einer ersten, bereits sehr komplexen Konfiguration in den Aristoteles-Anmerkungen. Seine Wahrnehmung ist mithin gekoppelt an die Textinterpretation. Das Leitproblem ist also nicht gleichsam rein, vollständig und unwandelbar vorgegeben; es muß in der 'Geschichte' der Ausgangskonfiguration, in den spezifischen Konkretionen, die diese in den verschiedenen Texten annimmt, in den Erweiterungen, Differenzierungen, Relationierungen, internen Verschiebungen, die sie erfährt, in der Anlagerung anderer Themen verfolgt werden. Das erfordert ein gewissermaßen induktives Vorgehen, das das Eigenprofil der jeweiligen Texte konzis herausarbeitet, um die Vielfalt der 24

Vgl. dazu unten Kap. 5 , 6 .

25

Vgl. unten Kap. 8.

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Aspekte und Nuancen zu erfassen und daran die Entfaltungen und Veränderungen der Ausgangskonfiguration zu identifizieren und festzuhalten. Die Arbeit schreitet deshalb in Interpretationen von Einzeltexten voran. Sie hält dabei immer die drei Faktoren oder Ebenen der Textinterpretation, der sozialtheoretischen Ausgangskonfiguration und des Leitproblems kopräsent. Nur so kann die Fülle der Texte und Aspekte eingeholt werden, ohne daß diese in disparateste Vielheit auseinanderfallen 26 oder einem nur äußerlichen Strukturierungsprinzip unterworfen werden. b) Zur Interpretation herangezogen werden weitgehend nur Schleiermachers frühe theoretische »Schriften und Entwürfe« 27 , nur ausnahmsweise die Predigten28, der Briefwechsel nur zur zusätzlichen Erläuterung. Dies bringt mit sich eine Lücke für Schleiermachers Landsberger Zeit zwischen 1794 und 1796, wo keine theoretischen Schriften, sondern nur Predigten 29 und Briefe überliefert sind. Es begründet sich aber aus dem Interesse, eine Theoriekonfiguration in ihrer Entwicklung zu rekonstruieren 30 . c) Die Sequenz der ausführlich interpretierten Texte endet mit dem »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens«. Die zeitlich kaum später entstandenen und sachlich für die gewählte Arbeitsperspektive höchst ergiebigen Reden »Über die Religion« werden (zusammen mit den »Vertraute[n] Briefefn] über Friedrich Schlegels Lucinde« und den »Monologen«) in einem systematisch orientierten Schlußteil erfaßt, der aus der Interpretation des Frühwerks Linien in das 'frühromantische 1 Werk Schleiermachers zu ziehen und so die Erforschung des Frühwerks für dessen Deutung fruchtbar zu machen versucht. Die historisch-biographisch etwas willkürliche Ab26

Ein Eindruck, den Dilthey von Schleiermachers Frühwerk gewann, vgl. Leben Schleiermachers, 318: »wie unbehauene, ungeordnete Bausteine zum späteren Aufbau seiner Gedanken«.

27

Aus KGA 1/1 werden ausdrücklich nicht erfaßt nur das theoretisch unergiebige »Exzerpt aus Aristoteles: Metaphysik (mit Ubersetzungen und Anmerkungen)« von 1789 (165 - 175), die zwischen 1790 und 1792 entstandene »Notiz zur Erkenntnis der Freiheit« (213 - 215), die der großen Schrift »Über die Freiheit« inhaltlich nichts hinzufügt, sowie die vermutlich 1793 verfaßte, rein philologische »Abhandlung und textkritische Erörterung von Diogenes Laertius: De vitis philosophorum 2, 86-93« (473 - 485). Aus KGA 1/2 werden von den Texten vor den »Reden« ausgelassen nur die kurzen Notizen »Zum Armenwesen« (157 - 161), wohl von 1798; vgl. dazu ausführlich die Historische Einführung des Bandherausgebers G. Meckenstock, XXXVIII - L.

2

® Vgl. vor allem unten Kap. 3, 4., aber auch Kap. 6, 3.

29

Vgl. SW II/7, 203 - 380.

30 Für die Predigten ist außerdem entlastend zu verweisen auf die Arbeit von C. MeierDörken: Die Theologie der frühen Predigten Schleiermachers. Berlin - New York 1988 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 45).

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grenzung verdankt sich zum einen dem sachlichen Bogen von der Freundschaftstheorie zur Geselligkeitstheorie, zum anderen dem Interesse, die Theorieentwicklung Schleiermachers vor den »Reden« nicht als bloße Hinführung zu diesen, sondern aus sich selber zu erschließen, schließlich der forschungsgeschichtlichen Situation, daß es zu Schleiermachers Anfängen bislang vergleichsweise wenige, für die frühromantische Phase - und das heißt namentlich die »Reden«31 - fast unüberschaubar viele Forschungsbeiträge gibt. Das Schlußkapitel hat denn auch die Funktion, die Erträge der eher 'esoterischen' Frühwerksforschung in diesen Hauptstrom der Schleiermacherrezeption einfließen zu lassen und dadurch die Anknüpfung an den 'bekannten' Schleiermacher zu erleichtern 32 . d) Da es darum geht, Schleiermachers eigene Theorieentwicklung möglichst präzise und differenziert zu rekonstruieren, werden interne Bezüge zwischen den Texten Schleiermachers bevorzugt vor äußeren Einflüssen. Diese Priorisierung der internen Bezüge verstärkt sich im Verlauf der Untersuchungen: je differenzierter und elaborierter die Konzeption wird, desto stärker reagiert sie auf ihre eigenen Probleme. Entsprechend werden auch die sehr frühen Texte (KGA 1/1) intensiver und umfänglicher traktiert als die Texte der Jahre 1796 - 1799 (KGA 1/2): Nach einer gewissen Verfestigung der Leitkonfiguration ist eine gezieltere und stärker geraffte Behandlung der Texte möglich. Die Frage nach äußeren Einflüssen stellt sich mithin am dringlichsten für die ersten Anfänge von Schleiermachers Theorieentwicklung. Deshalb (und auch aufgrund der Entstehungsumstände und des literarischen Charakters der Aristoteles-Anmerkungen 3 3 ) gilt der Theorie von Johann August Eberhard, Schleiermachers philosophischem Lehrer in Halle, besonderes Augenmerk 34 . Denn nur dadurch kann präzise beschrieben werden, wie (und nicht nur pauschal postuliert werden, daß) die Beschäftigung mit Kant bereits mit sehr stark geprägten Theorievoraussetzungen erfolgt. Während in der Literatur bisher weitgehend die Auseinandersetzung mit Kant faktisch als das theoretische Initialerlebnis Schleiermachers erscheint 3 ^, wird die Kant-Rezeption hier von der hochelaborierten Konfiguration der Aristoteles-

31

Für die »Monologen« und die »Vertrauten Briefe« sieht es schon etwas anders aus!

32

Sachlich hätte sich auch eine Weiterführung bis zu den »Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre« von 1803 (SW III/l, 1 - 344) oder bis zur ersten Ethik-Vorlesung von 1805/06 (Brouillon zur Ethik, Hamburg 1984) angeboten; dies wäre aber nur bei einem den Texten gegenüber sehr viel abstrakteren Vorgehen in Gestalt kontinuierlicher Textinterpretation zu leisten gewesen.

33

Vgl. dazu unten die Einleitung zu Kap. 1.

34

Vgl. unten Kap. 2. Die große Ausnahme ist E. Herms, der Eberhard ausführlich behandelt: Herkunft, 44 78.

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Einführung Anmerkungen her an den Texten selbst untersucht; angesichts der Differenziertheit von Schleiermachers Äußerungen ist ein eigenes Kapitel zu Kant selbst unnötig. Ausführlicher eigenständig zu diskutieren ist außerdem der Einfluß Friedrich Heinrich Jacobis; wegen der sehr schmalen Quellenbasis und des Charakters der Jacobi und Spinoza betreffenden Texte-"' muß dabei verstärkt auf Jacobis eigene Werke zurückgegriffen werden. Nicht eigenständig, sondern nur punktuell im Duktus der Schleiermacherinterpretation thematisiert werden hingegen theoretische Einflüsse für die Zeit seit 1796, etwa Friedrich Schlegel.

e) Die Einheit der Fragestellung und die Konzentration auf die Entwicklung einer elaborierten Konzeption legen den Schwerpunkt der Untersuchung eo ipso auf die Kohärenz und die Kontinuität gerade in biographischen Brüchen und theoretischen Umbrüchen: Die Ausgangskonfiguration und das Leitinteresse sollen auch in neuen, veränderten Konstellationen reidentifiziert werden. Die Arbeit gliedert sich in sechs Teile: Teil I arbeitet zunächst aus den Aristoteles-Anmerkungen Schleiermachers freundschaftstheoretische Konzeption heraus und entwickelt dabei den Zusammenhang der für die Interpretation von Schleiermachers Frühwerk leitenden Aspekte (Kap. 1). Ein ausführlicher Vergleich mit Eberhards Ethik und Vorstellungstheorie (Kap. 2) belegt die Eigenständigkeit von Schleiermachers Leitinteresse, zugleich aber die Präsenz vielfältiger schulphilosophischer Theoriemotive in der Ausformung der Konzeption; damit wird die Basis für die Wahrnehmung der Ausstrahlung jener Konzeption in Schleiermachers weiteren frühen »Schriften und Entwürfen« verbreitert. Kap. 3 zeigt diese Ausstrahlung an vier sehr frühen Texten auf (»Über das Naive«, »Ueber den Styl«, »An Cecilie«, die Weihnachtspredigt von 1791 über die allgemeine Menschenliebe), entdeckt dabei erste Erweiterungen, Differenzierungen, reflexive Selbstthematisierungen und Selbstbeschränkungen der Ausgangskonfiguration; eben dies (ineins mit der deutlich sichtbaren Orientierung an dem sozialtheoretischen Leitinteresse) stabilisiert rekursiv ihre Beanspruchung als Ausgangskonfiguration. Teil II behandelt die im engeren Umkreis der Beschäftigung mit Kant entstandenen (wenngleich darin nicht aufgehenden) Schriften »Ueber das höchste Gut« (Kap. 4, 1.), »Freiheitsgespräch« (Kap. 4, 2.) und »Über die Freiheit« (Kap. 5). Dabei wird deutlich, daß Schleiermacher Kants ethisches Grundinteresse der Reinigung der Verhaltensorientierung von allen empirischen Motiven übernimmt und sogar radikaler durchzuhalten bean-

36

Vgl. dazu unten Kap. 8.

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spracht als Kant selbst, daß er aber Kants Konzept des intelligiblen Subjekts kritisiert um willen einer realistischen Theorie des durchwegs empirisch bestimmten, in vielfältigen äußeren und inneren Abhängigkeiten und Wechselwirkungen stehenden menschlichen Willens. Das Problem der Moralphilosophie ist dann auf der einen Seite das Dominantwerden reinvernünftig konstituierter Verhaltensorientierung in einem so dem Ensemble der Neigungen und Außeneinflüsse ausgesetzten Willen, auf der anderen Seite die Möglichkeit moralischer Selbst- und Fremdzurechnung von dergestalt nur teilweise selbstbestimmten Handlungen auf die handelnden Personen, auf der doch sowohl die Möglichkeit der Verantwortungsübernahme für eigenes Verhalten als auch die Legitimität staatlich-juridischer Sanktionen (Strafen) beruht. Schleiermacher entwickelt dazu eine psychologische Theorie, die die Ausrichtung des Ensembles der Seelenkräfte an dem vernünftig bestimmten moralischen Gefühl als beständig gegebene Möglichkeit zu rekonstruieren erlaubt (hier gewinnt die aus der Verhaltensorientierung eliminierte Glückseligkeit eine wichtige Funktion), sowie eine deterministische Konzeption der Wirklichkeit als umfassendes Kausalkontinuum, die eine Zurechnung vergangenen Verhaltens auf gegenwärtige Personen allererst denkbar macht. Diese Betonung des Endlichen, Konkreten, Interdependenten spiegelt die freundschaftstheoretisch explizierte Anthropologie der Aristoteles-Anmerkungen wider; sie bewahrt zudem Motive und Beschreibungsstrukturen von Eberhards Vorstellungstheorie. Teil III liest die große Abhandlung »Über den Werth des Lebens« als erste umfassende positive Entfaltung und Darstellung von Schleiermachers sozial theoretischer Konzeption der Koemergenz, Interdependenz und wechselseitigen Verstärkung von Individualität und Sozialität. Schleiermacher bündelt hier Konsequenzen aus seinen bisher gewonnenen Einsichten: Er geht aus von der (in der großen Freiheitsschrift am Problem der Zurechnung aufgebrochenen) Frage nach der Gewinnung realistischer Wahrnehmungs- und Beurteilungskriterien der individuellen Biographie, entwickelt dabei einen Begriff von der »Bestimmung des Menschen«, der neben der Tugend auch Glückseligkeit als zwar untergeordnetes, aber konstitutives Moment enthält (Kap. 6, 1.), und entfaltet sodann unter der Leitfrage der Zuträglichkeit verschiedener Lebensumstände für eine bestimmungsgemäße Lebensführung eine umfassende 'Phänomenologie von Lebenssphären', wobei er die enge wechselseitige Verzahnung von äußeren Lebensverhältnissen und von Bildung und Entfaltung individueller Fertigkeiten eindringlich demonstriert (Kap. 6, 2.). Die kleine Schrift »Über den Geschichtsunterricht« (Kap. 7, 1.) fügt den für die Selbstwahrnehmung relevanten Faktoren die transindividuelle Geschichte des eigenen Volkes und sogar

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Kulturkreises hinzu; der lateinisch verfaßte kritische Aufsatz »Philosophia politica Piatonis et Aristotelis« (Kap. 7, 2.) untersucht die Funktion des Staates für eine der menschlichen Bestimmung angemessene individuelle Lebensführung. Beide Texte lassen sich daher zwanglos den Leitfragen von »Über den Werth des Lebens« zuordnen. Teil IV (Kap. 8) untersucht die der Beschäftigung mit Spinoza und Jacobi gewidmeten Schriften aus den Jahren 1793/94 (»Spinozismus«; »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems«; »Ueber dasjenige in Jacobis Briefen und Realismus was den Spinoza nicht betrift, und besonders über seine eigene Philosophie«), Sie sind sicherlich der umstrittenste Bereich in der Forschung zu Schleiermachers Jugendwerk, was auch an ihrem schwer faßbaren Charakter als Mischung von unkommentierten Exzerpten, theorierekonstruierenden Kommentaren und sachorientierten Erörterungen und in bezug auf Jacobi jedenfalls an ihrer Kürze liegt; es sind hier ferner wichtige Weichenstellungen für Schleiermachers 'frühromantisches 1 Werk zu beobachten. Im Gefälle der vorliegenden Untersuchungen ist an diesen Schriften besonders die radikale Phänomenalisierung von Individualität von Bedeutung; ihr korrespondiert eine Metaphysik des »Flusses der endlichen Dinge«, die dem Einzelnen als Einzelnem Substantialität abspricht. Mit der daran angelagerten Konzeption der Inhärenz des Endlichen im Unendlichen setzt zudem Schleiermachers nicht-theistische Neubegründung der Religion ein. Teil V zeigt an den Texten aus der Berliner Zeit der Jahre 1796 bis Anfang 1799, den Gedankenheften, den Notizen zur Vertragslehre, den Athenäums-Fragmenten und zuletzt und vor allem dem »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens«, die Schleiermachers Theorieentwicklung gerade in seiner 1 frühromantischen' Phase leitende Dimension der Erfassung des Sozialen auf. Am Anfang stehen rechts- und staatstheoretische Überlegungen (Kap. 9, 1.), mit denen Schleiermacher Ansätze aufgreift, die in seiner Abhandlung zur antiken Politik (vgl. Kap. 7, 2.) dokumentiert sind. Dieses Interesse tritt im Sommer 1797 (im übrigen der Zeitpunkt der Begegnung mit Friedrich Schlegel) zurück und macht Platz für Notate zur Neukonstitution der Ethik im Zeichen des Zusammenhangs von individueller Selbst-Entfaltung und Weltgestaltung, zur Kritik konventioneller Geselligkeit und zu Aspekten einer wahrhaft »guten Lebensart«; dies geht sukzessive über in Ansätze zur Etablierung einer Theorie der freien Geselligkeit als einer Sozialform, in der die ungehinderte Entfaltung gebildeter Individuen konvergiert mit der Entstehung einer spezifischen Gestalt von Gesellschaft, mithin die Pflege der Individualität weder die Gesellschaft atomisiert noch umgekehrt der Zwang zur Anpassung an die Normen des konventio-

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17

nellen Beisammenseins die Individualitäten absorbiert (Kap. 10, 1. und 2.). Systematisiert erscheinen diese Ansätze in dem »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« (Kap. 10, 3.). Hier reproduziert Schleiermacher gewissermaßen seine am Leitbild der intimen Sozialform der Freundschaft gewonnene Ausgangskonfiguration unter Orientierung an dem neuen Paradigma der in sich komplexeren, an der Schnittstelle von Privatheit und Öffentlichkeit angesiedelten Sozialform der »freien Geselligkeit«. Teil VI schließlich identifiziert die dergestalt am Jugendwerk aufgewiesene sozial theoretische Leitkonfiguration an Schleiermachers 'frühromantischem Hauptwerk', den Reden »Über die Religion«, den »Monologen« und den »Vertraute(n) Briefe(n) über Friedrich Schlegels Lucinde«, dies aber anhand der beiden oben genannten 'Matrices': der Aufgabe der Darstellung partikularer Realisierungsformen der individuell-sozialen Bestimmung des Menschen (Kap. 11, 1.), und der abstrakten Fassung des Leitproblems von Schleiermachers Theorieentwicklung als des Zusammenhanges von Singularität und Relationierung (Kap. 11, 2.). Die bisherige Forschung zu Schleiermachers Jugendwerk hat sich weitgehend auf die hier in den Teilen II und IV behandelten Texten konzentriert; dies entspricht der oben konstatierten Ausrichtung auf erkenntnistheoretische, wissenschaftstheoretische oder moralphilosophische Grundlegungsfragen. Die vorliegende Arbeit betritt deshalb in Teil I nahezu vollständig 3 7 , in Teil III weitgehend Neuland 38 ; auch Teil V konnte in Kap. 9 nur auf wenige Vorarbeiten zurückgreifen 39 . Die erweiterte Perspektive und die 37

Nur »An Cecilie« ist durch G. Meckenstock eingehender analysiert worden (vgl. Deterministische Ethik, 132 - 147). Zu den anderen Texten Schleiermachers gibt es noch keine Literatur. Zu Eberhard gibt es, abgesehen von den wichtigen Abschnitten bei Herms (vgl. Herkunft, 44 - 78), keine neuere Untersuchung.

38

Die umfängliche Schrift »Über den Wert des Lebens« wird hier erstmals ins Zentrum des Interesses gerückt; sie wurde bislang meist als Vorstufe zu den Monologen abgehandelt (wozu ihre Teil-Publikation im Anhang der Edition der »Monologen« in der Philosophischen Bibliothek durch H. Mulert [Hamburg 1902 u.ö.] verleitet haben mag). Die Abhandlung »Über den Geschichtsunterricht« hat erst vor kurzem Beachtung gefunden (K. Nowak: Theorie der Geschichte. Schleiermachers Abhandlung »Über den Geschichtsunterricht« von 1793. In: G. Meckenstock; J. Ringleben [Hg.]: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums. Festschrift für H.-J. Birkner. Berlin - New York 1991, 419 - 439). Der Vergleich der Platonischen und Aristotelischen Staatsphilosophie wird hier erstmals interpretiert.

39

Allerdings sind hier neben dem aufschlußreichen Vortrag von G. Meckenstock über »Schleiermachers naturrechtliche Überlegungen zur Vertragslehre (1796/97)« (in: k.-V. Selge [Hg.]: Schleiermacher-Kongreß, Bd. 1, Berlin - New York 1985, 139 - 151) die kenntnisreichen literatur- und sozialhistorischen Ausführungen von K. Nowak in der

18

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veränderte Gewichtung verändern freilich auch Wahrnehmung und Beurteilung der Kant- und der Jacobi/Spinoza-Rezeption. Unterscheidet man die Literatur zum jungen Schleiermacher nach dem Kriterium eines eher biographischen bzw. epochengeschichtlichen oder eines eher immanenttheorierekonstruierenden Ansatzes, so ist die vorliegende Monographie zusammen mit den Arbeiten von Herms und Meckenstock eindeutig dem zweiten Typus zuzuordnen. Vorbild für die biographisch-epochengeschichtliche Deutung ist Diltheys Forschungsklassiker »Leben Schleiermachers« (Bd. 1, Berlin 1870)4®, dem die Schleiermacher betreffenden Partien der zeitgleich entstandenen großen Untersuchung von Rudolf Haym, Die Romantische Schule (Berlin 1870), zur Seite zu stellen sind. In der neueren Forschung kann die Untersuchung von Albert Blackwell, Schleiermacher's Early Philosophy of Life. Determinism, Freedom, and Phantasy, Harvard 1982, durchaus in die Nachfolge Diltheys gestellt werden 4 '. Blackwell interpretiert Schleiermachers Entwicklung bis 1804 unter stetem biographischen Bezug anhand der (freilich nicht exklusiv verstandenen) Sequenz der zentralen Orientierungsbegriffe »Determinism« (für die Zeit von 1789 bis 1795), »Freedom« (von 1796 bis 1799) und »Phantasy« (von 1800 bis 1804) 42 , wobei er sich für die früheste Zeit nahezu ausschließlich auf die Kant-Rezeption konzentriert. Dasselbe gilt für die »Schleiermachers Wissenschaftsbegriff« in zeitlicher Beschränkung auf die »frühesten Abhandlungen« herausarbeitende Studie von Fritz Weber (Gütersloh 1973); sie erfaßt freilich trotz ausdrücklicher Hervorhebung der Vernetzung von Denken und Leben (vgl. 9f.) sehr viel weniger biographische Momente als Blackwell, ist stärker systematisch orientiert. Mit der weiten literaturhistorischen Perspektive Hayms ist hingegen vergleichbar die Anlage der Monographie von Kurt Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik (Göttingen 1986), die ihren Schwerpunkt auf Schleiermachers Berliner Jahren als Charite-Prediger hat und dabei den geistesgeschichtlichen Kontext umfassend erhellt, die aber knapp auch Schleiermachers Jugendwerk behandelt (vgl. 70 - 92). Nowak ist der einzige der bisher genannten und der noch zu nennenden Autoren, der jedenfalls für den frühromantischen Schleiernlacher die sozialtheoretischen Ansätze ausführlich und zusammenMonographie »Schleiermacher und die Frühromantik« (Göttingen 1986) zu nennen. Der »such einer Theorie des menschlichen Betragens« (vgl. unten Kap. 10) ist hingegen bereits mehrfach interpretiert worden. Vgl. W. Hinrichs: Schleiermachers Theorie der Geselligkeit und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Weinheim 1965; M. Riemer: Bildung und Christentum. Der Bildungsgedanke Schleiermachers. Göttingen 1989, bes. 30 - 42, sowie die Ausführungen von M. Welker, Universalisierung, 15 - 19. 40

Vgl. dort (3. Auflage, Berlin 1970, XXXIII) den vielzitierten Vergleich von Schleiermacher und Kant: »Die Philosophie Kants kann völlig verstanden werden ohne nähere Beschäftigung mit seiner Person und seinem Leben; Schleiermachers Bedeutung, seine Weltansicht und seine Werke bedürfen zu ihrem gründlichen Verständnis biographischer Darstellung«. So urteilt auch G. Meckenstock; vgl. Deterministische Ethik, 7. Nach Blackwell (vgl. a.a.O., 3) nehmen die Interferenzen von Theorie und Biographie im Verlauf dieser 'Epochen' an Bedeutung zu: Für den zurückgezogen philosophischen Grundfragen auslotenden Studenten und Hauslehrer sind sie weniger wichtig als für den vom Salonleben und dem Umgang mit den 'frühromantischen' Literatenkreis inspirierten Charité-Prediger.

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19

hängend darstellt (vgl. 263 - 288). In Hinblick auf das Jugendwerk streift er die Dimension des Sozialen freilich nur und konzentriert sich auf die »Arbeiten über das höchste Gut und die Freiheit« (73 - 78) sowie die »Spinoza- und Jacobi-Studien« (84 - 92); allerdings nimmt er, anders als üblich, die »Betrachtungen über den Wert des Lebens« (78 - 92) als eigenständig zu behandelnden Text wahr, und zudem skizziert er Schleiermachers frühes Wirken als »Kanzelredner« (82 - 84). Die beiden unter Abstraktion biographischer Bezüge systematisch interessierten Monographien zu Schleiermachers Frühwerk, die Werke von Herms und Meckenstock, gehen in gewisser Hinsicht gegensätzlich vor: Herms abstrahiert bewußt vom Duktus der Texte, um die Entwicklung von Schleiermachers Wissen(schaft)slehre konsistent zu rekonstruieren; in dieser sieht er die Einheit von Schleiermachers Theorie verbürgt. Bei der Frage nach der »Herkunft« von Schleiermachers Wissenschaftssystematik beschäftigt sich Herms als einziger eingehend mit Eberhard und arbeitet subtil Schleiermachers komplexe Vermittlung schulphilosophischer und kantischer Motive heraus. Allerdings entsteht durch Herms' Vorgehen der unzutreffende Eindruck einer erkenntnistheoretischen Pointierung von Schleiermachers früher Theorieentwicklung selbst 43 . Zudem führt sein wissenstheoretisches Interesse Herms dazu, die spärlichen Dokumente von Schleiermachers Jacobi-Rezeption mit der Bedeutung als Indizien für eine zentrale Einsicht Schleiermachers, die Unterscheidung eines unmittelbaren Selbstbewußtseins vom vermittelt-gegenständlichen Selbst- und Weltbewußtsein, zu überfrachten. Meckenstock hingegen beansprucht, mit der Konzentration auf die »Auseinandersetzung (...) mit Kant und Spinoza« und mit den sachlichen Schwerpunkten »Deterministische Ethik und kritische Theologie« ein Untersuchungsraster zu besitzen, das es ihm ermöglicht, das Profil von Schleiermachers frühem Denken sichtbar zu machen. Er geht dabei so vor, daß er den Argumentationsgang der nach seiner Einschätzung wichtigsten frühen »Schriften und Entwürfe« Schleiermachers bis 1794 konzise rekonstruiert. Sein Leitinteresse bei Textauswahl und Untersuchungsperspektive ist es, Schleiermachers »argumentativen Beitrag zu den neuzeitlichen Konstitutionsfragen« (21) zu erhellen. Da er diese Grundlegungsfragen transzendentaltheoretisch faßt, ist ihm einerseits daran gelegen, den Einfluß Kants deutlich höher zu veranschlagen als bislang üblich; andererseits ist ihm damit das Kriterium der Selektion relevanter Texte gegeben: Arbeiten, die nach Meckenstock auf der 'materialen' Ebene verbleiben und nicht zu Begründungsfragen durchstoßen, werden ausgeschieden. Sieht man ab von der Verschiebung des Interesses von der Differenz zu Kant hin auf eine fundamentale Übereinstimmung mit Kant, so bleibt Meckenstock den Schwerpunktsetzungen der bisherigen Schleiermacher-Forschung in Hinblick auf Textauswahl wie auf Theorieeinflüsse verpflichtet: Von den völlig neu edierten Texten findet neben den Notizen zu Kants »Kritik der praktischen Vernunft« und dem ebenfalls der Kant-Rezeption zugeordneten »Freiheitsgespräch« nur »An Cecilie« eingehende Beachtung; die Frage der Bedeutung der Schulphilosophie wird nicht aufgrund der veränderten Quellenbasis neu aufgerollt.

Die vorliegende Untersuchung verfolgt die Theorieentwicklung eines bestimmten Denkers in einer bestimmten Zeit. Sie ist insofern historisch angelegt. Dazu steht nicht notwendig im Widerspruch, daß die herausgearbeitete Ausgangskonfiguration (ohne ihren historisch-rekonstruktiven 43

So auch Meckenstock, Deterministische Ethik, 15.

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Anspruch einzubüßen) so gefaßt ist, daß sie transparent wird hin auf Fragestellungen gegenwärtiger Theoriebildung. Trifft es nämlich zu, daß diese Ausgangskonfiguration aus der Beschäftigung mit Aristoteles erwachsen ist und deshalb jedenfalls in gebrochener Weise 'aristotelische' Momente angenommen hat, daß sie zudem auch der Auseinandersetzung mit Kant zugrunde lag und dabei nicht völlig 'kantianisiert' wurde, sondern umgekehrt die Kant-Rezeption beeinflußte, dann kann man sagen, daß Schleiermacher idealtypisch 'aristotelische' und idealtypisch 'kantische' Motive und Momente in einem höchst eigenständigen Konzept zusammenfügt. Eben diese 'Zwischenlage' zwischen Theorien 'aristotelischen' und 'kantischen' Typs ermöglicht nun aber, das Denken des jungen Schleiermacher als eigenständigen Beitrag in der gegenwärtigen ethischen und sozialphilosophischen Diskussionslage zu verorten, wenn diese geprägt ist von der Spannung und den Vermittlungsversuchen zwischen einem nachliberalen, 'aristotelischen' Gemeinwohl-Denken 44 und einem 'kantianischen' formalen »Prozeduralismus« 45 . Dieser Gegenwartsbezug wird in den folgenden Untersuchungen nicht selbst entfaltet, sondern durchgängig vorausgesetzt. Eine solche systematische Entfaltung der These von Schleiermachers »nachkantische(m) Aristotelismus« vollzieht hingegen Michael Moxter in seiner wichtigen Arbeit »Güterbegriff und Handlungstheorie« Diese Arbeit ist keine Monographie zur Entwicklung des jungen Schleiermacher, sondern eine systematische Untersuchung zu dessen reifer Ethik. Sie untersucht freilich in einem ersten Kapitel die »Vorbereitung der güterethischen Option in den Jugendschriften Schleiermachers« (18; Überschrift). Da Moxter seine grundlegende These, bei Schleiermachers entfalteter Güterethik handele es sich wie bei Hegels Rechtsphilosophie »um eine Theorie des objektiven Geistes (in Schleiermachers Sprache: des 'sittlichen Seins'), die solche 'Objektivationen' thematisiert, die von sozial verfaßten Subjekten hervorgebracht, aber auch vorgefunden werden« (2), mit der Aussage verbindet, »der Gedanke, Kant 'korrigieren' zu wollen, indem man die in vernünftigen Handlungen immer schon vorausgesetzte Intersubjektivität in den Mittelpunkt einer Ethik stellt, [sei] im Grunde ein genuin Schleiermacherscher Ge-

44

Vgl. besonders A. Maclntyre: After Virtue. Notre Dame 1981. Deutsch: Der Verlust der Tugend. Frankfurt (M) 1987. Zu dieser Unterscheidung vgl. J. von Soosten: Zur theologischen Rezeption von Jürgen Habermas' »Theorie des kommunikativen Handelns«. In: ZEE 34 (1990), 129 - 143, hier: 139. Die analoge, freilich sehr viel allgemeinere Unterscheidung zwischen einer »eudämonistische(n)« bzw. »utilitaristische(n)« »Klugheitsmoral« und einer »universalistischen Sollensethik« als Horizont gegenwärtiger Ethik findet sich bei R. Spaemann: Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik. Stuttgart 1989, 10.

4
Michael Moxter: Güterbegriff und Handlungstheorie. Eine Studie zur Ethik Friedrich Schleiermachers. Kampen (Niederlande) 1992. Das Zitat: 16.

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21

danke« (ebd.), konzentriert er sich bei den Jugendschriften auf die Kant- Kritik*1. Dabei arbeitet er auf der einen Seite heraus, daß diese Kritik tatsächliche immanente Probleme der Kantischen Philosophie aufzeigt; auf der anderen Seite bezieht er die Kant-Kritik auf Schleiermachers eigenes Leitinteresse, einen Begriff des Handelns zu entwickeln, der Willensbestimmung nicht in einem intelligiblen (absoluten und unbedingten) Jenseits verortet, sondern im Kontinuum der sozial verfaßten Welt erfolgen sieht. Schleiermacher habe so »das Paradigma eines einsamen Akteurs, der einer Welt von Objekten Bestimmungen mittels absoluter Anfänge von Kausalreihen gibt, als ein für das Begreifen menschlicher Handlungen ungeeignetes Modell zurückgewiesen« (45f.); er habe stattdessen »die Pluralität der menschlichen Subjekte und ihre handelnden Bezugnahmen aufeinander zu Grundphänomenen erklärt« (46). Bleibt Moxter daher zwar bezüglich der Textauswahl^ im Rahmen der bisherigen Forschung, so ist sein Ansatz doch offen für die sozialtheoretischen Untersuchungen von Schleiermachers Frühwerk, die die vorliegende Arbeit unternimmt. Explizit behandelt Moxter die geselligkeitstheoretische resp. kommunikationstheoretische Grundierung von Schleiermachers Theorieentwicklung - hinsichtlich der sozialtheoretischen Deskriptionsleistung und hinsichtlich der Bedeutung dieser Leitorientierung für die Genese von Schleiermachers Theorieprofil - allerdings nicht. D i e hier v o r g e l e g t e n Untersuchungen sind im Grenzbereich von P h i l o s o phie, Sozialtheorie und (in geringerem Maße) Religionstheorie angesiedelt. S i e behandeln kaum i m engeren Sinne theologische Fragestellungen.

Dies

entspricht den in den Briefen und den »Schriften und Entwürfen« d o k u m e n tierten Interessen des jungen Schleiermacher selbst, der d i e (dogmatischkirchliche und philosophische) T h e o l o g i e unter erklärter G e r i n g s c h ä t z u n g 4 9 unbearbeitet ließ und sich in der literarischen Produktion philosophischen w i e geselligkeitstheoretischen Problemen zuwandte, o h n e freilich das Relig i o n s t h e m a j e m a l s aus den A u g e n zu verlieren, das in den »Reden« denn auch k e i n e s w e g s v ö l l i g unvorbereitet in den Mittelpunkt des Interesses tritt. D i e Erhellung der kommunikationstheoretischen Leitkonfiguration der Entw i c k l u n g v o n Schleiermachers frühem Denken hat deshalb zunächst d i e theologiegeschichtliche

Bedeutung,

den

Weg

Schleiermachers

zu

den

»Reden« unter e i n e m bestimmten, sehr integrativen Aspekt zu rekonstruieren und damit umgekehrt

zur stärkeren Wahrnehmung

und

präziseren

D e u t u n g d e s Z u s a m m e n h a n g e s von Religion und Kommunikation

bzw.

Allerdings behandelt er knapp, aber präzise Eberhards Vorstellungstheorie; vgl. 36 38. Er identifiziert zudem noch das »Thema« der »Denkbarkeit von Handlungen« in der Jacobi-Rezeption\ vgl. 49 - 52. Vgl. etwa KGA V/1, 178: »theologischer Wust«, »eine ekelhafte Bekanntschaft« (Brief 128 vom 9.12.1789, Z. 299-301), oder 193: die »theologischen Subtilitäten (...), die ich von Herzen - verlache« (Brief 123 vom 3.2.1790, Z. l l l f . ) .

22

Einführung

Religion und Gemeinschaftsbildung in den »Reden« beizutragen 50 . Dieser Zusammenhang benennt dann auch einen möglichen Ort gegenwärtiger systematisch-theologischer Anknüpfung an die vorliegenden Interpretationen: die Ekklesiologie sowohl unter dem Binnenaspekt der Bestimmung der Kirche als Sozialform des Glaubens in ihrer Konstitution und Genese und in ihrem Verhältnis zur Individualität der Glaubenden als auch unter dem kirchensoziologischen Aspekt der Kirche als Institution in der modernen Gesellschaft.

50

Dabei werden die »Reden« allerdings nicht als Telos und auch nicht als Sachkriterium des Frühwerkes verwendet, sondern als eine, wenngleich hervorgehobene Station einer Entwicklung.

Erster Teil Freundschaft

Erstes Kapitel Fragilität und Kontinuierung: Ansätze zur Formierung von Theorie in den Anmerkungen zur Freundschaftslehre des Aristoteles

Einleitung Der Behauptung, an den Anmerkungen zur Freundschaftslehre des Aristoteles lasse sich die Ausgangskonfiguration der Theorieentwicklung Schleiermachers, die erste Konkretionsgestalt des diese Entwicklung treibenden sozialtheoretischen Leitinteresses herausarbeiten 1 , begegnen Einwände, die die Eigenständigkeit dieses Textes betreffen. So könnte der sozial- und literaturhistorische Hintergrund, die Bedeutung des Freundschaftsthemas im 18. Jahrhundert, den ganz konventionellen Charakter der Anmerkungen belegen, so daß sie für Schleiermacher selbst wenig aussagekräftig wären. Vor allem aber scheinen Entstehungsumstände und literarische Gestalt es zu verbieten, den Text für Schleiermacher zu beanspruchen. War Schleiermachers ausdrücklicher Anspruch doch nur, in einer Vorlesung über »Philosophische Moral« mündlich vorgetragene Kommentare seines Hallenser philosophischen Lehrers Johann August Eberhard zur Freundschaftslehre der Nikomachischen Ethik 2 niederzuschreiben und in einen kontinuierlichen literarischen Zusammenhang zu bringen 3 , und markierte er die auf Eberhard zurückgehenden Partien sogar graphisch (vgl. 42,3f.), gab zudem den Text (oder die bereits vollendeten Teile) Eberhard zur begutachtenden Lektüre (vgl. 42,5 und besonders 43,4-6). Beschränkte sich die Beteiligung Schleiermachers an der Entstehung des Textes deshalb nicht auf die Funktion eines Sekretärs? Doch sprechen zunächst einige konkrete Umstände gegen eine solche Bewertung. Nirgends wird ersichtlich, daß Schleierma1

Vgl. oben die Einführung.

2

Vgl. genauer die Einleitung zu KGA 1/1, XXXIIIf.

3

Vgl. KGA 1/1, 4 2 , 2 - 5 . - Zitate aus diesem Band werden fortan nur mit Seiten- und Zeilenangabe im Text selbst belegt.

26

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

eher die Anmerkungen als Auftragsarbeit Eberhards zu dessen Gebrauch verfaßt hat. Sie blieben in Schleiermachers Besitz bzw. kehrten dorthin zurück. Nirgends distanziert sich Schleiermacher zudem von Eberhard; noch nach seinem Weggang aus Halle zeigt er brennendes Interesse an Informationen über von diesem geäußerte »Gedanken«4. Es ist deshalb auch nicht mit einer reservierten Haltung Schleiermachers zu seinem eigenen Text zu rechnen. Wenn nicht schon die mehrfache Verwendung des Personalpronomens der ersten Person im Text selbst5, so deutet doch die Energie, mit der Schleiermacher auch über seine Hallenser Zeit hinaus das Projekt der Übersetzung6 und Kommentierung der Nikomachischen Ethik weiterbetrieb7, darauf hin, daß er die Beschäftigung mit Aristoteles als eine eigenständige betrachtete. Diese Beschäftigung ist zudem auch keineswegs rein philologisch oder philosophiehistorisch orientiert; die Anmerkungen zur Aristotelischen Freundschaftstheorie sind vielmehr eher Studien zu einem 'Traktat über die Freundschaft', die sich »ihre Themen von Aristoteles geben lassen«8. Mehr noch sprechen hermeneutische Erwägungen dafür, die »Anmerkungen« als selbständige Arbeit Schleiermachers in Anspruch zu nehmen. Für eine nicht im strengen Sinne historisch-biographisch, sondern problem- und sachorientiert vorgehende Untersuchung des Entwicklungsganges eines Autors ist nicht die Originalität der einzelnen Arbeiten - d.h.

4

Vgl. den Brief an Brinckmann vom 22.7.1789; KGA V/1, 141 (Brief 119, Z. 296298).

5

Vgl. z.B. 7,32 (»Mir scheint«); ähnlich 14,30 (»meines Erachtens«).

6

Die - nach der Kommentierung entstandene (vgl. KGA 1/1, XXXVII - XL)! - Übersetzung von NE VIII und IX ist abgedruckt in KGA 1/1, 45 - 80. - 1790 erschien im übrigen auch im Dritten Band von Eberhards »Philosophischem Magazin« (217 - 235; 304 332) ein »Versuch einer deutschen Uebersetzung des achten Buches der Ethik des Aristoteles« (von H. Dellbrück) .

7

Zum Plan weiterer Beschäftigung mit der Nikomachischen Ethik vgl. den Brief an Brinckmann vom 27.5.1789: »(...) die Aristotelische Theorie von der Gerechtigkeit [sc. NE Buch V] zu bearbeiten und zugleich meine Gedanken darüber aufzusezen«, KGA V/1, 119 (Brief 114, Z. 45f.). Vgl. den Brief an Brinckmann vom 22.7.1789, welchem Schleiermacher einen (nicht überlieferten) »kleinen Aufsaz (...) über das Verhältniß der Aristotelischen Theorie von den Pflichten zu der unseren [Ansicht darüber]« beigibt, den er »Eberharden in meinem Namen zu Füßen zu legen« bittet, KGA V/1, 141 (Brief 119, Z. 291-293). - Das Vorhaben, eine kommentierte Übersetzung der ganzen Nikomachischen Ethik zu veröffentlichen, gab Schleiermacher vermutlich aufgrund des Erscheinens von D. Jenischs gleichartigem Projekt (Danzig 1791) auf; vgl. KGA 1/1, XXXIX.

8

So zurecht Meckenstock, Deterministische Ethik, 22.

Einleitung

27

deren Unterscheidung von anderen Konzeptionen, von auf sie einwirkenden Einflüssen etc. - das primäre Untersuchungskriterium, sondern deren immanente 'Theoriequalität' selbst. Insofern wäre selbst mit dem Nachweis fast völliger Abhängigkeit der »Anmerkungen« von Eberhard deren Bedeutungslosigkeit für die Theorieentwicklung Schleiermachers noch nicht erwiesen. Sollte sich der Text selber als theoretisch ergiebig herausstellen, so wird es eine zweitrangige (wenn auch keineswegs belanglose) Frage, ob man die Theoriequalität schon Eberhard zurechnet und Schleiermacher dann als hochbegabten Rezipienten ansieht, oder ob man annimmt, daß Schleiermacher selbst in der Rezeption die Aussagen seines Lehrers variiert, differenziert, bereichert, in neue Kontexte stellt etc. Beide (ohnehin nur bei mechanischem Abschreiben völlig geschiedenen) Aspekte, Rezeption und Variation, können als eigene Leistung des Rezipierenden beansprucht werden. Freilich macht dies die Untersuchung des Eberhardischen Hintergrundes der Aristoteles-Anmerkungen nicht unnötig. Und dies nicht nur aus dem Grund, daß der Gegenstand der Rezeption für die Einsicht in deren Selektivität durch die Erkenntnis dessen, was sie ausschließt, Informationswert hat, sondern auch, weil die Struktur des Seligierten selbst durch die 'Herkunftstheorie' stärker geprägt ist, als an der Oberfläche (und auch dem Autor selbst) sichtbar ist. Deshalb soll in einem zweiten Kapitel die Bedeutung des Freundschaftsthemas in Eberhards »Sittenlehre der Vernunft« untersucht und überhaupt Eberhards ethische und vorstellungstheoretische Konzeption unter der Perspektive dargestellt werden, ob sie die Komplexität von Schleiermachers frühem Ansatz erreicht bzw. inwiefern sich in diesem Ansatz Eberhardische Momente und Motive wiederfinden. Auf der anderen Seite gewinnt die Konzeption der Aristoteles-Anmerkungen aufgrund von deren Charakter Signifikanz für Schleiermachers Denkentwicklung allererst dann, wenn sich zeigen läßt, daß diese Konzeption in anderen Texten Schleiermachers präsent ist, daß er an ihr und mit ihr weiterarbeitet, daß sie ein integrales Moment in den verschiedenen Bereichen seiner Theoriebildung darstellt. Eben dies soll in einem dritten Kapitel bereits an sehr frühen Arbeiten Schleiermachers nachgewiesen werden.

28

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

1. Empfindung, Pflicht und Freundschaft (Anmerkung 1 und 2)

1.1. Wohltätigkeit als reine Pflicht »(U)nser Herz«, so setzen Schleiermachers Anmerkungen zur Freundschaftstheorie der Nikomachischen Ethik ein (3,1), stimme einerseits der Behauptung des Aristoteles zu, Wohltätigkeit gewinne Dignität proportional zu der Empfindung der Nähe zu ihrem Gegenstand, entfalte sich deshalb in ihrer »preiswürdigsten Form dem Freunde gegenüber«9; andererseits wisse es, »daß die Wohlthätigkeit viel zu sehr unsre Pflicht sei« (3,2f.), als daß sie nur in Abhängigkeit von den nicht in sich selbst kontinuierlichen und auf das Angenehme tendierenden Empfindungen betätigt werden dürfte. Das impliziert eine Unabhängigkeit der Wohltätigkeit von Sympathie oder Hochachtung für denjenigen, dem man wohltut. Kriterium ist vielmehr dessen Bedürftigkeit (vgl. 3,7) 10 . Das Verhältnis der Pflicht zu Bedürftigkeit und Empfindung variiert jedoch bei den »verschiedene(n) Arten von Wolthätigkeit« (3,9). Schleiermacher rechnet mit dem Fall, daß die Mitgliedschaft in der bürgerlichen Gesellschaft einigen Vorteile, anderen aber Benachteiligungen einträgt, die ihnen »als Menschen schlechtweg« (3,15) nicht zukämen. Zwar bleibt unklar, wonach sich dies Menschsein-an-sich11 bestimmt und ob es eine ideale Sozialität einschließt12, so daß die faktische Ungleichheit sich nur einer faktisch deformierten Gesellschaft verdankte13,

9

NE 1155a 8f. in der Übersetzung F. Dirlmeiers, Stuttgart 1969, 213; Hervorhebung von mir. Zu »Bedürftigkeit« vgl. Eberhard, Sittenlehre der Vernunft [fortan zitiert als SdV], § 183 (S. 225).

11

Vgl. dazu auch H.W. Arndt: Einleitung zu Chr. Wolff: Gesammelte Werke. 1. Abteilung. Bd. 4. Hildesheim - New York 1976, XIII: »Norm naturgemäßer Befindlichkeit«, »menschliche(r) Normalzustand()«, »mittlere() Proportionale«. Zum Problem der Unterscheidung und Zuordnung von Naturzustand und gesellschaftlichem Zustand bei Eberhard vgl. unten Kap. 2, 1.1.

13

Auch die Aussage, deijenige habe am meisten Anspruch auf Unterstützung, »deßen Unglük am meisten aus der Natur der bürgerlichen Einrichtung herrührt« (3,25f.; Hervorhebung von mir), bringt keine letzte Klarheit, insofern mit »bürgerliche() Einrichtung« die gegenwärtige deformierte Gesellschaft gemeint sein könnte, für die Ungleichheit und Entfremdung konstitutiv sind. Näher liegt allerdings die Deutung, daß jede Gestalt von Sozialität nur abstrakt Gleichheit der beteiligten Personen ermöglicht, faktisch sich aber immer eine zeitliche (diachrone) und räumliche (synchrone) Streuung von Steigerung und Minderung von »Gütern« (3,11) und »Glükseligkeiten« (3,12) ergibt. Dieser Gedanke ist interessant, insofern hier eine dynamisierte, in permanentem

1. Empfindung, Pflicht und Freundschaft

29

deutlich ist aber, daß aus den soziogenen Vorteilen eine Pflicht zum Ausgleich an die soziogen Eingeschränkten entspringt, und zwar vor allem deshalb, weil die entstandene Ungleichheit kontingent ist. D.h., sie kann allenfalls partiell dem Begünstigten als Verdienst und dem Benachteiligten als Schuld zugerechnet werden. Viel stärker bringt die Anschauung der Benachteiligten dem Begünstigten die Übermacht der Umstände zu Bewußtsein, so daß ihr »Schiksal()« (3,18) auch ihn hätte treffen können und bei veränderten Umständen noch treffen könnte. Die Einsicht in die als schicksalhaft erfahrene und chiffrierte Nichtsteuerbarkeit der sozialen Prozesse bei gleichzeitiger (derzeitig Lebensqualität steigernder, potentiell aber auch mindernder) Betroffenheit dadurch nötigt schon deshalb zu tätiger Solidarität mit den Bedürftigen, weil man sie in ähnlicher Situation selber erwarten und wünschen würde. Dieser - ja durchaus an Selbsterhaltungsinteressen orientierte - Zukunftshorizont wird aber durch die Empfindung nicht eingeholt. Denn zwar wird sie jener Ausgleichsforderung im abstrakt Allgemeinen zustimmen; im konkreten Einzelmoment kann sie ihr jedoch nicht kontinuierlich entsprechen, indem einmal die Pflicht in der Empfindung faktisch nicht durchgängig dominiert 1 4 , zum andern aber die Empfindung überhaupt durch die Alltäglichkeit der Ungleichheitssituation so desensibilisiert und abgestumpft ist (vgl. 3,30-32), daß sie diese gar nicht mehr wahrnimmt. Hier ist deshalb allein die Pflicht selbst wahrnehmungs- und handlungsleitend (vgl. 3,19). Die Empfindung wird auch durch die Resonanz wohltätiger Handlungen nicht kontinuierlich genug restimuliert, um zur Fortsetzung solcher Handlungen »anzureizen« (3,37). Denn die Wirkung einzelner Wohltaten bzw. der Wohltaten Einzelner vermag den Status der Benachteiligten nur punktuell und vorübergehend zu verbessern; sie erzeugt deshalb nur ephemere, nur kurzfristig resonanzfähige soziale Realität (vgl. 4,2-5). Eine dauerhafte Zustandsverbesserung, eine stabile, als Resultat des Handelns gewußte und dergestalt animierend auf den Einrelativem (vgl. 3,16: »einen Theil des Ueberflußes«; Hervorhebung von mir) Interessenausgleich zwischen beteiligten Einzelnen oder Gruppen je neu sich austarierende Gesellschaft sichtbar würde, in der die Vorstellung des Menschseins-an-sich nur noch eine Art regulative Idee zur Quantifizierung des zu fordernden und zu leistenden Ausgleichs darstellte. Freilich muß diese Konzeption mit der starken Behauptung der Autosuffizienz und Autarkie des »Glüklichen« (4,27; vgl. unten 2.1.; das Problem schon NE IX 9: 1169b 3ff.) sowie mit der Hervorhebung der Freundschaft als nichtentfremdeter Sozialform ausgeglichen werden. Vgl. unten 4. Vgl. 3,28-30: Es gibt konkrete Anwendungen der allgemeinen Maxime sozialen Ausgleichs, »welche den Entscheidungen der Empfindung grade zuwider laufen« (3,29f.). D.h., es gibt Situationen, in denen die Empfindung die geforderte Hilfeleistung verweigert.

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I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

zelnen rückwirkende Sozialsphäre entsteht nur, sofern viele Einzelne sich an deren Aufbau beteiligen, so daß die Resultate der Einzelhandlungen sich gegenseitig abstützen und so im sozialen Feld erhalten bleiben. Die Pflichterfüllung des Einzelnen darf in der Tat weder von der gleichzeitigen Pflichterfüllung Anderer noch von faktischer Wirkung bzw. Resonanz abhängig gemacht werden. Zur Bestimmung der Wohltätigkeit gehört aber, daß die Pflicht dazu »besser« (4,19) erfüllt wird, wenn sie zur Etablierung dauerhafter, 'objektiver' sozialer Realität beiträgt. Schleiermacher erwähnt allerdings nicht, daß dann zur individuellen Wohltätigkeit auch die Herstellung von Bedingungen sozialer Kooperation gehören würde. Stattdessen faßt er die »erweiterte() Wolthätigkeit« (4,24) ganz vom Einzelnen her, der gehalten sei, mittels kontinuierlicher Zuwendung »einen ganzen Gegenstand des sittlichen Misvergnügens aus (s)einem Kreis der Gesellschaft« hinwegzunehmen (4,19f.). Schleiermachers entscheidende Pointe dabei ist freilich, daß durch solche dauerhafte Versittlichung eines Teiles der sozialen Sphäre keineswegs »die geselligen Empfindungen in einem höhern Grade genährt werden« (4,25; Hervorhebung von mir). Die Erfüllung der Pflicht zu sozialem Ausgleich kann durchaus zusammenbestehen mit einem Desinteresse an der Person des Andern, ja geradezu mit einer funktionalen, instrumentellen Betrachtung und Behandlung des Andern. Er wird nicht als er selbst wahrgenommen, sondern als Objekt einer über ihn souverän verfügenden Tätigkeit 15 , deren Zweck als sittliche Tätigkeit die Veranschaulichung der »Vollkommenheit in den einzelnen Theilen des Weltganzen« (4,16f.) und damit die »Verherrlichung Gottes« (4,14) ist 1 6 . Allerdings ist der Mensch ein weit weniger gut formbares Objekt als die »Naturdinge« (5,5), so daß die ihn verdinglichend-gestaltende Tätigkeit besonders wenig Erfolg verspricht (vgl. 5,1-5).

15

Vgl. 4,28-32: »Derjenige, welcher sich so weit herabläßt der Glüksschöpfer eines andren zu seyn, handelt dabei nach seinem eignen Willen, und der Klient widerstrebt ihm gemeiniglich eben so wenig als die todte Natur der Hand desjenigen, der sie zu einem schönen Kunstwerk umbilden will.«

16

Vgl. Eberhard, SdV, § 1,3 (S. 2f.): »Wenn wir hier aus der natürlichen Theologie annehmen, daß die Verherrlichung Gottes oder die Religion der letzte Zweck der Schöpfung sey, der ohne die Glückseligkeit der vernünftigen Geschöpfe nicht erreicht werden kann: so sind die guten freyen Handlungen sowohl Mittel zur Verherrlichung Gottes als zur Glückseligkeit der vernünftigen Geschöpfe.« Vgl. ebenso SdV, § 87. - Zur Finalisierung der Schöpfung auf Verherrlichung Gottes hin als zentrales Element der Schöpfungslehre der altprotestantischen Orthodoxie vgl. F . W . Graf: Von der creatio ex nihilo zur »Bewahrung der Schöpfung«. Dogmatische Erwägungen zur Frage nach einer möglichen ethischen Relevanz der Schöpfungslehre. In: ZThK 87 (1990), 206 - 223, hier: 211 f.

1. Empfindung, Pflicht und Freundschaft

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1.2. Die zwei Faktoren der Freundschaft Fragt man nach der näheren Bestimmung des so neigungsfrei pflichtorientiert Handelnden, so zeigt sich eine Unausgeglichenheit zwischen der Ausgangssituation einer nicht auf eigener Tätigkeit beruhenden Selbständigkeit, die als kontingente und mithin reversible das Bewußtsein zumindest potentieller Bedürftigkeit einschließt, und der betonten Autarkie und Autosuffizienz des 'Wohltäters', der der sozialen Resonanz nicht bedarf, der, Menschen und Dingwelt egalisierend, in seiner Umwelt niemand seinesgleichen erblickt oder als solchen behandelt. Natürlich läßt sich behaupten, die Wahrung kontingenter Selbständigkeit verlange keineswegs, auf irreduzibler Wechselseitigkeit beruhende Sozialbeziehungen zu suchen, sie lege vielmehr gerade eine egozentrische Instrumentalisierung der sozialen Umwelt nahe. Doch nicht nur wird die Realistik solcher Haltung durch die Voraussetzung der Nichtsteuerbarkeit des sozialen Prozesses dementiert; sie steht auch als pflichtwidrig und immoralisch außerhalb des Horizontes der, Verhaltensorientierung intendierenden, Überlegungen. Der Solipsismus der Pflichterfüllung zielt ja eben nicht auf pure Selbsterhaltung, sondern auf Realisierung einer transsubjektiven, zeitresistenten sozialen Sphäre. Zwei Faktoren bedingen nach Schleiermacher, daß auch der »Glükliche« (5,9) ein »Bedürfniß« (5,7) hat nach Beziehungen gerade zu nicht-instrumentalisierbaren, nicht auf ihre Nützlichkeit zu reduzierenden bzw. ihre Funktionalität allererst durch ihre Unabhängigkeit gewinnenden Anderen 1 7 . Beide Faktoren entspringen individualpsychologischen und sozialtheoretischen Einwänden gegen eine Anthropologie der reinen Pflicht, begründen aber zwei verschiedene Funktionen von »Freundschaft«.

1.2.1. Wahrnehmung irreduzibler Andersheit Der Solipsismus auch der sozialen Pflichterfüllung führt zu innerer Verarmung. Schleiermacher sagt nicht, daß vom Aspekt der Pflicht her die Autarkie des 'Glücklichen' nicht suffizient wäre, er führt nur eine psychologisch notwendige (»muß«, 5,11) Tendenz zum Überdruß des Solitären an sich selbst an, die das »Verlangen« mit sich bringt, die »Sphäre« des »eignen Kreis(es)« zu »erweitern« (5,9-12), bzw. genauer: das »System [der] eignen Ideen« zu transzendieren (5,8). Dies geschieht in jener Form von WohltäZur inneraufklärerischen Spannung zwischen »mitleidiger(r) Menschenliebe« und ökonomischem Nützlichkeitsdenken vgl. R. Grimminger, Aufklärung, 20 (»innermoralische Dialektik der Aufklärung«).

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I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

tigkeit, deren eigentlicher Zweck die Erweckung »gesellige(r) Empfindungen« (4,25 u.ö.) ist. Im Gegensatz zur solipsistischen Wohltätigkeit der Pflicht, die Resonanzen definitorisch ausblendet bzw. nur als sekundäres Steigerungsmoment anerkennt, ist sie geradezu Instrument der Suche, Attraktion und Erhaltung resonanzfahiger 'Objekte' 1 8 . Bedingung dafür, daß die Resonanz nicht wieder nur Echo des Eigenen ist, daß es mithin zu wirklicher Selbsttranszendenz kommt, ist die relative Intransparenz und Unberechenbarkeit des Andern, seine Unverfügbarkeit und Selbständigkeit jedenfalls gegenüber dem ihn als Anderen Suchenden. Während die Wohltätigkeit der Pflicht den Andern nach eigenem (wenn auch an allgemeinen Grundsätzen orientiertem) Willen behandelt (vgl. 4,29f.), sucht die Wohltätigkeit der Kommunikation Impulse mit Neuigkeitswert 19 , Überraschungseffekte, Wahrnehmung sich erschließender Fremdheit. Das erfordert, daß der Andere j e komplexer erscheint, als momentan erwartbar und kontrollierbar 2 0 . Vorausgesetzt ist dabei allerdings immer eine Gleichheit (vgl. 5,15) mit dem Anderen hinsichtlich des Grades der Komplexität, da Unterlegenheit sich gerade in Berechenbarkeit, Transparenz und Instrumentalisierbarkeit äußert (bzw. stilisiert Instrumentalisierung ihren Gegenstand als unterlegen, als weniger komplex) und Überlegenheit des Andern ihn das Interesse an der Kommunikation verlieren ließe 2 1 . Der Gedanke der bereichernden Wahrnehmung irreduzibler Andersheit ist überdies nicht primär auf die ethisch unqualifizierte Wahrnehmung beliebiger, faktischer, kontingenter Individualität bezogen; immer ist gedacht an sittliche Gleichheit im Sinne von Höchstwürdigkeit 22 . Denn nur dann ist es sittlich plausibel, die eigenen »Kräfte nach den Ideen anderer zu ihrem Besten würken«

18

Auch die Pflicht motiviert zur Suche nach nun gerade ihr entsprechenden Objekten, vgl. oben 1.1.

19

Vgl. dazu auch Eberhard, SdV, § 9 Anm. 2 (S. 10): Vergnügen der Sinne »werden durch die Neuheit verstärkt und durch die Gewohnheit geschwächt«. Deshalb gilt Eberhard Enthaltsamkeit als »ein Mittel zur Vermehrung der angenehmen und Verminderung der unangenehmen Empfindungen«. Vgl. auch § 154 Anm. 4 (S. 183) und § 158 Anm. 1 (S. 187), sowie § 159 Anm. 3 (S. 189). Deshalb auch kann »Zuneigung gegen leblose Dinge« (7,31) nicht Freundschaft genannt werden. Vgl. Schleiermachers Anmerkung 8 (7,11 - 9,29), besonders die mit zunehmender Komplexität der Objekte der Zuneigung sich steigernde Nähe zur Freundschaft.

21

Vgl. schon Aristoteles, der empfiehlt, dem Freund keine solche Vollkommenheit zu wünschen, die sein Wesen verändert und durch seine so entstandene Überlegenheit Freundschaft unmöglich macht: NE 1159a 5-11 (Aristoteles denkt an Vergöttlichung).

22

Vgl. aber unten 3. zu Schleiermachers Anmerkung 19 (19,9 - 24,23).

1. Empfindung, Pflicht und Freundschaft

33

zu lassen (5,16f.; Hervorhebung von mir; vgl. ebenso 6,38). Nur dann leuchtet im übrigen auch ein, warum Schleiermacher dieses Verhalten als Form von Wohltätigkeit bezeichnet. Sich dergestalt »den Gedanken eines andern Wesens unter(zu)ordnen« (5,13), verlangt ein Vertrauen in die ethische Qualifikation der Verhaltensgrundsätze des Andern. Schleiermacher klärt hier nicht, ob dieses Vertrauen sich auf die Person des Andern bezieht und die Sittlichkeit von dessen einzelnen »Gedanken« von da her pauschal konzediert, oder ob er im »Glükliche(n)« einen prinzipiell beschränkten Satz material sittlicher Ideen und zugleich die formale Fähigkeit, die begegnenden Ideen anderer als sittlich oder nicht-sittlich zu qualifizieren, annimmt. Hier scheint auch der Grund für sein Schwanken zwischen den Bezeichnungen Selbsttranszendierung und Selbsterweiterung für diesen Vorgang zu liegen (vgl. 5,8 mit 5,9-12): Während der Einzelne im pauschalen Vertrauen tatsächlich auf kontinuierliche Kontrolle der Vermittelbarkeit seiner am Andern orientierten Handlungen mit seinem ihm bisher bekannten Selbst verzichtet (Selbsttranszendenz), erweitert im zweiten die Kommunikation nur den Schatz gewußter sittlicher Ideen und Verhaltensmöglichkeiten, ggf. auch die Kenntnis von Lebenssphären, ohne daß Diskontinuitäten der Selbstwahrnehmung in den Blick träten. Beide Möglichkeiten gleichen sich zwar faktisch stark aneinander an, insofern auch Diskontinuitäten nachträglich in ein Kontinuum der Selbsterfahrung redintegriert werden und umgekehrt auch Bereichserweiterung Entwicklung und mithin Veränderung bedeutet; sie erlauben aber sehr verschiedene Gewichtungen im Verhältnis von Gleichheit und Differenz in der Freundschaft und deshalb sehr unterschiedliche Deutungen des Grades der Wahrnehmung von Individualität in diesem frühen Text. Jedenfalls evoziert die Unterordnung unter die Gedanken Anderer eine doppelte Resonanz: Die Wahrnehmung der Ideen Anderer, die sich mit den eigenen »vermischen« (5,18) bzw. - wie Schleiermacher in nicht ganz korrekter Synonymität sagt - 'verbinden' (vgl. ebd.) 23 , spielt »völlig neue Reize« zu (5,18f.) und führt zu innerer Selbstbereicherung; die Wahrnehmung der Effizienz der eigenen, die (Selbstbestimmung implizierende!) »Glükseligkeit« (5,19) Anderer fördernden Tätigkeit macht umgekehrt die Förderlichkeit solcher Kooperation auch für die eigene Glückseligkeit deutlich und läßt deshalb den Wunsch wach werden, daß andere in analoger Weise an deren Steigerung sich beteiligen (vgl. 5,20). Dies ist freilich nur dann eine schlüssige Herleitung der zentralen Kategorie der Wechselseitig23

»Verbindung« impliziert die Möglichkeit bleibenden Differenzbewußtseins, 'Vermischung' nicht.

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I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

keit24, wenn es nicht beliebig ist, wer die Entfaltung der eigenen »Glükseligkeit« fördert, d.h. wenn nicht nur oder nicht primär die sittliche Würdigkeit des Andern im allgemeinen, sondern auch oder besonders die spezifische individuelle Ausprägung dieser Sittlichkeit bzw. sogar die gemeinsame Geschichte25 darüber entscheiden, ob die Unterstützung gewünscht wird; andernfalls hätte die erfolgreiche Tätigkeit für den Andern nur erwiesen, daß es hilfreich ist, von irgend]emandem mit hinreichender sittlicher Qualifikation unterstützt zu werden. Immerhin legt die Genese der zweiten Form der Resonanz aus der ersten es nahe, daß die Förderung der eigenen Vollkommenheit qua Kooperation gerade von demjenigen erwartet wird, dessen Wahrnehmung bereits innere Bereicherung bewirkt hat. Zudem liegt es in der Logik des Gedankens der 'Selbst-Steigerung mittels Altruismus' 26 , daß es dem Andern doch zugute kommt, wenn ihm selber solcher Altruismus ermöglicht wird. Die Selbst-Steigerung besteht mithin 1) in der Wahrnehmung fremder Ideen, 2) in der Ermöglichung eigener sittlicher Handlungen, 3) in wiederum deren Wahrnehmung 27 , 4) in der Förderung fremden Handelns zum eigenen Wohl - was 5) zur Selbststeigerung des so handelnden Andern führt und die Attraktivität erneuter Wahrnehmung seiner Ideen erhöht usw. Dem Prozeß der 'Selbststeigerung durch Selbsttranszendenz', sobald er angestoßen ist durch die (freilich theoretisch noch ungeklärte) Wahrnehmung hinreichender Komplexität des Andern, wohnt also selbst die Tendenz auf Wechselseitigkeit inne, die ihrerseits den Prozeß kontinuiert und intensiviert. Der Prozeß der Selbsttranszendenz läuft über Rezeptivität und Handeln und stabilisiert sich selbst, indem er Rezeptivität und Handeln so auf bestimmte Andere bündelt, daß diesen ein Prozeß der Selbsttranszendenz ermöglicht wird, in welchem sie Rezeptivität und Handeln auf den hin konzentrieren, der sich selbst auf sie hin überschritten 24

Vgl. dazu auch Schleiermachers Anmerkung 8 (7,11 - 9,29). - Vgl. allgemein Mauser, Geselligkeit, 19: »Ehe Gleichheit eine gesellschaftliche Legitimationskategorie und eine politische Forderung geworden war, hatte sie im Verhaltensschrifttum das Prinzip der Gegenseitigkeit begründet«. Vgl. unten 2.3. unter (c).

26

Übrigens ein Gedanke, der sich schon bei Aristoteles findet, allerdings in starker Analogie zum Verhältnis von Schöpfer (Künstler) und Werk (vgl. NE 1168a 1-9) sowie unter Priorisierung des Handelns vor dem Erleiden (vgl. NE 1168a 9-27).

27

Vgl. auch NE 1168a 9 f . l 4 f . Vgl. ebenfalls Eberhard, SdV, § 14 Anm. 1 (S. 17): Der »höchste Grad« des Vergnügens wird »in den Handlungen der Wohlthätigkeit genossen«. »Denn in diesen können sich alle übrigen Quellen [sc. des Vergnügens] vereinigt finden.« Anm. 2 (ebd.): Schon Aristoteles (NE IX 7) habe »sehr scharfsinnig bemerkt, daß wir einen Gegenstand lieben, wegen der Vollkommenheit, die wir selbst in ihm hervorbringen«.

1. Empfindung, Pflicht und Freundschaft

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hatte. Die Steigerung eigener Empfindungs- und Handlungsmöglichkeiten durch Wahrnehmung und Förderung des Andern wird ihrerseits kontinuiert und potenziert durch die Sphäre der Wechselseitigkeit, in der ebendies auch für den Andern gilt. Diese Sphäre trägt, erhält und reproduziert also jene Prozesse, aus denen sie selbst hervorgegangen ist. Insofern das Prozesse der Erhaltung und Steigerung, nicht aber der Schaffung von eigener und fremder Empfindungs- und Handlungsfähigkeit sind, kann Schleiermacher daran festhalten, daß eine solche auf Wechselseitigkeit beruhende Konzeption von »Geselligkeit« bzw. von »freundschaftlichen Verbindungen« (5,22) einer Anthropologie entspricht, in welcher »der Mensch (...) immer als ein freies, eignen Maximen folgendes, aber dennoch bedürftiges Wesen vorgestellt und behandelt wird« (5,23-25). Geselligkeit steigert Freiheit, indem sie die Möglichkeiten, sie zu betätigen, und die Betätigungsbedingungen kontinuiert und reproduziert. Sie kann Freiheit nicht schaffen - baut vielmehr auf ihr auf -, sondern nur die Bedingungen ihres Auftretens sichern. Davon allerdings bleibt die Freiheit abhängig.

1.2.2. Kritik und Korrektur von Verhalten und Einstellungen War bisher von der Freundschaft als einem Medium wechselseitiger Steigerung einer unabhängig davon als frei im Sinne von sittlich konstituierten Individualität die Rede, so wird die Sittlichkeit solcher Individualität selbst problematisch, wenn man die Faktizität psychischer Binnenverhältnisse und sozialer Relationen und deren Interdependenzen in den Blick nimmt. Dabei offenbart sich die »Zerbrechlichkeit menschlicher Tugend« (37,24f.) als der zweite Faktor, der eine Bedürftigkeit nach Freundschaft begründet. Denn keineswegs dominiert das 'moralische Gefühl' jeden Einzelmoment in der Psyche, so daß kurzlebige und hochgradig beeinflußbare Empfindungen (Neigungen) nicht verhaltensbestimmend werden könnten 2 8 . Keineswegs auch sind die sozialen Verhältnisse in der Regel so, daß sie eine vorhandene moralische Handlungsorientierung Einzelner verstärkten oder aber dazu beitrügen, daß das moralische Gefühl in den Einzelnen an Dominanz zunimmt. Hier gewinnt nun Freundschaft die Funktion der Kritik und Korrektur von

28

Vgl. Eberhard, AThDE, 134f.: »(...) was die Ausübung der Tugend für Hindernisse in den Menschen finde, und wie man derselben zu Hülfe kommen müsse, wenn man ihre Grundsätze gegen die tiefliegenden Triebe der Selbsterhaltung, und der Sinnenlust durchsetzen will. So sehr ihre Grundsätze unserer ursprünglichen Form eingedrückt seyn mögen; so kostet es doch erst die Mühe uns durch den Nebel der sinnlichen Eindrücke Licht zu verschaffen, um in ihrem Sonnenscheine wandeln zu können.«

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I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

Verhalten und Einstellungen. Genauer muß man sagen: Freundschaft tritt komplementär in die Reihe jener »übersinnlichen Empfindungen« 29 (5,26f.), die als solche, d.h. indem sie den momenthaften Zeithorizont sinnlicher Empfindungen übergreifen, Verhaltensorientierung und -kontinuierung ermöglichen sollen, aber faktisch eben jeweils ohne einander nicht können. Diese drei Instanzen 30 - neben der Freundschaft das moralische Gefühl und die Religion - verhindern in den verschiedenen Lebensepochen auf jeweils verschiedene Weise der Operation und der Kooperation, daß die Lebensführung auf dem Niveau der Kindheit stehenbleibt bzw. dahin zurückfällt. Kindheit31 wird hier verwendet als Paradigma eines Lebens ohne gewußte Selbststeuerung: Das Kind ist nur zu momentaner Orientierung fähig, es vermag den Horizont der Einzelhandlung nicht zu transzendieren und kann deshalb mehrere Handlungen nicht so zu Reihen verknüpfen, daß spätere als Folgen von früheren wahrnehmbar werden und deshalb als zu erstrebende oder zu vermeidende bereits die Bestimmung gegenwärtigen Handelns beeinflussen. Nicht nur fehlt dem Kind die Fähigkeit zu solcher Reihenbildung, sondern auch die dabei vorausgesetzte Fähigkeit der sittlichen Qualifikation von Einzelhandlungen und Handlungssequenzen anhand von »Grundsäze(n)« (5,35). Verhaltenssteuerung erfolgt beim Kind deshalb nicht allein rein auf den Moment bezogen, sondern auch vermittels selbst momentaner Kriterien: der sinnlichen Empfindungen »Schmerz« (5,34) oder »Vergnügen« (5,35). Der Wille, auf Kinder einzuwirken, kann deshalb nicht an deren Einsicht in die höhere Sachkompetenz Erwachsener appellieren, sondern muß sich diesen Bedingungen anpassen und bedient sich dazu sinnlicher Konditionierungen: der »Gewalt« (6,1) in Gestalt von Strafe und Belohnung. In der Adoleszenz32 entsteht mit der Fähigkeit der Synthetisierung von Handlungen die Fähigkeit der Maximenbildung. Deren sittliche Qualifikation wird ermöglicht und deren Realisierung wird gefördert durch die nun gegebene gewußte Präsenz jener drei »feineren« (6,5), d.h. übersinnlichen, mithin weniger ephemeren »GefühleO« (ebd.). Diese sind freilich jeweils von beschränkter und ggf. sogar pervertierter Wirkung. Rücken Religion

Der Terminus »übersinnlich« auch bei Eberhard; vgl. SdV, § 118 Anm. 3 (s. 129): »übersinnlicheQ Begriffe«. 30

3

'

32

Schleiermacher kritisiert (5,30-32), daß Aristoteles für diese Funktion allein die Freundschaft nenne. Diese Lebensepoche fehlt bei Aristoteles; vgl. NE 1155a 12-15. Die Entwicklung des moralischen Bewußtseins in der Adoleszenz hat Schleiermacher ausführlich entfaltet in der fiktiven Brieffolge »An Cecilie«. Vgl. dazu unten Kap. 3, 3.

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und Moral in ihrer »die stürmischen Empfindungen des Jünglings« (6,6f.) mäßigenden und lenkenden Funktion kaum unterscheidbar zusammen (ohne daß diese Funktion für die Religion expliziert würde), so differieren sie hinsichtlich ihrer Beschränktheit: Die Religion bleibt im strikten Sinne je individuelle Empfindung 33 . Als solche entzieht sie das von ihr initiierte Handeln der sozialen Bewährung, sie kann mithin Wirklichkeitsverlust herbeiführen und sogar legitimieren und Fehlorientierungen fördern und stabilisieren (vgl. 6,6-9) 34 . Das sittliche Gefühl dagegen ist nur »in der ruhigen Stunde der Ueberlegung« (6,10) wirksam. Die Zeit der Überlegung ist aber nur eine Unterbrechung des Flusses von Rezeptions- und Handlungsnötigungen, in dem die moralische Reflexion leicht »überhört« wird (6,II) 3 5 . Das kann dann dazu führen, daß das Verhalten »nach und nach« (ebd.) an Selbststeuerung verliert und von momentanen Nötigungen allein bestimmt wird. Die Perspektive auf eine solche Entwicklung mag schließlich entmutigen im Blick auf die Tragfähigkeit der »neuerworbenen Grundsäze« (6,12). Das Gegebensein von Freunden vermindert die Risiken, die die anderen Steuerungsinstanzen durch ihre Eigenart (also nicht - oder nicht allein - durch ihre Schwäche!) mit sich bringen, und stärkt dadurch deren Wirkung. Freunde vermitteln den Außenkontakt, den die Religion nicht bieten kann, und ermöglichen so die Kontrolle der Sittlichkeit religiös bestimmter Handlungen. Das könnte auch das sittliche Gefühl des Einzelnen leisten, wenn es sich im Moment konkreten Handlungsvollzugs von diesem distanzieren könnte. Freunde erhöhen dagegen die Wahrscheinlichkeit der Gleichzeitigkeit von Handlung und ethischer Reflexion, indem es unwahrscheinlich ist, daß bei zweien die »Neigungen und Leidenschaften (...) immer zu gleicher Zeit (...) gereizt« werden und ungebändigt zur Tat drängen (6,14f.) oder die »Vernunft (...) zur nemlichen Stunde eingeschläfert wird« (6,15f.). Freunde repräsentieren so die Möglichkeit sittlicher Handlungsorientierung in einem Moment, da der Solitäre diese Möglichkeit nicht hat oder aufgrund vorhergehender Schwächung nicht mehr hat. Freundschaft ist mithin eine zusätzliche Absicherung gegen das Schwächerwerden moralischer Antriebe und ein Mittel gegen deren bereits eingetre-

33

Auch dies bleibt unerörtert.

34

Daß Religion damit auch gegen soziogene Deformationen immunisieren kann, sieht Schleiermacher hier nicht.

35

Zur Zeit der Überlegung vgl. Eberhard, SdV, § 100 Anm. 2 (S. 105), auch § 3 (S. 3), sowie AThDE, 128: Menschen handeln gegen erkannte Grundsätze, da Empfindungen den Willen bewegen können, »ehe wir ihr [sc. der Empfindung] das langsamer würkende Medium der Ueberlegung entgegen setzen können.«

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I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

tene Resignation. Sie steigert insgesamt die Realisierungswahrscheinlichkeit moralischer Verhaltenssteuerungen. Freilich handelt es sich um eine relative Steigerung, da die Einschränkung der Potenz des sittlichen Gefühls ja für alle Beteiligten gilt. Hierin liegt auch eine Limitation der Bedeutung der Freundschaft: Ohne die - wiederum kontingente - Orientierung an Sittlichkeit ist Freundschaft höchst anfallig für wechselseitige Irrleitung. Deshalb ist es durchaus nicht ausgemacht, daß eine Vermehrung von freundschaftlichen Verbindungen, die Bildung eines Netzes von Freundschaftsbeziehungen, weil diese nicht notwendig reiner vernunftgesteuert sind als die Individuen selbst, wirklich die sittliche Handlungsfähigkeit der Einzelnen erhöht. 36 Beim Erwachsenenalter fehlen auffalligerweise alle Hinweise auf die Insuffizienz der einzelnen übersinnlichen Empfindungen unabhängig von den anderen. Anders als in der Adoleszenz, wo die Orientierungsinstanzen mäßigend, eindämmend, Irrwege und Fehlprägungen verhindernd wirkten, steht jetzt die Fähigkeit des Erwachsenen, sittlich zu handeln, außer Zweifel. Alles Interesse gilt der Erweiterung der Sphäre realisierter Sittlichkeit. Dem sind die »übersinnlichen Empfindungen« in je spezifischer Weise zugeordnet. Die Religion verleiht erhöhte Tatkraft. Das sittliche Gefühl vermehrt das Wissen möglicher sittlicher Handlungen, und zwar ohne Restriktion auf situativ-konkrete Realisierbarkeit; denn dieses Wissen impliziert umgekehrt einen Realisierungsimpuls, »auch wirklich zu handeln, und zwar so viel zu handeln als nur immer möglich ist« (6,25f.) - wodurch eine Dynamik entsteht, die »Einschränkungen (der) Lage« (6,23) zu transzendieren. Freundschaft erhöht nun die Realisierungschancen selbst solcher vom sittlichen Gefühl vorgestellten Handlungen, die auch durch mithilfe der Religion erhöhte individuelle Kraft nicht ausgeführt werden können. Die »Verbindung mit ähnlich gesinnten Wesen« (6,26f.) soll »durch gemeinschaftliche Kräfte ein weiteres Feld für sittliche Handlungen (...) eröfnen« (6,27f.). Dies kann auch geschehen durch Beseitigung von »Hindernißen (...), welche auf der Bahn der moralischen Thätigkeit unvermeidlich aufstoßen« (6,29f.). Ethisch qualifizierte Geselligkeit erweitert mithin den Bereich der Realisierbarkeit sittlicher Handlungen, indem etwa Einer fähig ist zu einer 36

Nicht behandelt werden von Schleiermacher die Rückwirkungen qualifizierter Sozialbeziehungen auf die Religion. Da er Religion einerseits nur aufgrund ihrer Funktion für die Verhaltensorientierung thematisiert, andererseits strikt individualisiert, scheinen direkte soziale Resonanzen auf die Religion unmöglich zu sein. Freundschaft kann dann nicht mehr leisten als die Eindämmung eines schädlichen Einflusses der Religion auf das Handeln. Inwiefern diese Korrektur religiös bestimmten Handelns die Religion selbst verändert, bleibt unklar.

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bestimmten 'schönen Tat' (vgl. 6,22), aber ein diese verhinderndes Hindernis nicht selbst wegschaffen kann, ein anderer indes eben dazu befähigt ist, aber nicht zur dann möglichen Handlung. Es läßt sich dann auch der Fall denken, daß das Wissen einer sittlichen Handlung und der eigenen Unfähigkeit dazu zur Suche nach einem Andern animiert, der sie ausführen kann. Offenkundig geht das Gefalle der Argumentation hier nicht auf die wechselseitige Vervollkommnung von Individuen, sondern auf die Realisierung von Handlungen und auf die Etablierung eines Feldes, in dem solches Handeln möglich ist. Daß das Handeln selbst sittliche Vervollkommnung des Handelnden impliziert bzw. seine Vollkommenheit ausdrückt, und daß deshalb auch die Beteiligung am Aufbau einer solchen Handlungssphäre als sittliche Pflicht des Einzelnen erscheinen kann, bleibt dabei unbestritten. Daß diese Sphäre freilich in gewisser Weise unabhängig wird vom Handeln des je Einzelnen, ja sogar dessen Handlungsunfähigkeit zu substituieren vermag, wird deutlich bei der Behandlung des Greisenalters. Die »übersinnlichen Empfindungen« dienen hier der Bewältigung schwindender äußerer Handlungsfähigkeit (vgl. 6,31f.). Religion relativiert die gegenwärtige, durch Handlungszwang charakterisierte Welt, indem sie eine zukünftige »bessre() Welt« (6,33) appräsentiert 37 , deren Realisierung sich eben nicht eigenem Handeln verdankt 38 . Entsprechend »gedenkt« das moralische Gefühl jetzt anders als beim Erwachsenen durchaus der »Einschränkungen (der) Lage« (6,23) und verzichtet auf unrealistische Handlungsaufforderungen. Es vermittelt vielmehr das »Bewußtseyn (...) persönlichen Werthes« (6,35), das wohl dadurch über den Zwang zur Untätigkeit hinwegtrösten soll, daß es die in den vergangenen Zeiten der Tatkraft gezeigte Tugend erinnert und bestätigt, 37

In dieser Appräsentationsfunktion entsprechen sich Religion beim Greis und Moral beim Erwachsenen. - Der Terminus »appräsentieren« wird hier wie im folgenden unspezifisch verwendet im Sinne von 'vergegenwärtigen', 'der Wahrnehmung (und zwar eigener wie fremder Wahrnehmung) zugänglich machen'. Es ist mithin weder Husserls noch Luhmanns Prägung des Begriffs vorausgesetzt (vgl. N. Luhmann: Funktion der Religion. Frankfurt [M] 1977, 22, besonders Anm. 28). Den Hinweis darauf verdanke ich Sigrid Brandt.

38

Daß die welttranszendierende Funktion der Religion gerade im Kontext des Handlungsbegriffs, und zwar als dessen Relativierung, erscheint, ist ein wichtiges Indiz für ein Bewußtsein dafür, daß Religion nicht in ihrer handlungsmotivierenden Funktion aufgeht. - Diese das Handeln überschreitende Dimension kennzeichnet noch in der »Glaubenslehre« Schleiermachers Beschreibung der eschatologischen »Zukunft«, auf welche nämlich » - weil ganz jenseit aller menschlichen Dinge liegend - unsere Tätigkeit gar keinen Einfluß ausüben kann« (§ 157,2; Hervorhebung von mir). Vgl. dazu E. Herms: Schleiermachers Eschatologie nach der zweiten Auflage der »Glaubenslehre«. In: ThZ 46 (1990), 97 - 123, besonders 112f.

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I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

und veranlaßt darüber hinaus nur noch »innere Handlungen zur Berichtigung [der] inneren Verhältniße« (6,36f.; Hervorhebungen von mir). Gleichwohl hebt solcher Trost zwar vielleicht die Fixierung der Selbstwahrnehmung und Selbstachtung auf aktuelles eigenes Handeln auf, aber nicht das Interesse an der durch das Handeln vieler aufgebauten sozialen Sphäre realisierter Sittlichkeit. Denn den Tugendhaften bedrückt die Vorstellung, daß mit seiner schwindenden Tatkraft auch die Resultate seines Handelns, nämlich der durch seine Förderung Anderer entstandene soziale Resonanzbereich, »nach und nach« (6,38) verschwinden könnte, weil sich die Prinzipien dieses Handelns 39 in diesem Bereich nicht erhalten. Allein die Gegenwart von Schülern und Freunden, von denen er »fühlt daß sie den Grund seiner Denkungs(-) und Sinnesart mit ihm gemein haben« (7,3f.), vergewissert den Greis der bleibenden, ja im Gegenzug zur Abnahme der individuellen Kraft sogar sich ausbreitenden Wirkung seiner Tätigkeit schon in der Gegenwart und gibt ihm Anlaß zur Hoffnung einer dauerhaften Prägung der Welt durch seinen »Geist« noch weit über den physischen Tod hinaus 40 . Der Trost, den Freundschaft vermittelt, liegt also in der Wahrnehmung, daß die Prinzipien des eigenen Handelns so in das eigene Handeln eingegangen sind, daß dieses eine Sozialsphäre erzeugt hat, in der diese Prinzipien ihrerseits fortgepflanzt und befolgt werden, was dann die eigene Untätigkeit jedenfalls unter dem Aspekt der Realisierung von Sittlichkeit erträglich macht. Es handelt sich hier in gewissem Sinne um eine ungleichzeitige Wechselseitigkeit, insofern die Entstehung dieser Sozialsphäre sich einseitig der Tätigkeit des 'Lehrers' verdankt, während in dessen Alter die ehemaligen Schüler auf den jetzt Untätigen einseitig zurückwirken. Die zweite Funktion der Freundschaft, so ließe sich zusammenfassen, besteht in der Durchsetzung (Adoleszenz), Steigerung (Mannesalter) und Reproduktion (Greisenalter) von sittlicher Homogenität und vollzieht sich als wechselseitige Kontrolle und Korrektur von Handlungen und Einstellungen auf Sittlichkeit hin; intendiertes Resultat ist die Etablierung einer sozialen Sphäre realisierter Sittlichkeit. Erstaunlicherweise tritt bei dieser Funktion die Instabilität faktischer Individualität realistischer in den Blick als bei der ersten Funktion, der Wahrnehmung und Förderung von irreduzibler Andersheit. Denn während bei der Darstellung dieser die Gefahr einer gleichsam pointillistischen Diffusion der Individualität in die reine Faktizität nur durch die bloße Voraussetzung einer sittlichen Prägung der Vgl. 6,38 die Rede vom »System, welches er zu ihrem Besten befolgte«. Vgl. 7,7: »in künftigen Generationen«.

1. Empfindung, Pflicht und Freundschaft

41

Freunde (eher verdeckt als) gebannt werden konnte und die Andersheit des Andern deshalb unterbestimmt blieb, wird hier die Kontingenz und Labilität von Individualitätskonfigurationen um so deutlicher wahrgenommen, als sie ja das Ausgangsproblem darstellt, das Freundschaft allererst nötig macht. Diese Kontingenz erscheint zunächst chiffriert als reine Infantilität, dann in der überbordenden Leidenschaft des Heranwachsenden, in der Hemmung sittlicher Tätigkeit beim Mann, in der Tristesse der Handlungsunfähigkeit beim Greis. Und sie erscheint vor allem als in einem Prozeß zunehmender sittlicher Steuerungsfähigkeit zu eliminierend, wenn auch als nie völlig eliminierbar, was gerade die Beschreibung der spezifischen Wirkungen bzw. Wirkungsgrenzen der einzelnen transsubjektiven »übersinnlichen« Orientierungen durch das ganze Leben hindurch (und darüber hinaus) eindrücklich belegt. Trotz dieser Einschränkung kann man, vielleicht etwas überpointiert, sagen: Die zweite Funktion der Freundschaft begegnet der in der ersten Funktion (zwar de facto verschleiert, implizit aber durchaus) gegebenen Tendenz auf Entsittlichung von Individualität durch Wahrnehmung reiner Faktizität mit einer Tendenz auf Entindividualisierung von Sittlichkeit durch Hinwirken auf Homogenität. Nicht umsonst kommen im Blick auf das Interesse an Realisierung von Sittlichkeit die korrigierende Funktion der Freundschaft und die Wohltätigkeit aus Pflicht überein 41 . Nicht umsonst auch unterscheidet sich das beim Greisenalter beschriebene Lehrer-SchülerVerhältnis zwar darin deutlich von der verobjektivierenden, den Andern mithin als minderwürdig behandelnden, als Mittel gebrauchenden Wohltätigkeit der Pflicht 42 , daß es die sukzessive Aufliebung des Dignitätsgefälles, eine fortschreitende Verselbständigung des Schülers und die Herausbildung von Wechselseitigkeit selbst intendiert, hat aber damit gemeinsam, daß es die Andern nach eigenem Plane formt 4 3 .

41

Vgl. oben 1.1.

42

Vgl. oben ebd.

43

Vgl. 4,30 mit 7,3f. Zu ähnlichen Problemen in Zusammenhang mit dem Eltem-KindVerhältnis vgl. unten 4.2.

42

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie Die sehr ausführliche Behandlung der zwei ersten Aristoteles-Anmerkungen hatte die Funktion eines Problemaufrisses, mittels dessen die Fragestellung des Textes und die Fragerichtung der Interpretation expliziert werden sollten. Die herausgearbeitete Doppelfunktion der Freundschaft bildet die Grundfigur, deren analytischer Präzisierung im folgenden die anderen Anmerkungen zugeordnet werden. Die Untersuchung wird mithin nicht mehr der Textsequenz folgen.

2.1. Vollkommenheit und Vervollkommnung: Die Ambivalenz der ethischen Perspektive Wie gezeigt 44 , setzt Schleiermacher einerseits »sittliche() Vollkommenheit« (14,10f.; vgl. 17,34) 45 als Bedingung der Befähigung zu Wohltätigkeit und vor allem zu sittlicher Freundschaft voraus, andererseits betont er die faktische Bedürftigkeit gerade des als vollkommen Vorgestellten. Einerseits soll der Vollkommene fähig sein, andere Vollkommene als solche zu erkennen 46 , andererseits geschieht dies eben zu dem Zweck, mit diesen Anderen zu wechselseitiger Verhaltenskritik in Kontakt zu treten. Dem Wissen eigener und fremder Vollkommenheit korrespondiert mithin ipso facto die Anerkenntnis eigener und fremder Vervollkommnungsbedürftigkeit 47 . Diese Spannung läßt sich auf mehrfache Weise deuten: Einmal kann man sagen, Vollkommenheit (im Sinne von Tugendhaftigkeit) bedeute zunächst nichts

44

Vgl. oben 1.2.1. und 1.2.2. Zum Begriff der Vollkommenheit bei Christian Wolff vgl. die Einleitung von H.W. Arndt in Wolfis Gesammelte Werke. I. Abteilung: Deutsche Schriften. Band 4: Vernünfftige Gedancken (3) [Deutsche Ethik]. Hildesheim - New York 1976, S. VII und besonders IX, Anm. 17 (auch zu Leibniz), und ff.! Zum Verhältnis von Vollkommenheit und Vervollkommnung vgl. ebd., IXX. - Vgl. auch Eberhard, SdV, § 17: Das Wesen der menschlichen Glückseligkeit besteht in »fortschreitende(r) Vollkommenheit«, wie die Erfahrung lehrt. Denn »weder der unveränderliche Besitz gewisser Vollkommenheiten ohne weiteres Bestreben, noch das Bestreben ohne Besitz und Genuß kann mit der Glückseligkeit bestehen.« Vgl. genauer unten Kap. 2, 1.2. und 1.3.1.

46

Vgl. 17,34: »nur der vollkomne soll unsre Vollkommenheit anerkennen.«

47

Vgl. diese Konstellation aber schon NE 1172a 12 (Dirlmeier, 270: »gegenseitige!] Vervollkommnung«; Schleiermacher, 80,29, übersetzt freilich »Beförderung [der] Tugend«).

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

43

anderes als das Wissen der Tugend 48 , das allererst ein Differenzbewußtsein zwischen faktischen (gerade auch eigenen!) Zuständen und der zu realisierenden Tugend ermögliche und eine Dynamik auf Vervollkommnung hin initiiere 49 . Dann wäre der zum Freunde Geeignete an seinem Wissen der Tugend ineins mit der verhaltensprägenden Kraft seines Differenzbewußtseins zu erkennen. Der 'Vollkommene' unterschiede sich vom Nicht-Tugendhaften nicht primär durch sein Verhalten, sondern dadurch, daß sein Wissen von der Tugend nie so weit von den momentanen psychischen und sozialen Umständen überlagert ist, daß er nicht wenigstens an anderen das Wissen der Tugend erkennen und ihre Kritik als Appräsentation der Sittlichkeit anerkennen kann. Nimmt man nun als Quelle dieses Wissens und seiner Identifizierbarkeit eine anthropologisch ursprüngliche Konstitution an 5 0 , muß man freilich zusätzlich die Faktoren angeben, die dazu führen, daß faktisch nicht jeder dieses Wissen hat und es auch nicht über seine Wahrnehmung an anderen wiedererinnert, d.h., man muß den Tugendhaften vom Nicht-Tugendhaften gewissermaßen quantitativ unterscheiden nach Maßgabe der faktischen Rezeptionsfähigkeit für ethisches Wissen. Auch die Reduktion des Begriffs der Vollkommenheit auf das Wissen von dieser, verbunden mit einer Realisierungsdynamik, entgeht also nicht der Spannung, die zwischen Apriorität und Faktizität in der Argumentation besteht. Jedenfalls kann, wenn man zugesteht, daß das prinzipiell allen Menschen eigene Wissen der Tugend faktisch nur in einem Teil der Menschheit - und auch in diesem nicht immer - präsent ist, dieses Wissen kaum mehr so inhaltlich bestimmt werden, daß es allgemeine und unbedingte Evidenz gewinnt - steht doch sowohl die Bestimmung als auch deren Rezeption selbst unter der Bedingung der Unvollkommenheit. Umgekehrt hängt natürlich die Einsicht in die Defizienz als Defizienz an dem Gegebensein eines Maßstabs der Vollkommenheit. Ohne solchen Maßstab könnte ja auch die sittlichkeitsfördernde Funktion der Freundschaft gar nicht aus selber moralischen Gründen von Vergnügens- oder Nutzen-orientierten Freundschaftsformen 51 48

Zum Verhältnis von Tugend und Einsicht, von schlechtem Handeln und Mangel an Einsicht - im Sinne der »intellektualistischen Moraltheorien der antiken Philosophie« vgl. Chr. Wolff: Ges. Werke, I. Abteilung, Bd. IV, S. XIV (Einleitung von H.W. Arndt).

49

Zur Vervollkommnungsdynamik vgl. Eberhard, SdV, § 127 Anm. 2 (S. 140) über die englische moral-sense-Philosophie: der moral sense empfindet die Sittlichkeit von Handlungen und einen Trieb zu solchen Handlungen und ein Wohlgefallen daran (jeweils bei eigenen und fremden Handlungen).

50

Vgl. unten 2.6.3. So die Kategorien des Aristoteles, vgl. NE 1155b 19.

44

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

abgehoben werden, geschweige daß destabilisierende, deformierende Wirkungen von 'Freundschaft' überhaupt identifiziert werden könnten. Deutlich ist das Interesse Schleiermachers, beide Bestimmungen - die ursprüngliche Vollkommenheit und die faktische Unvollkommenheit - festzuhalten, und zwar um der wechselseitigen Begrenzung der diesen Bestimmungen innewohnenden Tendenz der Negation der jeweils anderen willen: Beansprucht reine Sittlichkeit nämlich Unabhängigkeit von gegebener Realisierbarkeit, so funktionalisiert reine Faktizität allgemeine Orientierungen und depotenziert sie zu partikularen, aus der jeweiligen Realitätskonstellation emergierten, mithin potentiell disponiblen 52 . Man kann die Spannung freilich auch anders deuten, indem man das ursprünglich-bedingte Wissen der Vollkommenheit als Formel nicht der Suche und Wahrnehmung, sondern der Zuschreibung von Vollkommenheit in faktischer Unvollkommenheit auffaßt. Man kann dann plausibler die kontextunabhängige Genese und die zugleich kontextfunktionale Verwendung des Tugendwissens betonen: Die Vollkommenheitszuschreibung an Andere stiftet diejenige Realität, auf deren Rückwirkung der 'Stifter' - zur Steigerung der eigenen Vollkommenheit und zur Korrektur der eigenen Unvollkommenheit - angewiesen ist. Die Frage der Erkennbarkeit der Tugend am Andern hätte sich damit insofern beantwortet, als sie sich nicht stellte: Tugendfreundschaft wäre eine 'selbstselektive' 53 Sozialform, die sich ihre Elemente - Kommunikationen von allgemeinen Orientierungen - selbst hervorbringt. Die Unterscheidung der Tugendhaften von den Nicht-Tugendhaften wäre nicht analytisch-notwendig, sondern synthetisch-kontingent und ließe deshalb Übergänge offen, ja führte sie selbst herbei. Denn der Zuschreibung selber wäre so versittlichende Kraft - zugeschrieben, sie wäre selbst schon Vollzug jener Sozialform, die sie erst erzeugt. Freilich erforderte solche Zuschreibung auf der Seite dessen, dem zugeschrieben wird, Einsicht und Einverständnis in die verwendete allgemeine Bestimmung von Tugend und/oder Vertrauen in die Person des Zuschreibenden, das ein Handeln nach dessen Ideen erlaubte 54 . Diese Erfordernisse sind unverfügbar, wenn anders gerade die sittliche Freundschaft der Unabhängigkeit der Beteiligten voneinander bedarf und der eine nicht einseitig des andern »Glüksschöpfer« (4,29) zu sein beanspruchen soll. Deshalb fragt sich auch, ob Zuschreibung so völlig auf Beobachtung verzichten kann und nicht vielmehr mindestens Rezeptionswahrscheinlichkeiten abschätzen muß. Damit 52

Vgl. unten 3.1.

53

Zum Ausdruck vgl. N. Luhmann: Liebe als Passion. Frankfurt (M) 1982, 208.

54

Vgl. oben 1.2.1.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

45

aber bleibt die Frage der Präsenz, Virulenz und Kommunikation allgemeiner Orientierungen in partikular-fragilen Individuen erhalten 55 , und ebenso umgekehrt die Frage nach der Bedeutung der Wahrnehmung partikular- fragmentarischer Individualität für Freundschaft.

2.2. Resonanzsensibilität und Selbstachtung Interpretiert man die Spannung zwischen Vollkommenheit und Vervollkommnungsbedürftigkeit von der Annahme eines ursprünglichen Wissens der Tugend her, so muß neben der Fähigkeit, dieses Wissen an anderen zu erkennen, und als deren Ermöglichungsbedingung auch das Wissen dieses Wissens selbst gegeben sein. Deutet man sie hingegen mittels eines Konzepts von Zuschreibung, so muß die Vollkommenheitszuschreibung an andere einhergehen mit einer Se/Zwf-Zuschreibung von Vollkommenheit 56 . Welche Funktion hat nun das Wissen vom Wissen der Andern für das eigene Wissen, die Fremdzuschreibung für die Selbstzuschreibung? Schleiermachers Anmerkung 18 (17,31 - 19,7) über die Funktion der Ehre auch für den 'Tugendhaften' erlaubt es, das bereits Erörterte zu präzisieren 57 . Schleiermacher sagt nicht, der Einzelne sei in seiner Selbstwahrnehmung und Selbstachtung prinzipiell und kriterienlos von sozialer Resonanz, von »Ehre« abhängig. Im Gegenteil kritisiert er, daß in der Gegenwart »von Jugend auf« zur Orientierung an bloßer »Meinung« (18,38f.) erzogen werde. Andererseits kann die Fähigkeit des Einzelnen zur Distanzierung von kontingenten sozialen Nötigungen nicht so verstanden werden, als sei der Einzelne - sofern mit Tugendwissen ausgestattet - auf soziale Bestätigung schlechterdings nicht angewiesen. Vielmehr steigert ja gerade das Wissen von der Tugend das Bewußtsein der eigenen Vervollkommnungsbedürftig55

Vgl. dazu ausführlich unten Teil II.

56

Dies gilt freilich wiederum nur dann, wenn das materiale Wissen von Vollkommenheit selbst Vollkommenheit impliziert. Denn andernfalls ließe sich durchaus der Fall denken, daß ein 'Unvollkommener' Anderen 'Vollkommenheit' zuschriebe - zum Zwecke der eigenen Vervollkommnung qua Resonanz.

57

Zum Begriff der Ehre vgl. Chr. Wolff: Deutsche Ethik, § 590 (vgl. die Einleitung von H.W. Arndt, XXII). Vgl. auch Eberhard, SdV § 183 (S. 222 - 224), besonders Anm. 1 (S. 223): »Wessen Achtung sollen wir aber begehren? Nur der guten. - Die Ehre setzt also Begriffe von wahren Guten voraus, und darf nur ein untergeordneter Bewegungsgrund unserer Handlungen seyn.« - Vgl. femer Eberhard: Ueber die Freyheit des Bürgers und die Principien der Regierungsformen. In: Ders.: Vermischte Schriften. Erster Theil. Halle 1784, 1 - 28, hier: 12ff. (Ehre und Tugend, Furcht und Tugend, Ehre nicht als Bewegungsgrund, sondern als Unterstützung der Tugend).

46

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

keit und vermittelt sowohl als auch setzt in Bewegung ein Kriterienraster zur Suche tugendförderlicher Kommunikationen. Dieses Kriterienraster ermöglicht die Selektion jener sozialen Beziehungen, deren Resonanz diejenigen Ausprägungen der Selbstwahrnehmung und Selbstachtung stabilisiert, kontinuiert und - vermittels der Elimination von Gegenkräften - steigert, die jene Selektion bestimmt und bewirkt hatten. In Schleiermachers Worten entspricht dies der Unterscheidung »wahrer« von »falscher Ehre« (17,32). Sucht jene das Urteil Urteilsfähiger (vgl. 17,32f.) und setzt sich darum gleichsam objektiver Kritik aus, so »weidet« diese »ihre Eitelkeit auch an dem Urtheil derer die eben keine zuverläßigen Richter sind« (17,36 18, l ) 5 8 , und erstrebt nicht Kritik, sondern unqualifiziert bestärkende Übereinstimmung. Schleiermacher sieht deutlich, daß beide Formen sozialer Resonanz dazu dienen, »gute Meinung von sich selbst durch das Urtheil anderer zu befestigen« (18,2f.). D.h., jede Form innerer Selbstwahrnehmung und Orientierung sucht exakt die sozialen Kontakte, die sie als sie selbst zu erhalten erlauben. Die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Ehre, zwischen Selbstbestätigung aufgrund von »Wahrheit« (18,2) und aufgrund von »Täuschung« (ebd.; vgl. 17,36: »Selbsttäuschung«) verdankt sich einer Position, die sich selbst bereits als die 'wahre' qualifiziert hat. Diese Zirkularität bleibt unbefriedigend, die Unterscheidung rein dezisionistisch, die Pluralität sozialer Resonanzen untereinander unvergleichbar, wenn nicht ein Maß angegeben werden kann, das die Auswahl der 'richtigen' Zirkularität ermöglicht, ohne selbst zirkulär strukturiert zu sein. Es wird unten zu zeigen sein, wie Schleiermacher Zeit bzw. Dauer als dieses Maß einzuführen versucht 5 9 . Doch zunächst ist zu klären, wie Schleiermacher den Übergang aus »ursprüngliche(r) Selbstliebe« (18,13) in soziale Rekursivität, aus individueller Selbstreferenz in Rezeption sozialer Resonanz denkt. Wenig ist damit gewonnen, daß er für diesen Übergang gleichsam anthropologisch einen »Trieb nach Ehre« (18,4) postuliert. Dieses Postulat verankert nur das Bedürfnis nach sozialer Stabilisierung der Selbstachtung quasi-realistisch in der Psyche des Einzelnen. Ungleich weiter führt die Reflexion, daß jener Trieb sich nicht von selbst Geltung verschafft. »Wie können wir aber diesen Trieb befriedigen? wie werden wir die Menschen dahin bringen unsre Vollkommenheiten anzuerkennen?« (18,6-8; Hervorhebungen von mir). Offenkundig kommt die Ehre, die als Resonanz der eigenen Vollkommenheit das Wissen der realisierten Vollkommenheit »befestig(t)« (18,3), indem sie dessen soziale Kontrolle ermöglicht, und vermittels sozialer Anerkennung zur 58 Zur erforderlichen Urteilskompetenz vgl. auch NE 1094b 27f. 59

Vgl. unten 3.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

47

Fortsetzung und Steigerung der Äußerung eigener Vollkommenheit anreizt, nicht schon allein durch das Vollkommensein selbst (und auch nicht durch deren nicht auf diejenigen, deren Ehrerbietung man sucht, bezogenen Äußerungen) zustande. Der 'Besitz' von »Vollkommenheiten« ist zwar notwendige, aber nicht »hinlänglich(e)« (18,8f.) Bedingung dafür, daß sie von anderen (anderen Vollkommenen!) auch gewürdigt werden. Die pure Wahrnehmung nur vorhandener Vollkommenheit hinterläßt »keinen bleibenden Eindruk« (18,9f.; Hervorhebung von mir). Das Ziel, kontinuierliche, Anerkennung kommunizierende und insofern Resonanz bildende »Aufmerksamkeit« (18,10) hervorzurufen, wird nur erreicht, indem man die eigenen »Vollkommenheiten«, statt sie nur 'an sich' zu haben, gezielt einsetzt: indem man sie äußert als Handeln zum »Wohl« (18,12) eben derer, deren Verehrung man erstrebt 60 . »Wir müßen (...) unsere Vollkommenheiten in eine genaue Verbindung mit ihrem Wohl sezen, wir müßen ihnen nüzlich, wir müßen ihnen gefällig werden« (18,10-13; Hervorhebungen von mir). Wie in Anmerkung l 6 1 ist der Einzelne also genötigt, aus der eigenen »Sphäre« (5,11) herauszutreten, zum Besten anderer zu handeln. Doch während dies dort mit der Endlichkeit hermetischer Innerlichkeit und dem Überdruß an rein immanenter Reflexivität motiviert wird und somit als Suche nach Kommunikation mit wenn auch 'gleichgesinnten' Anderen zum Zwecke interner Selbst-Anreicherung erfolgt, so intendiert das altruistische Handeln hier, soziale Beachtung und daraus folgend artikuliert rückgespiegelte Achtung für die eigene sittliche Vollkommenheit zu erzeugen. Im Vergleich zu der oben 62 gegebenen Beschreibung des Prozesses der 'SelbstSteigerung mittels Altruismus' haben sich Reihenfolge und Schwerpunkt verschoben: Prozeßinitiierend ist nicht die Wahrnehmung der Beschränktheit der eigenen Sphäre und die damit korrespondierende Wahrnehmung von diese Beschränktheit entgrenzenden fremden Ideen, sondern das Bedürfnis der - durchaus als autosuffizient gedachten - »ursprünglichen Selbstliebe« (18,13) nach externer Bestätigung ihrer eigenen Perspektive auf sich selbst. Die reflexive Wahrnehmung eigener sittlicher Handlungen 63 ist auch nur Nebenprodukt, das zur Steigerung der Selbstachtung nicht unmit-

60

Vgl. NE 1155b 34: Freundschaftliches Wohlwollen zeichnet sich dadurch aus, daß es für den Adressaten erkennbar ist und mithin zu Wechselseitigkeit anregt.

61

Vgl. oben 1.2.1.

62

Vgl. unter 1.2.1.

63

Vgl. oben 1.2.1. bei und mit Anm. 27.

48

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

telbar beiträgt 64 . Die eigenen sittlichen Handlungen erscheinen deshalb in weit stärkerem Maße als reines Mittel zum Zweck der Erlangung sozialer Achtung, und deshalb gilt diese Achtung eben nicht primär diesen Handlungen selbst, sondern der ihnen zugrundeliegenden ursprünglichen Vollkommenheit. Die Kommunikation ist mithin nicht mehr selbst Zweck, Wechselseitigkeit spielt eine Rolle nur noch als Realisierungsbedingung eines ihr äußerlichen Zieles. Dazu paßt zwar, daß die Achtung intendierenden Handlungen zum Wohle anderer als diesen »nüzlich« und »gefällig« (18,12f.) charakterisiert werden und damit exakt jene Verhaltensorientierungen der andern evozieren, auf denen nach Aristoteles die uneigentlichen Freundschaftsverhältnisse beruhen, nämlich Eigennutz und Vergnügen 65 . Aber zugleich wird unklar, wie man ein solches, instrumentalisiertes und instrumentalisierendes Handeln noch als selber sittlich ansehen, wie man es von purer Schmeichelei und Geltungssucht unterscheiden kann. Eine solche Unterscheidung ist nur dann möglich, wenn das Handeln der sittlichen Vervollkommnung eben derjenigen gilt, deren Vollkommenheit sie zu qualifiziertem Urteil befähigt und die ihnen sich verdankende Ehre deshalb allererst relevant macht, d.h., wenn die Andern als solche angesehen werden, die auf keine anderen als auf sittliche Handlungen mit Ehrerbietung reagieren. In dieser Formulierung nähert sich die Beschreibung der oben 66 dargestellten zweiten Funktion der Freundschaft an, nämlich der wechselseitigen Versittlichung mittels Verhaltenskritik und Verhaltenskorrektur. Nur ist jetzt die Wechselseitigkeit asymmetrisch'. Der die Sittlichkeit des Andern fördernden Handlung korrespondiert ein Urteil über den so Handelnden (und gegebenenfalls über die Handlung selbst). Dadurch scheint sich auch hier der Schwerpunkt zu verlagern: von der Etablierung einer Sphäre realisierter Sittlichkeit 67 auf die Qualifikation des Handelnden qua Fremdbeurteilung und auf die Bestärkung der Selbstbeurteilung des Handelnden durch Wahrnehmung dieser Fremdbeurteilung. Man kann geradezu von einer Tendenz auf Re-Individualisierung der versittlichenden

64

Schleiermachers Argumentation hat allerdings die Schwäche, daß sie die öffentliche Sichtbarkeit beliebiger sittlicher Handlungen nicht als möglichen Grund öffentlicher Achtung benennt, sondern nur die aus sittlichem Handeln gegen bestimmte Andere von diesen artikulierte Achtung als selbstachtungssteigernd zu kennen scheint. Andernfalls wäre ja denkbar, daß eben diese bestimmten Handlungen bei Unbeteiligten Achtung und deren Artikulation hervorrufen.

65

Vgl. NE 1156a 6 - b 6.

66

Vgl. 1.2.2.

67

Vgl. oben 1.2.2.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

49

Funktion der Freundschaft im Medium von Zuschreibungen sprechen, freilich nur im Blick auf denjenigen, der Ehre sucht und empfängt. So sind die beiden Funktionen der Freundschaft hier stärker verschränkt als in den oben 6 8 behandelten Textpartien. Einerseits sind sie dadurch schwerer erkennbar und unterscheidbar, andererseits wird der Eindruck aufgehoben, es handele sich um zwei verschiedene Formen von Freundschaft. Allerdings erreicht die Darstellung nicht die für die Beschreibung der Funktionsverschränkung nötige Dichte: Mit der Unterbestimmung der für Freundschaft konstitutiven Wechselseitigkeit geht einher eine Instrumentalisierung sittlichen Handelns und eine Instrumentalisierung irreduzibler Fremdreferenzen zugunsten der Stabilisierung von Selbstreferenz, was zwar nicht die Aufhebung jener Irreduzibilität (denn das Postulat der Andersheit des Ehre erweisenden Andern ist funktionsnotwendig dafür, daß die Fremdreferenz als selbstreferenzsteigernd erfahren wird), wohl aber den Verzicht auf deren konkrete Wahrnehmung impliziert. Der Gewinn, den der Abschnitt bringt, liegt umgekehrt darin, daß er die über die soziale Resonanz der Ehre vermittelte Erhaltung und Steigerung der Selbstwahrnehmung als Kontinuierung von Se\bst-Achtung und diese als irreduzibel soziales Phänomen erfaßt, und daß er diese Kontinuierung als unverfügbar sich dem urteilenden Zuspruch Anderer sich verdankend und zugleich als über eigenes Handeln zu provozierend beschreibt. Dieser letzte Aspekt wird ex negativo deutlicher durch die im Text folgende Kritik des Erkaufens von Ehrbezeugungen (18,16 - 19,4). Es wird psychologisch erklärt als Resultat einer Gewöhnung an Selbsttäuschung (man muß sich ja, um erkaufte Ehre vor sich selbst als Ehre und somit als Stabilisierung der Selbstachtung empfinden zu können, die Tatsache, daß sie erkauft ist, verbergen) oder aber als Resultat der Verzweiflung daran, sich wirkliche Ehre durch gemeinnützige Taten erwerben zu können, mithin als eine Art Zynismus (18,19-21). »Ein Staat der den Handel mit Ehrenzeichen zu einem Erwerbzweig macht« (18,21 f.), fördert »auf eine unverantwortliche Weise« (18,22f.) solche Haltungen. Er schadet sich aber damit mittelfristig selbst, »indem er dadurch ausgezeichnete Handlungen des Patriotismus und der Menschenliebe verhindert, wodurch sonst mancher seinen Trieb nach Ehre gestillt haben würde, welcher jezt aus Trägheit die mißverstandne Sättigung desselben erkauft« (18,24-27). Diese Reflexion erlaubt es, der Frage der Unterscheidung von wahrer und falscher Ehre ein weiteres Kriterium hinzuzufügen. Wahre Ehre ist nämlich jetzt zusätzlich dadurch charakterisiert, daß sie bestimmte Handlungen honoriert und eben 68

Unter 1.2.

50

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

durch das antizipierte Wissen solcher Honorierung selbst hervorruft 69 . Falsche Ehre beruht hingegen auf der Anerkennung von Surrogaten solcher Handlungen: von Geld und Macht. Solche Anerkennung ist entweder erzwungen, oder sie verdankt sich einer Selbsttäuschung auch der die Anerkennung Aussprechenden. Der Staat hat - schon im Interesse seiner Selbsterhaltung - die Aufgabe, derartige Zwangs- oder Illusionsverhältnisse zu verhindern, da sie handlungslähmend wirken 70 . Die Instrumentalisierung des sittlichen Handelns und der irreduziblen Fremdreferenzen auf Stabilisierung der Selbstachtung hin ist somit ihrerseits noch einmal umgriffen vom Interesse an der Realisierung von Sittlichkeit. Der »Durst nach Ehre« animiert »zu geselligen und gemeinnüzigen Handlungen« (18,13-15), der »Trieb« der Steigerung von Selbstachtung erweitert mittelbar die soziale Handlungssphäre realisierter Sittlichkeit, das Bedürfnis nach Anerkennung wirkt selbst versittlichend. Deshalb tritt nach dem Willen und der Weltordnung des »Schöpfer(s)« (18,15) - neben die reine Pflichtorientierung sittlichen Wohltuns 71 eine (sofern sie handlungsleitend ist) legitime Orientierung an sozial stabilisierter Selbstachtung, an über soziale Resonanz laufender Selbstreferenz. 72

Diese Formulierung sucht Schleiermachers Engführung auf solche Handlungen zu vermeiden, die sich auf jene beziehen, deren Anerkennung man sucht. Vgl. oben Anm. 64. 70

Unter Orientierung an der handlungsprovozierenden Funktion ließe sich nach Schleiermacher das Erkaufen von Ehrenzeichen dann rechtfertigen, wenn Aristoteles recht damit hätte, »daß die meisten Menschen das geehrt werden nur suchen als ein Zeichen guter Gesinnungen und um der Hofnung ihres Beistandes und ihrer Unterstüzung desto sicherer zu seyn« (18,30-32; vgl. 56,7-10: NE 1159a 18-21). Dann wäre das Kaufen von Ehrenzeichen (Adelsbrief, Ordensband; vgl. 18,33f.) kein Substitut für gemeinnütziges Handeln, sondern eine Art Zusatzversicherung: man investiert gleichsam in Zuneigung, man erwirbt sich Zuneigung für »unvorhergesehene() Fälle()« (18,35), man tauscht gleichsam jetzt Geld für zukünftige Zuneigung, nämlich für Situationen, in denen man sich Zuneigung weder kaufen noch selbsttätig erwerben könnte (etwa im Sinne von Lk 16,19: »Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, auf daß, wenn es damit zu Ende ist, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten«), Ein solches Verständnis verlangt aber eine innere Stabilität der Handlungsorientierung, die Schleiermacher in seiner Gegenwart angesichts allgemeiner Verwechslung der äußeren Scheins mit dem inneren Sein für nicht gegeben hält (vgl. 18,37 - 19,4).

71

Vgl. oben 1.1.

72

Leider bricht der überlieferte Text dieser Anmerkung an der Stelle ab, wo Schleiermacher die Ehrliebe als »gesellige Empfindung, sofern sie den Menschen an andere anknüpft«, zu behandeln anfängt (I9,5f.). So fehlt der nach Schleiermachers eigener Einschätzung »interessanteste Theil« der Anmerkung (43,11); Schleiermacher vermutet, ihn verloren zu haben (vgl. 43,11 f.).

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

51

2.3. Kommunikation von eigener und fremder Individualität und von sittlichen Urteilen: Die drei Gestalten sozialer Resonanz Daß Ehre die versittlichende Funktion der Freundschaft re-individualisiere 7 3 , stimmt nur insofern, als sie eine selbst schon an Sittlichkeit orientierte Selbstwahrnehmung Einzelner stabilisiert und intensiviert. Ebenso wie soziale Anerkennung läuft auch Selbst-Achtung über Tugendwissen, soziale Anerkennung ist Kommunikation einer Anwendung des Tugendwissens auf einen bestimmten Einzelnen in einer bestimmten Situation, der als Kriterium seiner Selbstwahrnehmung selbst das Tugendwissen akzeptiert. Es scheint, als müsse man die Behauptung einer Verschränkung zweier Funktionen der Freundschaft 74 dahingehend verschärfen, daß im Hinblick auf soziale Anerkennung die je konkrete Individualität keine Rolle spielt, außer als Indikator der je realisierten Sittlichkeit am kontingenten Ort eines Einzelmenschen. Man könnte geneigt sein, jene als erste Funktion der Freundschaft apostrophierte Wahrnehmung der irreduziblen Andersheit 75 überhaupt zu reduzieren zu einem unselbständigen Nebeneffekt der von Schleiermacher ohnehin zur Hauptaufgabe von Freundschaft erklärten Kon troll- und Korrekturfunktion (vgl. 11,10-12). Doch gerade die Nötigung, am Ort des Einzelnen Sittlichkeit von Kontingenz zu unterscheiden, impliziert bereits die Wahrnehmung dieser Kontingenz, in der Sittlichkeit sich realisiert oder noch nicht realisiert hat. Dies heißt freilich noch nicht, daß die Kommunikation von kontingenter Individualität selbst zum Freundschaftszweck gemacht wäre. Andererseits legt das Konzept der Selbsterweiterung durch Wahrnehmung der Ideen anderer 76 eben diesen Gedanken nahe. Anders als in den bisher behandelten Partien, wo jenes Konzept selber wieder sehr stark ethisch und handlungsorientiert gefaßt ist, gibt es Text-Passagen, in denen die wechselseitige Kommunikation von Gefühlen und Selbststilisierungen eigenständiger thematisch wird. Die sittlichkeitsfördernde Funktion der Freundschaft beschränkt sich nicht auf eine Kritik des Verhaltens, sondern setzt das Handeln in eine Beziehung zur konkreten Person des Handelnden. Genau dies unterscheidet ja den Freund von anderen, die Handlung 'ohne Ansehen der Person' allein anhand von Recht oder Moral wägenden Beurteilungs- und Sanktionsinstan-

73

Vgl. oben 2.2.

74

Vgl. oben 2.2. und schon 1.2.

75

Vgl. oben 1.2.1.

76

Vgl. ebd.

52

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

zen. Deshalb kann der Freund in ihn selber sozial destabilisierende Konfliktlagen mit der öffentlichen Meinung geraten, wenn sein Freund sichtbarer moralgesetzwidriger Handlungen wegen gesellschaftlich geächtet oder gar gerichtlich bestraft wird. Denn anders als Gesellschaft und Justiz kann ein Freund nicht abstrahieren von den Umständen und von den Motiven selbst öffentlich sanktionierter Handlungen. Geht die Gesellschaft (zu der auch jene dem Delinquenten näherstehenden »gute[n], rechtliche[n] Menschen« gehören, »deren Hauptstärke aber eben nicht in feinen Gefühlen und Urtheilen liegt«, 36,35f.) mit einem gewissen »moralischen Pedantismus« (37,1) an die Handlung heran, rubriziert sie kasuistisch (vgl. 37,3) und entscheidet dann nach der Schwere des Falles, in welchem Maße sie sich von dem so Handelnden distanziert bzw. an der Verbindung mit ihm festhält (Leitfrage: »wie tief ist er gefallen?«, 37,11, vgl. 37,2), so orientiert sich der Freund an der Frage: »wie ist er gefallen?« (37,12). Das heißt nicht, daß nicht auch diese Perspektive zu einer Distanzierung, zu einer Beendigung der Freundschaft nötigen könnte. Aber darüber entscheidet nicht die Wahrnehmung der Handlung, sondern die Untersuchung, ob die immoralische Handlung eine innere Immoralität indiziert. Trennung erfolgt freilich erst, wenn diese innere Immoralität sich als habituell, als irreversibel geworden erweist. Denn das impliziert eine Veränderung der Person selbst 7 7 . Gerade die sittlichkeitsfördernde Funktion der Freundschaft setzt also die Fähigkeit zu Introspektion in den Anderen voraus. Genauer muß man sagen, daß ein Freund geradezu definiert ist durch diese Fähigkeit. Umgekehrt muß, wer Freundschaft will, sich solcher Introspektion aussetzen wollen. Der Kompetenz des Andern, vom Äußeren auf das Innere rückzuschließen, muß die Bereitschaft des Einen korrespondieren, sein Inneres dem Andern aufzuschließen. Allerdings ist die Introspektion nicht schlechterdings angewiesen auf solche Selbst-»Mittheilung der Seele« (11,3). Vielmehr sieht Schleiermacher durchaus, daß Selbstbeschreibungen immer schon Selbststilisierungen sind und deshalb selbst der Außen-Innen-Differenz der freundschaftlichen Introspektion unterliegen 78 . Die versittlichende Funktion der Freundschaft steht und fällt ja gerade damit, daß der Andere unabhängig ist von der momentanen Selbstwahrnehmung und -beschreibung des Einen, daß er sich aber als Freund nicht bloß am person- und situationsunabhängigen Kriterienraster des Sittengesetzes orientiert, sondern eben zugleich an der kontingenten Situation der kontingenten Person. Deshalb 77

Vgl. 37,16: »dann freilich ist er nicht mehr derselbe Mensch (,) wie Aristoteles es ausdrückt«. Vgl. NE 1165b 22, ferner 1159a 10.

78

Vgl. dazu auch unten Kap. 10, 1.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

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muß auch erörtert werden, ob Freundschaft durch räumliche Trennung gefährdet ist (Anmerkung 13: 11,1 - 12,7). Denn zwar räumt Schleiermacher ein, daß im Vergleich zur Zeit des Aristoteles in der Moderne die Möglichkeiten »öftere(r) Mittheilung der Seele an einen Abwesenden« (11,3) weit verbessert sind und daß deshalb das Informationsdefizit, das nach Aristoteles zum Verschwinden der Freundschaft führt 7 9 , nicht mehr auftreten muß. Gleichwohl hemmt Abwesenheit den Effekt von Freundschaft. Denn der abwesende Freund hat kein von den Selbstmitteilungen des Freundes unabhängiges und dennoch auf die Person des Freundes (und zwar in deren momentaner Befindlichkeit) bezogenes Kriterium mehr, diese Selbstmitteilungen zu beurteilen. Er kann sich nicht an unmittelbarer eigener Beobachtung orientieren, sondern allenfalls an vergangener Erfahrung mit dem Freund. Je länger und intensiver diese Erfahrung denn auch war, desto eher bleibt die Freundschaft auch über räumliche Distanz funktionstüchtig (vgl. 11,2532). Selbstbeschreibungen sind freilich nur ein eminenter, weil besonders viele Einzelerfahrungen integrierender und prägender Fall der Kontrollbedürftigkeit. Ein Freund zeichnet sich nämlich auch dadurch aus, daß er über generalisierende Verhaltenszuschreibungen und über die Zuschreibung von auffälligen Handlungen hinaus auch ephemere, dem oberflächlichen Blick unauffällige Verhaltensweisen des Freundes wahrnehmen, in eine Beziehung zu dessen Person setzen und mit dieser Beziehung dem Freund rückkommunizieren kann. Diese gleichsam alltägliche Verhaltensspiegelung, die auf bestimmte »kleine Handlungen« (11,19) allererst aufmerksam macht, die mithin gerade das dem Handelnden selbst Unauffällige und Unbewußte erfaßt, das dieser deshalb auch im Brief nicht mitteilen und der Kritik aussetzen kann, ist durch Abwesenheit völlig unmöglich gemacht. Das hat Folgen nicht nur für den Einen, auf Korrektur Angewiesenen, dessen immoralische Entwicklungen nun nicht mehr in der Wurzel gestoppt werden, sondern sich entfalten können, sondern auch für den Andern, der die gerade durch Akkumulation von alltäglichen Erfahrungen geprägte Entwicklung des Freundes nicht mehr mitverfolgen kann und deshalb nach und nach seine Urteilssicherheit im Blick auf diesen verliert. Nun könnte es freilich so erscheinen, als erübrige sich angesichts der Fähigkeit des Freundes, den Freund besser zu verstehen als dieser sich selbst, eine - Authentizität behauptende - Selbstexpression dem Freunde gegenüber, insofern diese vom Freund wiederum unter dem Schema der Differenz von Äußerung und Innerlichkeit beobachtet wird. Warum besteht Freundschaft nicht bloß in der wechselseitigen Kommunikation von Ver79

Vgl. NE 1157b 11-13.

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I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

haltensbeobachtungen, verbunden mit deren ethischer Beurteilung und begründeten Vermutungen über die Relevanz des beobachteten Verhaltens für die sittlich-personale Entwicklung des so Handelnden? Aufschlüsse darüber vermitteln in Anmerkung 25 die Ausführungen über durch Geheimnisse verursachte Freundschaftsprobleme (28,27 - 31,13). Schleiermacher scheint hier nicht zu unterscheiden zwischen der Verheimlichung von Wissen und Gefühlen, die die Freundschaft selbst betreffen, und der durch freundschaftsexterne soziale Bindungen gegebenen Schweigepflicht. Kriterium der Relevanz von Geheimnissen für die Freundschaft ist das Maß der Auswirkung des Verheimlichten (und des selber verheimlichten Akts des Verheimlichens) auf Handlungen und wahrnehmbare, kommunizierte Einstellungen. D.h.: freundschaftsgefährdend werden Geheimnisse erst, wenn sie Ursache bestimmter Verhaltensweisen sind. Daß diese sich ihm unbekannten Ursachen verdanken, bemerkt der Freund daran, daß seine Beobachtungen ihn zu Rückschlüssen auf die Person des Freundes nötigen, die nicht übereinstimmen mit seinem bisherigen Bild dieser Person bzw. die überhaupt nicht mehr zu einem vollständigen und konsistenten »Bild« (31,1) vereint werden können. Wie aber erkennt der Freund, daß es sich dabei nicht allein um Defizite seiner eigenen Wahrnehmungsfähigkeit, sondern um wirkliche und gewußte Inkonsistenz des Andern handelt? Daran, daß bei Kommunikation seiner Verhalten auf Person rückschließenden Urteile keine Konsistenz wiederherstellende Berichtigung oder Zusatzinformation durch den Beurteilten selbst mehr erfolgt. Bei »öftere(m) irren im Urtheil« (31,2) - wobei unklar ist, ob der Irrtum des Einzelurteils jeweils durch die scheiternde Integration in ein Gesamtbild oder durch die explizite Rückkommunikation des Beurteilten oder durch beides offenbar wird - wird der Freund »sich uns nach und nach als ein übelzusammenhängendes Wesen denk(en), auf welches er seine Liebe nicht concentriren kann, weil er es nicht aus einem Punkt umfassen kann« (31,3-5). Damit fallen natürlich entscheidende Funktionsbedingungen der Freundschaft dahin: Die Beobachtung hat kein auf die individuelle Person zentriertes Kriterium mehr, der Beobachter kann dem Beobachteten deshalb auch kein als Einheit der Zuschreibungen konstituiertes Bild seiner selbst mehr kommunizieren und zur Orientierung seiner Selbstwahrnehmung zur Verfügung stellen, der Beobachtete weiß jetzt gewissermaßen mehr von sich als der Beobachter und kann die Wahrnehmung von Außenperspektiven auf sich nicht mehr zur Selbstkorrektur und Selbststabilisierung verwenden. Minimalbedingung zur Bewahrung von Freundschaft trotz nicht aufhebbarer Geheimnisse ist deshalb, zumindest den formalen Geheimnischarakter des Verheimlichten dem Freunde zu offenbaren (vgl. 29,10-19). Dadurch versichert man ihn der eigenen inne-

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

ren Konsistenz und appelliert an sein Vertrauen80, Wirklichkeit zu nehmen.

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die Behauptung für

Diese Ausführungen verdeutlichen die Konzeption von Freundschaft in mehrfacher Hinsicht. (a) Einmal explizieren sie den wechselseitigen Zusammenhang zwischen Beobachtung und Selbstbeschreibung differenzierter, als es bisher geschah. Denn einerseits arbeitet Beobachtung mit Differenzschemata, die die Beobachtung von Selbstexpressionen mit umfassen, das macht ja gerade die Funktionalität der Kommunikation solcher Beobachtungen für den Beobachteten aus, der sich andernfalls ja mit seiner Selbstwahrnehmung zufrieden geben könnte, aber eben an deren Unsicherheit keine Genüge findet. Andererseits bedürfen die kommunizierten Beobachtungen ihrerseits der kontrollierenden Rezeption durch den Beobachteten selbst: Er muß sich 'erkannt' oder verkannt wissen und eben dies dem Beobachter rückkommunizieren. Das heißt freilich nicht, daß die Rezeption über die Stichhaltigkeit der Beobachtung entscheidet. Der Beobachter kann ja die Reaktion des Beobachteten selbst wieder unter dem Aspekt der Außen-Innen-Differenz untersuchen und zum Ergebnis kommen, daß die Zurückweisung der Beobachtung durch den Beobachteten auf Selbsttäuschung beruht und insofern jene Fehlhaltungen stabilisiert und noch steigert, deren Korrektur die Kommunikation der Beobachtung gedient hatte. Allerdings muß er die rückkommunizierte Zurückweisung als Information über den Anderen in den Fundus seiner Erfahrungen mit diesem integrieren, wenn er in seinen Beobachtungen weiterhin Anhalt an der Entwicklung des Freundes behalten will - was ja Voraussetzung für fortdauernde Freundschaft ist, insofern es wertende Zurechnung konkreter Handlungen auf konkrete Person ermöglicht. Deshalb gefährdet die beidseitig gewußte Differenz von Selbstwahrnehmung und Beobachtung zwar nicht notwendig den Realitätsanspruch beider, wohl aber die Freundschaft, indem diese auf der wechselseitigen Zuschreibung der Kompetenz zutreffender Verhaltensbeobachtung und auf der beidseitigen Bereitschaft zur Verhaltens- oder Einstellungskorrektur aufgrund der Mitteilung solcher Beobachtungen beruht. (b) Ein weiterer Punkt ist die Orientierung sowohl der Selbstwahrnehmung als auch der Beobachtung an der Einheit der Person. Indiz für das Vorhandensein verheimlichter Geheimnisse ist für den Beobachter ja gerade, daß er seine Verhaltensbeobachtungen nicht in einen konsistenten, auf eine bestimmte Person focussierten Zusammenhang bringen kann. Umge80

Vgl. auch oben 1.2.1.

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I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

kehrt bemüht sich der Geheimnisträger, dem darüber irritierten Freund den Eindruck faktisch gegebener, wenngleich nicht im einzelnen kommunizierbarer innerer Konsistenz zu vermitteln. Dieser Versuch, sich dem Freund erwartbar, berechenbar, in den Handlungsmotiven wahrnehmbar zu erhalten (und mithin sich selbst den Freund!), kann freilich auch bei bestem Willen und größtem Vertrauens-'Vorschuß' Freundschaft nur vorübergehend stabilisieren, da die für Freundschaft konstitutive detaillierte Kenntnis des Inneren des Freundes nicht auf Dauer durch pauschale Zuschreibungen ersetzt werden kann, ohne die Fähigkeit zum Vergleich der Handlungen mit dem Inneren nachhaltig zu vermindern. Schwer entscheidbar ist die Frage, ob die für Beobachtung und Selbstbeschreibung verwendete Form 'Einheit' ein jeweils bereits kommunikationsfunktionales Konstrukt ist zur Integration von Selbst- und Fremdbeobachtungen, Selbst- und Fremdbeschreibungen, Selbst- und Fremdzurechnungen sowie zur Bündelung von Handlungsmotivierungen auf konkrete Handlungen hin, oder ob Schleiermacher gleichsam hinter solchen 'Konstrukten' eine Art ontisches Substrat personaler Einheit annimmt. Die Möglichkeit der Divergenz der Einheit der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung und der Einheit der Beobachtung von außen, die Notwendigkeit einer Sensibilität der Selbstwahrnehmung für die Wahrnehmung von Fremdbeobachtungen, die Nötigung zu einer - Selbstveränderung implizierenden - Abstimmung von eigener und externer Perspektive auf sich selbst, dies alles sind starke 'konstruktivistische' Züge der Theorie, in denen 'Einheit der Person' als Funktionsmoment von Selbststeuerung und Fremd Wahrnehmung erscheint. Dem steht entgegen die Annahme eines ursprünglichen Selbstverhältnisses (»ursprüngliche Selbstliebe«) 81 , die Forderung der Unabhängigkeit von der »Meinung« 82 , das Festhalten an der aristotelischen Konzeption der Autarkie des »Vollkommenen« 83 . Es scheint sich hier eine Spannung zwischen zwei Konzeptionen zu manifestieren, die Schleiermacher freilich theoretisch nicht zu fassen oder gar zu übergreifen vermag. Darauf wird zurückzukommen sein 84 . (c) Ein dritter Aspekt, der an der Behandlung der Geheimnisse klarer hervortritt, wirft vielleicht auch ein Licht auf die Frage der Bedeutung und Verwendung personaler Einheit; nämlich der Aspekt der Evolution. Denn offenkundig wirken Geheimnisse am möglichen Beginn einer Freundschaft 81

Vgl. oben 2.2. und unten 2.6.2.

82

Dies könnte allerdings auch als Divergenz von Selbst- und Fremdzuschreibungen von Einheit unter Priorisierung der Selbstzuschreibung beschrieben werden.

83

Vgl. oben 2.1.

84

Vgl. unten 2.6.3.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

57

ungleich restriktiver, als wenn diese bereits etabliert ist. Am Anfang der Bekanntschaft steht (im Falle der Tugendfreundschaft) neben der zur Kontaktaufnahme anreizenden Sympathie 85 nichts als eine wie immer vage wechselseitige Wahrnehmung der Tugendhaftigkeit bzw. des Tugendwissens inclusive der wahrnehmbaren Intention, sich daran zu orientieren 86 . Die Beobachtung des Andern kann noch nicht aus einem Fundus von Erfahrungen mit diesem schöpfen, sie muß diesen Fundus vielmehr allererst aufbauen. Sie wird sich deshalb einerseits stärker am abstrakten Sittengesetz orientieren (und sich insofern von anderen, externen Beobachtungen nur dann unterscheiden, wenn diese nicht Sittlichkeit als Kriterium wählen, sondern etwa Lustgewinn oder eigenen Vorteil - was aber z.B. für juristische Perspektiven nicht zutrifft), andererseits bleibt sie noch in hohem Maße abhängig von den Selbstbeschreibungen des Andern, und zwar nicht einmal primär aus Mangel aus Erfahrung, sondern weil der Blick der Freundschaft als solcher Vertrauen in die Aufrichtigkeit der Selbstexpression des angehenden Freundes voraussetzen muß. Der Fundus von Erfahrungen mit dem Anderen speichert deshalb besonders dessen Selbstkundgaben, Selbstdeutungen, Bekenntnisse. Diese prägen das »Bild« des Freundes anfangs wohl stärker als seine Handlungen, bzw. sie strukturieren die Wahrnehmung und Deutung seiner Handlungen stärker als andere Beobachtungsschemata. Wenn deshalb in dieser Phase der Andere seine Selbstpreisgabe erkennbar restringiert oder wenn sich der Beobachtung im oben 87 beschriebenen Sinne kein kohärentes Bild des Anderen darbietet, wird - da der Beobachter ja noch nicht das Korrektiv vergangener Erfahrungen und vergangener Wahrnehmung der 'Einheit' des Anderen hat und in die Gegenwart fortschreiben kann - die Freundschaft sich schnell auflösen bzw. gar nicht eigentlich beginnen. Umgekehrt kann, wenn die Freundschaft »durch die genauste gegenseitige Bekanntschaft gleichsam den Stempel der langen Dauer erhalten« (ll,30f.) hat, die Entwicklung des Freundes sogar bei räumlicher Trennung gewissermaßen hochgerechnet werden, so daß man den Freund bei der Wiederbegegnung so vorfindet, wie man ihn erwartet (vgl. ll,35f.). Bei weniger guter Kenntnis führt die Wiederbegegnung hingegen zu Überraschung, Irritation und »unentschloßene(m) Mißtrauen()« (12,7). Mag an dieser Stelle zwar die Entwicklung eines Menschen ungebührlich zu bruchloser, bei intimer Kenntnis wahrnehmungsfrei prognostizierbarer Linearität hochstilisiert sein - deutlich ist, daß die Ge85

Vgl. unten Anm. 104.

86

Vgl. oben 2.1.

87

Vgl. 2.3.

58

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

schichte der Freundschaft den Freunden sukzessive reichere und differenziertere Bilder voneinander vermittelt, die sie von der je gegenwärtigen Erfahrung des Andern unterscheiden, ja geradezu gegen die gegenwärtige Erfahrung ins Spiel bringen können, indem sie sie als Beurteilungskriterium gegenwärtiger Handlungen und Äußerungen des Anderen verwenden und diesem als solche kommunizieren. Freunde sind einander dergestalt nicht nur Repräsentanten der Tugend, sondern auch Repräsentanten eines (aufgrund der Freundschaftsgeschichte Authentizität beanspruchenden) Bildes der eigenen Biographie oder genauer: der in der Biographie sich auskristallisierenden Individualität. Die Konzeption der Freundschaft stellt sich jetzt dar als Zusammenhang dreier Kommunikationsfunktionen: Freunde kommunizieren einander Bilder der eigenen Individualität und der Individualität des Freundes und Tugendwissen. In seiner Selbstoffenbarung legt der Einzelne einerseits die Voraussetzungen (Motive) seines Handelns offen, damit der Andere dieses Handeln im Kontext der Entwicklung des Handelnden beurteilen kann; andererseits läßt er damit den Andern an seinen »Ideen« teilhaben und ermöglicht ihm selbstbereichernde und -erweiternde Wahrnehmung von Andersheit und dadurch Anschlüsse für zugleich altruistische und selbststeigernde Handlungen 88 . Die Kommunikation der Individualität des Freundes appräsentiert diesem ein soziales und gleichwohl intimes Bild seiner eigenen Biographie, bietet ihm damit stärkere Perspektiven auf mögliche Kontinuität und Homogenität der eigenen Person im Blick auf deren zeitliche Erstreckung, welche Perspektiven er entweder in seine Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung integrieren oder modifizieren oder aber abweisen kann. Sie erleichtert und steuert mithin seine Selbstwahrnehmung und die Kontinuität seiner personalen Selbstreferenz. Die Kommunikation von Tugendwissen schließlich vermittelt situationsunabhängige Kriterien der Beurteilung sowohl der Sittlichkeit von Handlungen als auch der sittlichen Wahrheit jener kommunizierten Beurteilungen selbst; sie wirkt damit verhaltenskritisch im Blick auf die Vergangenheit, verhaltenskorrigierend, -normierend und -animierend im Blick auf Gegenwart und Zukunft.

88

Vgl. oben 1.2.1.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

59

2.4. Komplexitätssteigerung der Theorie Nicht nur hinsichtlich der Interdependenzen und Kopräsenzen dieser drei Funktionen hat die Darstellung von Schleiermachers Darstellung bisher jedoch mit Vereinfachungen gearbeitet: Sie hat 1) die Wechselseitigkeit der Äußerungen der Freundschaft in ihren drei Funktionen weitgehend ausgeblendet, die aber gerade für die von Schleiermacher intendierte eminente Form von Freundschaft konstitutiv ist, insofern diese die Gleichwertigkeit der Freunde notwendig impliziert. Sie hat 2) die Temporalisierung der Freundschaftsverhältnisse nicht hinreichend in den Blick genommen und sich bisher stärker auf die Darstellung des Einzelmomentes konzentriert als auf die Erfassung von Verbindungen so differenziert strukturierter Einzelmomente zu Geschiehte(n). Schließlich hat sie 3) Freundschaftsverhältnisse fast durchgängig als Beziehungen zwischen zwei Personen beschrieben und dadurch abstrahiert von den Problemen, die daraus entstehen, daß diese jeweils in vierteiligen sozialen, darunter auch und gerade freundschaftlichen Kontexten stehen. Diese Vereinfachungen sind nur zum Teil auf Schleiermacher selbst zurückzuführen. Zur Erhellung der Komplexität von Schleiermachers früher Theorie müssen sie deshalb aufgehoben werden. Eine differenziertere Erfassung der Freundschaftstheorie kann dabei einerseits aufbauen auf Schleiermachers Text, muß aber andererseits implizite Theorieoperationen explizieren und Einzelerkenntnisse auf andere Kontexte übertragen und untereinander verknüpfen.

2.4.1. Überschreitung reiner Zweierverhältnisse Am deutlichsten tritt der dritte Aspekt bei Schleiermacher selbst zu Tage. In Anmerkung 25 behandelt er unter dem Titel der Eifersucht die der Freundschaft innewohnenden Tendenzen, sich einerseits zu reinen Zweierverhältnissen zurückzubilden, andererseits aber zugleich diese Beschränkung zu transzendieren (27,17 - 28,26). Eifersucht entspringt dem Wunsch nach Einmaligkeit und Ausschließlichkeit der Beziehung zum Freund. Mag dieser Wunsch, für den Freund »das einzige Wesen von Bedeutung seyn« zu wollen, auch eine »überspannte() Idee« sein (27,18-20), so ist es dennoch nur natürlich, den Gedanken fernhalten zu wollen, man sei nur der (vorerst) letzte in einer Reihe vorangegangener oder der (gerade) erste in einer Reihe zukünftiger gleichartiger freundschaftlicher Beziehungen des Anderen (vgl. 27,20-25). Eifersucht ist demnach Zweifel an der Singularität und Beständigkeit der freundschaftlichen Empfindungen des Anderen. Der Versuch

60

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

freilich, diese Singularität dadurch selber herbeizuführen, daß man den Freund an anderen freundschaftlichen Beziehungen hindert, stört die Freundschaft selbst. Denn die mit Verhaltensforderungen verbundene Kommunikation der Eifersucht verändert das Verhalten des Freundes. Nicht daß er seinen Umgang mit anderen einstellt; er wird ihn (oder seinen vertraulichen Charakter) aber verheimlichen (vgl. 27,30-32). Das wirkt in doppelter Weise negativ auf den Eifersüchtigen zurück: Einmal nimmt er in der oben 89 beschriebenen Weise - den Freund nur noch verzerrt und d.h. tendenziell nicht mehr als Freund wahr; zum anderen »beraubt« (27,33) er sich selbst der Bereicherung, die er aus der Mitteilung des Freundes über die ihm widerfahrenen Freuden hätte gewinnen können (zum zweiten Aspekt vgl. 27,33-35). Gerade der Wunsch, den Andern ganz für sich haben zu wollen, vermindert mithin paradoxerweise die Wahrnehmung seiner Andersheit, insofern sie »ihn 90 in Absicht seiner Gefühle [sc. gegen Dritte] in einer steten Abhängigkeit erhalten will« (28,17f.). Hier zeigt sich eine radikalere Kritik der Instrumentalisierung Anderer und eine umfassendere Konzeption der freundschaftskonstitutiven Eigenständigkeit der Freunde, als in den oben 91 dargestellten Eingangspartien. Denn diese Eigenständigkeit beschränkt sich nicht auf die ethische Urteilsfähigkeit dem Freund gegenüber, sondern sie schließt eine Unabhängigkeit der Lebenskontexte ein. Es ist deshalb eine besonders subtile Form der Instrumentalisierung, dem Freund im Namen der Singularität der Freundschaft andere Sphären von Emphase und Tätigkeit verwehren zu wollen. So ist Eifersucht nicht nur de facto freundschaftsstörend, sondern in sich freundschaftswidrig. Sie ist darüber hinaus manifest unsittlich, wenn sie dem Freund zumutet, seinen »Sinn für sittliche Vollkommenheit« (28,21) - dessen Wahrnehmung oder Zuschreibung 92 ja im übrigen Grund des Anknüpfens der Freundschaft sein soll - auf vom Eifersüchtigen bestimmte Wahrnehmungsbereiche einzuschränken und nicht überall dort tätig zu werden, wo er könnte (vgl. 28,21-23). Ein gewisses Verständnis kann »ein kleiner Anstrich von Eifersucht« (27,35f.) allenfalls am Anfang einer Freundschaft beanspruchen, insofern man da nicht völlig davon abstrahieren kann, daß der Andere bereits in einem Netz von Beziehungen steht, und man nicht sicher sein kann, ob er all und genau das bei dem neuen Freund sucht und nicht bei anderen, was der ihm geben will. Kaum verzeihlich ist Eifersucht 89

Vgl. oben 2.3.

90

28,17 syntaktisch falsch: »ihm«.

9

1 Vgl. 1.

92

Vgl. unten 2.5.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

61

allerdings nach einer gewissen Dauer der Freundschaft; dann indiziert sie nur noch mangelndes Selbstvertrauen und Selbstwertbewußtsein (vgl. 28,11-15), wenn nicht gar »egoistische Intoleranz, welche allein die Quelle der geselligen Freuden für einen andern seyn« will (28,15f.); beides Formen der Selbstzentrierung, die Freundschaft am Ende zerstört. Verhaltensmaxime zur Erhaltung der Freundschaft (bzw. ihrer Funktion der SelbstErweiterung) ist deshalb umgekehrt, den Andern in der Vielfalt seiner Lebensbezüge zu erhalten, um so an dieser Vielfalt zu partizipieren. Die Eifersucht soll unterdrückt, und durch die Kommunikation von Anteilnahme »an allen seinen Freuden« (28,7f.) dem Freund zugleich der Anspruch auf Singularität der Freundschaft und die Bejahung seiner unverfügbaren freundschaftsexternen freundschaftlichen Beziehungen signalisiert werden (vgl. 28,5-10). Leider führt Schleiermacher nicht aus, ob die Partizipation an dem »neuen Gut()«, das der Freund in diesen anderen Beziehungen »gefunden hat« (28,25), nur in der Wahrnehmung der Erfahrungen des Freundes mit den Anderen besteht, oder ob sie die Ermöglichung unmittelbaren eigenen Kontakts zu diesen einschließt. Mit anderen Worten: Bestehen die einzelnen Freundschaftsbeziehungen mit zwei Beteiligten gleichsam je nebeneinander und erfahren von einander nur über Informationen innerhalb der Einzelfreundschaft, oder gehört es zur Freundschaft, auch mit Freunden des Freundes in Verbindung zu treten, so daß aus der Vielzahl von Einzelkommunikationen eine intern vernetzte soziale Kommunikationssphäre entsteht? Jedenfalls spricht Schleiermachers Darstellung die soziale Einbindung des Eifersüchtigen selbst nicht an, ebenso wenig wie die Frage, was für Erfahrungen oder Handlungsmöglichkeiten er dem Anderen vermittelt; auch der Aufbau von komplexen Gruppen-Verhältnissen wird nicht thematisch. Hier scheint die Konzeption der Freundschaft noch keine adäquate Theorie gefunden zu haben; sie tendiert zwar zu einer Überwindung rein zweistelliger Relationen, hat aber noch nicht in jeder Hinsicht hinreichende Mittel, die so entstehenden mehrstelligen Verhältnisse angemessen darzustellen. Die Vielfalt der Lebensbezüge des Freundes erscheint als Expansionsbereich der Freundschaft. Gerade Schleiermachers Interesse an der Etablierung von Sphären realisierter Sittlichkeit 93 legt freilich den Versuch nahe, die Pluralisierung und Vernetzung von Freundschaftsverhältnissen als Ausbreitung und Förderung der personalen Bedingungen der Realisierung von Sittlichkeit zu beschreiben.

93

Vgl. oben 1.1. und 1.2.2.

62

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

2.4.2. Temporalisierung und Wechselseitigkeit Die Temporalisierung der Freundschaftskonzeption läßt sich kaum unabhängig vom Aspekt der Wechselseitigkeit betrachten. Denn Wechselseitigkeit ist einerseits Resultat, andererseits aber Dynamisierungsprinzip der Entwicklung der Freundschaft. Man kann den evolutionären Aspekt geradezu als 'Genese komplexer Wechselseitigkeit' beschreiben. Sobald nämlich die Selbstwahrnehmung und Selbstbeurteilung sich nicht mehr allein dem solitären Vergleichen der Wahrnehmung des eigenen Handelns mit der eigenen Einsicht in das vernünftige Sittengesetz verdankt, und sobald das eigene Handeln nicht mehr nur auf die Realisierung von Sittlichkeit, sondern auch auf personale Resonanz abzielt, werden Selbstwahrnehmung und Handlungsorientierung abhängig von nur bedingt verfügbaren Handlungen Anderer - genauer: derer, deren Resonanz sie suchen - und sind angewiesen auf deren Wahrnehmung, um daran reaktiv eigenes Handeln anschließen und die Selbstbeschreibung daran orientieren zu können. Wenn dies für alle Beteiligten gilt, daß sie sich in einer für sie selber nicht kontingenten Offenheit für das kontingente Verhalten der jeweils Anderen halten müssen, dann sehen sie sich in einen Prozeß involviert, den kein einzelner Beteiligter (und auch nicht ihre Gesamtheit) noch selbst vollständig beherrschen, von dem er sich aber auch nicht ohne weiteres distanzieren kann, insofern er sich in seiner Selbstwahrnehmung davon abhängig gemacht hat; die Beteiligten müssen deshalb nicht nur einander, sondern auch das emergente Resultat ihrer gemeinsamen Geschichte je neu beobachten und beachten. Daß dies freilich für alle Beteiligten gilt, ist selber bereits Resultat jenes Prozesses. Denn die Selektion der Beteiligten antizipiert implizit ein Wissen, dessen Wahrheit sich in dem Prozeß allererst bewähren muß, nämlich das Wissen von der Würdigkeit der Ausgewählten, als Kriterium der Selbstorientierung des Auswählenden zu dienen. Die primäre Selektion muß mithin nicht wechselseitig erfolgen, sie muß aber Wechselseitigkeit antizipieren und intendieren - und sie muß Kontrollen einbauen, die die Bewährung oder Enttäuschung der Antizipation wahrnehmen lassen und gegebenenfalls den Abbruch der Beziehung (als Beendigung schädlicher Abhängigkeit) ermöglichen. In Anmerkung 11 (9,30 - 10,20) behandelt Schleiermacher Probleme der primären Selektion im Rahmen einer scharfen Kritik der »Freundschaftlichkeit« (9,30). Diese wird von Aristoteles als »nur ein leichtes und geschwin-

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

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des Begehren der Freundschaft, aber noch nicht sie selbst« definiert 9 4 . Freundschaftlichkeit sucht entweder die Antizipation Anderer so zu täuschen, daß diese den Schein von Anteilnahme schon für diese selbst halten und daraufhin auf die Kontrolle ihrer Antizipation verzichten, oder sie täuscht sich selbst in der eigenen Antizipation bzw. verzichtet auf deren Kontrolle; all dies jeweils im Interesse schneller Vertraulichkeit. Ist der erste Fall »ein Fehler des Charakters überhaupt« (9,31), indem hier bewußt Emphase vorgespiegelt wird, so fehlt im zweiten die Urteilskraft und im dritten Festigkeit des Herzens. Denn das »dringende() Bedürfniß nach Mittheilung« (10,4) sucht sich beliebige Adressaten, wenn einerseits das Fehlen der »so nothwendigen Unterstüzung der Menschenkenntniß« (10,6) Vertrauensseligkeit bewirkt (vgl. 10,6-11), andererseits mangelndes Vertrauen in die Möglichkeit wahrer Freundschaft ein geduldiges Warten auf geeignete Adressaten der Selbstmitteilung als sinnlos erscheinen läßt (vgl. 10,11-20, bes. 16). Deutlich ist, daß auch »Freundschaftlichkeit« ein Selektionskriterium zur Erzeugung von Wechselseitigkeit besitzt und verwendet. Dieses unterscheidet sich aber nach Schleiermacher darin von der sittlich verantworteten Suche nach Resonanz, daß es keine situationsexterne und situationenübergreifende Perspektive in die Selektion einzubringen vermag, sondern die Auswahl am unmittelbaren Nutzen oder Vergnügen orientiert, ohne Rücksicht darauf, ob die Freundschaft auch das Ende ihrer Nützlichkeit überstehen bzw. wenigstens je neue Nutzaspekte hervorbringen könne. 9 5

94

So 51,19f. Schleiermachers Übersetzung von NE 1157b 31f. Vgl. bei Dirlmeier (219): »der Wunsch nach Freundschaft entsteht rasch, die Freundschaft aber nicht.«

95

Für die Kritik der »Freundschaftlichkeit« knüpft Schleiermacher stärker als in anderen Textpassagen an Positionen des Aristoteles an. Mit zwei Gründen betont dieser die Seltenheit von vollkommener - im Sinne von: auf der wechselseitigen Anerkennung der Tugend beruhenden - Freundschaft: Es gibt wenige Menschen, die selber so tugendorientiert sind, daß sie die Beziehung zu anderen Tugendhaften suchen, und vor allem: sie haben sich erst nach einer Zeit »gegenseitige(n) Vertraut-werden(s)« (NE 1156b 25f.; Dirlmeier 218) »als liebenswert erwiesen« (NE 1156b 29; Dirlmeier 219), d.h., sie sind nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen. Unproblematischer als bei Schleiermacher ist bei Aristoteles freilich die prinzipielle Erkennbarkeit der »Wesensart« (1156b 10 in der etwas freien, aber den Gegensatz zur Erkenntnis der Akzidentien - vgl. 1156b 11 - gut herausarbeitenden Ubersetzung von Dirlmeier, 218) und mithin die Orientierung daran - wobei zu beachten ist, daß das 'Wesen' sich in der Tugend repräsentiert, so daß einerseits nur eine Orientierung an Tugend nicht-akzidentelle Sozialbeziehungen hervorbringt, andererseits auf den kontingenten Nutzen bezogene 'Freundschaften' nicht zum 'Wesen' hindurchdringen können und deshalb auch nicht dauerhaft sind. Freilich macht das Substanz-Akzidens-Schema es unmöglich, die Genese von (Tugend-)Freundschaft als Entwicklung der Freunde selbst zu beschreiben,

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I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

Schleiermachers Ablehnung der »Freundschaftlichkeit« impliziert freilich nicht, daß das Anknüpfen wahrer Freundschaft allein anhand der Wahrnehmung der sittlichen Würdigkeit des Andern erfolgt. Die Kontaktaufnahme mit Anderen kann durchaus zunächst von reiner Sympathie geleitet sein. Kritisiert wird vielmehr nur, wenn diese Sympathie auf eine antizipierende Zuschreibung von Sittlichkeit verzichtet oder aber umgekehrt zwar sehr schnell zu solcher Zuschreibung bereit ist, aber nicht mehr zur Kontrolle von deren Stichhaltigkeit im Verlauf der Entwicklung der Freundschaft. Eine solche Kontrolle setzt eine gewisse Dauer, eine Akkumulation von Episoden, in bestimmter Hinsicht mithin eine Phase teleologisch unkontrollierten Fließens der Freundschaft voraus. »Es scheint sonderbar, aber es ist doch richtig, daß eine Verbindung lange gedauert haben kann, und doch der ernsthaften Ueberlegung nicht Stich hält: In wie fern ist nun die Absicht derselben erreicht worden« (34,10-13). Kriterium der Bilanzierung der Freundschaft ist also der Zweck, auf den hin sie eingegangen wurde. Ging dieser Zweck mit einer (einseitigen oder wechselseitigen) Instrumentalisierung der Anderen einher, d.h., intendierte die Kontaktaufnahme nicht primär die Wahrnehmung unverfügbarer Anderer, sondern eigenen Nutzen und eigenes Vergnügen, dann muß ebenso wie die freundschaftlichen Akte selbst auch die Bilanz ohne Rücksicht auf die Person der Anderen gezogen werden, ja selbst ohne deren Wissen (vgl. 35,10f.); denn Schleiermacher nimmt an, daß gerade solche Formen der Freundschaft die Fiktion eigentlichen Interesses an der Person erwecken und aufrechterhalten müssen, um ihren Zweck zu erreichen. Die fingierte Wechselseitigkeit ist in Wahrheit wechselseitige Einseitigkeit, und verbirgt ebendies. Im Gegensatz dazu ist bei wahrer Freundschaft die wechselseitige Kommunikation der Beurteilung der Geschichte der Freundschaft ein Moment dieser selbst, und zwar im Blick auf alle zwei (bzw. drei) funktionalen Komponenten: Die (Zahl und Intensität wertende) Erinnerung der Stunden wechselseitiger »warme(r) Ergießungen des Herzens« (35,12) und die wechselseitige Offenbarung dieser Wertung sind selbst bereits wieder sowohl Selbstoffenbarung als auch Vermittlung neuer Bilder der Individualität des Andern, und die beurteilende Betrachtung der gemeinsam vermiedenen »Fehler« (35,13), der gemeinsam vollbrachten »schönen Handlungen« (35,14), der gemeinsam berichtigten »Urtheile« (ebd.) sowie der gemeinsam gefaßten »Vorsäze« (35,15) und die wechselseitige Mitteilung dieser Beurteilung sind selbst bereits wieder vernämlich als Übernahme antizipierender Zuschreibungen und diese verifizierende Orientierung daran. Der wesentlich Vollkommene wird nicht vollkommen, er ist es, und verlöre er seine Vollkommenheit, wäre er nicht mehr.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

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haltenskorrigierende und -orientierende Akte. Die reflexive Form der gemeinsamen und wechselseitigen kritischen Vergegenwärtigung der Geschichte der Freundschaft indiziert mithin bereits als solche einen hohen Grad der Funktionserfüllung der Freundschaft. Die Freunde sind nun fähig, ihre Kompetenz der Wahrnehmung und Förderung irreduzibler Andersheit einerseits, der Steigerung der Realisierungschancen von Sittlichkeit andererseits als durch die Freundschaft selbst gesteigert wahrzunehmen; die wechselseitige Appräsentation der Genese von Wechselseitigkeit stabilisiert, kontinuiert und fördert Wechselseitigkeit. In gewisser Weise kulminiert in dieser vergewissernden Evokation der eigenen Geschichte die Freundschaft selbst. Dies zeigt sich auch darin, daß sich hier sowohl Nähe als auch Differenz zu anderen, uneigentlichen Formen der Freundschaft offenbart. Denn in der Reflexion erweist sich auch das Angenehme und das Nützliche der vergangenen Episoden der Freundschaft, und die Reflexion schließt selber angenehme und nützliche Aspekte ein. »Aber das sittlich angenehme hat keine Launen und keinen Eigenwillen, und das sittlich nüzliche ist nicht eigennüzig und hat weder Neid noch Betrügereien« (35,17-19). D.h., die Orientierung an Sittlichkeit verringert einerseits gleichsam von außen die Labilität, die der Orientierung am Wohlgefälligen eignet, und kontrolliert die Tendenz zur Selbstzentrierung, indem sie der Neigung entgegenwirkt, nur das 'für mich 1 Angenehme und Nützliche zu suchen und dies zum Beurteilungskriterium des eigenen Handelns zu machen; andererseits 'reformiert' sie die Nutz- und Vergnügensorientierung gewissermaßen von innen, indem sie sich selbst als Gegenstand von Lust und Nutzen vorstellt. Diese 'Läuterung' der Nutz- und Vergnügen sorientierung verändert auch die Reaktion auf die Resultate der Reflexion der Effektivität der Freundschaft, sogar wenn sich ungleiche Vorteile herausstellen. Solche Ungleichheit wird auf ungleiche Verdienste der Personen rückgerechnet, die Bindung an Sittlichkeit erlaubt aber gerade nicht, daß der 'Bessere' (vgl. 35,20) in seinem Gut-Sein zur Ruhe kommt bzw. der 'weniger Gute' sich auf die Umstände beruft. Gerade das Wissen eines höheren Grades erreichter Vollkommenheit impliziert die Nötigung, diese nach außen, zur Vervollkommnung Anderer, wirken zu lassen; umgekehrt animiert die Wahrnehmung geringerer Vollkommenheit zu verehrender »Nacheiferung« (35,21) 9 6 .

Ein ähnlicher Gedanke begegnet im »Freiheitsgespräch«; vgl. unten Kap. 4, 2.

66

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

2.5. Das entfaltete Konzept der Freundschaft Unter Bezug auf diese 'Entschränkungen' kann Schleiermachers Darstellung der Prozesse und Effekte der Freundschaft jetzt als einheitliches Konzept beschrieben werden. Der Untersuchung hatten sich drei Funktionen der Freundschaft ergeben: Wahrnehmung irreduzibler Andersheit, Verhaltenskritik, -korrektur und -motivation sowie Vermittlung von Bildern der Individualität des je Anderen. Dem entsprechen am Ort des Einzelnen je bestimmte Selbstwahrnehmungen, die das Ungenügen solitärer Existenz offenkundig machen: die Wahrnehmung der Verarmung der inneren Bilder, die zu Selbst-Überdruß führt 9 7 , die Wahrnehmung der eigenen Vervollkommnungsbedürftigkeit, d.h. der Unfähigkeit zu dauernder und vollständiger Umsetzung sittlicher Verhaltensorientierungen in konkretes sittliches Handeln 98 , sowie die daran anschließende Wahrnehmung der Labilität der Selbst-Achtung 99 . Diese Beobachtung eigener Defizienz in mehrerer Hinsicht bewirkt Resonanzsensibilität, initiiert eine Suchbewegung auf resonanzfähige 'Objekte' hin 1 0 0 . Insofern Selbstbeobachtung und Erwartungen an Freundschaft miteinander korrelieren (und sich in gewisser Weise einander und beide sich der Zumutung von Sittlichkeit verdanken), erfolgt die Suche nicht kriterienlos auf beliebige Resonanz hin 1 0 1 . Es kann auch nicht ein Kriterium von den beiden anderen abstrahiert die Auswahl freundschaftlicher Sozialkontakte begründen. Wenngleich nämlich eine Dominanz des Aspektes der Orientierung an Sittlichkeit unverkennbar ist, so muß dennoch die Kommunikation von Verhaltensbeurteilungen noch nicht notwendig mit Freundschaft verbunden sein 1 0 2 . Umgekehrt kann zwar emergente Sympathie die konkrete Kontaktaufnahme katalysieren, aber sie muß zumindest die antizipierende Zuschreibung der sittlichen Würdigkeit des Anderen involvieren 103 , wenn anders gerade die Flüchtigkeit von vergnügensabhängigen Sozialbeziehungen vermieden werden soll. Freundschaftskatalysierend kann freilich auch 97

Vgl. oben 1.2.1.

98

Vgl. oben 1.2.2.

99 100 101

Vgl. oben 2.2. V g l . oben 1.2.1. Genau dies kritisiert Schleiermacher als Abhängigkeit von der »Meinung«; vgl. oben 2.2.

1 0 2 V g i . schon oben 1.1. die Ausführungen zur Wohltätigkeit ohne Interesse an der Person. 103

V g l . oben 2.4.2.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

67

wirken die Wahrnehmung gleichsam vorgängiger Resonanz, d.h. des zuvorkommenden Interesses anderer an Kontaktaufnahme, an welchem Interesse (und an Art und Inhalt der Kontaktaufnahme) man Anhalt für Sittlichkeitszuschreibung meint finden zu können. Überhaupt setzt das Sich-Einlassen auf freundschaftliche Beziehungen die Annahme einer Symmetrie der Selbstwahrnehmungen und einer Gemeinsamkeit des Kriterienschemas für Freundschaft und die Annahme des Vorhandenseins dieser Annahme selbst bei den Andern voraus 104 . Das an- oder wahrgenommene wechselseitige Interesse muß jedoch, wenn es nicht gleichsam latent bleiben soll, verifiziert und intensiviert werden. Dies geschieht dadurch, daß die »Aufmerksamkeit« 105 des Andern, die durch den Eindruck bloßer Wahrnehmung nur vorübergehend zu fixieren ist, kontinuiert und verstärkt wird, indem man ihm selbst gesteigerte Aufmerksamkeit zuwendet - in Gestalt von Handeln nach seinen Ideen, zu seinem Besten 106 . Damit ist der Zirkel purer Zuschreibungen, Annahmen und Erwartungen durchbrochen; im Handeln objektiviert sich das Interesse, macht sich faßbar, nötigt zu Reaktionen, an denen die Erwartungen geprüft, gegebenenfalls modifiziert oder auch abgebrochen werden können. Diese Reaktionen des Andern orientieren sich an seinen ursprünglichen Zuschreibungen, Annahmen und Erwartungen aufgrund primärer Wahrnehmung und an den zusätzlichen Informationen durch das explizite Handeln, insofern dieses über seinen Gehalt hinaus Achtung, und d.h. Vollkommenheitszuschreibung kommuniziert sowie in seinem Gehalt Rückschlüsse auf die 'Vollkommenheit' des Handelnden und mithin eine Kontrolle der Erwartungen an ihn ermöglicht. Das Handeln enthält also implizit Aussagen über die Individualität des Anderen und erlaubt diesem zugleich Konkretisierungen seiner Annahmen über die Individualität des Handelnden. Diese Aussagen (ebenso wie die Annahmen des Anderen) verdanken sich einer Mischung von eigenen Wahrnehmungen und

104

Dabei können folgenschwere Mißverständnisse entstehen (vgl. 31,13 - 32,16). Denn es kann durchaus sein, daß der Eine primär Interesse an der Kommunikation von Gefühlen, an der Wahrnehmung fremder Individualität hat (31,21: »Sympathie«), während der Andere in der konkreten Freundschaft vor allem den Austausch von Verhaltensbeurteilungen sucht (31,22f.: »Vertraulichkeit«). In der Zeit erster Emphase wird die Bereitschaft groß sein, sich dem Interesse des j e Anderen anzupassen und das eigene zurückzustellen - wenn denn die Interessendifferenz überhaupt wahrgenommen wird. Später kann dies zu Enttäuschung, wenn nicht gar zum Sich-getäuscht-Fühlen führen.

105

V g l . oben 2.2.

106

V g l . oben unter 1.2.1.

68

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

Zuschreibungen und kommunizierten Selbstbeschreibungen des Andern 1 0 7 , wenn anders die Funktion der Freundschaft sich nicht beschränken soll auf unparteiische Beurteilung von Handlungen 108 . Die erwähnte freundschaftskatalysierende Bedeutung 'vorgängiger Resonanz' besteht also unter anderem auch in wahrnehmbaren Selbstexpressionen, die den eigenen Wahrnehmungen und Zuschreibungen schon vorderhand zusätzlichen Anhalt geben. Das Handeln zu seinem Besten baut so bereits auf einer gewissen Kenntnis (der Selbstbeschreibungen) des Andern auf, welche Kenntnis auch die Rezeption seiner Reaktion auf das Handeln bestimmt. Der Andere kann reagieren, indem er die Handlung als solche oder in bezug auf sein Bild des Handelnden kommentiert, oder indem er eine daraufhin variierte Selbstexpression oder eigene Handlungen anschließt. In allen diesen Fällen hat die Reaktion Konsequenzen für den 'Ersten': für die Wahrnehmung seiner Ausgangshandlung, für die Selbstwahrnehmung, für die Wahrnehmung der Urteilskompetenz des Andern und - vermittelt über die Beurteilung von dessen Handlung - für die Wahrnehmung des Andern selbst. Dabei enthält auch die Handlung des Anderen Informationen über seine Wahrnehmung des Einen, sie kann ja etwa Vorbehalte signalisieren, sich umgekehrt dessen »Ideen« zu unterstellen, oder Mißverständnisse über dessen Intentionen offenbaren. Sie kann natürlich auch den Einen in seiner Vollkommenheitszuschreibung an den Anderen desavouieren. Andererseits kann die zurückgespielte Verhaltenskritik den 'Einen' in seiner Selbstwahrnehmung treffen, ihn zur Umstellung von Vollkommenheitsselbstzuschreibung auf Wahrnehmung der eigenen Vervollkommnungsbedürftigkeit nötigen. All diese Varianten indizieren einen starken Einfluß, der Urteil und Verhalten des je Anderen zugebilligt wird. Diese Beeinflußbarkeit verdankt sich der Unterstellung der Selbständigkeit des Andern, genauer der Annahme, daß dieser zur Distanznahme sowohl von Intentionen des Selbständigkeit Unterstellenden als auch den eigenen oder denen Dritter fähig ist (was noch nicht heißt, daß angenommen wird, er könne diese Fähigkeit jederzeit aktivieren 109 ). Deshalb gehört es zu den Maximen der Freundschaft, den Anderen nicht zum Instrument der Erfüllung eigener Wünsche zu machen, sondern ihn umgekehrt gerade in seiner Andersheit zu fördern und zu erhalten. Die Wahrung bleibender Differenz ist mithin auch Kriterium der Beurteilung des freundschaftlichen Verhaltens. Dabei ist im übrigen, wie die Ausführungen 107

V g l . oben 2.3.

108Vgl. oben 2.3. Daß sie sich nicht darauf beschränkt, daß sie überhaupt erfüllt werden kann. 109

V g l . oben 1.2.2.

ist im übrigen Bedingung dafür,

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

69

über Eifersucht gezeigt haben 110 , eingeschlossen die Selbstzurücknahme, die Forderung an den Freund aufzugeben, er müsse auf andere freundschaftliche Beziehungen zugunsten der einen Freundschaft verzichten. Vielmehr gehört zur irreduziblen Andersheit des Andern auch die uneinholbare Vielfalt seiner Lebenskontexte, an denen zu partizipieren seinerseits den Effekt der Freundschaft erhöht 111 . In einer gewissen Phase des Anlaufens von Freundschaft ist es noch leichter möglich, auf Enttäuschungen der eigenen Erwartungen, auf ausbleibende oder Fehler der Vollkommenheitszuschreibung anzeigende Resonanz, auf fehlende Kooperationsbereitschaft etc. mit dem Abbruch der Beziehung zu antworten. Doch mit jeder bestätigenden Erfahrung, mit jeder Zuschreibungen und Handeln bestärkenden Resonanz, mit jeder Wahrnehmung von an eigenes Handeln anschließendem Handeln Anderer etablieren und stabilisieren sich Strukturen von Wechselseitigkeit, in welchen die Beteiligten Kontinuierung ihrer Selbstachtung, Reproduktion ihrer Handlungsfähigkeit und reflexive Readjustierung ihrer Moralität gerade voneinander erwarten. Nicht nur akkumulieren Freunde Beobachtungen des Verhaltens, der Einstellungen, der Selbstbeschreibungen des je Anderen in seinen differenten Lebenskontexten, sondern es baut sich auch ein Fundus von Erfahrungen miteinander auf, der das Wahrnehmungssensorium so stark intimisiert, daß in der Freundschaft kommunizierte Wahrnehmungen aufgrund der in ihnen appräsentierten Freundschaftsgeschichte eine Tiefenschärfe und einen Glaubwürdigkeitskredit erhalten, die diese Freundschaft für die Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung nahezu unersetzbar machen 112 . Freundschaft ist der herausgehobene Fall, in dem durch mehrfache wechselseitige (und in dieser Wechselseitigkeit aufeinander aufbauende) Bestätigung und Bewährung von Erwartungen, Wahrnehmungen und Zuschreibungen an Personen bewährte Erwartungen nicht nur im Blick auf diese, sondern auch im Blick auf ihre Relationen entstehen, so daß die Kontinuierung dieser Relationen selber Handlungszweck wird, wenn jene Zuschreibungen und Erwartungen, denen sich die primäre Kontaktaufnahme verdankt, bewahrt und fortgeschrieben werden sollen 113 . Die

110 111 1

V g l . oben 2.4.1. Vgl. oben ebd.

^Entsprechend aufwendig wird der Weg zur Trennung (35,31 - 39,30) und die dieser folgende Betrübnis (40,24 - 41,15) behandelt.

113

Als theoretische Alternative ist immer jenes interesselose Wohltun präsent zu halten, das seine Selbstverpflichtungen nicht auf Personen bündelt und schon gar nicht auf die Erhaltung und Pflege von Relationen zu diesen, geschweige denn unter dem Anspruch

70

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

Kontinuierung von Wechselseitigkeit reproduziert mithin die Bedingungen von deren eigener Genese 1 1 4 , ohne allerdings diese Bedingungen selbst schaffen zu können 1 1 5 .

2.6. Leistungsfähigkeit und Aporien der Konzeption

2.6.1. Individualisierung und Sozialisierung Offenkundig ist eine Stärke von Schleiermachers früher Freundschaftstheorie: Die Selbsttranszendierung durch Unterordnung unter die »Ideen« Anderer führt nicht zu einer Selbstpreisgabe zugunsten eines - wie auch immer sittlich gedachten - Kollektivs, die Selbsterweiterung durch Partizipation an den Lebenssphären Anderer nicht zu einer Diffusion des Selbst in ein wogendes Meer von Geselligkeit. Vielmehr stabilisiert und steigert Freundschaft zugleich die Integration in Kontexte sozialer Kommunikation (was natürlich auch heißt: die Abhängigkeit von diesen) und die Unverfügbarkeit, Unmanipulierbarkeit, Irreduzibilität je einmaliger Individualität. Freundschaft sozialisiert und individualisiert. Gerade die soziale Zuschreibung von Individualität, die Kommunikation von Bildern personaler Einzigkeit erhöht die Chancen von deren Selbstwahrnehmung (im Doppelsinn von Rezeption und Realisierung), indem sie einerseits innerpsychischen Diffusionstendenzen der Einheitswahrnehmung externen Gegenhalt bietet und indem sie andererseits soziale Anerkennungsräume für Individualität schafft. Umgekehrt macht Freundschaft Individualität resonanzsensibel, befreit von der Illusion unmittelbarer Autosuffizienz einerseits, von fatalistisch-indifferenter Betrachtung der sozialen Außenwelt andererseits. In dieser Doppelfunktion stabilisiert sich ihrerseits Freundschaft selbst als spezifische Form sozialer Realität.

2.6.2. Der theoretische Status unmittelbarer Selbstreferenz Problematisch an dieser Konzeption ist, daß nicht klar wird, wie sie die vorausgesetzte, von Sozialität unabhängige »ursprüngliche Selbstliebe« und der Erwartung, diese Relationen selbst könnten rückwirkend die eigene Selbstachtung oder moralische Handlungsfähigkeit stärken. Vgl. oben 1.1. 114 115

V g l . oben 1.2.1. Vgl. ebd.

2. Konfigurationen der Freundschafistheorie

71

(18,13) anders denn als selber Resultat von Zuschreibung fassen kann. Die Zuschreibung von Individualität schlösse dann das Wissen einer Differenz des zugeschriebenen Bildes der Individualität von dieser selbst ein, welches mitkommunizierte Differenzwissen gerade den Respekt vor der Unverfügbarkeit des Anderen signalisierte. Unmittelbare Selbstreferenz wäre dann ein in der Sozialtheorie impliziertes, aber von ihr nicht eingeholtes, sondern als Realitätssubstrat externalisiertes Postulat, dessen Verifikation der j e unmittelbaren Selbstreferenz selbst überlassen bleibt. Andererseits ist es jedoch für die Freundschaft nach Schleiermacher konstitutiv, daß der Freund vom Verhalten des Freundes auf dessen Inneres rückschließen kann 1 1 6 . Zwar bildet sich diese Fähigkeit erst im Verlauf einer Geschichte von Erfahrungen mit dem Freund heraus, d.h. einer Geschichte solcher Rückschlüsse und ihrer Bewährungen und Korrekturen, und betätigt sich in der Freundschaft darin, diese Geschichte dem Freund zu appräsentieren 1 1 7 ; aber auch so muß der Freund dies erfahrungsgesättigte Bild seiner selbst als authentisches Korrektiv seiner momentanen Selbstwahrnehmung übernehmen können. Wie aber kann er das, wenn die Kommunikation des Bildes selbst dessen Authentizität relativiert, eine Differenz zwischen Bild und Wahrheit an den Abgebildeten mitübermittelt und ihn verweist an seine eigene, von der momentanen Selbstwahrnehmung offenbar unterschiedene ursprüngliche Selbstbeziehung? Es scheint, daß nicht beide von der Theorie der momentanen Selbstwahrnehmung zur Orientierung angebotenen Instanzen zugleich Geltung beanspruchen können: Entweder orientiert der Einzelne sich an den sozial vermittelten und über Tugendwissen kontrollierten Bildern seiner selbst, dann muß seine unmittelbare Selbstwahrnehmung als funktionslos oder als nicht bewußt bzw. gar nicht ins Bewußtsein zu heben gedacht werden; oder aber letztes Kriterium der Selbstorientierung ist das unmittelbare Selbstverhältnis, dann wird die eminente Bedeutung fraglich, die Schleiermacher kommunizierten Bildern von Individualität zubilligt, und mithin die Funktion der Freundschaft überhaupt. Man muß dann auch nach dem Status dieses unmittelbaren Selbstverhältnisses fragen. Jedenfalls muß es seinen Charakter als Wissen phasenweise verlieren können, ohne selbst aufzuhören, denn im Moment der Kommunikation von Fremdbeschreibungen muß es diesen Charakter, um deren Kriterium sein zu können, wieder annehmen können, die Fremdbeschreibungen regen deshalb gewissermaßen die Anamnese des ursprünglichen Selbstwissens an. Schleiermachers Konzeption scheint insgesamt eher dieser zweiten Seite der 116

V g l . oben 2.3.

117

V g l . ebd.

72

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

Alternative zuzuneigen, wenngleich sie durch die starke Betonung der Labilität von Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung und der Bedürftigkeit nach deren sozialer Reanimation und Stabilisierung wichtige Aspekte der ersten einholen kann.

2.6.3. Die Herkunft des Tugendwissens Dies zeigt sich noch deutlicher an einem weiteren Problem der Theorie, das dem ersten sich strukturanalog erweist, nämlich der ungeklärten Herkunft des Tugendwissens. Man könnte ja vermuten, es ließe sich die Frage der Transparenz der Fremdzuschreibungen von Individualität auf das unmittelbare Selbstverhältnis hin dadurch erhellen, daß man auf beiden Seiten ein identisches Wissen von sittlicher Vollkommenheit als gemeinsames situationsunabhängiges Kriterium der Beurteilung eigener und fremder Handlungen und Einstellungen annimmt, das dann auch wechselseitig als Kriterium der Orientierung eigenen Handelns und eigener Selbststilisierung vorausgesetzt werden könnte. Man hätte dann in einem gemeinsamen Bezug auf Allgemeinheit gewissermaßen ein allgemeines Medium, in dem Selbst- und Fremdbeobachtungen, Selbst- und Fremdbeschreibungen etc. formuliert, kommuniziert und aufeinander abgestimmt werden könnten. Ein solches gleichsam natural voraussetzbares Medium scheint Eberhard im Sittengesetz der Vernunft für gegeben und dieses im moralischen Gefühl des Einzelnen einerseits, in den positiven Gesetzen von Staat und Religion andererseits für präsent oder jedenfalls für präsentierbar zu halten 118 . Doch wurde Schleiermachers Konzeption ja gerade angestoßen von dem Problem der nicht durchgängigen Evidenz und Autorität des Vollkommenheits- und Tugendwissens im Einzelnen und in der gesellschaftlichen Kommunikation bzw. von der Wahrnehmung der nicht durchgängigen faktischen Orientierung an diesem wenn auch anerkannten Wissen. In solcher doppelten Gebrochenheit der Präsenz des Allgemeinheitsbezugs ist ein Konsens über die vernünftige Bestimmung des Menschen und seines Handelns nun aber eben nicht vorauszusetzen. Auch der Versuch, vermittels eines Gedankens der sozial vermittelten Anamnese die Ursprünglichkeit des Tugendwissens festzuhalten, kann nicht erklären, warum dieses Tugendwissen bei einigen (wieder) ins Bewußtsein tritt, bei anderen aber nicht 119 . Die Suche 'resonanzfähiger'

118

Z u Eberhard vgl. unten Kap. 2, besonders 1.3.

119

V g l . oben 2.1.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

73

Objekte 1 2 0 muß deshalb ausgehen von der Möglichkeit faktischen Dissenses sowohl hinsichtlich der materialen Definition der allgemeinen sittlichen Orientierung (als des Mediums wechselseitiger Verhaltensbeurteilung) als auch hinsichtlich der konkreten Anwendung dieses Maßstabs in der Beurteilung von einzelnen Handlungen bzw. von deren Stellung in der Geschichte der Vervollkommnung des Handelnden. Die Selbstbeurteilung kann mithin ein anderes Kriterium verwenden als die Beurteilung durch Andere, und sie kann ein identisches Kriterium anders auf konkrete Handlungen und Prozesse beziehen als jene. Andererseits kann auch faktischer Konsens nicht als solcher schon über die Sittlichkeit des Beurteilungskriteriums vergewissern, kann er doch Resultat ein- oder wechselseitiger Fehlleitung sein. Es spricht deshalb einiges dafür, daß sich Schleiermachers Konzeption nur dann konsistent rekonstruieren läßt, wenn man annimmt, das Medium der wechselseitigen Verhaltensbeurteilung, nämlich ein Konsens über die Kriterien der Beurteilung, ein allgemeine Geltung beanspruchendes Konzept der Bestimmung des Menschen, bilde sich allererst im Prozeß der Freundschaft, werde aber zugleich an deren (und zum Zwecke von deren) Anfang im Modus antizipierender Zuschreibung vorausgesetzt 121 . Dabei wäre es gleichgültig, ob jener Prozeß mit einer Selbstzuschreibung von eigenem Tugendwissen anhebt, die dann in der Kommunikation zu bewähren und auszubreiten ist, oder mit einer Selbstzuschreibung der Wahrnehmung von fremdem Tugendwissen, womit dann ineins mit dem Kriterium für Selbstorientierung und Selbstbeschreibung vertrauenswürdige Träger externer Verhaltensbeurteilung gefunden wären (welches Vertrauen sich gleichwohl zu bewähren hätte). Beidemal wäre die Annahme anthropologisch-ursprünglichen und allgemeinen Tugendwissens 122 Katalysator und Legitimierungsgrund der konkreten Zuschreibung bestimmten Tugendwissens. Beidemal erschiene Freundschaft als jene Sozialform, in der Tugendwissen erweckt, geprägt, intern kommuniziert und zur externen Ausbreitung disponiert wird. Freundschaft als partikulare Sphäre emergierenden Tugendwissens und der Orientierung daran strahlte dann den Anspruch auf allgemeine Geltung ihres internen Beurteilungsmediums und mithin auf Expansion ihrer Sphäre selbst aus 1 2 3 . Diese Deutung bleibt freilich in hohem Maße Rekonstruktion; Schleiermacher selbst scheint die 120

V g l . oben 1.2.1.

121

Vgl. oben 2.4.2.

122 123

V g l . oben 2.1. sowie 2.6.3. Im Gegensatz dazu schreibt interesseloses Wohltun dem Andern gerade nicht Tugendwissen zu, sondern seine Unwissenheit fest.

74

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

Probleme, die sich aus der Kopräsenz von Elementen evolutionärer und Vernunft-Konzepte sowie bei der konsequenten Anwendung der Theorie der Vervollkommnungsbedürftigkeit auch auf das Wissen der Vollkommenheit selbst ergeben, nicht immer hinreichend scharf zu erfassen: die zusammengeschauten Theoreme werden nicht in jeder Hinsicht zur konsistenten Theorie.

2.6.4. Die Ausbreitung von Freundschaftsverhältnissen An der Frage der Expansion der Freundschaftssphäre läßt sich eine weitere Schwäche der Konzeption aufzeigen. Nicht von ungefähr kehrte die Untersuchung immer wieder zur Darstellung von Ego-Alter- oder Ich-Du-Beziehungen zurück. Denn trotz gegenteiliger Emphase 124 bleibt die Sicht beschränkt auf freundschaftliche Binnenräume und Binnenperspektiven. Zwar impliziert die Wahrnehmung der Individualität des Anderen auch die Wahrnehmung seiner sozialen Lebenssphäre, und es soll dem Freund gerade auch um die Förderung der Vielfalt der freundschaftsexternen Lebensbezüge des Freundes zu tun sein, zum Zwecke der Partizipation an diesen 1 2 5 . Aber es ist unerörtert, ob oder wie der Einzelne seine verschiedenen Freundschaftsbeziehungen 126 untereinander vernetzen soll, und ob oder wie die einzelnen Freundschaftsbeziehungen mehrerer Einzelner sich zu einem System der Freundschaft zusammenfügen. Die Intimität der Einzelbeziehungen, die erforderte lange Dauer des Vertrautwerdens immerhin läßt Kapazitätsschranken der Einzelnen und Grenzen der Transponierbarkeit der individualisierenden Effekte einer bestimmten Freundschaft auf andere vermuten, die eine Vernetzung von Freundschaften oder verschiedenen Gruppen von Freunden über ein von den je Einzelnen überschaubares Maß hinaus unwahrscheinlich und unrealistisch zu machen scheinen. Sieht man einmal ab von gleichsam subkutan Sozialität prägenden Wirkungen der auf

124

V g l . oben 2.4.1.

125

V g l . oben ebd.

126Es

ist an sich bereits bemerkenswert, daß Schleiermacher eine Mehrzahl gleichzeitiger gleichrangiger Freundschaftsverhältnisse für möglich und sogar für wünschenswert zu halten scheint. Die Theorie zentriert sich also nicht um das Paradigma der einen, einzigen Freundschaft zu genau einem oder einer idealen Anderen. Daß es Schleiermacher andererseits, anders als etwa Gleim (vgl. dazu Rasch, a.a.O., 191), nicht um eine möglichst große Agglomeration einer Vielzahl nahezu voraussetzungsloser freundschaftlicher Kontakte geht, braucht angesichts der Behandlung der »Freundschaftlichkeit« (vgl. oben 2.4.2.) kaum eigens hervorgehoben zu werden.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

75

der Förderung von Individualität aufbauenden Freundschaft (etwa in Gestalt der Etablierung von bestimmten Leitbildern für Interaktion), so lassen sich allein über die versittlichenden (Tugendwissen vermittelnden und die Realisierungschancen sittlicher Intentionen erhöhenden) Funktionen der Freundschaft umfassendere Zusammenschlüsse denken, in denen freilich die Intimität der Verhaltensbeobachtung und -korrektur auf der Ebene der Einzelbeziehung verbleibt und nur das dadurch entstehende deutlichere Wissen sittlicher Handlungsorientierung sowie die erweiterte Handlungsfähigkeit in die größere Sozialform eingeht. Unerörtert bleibt in diesem Zusammenhang ebenso, inwiefern das selbstachtungssteigernde Resonanz (»Ehre«) intendierende Handeln zum Besten Anderer aufgrund seiner öffentlichen Sichtbarkeit nicht etwa nur die Resonanz dieser Anderen selbst, sondern auch die Dritter auslösen kann, die gar keinen unmittelbaren Nutzen aus diesem Handeln ziehen 127 . Dabei sind zu unterscheiden die Wahrnehmung der sittlichen Würdigkeit des Handelnden (anhand der Beurteilung seiner Handlung) als Grund für die Zuschreibung von Urteilskompetenz in bezug auf die Handlungen auch des wahrnehmenden Dritten, die Wahrnehmung der Resonanz der Handlung als Motiv, solche Resonanz selber zum Handlungszweck zu machen, und die Wahrnehmung der emergierenden Sphäre von Wechselseitigkeit als Vorbild attraktiver Sozialität, das zum Anschluß an die wahrgenommene Freundschaft oder zur Kontaktaufnahme mit einem der daran Beteiligten oder aber zum Aufbau analoger Freundschaftsbeziehungen animiert. Mit einem solchen Gedanken einer nicht explizit intendierten Expansion von Freundschaft wäre einerseits das Verhältnis von Beobachtung und Zuschreibung beim Anknüpfen von Freundschaft präziser zu bestimmen 128 , andererseits die Kopräsenz von nichttransponierbaren (individualisierenden) und transponierbaren (sittlichkeitsfördernden) Wirkungen von Freundschaft so zu fassen, daß ein Netz von Freundschaftsbeziehungen gedacht werden kann, in dem die einzelnen Freundschaften nicht beliebig interdependent sind, aber miteinander verbunden sind durch das Bewußtsein der Gleichheit der Form, durch Kommunikation sittlicher Orientierungen und durch Kooperationen zum Zwecke von deren Realisierung.

127ygi. 0 ben Anm. 64 und 69. 128

V g l . oben 2.3. unter (a).

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I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

2.6.5. Freundschaft - und die Sphäre realisierter Sittlichkeit Das letzte hier anzuschneidende (aber vielleicht das schwerwiegendste) Problem der Konzeption ist die Frage, in welchem Verhältnis die Ausbreitung einer Sphäre von Einzelrealisierungen der Sozialform Freundschaft steht zu dem ethischen Gebot der Veranschaulichung der Vollkommenheit der Welt durch Vervollkommnung von jeweils zugänglichen Teilen der Welt 1 2 9 , mithin zu dem allgemeinen Handlungszweck der Versittlichung der Welt, der Etablierung einer Sphäre realisierter Sittlichkeit. Die Schwierigkeit liegt darin, daß die 'Elementarteile' der Sozialform Freundschaft Personen sind, die 'Elementarteile' der Realisierungssphäre von Sittlichkeit aber Handlungen. Denn für die Ästhetik einer Harmonie der Welt spielt es prima facie keine Rolle, wer Welt-Teile handelnd wieder in die Schöpfungsharmonie eingepaßt hat; entscheidend ist das Resultat. Deutlich ist, daß die Sphäre realisierter Sittlichkeit einen weiteren Umfang hat als der Bereich gelebter Freundschaft, ist doch jenes vervollkommnende Handeln auch ohne Interesse an personaler Wechselseitigkeit möglich, ja sogar in der freundschaftswidrigen Gestalt der Depersonalisierung Anderer zum Objekt oder Instrument der Vervollkommnung 130 . Ebenso offenkundig ist umgekehrt, daß eine zentrale Funktion der Freundschaft in der Steigerung sittlicher Handlungsfähigkeit, in der Erhöhung der Realisierungswahrscheinlichkeit sittlicher Orientierungen, nicht zuletzt in der Vermehrung von zum sittlichen Handeln disponierten Personen besteht 131 . Andererseits ist die Individualität kommunizierende Funktion der Freundschaft mit den Kategorien der Realisierung von Sittlichkeit nicht hinreichend, allenfalls als untergeordnetes Moment der Versittlichungsfunktion zu erfassen. Ist nun die Hervorbringung personaler Wechselseitigkeit selber sittliches Postulat? Die Betonung der Förderlichkeit der Freundschaft für die Versittlichung legt das nahe. Aber ergibt sich nicht der Widerspruch, daß die freundschaftswidrige Objektivierung oder Instrumentalisierung Anderer zugleich pflichtgemäß und immoralisch ist? Läßt sich dieser Widerspruch durch die Annahme auflösen, daß es im Begriff der Pflicht der Vervollkommnung

129

V g l . oben 1.1.

130

V g l . oben ebd.

131

Vgl. U. Steinvorth: Freiheitstheorien in der Philosophie der Neuzeit. Darmstadt 1987, 189: »Maximierung von Handlungsfreiheiten«. Dazu dient, »daß jeder erstens in möglichst vielen Situationen und Bereichen möglichst viele Handlungsmög/i'cMei'ren hat, zweitens sie erkennt und drittens sie in relevanten Situationen erwägt und aus ihnen wählt«.

77

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

liegt, jeden Gegenstand der ihm innewohnendem Bestimmung - und mithin Menschen sittlicher Handlungsfähigkeit entgegenzuführen, daß aber dabei die Erzeugung von Wechselseitigkeit nicht selber Pflicht ist? Dafür spricht, daß Wechselseitigkeit ja gar nicht vollständig im Verfügungsbereich eigenen Handelns liegt, daß Resonanz deshalb einerseits nicht einklagbar ist, ihr Ausbleiben andererseits aber auch nicht (bzw. nicht unbedingt) dem Resonanzsuchenden als Verfehlung zugerechnet werden kann. Freundschaft wäre dann insofern eine besondere und zugleich paradigmatische Sozialform, als sie den ethischen Diskurs von Handlungsorientierungen sprengt und die Wahrnehmung von Kontingenz, Einmaligkeit, Unverfügbarkeit, von Relationalität und Zeitlichkeit initiiert. Freundschaft transzendierte so eine normative Pflichtethik hin auf eine deskriptive Sozialtheorie - mit freilich normativen Implikationen. Denn man muß präzisieren: Weil Freundschaft die Doppelfunktion der wechselseitigen Verhaltenskontrolle und der wechselseitigen Wahrnehmung und Kommunikation eigener und fremder Individualität hat, überlagern sich in der Freundschaftstheorie deskriptive und normative Bestimmtheitsmatrices, die nur zusammen eine vollständige Bestimmung konkreter Freundschaftskonstellationen ermöglichen. Dabei liefert die normative Matrix ineins mit Wissen über sittliche Handlungen und Kriterien für die Beurteilung von Handlungen auch funktionale Definitionen der Bestimmung (im Doppelsinn von Wesenserfassung und Destination) des Menschen und der Welt. Die deskriptive Matrix liefert ineins mit Sequenzen von Einzelbeobachtungen auch deren Zurechnung auf Individuen. Die Theorie kann deshalb mit erfaßter Kontingenz (Einzelbeobachtungen) und mit zwei Rastern von deren Strukturierung arbeiten: dem situationsunabhängigen des Tugendwissens, dem situationsbezogenen (wenn auch nicht im strengen Sinne situationsabhängigen) der Zurechnung auf Individuen. Deshalb gewinnt die freundschaftliche Kommunikation von Verhaltensbeobachtungen, Verhaltensnormen und Bildern der Individualität einen zugleich Situation serheilenden und situationstranszendierenden Charakter; sie fixiert den Anderen, um damit ipso facto seine Entwicklung zu dynamisieren, indem sie ihm die Wahrnehmung falscher Fixierungen ermöglicht und Perspektiven zu deren Aufhebung vermittelt 132 . Ungeklärt bleibt freilich auch in dieser differenzierten Konzeption der Integration normativer und deskriptiver Aspekte das Verhältnis zwischen konkreter Individualität und Wesensbestimmung des Menschen. Wächst mit einer Annäherung des Einzelnen an seine Gattungsbestimmung auch seine Einzigkeit,

1 3 2 Z u dieser dynamisierten Realistik der Wirklichkeitserfassung »Freiheitsgespräch« (dazu unten Kap. 4, 2.).

vgl.

auch

das

78

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

oder geht sie umgekehrt in normgerechter Homogenität unter 1 3 3 ? Dieselbe Frage stellt sich im übrigen auch hinsichtlich der konkret-partikularen Realisierungen der Sozialform Freundschaft. Die Darstellung, Rekonstruktion und Diskussion der frühen Freundschaftstheorie Schleiermachers ist damit im wesentlichen abgeschlossen. Um das Profil der Konzeption schärfer herauszuarbeiten, gilt es nun zu untersuchen, inwiefern sie sich an Aristoteles' Sicht der Freundschaft orientiert, wie sie mithin Aristoteles rezipiert, moduliert, auch negiert 1 3 4 . Doch zuvor sollen zur Vorbereitung dieses Schrittes über die Textimmanenz hinaus noch zwei stärker auf Textreferate bezogene Überlegungsgänge erfolgen. Einmal soll die soeben angedeutete Verbindung der Frage nach der Theorieform mit dem Problem des Verhältnisses von Homogenität und Differenz vertieft werden unter Rekurs auf Schleiermachers Behandlung des Verhältnisses von Gleichheit und Ungleichheit in der Freundschaft (3.). Zum anderen sollen Schleiermachers Ausführungen zu Freundschaft nicht als eigenständige Sozialform, sondern als Ferment von Verhaltensdispositionen in verschiedenen vorgegebenen Sozialformen gesellschaftstrukturelle und sozialtheoretische Ausstrahlungen des Freundschaftsthemas verdeutlichen (4.).

3. Homogenität, Differenz - und Temporalisierung »Aus Gleichheit oder Aehnlichkeit also entsteht jene freundschaftliche Sympathie, vornemlich aber aus der Aehnlichkeit guter sittlicher Gesinnungen; nur tugendhafte Seelen, welche in sich selbst beständig sind, können es auch gegen andre seyn.« In diesem Satz des Aristoteles 135 findet Schleiermacher den »Schlüßel« (19,9) zur Beantwortung der Frage, warum nach Aristoteles Freundschaft »nur unter tugendhaften statt finden kann« (19,11). Schleiermacher nimmt dabei freilich eine folgenschwere Umkehrung der Fragerichtung vor. Konstitutives Merkmal der Freundschaft ist für ihn nämlich nicht die Tugend als solche, sondern die Dauerhaftigkeit und Stetigkeit wechselseitiger Zuwendung; diese Kontinuität verdankt sich wiederum der inneren Stetigkeit der beteiligten Einzelnen, die ihrerseits über die Orientierung an der Tugend zu erreichen ist. Das Tugendwissen ist

133

Vgl. dazu auch oben 1.2.2.

134

V g l . unten 5.

135

N E 1159b 2-5, in Schleiermachers Übersetzung 56,29-32.

3. Homogenität, Differenz - und Temporalisierung

79

mithin funktional der Kontinuierung personinterner und interpersonaler Selbstfestlegungen, der Sicherung der Erwartbarkeit von Einstellungen und Verhaltensweisen zugeordnet. Schleiermachers kritische Ausgangsfrage ist nun konsequenterweise, ob diese kontinuierende Funktion tatsächlich nur von der Tugend erfüllt werden kann (vgl. 19,13). Gibt es nicht auch andere 'Instanzen', die interne und externe Beständigkeit zu gewähren vermögen? Muß deshalb nicht entweder eine Mehrzahl von Freundschaftsformen ethisch zugelassen werden, von denen die sich an Tugend orientierende nur eine ist, oder zumindest - wenn an der konstitutiven Bedeutung der Tugend festgehalten werden soll - ein Zusammenwirken mehrerer Instanzen wenn auch unterschiedlicher Reichweite bei der Kontinuierung psychischer Verhältnisse und sozialer Relationen? 136 Tatsächlich untersucht Schleiermacher mehrere kopräsente Formen der Generalisierung psychischer Dispositionen und Verhaltensorientierungen (man könnte auch hier von einander überlagernden Bestimmtheitsmatrices reden 1 3 7 ) in Hinblick auf ihre jeweilige Kontinuierungskraft und in Hinblick auf Konflikte, die sich einerseits bei der inneren Strukturierung und inhaltlichen Orientierung auf der jeweiligen Generalisierungsebene selbst, andererseits angesichts verschiedener Stärke und unterschiedlicher Ausrichtung zwischen den einzelnen Matrices ergeben.

3.1. Charakter Außer Zweifel steht, daß ohne Charakter Freundschaft im Sinne von verläßlicher, dauerhafter, wechselseitiger Beziehung unmöglich ist. Denn Charakter ist formal definiert als die Fähigkeit, nach »Grundsäze(n)« (19,22) zu handeln, die »praktische(n) Urtheile (...) Maximen« (19,26) unterzuordnen. 136

D i e Fragestellung ist zu unterscheiden von dem Aristotelischen Schema von Eigennutz-, Vergnügens- und Tugendorientierung als den drei Formen von Freundschaft, wovon nur die letzte als wahre zu bezeichnen ist und im übrigen die beiden anderen als (freilich nicht unmittelbar anzustrebende) Nebeneffekte integriert (vgl. NE IX,3-5; 1156a 6 - 1157a 36). Denn wenn Verstetigung und Erzeugung von Verläßlichkeit den eigentlichen Effekt und das eigentliche Kriterium von Freundschaft darstellen, dann gewinnen alle Instanzen der Verhaltensgeneralisierung und Förderung der Reproduzierbarkeit von Einstellungen und Handlungen Funktionswert für Freundschaft im 'eigentlichen' Sinn. Schleiermacher betont deshalb durchaus zurecht, die »übrigens so viel bestrittene, belachte und beschwärmte Frage: was für eine Beschaffenheit der Seele, und was für ein Verhältnifl der Seelen untereinander zur wahren Freundschaft gehöre« (19,17-19), sei »von Aristoteles lange nicht hinlänglich beantworte^)« worden (19,16f.).

137

V g l . oben 2.6.5.

80

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

Ohne irgend eine Form solcher Selbststeuerung (die mindestens die Wahrnehmung kontinuierlicher Eigeninteressen impliziert) wird die Handlungsorientierung »ein Spiel anderer oder auch des Zufalls« (19,27). Dann sind »keine festen Gefühle« (19,27f.) mehr möglich. Denn zwar mag ein einzelnes Gefühl »fest in sich selbst seyn« (19,28), aber es kann sich in der Zeit nicht als es selbst (19,30: »sich selbst gleich seyn«) kontinuieren, insofern seine »Verbindung mit andern« Gefühlen »keiner innern Regel unterworfen ist« (19,29f.). Mithin gibt es auch keine Sich-selbst-Gleichheit von Zuneigwngsgefühlen durch die Zeit, der Andere kann sich »nicht auf die Wirkungen seiner Liebe zu ihm verlaßen« (19,3lf.). Ohne Erwartungssicherheit (19,32: »Voraussehung seiner Handlungen«) jedoch fehlt auch der Anreiz zu »vollständige(r) Bekanntschaft« (19,34), antizipierende Zuschreibungen 1 3 8 erscheinen als zu riskant (19,34: »kein sicheres Zutrauen«), »ein einziger Augenblik« kann ja »alles umgestalten« (19,33). Ist dann aber die einzige wirklich Kontinuität sichernde Alternative die pure Orientierung an Tugend? Können Freunde sich nicht auch bei und mit nichtmoralischen Grundsätzen wechselseitig stabilisieren und fördern? Ist für Freundschaft die Gleichheit der Grundsätze nicht wichtiger als deren Moralität? Schleiermacher diskutiert dies anhand von »zwei Fälle(n)« (19,36): Bestimmt einen Charakter statt der neigungsresistenten Tugend der »Grundsaz der harmonischen Befriedigung aller Neigungen« (20,2), so ist damit die Labilität der Selbstbindung noch nicht wirklich überwunden. Die einzelne Neigung hängt dann nämlich von den »Umstände(n) eines jeden Augenbliks« (20,4) ab, sie wird je neu daran beurteilt, ob sie die Harmonie der momentan gegenwärtigen Neigungen fördert oder stört. Durch die so geforderte Interdependenz der Neigungen ist deren Kontinuität freilich zugleich erleichtert und erschwert: erleichtert, weil die Beendigung der Einzelneigung die Readjustierung aller Binnenverhältnisse nach sich zöge und deshalb nicht ohne weiteres riskiert wird; erschwert, weil jede Veränderung anderer Neigungen die einzelne Neigung gefährdet, insofern auch sie primär der Erhaltung des Gleichgewichts des Ganzen dienstbar ist. Die Relation zum Freund ist dieser Funktion untergeordnet; sie wird nicht um ihrer selbst willen erhalten. Die Freundschaft beruht so nicht »auf einem der Würde des Freundes gemäßen innern Grund« (20,15f.), sie unterscheidet sich fast nur noch durch das subjektive Wohlwollen von bewußter Instrumentalisierung anderer zu egoistischen Zwecken. Genau dieses (gegebenenfalls wechselseitige) Wohlwollen, verbunden mit der Wahrnehmung relativer Stabilität, verschleiert freilich den Freunden selbst und 138

V g l . oben 2.4.2.

3. Homogenität, Differenz - und Temporalisierung

81

untereinander sowie »dem größten Theil der Welt« (20,21) die innere Brüchigkeit solcher Beziehungen, die sich erst einem ethisch kompetenten Beobachter - einem »Gemüth welches den moralischen Gesichtspunkt gefaßt hat« (21,22) 1 3 9 - erschließt. Wenngleich eine solche Freundschaft also sowohl den Beteiligten als auch der durchschnittlichen Öffentlichkeit als effektiv und attraktiv und sogar als klug erscheint, insofern sie Emphase mit Selbsterhaltung zu kontrolliertem Engagement verbindet, nötigt die dafür konstitutive Gleichheit der Grundsätze nicht zu so starken Selbstfestlegungen (und deren wechselseitiger Kommunikation), daß die Bindung auch Phasen der Dysfunktionalität des Anderen übersteht. Die Orientierung an harmonischer Entfaltung der eigenen Neigungen legitimiert ja geradezu den Verzicht auf unbedingte Selbstbindung an unverfügbar Anderes; sie bleibt insofern rein selbstbezogen. Nun könnte man meinen, daß Schleiermacher nichts anderes übrigbleibt, als die durchgängige Tugendbestimmtheit aller Beteiligten zur notwendigen Bedingung dauerhafter freundschaftlicher Verbindungen zu erklären, mithin ganz die aristotelische Position zu übernehmen. Das widerspräche aber nicht nur seinem Anspruch, über Aristoteles hinauszugehen 140 , sondern überhaupt seinem Ansatz bei der faktischen Defizienz und Differenz konkreter Personen. Diesen Ansatz verschärft er freilich in seinem zweiten Fallbeispiel sogar noch, indem er behauptet, nicht völlige Übereinstimmung hinsichtlich der Moralität der Verhaltensbestimmung insgesamt sei erforderlich zu dauerhafter Freundschaft, sondern nur die Gemeinsamkeit eines vernunftgemäßen, d.h. neigungsunabhängigen, d.h. situationsinvariablen, d.h. tugendhaften »oberste(n) Grundsaz(es)« (20,37), selbst wenn die Beteiligten diesen Grundsatz über untereinander nicht kohärente und miteinander nicht kompatible »Maximen« (20,36) realisieren und mithin keineswegs einen tugendhaften Charakter zeigen. Schleiermacher demonstriert das an dem (von Schillers »Räubern« inspirierten?) Fall, daß jemand, der an der Befriedigung seiner gesellschaftlich erzeugten Bedürfnisse durch die Gesellschaft selbst gehindert wird, darangeht, den von ihm subjektiv zurecht als ungerecht wahrgenommenen »bürgerlichen ZustandQ« (20,27) bzw. das Formulierung ist bemerkenswert, insofern sie die Annahme einer Art 'Sprung', eines irreversiblen qualitativen Ubergangs auf den sittlichen Standpunkt nahelegt, ein Gedanke, der der Betonung der Labilität der innerpsychischen Verhältnisse und gewissen evolutionären Pointen der Argumentation auffällig kontrastiert. Vgl. aber den eben angeführten Ausdruck »auf einem der Würde des Freundes gemäßen innern Grund« ( 2 0 , 1 5 f . ) , der ebenfalls ein gleichsam habituelles Verständnis des moralischen Selbstandes vorauszusetzen scheint. 140

V g l . oben Anm. 136.

82

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

Eigentum als dessen einigendes »Band« (ebd.) »so viel an ihm ist zu Zerstörern (20,28; Hervorhebung von mir), und sich dazu mit anderen ähnlich Gesinnten zusammentut. Der »oberste Grundsaz« - nämlich das Prinzip der iustitia distributiva und des Rechts auf Ausgleich bei unverschuldetem Schaden - ist »moralisch und sicher« (20,38); die daraus abgeleitete Verhaltensmaxime - Destruktion statt Duldung oder Reform - offenkundig immoralisch; »wahre« (20,34) Freundschaft gleichwohl möglich. Hier drängt eindeutig das Freundschaftskriterium der Dauer das Programm wechselseitiger Versittlichung in den Hintergrund. Dauer setzt nur die Neigungsindifferenz basaler Prinzipien des Handelns voraus, und Freundschaft nur den Konsens über diese Prinzipien. Sie ist deshalb schon vor einer wechselseitigen Zuschreibung von Tugendhaftigkeit oder Tugendorientierung bzw. auch bei objektiv irrtümlicher Zuschreibung möglich. Wechselseitige Versittlichung ist dann ersetzbares Funktionsmoment des basalen Vorgangs der wechselseitigen Verstetigung. Es sieht nicht so aus, als habe sich Schleiermacher über diese Inkonsistenz seiner Konzeption Rechenschaft abgelegt. Deutlich ist sein Interesse, einerseits rein situationsbezogene Orientierungen völlig ohne Allgemeinheitsbezug zu vermeiden (erster Fall), andererseits nicht mehr als Minimalbedingungen für Homogenität festzuschreiben, um so einen möglichst großen Spielraum für freundschaftsinterne Differenzen offenzuhalten (zweiter Fall). Diese Minimalbedingungen scheint er für gegeben zu halten bei einer 'grundsätzlichen' Orientierung an Tugendwissen, auch ohne deren konkrete Virulenz. Damit kann er zwar die vielfältigen Erfahrungen der Stabilität nicht durchgängig tugendgeleiteter Freundschaften theoretisch einholen, aber nur um den Preis des weitgehenden Verzichts auf die Freundschaftsfunktion der handlungsleitenden Appräsentation situationsunabhängigen Tugendwissens. Allerdings fügt Schleiermacher dem Fallbeispiel, das es nahelegt, formale Gleichheit des Charakters als Bedingung für Freundschaft anzunehmen, »Einschränkungen« (21,1) hinzu. Freundschaft erfordert »das nemliche Ziel, die nemliche Straße und die nemliche Methode den Weg zu kürzen und zu erleichtern« (21,5; Hervorhebungen von mir). Entsprechend muß die Gleichheit des Charakters über den Konsens des obersten Grundsatzes hinaus auch »übereinstimmende Hauptmaximen, und gleiche Ideen über die moralischen Hülfsmittel des Lebens« (21,3f.; Hervorhebungen von mir) umfassen. Dies ist freilich nur dann kein Widerspruch zu dem Fallbeispiel, wenn die Betonung auf 'Übereinstimmung' liegt und die Begriffe »Hauptmaximen« und »moralische Hülfsmittel« nicht inhaltlich (von einem apriorischen Tugendwissen her) bestimmt sind, besagt dann jedoch nur

3. Homogenität, Differenz - und Temporalisierung

83

noch, daß Freundschaft über ideellen Grundkonsens hinaus auch gewisse operative Gemeinsamkeiten verlangt.

3.2. Temperament Schleiermachers Versuch einer Temporalisierung von Ethik, einer Transformation der Zeitenthobenheit von Tugend in Dauer scheitert also daran, daß es sehr feste, auch wechselseitige Verhaltensfestlegungen (Charaktere) gibt, die nicht tugendhaft sind. Zeit hat in sich selbst kein Kriterium, das zwischen verschiedenen Formen der Stabilisierung von Verhältnissen und Beziehungen bei gleicher Dauerhaftigkeit zu unterscheiden und zu entscheiden erlaubt. Besser gelingt Schleiermacher die Integration sittlicher Orientierungen zum Zwecke der Kontinuierung von Freundschaft hingegen im Falle der in sich weniger stabilen Bestimmtheitsmatrix Temperament (21,8 22,28). Temperament wird definiert als Weise der Rezeption von Außeneindrücken und deren Beziehung auf das »Begehrungsvermögen« (21,15f.), freilich nicht im Sinne einer Individualisierung von Rezeption und Reaktion, sondern gerade durch deren Typisierung und Bündelung. Gleichwohl nimmt Temperament eine Art Zwischenlage ein zwischen der Allgemeinheit der Tugend und der Singularität der Einzelempfindung. Indem Temperament Einzelempfindungen zu Typen bündelt, erleichtert es einerseits die Selbst- und Fremdzuschreibung einer Vielzahl von Einzelempfindungen auf bestimmte Individuen und andererseits die Erfassung einer Vielzahl von Individuen in Hinblick auf gemeinsame Typenzugehörigkeit. Einer groben Individualisierung korrespondiert eine grobe soziale Rubrizierung. Man sollte meinen, daß die Übereinstimmung im Temperament freundschaftliche Annäherung fördert. Doch führt die Wahrnehmung von Temperamentsgleichheit zwar vielleicht zu schneller Vertrautheit (vgl. 21,12f.: »[...] daß die Identität des Temperamentes sehr oft der erste Entstehungsgrund der Freundschaft sei«), bietet aber keine tragfähige Basis für dauerhafte Freundschaft. Denn das Temperament bleibt seiner Herkunft aus der ungeläuterten Einzelempfindung verhaftet, in gewisser Weise steigert die Bündelung noch die desintegrative Potenz der Empfindungen, indem sie diese unkontrolliert homogenisiert und damit in ihrer Wirkung verstärkt, so daß Gegensteuerung schwerer wird. Bei Temperamentsgleichheit fällt zudem noch die Möglichkeit wechselseitiger Gegensteuerung fort. Gilt deshalb schon dem Einzelnen der »Einfluß und die Stärke seines Temperaments immer als ein wegzuräumendes Hinderniß« (21,23f.), so soll auch Freundschaft der Eindämmung der Macht des Temperamentes dienen. Es soll derjenige als

84

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

Freund gesucht werden, der fähig ist, das »sittliche() Gefühl gegen das pathologische [zu] unterstüzen« (21,27f.). Dazu ist es von Vorteil, wenn die Freunde nicht durch dieselben Eindrücke so emotionalisiert werden, daß sie im selben Moment nicht in Distanz zu ihrer Emphase treten können. Da sich Typisierungen der Beeindruckbarkeit und der emotionalen Verarbeitung von Eindrücken nicht völlig vermeiden lassen und umgekehrt ja auch nicht jede wahrnehmbare Evidenz der Beschreibung entbehren, empfehlen sich für Freundschaft hinsichtlich des Temperaments komplementäre Konstellationen, in denen der eine auf jene Typen von Eindrücken nicht reagiert, die den anderen an vernünftiger Selbststeuerung hindern, so daß die Temperamente einander wechselseitig neutralisieren. Schleiermacher erläutert das anhand von Kombinationen unter den vier 'klassischen' Temperamenten (vgl. 22,9-28).

3.3. Empfindung Gleichheit der Empfindungen ist freundschaftsfördernd nur auf der Ebene der ß'rtze/empfindungen bzw. einzelner Rezeptionsformen von Empfindungen (22,28 - 23,20). Denn diese können - anders als Temperament, das als Hypostasierung von Neigungen gerade (relative) Allgemeinheit beansprucht - nicht in Konkurrenz treten zu den allgemeinen Orientierungen der Sittlichkeit, da sie zu flüchtig sind, als daß sie nicht selber der je neuen Reproduktion bedürften. Eben dazu trägt die Übereinstimmung der Empfindung und deren Kommunikation bei, indem die Empfindung durch gemeinsame Erinnerung sozial verstärkt appräsentiert bleibt und mithin in gewisser Hinsicht der Flüchtigkeit enthoben wird. Das gilt freilich nur insofern, als »sie [sc. die Empfindungen] kein System ausmachen« (22,32), und solange »sie sich selbst [nicht] zum Gesez machen wollen« (22,31). Damit nämlich wäre gerade der Vorzug der Einzelempfindung verspielt, ihre fehlende Zeitstabilität und Interdependenz, die sittlich risikoloses Sicheinlassen auf Erfahrungen von Singularität ermöglichen 141 . Unter diesem Aspekt müßte allerdings deutlicher gemacht werden, als dies Schleiermacher tut, daß auf der Ebene der Einzelempfindung die Kommunikation nichtidentischer Empfindungen für Freundschaft mindestens so wichtig ist wie die Wahrnehmung der Harmonie des Empfindens. Impliziert diese eine

141

Und die alternative Möglichkeit einer unmittelbaren Emergenz sittlicher Orientierungen aus kontingenten Konstellationen schließt Schleiermacher j a aus. Vgl. oben 3.1.

3. Homogenität, Differenz - und Temporalisierung

85

Stabilisierung der Selbstwahrnehmung 142 , so jene die Selbsterweiterung durch Wahrnehmung irreduzibler Andersheit 143 . Schleiermacher deutet das hier nur an, indem er bei Gefühls- (und Gefühlsbeurteilungs-) Differenzen als »das erste Erforderniß« die »Fähigkeit des Nachempfindens« nennt (23,18-20), bei welcher der »Geist der Beobachtung« mit einer »feineren Fantasie« verbunden ist (23,22). Diese Fähigkeit muß proportional zu den Gefühlsdifferenzen wachsen.

3.4. Verstand Während Charakter und Temperament eher auf Allgemeinheit bezogene Bestimmtheitsmatrices darstellen, scheint neben der Empfindung auch dem Verstand eher individualisierende Bedeutung zuzukommen. Das überrascht, gilt der Verstand als Vermögen des Urteilens doch als eine von Kontingenz abstrahierende Instanz. Individualisierend wirkt nach Schleiermacher freilich nicht die formale Fähigkeit, sondern deren Anwendungsbereich, das jeweilige »Feld des Urtheilens« (23,25). Ein dergestalt analytisch hinreichend strukturiertes Feld des Wissens, ein so spezifiziert gewußter eigener Lebensraum ist Voraussetzung der passiven Freundschaftsfähigkeit, insofern »ein schwachkopfiger Mensch«, dem die Fähigkeit zu solcher reflexer Binnenstrukturierung und zur Expansion seiner Wissenssphäre abgeht, »zu wenig Umfang [hat], als daß sich das Leben eines Freundes damit beschäftigen könnte in seiner Seele umher zu wandern« (24,1-3). Der Besitz des Verstandesvermögens selbst ist hingegen zugleich Bedingung aktiver Freundschaftsfähigkeit, indem es ermöglicht, an der Wissenssphäre Anderer zu partizipieren. Der »Fähigkeit des Nachempfindens« (23,19f.; im Original »Nachempfindens« gesperrt) muß mithin eine Fähigkeit des Nach-denkens (vgl. 23,24) korrelieren. Je größer sie ist, desto stärkere Divergenzen der materialen Wissenssphären kann Freundschaft integrieren. Dabei muß die Fähigkeit bei den Freunden gleich stark entwickelt sein (vgl. 23,30-32), wenn nicht der Verstandesstärkere einerseits sich entweder durch Rücksichtnahme auf den Schwächeren in der Ausdehnung und Spezialisierung seines Wissens behindert fühlen oder aber ohne solche Rücksicht sich dem Anderen entziehen, andererseits das Interesse an dem begrenzten Horizont

142

V g l . oben 2.2.

143

V g l . oben 1.2.1.

86

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

des Anderen verlieren soll 144 . Allerdings sieht sich Schleiermacher genötigt, vor einer isolierten »Verstandeskultur« (23,33) zu warnen, die sich nicht eine Beziehung zu »andern Theil(en) der menschlichen Seele« (23,36f.) setzt 145 . Er scheint damit 146 ein von der individuellen (auch Selbst-)Erfahrung abgekoppeltes 'objektives' (nicht-praktisches) Wissen zu meinen, wodurch ein einheitlicher »Gesichtspunkt« (23,38f.) der Synthese aller Handlungen unmöglich wird. Ein solches Einheitssubstrat ist aber die »erste() Forderung welche die Freundschaft macht« (23,37f.), indem sie zumindest als Postulat für Zuschreibungen Bedingung der Möglichkeit des freundschaftlichen Rückschlusses von Handlungen ist. Schleiermacher war ausgegangen von dem Problem der Kontinuität als Konstituens von Freundschaft. Indem er die Frage transponiert von der Bestimmung zeitenthobener Qualitäten (Tugendhaftigkeit) zur Aufgabe der Kontinuierung in der Zeit, relativiert er ihre Bindung an Sittlichkeit. Homogenität sittlicher Orientierung bleibt nicht das einzige Kriterium für die Erhaltung von Freundschaft. Es gibt mehrere kopräsente Instanzen, mehrere aufeinander gelagerte 'Bestimmtheitsmatrices', innerhalb deren Homogenität, Konsens, Identität etc. auch formal nicht einmal unbedingt einen Primat für Kontinuierung beanspruchen können. Vielmehr wird Freundschaft kontinuiert in einem differenzierten Zusammen-Sichereignen von Homogenisierung und Singularisierung, Konsens und bleibender Differenz, Kommunikation von Identität und irreduzibler Andersheit. Die Wahrnehmung von Kontingenz kann durch den darin vermittelten Neuigkeitswert die Fortführung einer Beziehung ebenso motivieren wie der Konsens hinsichtlich basaler Handlungsorientierung, wenn auch - bezogen auf die £mze/wahrnehmung - nicht mit derselben Reichweite. Schleiermacher tendiert sogar dazu, Homogenität - wenn er sie nicht gar überhaupt als freundschaftsschädlich anspricht (wie beim Temperament) - auf die Steigerung der Integrationsfähigkeit für Divergenzen (beim Verstand und selbst beim Charakter) oder auch auf die Erhaltung von Singularität hin (bei der Einzelempfindung) zu funktionalisieren. Umgekehrt sichern Differenzen, wenn 144

D i e s gilt j e d o c h nur deshalb, weil die Fähigkeit zur Etablierung und A u s d e h n u n g eines »Feld(es) des Urtheilens« (23,25) mit der Fähigkeit des Nach-denkens so z u s a m m e n hängt, daß eine Verbesserung der einen eine Verbesserung der anderen zur F o l g e hat. A n d e r n f a l l s w ä r e j a auch der Fall denkbar, daß der verstandesmäßig Stärkere einen F r e u n d hat mit einem entlegeneren Wissensgebiet. W a r n u n g begegnet schon bei Eberhard. Vgl. A T h D E 169 - 172 und dazu unten Kap. 2, 1.2. D i e s e

146

E i n e völlig überzeugende Rekonstruktion der sehr kurzen und dunklen Stelle ist k a u m möglich.

4. Ggalisierungsdynamik

87

sie denn so die basale Reproduktion wechselseitiger Zuneigung anreizen, auch das Fortbestehen der Freundschaftsfunktion wechselseitiger Versittlichung, d.h. der Orientierung an einem gemeinsamen und identischen Tugendwissen (wovon die Identität allerdings selbst eine je werdende, sich über je neue Differenzen vermittelnde ist 147 ). Es ist deshalb nur konsequent, wenn Schleiermacher die Anmerkung in einem Lob der Ungleichheiten enden läßt (24,7-23), die auf allen beschriebenen Ebenen »das schönste Spiel der Freundschaft« (24,12) geben, und zwar in Gestalt wechselseitiger Aneignung, der aber nie der 'Stoff, d.h. neue Ungleichheiten, ausgehen soll (24,19-23) 148 .

4. Egalisierungsdynamik:

Gesellschaftsstrukturelle Ausstrahlungen der Freundschaft

Bisher war von Freundschaft weitgehend nur als eigenständiger Sozialform die Rede, in der Gleichgesinnte unabhängig von ihrem sozialen Status und ihrer Standeszugehörigkeit gleichsam »als Menschen schlechtweg« (3,15) zusammenkommen zum Zwecke wechselseitiger Verhaltenskontrolle und zur wechselseitigen Wahrnehmung und Kommunikation eigener und fremder Individualität. Für die Darstellung hatte diese Abstraktion von den nur begrenzt verfügbaren Vorstrukturierungen der sozialen Handlungssphäre den Vorzug, daß sie basale Theorieoperationen Schleiermachers auf einem verhältnismäßig übersichtlichen Feld zu untersuchen erlaubt, das aber dennoch hinreichend komplex ist, um reduktionistische Beschreibungen zu verhindern und umgekehrt die Entwicklung komplexerer Theoriemittel zu katalysieren. Nun deuten schon das Selbstverständnis der Freundschaft, diejenige Sozialform zu sein, die die Realisierung der menschlichen Bestimmung am ehesten befördert, und mehr noch ihr dezidiert ethisches Interesse auf einen Anspruch hin, der den engen und sozial marginalen (wenngleich die 'veröffentlichte' Meinung prägenden, genauer: bildenden) Bereich von Freizeitzirkeln überschreitet. Ein solches Transzendieren war bereits in der 147 148

V g l . oben 2 . 6 . 3 . Auch Eberhard kennt ein 'Lob der Abwechslung': vgl. SdV § 8 und § 17 sowie A T h D E , 104, w o er die Feinheit der Empfindung als »Fertigkeit ( . . . ) , die kleineren und unmerklichen Verschiedenheiten lebhaft zu empfinden«, bestimmt und darin den Grund vieler Verschiedenheit unter den »Gemüthscharakter(en) der Menschen« erblickt.

88

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

Behandlung der Freundschaftsfunktion der Verhaltenskontrolle impliziert, wenn anders sich diese nicht nur auf freundschaftsinterne Handlungen, sondern auf das Verhalten überhaupt bezieht 149 . Das heißt, daß die freundschaftsinternen Beurteilungskriterien und Handlungsorientierungen auch auf die freundschaftsexternen Relationen der Freunde angewandt werden. Das schließt wiederum ein, daß auch die Leitbilder freundschaftlicher Kommunikation - Wechselseitigkeit, Gleichheit, Koemergenz der Förderung von Individualität und von Relationalität - in freundschaftsexterne Kontexte eingetragen werden (können). Freundschaft ist mithin eine ideale Sozialform, die in doppelter Weise partikular realisiert ist: Sie ist in sich permanent vervollkommnungsbedürftig, und sie tendiert hin auf Expansion des Geltungsbereichs ihrer Prinzipien. Freilich kann die - wenn man so sagen darf - 'Imprägnierung' gesellschaftlich vorgeprägter Institutionen wie Ehe, Familie und politische Herrschaft mit Freundschaft nicht in jeder Hinsicht der Genese und Ausbreitung der spezifischen Sozialform des Freundeskreises analog verlaufen. Kann der Freundeskreis in - wie auch immer fiktiver - Voraussetzungslosigkeit Gleichheit der sittlichen Würdigkeit antizipierend zuschreiben und damit cum grano salis auch erzeugen 150 , so hat die Bemühung um Freundschaft im Raum der Gesellschaft mit festgeprägten Differenzen des Ranges (König - Untertan), der Stellung (Mann - Frau) und der Entwicklung (Eltern - Kinder) zu rechnen, von denen nicht ohne weiteres zugunsten purer wechselseitiger Menschenliebe abstrahiert werden kann. Diese Differenzen unterscheiden sich von den auch innerhalb von nicht-hierarchisierten Freundschaftskreisen möglichen Differenzen der Vollkommenheit (vgl. 14,28 - 15,9 sowie 17,25-30). Denn während diese zu ihrer eigenen Überwindung anreizen, indem sie den 'Vollkommeneren' Felder versittlichender (und mithin selber sittlicher) Tätigkeit aufzeigen und den weniger Vollkommenen ihre Defizienz und Möglichkeiten zu deren Aufhebung offenbaren (vgl. 15,15-23), so daß auch in dieser Hinsicht der Prozeß der Freundschaft die freundschaftskonstitutive Wechselseitigkeit (in allen zwei bzw. drei Funktionen) allererst schafft, ist etwa im Verhältnis von Herrscher und Untertan die Wechselseitigkeit der Verhaltenskritik strukturell unmöglich, im Verhältnis von Eltern und Kindern zumindest für die Zeit bis zu deren Mündigkeit. Wo und wie wirkt nun das 'Prinzip Freundschaft' in solchen intransigenten Verhältnissen? Welche Prozesse löst es darin aus? Wie beeinflußt es ihre Beschreibung und Beurteilung? 149 Vgl oben Anm. 64 und 69. 150

V g l . oben 2 . 4 . 2 .

4. Egalisierungsdynamik

89

Es ist zunächst wichtig zu bemerken, daß Schleiermacher mit der doppelten Verwendung des Freundschaftsbegriffs in bezug auf Interaktionsverhältnisse und in bezug auf Gesellschaftsstruktur deutlich den Aristotelischen Ansatz der Freundschaftstheorie aufgreift. Im Unterschied zu Aristoteles freilich untersucht Schleiermacher Freundschaft nicht als Einheitsprinzip eines Gemeinwesens überhaupt (so daß man philia auch als harmonische und tugendgemäße Einrichtung und Ausrichtung einer ganzen Polis paraphrasieren könnte 151 ), sondern er beschreibt die Einwirkungen der Normen von Freundschaft in die Interaktionen von Funktionsträgern - und zwar in den elementaren Sphären von Staat, Ehe und Familie. Er reduziert damit soziale Prozesse auf Kommunikationen zwischen einzelnen Personen in bestimmten sozialen Rollen. Das spiegelt auf der einen Seite die Erweiterung der Freundschaftsfunktionen um die Wahrnehmung und Kommunikation von Individualität wider, die zwar die Tugendorientierung keineswegs in den Hintergrund drängt (sie bleibt zumindest nominell ja Hauptfunktion vgl. 11,10-12), aber doch in einen relativierenden, d.h. auf Individuen zentrierenden Kontext stellt. Auf der anderen Seite verhindert es die Darstellung komplexerer gesellschaftlicher Phänomene, die mit personalistischen Kategorien allein nicht mehr erfaßt werden können. Doch trotz dieses offenkundigen sozialtheoretischen Mangels ist es möglich, gesellschaftsstrukturelle und -theoretische Veränderungen an solchen Elementarkonstellationen als an Paradigmen festzuhalten. Am deutlichsten lassen sich die Funktionsweise der Expansion des Prinzips 'Freundschaft' und deren gesellschaftsstrukturellen Aspekte an der Behandlung der Ehe studieren; eine gleichsam natürliche Variante der Emergenz von Wechselseitigkeit wird am Beispiel der Familie offenkundig; die Problematik der personalistischen Reduktion zeigt sich am klarsten bei der Frage der Herrschaft. Die Darstellung soll deshalb in dieser Reihenfolge erfolgen, die sich von der in Schleiermachers Anmerkung 16 (13,14 - 17,30) unterscheidet.

4.1. Ehe Schleiermacher zögert, Aristoteles' Charakterisierung der Ehe als ungleiche Verbindung zu übernehmen (vgl. 14,16-18 152 ). Denn im Gegensatz zur

151

Vgl. NE 1155a 22-28.

152

V g l . NE 1158b 13.17.

90

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

Meinung des Aristoteles 153 scheint die Frau »beinahe« denselben »Grund zu lieben« (14,14) zu haben wie der Mann. Die bei Aristoteles mit einem unterschiedlichen Grad der Vollkommenheit des Wesens von Mann und Frau begründete Differenz auch der Relationen wird bei Schleiermacher reformuliert zu einer Ungleichheit hinsichtlich der »Summe der Rechte und Pflichten« (14,16), wobei »Summe« ausweislich des Kontextes sowohl graduelle als auch qualitative (funktionale) Differenz umfaßt. Auch diese Differenzen können die Ehe zu »eine(r) der ungleichsten Verbindungen« (14,26) machen, dann nämlich, wenn »wahre Freundschaft« (14,25) fehlt. Fehlt sie nicht, depotenziert sie die graduellen Differenzen (»Ungleichheit der Rechte«, 14,23f.) und läßt nur funktionale übrig (»Ungleichheit der Geschäfte«, 14,24). Schleiermacher beschreibt diesen Vorgang in der staatstheoretischen Begrifflichkeit der Gewaltenteilung: Selbst wenn der Mann »überall die gesezgebende Gewalt [hätte] und die Frau nur einen Theil der executiven« (14,18f.), erfordert die freundschaftskonstitutive Norm der Wahrnehmung und Förderung von irreduzibler Andersheit und des Verzichts auf Instrumentalisierung, daß die 'Gesetzgebung' nicht ohne Rat und Zustimmung der Frau zustande kommt, so daß als besondere Aufgabe des Mannes de facto nur die öffentliche 'Verkündigung' des gemeinsam verantworteten Beschlusses übrig bleibt. 'Freundschaft' setzt mithin in der Ehe eine Dynamik auf Enthierarchisierung und Egalisierung hin in Gange, die freilich keine Uniformität zum Ziele hat, sondern Funktionsdifferenzierung. Allerdings vollzieht sich diese Entwicklung gleichsam subkutan, im privaten Binnenraum der Beziehung, ohne deren äußere Formen zu verändern formal bleibt ja der Mann der Bestimmende - und ohne verbindliche (rechtsförmige) öffentliche Festschreibungen der veränderten Verhältnisse zu reflektieren. Der Widerspruch, der bei der Sozialform Freundschaft auf die zwei Bereiche der entfremdeten bürgerlichen Tätigkeit und des 'eigentlichen' Lebens im Freundeskreis verteilt war, fällt in der Ehe innerhalb eines Bereichs an, indem die äußere Ungleichheit innerlich (aber nur innerlich) überwunden wird und allein für die Beteiligten erkennbar in Gleichheit übergeht.

153

Vgl. NE 1158b 18f.

4. Egalisierungsdynamik

91

4.2. Familie Beim Verhältnis zwischen Eltern und Kindern 1 5 4 ist der Übergang von Ungleichheit in Gleichheit, von Abhängigkeit in Mündigkeit und Selbständigkeit umgekehrt sogar gesellschaftlich erwünscht. Er ist aber nicht ohne Risiko für den Bestand der Beziehung. Schleiermacher geht bei der Beschreibung der ursprünglichen - dem Verhältnis des Schöpfers zu seinem Werk analogisierten (vgl. 13,23-25) - Ungleichheit darin über Aristoteles hinaus, daß er das Verhältnis nicht pauschal als Illustration der Beziehungen zwischen Älteren und Jüngeren verwendet, sondern zwischen dem Verhältnis der Mutter zum Kind und dem des Vaters spezifiziert (umgekehrt übrigens nicht): Während die Mutter schon mit dem neugeborenen Kind eine (Leidens-)Geschichte verbindet (vgl. 13,25f.), erscheint es dem Vater »als ein Nichts, aus dem er etwas zu machen hat« (13,29); ist es ihr ein »Gegenstand ihrer Sorgen (,) ihrer Bemühungen, ihrer Beschäftigungen, ihres Nachdenkens, ihrer Fantasien« (13,27f.), so sieht er »seine Seele (...), welche er nach und nach entwikeln und bilden soll« (13,30f.). Sofern dieses Interesse an Bildung freundschaftsgesteuert ist, muß es die sukzessive Aufhebung der »Ohnmacht« (13,32) des Kindes intendieren sowie dessen irreduzible Andersheit respektieren. Das Risiko liegt nun darin, daß bei der gewünschten Selbstbemächtigung des Kindes mit dem Abnehmen der Abhängigkeit von den Eltern sich auch die Qualität des Verhältnisses zu ihnen ändert - aus unbedingter Ohnmacht wird reflexe »Dankbarkeit« (14,1) - und daß mit der Freigabe der Entwicklung nunmehr »Willenscollisionen« (14,2) auftreten können. Damit ist die »wenigstens nach Aristoteles' Regel« (14,3) konstitutive Proportionalität der Liebe zur Würdigkeit des Geliebten nicht mehr gewahrt, denn während die Liebe der Eltern zu den Kindern aufgrund der Wahrnehmung von deren entstehender »Moralität« (14,6) noch wächst, wird »die Empfindung des Kindes« gegen die Eltern »getheilt und herabgestimt« (14,4f.); der Vollkommenere liebt dann den Unvollkommeneren stärker als der Unvollkommenere den Vollkommeneren. Soll die Disproportionalität nicht zu völliger Entfremdung führen, müssen die Eltern ein der physischen Abhängigkeit der frühen Kindheit äquivalentes und zugleich der Entwicklung des Kindes angemessenes Medium der Bindung anbieten: Sie müssen dem Kind »das Anschaun der sittlichen Vollkommenheit seiner Eltern« (14,10) ermöglichen. Hier erfordert also das Interesse eine Anpassung der Selbstorientierung an das für dessen Entwicklung nunmehr relevante Medium der Kommunikation 154

B e i Aristoteles: »Vater und Sohn« (NE 1158b 12).

92

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

nämlich Moralität - und mithin Anstrengungen der Selbstvervollkommnung und Selbstversittlichung. Diese Selbstanpassung ist allerdings in der Hinsicht eine vorgängige, daß sie die Entwicklung des Kindes zugleich prognostiziert und katalysiert, indem sie die keimende Moralität als zukünftig dominantes Medium für Wechselseitigkeit ausmacht und durch die Resonanz des eigenen Vorbildes fördert. Insofern bleibt die Initiative auf Seiten der Eltern, es erhält sich eine gewisse Ungleichheit, die aber deutlich auf Egalisierung hin instrumentalisiert ist. Indem sich die für die Ungleichheit verantwortliche Differenz der »Erfahrung« und der »Besizungen des Geistes« (15,12f.) mit den Jahren relativiert, nähert sich das Generationenverhältnis - anders als bei der Ehe auch äußerlich - der »reinste(n) Freundschaft« (17,10).

4.3. Herrschaft Ein solches Emanzipationsprogramm 155 ist für das Verhältnis von Vorgesetztem und Untergebenem im bürgerlichen (gesellschaftlich-staatlichen) Leben undenkbar. Hier ist Freundschaft nur bei strikter Trennung von öffentlichem und privatem Bereich möglich: Weder darf die Gleichheit der Freundschaftsbeziehung in die formal-hierarchischen Verhältnisse des Berufs eingetragen werden, noch »bürgerliche Uebermacht« (15,33) in die Freundschaft. Die große Schwierigkeit, diese Bereichstrennung durchzuhalten, macht solche Freundschaften jedoch »selten« (15,35). Dies impliziert allerdings eine Kritik an derartigen stark hierarchisierten gesellschaftlichen Strukturen. Daß etwa ein König »der Freundschaft desto mehr fähig [ist], je weniger er König ist«, dient »zum neuen Beweis daß dieser Stand in der Form, wie man ihn gemeiniglich unter uns antrift, der Natur wirklich entgegen ist« (16,2-4). Das Problem ist dabei dies, daß der König »zwei Personen vorstellt, die er weder mit einander vermischen, noch von einander trennen« (16,9f.) darf, daß aber die 'bürgerliche Person' als König die Entfaltung der 'privaten' Person als Mensch an sich verhindert, indem einerseits die politische Funktion die für humane Sozialbeziehungen (d.h. für Freundschaft) unentbehrliche Aufrichtigkeit in bestimmten Fällen verbietet 1 5 6 , indem andererseits Andere ihre Interessen an dem Funktionsträger als Interessen an dem Menschen chiffrieren, was zu wissen den König zu 155

Für eine ausführliche (und über den Einzelfall hinaus interessante) Darstellung des Problems bei Kant vgl. Manfred Sommer: Identität im Ubergang. In: Ders.: Identität im Übergang: Kant. Frankfurt (M) 1988, 14 - 89.

156

Vgl. oben 2.3.

4. Egalisierungsdynamik

93

beständigem Mißtrauen gegen Zuneigungsbekundungen nötigt (vgl. 16,2328). Deutlich ist die Präferenz, die Schleiermacher der (Selbst-) Beschreibung als Mensch gegenüber der (Selbst-)Beschreibung als Funktionsträger einräumt. Stärker als bei der Ehe drängt diese Präferenz hier zu Veränderungen auch der äußeren »Form« (16,3) von Hierarchien. Es kommt freilich zu keiner konkreten Erörterung einer der »Natur« (16,4) wirklich gemäßen Gestalt von Unterordnungsverhältnissen; Schleiermacher beläßt es bei dem Hinweis auf das wenn auch unverfügbare Glück, wenn in sehr hohen Rängen sehr nahe amtliche Beziehung und Freundschaft zusammenfallen (vgl. 16,31 - 17,2 unter Bezug auf die Freundschaft zwischen Heinrich von Navarra und »dem ersten Diener seines Staats« - 16,33f. -, dem Herzog von Sully), und der Erwartung, daß bei den Untertanen neben die Ehrfurcht vor dem König auch ein »Gefühl von Zutraulichkeit« (17,18 mit Bezug auf Friedrich II. von Preußen) treten werde, das eine gewisse Wechselseitigkeit ermöglicht. Diese eher hilflosen 'Lösungsangebote 1 illustrieren, daß Schleiermacher in bezug auf den Bereich politischer Hierarchien am meisten Schwierigkeiten hat, die Ungleichheit in Gleichrangigkeit und Wechselseitigkeit transformierende Wirkung von 'Freundschaft' aufzuzeigen. Das liegt zum einen daran, daß öffentliche Rangdifferenzen in weit weniger hohem Maße durch subjektive Einstellungen und intersubjektive Übereinkünfte der unmittelbar Beteiligten variiert werden können als Unterschiede innerhalb der relativ privaten Institutionen Ehe und Familie, insofern sie weit stärker durch öffentliche Zuschreibungen, durch objektive Beschreibungen von Funktion und Status definiert sind. Das macht es - zum anderen - auch fraglich, inwieweit 'Freundschaft' überhaupt fähig ist, solche 'harten', transsubjektiven sozialen Gegebenheiten zu durchdringen und unmittelbar umzugestalten. Jedenfalls gelingt es nicht, die Bestimmtheit und Verfaßtheit sozialer Rollen, Funktionen und Hierarchien von der Anthropologie der Freundschaftstheorie her zu erfassen. Daran scheitert der Anspruch, die auf den Prinzipien wechselseitiger Tugendorientierung und von Selbst- und Fremdbeschreibung als Individuum beruhende Freundschaft als exemplarische Sozialform darzustellen. Die Trennung der Bereiche ist daher letztlich nur konsequent, wenngleich sie nicht ohne Melancholie konstatiert wird (vgl. 16,27f.: »das traurige Loos was den Regenten der Erde gefallen ist«).

94

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

5. Abschattungen des Aristotelismus Wenngleich Schleiermachers Aristoteles-Anmerkungen weder bloße philologische Kommentare zu einem Werk der antiken Moralphilosophie darstellen noch umgekehrt die Konzeption des Aristoteles als solche zu aktualisieren beanspruchen, sondern im »Verständnisrahmen« der »Hallesche(n) Schulphilosophie (Eberhard)« 157 unter Anknüpfung an Aussagen aus NE VIII und IX Probleme des sozialen Phänomens Freundschaft behandeln und dabei ein Konzept der Freundschaft mit normativen Implikationen entwickeln, ist es dennoch sinnvoll zu fragen, inwieweit die Problemerfassung und die Konzeptualisierung explizit und implizit, in Konsens wie in Dissens, geprägt sind von der Beschäftigung eben mit Aristoteles. Pointierter gefragt: Gibt es Momente in der herausgearbeiteten Ausgangskonfiguration von Schleiermachers Theorieentwicklung, die eine Art 'Aristotelismus' in sich tragen? Dies würde nämlich bedeuten, daß, wenn sich diese Ausgangskonfiguration als Leitperspektive auch in der Interpretation von Schleiermachers Frühwerk insgesamt bewähren sollte, 'aristotelische' Strukturmomente auch für Schleiermachers Kant-Verständnis leitend wären und sich umgekehrt auch in Schleiermachers Adaptionen Kantischer Argumente durchhielten. Damit fände die These Michael Moxters von einem »nachkantischen Aristotelismus« der reifen Ethik Schleiermachers 158 einen starken Anhalt bereits an den frühesten »Schriften und Entwürfen«. Zunächst fallen die Differenzen zu Aristoteles auf. (1) Während bei Aristoteles wahre Freundschaft weitgehend eindimensional auf Tugend bezogen ist, gewinnt bei Schleiermacher der Aspekt der Wahrnehmung und Kommunikation irreduzibler Andersheit die Bedeutung einer zweiten Funktion der Freundschaft, die mit der Funktion der wechselseitigen sittlichen Stabilisierung und Vervollkommnung in einem konstitutiven Zusammenhang steht. In verschiedenen, nicht vollständig und in jeder Hinsicht untereinander konsistent zu machenden Beschreibungen entfaltet Schleiermacher ein Freundschaftskonzept im Spannungsfeld von Intimisierung und Verallgemeinerung. Dabei ist die Freundschaftsrelation sehr viel stärker herausgelöst aus dem Normen- und Erwartungsgefüge gesellschaftlicher Konventionalität; die mit diesem enormen Freiheitsgewinn eo ipso verbundene Gefahr einer erratischen Abschottung der Freunde gegen soziale Außenbezüge und gesellschaftliche Fremdwahrnehmungen wird kontrolliert durch das Versittlichungsinteresse. Umgekehrt wird dieses 157

M e c k e n s t o c k , Deterministische Ethik, 22.

158

V g l . Moxter, Güterbegriff, 16.

5. Abschattungen des Aristotelismus

95

geschützt gegen die ihm innewohnende Tendenz der Vergleichgültigung aller menschlichen Beziehungen, indem es rückgebunden wird an die Wahrnehmung konkreter Individualität. (2) Mit dieser vorsichtigen Ablösung des Freundschaftskonzepts von der reinen Tugendorientierung hängt zusammen, daß Schleiermacher Tugend nicht mehr als einziges und nicht mehr notwendig als hinreichendes Kriterium wahrer Freundschaft verwenden kann. In einer nicht unproblematischen Weise 159 versucht Schleiermacher deshalb, der Freundschaft das elementarere und dadurch universalere Kriterium der Dauerhaftigkeit zu unterlegen, mit dem sowohl Tugendfreundschaft als auch andere Formen fester wechselseitiger Bindung als Gestalten wahrer Freundschaft rekonstruiert werden können. Aristoteles muß diese anderen Formen der uneigentlichen Freundschaft zuordnen. In dieser Akzentverschiebung artikuliert sich auch die neue Betonung der »geselligen Empfindungen« (4,25; Hervorhebung von mir). (3) Ist Freundschaft nicht mehr bloßes Steigerungsmoment individueller Versittlichung und gesellschaftlicher Vervollkommnung, so kann sie auch nicht mehr ungebrochen als Keimzelle der (Polis-)Gesellschaft aufgefaßt werden, die bei Aristoteles dergestalt als Groß-Freundschaft zu denken ist 160 . Bei Schleiermacher ist Freundschaft vielmehr eine konkretpartikulare Sozialform, die freilich in dem Sinne paradigmatisch ist für die Gesellschaft insgesamt, daß in ihr diejenigen Wahrnehmungskriterien und Beurteilungsstandards bereits in Geltung stehen, die in abgestufter und den jeweiligen Kontexten angemessener Weise in allen Bereichen der Gesellschaft gelten sollen. (4) Diese zunächst etwas spitzfindig anmutende Unterscheidung wird aussagekräftiger, wenn man sieht, daß Aristoteles das Verhältnis von Ehegatten zueinander, von Eltern und Kindern und von Herrscher und Untertan als Formen der Freundschaft behandelt, während sie bei Schleiermacher als eigenständige soziale Relationen bzw. Institutionen erscheinen, bei denen untersucht wird, ob, wie und welchem Maße sie nach den Standards der Freundschaft umgeformt werden können 161 . Dadurch ist eine differenziertere Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit bereits im Ansatz angelegt, während sie bei Aristoteles erst über die »Politik« eingeholt werden muß 1 6 2 . 159 l60

V g l . oben 3.

philia

161

als Terminus der Polis: NE 1155a 22-28. Vgl. dazu oben 4.

Vgl. oben 4.

162 V g | dazu Schleiermachers spätere luzide Kritik an einem Bruch zwischen der Ethik und der Politik des Aristoteles in PPA. Vgl. unten Kap. 7, 2.

96

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

(5) Auch in bezug auf die Funktionsbeschreibung der Freundschaft selbst erreicht Schleiermacher eine höhere Komplexität als Aristoteles, indem er die Freundschaft in ihrer funktionalen Verbindung mit Sittengefühl und Religion als den anderen »übersinnlichen« Instanzen der Förderung der Lebensgestaltung erfaßt und anders als Aristoteles nicht nur die unterschiedlichen Funktionen und Wirkungen der Freundschaft in den verschiedenen Lebensaltern beschreibt, sondern die lebensalterspezifischen Formationen des differenzierten Funktionszusammenhanges von Freundschaft, Sittengefühl und Religion in den Blick nimmt und vergleicht. Die genannten Differenzen treten aber allererst auf als Konsequenzen einer elementaren Übereinstimmung, die in ihren Auswirkungen auf Schleiermachers Theorieanlage kaum zu überschätzen ist: Der Ausgang vom komplexen sozialen Phänomen der Freundschaft im Kontext der Aristotelischen Ethik nötigt Schleiermacher dazu, bei allem individuellen Handeln und aller Verhaltensorientierung den Gesellschaftsbezug zu berücksichtigen, und er hindert daran, das Problem (und die Beschreibung der Vollzüge) der Handlungsrealisierung aus der ethischen Fragestellung oder jedenfalls aus den für die ethische Fragestellung relevanten Faktoren auszugrenzen. Diese grundlegende Prägung bestimmt, wie zu zeigen sein wird, nicht nur Schleiermachers Kant-Rezeption 163 ; sie läßt sich in ihrer für Schleiermacher spezifischen kommunikations- und geselligkeitstheoretischen Entfaltung vielmehr am gesamten Frühwerk aufweisen 164 . Man kann deshalb, auch wenn Schleiermacher kein ausdrücklicher Anhänger des Aristoteles war noch

l 6 3 V g i . unten Teil II. - Dies gilt unerachtet der harschen Kritik an der Aristotelischen Ethik als empiristisches und deshalb in sich haltloses System in hG (vgl. unten Kap. 4, 1.1.). Denn, abgesehen von Schleiermachers später sehr viel ausgewogenerem Urteil über Aristoteles (vgl. dazu Moxter, Güterbegriff, 26 - 29, bes. 29, und 61), geht es hier nicht um den Nachweis direkter oder bewußt gesuchter Anknüpfung oder Abhängigkeit, sondern um eine elementare Prägung der Theorieanlage jenseits auch aller expliziten Selbstkommentierungen und Selbstverortungen. 164

Für das kommunikations- und geselligkeitstheoretische Leitinteresse vgl. etwa gleich ÜdN und UdS (vgl. unten Kap. 3, 1. und 2.) sowie den späteren »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« (vgl. unten Kap. 10). Für die Integration von Intention und Ausführung in den Handlungs-Begriff vgl. die »Notizen und Entwürfe zur Vertragslehre« (vgl. unten Kap. 9, 1.1.). Für das Interesse an Staats- und Gesellschaftstheorie vgl. den »Vergleich der Platonischen und Aristotelischen Politik« (vgl. unten Kap. 7, 2.). - In diesen Texten erscheinen aber nur Aspekte des herausgearbeiteten theorieprägenden Leitkonzepts gleichsam an der materialen Oberfläche expliziter Themenbehandlung. In der vorliegenden Untersuchung wird hingegen die umfassendere These vertreten, daß dieses Leitkonzept die Art der Behandlung aller Themenbestände und deren Vernetzung bestimmt. Insofern ist die Anführung einzelner Beleg-Texte mißverständlich.

5. Abschattungen des Aristotelismus

97

jemals wurde, durchaus von aristotelischen Momenten oder Motiven in seinem Denken sprechen, die er freilich in höchst eigenständiger Perspektive und unter charakteristischer Verbindung mit anderen Motiven und Einflüssen in ein komplexes Ganzes hinein entfaltete.

Zweites Kapitel Johann August Eberhards Sittenlehre und Vorstellungstheorie

Einleitung Schleiermachers Anmerkungen zur Freundschaftstheorie des Aristoteles wurden hier interpretiert als eine differenzierte Konzeption elementarer Sozialbeziehung, die als privat-intime weder die äußerliche Verbindung zweier oder mehrerer davon in ihrem Wesen unberührter und unabhängig davon vollständiger Individuen (Subjekte) darstellt noch gleichsam linear hochgerechnet werden kann auf komplexere gesellschaftliche Zusammenhänge, die aber veränderte Wahrnehmungen von Individualität und Sozialität reflektiert und produziert und insofern auch auf individuelle Selbstbeschreibungen und auf normative Konzepte von Gesellschaft ausstrahlt. Die mit dieser Interpretation gewonnenen Aufschlüsse über ein zentrales Ausgangsproblem der Theorieentwicklung Schleiermachers und dessen Fassung sowie über eine frühe Ausprägung von Argumentations- und Konzeptualisierungsformen müssen sich freilich einerseits im weiteren Verlauf der Interpretation der Jugendschriften als für Schleiermachers Denken tatsächlich charakteristisch und bestimmend erweisen. Andererseits lehnt sich Schleiermacher in den Aristoteles-Anmerkungen explizit in seinem Anspruch und faktisch durch eine Fülle von Quasi-Zitaten so stark an Eberhard an, daß oben 1 bereits begründet werden mußte, warum die Aristoteles-Anmerkungen überhaupt als Text Schleiermachers beansprucht werden. Um deshalb für die Herausarbeitung von Schleiermachers Eigenprofil nicht völlig auf den vorlaufend-rekursiven Vergleich mit seinen späteren Texten angewiesen zu sein, der immer in der Gefahr steht, spätere Positionen in die frühen Arbeiten einzutragen, ist es nötig, zunächst das Freundschaftsthema in Eberhards Werk selbst zu orten und sowohl seine Stellung in dessen Theorie als auch die Weise seiner Darstellung zu erhellen. Da Schleiermachers Auf-

Vgl. Kap. 1, Einleitung.

Einleitung

99

Zeichnungen wahrscheinlich im Zusammenhang mit einer Vorlesung Eberhards zur »Ethica() philosophica« 2 entstanden sind, deren 'Textbuch' Eberhards »Sittenlehre der Vernunft« (Verbesserte Auflage Berlin 1786) war 3 , muß dabei Eberhards Konzept der Ethik insgesamt ins Auge gefaßt werden 4 . Doch nicht nur im Material-Thematischen und auf der relativ abstrakten und weitflächigen konzeptionellen Ebene, sondern auch gleichsam im Mikroskopischen, in der argumentativen Feinstruktur, in basalen erkenntnistheoretischen und ontologischen Annahmen lassen sich durch die Behandlung Eberhards präzisierende, erweiternde oder kontrastierende Einsichten erwarten. Hier ist einschlägig besonders Eberhards erkenntnistheoretisches und anthropologisches Hauptwerk »Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens« (Berlin 1776). Der Bezug auf Eberhard steht zugleich im Zusammenhang mit der Behandlung von Schleiermachers Texten »Ueber das höchste Gut«, »Freiheitsgespräch« und »Ueber die Freiheit« 5 . Diese Texte repräsentieren nämlich Schleiermachers Auseinandersetzung mit seiner philosophischen Herkunft aus Anlaß und unter dem Einfluß der Beschäftigung mit Kant. Sie unterscheiden sich von den Aristoteles-Anmerkungen auch insofern, als Schleiermacher hier die Arbeit an materialen Themenbeständen der Ethik im Medium des Vergleichs und der Prüfung der Leistungsfähigkeit verschiedener Theorieprogramme als ganzer vollzieht. Ebendies macht es notwendig, die Rekonstruktion der material sozial theoretischen Konzeption der Freundschaftstheorie zu transzendieren hin auf ihr Verhältnis zu dem ihr nächsten elaborierten Theorieprogramm, dem Eberhards. Hier bündeln sich mehrere Fragen. Einmal ist zu klären, inwiefern Schleiermacher Grundannahmen Eberhards übernimmt, variiert oder auch implizit abstößt. Zum andern muß die Frage beantwortet werden, inwieweit Schleiermachers Kritik an einer sich auf die Begriffe von Glückseligkeit und Vollkommenheit gründenden Ethik 6 Eberhard trifft oder auch nur treffen soll. Verschiedene

2

Vgl. Herms, Herkunft, 282: Sommer 1788 und Winter 1789.

3

Vgl. ebd.

4

Das heißt freilich nicht, daß nur ggf. sichtbar werdende Differenzen oder Perspektivenverschiebungen der Aristoteles-Anmerkungen gegenüber der Eberhardschen Ethik als für Schleiermachers Entwicklung bedeutsam wahrgenommen werden; allerdings können nur solche Differenzen unmittelbar auf Schleiermacher zugerechnet werden: Zur Zurechnung von Konvergenzen bedarf es des Vergleichs mit anderen Texten Schleiermachers.

5

Vgl. unten Teil II.

6

Vgl. unten Kap. 4, 1.1.

100

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

Antworten auf diese beiden Fragen bedingen unterschiedliche Gewichtungen im Blick auf das dritte Problem: ob und in welchem Maße nämlich die 'Kritik' der Schulphilosophie eine Revision von in den Aristoteles-Anmerkungen gegebenenfalls noch vorausgesetzten Positionen mit sich führt. Denn lassen sich etwa die Aristoteles-Anmerkungen als weitgehend Eberhard sich verdankend dechiffrieren und kritisiert Schleiermacher zugleich später tatsächlich Eberhard, dann könnte das einen fundamentalen Wandel der Theorie indizieren, der die Bedeutung der Aristoteles-Anmerkungen stark einschränken würde. Gilt aber auch nur eine dieser beiden Prämissen nicht, so lassen sich möglicherweise selbst bei weitreichenden Veränderungen der Perspektive, der Konzeption oder der Semantik sehr starke Kontinuitäten namhaft machen. Die These, die hier vertreten werden soll, ist die folgende: Das Problem der Darstellung von Freundschaftsverhältnissen erfordert notwendig eine höhere Theoriekomplexität, als Eberhard sie in der »Sittenlehre der Vernunft« vorgegeben hat, indem die dort grundlegende Perspektive individueller Pflicht mindestens in ihrer Verdoppelung bzw. in mindestens doppelter Verschränkung untersucht werden muß. Insofern ist die Freundschaftstheorie mehr als ein Anwendungsfall der Sittenlehre; sie ist vielmehr eine sich selbst tragende Konstruktion, in der durchwegs mehrere Perspektiven kopräsent gehalten und in ihren Beziehungen dargestellt werden müssen. Daß Schleiermacher dieser Logik der Sache entspricht, heißt freilich noch nicht, daß er damit bereits das Theorieniveau Eberhards an sich überstiegen hätte. Es läßt sich zeigen, daß er mit Darstellungsmitteln arbeitet, die sich zwar nicht in Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«, wohl aber in seiner Grundschrift »Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens« finden. Schleiermacher vernetzt gewissermaßen Elemente von Eberhards Sittenlehre und seiner Vorstellungstheorie.

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

1. Pflicht zur (Selbst-)Vervollkommnung:

101

Eberhards »Sittenlehre der

Vernunft«

1.1. Die Ethik im Kanon der praktischen Wissenschaften Bedient man sich des bereits genannten 7 Schemas der Charakterisierung gegenwärtiger Ethik-Entwürfe, nach dem in der heutigen Diskussion »das Konzept eines intersubjektivitätstheoretischen Prozeduralismus in der Nachfolge Kants dem Entwurf einer aristotelisch inspirierten teleologischen Gemeinschaftsethik gegenübersteht« 8 , so scheint sich Eberhards »Sittenlehre der Vernunft« eher der zweiten Position zuordnen zu lassen, mit freilich wichtigen Einschränkungen. Denn zwar orientiert sich seine Ethik ohne Zweifel an einem »Bild des gelungenen Lebens«9, an einem materialen Wissen der idealen Bestimmung des Menschen und der Welt (vgl. SdV § 23, S. 25 und § 29, S. 30), aber er setzt dieses Wissen als allgemeingültig und rationaler Einsicht offenstehend und deshalb vermittels 'Aufklärung' kommunizierbar voraus 10 . Eben deshalb ist seine Perspektive nicht die der Lebensregeln einer konkreten 'Polis', sondern die der allgemeinen je individuellen Pflicht. Schon aufgrund dieser eher oberflächlichen Beobachtung läßt sich mithin zeigen, wie stark gebrochen Eberhard wenn auch zentrale Motive der Aristotelischen Ethik übernimmt. Freilich gehört zu den übernommenen Elementen auch die Selbstbeschränkung des Aufgabenbereichs der Ethik in Unterscheidung von dem der »Politik«. Kritisiert Eberhard zwar, daß die Staats- und Gesellschaftstheorie seiner Zeit weiterhin dogmatisch die Aristotelischen Schemata der Staatsformen auf konkrete gegenwärtige Staatsgebilde anwendet, ohne umgekehrt aus der Beobachtung der konkreten Verhältnisse Beschreibungskategorien zu entwickeln 11 , so lehnt '

Vgl. oben die Einführung.

8

J. von Soosten: Zur theologischen Rezeption von Jürgen Habermas' »Theorie des kommunikativen Handelns«. In: ZEE 34 (1990), 129-143, hier: 139.

9

T.Rendtorff: Ethik. Band 1. 2. Auflage Stuttgart etc. 1990, 157.

10

Vgl. § 29, S. 30. Unterstellt wird dabei nicht, daß die »innere Sittlichkeit« einer Handlung a priori »jedem Verstand einleuchte«. Vielmehr kann das Verhältnis einer Einzelhandlung »zu der Natur des Menschen und der übrigen Dinge« »von der ausgebildeten und recht gebrauchten menschlichen Vernunft (...) erkannt werden«. Die Ausbildung der Vernunft (und des ihr zugeordneten moralischen Sinnes) ist dann Pflicht gegen sich selbst (vgl. §§ 54f., S. 54 - 56) wie gegen Andere (vgl. § 188, S. 233).

11

Vgl.: Ueber die Freiheit des Bürgers und die Principien der Regierungsformen. In: Ders.: Vermischte Schriften. Erster Theil. Halle 1784, 1 - 28, hier: 3.

102

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

er sich immerhin darin formal an Aristoteles an, daß er die Ethik keineswegs als Sozialtheorie entfaltet. Diese wissenschaftssystematische Aufgabenteilung ist zu beachten, will man nicht zu Unrecht Eberhards Theorie als ganzer individualistische Engführung unterstellen und will man nicht in der Ethik Einsichten suchen (und vermissen), die per definitionem dort gar nicht gefunden werden können. Im Kanon der »praktischen Philosophie« bestimmt Eberhard die »Sittenlehre« oder »Ethick« nämlich als »Wissenschaft der »unvollkommnen Naturgesetze (...) im Stande der Natur« und unterscheidet sie damit einerseits vom Naturrecht als der »Wissenschaft der vollkommnen Naturgesetze« und andererseits von »Oekonomik« und »Politik« (oder »Staatsklugheit«) als den Wissenschaften der unvollkommenen Naturgesetze »im gesellschaftlichen Zustande« (alle Zitate SdV § 116, S. 124). Beide Unterscheidungen vermögen nun freilich irreführende Assoziationen zu wecken und sind deshalb an Eberhards Sprachgebrauch zu präzisieren. »Vollkommen« ist eine Verbindlichkeit nämlich erst dann, wenn sie nicht nur dem »inneren« Naturgesetz, d.h. der wesentlichen Bestimmung des Menschen entspricht, sondern zu dieser Entsprechung eine »äußere Verbindlichkeit« in Gestalt positiver (d.h. entweder staatlich-bürgerlicher oder auf Gottes Willen zurückgeführter) Gesetze »hinzukömmt« (vgl. SdV § 65, S. 67f.). D.h.: unvollkommen sind die Gesetze der Ethik nur in Hinblick darauf, daß ihre Geltung nicht über äußeren Zwang durchgesetzt werden kann (vgl. SdV ebd.). Hierin spiegelt sich die seit Christian Thomasius üblich gewordene Ausdifferenzierung von Moral und Recht. Das wird noch deutlicher angesichts der zweiten Unterscheidung, der zwischen natürlichem und gesellschaftlichem Zustand. Eberhard lehnt die Position Hobbes' ab, der Stand der Natur sei ein Stand zügelloser Freiheit (vgl. SdV § 110, S. 116). Auch vor und unabhängig von der Etablierung bürgerlicher Rechtsverhältnisse (von Eberhard als fundierender »Vertrag« bezeichnet, vgl. SdV § 113, S. 121 [dort falsch »Vortrag«]) gibt es Verbindlichkeiten, wenn anders der 'natürliche' Mensch nicht in tierischem Zustand gedacht werden soll. Ebenso wenig soll der Naturzustand jedoch mit Rousseau als ideale Realisierung des Wesens des Menschen von der Gesellschaft als defizitärer Existenzform abgehoben werden. Durch zwei Operationen versucht Eberhard, den Naturbegriff zwischen diesen beiden Extremen zu verorten. Zum einen unterscheidet er verschiedene Verwendungen des Naturbegriffs, je nachdem dieser dem bürgerlichen oder überhaupt dem gesellschaftlichen Zustand entgegengesetzt wird (vgl. SdV § 113, S. 120f.). Nur im zweiten Fall schließt der Naturbegriff Sozialität schlechthin aus 12 . Im ersten Fall 12

Was Eberhard aber eigentümlicherweise nicht hindert, nicht nur Einzelne,

sondern

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

103

kann man dagegen durchaus von einem natürlichen gesellschaftlichen Zustand mit entsprechenden Verbindlichkeiten sprechen. Zum andern nimmt er an, daß es natürliche Vermögen, Bedürfnisse und Genüsse gibt, die nur in der Gesellschaft oder in der Gesellschaft besser entfaltet bzw. befriedigt werden können (vgl. SdV § 111, S. 119), so daß die Vergesellschaftung weder phylo- noch ontogenetisch ein Gang in die Fremde, sondern naturgemäß ist, ja im Grunde sogar naturgemäßer als der unbedingte Naturzustand, der deshalb im übrigen keineswegs mit dem theologischen status integritatis identifiziert werden darf (vgl. SdV § 115, S. 122). Auf diese Weise kann Eberhard die Entwicklung vom unbedingten Naturzustand über den natürlichen gesellschaftlichen und den natürlichen (d.h. allen Bürgern zukommenden) bürgerlichen bis hin zum besonderen bürgerlichen Zustand (vgl. SdV § 112, S. 129) als abgestuften Übergang zu wachsender Konkretion, Bestimmtheit und Einschränkung beschreiben, wobei die Verbindlichkeit zu den jeweiligen Pflichten zunimmt, deren Geltungsbereich aber abnimmt. Zugleich kann er die Dynamik dieser Entwicklung als naturgemäß und insofern als Pflicht bestimmen. Dabei ist aber wichtig zu sehen, daß Eberhard die einzelnen Stufen der Entwicklung nicht als abzustoßende und zu überwindende beschränkte Momente einer stetig aufwärts strebenden Bewegung auffaßt. Vielmehr wachsen dem 'a-sozialen' Naturzustand und den darin gegebenen Verbindlichkeiten nur gleichsam zusätzliche Bestimmungen zu, die die ursprünglichen Verbindlichkeiten nicht außer Geltung setzen, sondern im Gegenteil nur verstärken und ergänzen. Insofern bleibt der Bürger 'Naturwesen', und Eberhard merkt sogar an, daß auch in der bürgerlichen Gesellschaft Umstände eintreten können, wo Menschen handeln müssen, als befänden sie sich im unbedingten Stande der Natur (vgl. SdV § 115, S. 122). Umgekehrt ist damit klar, daß es keinen Bruch, keine Diskontinuität geben kann zwischen dem Menschen als Naturwesen und als Kulturwesen; auch der präkulturelle Mensch kann nicht als aller impliziten Verbindlichkeiten ledig gedacht werden, die für das bürgerliche Leben explizit konstitutiv sind. Ethik ist unter diesen Voraussetzungen diejenige praktische Wissenschaft, die die allgemeinsten Bestimmungen des Wesens und der Natur des Menschen erfaßt und daraus Verhaltensorientierungen ableitet, die für alle Menschen unter allen Umständen und Zuständen gelten. Allerdings bezieht sich die Ethik - und das erst unterscheidet sie vom Naturrecht - auf kontingente, d.h. auf faktisch unvollkommene Menschen, die ihre Anlagen nicht ganze Gesellschaften in dem so postulierten »unbedingte(n) Stand der Natur« zu erblicken, vgl. SdV § 114, S. 121.

104

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

immer und nicht vollständig realisieren, und zwar unter faktisch eingeschränkten Bedingungen. Die Bestimmungen der Ethik sind deshalb zwar umfassend, aber gleichwohl unvollkommen im Vergleich zum Naturrecht und abstrakt im Vergleich zu den 'SpezialWissenschaften' Ökonomik und Politik. Unter Voraussetzung dieser Einteilung der Handlungswissenschaften eignet sich nun in der Tat am ehesten die Ethik zur Erfassung des Phänomens Freundschaft, da Freundschaft einerseits keine besondere gesellschaftliche Funktionalität aufweist und deshalb auch in den Gesellschaftsund Staatswissenschaften keinen Platz findet (Freundschaft bildet sich, wie gezeigt, ja oft quer zu den spezifischen sozialen Differenzierungsformen) und andererseits auch keine kodifizier- und einklagbare Rechtsform ist, mithin auch keinen Gegenstand des Naturrechts darstellt. Es wird sich freilich an Eberhards eigener Behandlung des Freundschaftsthemas zeigen 13 , daß er die Zwischenstellung zwischen Individual- und Gesellschaftstheorie, die diesem gleichwohl eignet und die die Perspektive individueller Verhaltensorientierung ins unbestimmt Gesellschaftliche zu transzendieren nötigt, nicht hinreichend deutlich wahrnimmt. Doch zuvor sind die strukturierenden Grundzüge von Eberhards Sittenlehre zu entwickeln.

1.2. Glückseligkeit und Vollkommenheit Eberhard bestimmt die Ethik als die Wissenschaft der Kunstregeln der Glückseligkeit (vgl. SdV § 1, S. 1), d.h. als »Inbegriff« (ebd.) der Orientierung über die Mittel, wie der Mensch durch sein Handeln zur Erlangung seiner eigenen Glückseligkeit beitragen kann. In dieser Glückseligkeit liegt die wesensmäßige Bestimmung des Menschen, sie fällt deshalb zusammen mit seiner Vollkommenheit (vgl. SdV § 3, S. 3). Die Qualifizierung der Ethik als Kunstlehre 'gelingenden Lebens' bedeutet keineswegs ihre Herabminderung als Wissenschaft; im Gegenteil dient sie damit in einem eminenten Maße dem Endzweck der Philosophie überhaupt, »den Menschen gut und glückselig zu machen« (SdV § 1, S. 2). Eberhard sieht sich hier ganz in der antiken, speziell aristotelischen Tradition (vgl. ebd.), wie er auch keinen Widerspruch zur »natürlichen Theologie« zu erkennen vermag, die zwar »die Verherrlichung Gottes oder die Religion« als den »letzte(n) Zweck der Schöpfung« ansieht, der aber doch »ohne die Glückseligkeit der vernünftigen Geschöpfe nicht erreicht werden kann«, so daß das Streben

13

Vgl. unten 1.5.

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

105

nach eigener Glückseligkeit ipso facto der Verherrlichung Gottes dient (ebd., S. 2f.). Glückseligkeit ihrerseits wird definiert als Zustand, worin jemand »wahres Vergnügen ununterbrochen genießt« (SdV § 3, S. 3). Wahr ist ein Vergnügen dann, wenn es sich der »Empfindung wahrer Vollkommenheit« verdankt (ebd.). Kriterium der Wahrheit und der Dauerhaftigkeit eines Vergnügens kann freilich nicht sein Charakter als Vergnügen sein; es gibt ja auch scheinbare und flüchtige Vergnügen. Nicht die Intensität und Extension (vgl. SdV § 6, S. 6), sondern erst die externe Instanz der Vernunft gibt Auskunft über deren wahren Wert (vgl. SdV § 4, S. 5). Damit ist nun jedoch noch kein Urteil über Wertabstufungen unter den verschiedenen Arten von Vergnügen mitgesetzt, etwa dergestalt, daß intellektueller Genuß sinnlicher Freude vorzuziehen wäre. Eberhard arbeitet vielmehr das Profil der einzelnen Vergnügensarten heraus, die allererst in ihrer tunlichsten Kopräsenz und Zusammenstimmung den höchsten Grad von Glückseligkeit zu erreichen erlauben (vgl. SdV § 8, S. 8). Die Vernunft scheidet auf jeder Ebene nach Maßgabe des ihr eigenen Wissens von Vollkommenheit wahre von falschen Vergnügen, wobei nicht ausdrücklich erörtert wird, ob sie sich dabei auch an der Kompatibilität der Ebenen orientiert. Es entsteht so jedenfalls das interessante (fast modern-'ganzheitlich' anmutende) Konzept der Kopräsenz und Interferenz kategorial differenter anthropologischer 'Bestimmtheitsmatrices' 14 , die nur zusammen ein vollständiges Bild von Wirklichkeit und Bestimmung des Menschen ergeben. Dem Vergnügen der Sinne fällt dabei die Aufgabe der permanenten Irritation und Bereicherung durch neue Eindrücke zu (vgl. § 9, S. 9f.), während die Vergnügen des Geschmackes im Kontrast dazu »Continuität«, »Ordnung«, »EbenmaaßO«, »Schönheit« und Erhabenheit vermitteln (§ 10, S. 10; Hervorhebungen von mir). Das Denken wiederum erweckt Vergnügen des Verstandes nicht erst aufgrund der »Größe, Wichtigkeit« und des inneren »Zusammenhang(es)« (SdV § 11, S. 11) seiner Gegenstände, sondern schon durch seinen eigenen Vollzug als Streben nach klarer und deutlicher Erkenntnis. Vergnügen des Herzens schließlich verdanken sich der Wahrnehmung eigener oder fremder sittlicher Vollkommenheit. Erst im abgestimmten Verhältnis von Variation und Strukturierung von Sinnesdaten, rationaler Reflexivität, Moralität und Sozialität realisiert der Mensch also sein Wesen. Daraus folgt jedoch, da die menschliche Rezeptivitätskapazität begrenzt ist und mithin die bevorzugte Pflege einer Anlage die Einschränkung aller anderen nach sich zieht, daß keine Anlage zu der ihr immanenten 'absoluten' Vollkommenheit aus' 4 Zum Begriff vgl. oben Kap. 1, 3.

106

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

gebildet werden kann oder besser soll, sondern nur soweit, als sie in konkreter Situation die harmonische Entfaltung auch der anderen fördert oder zumindest nicht blockiert 15 . Kriterium der Handlungsorientierung für den konkreten Einzelnen in eingeschränkter Lage ist demnach nicht (oder nicht unmittelbar) das Ideal des allseits Perfekten, sondern die unter gegebenen Verhältnissen erreichbare gleichmäßige relative Realisierung aller Anlagen. Rationalistisch kann diese Konzeption jedenfalls nicht in dem Sinne genannt werden, daß sie eine einseitige Verstandeskultur propagierte 16 , sondern allenfalls dergestalt, daß sie der Vernunft eine Kompetenz der Einsicht in das Wesen der einzelnen Anlagen und in ihr je förderliches Mischungsverhältnis zuschreibt. Schon dies macht es freilich äußerst fraglich, ob Eberhards Ethik trotz der fundamentalen Stellung des Glückseligkeitsbegriffs als eudämonistisch im pejorativen Sinne gelten kann 17 .

1.3. Der Zusammenhang des ersten moralischen Grundsatzes und der Bestimmung der Wesensnatur des Menschen und der übrigen Dinge

1.3.1. Der Grundsatz der Selbstvervollkommnung Eberhard kann Glückseligkeit als Handlungsziel fassen, indem er sie mit der Vollkommenheit identifiziert, nun aber nicht mit einem allgemeinen unerreichbaren Ideal, sondern mit der bei eingeschränkten angeborenen Fähigkeiten, bei teilweise widriger Umwelt und deren Rückwirkung auf die Ausbildung von an sich durchaus gegebenen Fähigkeiten konkret erreichbaren individuellen Vollkommenheit. Diese Differenz ist keine kontingente, unter fiktiven idealen Bedingungen dahinfallende Einschränkung, sondern sie gehört in den Begriff des Menschen als endlicher Geist (vgl. SdV § 16, S. 18). Das erhellt aus Eberhards Behandlung des »höchsten Gutes« (SdV §§ 15f.), wo der »unveränderliche() Genu(ß) aller möglichen unbegränzten Vollkommenheiten« die Glückseligkeit Gottes ausmacht, während bei endlichen Geistern schon die »Empfindung eines ungehinderten Fortgangs zu immer größerer Vollkommenheit« (SdV § 15, S. 17) Glückseligkeit mit sich 15

Vgl. dazu ausführlich A T h D E 169 - 173, 180, 194; zum (aristotelischen!) Plädoyer für

16

Dagegen polemisiert Eberhard vielmehr, vgl. A T h D E 169 - 172.

17

Ähnlich urteilen Herms, Herkunft, 65, und G. Wenz: Geschichte der Versöhnungslehre. Band 1. München 1984, 193: »Von Eudämonismus also keine Spur, die Moral ist sich selbst genug!«

das Mittelmaß vgl. SdV § 161, S. 192

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

107

führt. Gott bildet demnach den Inbegriff aller Vollkommenheiten, während beim Menschen noch einmal unterschieden wird zwischen der gattungsmäßig erreichbaren (wenngleich eingeschränkten) höchsten Vollkommenheit und der unter kontingenten Umständen noch möglichen, je individuellen relativen Vollkommenheit (vgl. SdV § 16, S. 18). Es wird dabei jedoch nicht ganz klar, ob die 'Gattungsvollkommenheit' tatsächlich als faktisch erreichbar gedacht wird 1 8 oder ob sie doch als generalisierte Idealbeschreibung gelungenen Menschseins fungiert, die nur um der Zurechenbarkeit von Handlungen willen als erreichbar angenommen wird, während sie de facto den Status einer regulativen Idee hat. Nur unter der Bedingung der Erreichbarkeit läßt sich nach Eberhards Überzeugung jedenfalls Vollkommenheit zur sittlichen Forderung erheben (vgl. § 56, S. 57); nur dann ist es möglich, Glückseligkeit in der Gegenwart zu erlangen. Dabei ist von entscheidender Bedeutung gerade für den Vergleich mit Kant und mit Schleiermachers späterer Kritik des Eindringens von Glückseligkeitsorientierungen in die Sittenlehre 19 , daß Glückseligkeit bei Eberhard in keiner Weise als Folge oder gar Lohn sittlichen Verhaltens erscheint, sondern als dessen Implikat. Es gibt kein Handlungsziel Glückseligkeit, das nicht schon mit der Orientierung an Vollkommenheit mitgesetzt wäre. Deshalb ist Vollkommenheit der eigentlich grundlegende Begriff in Eberhards Ethik, und ganz konsequent lautet »der erste moralische Grundsatz, oder das höchste moralische Gesetz« (§ 44, S. 42), aus dem sich alle anderen moralischen Sätze müssen ableiten lassen: »suche durch deine freyen Handlungen dich vollkommener zu machen, und zwar aufs möglichste (...), und suche immer den höchsten Grad der Vollkommenheit zu erreichen, den du erreichen kannst« (ebd., S. 41 f.), oder kürzer: »mache dich und deinen Zustand vollkommner« (SdV § 60, S. 62)!

1.3.2. Selbstvervollkommnung und Altruismus Der Anspruch des Grundsatzes der Selbstvervollkommnung auf Fundamentalität und universale Geltung (vgl. auch SdV § 52, S. 53) führt von 18

Vgl. die vorsichtige Äußerung SdV § 96, S. 99f.: »Der Tugendhafte würde also alle gute Fertigkeiten des Menschen im höchsten Grade besitzen müssen. Wir nennen aber schon denjenigen so, der diesem Ideal am nächsten kömt, und der insonderheit die Tugenden besitzt, die den übrigen Fertigkeiten dasjenige Gleichgewicht geben, wodurch sie Tugenden bleiben.« - Zur Erreichbarkeit des anvisierten Zweckes als Kriterium der Wahrheit eines natürlichen moralischen Gesetzes vgl. SdV § 62, S. 64f.

19

Vgl. unten Kap. 4, 1. (besonders 1.2. - 1.4.).

108

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

selbst zu der Frage, ob und inwieweit er andere Verbindlichkeiten anerkennen kann als die der unmittelbaren Selbsterhaltung, ob und inwieweit er mithin aus sich selber heraus Mittel bereitstellt, die die Selbstvervollkommnung von der doch im Blick auf Hobbes abgelehnten eigenmächtigen Selbstdurchsetzung zu unterscheiden erlauben. Wie vermag Eberhard also entsprechend der traditionellen Einteilung der Objekte der Pflicht, die er selbst verwendet 20 - zunächst Pflichten gegen andere Menschen und dann auch Pflichten gegen Gott als notwendig aus dem Prinzip der Selbstvervollkommnung abzuleiten? Für die sozialen Pflichten gibt Eberhard dabei zwei Antworten: in der »Sittenlehre der Vernunft« mit dem Anspruch von Stringenz und Plausibilität des Prinzips auch in dieser Hinsicht, im »Philosophischen Magazin« 21 - in Reaktion auf kantianische Kritik - unter noch einmal verallgemeinernder Korrektur des Grundsatzes. In der »Sittenlehre der Vernunft« findet Eberhard (mit Baumgarten) den vernünftigen Grund für die notwendige Verbindung von Selbstvervollkommnung und Fremdvervollkommnung bei primärer Orientierung an ersterer darin, »daß, wenn der Mensch sich als Mittel vollkommner macht, er sich eben dadurch als Zweck vollkommner mache« (SdV § 45, S. 43). Hier sind Selbstvervollkommnung und Altruismus unmittelbarer verbunden als in der Wölfischen Begründung, »daß in der menschlichen Gesellschaft der Theil durch das Ganze verbessert werde« (ebd.), die aber als nachgeordnetes Argument durchaus verwendet wird, insofern sie sich bestimmten evidenten Erfahrungen verdankt, nämlich »daß die Vollkommenheit des einzelnen durch seine Mitmenschen (...) befördert« werden kann (ebd.), so daß die Sorge um deren Vollkommenheit mittelbar positiv auf die eigene zurückwirkt, und daß viele, ja »die mehresten menschlichen Werke nur durch Vereinigung Mehrerer zu einem beträchtlichen Grade der Vollkommenheit gebracht werden« können (ebd.). Verschiedene »Anlagen und Kräfte des Geistes und Leibes« des Einzelnen (ebd., S. 44) entfalten sich mithin allererst in der Gesellschaft, die zu fördern deshalb wiederum den Einzelnen fördert. Eberhard ist also durchaus fähig, die selbststeigernde Wirkung von sozialer Resonanz und Kooperation sowie von der Wahrnehmung der Sittlichkeit der eigenen altruistischen Handlungen zu erfassen 22 . Das ändert jedoch 2 0

Vgl. die Einteilung des zweiten Teils von SdV (ab § 128, S. 141), der die materialen Pflichten enthält.

21

Ueber den höchsten Grundsatz in den Moral. In: Philosophisches Magazin. Vierter Band. Halle 1791, Drittes Stück (1791), 366 - 372.

2 2

Vgl. oben Kap. 1, 1.2.1. und 2.2.

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

109

nichts daran, daß er in irritierender Eindeutigkeit an der Behauptung festhält, alle »angenehmen Empfindungen der Freundschaft, der Dankbarkeit u.s.w. oder des Vergnügens an fremder Glückseligkeit« ließen sich »in den Trieb nach eigner Glückseligkeit auflösen« (SdV § 52, S. 52f.). Ohne die Differenzierung, die noch die »Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens« gemacht hatte, nämlich daß es Empfindungen gebe, die das Wohl Anderer unmittelbar, das eigene aber nur mittelbar zum Gegenstand haben (Vgl. AThDE S. 46), gilt uneingeschränkt der Satz: »Wir begehren die Glückseligkeit anderer um unseres eigenen Vergnügens, und also um unserer eignen Glückseligkeit willen« (SdV § 52, S. 53). Gegen die Kritik, daß der Grundsatz der Selbstvervollkommnung nicht allgemein genug sei, die geselligen Pflichten als ursprünglich zu erweisen, erklärt Eberhard sich freilich in dem genannten Artikel seines »Philosophischen Magazins« dazu bereit, die Formulierung des ersten moralischen Grundsatzes dahingehend zu verändern, daß dieser die Pflichten der Selbstund der Fremdvervollkommnung als gleichursprünglich aus sich entläßt. Der Grundsatz lautet nun schlicht: »Wirke Vollkommenheit«!23 Konsequenzen dieser Veränderung des Grundsatzes für die Anlage der Sittenlehre hat Eberhard allerdings nicht bedacht; er verstamd sie vielmehr nur als Verdeutlichung seines Ansatzes 24 . Deutlicher macht diese Formulierung in der Tat die Abhängigkeit des Eberhardschen Konzepts der Ethik von einer universalen Theorie der Welt und des Seins überhaupt, die »die Natur des Menschen und der übrigen Dinge« (SdV § 29, S. 30; § 37, S. 36) erschließt; sie hätte Eberhard aber dazu führen können, die Relevanz komplexerer sozialtheoretischer Argumentationen für die Ethik selbst zu erkennen und so den betont individualzentrierten Ansatz zu transzendieren.

1.3.3. Selbstvervollkommnung und Gottesverehrung Ungleich aufwendiger als im Blick auf die geselligen Pflichten gerät Eberhard der Nachweis, daß auch die Pflichten gegen Gott im Grundsatz der Selbstvervollkommnung impliziert sind, und ungleich stärker greift er hier auf die der Ethik vorgegebene Wissenschaft der Erfassung des Wesens des betreffenden Gegenstandes, in diesem Falle also auf die natürliche Theolo23

Philosophisches Magazin IV/3, 368. Vgl. Philosophisches Magazin IV/3, 369. Dabei beruft er sich wiederum auf Baumgarten, der bereits »das höchste Gesetz der vernünftigen Selbstliebe nebst dem höchsten Gesetz der geselligen Pflichten dem absolut-ersten Gesetze der Vollkommenheit untergeordnet« habe.

110

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

gie, zurück. Die Schwierigkeiten vergrößern sich noch dadurch, daß Eberhard um der Allgemeingültigkeit der moralischen Gesetze willen daran festhalten muß, daß die Verbindlichkeit der Pflichten gegen sich selbst und gegen Andere unabhängig vom Glauben an Gott erkannt werden könne (vgl. SdV § 47 Anm.l, S. 46). Da er jedoch die Gottesverehrung als rational einsehbare Pflicht begreift, kann er andererseits auch keine materiale Vollständigkeit der religionslos zu erkennenden Gesetze zugeben. Freilich begnügt er sich nicht damit, die sozusagen auf festem Grund stehenden individuellen und sozialen Pflichten zu ergänzen um eine Reihe von religiösen Bestimmungen, von denen sie nicht berührt werden; er behauptet vielmehr, daß der »Gottesleugner« auch im Blick auf die Vervollkommnung seiner selbst und Anderer nur einen unzureichenden Minimalbestand an Forderungen wahrnehmen könne, insofern er sich nur am näheren, nicht aber am »entferntem Nutzen seiner freyen Handlungen« (SdV § 48, S. 47) zu orientieren vermöge 25 . Außerdem wird die Verbindlichkeit aller sittlichen Handlungen dadurch verstärkt, daß sie durch ihre Begründung im offenbaren Willen Gottes eine zusätzliche Motivation erfahren (vgl. SdV § 131, S. 146). Insofern kann man sagen, daß die areligiöse Geltung sittlicher Grundsätze für Eberhard letztlich nur eine Absicherung der Möglichkeit universaler sittlicher Zurechnung und der anthropologischen Fundierung der Ethik darstellt; denn erst durch die Religion gelangt der Mensch zu einer vollen Erfassung seiner selbst, seiner Pflichten samt deren Realisierungsbedingungen; dergestalt, als Faktor der Steigerung des Realisierungsbereichs und der Realisierungschancen sittlicher Orientierungen, ist die Gottesverehrung selber Pflicht und Implikat des Gebots der Selbstvervollkommnung. Umgekehrt ist jede Vervollkommnung, jede sittliche Entfaltung eigener Anlagen ipso facto Gottesdienst, ist jede Erkenntnis des Wesens des Menschen und der übrigen Dinge ipso facto Gotteserkenntnis (vgl. SdV § 133, S. 150f.) 26 , wobei nicht ausgeschlossen ist, daß es auch explizite Offenbarungen des göttlichen Willens gibt, die den immanenten Beweggründen zu bestimmten Handlungen noch extern-religiöse hinzufügen und damit gleichsam das 'Reich der Natur' »in dem Lichte« des 'Reiches der Gnade' erscheinen lassen (SdV § 50, S. 49 27 ). Unklar ist jedoch, ob

25

Deutlich ist hier die Bedeutung temporaler Perspektiven für die Konzeption. Vgl. auch AThDE 230: Der Gottesgedanke ist der deutlichste Gedanke, »von dem wir in allem deutlichen Denken etwas vorstellen«. Der Gottesgedanke wird aber nur »stufenweise in uns: so wie stufenweise die Summe unserer deutlichen Vorstellungen zunimmt«.

27

Die Terminologie stammt offenkundig von Leibniz.

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

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man diese religiöse Umdeutung des Sinnes konkreter Handlungen - Eberhard denkt an unangenehme Handlungen, die im Lichte der Religion den positiven Sinn einer asketischen Übung oder Prüfung erhalten (vgl. ebd) legitimerweise noch als Verstärkung der natürlichen Verbindlichkeit bezeichnen kann. Wichtiger scheint freilich die Funktion dieser Überlegung, der Behauptung der Kirchenlehre, über explizite Willensäußerungen Gottes zu verfügen, einen Platz im System der rationalen Sittenlehre zugestehen zu können, und zwar an nicht-fundamentaler Stelle. Erwiesen ist damit nicht mehr, aber auch nicht weniger - und für Eberhards Auditorium, angehende Geistliche 28 , wichtig genug! - die Kompatibilität dieses Teiles der Kirchenlehre mit einer nicht aus dieser selbst, sondern aus der Evidenz der vernünftigen Wesenserkenntnis begründeten Ethik. Insgesamt ist das Problem der Vermittlung von Selbstvervollkommnung und Gottesverehrung ein anderes als das der Verbindung von Selbst- und Fremdvervollkommnung, insofern Gott seiner Natur gemäß nicht unter die zu vervollkommnenden Gegenstände fallt. Er ist mithin nur in uneigentlichem Sinn als Objekt der Pflicht anzusprechen (vgl. SdV § 87, S. 87). Deshalb läßt sich die strikte Rückbindung der Gottesverehrung an die Selbstentfaltung der Bestimmung des verehrenden Einzelnen im Rahmen einer auf //«/¡d/M/igsorientierung abzielenden Ethik nur um den Preis der Umdeutung dieses Theorieprogramms selbst als unstatthafte Funktionalisierung Gottes für die Selbstverwirklichung kritisieren, wird sie doch auf dem Gottesbegriff selber begründet, und wird dieser doch auf die Erkenntnis der Wirklichkeit als ganzer bezogen. Insofern ist der primäre Bezugspunkt der religiösen Thematik in Eberhards Ethik weniger die materiale Handlungsanleitung zur Gottesverehrung (wenngleich die Behandlung der »Pflichten gegen Gott« den ersten und ausführlichsten Teil der materialen Sittenlehre ausmacht [SdV S. 142 - 185]) als vielmehr die Konstitution des Handlungsorientierung allererst ermöglichenden Wissens von Wesen und Natur des Menschen und der übrigen Dinge, mithin die Gegebenheitsweise und der Inhalt des Vollkommenheitswissens.

1.4. Vollkommenheit und Vollkommenheitswissen Eine Ethik, die als normative Handlungstheorie auf einer Beschreibung 'gelingenden Lebens' im Rahmen einer Beschreibung von Wirklichkeit überhaupt aufruht, muß, wenn sie nicht auf Allgemeingültigkeit verzichten

Vgl. SdV, unpaginierte Einleitung, letzte Seite.

112

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

will, einerseits die Allgemeingültigkeit jener basalen Beschreibungen behaupten und begründen, andererseits aber faktischen Dissens in bezug auf die Erhebbarkeit solcher allgemeinen Beschreibungen, in bezug auf deren konkrete Gestalt und in bezug auf daraus abzuleitende Handlungsorientierungen erklären können. Die zweite Aufgabe löst Eberhard, indem er sowohl interkulturelle als auch innerhalb einer Kultur zwischen einzelnen Individuen oder Gruppen gegebene Differenzen der Bestimmungen von Sittlichkeit auf unterschiedliche Grade der Entwicklung von Rationalität zurückführt. Mit fortschreitender Außlärung werden nach seiner Überzeugung eben die moralischen Standards allgemeine Evidenz gewinnen, die jetzt nur von den ausgebildetsten Individuen elaborierter Kulturen aus Einsicht vertreten werden (vgl. SdV §§ 28f., S. 29f.). Größere Schwierigkeit hat Eberhard dagegen mit der ersten Aufgabe, die in der Behandlung der zweiten schon als gelöst vorausgesetzt ist. Im Verlauf des ersten Teils der »Sittenlehre der Vernunft« erwägt er mehrere in der Tradition vorgegebene Möglichkeiten der Gewinnung allgemeiner Evidenz und versucht deren Wahrheitsmomente in ein Konzept empirisch illustrierter und psychologisch abgestützter Rationalität aufzuheben. Schon im »Vorbericht« erörtert er seine Methode, mit der er beansprucht, die größere Nähe zu den Phänomenen und zum »Erfahrungsschatz« der durchschnittlichen Bildung bei den »Sittenlehrer(n) andrer Nationen« (er meint damit wohl französische und englisch-schottische Ethiker) zu verbinden mit der »tiefsinnige(n) Gründlichkeit« und synthetischen Kraft der deutschen Schulphilosophie. Dabei soll sich im Ausgang von den konkreten Empfindungen zunächst analytisch deren »Unzulänglichkeit« in Hinblick auf die Beurteilung ihrer eigenen Sittlichkeit erweisen, woraufhin in einem synthetisch-deduktiven Arbeitsgang die »höhern Gründe der Moral«, d.h. rationale Bestimmungen der Moralität aufgesucht werden sollen, die schließlich in einem dritten Schritt in die Empfindung 'zurückgebracht' werden müssen zum Zwecke konkreter Handlungsorientierung 29 . Freilich vermag Eberhard nicht deutlich zu machen, inwiefern der induktiv-analytische Schritt, der doch wohl als ein Prozeß der Abstraktion von den Einzelempfindungen sich vollzieht, für die apriorische, d.h. von spezifischer Erfahrung unabhängige Konstitution moralischen Wissens von notwendiger Bedeutung ist. Es scheint, als erschöpfe diese sich in der Benennung und Systematisierung, Typisierung und Formalisierung eines reichen empirischen Materialbestands und eben in dem gleichsam apagogischen Nachweis

Vgl. dazu auch AThDE 232 die Bemerkung, »daß wenn [die] Gedanken sollen Entschließungen werden: sie wieder in Empfindungen zurück gebracht werden müssen«.

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

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der normativen Insuffizienz aller solcher induktiven Systematisierungen, so daß damit nicht mehr als die Möglichkeit einer mittelbaren Verifikation rationaler ethischer Sätze durch eine große Menge von Einzelerfahrungen und ein ebenso mittelbares Argument für die Notwendigkeit einer rationalen Sittenlehre gewonnen wäre. Zumindest der illustrative Gehalt der empirischen Betrachtung ließe sich jedoch ohne weiteres auch im dritten Schritt der Applikation der Sittengesetze auf konkrete Situationen einholen. Dagegen soll der empfindungsinterne Insuffizienznachweis sicherlich die auf einer universal geltenden Wesensbeschreibung fundierte Ethik abschirmen gegen empiristische, individuelle und kulturelle evolutionäre Veränderungen berücksichtigende Moraltheorien, die auf solche Wesensbeschreibungen bzw. auf den Anspruch von deren Allgemeinheit meinen verzichten zu können oder (aufgrund epistemologischer Bedenken oder auch aufgrund der Wahrnehmung faktisch unaufhebbaren Dissenses) zu müssen. Ein ähnliches Interesse leitet auch Eberhards Behandlung des »moralischen Sinnes« (SdV §§ 51-56, S. 50 - 58) und des Gewissens (SdV §§ 67-82, S. 69 - 81; bes. §§ 70-72 und 81f.). Er legt größten Wert auf die Feststellung, daß mit dem moralischen Sinn keine Instanz gegeben sei, die unabhängig vom Gericht der Vernunft über die Sittlichkeit von Handlungen zu urteilen vermöchte (vgl. SdV § 69, S. 71). Der moralische Sinn ist keine eigenständige und ursprüngliche 'Provinz der Seele', sondern nur eine besondere Vergegenwärtigungsweise der Urteile der Vernunft. Verdanken sich diese nämlich einem vollständigen Syllogismus, wo den Obersatz das Sittengesetz, den Untersatz die konkrete Handlung, die Konklusion das Urteil über die Sittlichkeit dieser Handlung (und des Handelnden) bildet (vgl. SdV § 69, S. 70), die dann deutlich - wenn auch aufgrund der Umständlichkeit des Schlusses nicht lebhaft 3 0 - vorgestellt wird, so appräsentiert der moralische Sinn die Sittlichkeit der Handlung umgekehrt zwar schnell und klar und lebhaft (vgl. SdV § 51, S. 50f.), aber nicht deutlich. Er hat deshalb die wichtige Funktion der sittlichen Orientierung in durchschnittlichen Alltagssituationen, wo gar keine Zeit ist zu expliziter und ausführlicher sittlicher Reflexion. Ebenso ist er die Fähigkeit, sich in neuen und unübersichtlichen Situationen und unter Zeitdruck durch intuitive Anwendung der Beurteilungen bekannter Handlungen ethisch zurecht zu finden. Er setzt mithin Erfahrungen rationaler sittlicher Verhaltensbestimmung voraus. Daraus folgt, daß er nicht angeboren sein kann, sondern durch stete Übung des sittlichen Urteilsvermögens allererst erworben und beständig geübt, korrigiert und erweitert werden muß. Das heißt aber zugleich, daß er nicht bei

Vgl. zur abnehmenden Lebhaftigkeit bei steigender Deutlichkeit A T h D E 77 u.ö.

114

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

allen Menschen in gleicher Stärke und gleicher Ausprägung vorausgesetzt werden darf, sondern daß er nur in je individueller Gestalt existiert. Deshalb kann sein Urteil an sich weder subjektive Gewißheit noch gar intersubjektive Verbindlichkeit begründen bzw. genauer: die ihm gegebenenfalls innewohnende Gewißheit und Verbindlichkeit ist eine abgeleitete von Gnaden der Allgemeingültigkeit des in ihm appräsentierten moralischen Wissens. Analog gilt dasselbe auch vom Gewissen, das sich vom moralischen Sinn darin unterscheidet, daß dieser sich tendenziell eher auf die Fähigkeit der Beurteilung der Handlungen Anderer bezieht (weshalb etwa auch Wohlwollen darunter fällt; vgl. SdV § § 51 f., S. 51 - 53), während jenes im strikten Sinne Se/tobeurteilung ist (vgl. SdV § 70, S. 72; zum Terminus »Selbstbeurtheilung« vgl. auch § 160, S. 190). Genauer rechnet sich die Person im Gewissen die Sittlichkeit oder Unsittlichkeit einer Handlung, die durch den oben beschriebenen Vernunftschluß (oder durch dessen implizite Form, den moralischen Sinn) erhoben wurde, selbst zu. Insofern freilich die Conclusio dieses Vernunftschlusses selber sich bereits nicht nur auf die Handlung, sondern auch auf den Handelnden beziehen kann, kann das Gewissen selber als ein solcher Vernunftschluß bezeichnet werden, sofern dieser ein Urteil über Handeln und Person des Urteilenden selbst intendiert (vgl. SdV § 70, S. 72). Wie jede Zurechnung setzt dann auch das Gewissen Erkenntnis der Sittlichkeit an sich voraus (vgl. ebd., S. 71), anstatt sie allererst zu konstituieren. Allerdings verfügt das Gewissen über einen besonders großen Bereich sowohl möglicher zu beurteilender Handlungen als auch anzuwendender Gesetze, da im Gewissensurteil als dem inneren Gericht oder inneren Richterstuhl des Menschen nicht nur die äußeren Handlungen nach äußeren Kriterien, sondern auch die inneren Handlungen (d.h.: nicht sozial wahrnehmbare Intentionen, Neigungen, Gedanken etc.) nach inneren (d.h. auf solche Handlungen bezogenen) Gesetzen beurteilt werden können. Diese größere Intimität und zugleich Universalität unterscheidet das Gewissensurteil von allen anderen sozialen Beurteilungsinstanzen, so daß dem forum conscientiae in eminentem Maße der Titel des forum rationis zukommt (vgl. SdV § 81, S. 81), Eberhard es sogar aufgrund seiner Allgemeinheit und Unabhängigkeit mit dem forum divinum gleichsetzen kann (vgl. SdV § 82, S. 81). Dies paßt jedoch nur unter der Bedingung zu der Forderung nach Pflege und Berichtigung des Gewissens (vgl. SdV §§ 162f., S. 194f.), daß jede rationale Erkenntnis ipso facto Gotteserkenntnis ist 31 und daß es deshalb Pflicht jedes Menschen ist, durch möglichst 31

Vgl. oben 1.3.3.

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

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große Erweiterung, Stärkung und Differenzierung des Erkenntnisvermögens - und das heißt nach dem Gesagten: besonders durch die Anwendung jenes Vermögens auf sich selbst im Gewissensurteil - die Kenntnis Gottes zu vermehren. Der rationale Zuschnitt der Beschreibung des Gewissens ebenso wie die Möglichkeit eines irrenden Gewissens (vgl. SdV §§ 71 f., S. 73) deutet indes darauf hin, daß das Gewissen selbst als forum divinum nicht sein Wahrheitskriterium in sich selber hat, sondern auf einem objektiven Wissen beruht und sich daran auszurichten hat. Dieses objektive Wissen darf sich in seiner Geltung freilich auch nicht allein in den positiven Gesetzen, sei es eines bestimmten Staates, sei es einer bestimmten Religion, gründen. Diese sind vielmehr ihrerseits, wie oben gezeigt 3 2 , Spezifikationen und Expressionen des einen universalen Naturgesetzes der Vernunft, die zwar auf der Ebene der subjektiven Handlungsmotivation dessen Verbindlichkeit und auf der Ebene sozialer Ethosbildung dessen Kommunikabilität erhöhen, die aber zu keinen dem Vernunftgesetz widersprechenden Handlungsbeurteilungen kommen dürfen, so daß sie in diesem ihr Kriterium finden. Nur aufgrund ihrer konkretisierenden, objektivierenden, intersubjektive Verständigung ermöglichenden und deshalb die Realisierungschancen von Sittlichkeit steigernden Funktion, mithin auf vermittelte Weise, sind sie selber notwendig und können Verbindlichkeit beanspruchen 33 . Daß dies so ist, daß also 'hinter' allen positiven Bestimmungen bürgerlicher oder religiöser Gesetzgebung ein jeden jeweiligen Geltungsbereich transzendierendes allgemeines Naturgesetz, eine anthropologisch fundamentale universale innere Sittlichkeit steht oder besser stehen muß (vgl. SdV § 25, S. 26), begründet Eberhard nun interessanterweise nicht etwa apriorisch-deduktiv, sondern funktional zu den Bedürfnissen von Staaten und Gesellschaften (vgl. dazu und zum folgenden SdV § 27, S. 28). Denn ohne die Annahme einer solchen mit dem Menschsein selbst und unabhängig von allen sozialen Konkretionen, ja von allen Objektivierungen und Versprachlichungen und deshalb unabhängig selbst vom subjektiven Wissen gegebenen und insofern auch kontrafaktisch zusprechbaren inneren Sittlichkeit könnte es kein Naturrecht als quasi-kodifizierte Form solcher allgemeinen Verbindlichkeit geben. Ohne Naturrecht aber gäbe es kein Völkerrecht, es wären also keine Rechtsverhältnisse zwischen Staaten unterschiedlicher

3 2

Vgl. oben 1.1. und 1.3.3.

33

Deshalb kritisiert Eberhard Shaftesbury, der äußere Sittlichkeit ganz verworfen habe. »Allein sie müssen beyde [sc. äußere und innere Sittlichkeitl mit einander verbunden werden« (SdV § 26, S. 28).

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Rechtsordnung möglich. Ohne Naturrecht gälten bürgerliche Gesetze nur für die Bürger des Staates, der sie erlassen hat; eine Jurisdiktion über Ausländer ließe sich nach Eberhards Meinung dann nicht mehr begründen 34 . Wichtiger ist freilich, daß ohne Naturrecht - besser spräche man hier von natürlicher Verbindlichkeit - auch innerstaatlich kein weiterer Bereich konventionell-impliziter oder unterhalb des iustitiablen Niveaus expliziter Moralität von der positiv-juridischen Legalität im engen Sinne abgehoben werden könnte, so daß eine gesellschaftliche Ordnung nur durch durchgängige Juridisierung der Lebensverhältnisse in Verbindung mit einem strikten, machtgeschützten Rechtspositivismus aufrechtzuerhalten wäre. All diese Überlegungen plausibilisieren sicherlich das Bedürfnis nach einer allgemeinen, von allen partikularen Bestimmtheiten jeder kontingenten Situation unabhängigen bzw. diesen vorgeordneten Instanz der Handlungsbeurteilung und Verhaltensorientierung und darin eingeschlossen nach einer universalen, rationaler Verifikation einsichtigen Beschreibung von Wesen und Natur des Menschen und der übrigen Dinge, und sie erhellen durchaus, wie Eberhard die Ansprüche alternativer Fundierungsversuche der Ethik - gerade weil sie zum Teil (etwa im Fall der moralsense-Theorie) zwar bereits auf eine Plausibilitätskrise rationaler Ethik reagieren, aber dennoch weiterhin universale Geltung anstreben - zu kritisieren vermag und zugleich das, worin er deren Stärke erblickt, in sein eigenes Konzept zu integrieren versucht 35 . Sie erweisen aber noch nicht die Möglichkeit eines solchen Konzeptes und ersetzen nicht seine Durchführung. Wie konstituiert sich also nach Eberhard das Wissen von der Vollkommenheit und Bestimmung des Menschen in Verbindung mit rationaler Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit überhaupt? Hier zeigt sich nun allerdings, daß die Bestimmung der »wesentliche(n) Vollkommenheit des Menschen« (SdV § 22, S. 23) in sehr viel engerer Beziehung auf die Empirie erfolgt, als der Anspruch auf rationale Einsichtigkeit verrät. Denn daß diese wesentliche Vollkommenheit des Menschen »in der Abzweckung seiner Fähigkeiten und Kräfte zur Glückseligkeit« besteht (ebd.), läßt sich nach Eberhard aufgrund der »menschliche(n) Schwachheit nicht aus Begriffen herleiten« (ebd., S. 23f.), der Mensch muß dies vielmehr »aus der Erfahrung kennen lernen« (ebd., S. 24). Diese macht nämlich evident, daß der Mensch mit solchen Vermögen des Körpers, der

3 4

35

Ein Argument, das nicht einleuchtet, läßt sich doch der Geltungsbereich eines bürgerlichen Rechtssystems statt auf das Staatsvolk auch auf das Staatsgebiet beziehen. Zugleich erlauben sie die Erstellung einer Art Ahnenreihe. Vgl. besonders SdV § 26, S. 27f.

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

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Begehrungskraft und der Erkenntniskraft ausgestattet ist, die ihn in voll hinreichendem Maße zur physischen Selbsterhaltung und Reproduktion befähigen, ihn schon gewissermaßen naturaliter zum Guten hinneigen und ihm schließlich auch die reflexe Einsicht in das wahre Gute (und mithin dessen freie Wahl) ermöglichen 36 . Selbst wenn man diese Behauptungen als Erfahrungsevidenz akzeptiert, bleibt die damit 'erwiesene' Definition der Vollkommenheit in mehrfacher Hinsicht mit schweren Unklarheiten und Inkonsistenzen belastet. Beachtet man zunächst, daß Eberhard Glückseligkeit als Zustand bestimmt, worin jemand ein als Empfindung wahrer Vollkommenheit wahres Vergnügen ununterbrochen genießt (vgl. SdV § 3, S. 3), bzw. als den Genuß einer »fortschreitenden«, d.h. die Differenz von bereits erreichter und noch ausstehender Vollkommenheit genußsteigernd integrierenden Vollkommenheit (vgl. § 17, S. 20), so gewinnt die Definition der wesentlichen Vollkommenheit des Menschen zirkulären Charakter. Wesentliche Vollkommenheit besteht dann in der Anlage zum Genuß der Vollkommenheit. Diese ursprüngliche Vollkommenheit »zufällig«, d.h. in den konkreten einzelnen Handlungen zu realisieren, die einzelnen Fähigkeiten in förderlichem Zusammenhang zu entfalten, zu üben, zu steigern, bildet dann die »Bestimmung des Menschen« (SdV § 23, S. 25). Von entscheidender Bedeutung für die Ethik wird deshalb in der Tat die empirische Psychologie, die die einzelnen Fähigkeiten der Seele aufsucht, analysiert und systematisiert, ihre innere Einheit und ihr Verhältnis untereinander erhellt und dadurch aufzeigt, wie durch die einseitige Ausbildung einer Fähigkeit andere verkümmern und wie umgekehrt durch das beständige Bemühen um ein Gleichgewicht aller Fähigkeiten die höchste Summe realisierter Fähigkeiten erreicht werden kann. Dies wiederum interpretiert die Vernunft als die beste Erfüllung der menschlichen Bestimmung. Die empirische Psychologie (die noch zu erweitern wäre zu einer empirischen Anthropologie, die dann auch die physischen und sozialen Bedingungen und Bedingtheiten konkreter Existenz enthielte) liefert mithin die materiale Bestimmtheit der wesentlichen Vollkommenheit. Sie liefert auch selbst die Begründung ihrer eigenen Rationalität, insofern ja wie gezeigt zu den empirisch ablesbaren Fähigkeiten des Menschen auch die der rationalen Einsicht in das wahre Gute (d.h. in die wesentliche Vollkommenheit des Menschen) gehört, dessen Teil sie selbst ist und als dessen Teil sie sich selbst erkennt.

Daß der Mensch sich von Natur aus dem Guten - freilich dem für ihn Guten, ihm subjektiv als gut Erscheinenden - hinneigt, ist schon ein Gedanke des Aristoteles. Vgl. NE 1094a.

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I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

Eberhards Rationalitätsanspruch steht und fällt somit mit der inneren Stringenz und mit der Plausibilität einer empirischen Beschreibung der menschlichen Vermögen, die die Fähigkeit zu rationaler Einsicht, und d.h. die Annahme von deren Sachhaltigkeit einschließt. Das Bedürfiiis nach Rationalität und Allgemeingültigkeit mag die Zustimmung zu dieser Beschreibung erleichtern, vermag sie jedoch nicht zu erzwingen. Mehr noch: Der Begriff der ursprünglichen menschlichen Vollkommenheit, der das Wissen von dieser Vollkommenheit enthält, ist nach Eberhards Aussage weder selbst aus reiner Vernunft deduzierbar, noch ist er dergestalt empirisch allgemein, daß er an jedem Exemplar der Gattung Mensch zu jeder Zeit aufgefunden werden könnte. Denn zumindest das explizite Wissen der eigenen ursprünglichen Vollkommenheit und mithin der eigenen Bestimmung ist offenkundig nicht allgemein verbreitet, wie Eberhard ja selbst durch Hinweise auf Differenzen der Sittlichkeit verschiedener Völker, auf Dissens der Philosophenschulen hinsichtlich der Erfassung von Wesen und Bestimmung des Menschen und daraus folgender Handlungsziele, auf die Möglichkeit irrenden Gewissens und überhaupt auf die faktische Schwäche des menschlichen Geistes eindrucksvoll belegt. Da zur wesentlichen Vollkommenheit aber die Anlage zu ihrer Erkenntnis hinzugehört, für diese Erkenntnis jedoch umgekehrt die Erkenntnis jener Anlage vorausgesetzt werden muß, ist das Fehlen reflexen Wissens der Vollkommenheit einerseits eine defizitäre Form dieser selbst, und andererseits wird dadurch die Möglichkeit der »zufälligen« Realisierung von Vollkommenheit, d.h. der Selbstvervollkommnung problematisch. Für unseren Zusammenhang heißt das, daß der Begriff der Vollkommenheit nicht an beliebigen Individuen abgelesen werden kann, sondern nur an solchen (oder auch: durch solche in ihrer Selbsterfahrung), die ein Vollkommenheitswissen bereits erlangt haben. Die Selektion der empirischen Realität wesentlicher menschlicher Vollkommenheit setzt mithin deren Begriff bereits voraus, obwohl dieser doch aufgrund der entsprechenden empirischen Realität allererst erhoben werden soll. Die Aufklärung, vermittels deren die Menschen zum reflexen Wissen ihrer eigenen Bestimmung und zu einem darauf abgestimmten Leben geführt werden sollen, orientiert sich dann an bestimmten Selbsterfahrungen und Selbstbeschreibungen, deren Normativität in einem ungeklärten und bis auf weiteres widersprüchlichen Verhältnis zu ihrer Empirizität steht. Dieser Widerspruch liegt letztlich darin begründet, daß Eberhard ein Konzept endlicher Erkenntnis vertritt, das er nicht mit seinem Verständnis der durchgängigen rationalen Transparenz der Wirklichkeit zu vereinen vermag. Es gelingt ihm nicht zu zeigen, inwiefern der induktivempirische und der deduktive Erkenntnisgang in nicht-zirkulärer Weise auf-

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

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einander angewiesen sind. Sein Vollkommenheitsbegriff ist rein deduktiv gewonnen, obwohl nach seiner eigenen Theorie die menschliche Erkenntniskraft zu völliger Unabhängigkeit von der Empirie gar nicht fähig ist (vgl. AThDE 109f.; 114f.). Umgekehrt kann die Empirie zugestandenermaßen die Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit des Vollkommenheitswissens gar nicht erweisen, auf die Eberhard aber aus den geschilderten funktionalen Gründen nicht verzichten zu können glaubt. Dieser angesichts von Eberhards Anspruch und Selbstverständnis allerdings fatale Befund darf freilich nicht dazu führen, in Überschätzung von Begründungsfragen die Leistungsfähigkeit der Theorie nun pauschal abzuwerten 37 . Stellt man nämlich die Frage nach der Konstitution jener empirischen Beschreibung der menschlichen Anlagen zurück und akzeptiert ihre Gültigkeit pragmatisch - was angesichts der als faktisch letztlich funktional auf die universale Zurechenbarkeit von Handlungen und auf die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher und zwischenstaatlicher Ordnung bezogen herausgearbeiteten Begründung von Eberhards Rationalitätsanspruch kein ganz abwegiges Verfahren sein dürfte -, so bleibt doch eine in sich sehr differenzierte, reich instrumentierte und integrationsfähige Theorie menschlicher Handlungsorientierung, die in ihrem materialen Vollzug das Problem der Beschränktheit subjektiven Wissens mitreflektiert, ebenso wie ihr die Erhellung der Bedingungen und die Förderung kontingenter Realisierung von Sittlichkeit im Kontext eines Theorems der Vervollkommnung der Welt als Verherrlichung Gottes zum entscheidenden Thema wird. Vervollkommnung oder Realisierung von Vollkommenheit läßt sich hier fassen als möglichst reiche Entfaltung des im Wesen des Handelnden selbst und der Objekte seines Handelns Angelegten. Dem liegt einerseits das - schulphilosophische (und auf Leibniz zurückgehende) - Konzept einer Steigerung der Realität (Vollkommenheit) durch Realisierung einer möglichst großen Fülle von Möglichem aller Seinsstufen zugrunde, das gerade in Eberhards Ideal der 'ganzheitlichen' Förderung aller menschlichen Fähigkeiten in deren Abwechslung und Zusammenspiel sich niedergeschlagen hat; andererseits lassen sich Implikationen nicht übersehen, die verständlich machen, warum Eberhard immer wieder die Nähe zu Aristoteles betont. Denn Eberhards Wirklichkeitsverständnis hat deutlich eine entelechisch-teleologische Struktur, indem jedem einzelnen Seienden eine wesentliche Bestimmung inne37

Dies gilt zumal bei einem primären Interesse an der Rezeption dieser Theorie, da Rezeption immer selektiv verfährt. Es ist deshalb durchaus denkbar, daß Schleiermacher trotz und unabhängig von seiner Kritik am Rationalitätsverständnis (Aristoteles' und) der Schulphilosophie Elemente und Denkformen der Theorie Eberhards übernommen, beibehalten und weitergeführt hat.

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wohnt, die es im Verlauf seines Werdens zu entfalten, zu realisieren hat; partikulare Zwecke sind wiederum aufeinander bezogen durch ihren gemeinsamen Bezug auf höherstufige Zwecke, alle Zwecke konvergieren schließlich im zweckhaften Zusammenhang des Wirklichkeitsganzen. Dieser seinerseits wird schöpfungstheologisch (oder besser: naturtheologisch) begründet. Menschliches Handeln darf freilich nicht in Analogie zum alternativelosen Selbstvollzug der Entelechie in der Natur gedacht werden; im Gegenteil setzt die Ethik als Theorie freier Handlungen (vgl. SdV §§ lf.; §§ 23f.) die Möglichkeit des Werfehlens des Zweckes und mithin die Notwendigkeit der Erkenntnis und des Bejahens und Wählens des Zweckgemäßen und als solchen Guten ausdrücklich voraus. Man muß deshalb von einer kulturellen Entelechie sprechen, in der das Erreichen des Zweckes explizit Aufgabe ist. Während deshalb bei den 'unbeseelten Dingen' menschliches Handeln zur Entfaltung von deren innerem Wesen unnötig ist (was die Beseitigung von äußeren Hindernissen dieser Entfaltung einerseits, die Verwendung der so sich selbst realisierenden Wesen zur Realisierung des eigenen Zweckes nicht aus-, sondern einschließt), ist es beim Menschen nicht so selbstverständlich, daß er von sich aus faktisch-kontingent seiner Bestimmung gemäß handelt und lebt, als daß es nicht der wechselseitigen kommunikativen Förderung des Wissens und der Realisierung der menschlichen Bestimmung bedürfte. Verbindet man dies nun noch ausdrücklich mit der genannten schulmäßigen Definition von Vollkommenheit als Besitz der Anlage zu einer Vielzahl von Fähigkeiten und als Auftrag zu deren harmonischer Realisierung 38 , dann heißt das, daß der Mensch eben zur extensiven und harmonischen Entfaltung seiner physischen, psychischen und intellektuellen Fähigkeiten der Unterstützung durch Andere bedarf, und daß solche Unterstützung umgekehrt Implikat der Forderung nach Förderung der Vollkommenheit in sich und anderem ist, in welcher Förderung die »zufällige« Vollkommenheit geradezu besteht.

1.5. Freundschaft als Konkretion der allgemeinen Menschenliebe Erst mit diesen Überlegungen ist das Niveau erreicht, auf dem Schleiermachers Anmerkungen zur Aristotelischen Freundschaftstheorie ansetzen. Man kann freilich nicht sagen, daß Eberhards eigene Behandlung des Freundschaftsthemas in der »Sittenlehre der Vernunft« einen entsprechenden Genau hier greift im übrigen Eberhards Übernahme von Aristoteles' Bestimmung der Tugend als der anzustrebenden Mitte zwischen zwei Extremen des Verhaltens (vgl. SdV § 157, S. 186).

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

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Differenzierungsgrad erreicht. Er behandelt Freundschaft unter den »Pflichten gegen andere Menschen« (so die Überschrift des III. Hauptstückes des zweiten Teiles der »Sittenlehre der Vernunft«, S. 225) als eine der Formen, worin der Pflicht, »von unserer Menschenliebe Zeichen zu geben«, Genüge getan wird (SdV § 184, S. 226ff.). Dabei kann er Freundschaft nur graduell von allgemeiner Philanthropie unterscheiden, und zwar als »besondre« von der »allgemeine(n)«. Da diese bereits als das »Vergnügen an den Vollkommenheiten des Freundes« und als die »Neigung sie zu vermehren«, insofern aber als »vernünftige«, d.h. von Leidenschaften unverzerrte Form der Liebe beschrieben ist, kann Freundschaft im engeren Sinne nur noch als deren Intensivierung und Konkretisierung gefaßt werden, wenn sie nicht gar - von Eberhard nicht erwähnt - als leidenschaftsbetonte Depravationsform der Menschenliebe erscheinen soll. Schleiermachers grundlegende Differenzierung zwischen allgemeinem Wohlwollen und Wohltun einerseits, das nun in der Tat Pflicht ist und deshalb von Sympathie unabhängig sein muß, und der Freundschaft als der wechselseitigen Freude an der irreduziblen Besonderheit konkreter Anderer, deren Ergründung und Kommunikation, verbunden mit wechselseitiger Versittlichung, andererseits ist in diesem Kontext gar nicht denkbar. Was bei Schleiermacher eine qualitative Differenz bildet, ist bei Eberhard nur eine quantitative. Besteht Freundschaft bei Schleiermacher in einem komplexen Ineinanderwirken von drei Funktionen - der wechselseitigen Kommunikation von eigener und von fremder Individualität sowie der wechselseitigen Förderung von Sittlichkeit 39 -, so bei Eberhard nur in der effektiveren Wahrnehmung einer, nämlich der versittlichenden Funktion. Der Einwand, daß in dieser - wie doch gezeigt - die Wahrnehmung und Entfaltung aller Eigenschaften und Fähigkeiten des Anderen implizit enthalten sei, ist nicht zureichend, gewinnt Schleiermachers Theorie ihre Komplexität und Dichte doch allererst in der Darstellung jener wechselseitigen konkreten Prozesse, die Eberhard ausspart, und verspielt Eberhard durch dieses Aussparen die Theoriemittel, die eine Differenzierung zwischen Philanthropie und Freundschaft ermöglichten. Zwar spricht Eberhard die von Schleiermacher behandelten Fragekomplexe »besonderer« Freundschaft durchaus an - äußere Umstände (Ungleichheit des Standes, Eifersucht etc.) können verhindern, daß »persönliche Vorzüge« freundschaftsbildend wirken, deshalb ist »eine gewisse Gleichheit des Standes« erforderlich, aber keineswegs »eine gar zu große Gleichheit und Aehnlichkeit der Lebensart, der Gemüthsgaben und ihrer Richtung«, grundlegend ist vielmehr nur »Aehnlichkeit guter Gesin39

Vgl. oben Kap. 1, besonders 2.5.

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nungen«, wie denn auch die »Pflichten der Freundschaft (...) moralisch möglich seyn« müssen, »also der Frömmigkeit, der vernünftigen Selbstliebe, der Gerechtigkeit und allgemeinen Menschenliebe so wie der Klugheit gemäß«. Das bleiben jedoch - zumal ganz konventionelle - Erwähnungen, die nur die marginale Bedeutung des Freundschaftsthemas für Eberhards Sittenlehre dokumentieren und auch in keiner Weise die freundschaftsinterne Intimität zu erfassen erlauben, die nach Schleiermacher selbst und gerade bei primärer Orientierung an Sittlichkeit die spezifische Bedeutung der Freundschaft ausmacht. Es läßt sich daher die These formulieren, daß Schleiermacher zwar ausgeht von Eberhards dürren Ausführungen zur Freundschaft und daß er auch nichts anderes intendiert, als diese im Medium einer Interpretation der ungleich reicheren und differenzierteren Freundschaftstheorie des Aristoteles zu explizieren 40 , daß ihn aber die Selbstläufigkeit des Themas in seiner vom Zeitgeist geprägten Gestalt 41 dazu nötigt, gleichsam unter der Hand die Verengung der Freundschaft auf Stärkung der konventionellen Moral aufzubrechen und vorsichtig zu öffnen hin auf die soziale Wahrnehmung und Förderung konkreter Individualität. Sicherlich ist, wie gezeigt 42 , eine solche Öffnung faktisch angelegt in Eberhards Bestimmung sittlicher Vollkommenheit als möglichst reicher und in sich differenzierter Entfaltung aller menschlichen Fähigkeiten unter dem Kriterium von deren harmonischer Zusammenstimmung - wodurch die Förderung eben dieser harmonischen Komplexität in sich und Anderen zur sittlichen Aufgabe wird - sowie in Eberhards Unterscheidung der (wenn auch als erreichbar gedachten) abstrakten Gattungsvollkommenheit des Menschen und der jedem Einzelnen aufgrund seiner je besonders eingeschränkten und ausgeprägten Anlagen und aufgrund der je eigenen Geschichte (einschließlich der mit dieser gegebenen, unverschuldet oder schuldhaft erfolgten, möglicherweise irreversiblen Deformationen und Schwächungen dieser Anlagen) spezifischen Vollkommenheit. Man könnte also diese beiden Aussagen ohne Zweifel dahingehend kombinieren, daß die sittliche Aufgabe auch in Eberhards Verständnis in der Förderung spezifischer Komplexität unter Orientierung an deren konkreter Wahrnehmung im Horizont der normativen Gattungsvoll-

4 0

Auch dies im übrigen ein durchaus konventionelles Verfahren. Vgl. nur die kommentierte Übersetzung der ganzen Nikomachischen Ethik durch D. Jenisch, deren Veröffentlichung (Danzig 1791) Schleiermacher wohl von der Weiterführung des gleichen Projektes abbrachte (vgl. Einleitung KGA 1/1, XXXIX).

41

Vgl. oben die Einführung.

4 2

Vgl. oben 1.4.

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

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kommenheit besteht, und daß hier der Freundschaft eine herausgehobene Funktion zufallt. Doch dies zeigt nur, daß mit den Theoriemitteln Eberhards ein Konzept sozial differenzierter, stabilisierter und gesteigerter Individualität entwickelt werden konnte; es sieht aber nicht so aus, als habe Eberhard nun gerade diese Linie seiner Theorie mit besonderer Energie verfolgt. Umgekehrt bedeutet die Tatsache, daß Schleiermacher dies tat, für die Erhellung der Genese seines Denkens nicht weniger, als daß das Motiv der Koemergenz und Interdependenz von Individualität und Sozialität schon seine frühesten Versuche bewegte. Der komplexe Individualitätsgedanke verdankt sich mithin nicht erst »der Romantik«, wie gemeinhin pauschal angenommen wird, sondern wurzelt bereits in einer Nebenlinie der spätaufklärerischen Gestalt der deutschen Schulphilosophie, die Schleiermacher während seines Studiums in Halle intensiv rezipierte 43 . Ebenso ist die Transformation der Ethik von einer normativen Pflichtethik auf eine deskriptive Güterethik, wie sie Schleiermachers reife Vorlesungen kennzeichnet, schon am Anfang seines Denkweges, in der Verschiebung des Interesses von der Deduktion von Handlungsorientierungen hin auf die Beschreibung konkreter mehrstelliger sozialer Relationen und Handlungsrealisierungen, ansatzweise zu beobachten. Es erscheint deshalb nicht mehr unvorsichtig, Schleiermachers frühe Denkentwicklung von der an den Aristoteles-Anmerkungen herausgearbeiteten Struktur her zu rekonstruieren und deren Differenzierung, Modulation und Kritik sowie die Ausdehnung des Phänomenbereiches, auf den sie angewandt wird, zu untersuchen. Doch zuvor soll die Basis für diese Rekonstruktion noch dadurch erweitert werden, daß an Eberhards Vorstellungstheorie elementare Prozesse der Differenzierung und der Übergänge zwischen Denken und Empfinden sowie deren gemeinsame Fundierung im Vorstellungsbegriff erhoben werden. Dies ist auch deshalb erforderlich, weil diese Vorstellungstheorie in Schleiermachers Denken deutlichere und feinere Spuren hinterlassen hat, als oberflächlich erkennbar ist.

43

Daß Schleiermacher diese Linie aufgriff, hat sicherlich auch Herrenhutische Hintergründe. Dies hat (ausgehend von den »Reden« und den Monologen) schon gesehen S. Eck: Uber die Herkunft des Individualitätsgedankes bei Schleiermacher. Gießen 1908, besonders 26 - 59.

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2. Eberhards vorstellungstheoretische Auflösung und Rekonstruktion der Differenz von Empfinden und Denken

2.1. Vorstellung als 'Indifferenzpunkt' von Denken und Empfinden Die Philosophie hat nach Eberhard lange Zeit in einseitiger Verachtung der »untern Seelenkräfte« (AThDE 7) zugunsten des Intellekts einen faktischen Dualismus in die Psychologie und Anthropologie hineingetragen, der mit der Forderung der möglichst vollständigen Befreiung des Verstandes und des Willens von den Empfindungen und Leidenschaften, die als »der Herrschaft des Körpers« unterworfen galten (AThDE 6), zu ethisch unverantwortlicher (»abentheuerliche[r]«, ebd.) Weltverneinung in Mystik und Askese geführt haben. Erst die Entdeckung eines Bereiches der Wirklichkeitswahrnehmung, in dem die Empfindung den von den Gegenständen hervorgerufenen Sinnesdaten Qualitäten hinzufügt, die den Gegenständen 'an sich' nicht zukommen, nämlich Farben, sowie die Entdeckung der »innige(n) Vereinigung der schönen Künste mit den moralischen Wissenschaften« (AThDE 10) hätten das Bewußtsein dafür geweckt, daß zwischen dem Bereich rationaler Einsicht (in dem auch die sittliche Orientierung angesiedelt war) und der als dunkel, verworren und gefährlich erfahrenen Sphäre des Gefühls ein nicht nur negativ besetzter und insofern möglichst zu eliminierender, sondern ein konstitutiver Zusammenhang besteht, der als Interferenz und wechselseitige Abhängigkeit anzusprechen ist. Intellekt und Willen bedürfen mithin für ihren eigenen Vollzug der Empfindung, ebenso wie umgekehrt. Mit diesem Befund setzt Eberhards »Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens« ein. Eberhards Interesse gilt dabei vor allem der Entwicklung einer einheitlichen Theorie der psychischen Wirklichkeitskonstitution überhaupt. Denn die faktische wechselseitige Beeinflussung von Denkkraft und Empfindungskraft erfordert seiner Ansicht nach als deren Möglichkeitsbedingung die Annahme einer fundamentalen Gemeinsamkeit beider, einer ursprünglichen Grundkraft der Seele (vgl. AThDE 17), die sich sowohl als Denken wie auch als Empfinden äußern kann. Die Behauptung der Einheit und Einfachheit dieser »Urkraft« (ebd.) verdankt sich aber keineswegs allein diesem Rückschluß. Eberhard argumentiert vielmehr zusätzlich von der Einheit und Einfachheit der Seele her: Wenn die Seele einfach ist, muß es auch eine innere Einheit ihrer Kraft geben. Die Seele muß aber als einfach und durch die Zeit mit sich identisch gedacht werden, wenn die Annahme eines sich durchhaltenden Ichs, einer sich im Wechsel der

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Zeiten kontinuierlich erhaltenden Person nicht aufgegeben werden soll. Diese Annahme ist jedoch durch das empirische Gefühl der Einheit und Selbigkeit der Seele erzwungen, das alle Bewußtseinsakte begleitet und als die je unseren kennzeichnet. In diesem »Bewußtseyn der Stätigkeit in unsern Vorstellungen« anerkennt die Seele »ihre numerische Identität« und vergewissert sich ihrer Fortdauer als »dasselbige Ich oder moralische Individuum« (AThDE 26). Denken und Empfinden sind beides Vorstellungen. Eberhard findet die Grundkraft, die die Einheit der Seele ausmacht 44 , daher in dem »Bestreben Vorstellungen zu haben« (AThDE 33; Hervorhebung von mir). Aus diesem 'Indifferenzpunkt' müssen sich nun die verschiedenen Seelenvermögen (1) als dessen Derivate, als spezifische Ausformungen des Grundvermögens ableiten und (2) als solche untereinander unterscheiden lassen. Diese Ableitung spezifischer Seelenvermögen muß sich schließlich (3) als vollständige Beschreibung aller Seelenvermögen erweisen, bzw. es muß gezeigt werden, daß damit alle Arten von Vorstellungen erfaßt werden können. Da Eberhard nur Denken und Empfinden als elementare Vorstellungsarten nennt, stellt sich für ihn diese Aufgabe so, daß er alle anderen Vorstellungsarten als Modifikationen dieser beiden muß darstellen können.

2.2. Denken und Empfinden als Vorstellungsarten Eberhard löst diese Aufgaben durch eine Reihe von Distinktionen. Für die erste greift er zunächst die Unterscheidung von verworrenen und deutlichen Vorstellungen auf und ordnet das Denken diesen, das Empfinden jenen zu 45 . Diese Unterscheidung koppelt er mit der anderen zwischen der Integration einer unüberblickbaren Mannigfaltigkeit zu einer akkumulativen

4 4

Daß Identität und Substantialität eines Seienden auf einer diesem innewohnenden Kraft beruht, ist ein Gedanke, der auf Leibniz zurückgeht. Diese Unterscheidung erscheint nirgends unabhängig von den anderen Distinktionen. Sie kann aber erschlossen werden über das umgekehrt-proportionale Korrelationsverhältnis von Lebhaftigkeit und Deutlichkeit (vgl. A T h D E 77), da die Lebhaftigkeit von der nicht-distinkten Komplexion einer möglichst großen Fülle von Vorstellungen zu einem Totaleindruck abhängt (vgl. A T h D E 45). Das Verständnis wird freilich noch dadurch erschwert, daß Eberhard zusätzlich das Begriffspaar dunkel - klar einführt, wobei Dunkelheit das gestalt- und leblose »Chaos« (AThDE 72), Klarheit hingegen die gesteigerte Lebhaftigkeit in der nicht-distinkten Vorstellungstotalität zu bedeuten scheint. Verworrenheit wäre dann gewissermaßen der Oberbegriff einer Vorstellungsart, als deren höchste Intensität die Klarheit zu gelten hätte. Zu Eberhards inkonsistenter Verwendung des Klarheits-Begriffs vgl. aber unten 2 . 3 . , Anm. 57.

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Einheit, wie sie in der Empfindung gegeben ist (vgl. etwa AThDE 122), und einer Einheit durch Abstraktion von der Mannigfaltigkeit der Phänomene, wie sie das Denken erzeugt. Darin ist implizit schon enthalten die weitere Unterscheidung nach Maßgabe der Beziehung von »Partialperceptionen« auf die jeweilige Totalvorstellung sowie nach Maßgabe der Konstitution und Funktion der Teile im Blick auf das Ganze. Die Mannigfaltigkeit einzelner Empfindungen bildet nämlich im ungeordneten Nebenund Nacheinander einen Totaleindruck (vgl. AThDE 58), der nur aufgrund der individuellen spezifischen (aber gattungsmäßig bedingten) Einschränkung der Vorstellungskapazität als Einheit erscheint (vgl. AThDE 53 sowie 58-60). Im Denken hingegen wird die Pluralität der Einzelvorstellungen »ineinander vorgestellt« (AThDE 58), d.h. als kontinuierlicher Ordnungszusammenhang, in dem die einzelnen Elemente anders als beim Empfinden nicht als (akzidentelle?) »Theile« eines zufälligen und unstrukturierten Ganzen, sondern als konstitutive »Merkmahle« einer in sich durchgegliederten und transparenten Ganzheit fungieren (ebd.). Eberhard läßt keinen Zweifel daran, daß er die rationale Einsicht in die Wirklichkeit als lückenlosen Ordnungszusammenhang für deren adäquate Erfassung hält 46 . Dies führt nur deshalb nicht zu einer Geringschätzung der konfusen Empfindungstotalität, da diese in Hinblick auf ihr Verhältnis zur Zeit und in Hinblick auf den Grad der Intensität der Vorstellung charakteristische Vorzüge gegenüber der gedanklichen Einheit besitzt. Bedarf es zur rationalen Durchdringung der Wirklichkeit nämlich der Muße im doppelten Sinne der Zurückgezogenheit von Alltagsgeschäftigkeit und Alltagslärm und der freien Zeit zum Nachdenken, so appräsentiert die Empfindungstotalität eine übergroße Mannigfaltigkeit von Vorstellungen gleichsam im Nu; dies nun aber in besonderer Lebhaftigkeit, während die rationale Analyse zwar die Einzelheiten entfaltet und in ihrem Zusammenhang offenlegt, aber eben damit der Unmittelbarkeit andringender Eindrucksvielfalt verlustig geht 47 . 46

Vgl. AThDE 58: »In der Welt sind alle Theile auf das vollkommenste untereinander verknüpft. Das Mannigfaltige also, das durch die verwirrte Vorstellung, als Eins vorgestellt wird, ist ein Continuum, wovon unser Körper und seine Veränderungen das nächste Medium sind, wodurch wir die übrige Welt anschauen, und das Mannigfaltige in derselben vorstellen.« - Vgl. Kants Kritik an Eberhards Satz, daß »alle endliche Dinge in einem beständigen Flusse sind«: »woher weiß er [sc. Eberhard] dieses a priori von allen endlichen Dingen und nicht bloß von Erscheinungen zu sagen?« (Ueber eine Entdeckung, nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll. 2. Auflage Königsberg 1791, 27 [Weischedel, Bd. 5, 312]).

47

Analog argumentiert Eberhard in der »Sittenlehre der Vernunft« in Hinblick auf das Verhältnis des »moralischen Gefühls« zur rationalen Einsicht in das Wesen des Menschen und der übrigen Dinge. Vgl. oben 1.4.

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Die Behandlung der zweiten Aufgabe fügt dem bisher Dargestellten entscheidende Aspekte hinzu. Eberhard bezieht sich hier zunächst auf die Bestimmung des Modus des Verhältnisses der Vorstellungen zum vorstellenden Subjekt, sodann aber auf den Grad der Wahrnehmung dieser Differenzierung zwischen Vorstellungssubjekt und Vorstellungsgegenstand. Denn indem zum einen im Denken aufgrund des in ihm erzeugten vollständigen Ordnungszusammenhanges die Selektivität der momentan verfolgten Gedanken, ihr Auswahlcharakter mitgewußt wird, kann es als sich der eigenen »Willkühr« verdankend und deshalb als Tätigkeit aufgefaßt werden. Dies ist zugleich der Grund des menschlichen Freiheitsbewußtseins, da im Denken das Gegebensein oder Gegeben-gewesen-Sein anderer Möglichkeiten immer mitappräsentiert ist, die konkret vollzogene Selektion aber dem denkenden Subjekt als kontingente eigene Leistung zugerechnet wird 48 . Empfindungen werden dagegen als passiv empfangen und insofern als unwillkürlich und nur bedingt steuerbar und kontrollierbar erfahren (vgl. AThDE 38f.). Und während zum andern schließlich im Denken die Differenz von Denkendem und Gedachtem mitgesetzt ist, diffundiert beim Empfinden - wie bei der Farbwahrnehmung offenbar - die Grenze zwischen Subjekt und Objekt (vgl. AThDE 48). Eberhard verfügt also über ein reiches Raster zur Erfassung der Differenz der Vorstellungsarten Denken und Empfinden. Bedenkt man, daß nach der »Sittenlehre der Vernunft« »die beste Abwechslung« sinnlich-körperlicher, ästhetischer, intellektueller und moralisch-sozialer Vergnügen (angenehmer Vorstellungen) zur Glückseligkeit gehört (SdV § 8, S. 8) 4 9 , so läßt sich dies jetzt genauer explizieren als das anthropologisch notwendige (und deshalb sittlich zu fördernde) Zusammenbestehen von Tätigkeits- und Empfänglichkeitsbewußtsein, von Selbstausgrenzung eines Subjekts aus dem frei wogenden Meer der Empfindungen und indifferenter Diffusion in dieses, von abstraktiver Deutlichkeit und lebhafter, pluraler Verworrenheit, von Strukturierung und unübersichtlicher Mannigfaltigkeit. Zugleich wird durch

Vgl. AThDE 35, auch 164ff. Das ändert freilich nichts daran, daß das Denken den Seinszusammenhang selbst, in dem alles nach dem Prinzip des zureichenden Grundes geschieht, als notwendig anerkennt. Das Problem, das darin liegt, daß dann auch der Denkakt selbst als notwendig erfolgend gedacht werden muß, sucht Eberhard in einer durchaus inkonsistenten Weise zu lösen, indem er das Bewußtsein der Freiheit einer Handlung nun auf einmal auf unvollständige Kenntnis aller »Theile« dieser Handlung zurückführt (vgl. AThDE 36f.). Dann müßte jedoch im Denken selbst die Annahme der Selbsttätigkeit des denkenden Subjektes als Abstraktion, wenn nicht gar als Illusion mitgewußt sein - was kaum ohne Selbstwiderspruch möglich sein dürfte. 49

Vgl. oben 1.2.

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die Auflistung der Unterscheidungskriterien bereits die Interdependenz von Denken und Empfinden in Ansätzen erkennbar. Denn ist einerseits Denken bestimmt als Tätigkeit, die von einer gegebenen Mannigfaltigkeit der Empfindungen durch Abstraktion allgemeinere Formen, Strukturen abhebt 50 , so ist es eben dadurch vom Gegebensein der Empfindungen abhängig. Umgekehrt könnten Empfindungen nicht als Empfindungen eines bestimmten Empfindenden begriffen werden, wenn nicht das Denken die Unterscheidung innerer von äußeren Vorstellungen und damit die ' Herausscheidung' eines Subjektes von Tätigkeit und Empfinden ermöglichen würde 51 .

2.3. Übergänge Schon die Bestimmung des Denkens als Abstraktionstätigkeit aus der Mannigfaltigkeit der Empfindungen lenkt indes den Blick zurück auf das Initialproblem und Darstellungsziel der Vorstellungstheorie Eberhards: das Problem der Übergänge der Empfindung in Denken und des Denkens in Empfindung. Bedingung der Möglichkeit solches Transfers, dessen Faktizität nach Eberhards Überzeugung unbestreitbar ist, ist wie gezeigt die kategoriale Gleichheit von Denken und Empfinden als Vorstellungsarten. Wie können also verworrene Vorstellungen deutlich werden, wie deutliche verworren? Oder genauer (in Hinblick auf den momenthaften, aktualen Charakter von Vorstellungen): wie können lebhaft-verworrene Vorstellungen deutliche nach sich ziehen, wie umgekehrt aus deutlichen verworrene fol5 0

Vgl. Herms, Herkunft, 83.

51

Es ist dabei allerdings zu klären, ob das alle Vorstellungen begleitende Bewußtsein der »Stätigkeit« eines vorstellenden Subjektes als sich abstrahierendem Denken verdankend tatsächlich hinreichend bestimmt ist. Zumindest ist unklar, ob das Denken nur einen in jedem psychischen Vorgang implizit gegebenen Sachverhalt analytisch erhellt, der dann als solcher freilich unabhängig vom Denken bestünde, oder ob in diesem faktischunmittelbaren Selbstbewußtsein immer schon gleichsam implizit Denken mitgesetzt ist, so daß kein psychischer Vorgang zureichend beschrieben wäre ohne die Erfassung einer ihm selbst immanenten Abstraktivität. Es scheint eine der Grundaporien einer nur sekundären kategorialen Differenzierung von Denken und Empfinden zu sein, daß es auf diese Frage keine eindeutige Antwort gibt. Denn einerseits geht Eberhard zwar aus von einer gegebenen Mannigfaltigkeit von Vorstellungen, aus der sich das Subjekt qua Denken selber ausdifferenziert; andererseits soll das Denken jedoch als Abstraktionsprozeß analytisch vorgehen, es muß dann aber im vorgegebenen 'Material' sich selbst und anderes - als gegeben erkennen. Die Annahme der Einheit der Grundkraft nötigt Eberhard immerhin zu der Aussage, daß in keinem Moment eine der beiden elementaren Ausprägungen der Grundkraft völlig verschwunden sein kann, wie immer dominant die j e andere sein mag ( A T h D E 57; hier mit der faktischen Begrenztheit der Grundkraft begründet).

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gen? Für die Erklärung der ersten Transformationsrichtung ist dabei das Verhältnis zur Mannigfaltigkeit in den Vorstellungen entscheidend, bei der zweiten dagegen das zu deren Lebhaftigkeit. Bemerkenswerterweise behält Eberhard die fi/i/ze/'r-konstituierende Funktion im Bewußtsein nicht allein dem Denken vor 5 2 . Man kann deshalb nicht pauschal sagen, der Übergang vom Empfinden ins Denken vollziehe sich als Transformation von Mannigfaltigkeit in Einheit. Besser spricht man von der Überführung einer durch die (gegebenenfalls unter Dominanz einer »Hauptempfindung« - AThDE 118 - erfolgende) Zusammenballung und Konfusion einer disparaten Vielfalt von Empfindungen erzwungenen subjektiv-scheinhaften Einheitsempfindung in eine distinkte, artikulierte und insofern kommunizierbare Einheitserkenntnis. Die Einheit der Empfindung sieht so aus, daß bei starker innerer Erregung (die immer mit angenehmer oder unangenehmer Tönung verbunden ist, vgl. AThDE 78) die Seele nur noch sich selbst empfindet, gleichsam von sich selbst benommen ist (vgl. AThDE 116). Doch dieser Zustand ist instabil. Die Seele kann sich darin und deshalb auch den Zustand selber nicht bewahren. Ein »Theil« (AThDE 116) des aufgrund seiner unmittelbaren Totalität »blendenden Anblickes (...) schwindet« alsbald »in Dunkelheit weg und läßt nur noch der allmähligen Abwechslung einiger einzelner Ideen Platz« (AThDE 117). Sind diese übrigbleibenden »Ideen« mit den »Hauptideen«, d.h. mit den den Charakter der Totalempfindung dominierenden und prägenden Einzelempfindungen »gleichartig« und behalten sie zugleich aufgrund des Wechsels des Appräsentationsmodus den »Reitz der Neuheit«, so »beschäftigen« sie die Seele weiterhin, allerdings »um desto angenehmer«, da die Vorstellung ihren bedrängenden und totalisierenden Charakter verloren hat und nunmehr im Medium der Reflexion erfaßt werden kann. Der »wieder freyathmende Mensch«, dessen »dunkle Sehnsucht, von der Anstrengung [sc. der Anstrengung der Seele inmitten der mitreißenden - angenehmen oder unangenehmen - Totalempfindung] (...) abgespannt zu werden«, erfüllt ist, kann jetzt Gefallen daran finden, die vergangene Empfindung in ihren Teilen und in ihrem distinkten Zusammenhang zu analysieren (alle Belege dieses Abschnittes: AThDE 117). Dies geschieht im Medium der Sprache. Rationale Reflexion impliziert also eine Versprachlichung von Empfindung. Denn Denken ist nach Eberhard symbolische Erkenntnis, im Empfinden ist die Erkenntnis hingegen anschauend, weshalb beim Denken die Vorstellung des Zeichens klarer ist als die der Sache, beim Empfinden aber umgekehrt (vgl. AThDE 113f.). Die Versprachlichung der Empfindung bringt mit sich 52

Das geht auch aus AThDE 75 - 77 hervor.

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die Möglichkeit (und verdankt sich in gewissem Maße bereits dem Bedürfnis), die Empfindung anderen mitzuteilen (vgl. AThDE 117). Dabei bleibt freilich die Distanz zur konkreten (unmittelbaren) Empfindung zugleich Ermöglichungsbedingung und Preis der Kommunikabilität. Die Reflexion kommt gleichsam immer zu spät, die Konkretheit der vergangenen Empfindung bleibt dem, der empfunden hat, selbst auf ewig verschlossen 53 , und weit mehr noch denen, denen er seine Empfindung - d.h.: seine Beschreibung jener Empfindung - kommuniziert. Am Problem der Mitteilung von Empfindungen läßt sich auch die Darstellung des Überganges von Denken in Empfinden ansetzen. Denn eine solche Mitteilung wäre sinnlos, wären nicht an bestimmte sprachliche Ausdrücke bestimmte Empfindungsmöglichkeiten ankristallisiert, die es erwartbar machen, daß die Verwendung eben dieses Ausdrucks eben jene Empfindung evoziert. Zwar ist die konkrete Ausforrnung dieses Zusammenhanges immer Resultat einer je individuellen Geschichte der »Vergesellschaftung [ = Verbindung] der Ideen« (AThDE 110), so daß ein Begriff bei keinen zwei Menschen dieselben Konnotationen erweckt, und ebenso ist umgekehrt der lexikalische Bedeutungsgehalt eines Wortes so allgemein, daß es keine individuelle Empfindung ganz treffen kann; dies relativiert den Zusammenhang aber nur, hebt ihn nicht auf. Das gilt schon für die Vorgänge innerhalb einer einzelnen Seele: Das Denken stößt auf eine »Partialidee«, »die auf einmahl eine beträchtliche Menge einzelner Vorstellungen erweckt«, so daß die daraus zusammenfließende Empfindung »nunmehro das Feld der Seele allein einnimmt« und »beherrscht« (AThDE 110), solange bis die Intensität der Totalempfindung sich wiederum soweit abgeklärt hat, daß aus der Konglomeration von Empfindungen eine eine gewisse Klarheit gewonnen hat und deshalb das Denken zu genauerer Analyse reiz 5 4 . Die Kenntnis der Funktion solcher Partialideen als »Mittelidee« (AThDE 111) zwischen Denken und Empfinden ist nun aber ebenso wichtig für die sprachliche Kommunikation. Eberhard empfiehlt sie daher besonders Dichtern und Rednern, die über Sprache emotionale oder gar handlungs-

Vgl. AThDE 140f. Eberhard begründet damit, warum der Mitteilung von angeblich im Zustand der Ekstase gewonnenen Offenbarungen so wenig zu trauen ist; vgl. AThDE 142. Vgl. AThDE llOf. Man beachte die feine Verschiebung im Vergleich zu Eberhards oben dargestellter Beschreibung des Übergangs von Empfinden in Denken. Jetzt führt nämlich der Intensitätsverlust der Totalempfindung selbst die Klarheit mindestens einer Partialvorstellung mit sich, wodurch das Denken (zu weiterer Klärung?) allererst provoziert wird, während oben die Abklärung der Empfindung die allein durch das Denken selbst geleistete 'Aufklärung' ermöglichte.

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motivierende Wirkungen erzielen wollen (AThDE 111). Zudem entscheidet die Korrespondenz von Anlaß und Wirkung, gefaßt als Zusammenhang von Sprache, Mittelidee und Handlung (Reaktion), etwa in Dramen über die »Consistenz« (AThDE 121) der auftretenden Charaktere und mithin über ihre »Wahrscheinlichkeit« (Realistik) (ebd.). Dieser 'Konsistenz-Test' umfaßt im übrigen sowohl das Gefälle von Gedanke, Empfindung und Handlung beim einzelnen selbst als auch dessen Reaktion auf Sprache und Mittelideen Anderer. Diese Überlegungen schließen die Aufgabe ein, das »große Geheimniß« des »Uebergang(s) des Denkens in das Wollen und Handeln zu entdecken« (AThDE 61). Wie die »Erfahrung lehrt«, kann dieser Übergang nur »durch das Gebiet des Empfindens geschehen« (ebd.) - wobei die Präposition hier sowohl instrumental als auch medial zu verstehen ist. Es gibt mithin weder Willensbestimmung noch Handlungsvollzug unabhängig vom Empfinden. Denn da Eberhard mit Leibniz eine genaue Korrespondenz zwischen Seele und Leib voraussetzt und da »bey den Bewegungen des Körpers unendlich viele Triebräder in Bewegung zu setzen« sind, muß er eine analoge Unendlichkeit seelischer Bewegungen, also Vorstellungen, annehmen. Diese Elementarvorstellungen sind in ihrer Vereinzelung dem Bewußtsein verborgen 5 5 . In der Empfindung erscheinen aber eine Vielzahl von ihnen zu »Einer größern« Vorstellung (AThDE 61) gebündelt. Je mehr kleine Vorstellungen nun in einer größeren vereinigt werden, desto größer ist deren Wärme; stark ist sie entsprechend dem Maße, wie sie »die Begehrungskräfte und den Körper in Bewegung« setzt; ihr »Licht« heißt hingegen ihr »höher(er) Grad an Klarheit« 56 . Folgt man diesen Bestimmungen, so leuchtet ein, daß Klarheit (d.h.: Denken) allein zwar über rechtes Handeln orientieren, dieses aber nicht selber herbeiführen kann, und daß umgekehrt Wärme und Stärke der Vorstellung (d.h.: Empfinden) ohne das Licht der 55

Vgl. ebd. D.h. nicht, daß sie kein Thema der Wissenschaft sein könnten. Eberhard wehrt sich entschieden gegen die These, nur empirisch Wahrnehmbares habe Wahrheitswert, die »Erforschung des Unsichtbaren und Einfachen« sei dagegen erkenntnistheoretisch unzulässig (vgl. AThDE 61 f.). Hier setzt Kants scharfe Kritik an: Eberhard verschleiere systematisch die Inkonsistenz seiner Theorie der Elementarvorstellungen, die er einmal als prinzipiell empfindbare, nur aufgrund der Einschränkung des menschlichen Wahrnehmungsvermögens faktisch unsichtbare Elementarteile der sinnlichen Erscheinungswelt, ein andermal aber als die nur der Vernunfterkenntnis erschlossenen nicht-sinnlichen einfachsten ontologischen Einheiten bestimme. Vgl. Entdeckung, besonders 25 - 40 (Weischedel, Bd. 5, 310 - 320).

56

AThDE 62. Eberhard spricht hier nicht von »Vorstellung«, sondern von »Erkenntniß«, meint aber offensichtlich nicht die rationale Einsicht im engeren Sinne, sondern alle Prozesse des Denkens und Empfindens.

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Klarheit nur ziellose, unstrukturierte, im genauen Sinne unwillkürliche Handlungen bewirken 57 . Doch Eberhard läßt völlig unbestimmt, wie seine 57

Eberhards Verwendung des Begriffs Klarheit in seiner Zuordnung zur Deutlichkeit ist nicht konsistent (vgl. schon oben 2.2., Anm. 45). Es lassen sich mindestens vier Verwendungen unterscheiden: 1) steht an der hier zitierten Stelle AThDE 62 Klarheit synonym für Deutlichkeit im Sinne von Verhaltens orientierender rationaler Erkenntnis im Gegensatz zur verha\tensmotivierenden »Wärme« und »Stärke« von Vorstellungen (vgl. auch AThDE 37 und 114); dies entspricht der cartesischen Tradition, die »klar und deutlich bzw. distinkt« ineins setzt. 2) nennt er AThDE 70f. »dunkle, klare und deutliche Perceptionen« als die drei Arten von Vorstellungen, die sich freilich nur »in abstracto« dergestalt »klassificiren« lassen, in concreto hingegen in »unmerklichen Abstuffungen«, in »unnennbare(r) Verschiedenheit von Graden« existieren. Dabei verlangt das »Gesetz der Stätigkeit (...), daß eine jede Perception durch alle diese unmerklichen Stuffen müsse gegangen seyn, wenn sie von der niedrigem zur höhern kommen, aus dunkel klar, und aus klar deutlich werden soll«. De facto gibt es also nur drei ineinander übergehende Zustandstypen jeder Vorstellung. An dieser Stelle folgt Eberhard also durchaus »der alten, noch bei Kant begegnenden Konzeption, nach der die Deutlichkeit ein höherer Grad der Klarheit ist« (gegen Moxter, Güterbegriff, 36, der Eberhard von dieser Konzeption generell abhebt). Die Differenz von Klarheit und Deutlichkeit bleibt dabei freilich unerörtert. Eine solche Differenz geht dagegen 3) aus AThDE 173-180 hervor, wobei freilich die Stetigkeit des Uberganges problematisch wird. Dort wird die Unterscheidung von Außenwelt und Innenwelt daran festgemacht, daß äußere Sinneseindrücke klarere (d.h. lebhaftere) Empfindungen darstellen als die inneren Bilder der Einbildungskraft. Eine Steigerung der Klarheit dieser inneren Bilder läßt zum einen die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt verschwimmen (so erklärt Eberhard den Wahnsinn); sie schwächt zum anderen aber die Deutlichkeit der Vorstellungen, von der aber »Alle Richtigkeit im Urtheilen und Schließen« abhängt, und vermindert so die Fähigkeit zu sittlicher Verhaltenssteuerung (vgl. 179). Klarheit als Lebhaftigkeit der Empfindung tritt so in einen Gegensatz zur Deutlichkeit. Selbst im anzustrebenden Fall einer Balance von »Lebhaftigkeit und Kraft« (also Klarheit) und »Würde, (...) Ausbreitung, (...), Wahrheit und Gewißheit« (sc. Deutlichkeit) bleibt eine kategoriale Differenz »beyder Kräfte« gewahrt, wobei die Klarheit auf die Seite zu stehen kommt, als deren Gegensatz sie unter 1) bestimmt wurde. Dasselbe gilt 4) für AThDE 54, wo eine Art funktionaler Zuordnung von Klarheit und Deutlichkeit versucht wird: Klar ist die lebhafte Empfindung einer Fülle gleichwohl distinkt wahrgenommener Vorstellungen in einem Zeitteil. Da die Seele aufgrund ihrer »begränzte(n) Kraft« nicht »alle die Partialvorstellungen mit ihren Merkmahlen, und also besonders zu denken [sie!]« und damit festzuhalten vermag, geht die Klarheit verloren, »fallen die Bestandtheile einer Empfindung in Eins zusammen«, diese wird dunkel bzw. verworren. Deutlichkeit liegt hier in der in der klaren Empfindung enthaltenen Einheit distinkter Vielheit. Deutlichkeit steht mithin im Dienste der 'Klärung' (Lebhaftmachung). Dies steht aber im Widerspruch zu dem (unter 3 vorausgesetzten) »Gesetz der Seelenoperationen«, wonach mit steigender Deutlichkeit ein Verlust an Lebhaftigkeit einhergeht (vgl. AThDE 77). - Schleiermachers Unterscheidung und Zuordnung von Klarheit und Deutlichkeit im »Freiheitsgespräch« (vgl. unten Kap. 4, 2.) knüpft eigenständig an die hier unter 3) und 4) genannten Überlegungen an. Vgl. dazu auch Moxter, Güterbegriff, 36 - 38, der freilich die terminologischen und sachlichen Inkonsistenzen bei Eberhard nicht benennt.

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Voraussetzung der strikten Korrespondenz von Körper und Seele sich mit dem Gedanken vereinbaren läßt, daß eine Vorstellung aufgrund ihrer Stärke Handlungen verursacht, daß also die Seele den Körper beeinflußt. Er verbirgt das damit gegebene Problem, indem er den problematischen Überschritt schlicht in die Definition der Stärke hineinzieht. Er erklärt damit die Möglichkeit der Umsetzung von Handlungsorientierung in entsprechendes Handeln gar nicht, sondern behauptet sie nur. Gemäß dem KorrespondenzModell könnte der Sachverhalt allenfalls so gefaßt werden, daß der Vollzug einer Handlung das Gegebensein einer entsprechend warmen und starken Empfindung indiziert, während das Nichterfolgen einer deutlich als sittlich gut vorgestellten Handlung auf eine fehlende Wärme und Stärke der Empfindung hinweist. Umgekehrt müßte dann freilich die durchaus mögliche Übung und Beeinflussung der Vorstellung durch andere Vorstellungen aufgrund des Parallelismus zwischen Seele und Leib ipso facto eine Übung und kausale Beeinflussung der Realisierung von Körperkräften durch andere Körperkräfte mit sich führen. Eine kausale Verknüpfung von seelischen Kräften mit körperlichen Bewegungen kann demnach nur uneigentlich ausgesagt werden; es handelt sich dabei um eine (Fehl-)Interpretation der Wahrnehmung des Zusammen-Sichereignens von Seelenregung und Körperbewegung. Die Metaphorik des »Übergangs« wäre dann allerdings zwar für das Verhältnis von Denken und Wollen, aber keineswegs für die Beziehung von Denken und Handeln angemessen. Man spräche besser von wechselseitiger Erschließbarkeit von psychischen Prozessen aus physischen und umgekehrt. Aus angesammelten Erfahrungen solcher Erschließungen ließen sich so Regeln abstrahieren, die dazu anleiten, welche rationalen Handlungsorientierungen am besten mit welchen Empfindungen wie verbunden werden müssen, damit erfahrungsgemäß die gewünschte Handlung damit kooptiert ist, und wie (durch welche innerpsychischen Mittel) zudem die Empfindungen so intensiviert (in ihrer Wärme und Stärke gesteigert) werden können, daß sie diesem Zwecke dienlich sind. Hier haben wiederum die oben dargestellten Gesetzmäßigkeiten des Übergangs von Denken in Empfinden und umgekehrt ihre Funktion.

2.4. Induktion und Deduktion im Spektrum der Vorstellungen Die dritte Aufgabe, die sich einer Fundierung der psychischen Wirklichkeitskonstitution in der Einheit des Vorstellungsbegriffes stellt, ist es - wie

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gesagt 5 8 - zu zeigen, daß damit die Menge psychischer Prozesse vollständig erfaßt werden kann. Hat Eberhard nun Denken und Empfinden als die zwei für das bewußte Leben elementaren Vorstellungsarten erwiesen 5 9 und hat er die Möglichkeit ihres Übergangs in das jeweils Andere aufgezeigt 6 0 , so bestimmt er jetzt reines anschauungsloses Denken und pure Empfindung als die zwei Extreme eines Spektrums, innerhalb dessen sich alle möglichen Arten von Vorstellungen als spezifische Mischungsverhältnisse von Denken und Empfinden einer Stelle eines stetigen Zusammenhanges zuordnen lassen. Die Extreme sind dabei nur Grenzbestimmungen, die in der Realität nicht vorkommen 6 1 . Zugleich jedoch kennzeichnet dieser lückenlose, stetige Zusammenhang den Weg, auf dem jede Vorstellung aus Dunkelheit in Deutlichkeit überzuführen ist. Es ist nämlich außerordentlich wichtig zu sehen, daß der Übergang von Empfinden in Denken sich nicht in erster Linie als Wechsel des Gegenstandsbereiches - d.h. z.B. von sinnlichen auf nicht-sinnliche Gegenstände bzw. von sinnlicher auf nicht-sinnliche Erkenntnis - vollzieht, sondern als Übergang von Vorstellungen jedes Gegenstandsbereiches aus dem Zustand der Verworrenheit in den Zustand der Deutlichkeit, welche Zustände charakterisiert sind durch ein je spezifisches Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit (vgl. AThDE 77). Genauer muß man freilich sagen: Eberhard versucht in einer nicht immer ganz klaren Weise, die Klassifikation von Vorstellungen über ihren 'Aggregatzustand' zu verbinden einerseits mit einer Theorie von Sphären der Gegebenheitsweise von Vorstellungen (nämlich als das Schöne, das Gute und das Wahre), welche Sphären mit der Unterscheidung von sinnlichen und nichtsinnlichen Gegenständen zwar nicht ineins fallen, aber doch nicht völlig unabhängig davon sind, und andererseits mit der Konzeption von Durchgängen einer Vorstellung durch alle 'Aggregatzustände'. Das Schwierige daran ist dies, daß man dann auch vom Empfinden nicht-sinnlicher Vorstellungen (ebenso wie umgekehrt vom Denken sinnlicher Vorstellungen) sprechen können muß, nämlich genau dann, wenn sie sich im Zustand der 58

Vgl. oben 2.1.

59

Vgl. oben 2.2. - Ihre Wahrnehmbarkeit scheint Denken und Empfinden zu unterscheiden von jenen »unmerklichen« Elementarvorstellungen, aus denen sich Gedanken und Empfindungen allererst zusammensetzen.

60

Vgl. oben 2.3.

61

Eberhard vergleicht deshalb die Versuche, die Philosophie so von aller Empirie zu reinigen, daß sie mathematische Evidenz erreicht, mit der Entwicklung eines perpetuum mobile, wobei allerdings nicht ganz deutlich wird, ob er eine vollständige Mathematisierung der Philosophie prinzipiell oder nur nach dem seinerzeitigen Stand ihrer Ausbildung für unmöglich hält. Vgl. AThDE 115.

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Verworrenheit (bzw. umgekehrt: der Deutlichkeit) befinden, und daß Eberhard diesen nicht-sensualistischen Gebrauch des Empfindungsbegriffs (ebenso wie das nicht-apriorische Verständnis des Begriffs des Denkens) nicht hinreichend kenntlich macht und auch nicht konsequent durchhält. 6 2 Dies bringt es mit sich, daß der Übergang von Verworrenheit in Deutlichkeit nicht als ausgehend von der phänomengesättigten sinnlichen Wahrnehmung zu den dürren, von aller Sinnlichkeit abstrahierten und mithin »blinden« (AThDE 114) Gedankenoperationen hinführend beschrieben werden kann. Eberhard legt zwar mißverständlicherweise seine Darstellung der 'Verdeutlichung' von Vorstellungen genau so an: Der Behandlung der Vorstellungen der verschiedenen Sinne (vgl. AThDE 78-84) folgt die der nichtsinnlichen (»unkörperlichen«) Vorstellungen (AThDE 85ff.), die über die »transcendentalste Idee des Guten« (AThDE 89) hinaus in der reinen Erkenntnis des Wahren kulminiert (vgl. AThDE 94ff.). Eberhard fördert dieses Mißverständnis überdies noch dadurch, daß er im Guten, das auf verschiedene Weise, als Sichtbares in Gestalt des Schönen und als Idee, Gegenstand des Vorstellens sein kann, die »Gränzlinie« zwischen Empfinden und Denken verortet (vgl. AThDE 90) und damit den Eindruck verfestigt, als vollziehe sich Denken in der Abstraktion von der Sinnlichkeit. Eine genauere Untersuchung zeigt jedoch, daß Eberhard sinnliche und unkörperliche Vorstellungen nicht in logischer Sukzession, sondern parallel behandelt unter dem gemeinsamen Aspekt, wie sie zu Deutlichkeit gebracht werden können. Ebenso ist das Gute nicht deswegen der Einheitspunkt von Denken und Empfinden, weil es sowohl sinnlich als auch nicht-sinnlich vorgestellt werden kann, sondern weil es sowohl unter primärer Hinsicht auf die in ihm vereinte Mannigfaltigkeit als auch unter primärer Hinsicht auf seine Einheit betrachtet werden kann. Schließlich ist das »reine Denken, oder die einfachste Idee von sich selbst prädiciret«, der Satz der Identität ( A = A ) (AThDE 96), Basis aller (und nicht nur der sinnlichen) Bestimmtheit. Freilich mag die sinnliche Wahrnehmung deshalb zu Recht am Anfang der Induktionsskala stehen, weil in ihr die Kopräsenz von Verworrenheit und Lebhaftigkeit am evidentesten ist und weil hier am besten das »Gesetz der Seelenoperationen« demonstriert werden kann, nach dem »bey einem eingeschränkten Wesen (...) in eben dem Verhältniß, worinn das Mannigfaltige, die Wärme und Stärke, in einer Totalvorstellung zunimmt, die

62

Vgl. aber Schleiermachers Überlegungen im »Freiheitsgespräch«, daß deutliche Vorstellungen Gegenstand (Inhalt) von klaren (d.h. lebhaften) Vorstellungen werden können und dergestalt in der Seele gegenwärtig werden. Vgl. unten Kap. 4, 2.

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Intensität der Einheit oder die Deutlichkeit abnehmen [wird], und umgekehret« (AThDE 77). Die 'Klärung' einer sinnlichen Empfindung trägt ihren Preis unverkennbar an sich, nämlich den Verlust konkret-vielfältiger Nuancen. Dieser Preis ist nur deshalb erträglich, weil das Bewußtsein der Einheit als der erlangte 'Gegenwert' ipso facto Vergnügen vermittelt (vgl. AThDE 76) und weil die so entschlackte und homogenisierte und ihres bedrängenden Charakters entledigte Empfindung im Modus der Erinnerung präsent bleibt, während sie doch in ihrer unmittelbar-konkreten Gestalt zu komplex und darum nicht bestandsfähig war 6 3 . Es scheint, daß Eberhard diesen Vorgang analog auch bei den »unkörperlichen Vorstellungen« annimmt. Aber schon das Problem, anzugeben, um was für Vorstellungen es sich dabei eigentlich handelt, wenn nicht um Gedankenbestimmungen, zeigt Eberhards Schwierigkeit, die Unterscheidung zwischen sinnlichen und nicht-sinnlichen Gegenständen von Empfinden und Denken ihrerseits noch einmal zu unterscheiden von der Unterscheidung zwischen Empfinden und Denken selbst. Denn sollte es sich bei den unkörperlichen Vorstellungen um die Erfassung etwa von Gestalt, Struktur etc. an empirischen Gegenständen handeln, so leuchtet zunächst nicht ein, was diese Bestimmungen, die doch offenkundig Abstraktionen sind, noch von Gedanken einerseits, andererseits aber - wenn ihr Empfindungscharakter betont wird - von sinnlichen Vorstellungen im Zustand der Verworrenheit abheben sollte. Freilich scheint Eberhard für bestimmte Grade der Abstraktivität von Vorstellungen gleich welcher Art weiterhin den Terminus »Empfindung« zu reservieren. So wird etwa an den sinnlichen Empfindungen, die übrigbleiben, wenn nach einer großen inneren Erregung (»Zustand des Erstaunens und des Schauderns«, AThDE 78) ein Großteil der dieser innewohnenden Partialvorstellungen in das Dunkel des Vergessens verschwunden ist (vgl. AThDE 116f.), ihre Einheit vorgestellt, »indem (...) die Seele sich die Uebereinstimmung, oder das, worinn sie übereinstimmen, klarer vorstellet, als ihre Verschiedenheit« (AThDE 78f.). Diese »niedrigste Staffel« der Einheit entsteht »aus dem geringsten Vereinigungsgrunde, nämlich aus der Vorstellung des bloßen Nebeneinanderseyns, es sey dem Räume oder der Zeit nach, und der Verdunkelung ihrer Unterschiede« (AThDE 79). Die so erzeugte »Continuität« (Gleichartigkeit) der verbliebenen Partialvorstellungen macht die Empfindung angenehm, während die »Unterbrechung dieser Continuität« als unangenehm empfunden wird (ebd.). Bei der Behandlung der unkörperlichen Vorstellungen nennt Eberhard als analog schwache Einheitskategorie, die »wenig Entwicklung und Deutlichkeit« erfordert 63

Vgl. oben 2.3.

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137

(AThDE 86) und deshalb die so homogenisierten Vorstellungen im Zustand der Empfindung beläßt, die »Aehnlichkeit«, die »aus nichts anders, als aus der Bemerkung gewisser gemeinschaftlichen Bestimmungen« besteht (AThDE 85). Empfindungen bleiben die unter Kategorien von Kontinuität/Diskontinuität, Ähnlichkeit/Unähnlichkeit sowie auch »Proportion«/Disproportionalität (AThDE 97) erfaßten Vorstellungen unter anderem auch deshalb, weil sie sich relativ mühe- und zwanglos einstellen und also eine geringe »Anstrengung« der Abbiendung des Mannigfaltigen verlangen (vgl. A T h D E 87), so daß sie nicht nur als weitgehend passiv empfangen, sondern auch als in sich noch ein recht hohes Maß an Pluralität enthaltend erfahren werden. Dies ist auch die Bedingung dafür, daß sie noch zum Gebiet des Schönen zählen (vgl. ebd.). Das Gute ist dagegen bereits eine höherstufige Abstraktion, die mit einem höheren Bewußtsein der Selbsttätigkeit verbunden ist. Beim Guten wird nämlich die Zweckmäßigkeit von etwas für etwas vorgestellt, mithin ein Mittel-Zweck-Zusammenhang etabliert. Diese »Finalverknüpfung« (AThDE 89) kann zwar zunächst aus der empirischen Erfahrung abgelesen werden (ein Gegenstand ist z.B. tauglich als Werkzeug für eine bestimmte Tätigkeit), aber da sich herausstellt, daß nicht das Mittel im Blick auf den beliebigen Zweck, sondern auch der Zweck in sich selbst als gut erwiesen werden muß, muß »die abgezogene [=abstrakte] Idee von einem unabhängigen und absoluten Gute« (AThDE 89) entwickelt werden. Das von allen partikularen Zwecken und insofern von allen Einschränkungen abstrahierte absolut Gute muß bezogen sein auf den Begriff der Vollkommenheit-, insofern aber das relativ Gute charakterisiert war als Tüchtigkeit zu etwas, ist das absolut Gute bestimmt als reine Kraft (vgl. ebd.). Das Gute ist nun aus dem Grunde die »Gränzlinie« zwischen Empfinden und Denken, daß die Seele sowohl die konkreten Realisierungsgestalten des Guten in ihrer Distinktheit wahrnehmen, und d.h. dann: im Gebiet des Schönen empfinden kann, aber nur dann, wenn sie ebenso deren kategorialen Einheitsgrund, die »transzendentalste Idee des Guten« (ebd.), in ihrer völligen Abstraktheit als Kraft und Vollkommenheit zu denken gelernt hat, d.h., das Gute im konkreten Zusammenhang erkennen kann. Weil Empfindung also nur die vage Einheit von Phänomenen, aber nicht deren kategoriale Identität zu erfassen vermag, kann sie konkret Gutes gar nicht als Gutes identifizieren (vgl. AThDE 92!). Umgekehrt schließt das Denken des Guten einen Realisierungsimpuls ein, der die konkrete Diversifikation des Guten in vielfältige Zusammenhänge impliziert; dafür ist nun wiederum das 'Pluralitätsorgan' und Motivationszentrum Empfinden unerläßlich. In der moralischen Güte wird es deshalb am weitesten bringen, wer

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»die moralischen Wissenschaften studiret, und zugleich durch Uebung (...) sich zur Empfindung des Sittlichschönen (...) bildet« (AThDE 94). Abstrahiert man den Identitätsbegriff von allem Objektbezug, also auch von dem auf das Gute und Vollkommene, so erreicht man schließlich als den Bereich der allereinfachsten, deutlichsten, aber auch inhaltsärmsten und formalsten Bestimmung das Wahre (AThDE 94). Dies geschieht in zwei Schritten. Zunächst erfolgt die Wesensdefinition eines Begriffes, in der zwar von aller kontingenten Mannigfaltigkeit abstrahiert wird, in der aber immerhin noch die verschiedenen konstitutiven »Merkmale« (ebd.) des Begriffes analysiert werden. Hier wird noch etwas gedacht. Im »reine(n) Denken« hingegen wird nur noch »die einfachste Idee«, nämlich die Idee der Identität selbst, »von sich selbst prädiciret« (AThDE 96). Alle diese Gedankenbestimmungen werden durch Abstraktion gewonnen, d.h. durch Verringerung der in der Empfindung enthaltenen Elementarvorstellungen und durch Homogenisierung der verbleibenden Vorstellungen, durch Abhebung und Systematisierung der Merkmale der Totalvorstellung und schließlich durch Applikation des Identitätsbegriffs auf sich selbst. Dieser Abstraktionsprozeß wird aber zugleich als Analyse verstanden: Was der Gedanke deutlich bestimmt, ist in der Empfindung verworren enthalten. Die Wirklichkeit der Kraft etwa wird faktisch in jeder Bewegung wahrgenommen; erst die abstrakte Kenntnis der Kraft an sich ermöglicht aber die Einsicht in den kausalen Zusammenhang und die kategoriale Identität aller Bewegungen. Umgekehrt bleiben damit die abstraktesten Bestimmungen des Denkens rückgebunden an den empirischen Erfahrungszusammenhang, aus dem und zu dessen Ergründung sie abstrahiert wurden. Man muß dann allerdings festhalten, nicht nur daß es deutliche und verworrene Vorstellungen und unendlich viele spezifische Mischformen aus diesen gibt, nicht nur daß jede Vorstellung aus dem Zustand der Verworrenheit in den Zustand der Deutlichkeit übergehen kann, sondern auch, daß in diesem Übergang eine Identität der Vorstellung gewahrt bleibt, deren die Seele im Gedanken allererst gewissermaßen ansichtig wird. Das was diese Identität ausmacht, ist freilich - je deutlicher die Vorstellung desto stärker - das für die individuelle Vorstellung Unspezifische, das was sie mit immer mehr anderen Vorstellungen gemeinsam hat. Denn je deutlicher eine Gedankenbestimmung ist, desto unspezifischer, formaler, aber eben auch universaler ist sie. Deshalb kann Eberhard den Gottesgedanken als den »deutlichste(n)« Gedanken bezeichnen (AThDE 230): Das deutliche Denken repräsentiert die Allgegenwart und Universalität Gottes, indem es die allem Seienden gemeinsame Bestimmtheit artikuliert. Die Übung der analytischen Durchdringung der Weltwirklichkeit gibt mithin »den einzigen Weg an die Hand, die Idee

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von Gott in dem ungebildeten Verstände zu entwickeln, und in dem gebildeten anschauend und sinnlich zu machen« (AThDE 231). Mit wachsender Kenntnis dessen, was die Welt im innersten zusammenhält, wächst demnach sukzessive auch die Gotteserkenntnis. Führt etwa die oftmals wiederholte verworrene Wahrnehmung von »Zufälligkeit und Causalität« (AThDE 230) in einzelnen Teilen der Welt zur Erkenntnis des kausalen Zusammenhanges der Welt überhaupt, so wird der Regreß »von einer wirkenden Ursach zur andern endlich zur höchsten [Ursache] bringen« (AThDE 230f.), und »entwickeln« »wir in diesem Anschauen (...) auch die Ideen von Harmonie und Schicklichkeit (...), je mehr Bestimmungen wir in dem angeschauten Welttheile wahrnehmen: so wird uns das immer mehr und mehr zu dem Wahrnehmen einer verständigen Ursach hinleiten« (ebd.; Hervorhebung von mir). Offenkundig sucht Eberhard also dabei die spinozistische Konsequenz einer Identifikation des Gottesbegriffs mit dem rational vollständig transparenten Wirklichkeitszusammenhang zu vermeiden; es ist aber nicht ersichtlich, wie dann der Gottesgedanke nicht als zu der Erkenntnis des vernünftigen Zusammenhanges der Welt hinzutretend und insofern von dieser verschieden soll gedacht werden können. Die Einheit und Einfachheit des deutlichsten Gedankens muß aber um seiner Formalität und Universalität willen gewahrt bleiben. Dies kann jedoch auch nicht dadurch geschehen, daß der Gottesgedanke als unmittelbares Implikat des Satzes der Identität verstanden wird, da Eberhard den Gottesbegriff selbst als Resultat eines Schlusses bestimmt. Eberhard kann daher zwar die Nichtempirizität Gottes, seine Nichtidentität mit irgendeinem Weltteil, sowie seine Universalität aussagen, aber er gerät in den Widerspruch, daß er entweder eine Identifikation Gottes mit dem Weltzusammenhang argumentativ nicht verhindern kann oder daß ihm die Einheit von Welt- und Gotteserkenntnis zerbricht. Beides ist nach seinen Voraussetzungen unmöglich und zerstört Aufbau und Funktionszusammenhang des Argumentationsganges. Eberhard teilt hier die Schwierigkeiten aller Versuche, Spinoza in der Annahme der vollständigen rationalen Einsichtigkeit der Wirklichkeit nicht nachzustehen, deren monistische Konsequenz aber durch Verbindung mit einem theistischen Konzept von Gott als der verständigen Weltursache zu vermeiden.

2.5. Charakter und Charakterbildung Ebenso wenig wie »der Anblick der Welt (...) einen Augenblick der nämliche bleibt«, dauert »der Zustand der Seele einen Augenblick ohne Umwandlung« (AThDE 64, vgl. 176). Sowohl die Vorstellungsinhalte als auch

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die Weise von deren Appräsentation sind also in beständigem Wandel und Wechsel begriffen. Der Erhöhung der Beschreibbarkeit dieser 'basalen Unruhe' der Seelenoperationen und ihrer konkreten Abfolge sowie der in dieser dennoch möglichen Strukturbildungen galt ja alle Mühe von Eberhards Vorstellungstheorie. Indes, die unendliche Pluralität seelischer Bewegungen, die Variabilität und Veränderungssensibilität psychischer Aktualereignisse, die unüberschaubar vielfältige Auflös- und Rekombinierbarkeit von 'Zusammenballungen' elementarer Vorstellungen nötigen zu Rückfragen an das Verständnis der all diesen Prozessen in irgendeiner Weise zugrundeliegenden Seele selbst. Das Gefühl von deren Einheit hatte die Suche nach einem Einheitsgrund bzw. einer fundamentalen Identität aller Seelenoperationen provoziert und legitimiert 64 und sollte ihrerseits durch den Erweis der Einheit der Grundkraft, nämlich des Vermögens Vorstellungen zu haben, begründet werden. Wie aber soll nun die individuelle Eigenart der Seele selbst bestimmt werden, wenn diese einerseits nicht nur in der formalen Struktur der alle Vorstellungen begleitenden Selbstreferentialität gefunden werden soll (die als solche ja allen Seelen gemeinsam ist und deshalb als principuum individuationis nicht in Frage kommt) und wenn ihr andererseits ihre eigenen Vorstellungen nicht rein äußerlich sein sollen? Wie kann umgekehrt gezeigt werden, daß und inwiefern es den Vorstellungen nicht rein äußerlich ist, wessen Vorstellungen sie sind? Hier trägt ein Rückgriff auf die Behandlung der »Sittenlehre der Vernunft« zur Klärung bei. Dort hatte Eberhard im Blick auf den Menschen differenziert zwischen einer als erreichbar postulierten, aber de facto als regulative Idee fungierenden Gattungsvollkommenheit und der dem konkreten Einzelnen aufgrund der Beschränktheit seiner angeborenen Anlagen und angesichts kontingenter und nur teilweise vom Einzelnen selbst zu verantwortender die Entfaltung dieser Anlagen restringierender Umweltverhältnisse möglichen Vollkommenheit, deren »zufällige« Realisierung die Bestimmung des Menschen ausmacht 65 . Analog stellt er in der »Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens« fest, daß die in allen identische psychische Grundkraft sich in den Einzelseelen in je spezifischer Einschränkung und Modifikation geltend macht. Deshalb sind Kraft und Einschränkung die »abgezogensten und höchsten Begriffe, aus denen man alle Erscheinungen bey der menschlichen Seele muß herleiten können, wenn die Psychologie eine Wissenschaft seyn soll« (AThDE 60). Das erhöht die Komplexität der Theorie beträchtlich. Denn es gibt jetzt nicht nur 64

Vgl. oben 2.1.

65

Vgl. oben 1.4.

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unendlich viele sich in spezifischer Mischung von Empfinden und Denken auskristallisierende Vorstellungsarten und unendlich viele Modifikationen einer Vorstellung zwischen Verworrenheit und Deutlichkeit, sondern es gibt auch gleichsam eine je spezifische Gestimmtheit des vorstellenden Subjektes, die einerseits über die ' Anlagerungschancen' bestimmter Vorstellungen sowie über die Weise der Rezeption und Überformung von Vorstellungen prädisponiert, die aber andererseits nicht so determiniert ist, daß sie nicht durch Übung der Grundkraft gestärkt und durch Einsicht gebildet und korrigiert werden könnte. Denn zwar ist die Gestimmtheit bedingt durch ein bestimmtes und sich im Verlauf vielfältiger Vorstellungen durchhaltendes Verhältnis von »Erkenntniß- und Empfindungskraft« (AThDE 167), welches Verhältnis seinerseits gewisse Neigungen bedingt, Vorstellungen eher auf Lebhaftigkeit oder eher auf Deutlichkeit hin zu entfalten, und dadurch über den Vollzug der Vorstellungen sich selbst stabilisiert und kontinuiert; das heißt aber keineswegs, daß damit das im sittlichen Naturgesetz der Selbstvervollkommnung implizierte Gebot der allseitigen und gleichmäßigen Ausbildung aller Anlagen und Fertigkeiten 66 aufgehoben wäre. Vielmehr soll - wie Eberhard am Anfang des Dritten Abschnittes von AThDE ausdrücklich vermerkt (AThDE 167) - die Kenntnis von Eigenart und Funktionsweise von Denken und Empfinden sowie von deren Interdependenzen und den Möglichkeiten des Überganges vom einen in das andere nutzbar gemacht werden zur Bildung von Herz und Verstand und zur »Beurtheilung des Genies und des Charakters«. Das kann nur bedeuten, daß mit dem Vervollkommnungsgebot das normative Kriterium der Kritik einseitiger Charakterausprägungen gegeben ist und mit der Vorstellungstheorie das Organon zur Korrektur solcher Einseitigkeiten. Damit scheint nun allerdings die Individualität der Gestimmtheit normativ auf ihre eigene Aufhebung hin bestimmt zu sein. Genauer: sie scheint nur noch Ausdruck defizitärer Entfaltung bzw. Entfaltungsfähigkeit der umfassenden Begabungspluralität zu sein. Funktion der Bildung wäre dann, dieses Defizit zu minimieren, und d.h.: den charakterlichen Eigensinn der Ausprägung von Empfindungs- und Erkenntnisvermögen abzuschleifen. Daß dies nicht völlig möglich ist, müßte dann mit Bedauern konstatiert werden. Ohne Zweifel hat Eberhards Leitbild des allseitig harmonisch gebildeten vernünftigen Menschen solche nivellierenden Tendenzen in sich. Es erträgt nur mäßig ausgeprägte Disharmonien, Disproportionalitäten, Dominanzen innerhalb des Gefüges der Manifestationen der Seelengrundkraft. Es verleitet dazu, unter Berufung auf das Ideal der Allgemeinbildung 66

Vgl. oben 1.4.

142

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die Entfaltung spezifischer Begabungen zu boykottieren oder auf ein als verträglich erachtetes Maß zu restringieren. Andererseits gründet diese Zielvorgabe für das vervollkommnende Handeln an sich selbst und Anderen in der Überzeugung, daß eine durch die Anleitung der Vernunft je und je neu erlangte Harmonie der Seelenvermögen Bedingung der Möglichkeit für eine auf Dauer erfolgreiche Betätigung der einzelnen Vermögen selbst ist. Die Übung des Verstandes kontinuiert mithin ipso facto die Empfindungsfähigkeit, ebenso wie umgekehrt die Pflege des Empfindungsvermögens an sich selbst bereits die Chancen zur Umsetzung rationaler Handlungsorientierungen in Handlung befördert. Zudem gilt es zu berücksichtigen, daß der dem Harmonieideal zugrundeliegende Vollkommenheitsbegriff auf eine Komplexitätssteigerung, auf eine möglichst hohe Anreicherung der psychischen und auch sozialen Verhältnisse und Beziehungen abzielt und daß Eberhard deshalb seinerseits die einseitige Ausprägung eines Vermögens auf Kosten der anderen als innere Verarmung, als Zurückbleiben des Individuums hinter gerade seine je eigenen Möglichkeiten und insofern selbst als defizitär erscheinen muß. Dies muß schließlich vor dem Hintergrund von Eberhards Annahme gesehen werden, »(in) keiner menschlichen Seele [sei] ein Vermögen ganz unwirksam« (AThDE 209). Eberhard kann dann daran festhalten, daß es bestimmte Anlagen, d.h. individuell prästabilierte Verhältnisse zwischen den einzelnen Seelenvermögen gibt, welche Verhältnisse natürlich immer auch eine gewisse nicht vollständig eliminierbare Einseitigkeit indizieren; er kann aber zugleich darauf hinweisen, daß der Rekurs auf spezifische Anlagen und Begabungen nicht dergestalt die individuelle Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung bestimmen darf, daß die einseitige Entfaltung dieser Anlagen als individuelle Selbstverwirklichung gelten kann. Das spezifische Verhältnis der einzelnen Seelenvermögen untereinander ist zwar in den angeborenen Anlagen angelegt, aber es ist nicht so determiniert, daß es sich bei der Entwicklung der Fähigkeit der Seele, tätig zu werden, gleichsam automatisch reproduzierte. Die Anlagen begünstigen und erleichtern zwar die Entfaltung der Fähigkeit zu bestimmten Verrichtungen, aber sie machen Übung und Bildung nicht unnötig. Man muß sogar sagen, daß sich das spezifische Mischverhältnis im Prozeß der Übung und Routinisierung bestimmter Fertigkeiten allererst konkretisiert und festigt. Das ist natürlich mit dem Risiko verbunden, daß die schon angelegte Einseitigkeit durch falsche Bildung nicht relativiert, sondern vielmehr noch gesteigert und fixiert wird. Hier zeigt sich nun die entscheidende Bedeutung der Vernunft als der Instanz, die solche Fixierungen wahrzunehmen und zu verflüssigen erlaubt. Denn als das Vermögen, Zusammenhänge, Proportionen,

2. Eberhards Vorstellungstheorie

143

Harmonie zu erfassen und vorzustellen (vgl. AThDE 240; vgl. auch SdV § 13, S. 16), implantiert sie dem faktisch gegebenen Konkretionszustand der individuellen Seele gleichsam normative Bilder ihrer selbst als Folie der Wahrnehmung ihrer Differenz von ihrer Bestimmung und zugleich als Orientierung für ihre bestimmungsgemäße Entwicklung und ermöglicht dadurch der Seele Distanz zu sich selbst, so daß sie nicht aufgeht in ihrem jeweiligen Zustand. Die Vernunft hat gewissermaßen eine kybernetische Funktion bei der Abstimmung der Realisierung der verschiedenen Seelenvermögen aufeinander und mithin bei der Fortbildung des in den Anlagen vorgegebenen aber nicht vollständig determinierten sondern beständig zu adjustierenden Verhältnisses von Empfindungs- und Erkenntnisvermögen. Daß diese Adjustierung möglich ist, ist Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. Freilich ist die Entfaltung der Vernunft selber Produkt jener Evolution, die sie doch steuern soll. Sie ist selber Vermögen. Sie muß selber ausgebildet werden (vgl. AThDE 247ff.!). Insofern zeigt der Grad der harmonischen Entfaltung aller Seelenkräfte den Grad der Ausbildung der Seelenkraft Vernunft an, umgekehrt fördert die Vernunft sich gleichsam selbst, wenn sie die andern Seelenkräfte nach Maßgabe ihrer Zusammenstimmung fördert. Es ist allerdings nicht ganz deutlich, ob Eberhard die Vernunft selbst auch in der Hinsicht zu den übrigen Seelenkräften zählt, daß sie nur soweit entwickelt werden darf, wie sie sich in die Harmonie der Seelenkräfte integriert. Dann wäre nämlich eine Entartung der Vernunft denkbar, eine einseitige Betonung der Ordnung, der Struktur, der Homogenität, wodurch jene Abwechslung und Kopräsenz von Vertrautheit und neuen Reizen, von Reflexivität und Erfahrung, von Handeln und Empfangen behindert wäre, in der laut Eberhard die Vollkommenheit des Menschen besteht 67 . Eine solche paradoxerweise disharmonische Dominanz des Harmonischen könnte so auch dann vorliegen, wenn die Vernunft die Asymmetrien unter den Seelenkräften vollständig ausmerzen wollte, wie sie mit den angeborenen Anlagen und der Geschichte von deren kontingenter Entfaltung gegeben sind und die doch die auch positiv zu beurteilende und zu bewahrende konkrete Individualität konstituieren. Eberhard verträte damit ein Konzept maßvoll verallgemeinerter Individualität, in dem diese weder allein in der inkommensurablen Faktizität ihres jeweiligen Bildungszustandes oder in der vorzeitigen genetischen Festlegung aufginge noch in einer normativen Gattungsidentität zu verschwinden bestimmt wäre. Die individuelle Identität wäre gleichsam 'im Fluß', aber nicht unabhängig von

67

Vgl. oben 1.2.

144

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

der Bestimmtheit ihrer Quelle und von gewissen Eindämmungen des Variationsspielraumes und nicht ohne vorgegebenen Richtungssinn. Es ist zuzugeben, daß diese Deutung unsicher bleibt, daß zumindest die Integration des Vernunftbegriffes in seinen eigenen Gegenstandsbereich weit über das hinausgeht, was Eberhard selbst zum Thema äußert, und daß dadurch möglicherweise mehr Aporien der Konzeption offenbar werden, als der Konsistenzgewinn abfedern kann. Gleichwohl lassen sich dieser Deutung Eberhards differenzierte Erörterungen verschiedener Typen von Vermögensasymmetrien - sprich: von Charakteren (vgl. AThDE 208f.) - bzw. von Stärkegraden der Entfaltung solcher Asymmetrien - d.h.: von Temperamenten (vgl. AThDE 234) - zuordnen, und zwar als Generalisierungen aus konkret-individuellen Asymmetrien auf mittlerem Niveau, auf dem die spezifischen Begabungen, aber auch die spezifischen Gefahren einer bestimmten Vereinseitigung noch erkennbar sind, das aber nicht mehr so individualisiert ist, daß es nur in sehr scharf umgrenzten Situationen verhaltensorientierend zu werden vermag. Viel wichtiger aber ist, daß von hier aus sowohl ein Blick zurück auf Schleiermachers Freundschaftstheorie fallen kann als auch ein Übergang zur Behandlung der dieser folgenden Texte sichtbar wird. Denn sollte die Ausprägung der Person weder durch die Anlagen noch durch den bisherigen Verlauf der Biographie vollständig determiniert sein, und sollte auch die Vernunft als Vermögen der Einsicht in die maßvolle Entfaltung der Seelenkraft und in die Bestimmung des Menschen und insofern als kybernetische Instanz sich allererst nach Maßgabe des Grades jener Entfaltung entwickeln, so gewinnen soziale Bildungsprozesse hohe Bedeutung. Man kann dann nämlich nicht mehr behaupten, der Einzelne sei apriori und faktisch zur konzisen Erkenntnis seiner selbst, der gegebenen Proportionalität seiner Seelen vermögen, der Angemessenheit von deren kontingenter Entfaltung, der tunlichen und anzustrebenden Proportionalität und insgesamt der eigenen Bestimmung fähig. Vielmehr muß ihm das Wissen um die Vernunft vermittelt bzw. dessen Realisierung von außen gefördert werden. Dies schließt ein bzw. geschieht durch die Kommunikation von Bildern gelingenden Lebens, oder es fördert zumindest die Entwicklung eigener solcher Bilder. Ebenso können ihm konkret defizitäre Entwicklungen, Verzerrungen, Disproportionalitäten seiner Seelenkräfte, die er aufgrund eben dieser Defizite selbst nicht oder nicht hinreichend deutlich wahrnehmen kann, durch Andere - Erfahrenere, Ausgebildetere, aber auch mit anderen Defiziten Behaftete - mitgeteilt werden. Beides zusammen eröffnet dem Einzelnen sowohl eine realistischere Selbsteinschätzung als auch Wege der Selbstkorrektur und Selbstvervollkommnung. Insofern bei

2. Eberhards Vorstellungstheorie

145

niemandem nun eine bereits vollständige Erkenntnis und Realisierung der eigenen Anlagen und das Fehlen jeglicher durch eigenes Handeln oder durch widrige Umstände verursachter faktischer Disproportionalitäten jener Realisierung angenommen werden kann, gibt es niemanden, der der sozialen Kommunikation der eigenen Fehlprägungen und Fehlentwicklungen sowie insgesamt des eigenen Entwicklungsstandes vor dem Horizont eines ebenfalls zu kommunizierenden normativen Bildes von der Bestimmung seiner selbst, des Menschen und der Welt überhaupt schlechterdings unbedürftig wäre. Deshalb können die Bildungsprozesse auch nicht vollkommen einseitig erfolgen, die Möglichkeit, wenn nicht Notwendigkeit von Wechselseitigkeit ist mit Eberhards Theoriemitteln durchaus aussagbar. Weiterhin ermöglicht Eberhards Betonung der zur Vollkommenheit notwendigen Kopräsenz von Denken und Empfinden und zwar in möglichst vielfältigen Abstufungen, d.h. sein Verständnis der Personwerdung durch Anreicherung der Vorstellungskomplexität durchaus, den personsteigernden Nutzen der Wahrnehmung irreduzibler Andersheit und so den mittelbaren Impuls zu deren Förderung im Medium seiner Theorie zu erfassen. Es ist also auch von Eberhards Vorstellungstheorie her nicht ausgemacht, daß sein Verständnis der Freundschaft auf deren versittlichende Funktion beschränkt bleiben mußte. Die besondere Pointe dieser Theorie, die basale Instabilität der Seelenoperationen und der Einheitsform der Seele, hätte vielmehr geradezu zu einer stärker sozialtheoretisch orientierten Formulierung der Psychologie einladen können. Ebenso wie für die »Sittenlehre der Vernunft« 68 ist auch hier festzuhalten, daß dies nicht geschah. Schleiermacher dagegen gelingt es, durch Integration von Elementen und Denkformen dieser Vorstellungstheorie in die Beschreibung von Freundschaftsverhältnissen zum einen die Bedeutung von Rezeptivität und von Wohlgefallen am singulären Anderen für anspruchsvolle soziale Beziehungen aufzuzeigen und Eberhards Psychologie damit für die Sozialtheorie so fruchtbar zu machen, daß diese nicht mehr nur einseitig normativ und rationalistisch gefaßt werden muß, zum andern aber umgekehrt die konstitutive Funktion von Sozialität für die Bildung und Entfaltung der internen Pluralität in der Einzelseele detailliert herauszuarbeiten. Freilich kann unentschieden bleiben, ob und wie weit Eberhard gegebenenfalls selbst im mündlichen Vortrag implizit oder explizit diese Konsequenzen aus seiner eigenen Theorie gezogen hat. Entscheidend ist, daß Schleiermacher Eberhards Theorie unter dieser Problemstellung, in dieser Selektivität und Vernetzung, auf diesem Komplexitätsniveau wahr- und aufgenommen und so mit ihr gearbeitet hat. 68

Vgl. oben 1.5.

146

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

Die gesonderte Untersuchung von Texten Eberhards hat allerdings auch spezifische argumentative Schwächen, Unklarheiten, Mehrdeutigkeiten der Theorie offengelegt, die deutlich mit den oben 69 an Schleiermachers Freundschaftskonzept aufgezeigten Problemen korrespondieren, jedenfalls mit den nicht unmittelbar auf die Sozialtheorie bezogenen. Das bringt es mit sich, daß die Aporien der Theorie Schleiermachers durch den Vergleich mit Eberhard erhellt und sogar verschärft werden. Das gilt zunächst für Schleiermachers Schwanken in der Gewichtung der einzelnen Funktionen der Freundschaft bzw. in seiner Schwierigkeit, bei unverkennbarer Prävalenz der Versittlichungsfunktion die Intention der Differenzierung von Freundschaft und Wohltätigkeit aufrechtzuerhalten 70 ; dies entspricht der Beobachtung, daß bei Eberhard eine kategoriale Unterscheidung zwischen Freundschaft und der sittlichen Pflicht allgemeiner Menschenliebe fehlt 71 . Mehr noch aber erscheinen Schleiermachers Schwierigkeiten, die Allgemeinheit und Evidenz der materialen Bestimmtheit des Sittengesetzes trotz faktischem Dissens und trotz der Behauptung der Beschränktheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und der evolutionär-sozialen Bedingtheit von deren Ausbildung zu erweisen 72 , bei Eberhard gleichsam prinzipialisiert wieder, wenn dieser die Allgemeinheit der Vernunft nur unter Rekurs auf die behauptete empirische Evidenz der unmittelbaren Selbstwahrnehmung jedes Einzelnen begründen kann 73 . Auch Eberhard kann deshalb die Rationalität und universale Geltung des Wissens von der Bestimmung des Menschen und der übrigen Dinge nur statuieren; seine Integration des Denkens unter die Seelenkräfte, die ihrerseits nie in vollkommener Ausprägung tätig, sondern je in Entwicklung begriffen sind, läßt eine rational-universale Durchdringung der Struktur der Wirklichkeit (und damit auch der Seelenkräfte selbst) nur approximativ und deshalb in der beanspruchten Reinheit strenggenommen gar nicht zu. Was bei Eberhard freilich Schwächen in grundlegenden Weichenstellungen für den Theorieaufbau überhaupt sind, sind bei Schleiermacher Probleme der Darstellung, die die konzeptionelle Weiterarbeit anregen und in Bewegung setzen. Dies bedeutet aber ein Doppeltes: einerseits eine Kontinuität von Themen und Problembewußtsein, die die Selektivität der Rezep-

69

Vgl. oben Kap. 1, 2.6.2 - 2.6.5.

70

Vgl. oben Kap. 1, 2.6.5.

71

Vgl. oben 1.5.

72

Vgl. oben Kap. 1, 2.6.3.

73

Vgl. oben 1.4.

2. Eberhards Vorstellungstheorie

147

tion prägen (wenngleich nicht völlig determinieren); andererseits jedoch eine Diskontinuität von Lösungsansätzen, Terminologien, Perspektiven, Darstellungsweisen. Darum leuchtet vom Bisherigen her ein, daß Schleiermacher im unmittelbar den Aristoteles-Anmerkungen folgenden Text »Ueber das höchste Gut« Kants Vernunft-Kritik aufgreift. Eben damit versucht er, eine in Verfolg der Ausarbeitung einer Freundschaftstheorie aufgetretene theoretische Schwäche zu beheben. Umgekehrt orientiert und limitiert dieses Interesse, zumindest zunächst, die Kant-Rezeption. Folgerichtig bemüht Schleiermacher sich in dem »Freiheitsgespräch« um eine Vermittlung der Kantschen Position mit dem System der Schulphilosophie, dem sich doch wichtige Elemente und Darstellungsperspektiven des Freundschaftskonzeptes verdanken 74 . Und auch in der großen Freiheitsschrift liegen die Kontinuitäten zur Freundschaftstheorie so deutlich am Tage, daß man gut daran tut, die Kant-Rezeption als 'zwischeneingekommen', gewissermaßen als zweiten Schritt von Schleiermachers Theorieentwicklung und nicht als diese begründend zu interpretieren.

Erst bei der Beschäftigung mit Spinoza hat sich das Verhältnis dergestalt umgekehrt, daß nun Kant die Folie des Verstehens darstellt. Aber noch hier spielt der Vergleich mit Leibniz eine wichtige Rolle. Vgl. dazu unten Kap. 8(.

Drittes Kapitel Geselliger Realismus und anthropologische Universalität: Grenzbestimmungen und Grenzüberschreitungen der sozialtheoretischen Ausgangskonstellation

Einleitung An den Aristoteles-Anmerkungen hatte die Untersuchung Schleiermachers frühes Interesse an geselligkeits- und sozialtheoretischen Fragestellungen und mit der Freundschaftstheorie eine erste, erstaunlich komplexe und integrative sozialtheoretische Konzeption herausgearbeitet, die sich am Vergleich mit der Sittenlehre und Vorstellungstheorie seines philosophischen Lehrers Eberhard als zwar in vieler Hinsicht diesem verbunden, aber dennoch konzeptionell als sehr eigenständig erwies, sich freilich dem Traditionsstrom einer Neugewinnung sozialer Strukturierung und Orientierung über die Freundschaftssemantik einordnete 1 . Allerdings waren dabei bereits Schleiermachers Schwierigkeiten deutlich geworden, die paradigmatische Bedeutung einer per definitionem partikularen, auf den Schutzraum der Diskretion und des Ausschlusses der Öffentlichkeit angewiesenen Sozialform der wechselseitigen Aufrichtigkeit und der ungeschönten wechselseitigen Beurteilung für menschliche Sozialität überhaupt plausibel zu machen: Zwar ermöglichte die Unterscheidung der Sozialform Freundschaft von dem 'Prinzip Freundschaft', die Ausstrahlungen des neuen sozialen Ideals auf vorstrukturierte Gesellschaftsformen zu thematisieren 2 ; in bezug auf politische Unterordnungsverhältnisse, wo anders als in Ehe und Familie die konventionellen, strukturellen Ungleichheiten nicht durch informell-individuelle Verhaltensweisen und Verhaltensregeln relativiert und sukzessive überwunden werden können, kam er jedoch über das resignative negative

1

Vgl. oben die Einleitung und Kap. 1.

2

Vgl. oben Kap. 1, 4.

Einleitung

149

Konstatieren der offenbaren Unvereinbarkeit von Freundschaft und Herrschaft kaum hinaus. Aber auch in bezug auf Geselligkeit brachte es die antihöfische, antikonventionelle Traditionslinie des Freundschaftsmotivs mit sich, daß konventionelle Formen geselligen Umgangs nur als Negativfolie, als der eitle Gegensatz der erfüllenden freundschaftlichen Kommunikation erschienen. Ehe die Auswirkungen der freundschaftstheoretischen Ausgangskonzeption auf Schleiermachers psychologische, anthropologische, ethische und auch ontologische Grundlagenreflexionen untersucht werden 3 , sollen deshalb vier Texte behandelt werden, die in verschiedener Hinsicht die freundschaftstheoretische Konzeption reflektieren und zugleich auf bestimmte Defizite einer solchen an privaten Vertrautheitsverhältnissen orientierten Sozialtheorie reagieren. Die 1789, also ein Jahr nach den AristotelesAnmerkungen entstandene Skizze »Über das Naive« 4 behandelt ihren Gegenstand als Problem des geselligen Lebens und verbindet eine Kritik der Konventionalität des Umganges mit der Wahrnehmung der Ambivalenz der unbefangenen öffentlichen Selbstexpression als Ideal und als Illusion, entwickelt also eine vorsichtig kritische Außenperspektive auf die freundschaftstheoretische Konzeption erfüllter Sozialität, ebenso wie sie den Übergang zu einer positiven Erfassung nicht-freundschaftlicher Sozialbeziehungen andeutet (1.). Die Abhandlung »Ueber den Styl« von 1790/91 5 erörtert die offengebliebene Frage, wie Individualität überhaupt mitgeteilt werden kann, entwickelt eine Theorie der Sprache als des zeichenhaften Kommunikationsmediums von Vorstellungen und untersucht die Bedingungen und Probleme sprachlicher intersubjektiver Verständigung (2.). Die fiktive Brieffolge »An Cecilie« von 1790 6 geht aus von der Erinnerung einer geselligen Mißstimmung und Irritation anläßlich einer Äußerung religiöser Skepsis und rekonstruiert verschlüsselt-biographisch, aber mit dem Anspruch typologischer Geltung die Genese einer Krisis überkommener subjektiver Vergewisserungsinstanzen, zu denen neben Religion und Naturerlebnis auch die Freundschaft gehört; dabei bleibt die konstitutive Bedeutung jener Instanzen für die erfüllte Lebensführung vorausgesetzt, als partikular und zufällig in Frage gestellt wird nur die vergewissernde Kraft des unmittelbar-faktischen Erlebnisses oder der konkreten Lebensformen und Begründungssemantiken, die dem Einzelnen qua Geburt und Sozialisai

Vgl. unten Teil II.

4

K G A I / 1 , 177 - 187.

5

KGA 1/1, 363 - 390 (sowie der Entwurf, 357 - 361).

6

KGAI/1, 189-212.

150

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

tion vorgegeben sind (3.). Wird hier schon die partikulare Sozialform der Freundschaft auf anthropologische Allgemeinheit hin transzendiert und erfährt erst von da her ihre Legitimation, so zeigt in anderer Weise auch die an Weihnachten 1791 gehaltene Predigt über die allgemeine Menschenliebe 7 , daß Schleiermachers Konzeption erfüllter Sozialität keineswegs notwendig in Gegensatz steht zu anthropologisch-universalistischen Argumentationen (4.). 8 Diese vier Texte bestätigen auf der einen Seite das Motivationspotential, das das Problem der Darstellung von Sozialbeziehungen für Schleiermachers Theorieentwicklung von Anfang an bildete, und treiben diese Darstellung durch Differenzierungen sowie die Einführung und das Kopräsenthalten mehrerer Perspektiven zu einem höheren Grad von Realistik; auf der anderen Seite dokumentieren sie Schleiermachers Interesse an begrifflicher Klärung und methodisch-rationaler Transparenz, das sich verbindet mit dem Einheits- und Allgemeinheitsinteresse der Vernunft. Damit weisen sie voraus auf die philosophischen Grundlegungstexte »Ueber das höchste Gut«, »Freiheitsgespräch« und »Ueber die Freiheit«, die in einer spezifischen Gemengelage von schulphilosophischen, kantischen und auch griechischklassischen Momenten eine vernünftig-allgemeine Rekonstruktion der Voraussetzungen und Implikate einer Theorie endlicher, durchgängig sinnlich bestimmter Individuen in konstitutiver sozialer Pluralität und permanenter Interdependenz im kausal-temporal gedachten Kontinuum der Wirklichkeit unternehmen 9 .

7

SW II/7, 117 - 134.

8

Die spannungsvolle Kopräsenz von Hochschätzung und vorsichtiger Relativierung der Freundschaft bzw. Häuslichkeit zeigt sich auch im Briefwechsel: Auf der einen Seite preist Schleiermacher in Schlobitten, dankbar »für geselliges Glück«, das »häusliche Leben« als den Zustand, »zu dem doch der Mensch bestimmt ist«, während er in Berlin »freundlos« und also bestimmungsfremd »hätte leben müssen« (KGA V/1, 221: Brief 160 an den Vater [16.8.1791], Z. 166-174; Hervorhebung von mir); auf der anderen Seite verfaßt er - ausweislich eines verlorenen, von Dilthey referierten Briefes Stubenrauchs, den die Herausgeber von KGA V/1 etwa auf Mitte 1791 datieren (vgl. 222, Apparat) - eine »gründliche() Defensionsschrift über die Grenzen von Achtung, Freundschaft und Liebe« (Leben Schleiermachers, 60).

9

Vgl. unten Teil II.

151

1. »Über das Naive«

1. Konvention und Authentizität: Geselligkeitstheoretische

Rekonstruktion

des Begriffs des Naiven

1.1. Unerwartete Simplizität: »Naiv« als soziales Relationsurteil Der Aufsatz »Über das Naive« besteht im wesentlichen in einer Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohns Abhandlung »Über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften«, die Schleiermacher in der erweiterten Fassung in der 2. Auflage von Mendelssohns »Philosophischen Schriften« vorlag 10 . Oberflächlich betrachtet, kritisiert er dabei zunächst nur Mendelssohns unpräzise Begriffsbestimmung: Definiere dieser das Naive als »das Einfaltige (,) hinter dem etwas verborgen ist« (181,8f.), so beschränke er damit die Verwendung des Begriffes auf den »Ausdruk« und auf »Handlungen« und werde so dem »Sprachgebrauch« nicht gerecht, der durchaus auch einen naiven »Charakter« und naive »Gedanken« kenne (179,5-8); zudem gebe er mehrere, untereinander uneinheitliche und widersprüchliche »Beschreibungen« (179,12) dessen, wovon das »Einfältige« (181,9) »Ausdruk« (179,5f.) und Zeichen sein soll; vor allem aber sei die Bestimmung so unspezifisch, daß sie auch sicherlich nicht-naive Phänomene wie das Erhabene (vgl. 180,9-21, Anmerkung, sowie 185,19-35) umfasse. Schleiermachers eigene Definition, naiv sei »das simple, das wir nicht erwartet hätten« (182,12), scheint dagegen nur auf der Ebene der Begriffsklärung diese Mängel beheben zu wollen: Sie integriert alle Facetten des Sprachgebrauches und vermag sie einander zuzuordnen, sie ermöglicht eine konsistente Klassifikation und Beurteilung der den Eindruck des Naiven auslösenden Ursachen (vgl. 186,2-5) und die Abgrenzung des Naiven vom Erhabenen (vgl. 185,19-35). Tatsächlich aber verändert sie völlig den Charakter des Begriffes: Bildete bei Mendelssohn das statische, objektiv zu konstatierende und zeichentheoretisch zu erfassende Verweisungsverhältnis eines sichtbaren, als simpel zu beschreibenden 'Gegenstandes' (Verhaltens, Ausdrucks) auf einen diesem zugrundeliegenden unsichtbaren Zustand (Charakter, Gedanken) das Kennzeichen des Naiven und behandelte er dieses deshalb zurecht im Zusammenhang der »schönen Wissenschaften«, als Problem der künstlerischen (vor allem literarischen) Darstellung solcher Verweisungsverhältnisse, so wird bei Schleiermacher das entscheidende Moment des Begriffes das Verhältnis eines Beobachters zu dem Gegenstand

Zweyter Theil, Berlin 1771, 153 - 240. Vgl. den Nachweis durch G. Meckenstock in KGA 1/1, LI.

152

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

seiner Beobachtung, genauer: das Verhältnis der Erwartungen eines Beobachters hinsichtlich des Gegenstands seiner Beobachtung zu dem beobachteten Verhalten oder Zustand des Gegenstandes selbst: präzise das überraschende Nichteintreten des Erwarteten. »Naiv« ist nicht mehr das Prädikat eines Urteils über eine bestimmte Differenz von Zeichen und Bezeichnetem, sondern über einen 'Gegenstand' in einer bestimmten Relation zum Beobachter, wobei die Differenz von Zeichen und Bezeichnetem nicht konstitutiv ist: es kann ja - wie beim naiven Charakter 11 - gerade die Identität von Ausdruck und Gemeintem sein, was überrascht. Da als naiv zu nennende 'Gegenstände' nur menschliches Verhalten und menschliche Zustände in Frage kommen, wird das Naive mithin in der sozialen Interaktion verortet; es wird zu einem Problem der Sozial- und Geselligkeitstheorie. Dabei ist folgendes wichtig: 1.) »Naiv« ist immer ein Urteil über Andere. 2.) Es konstatiert Simplizität und Unmittelbarkeit, wo der Beobachter Komplexität und Reflexivität erwartet hatte. 3.) Es unterstellt, daß die das Urteil auslösende Differenz dem Beurteilten selbst nicht bewußt ist (eine bewußte Enttäuschung der Erwartungen Anderer ist nicht mehr naiv). 4.) Es impliziert bestimmte Einstellungen und Vormeinungen des Beobachters und ist insofern immer relativ zu diesem, sagt immer auch etwas über ihn aus. 5.) Es tritt eher und häufiger auf bei eklatanten Differenzen der Einstellungen und kulturellen Prägungen zwischen Beobachter und Beobachteten, kann deshalb auch als Urteil einer Gesellschaftsschicht über eine andere, eines Kulturkreises über einen anderen Anwendung finden (vgl. 181,19-25). 6.) Es schließt ein die Annahme eines Bildungsgefälles zwischen Beobachter und Beobachteten, die aber - wie sich zeigen wird durchaus mehrschichtig und keineswegs von eindeutiger moralischer Valenz ist.

1.2. Überraschende Authentizität: Der naive Charakter Die Verschiebung des Interesses am Naiven manifestiert sich vor allem darin, daß bei Schleiermacher nicht mehr die naiven Ausdrücke und Handlungen im Mittelpunkt der Darstellung stehen, sondern der naive Charakter, den Mendelssohn durch die Beschränkung des Naiven auf das Äußere (vgl. 182,19-22) gar nicht erfassen konnte. Der naive Charakter wird nun ganz geselligkeitstheoretisch beschrieben.

11

Vgl. unten 1.2.

1. »Über das Naive«

153

Im geselligen Umgang wird von den Beteiligten die Anerkennung der gesellschaftlichen Konventionen und die Anpassung des Verhaltens an diese bzw. bereits die Antizipation der Konventionen in der inneren Verhaltensorientierung wechselseitig vorausgesetzt und normativ erwartet. Unter dem Titel der »Klugheit« (vgl. 183,20) fungiert eine vorausschauende Resonanzsensibilität, die das eigene Verhalten nicht an den Kriterien der Aufrichtigkeit und des Vertrauens auf das Wohlwollen und das Interesse der Anderen an solcher Aufrichtigkeit ausrichtet, sondern an der Vorwegnahme möglicher Anstößigkeiten und deren tunlichster Vermeidung, und das heißt vor allem: die sich an einem gewissen mittleren Ton der Unverbindlichkeit orientiert und im übrigen die eigene Individualität zurücknimmt, da bzw. soweit sie die Balance zwischen den einzelnen Teilnehmern des geselligen Kreises zu verschieben oder durch Mißtöne und Irritationen die harmonische Stimmung zu zerstören droht. Dies bedeutet, daß der Einzelne in der Geselligkeit sich als von sich selbst entfremdet erfährt und daß er sich von den Anderen nur in solcher Uneigentlichkeit wahrgenommen weiß; zugleich weiß er, daß dies für alle anderen Beteiligten genauso gilt. Gesellige Verträglichkeit scheint nur durch je individuelle Selbstzurücknahme erreichbar zu sein, die nur durch permanente Reflexivität, durch beständiges Präsenthalten der Differenz von Selbstsein und Sozialität durchgehalten werden kann. Diese Reflexivität, dieses Differenzbewußtsein erwartet jeder beim Anderen. Eben die Durchbrechung dieser Erwartung gilt nun dem Betrachter als naiv. Von einem naiven Charakter kann man freilich erst sprechen, wenn die einzelnen als naiv erscheinenden Äußerungen sich als in einem einheitlichen Prinzip der internen Selbststeuerung innerlich verbunden und nach diesem Prinzip erfolgend erweisen 1 2 . Das Überraschende (und das Urteil der Naivität Begründende) ist dann, daß zu diesem Prinzip die Reflexivität der geselligen Selbstzurücknahme eben nicht gehört. Überraschend ist das in doppelter, eher noch gewissermaßen in potenzierter Weise: Nicht nur ignoriert das gesellige Verhalten des Betreffenden die Konvention der Selbstverleugnung und besteht umgekehrt in unmittelbarer, um ihre Wirkung unbekümmerter, aufrichtiger Selbstexpression, dies - für sich schon unerwartet erweist sich vielmehr nicht als Ausdruck von mangelnder, ungenügend 'humanisierter' Bildung des Selbst, sondern gerade als Äußerung einer »große(n) Ausbildung im moralischen« (182,28), die bei der wahrzuneh-

12

Vgl. in den Aristoteles-Anmerkungen die Definition von Charakter als die Fähigkeit, nach »Grundsäze(n)« zu handeln, die »praktische(n) Urtheile (...) Maximen« unterzuordnen (19,22.26). Vgl. dazu oben Kap. 1, 3.1.

154

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

menden »Simplicität im Conventionellen« (182,28f.) nicht zu erwarten war 1 3 . Das Durchbrechen der Konvention gewinnt so eine eigentümliche Schärfe. Es kann nicht mehr auf individuelle Defizite - Kulturlosigkeit, Enthemmung, fehlender Takt - zurückgeführt und damit in seiner Bedeutung für den Zustand des geselligen Lebens neutralisiert werden; es impliziert vielmehr eine Kritik des »falschen und nichts sagenden (,) womit der äußere Umgang angefüllt ist« (183,5f.), das offenbar hervorgerufen wird von dem »unrichtigen und verschrobenen, was die Macht der niedrigsten Leidenschaften in die innere Handelweise der meisten Menschen gebracht hat« (183,6-8) 1 4 . Zugleich aber unterstellt der ' Naive' in seiner »Offenheit« und »Einfalt« (184,1) ipso facto das Gegebensein einer idealen Geselligkeit, die die unbefangene Selbstexpression fördert und honoriert, ja die geradezu in der wechselseitigen Mitteilung von Individualität besteht, die ihrerseits ermöglicht ist durch die individuelle »Ausbildung im moralischen« (182,28), die - in richtigem Denken und feinem Empfinden bestehende (vgl. 183,1 f.) - »Bildung des Geistes« (183,3). Es liegt am Tage, daß dies jene Form der Geselligkeit ist, die Schleiermacher in den AristotelesAnmerkungen als Freundschaft ausführlich beschrieben und diskutiert hatte. Freundschaft erscheint so als die Realgestalt idealer Geselligkeit, und die Freundschaftstheorie erörtert Probleme der Realisierung und Kontinuierung (und auch der Ausbreitung) anthropologisch-idealer Sozialität. Der 'Naive' verhält sich also in konventioneller Gesellschaft, als wäre er unter Freunden, bzw. er ignoriert die faktischen Deformationen und Restriktionen, und genau dies macht in den Augen der Anderen seine Naivität aus. Das Urteil, jemand habe einen naiven Charakter, ist mithin ein höchst komplexes Urteil mit mannigfaltigen Implikationen. Auf der einen Seite anerkennt der Urteilende damit die Authentizität der Selbstexpression als angemessenen Ausdruck moralischer Bildung und die dabei mitgesetzte (unterstellte) Gestalt der Geselligkeit als ideale Form der Sozialität. Zugleich aber akzeptiert er mit seinem Urteil die in der Unmittelbarkeit des gebildet-naiven Verhaltens liegende Kritik an der konventionellen Geselligkeit, deren Kriterien er - wie seine (ebenfalls im Urteil per definitionem Ein gewisser Widerspruch liegt im übrigen darin, daß Schleiermacher diese Verbindung von geselliger »Simplicität« und moralischer Bildung für »fast natürlich« (182,29) hält und sich dafür auf die »Erfahrung« (182,27) beruft, während sie doch andererseits Uberraschend sein muß, um als naiv gelten zu dürfen. Auch dies paßt nicht ganz zu der Behauptung, die gesellige Selbstzurücknahme sei Ausdruck hoher Reflexivität und bedeute geradezu Entfremdung von den unmittelbaren Interessen und Neigungen.

1. »Über das Naive«

155

vorausgesetzte) Überraschung angesichts des abweichenden Verhaltens deutlich macht - gehorcht, zumindest bisher unerachtet aller Entfremdungserfahrung gehorchte 15 . Das Urteil schließt also eine implizite Selbstkritik des Urteilenden ein, insofern er unkritisch in die konventionelle Erwartung einstimmte, sich an ihr orientierte. Auf der anderen Seite jedoch distanziert sich der Urteilende von dem als naiv Gekennzeichneten: Das Urteil konstatiert eine Verkennung der Verhaltenserfordernisse in der realen geselligen Situation, eine illusionäre Identifikation der defizitären Realität mit der Wirklichkeit des Ideals, oder - wenn man die partikulare Verwirklichung des Ideals in der Freundschaft in Betracht zieht - eine schwärmerische Verallgemeinerung einer partikularen und als solcher realen Erfahrung auf andere Formen faktischer Sozialität. Jedenfalls impliziert das Urteil Vermutungen über die schlechten Chancen des Naiven, sich »in der Welt« durchzusetzen (183,24) 16 . Mittelbar liegt darin die bedingte Anerkennung der konventionellen Normen, zumindest die Aufforderung, die faktische Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit bzw. zwischen verschiedenen, dem Ideal mehr oder weniger entsprechenden Sozialformen für die Verhaltensorientierung in Rechnung zu stellen und sich den im jeweiligen sozialen Kontext gültigen Regeln nicht völlig zu verschließen, also gewissermaßen realistische und differenzierte Perspektiven auf die soziale Wirklichkeit zu gewinnen. Ist der Naive also einerseits ein Zeichen, ein Aufblitzen erfüllten, mit sich selbst in Einklang stehenden individuellen Lebens inmitten der Verzerrungen und Entstellungen faktischer Geselligkeit, macht er auch eben dadurch die Kriterien wahrer, idealer, auf Sittlichkeit beruhender und die Individualität der Beteiligten herausfordernder und fördernder Geselligkeit bekannt und bewußt, so eignet er sich dennoch nicht als Vorbild der Verhaltensorientierung. So sehr das Urteil der Naivität das im so beurteilten Verhalten offenbare Ideal der Selbstbildung und der Sozialität affirmiert, so deutlich ist doch, daß sich dieses Ideal nur in den konkreten sozialen Bezugsfeldern und unter Berücksichtigung von deren spezifischen Bedingungen und Bedingtheiten realisieren läßt und nicht durch deren bloße

Bezeichnenderweise heißt es, es seien jene der Perversion der Geselligkeit Unterworfenen, die den naiven Charakter »mit dem zweideutigen Lob der Naivetät beehren« (183,17f.) - freilich »die besten« unter ihnen (183,17). Über seine mangelnde Begabung zu konventioneller Geselligkeit und zum Sich-inSzene-Setzen und seine daraus folgenden schlechten Chancen, es in der Welt zu etwas zu bringen, klagt im übrigen der junge Schleiermacher selbst. Vgl. KGA V/1, 294: Brief 216 an den Vater (10.5.1793), Z. 124-129.

156

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

Negation 1 7 - ganz abgesehen davon, daß die Wahrnehmung und Identifikation naiver Unmittelbarkeit ebendiese Unmittelbarkeit beim Beobachter und somit deren Imitation schlechterdings ausschließt. Insofern steht Schleiermachers Aufsatz »Über das Naive« zwar eindeutig in der antihöfischen, konventionskritischen Tradition der Freundschaftstheorie und Freundschaftssemantik, transzendiert diese aber zugleich ansatzweise hin auf eine realistische Erfassung der sozialen Wirklichkeit, freilich ohne die in der Freundschaftstheorie entwickelten Leitbilder und Idealvorstellungen gelingender Sozialität aufzugeben.

1.3. Naivität und Kultur Der naive Charakter erscheint ungebildet, ist es aber nicht. Freilich können auch tatsächlich Ungebildete in den Augen der Gebildeten naiv erscheinen, und zwar dann, wenn ihre »gewöhnlich simp(le)« (181,16) Ausdrucksweise in eine Situation trifft, wo der Gebildete komplexeres Handeln, Denken oder Reden (vgl. 181,18) erwartet hätte. An dieser gewissermaßen einfachen Form des Naiven macht Schleiermacher jenen Sprachgebrauch fest, der auch ganze Völker und Kulturkreise als naiv bezeichnet (vgl. 181,19-25; ferner 181,26 - 182,11). Auch dies ist ein Relationsurteil: Es setzt eine starke Differenz der Bildung voraus. Je 'gebildeter' ein Volk, und d.h. j e weiter in seinen Sitten von der Natur entfernt, desto mehr »Gefühl fürs Naive« (181,21) entwickelt es bei anderen Völkern, die sich der Natur noch nicht 'entbildet 1 haben. Bei dieser frühen Thematisierung der Kulturdifferenzen - die in der Schrift »Ueber den Werth des Lebens« breit ausgeführt wiederbegegnet 18 - verklärt Schleiermacher bemerkenswerterweise keineswegs die Ursprünglichkeit und Naturnähe der ungebildeten Völker und spielt sie gegen die vermeintliche Dekadenz der Zivilisation aus. Die Notwendigkeit der Bildung steht außer Frage. Eher scheint er umgekehrt bei den 'Naturvölkern' Ansätze der Bildung erkennen zu wollen, wo der neuzeitliche Europäer gewöhnlich nur Unbildung wahrnimmt. So hebt er 17

Nur hingewiesen sei hier darauf, daß sich genau an diesem Punkt - an der bleibenden Berücksichtigung der bürgerlichen Lebensverhältnisse als des Ortes, an dem sich ideale Sozialität zu realisieren und zu bewähren hat - noch 1800 Schleiermachers »Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde« bei aller sonstigen Zustimmung von Schlegels Position abheben. Vgl. dazu: H. Dierckes: Die problematische Poesie. Schleiermachers Beitrag zur Frühromantik. In: K.-V. Selge (Hg.): Schleiermacher-Kongreß. Band 1. Berlin - New York 1985, 61 - 98, besonders 85f.

18

Vgl. unten Kap. 6. Siehe aber auch bereits die Abhandlung »Ueber das höchste Gut«. Vgl. dazu unten Kap. 4, 1.

1. »Über das Naive«

157

am Beispiel der »idealischen Schäfer()« (181,23) der (antiken oder barocken?) Bukolik eine Feinheit der Bildung der Empfindungen hervor, der aber - für den modernen Betrachter überraschenderweise - keine entsprechende Bildung der Sitten korrespondiert, womit er den Kontrast von Bildung und Unbildung, von Komplexität und Simplizität bereits in der Zeit und dem Erfahrungsraum der vormodernen Völker selbst verortet und als Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der verschiedenen Seelenvermögen beschreibt 1 9 . Freilich läßt er unerörtert, inwieweit diese Ungleichzeitigkeit den 'Naturvölkern' selbst die Erfahrung des Naiven ermöglicht. Immerhin unterstellt er bei Homer - der der Moderne als naiver Dichter erscheint - ein Gefühl für die rührende Wirkung der Darstellung des Naiven, eine Raffinesse, die den Verlust eigener Naivität indiziert (vgl. 181,26 - 182,11). In einer Analogie zum Verhältnis der gebildeten Völker zu den Naturvölkern steht das Verhältnis der Erwachsenen zu den Kindern. Hier läßt sich der transitorische Charakter und die Unmöglichkeit der Fixierung und Imitation jener Ungleichzeitigkeit der Bildung aufzeigen, die dem Betrachter den Eindruck des Naiven vermittelt. Schleiermacher verdeutlicht dies am Problem der Kinderliteratur (vgl. 184,18 - 185,14): Kann sie sich ohnehin kaum in die besondere Erfahrungs- und Auffassungsweise von Kindern und in das besondere »Kolorit« (185,1), worin sie ihre Erfahrungen und Einsichten ausdrücken, hineinversetzen, so läuft sie, gerade wenn das gelingt und sie den spezifischen Ton einer gebildeten Darstellung trifft, hinter der die Unverbildetheit der Empfindung noch spürbar ist, Gefahr, die auf Überwindung der Ungleichzeitigkeit von Verstandes- und Empfindungsbildung hin tendierende Dynamik der kindlichen Entwicklung zu mißachten und beizeiten den Kindern »selbst einfältig und verächtlich vorzukommen« (185,13). Kinderliteratur muß diese Entwicklung antizipieren und damit auch katalysieren, indem sie sich »immer noch eine oder ein paar Stuffen über dem Ton der Kinder zu erhalten« weiß (185,10f.). Nicht das Festhalten kindlicher Simplizität, sondern umfassende Bildung der Seelenvermögen muß daher das Ziel der Erziehung sein. Auch diese Erwägung weist mithin zurück auf die zentrale Bedeutung der gebildeten Simplizität des naiven Charakters.

Überraschend ist hier im übrigen die Wahrnehmung einer Simplizität hinter einer Komplexität, nicht w i e beim naiven Charakter die Wahrnehmung einer sich einer Komplexität (moralischer Bildung) verdankenden Simplizität hinter einer Simplizität.

158

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

2. Selbstverständigung und Selbstmitteilung: Probleme der sprachlich vermittelten Kommunikation in der Abhandlung »Heber den Styl« Die Aristoteles-Anmerkungen erfaßten sensibel die anthropologischen Implikate und die Funktion wechselseitiger vertraulicher Kommunikation 20 . Unerörtert blieben dabei jedoch eigenartigerweise Fragen, die die innere Möglichkeit von Selbstexpression und Selbstmitteilung bzw. der Wahrnehmung solcher Selbstmitteilungen betreffen: Wie - in welchem Medium vollzieht sich eigentlich 'Kommunikation von Individualität1? Und was wird da genau kommuniziert? Wie wird der Zweck dieser Kommunikation, die Wahrnehmung des Andern als Andern, erreicht? Wie ist das (oder der) Andere überhaupt Verstehbarl Diese Lücke füllt die fragmentarische Abhandlung »Ueber den Styl« 21 , eine Ausarbeitung Schleiermachers für den Unterricht der jungen Grafen Dohna in Schlobitten aus dem Winter 1790/91 22 , mit einer Theorie des sprachlichen Ausdrucks von Vorstellungen und der sprachlichen intersubjektiven Verständigung. Ausgehend von der kategorialen Differenz von Vorstellung - als der streng individuell gedachten basalen psychischen Entität - und Sprache als allgemeinem Zeichensystem für deren Ausdruck, das aber seinerseits wiederum je individuell verwendet wird, beleuchtet Schleiermacher dabei hell die Notwendigkeit der Versprachlichung schon für die Selbstverständigung, umso mehr für die soziale Kommunikation, zugleich aber die UnWahrscheinlichkeit und den Voraussetzungsreichtum des Versteh e n , was dieses zur beständigen Aufgabe und die Ausbildung einer Kunstlehre zur methodischen Steigerung der Angemessenheit des sprachlichen Ausdrucks sowohl zu den individuellen Vorstellungen als auch zu den Verhältnissen der intendierten Rezipienten erforderlich macht. Bietet die Abhandlung so in der Tat »mannigfaltige() Ansatzpunkte (...) für die Entwicklung und Ausarbeitung der Schleiermacherschen Hermeneutik«23, so steht sie zugleich ganz im konzeptionellen Zusammenhang von Schleier-

20

Vgl. oben Kap. 1.

21

KGA 1/1, 363 - 390; vgl. den überlieferten Entwurf 357 - 361.

22

Zur Frage der genauen Datierung vgl. die Einleitung des Bandherausgebers in KGA 1/1, LIX - LXII, bes. LIXf.

23 So G. Meckenstock in der Historischen Einführung zu KGA 1/1, LXI (Hervorhebung von mir), in Abgrenzung gegen »Diltheys abschätziges Urteil«: »Flüchtig wie sie entstanden sind, so daß sie bisweilen extemporiert wurden, bieten sie nichts, was hervorgehoben zu werden verdiente« (Denkmale 63).

2. »Ueber den Styl«

159

machers sozialtheoretischem Theorieansatz 24 . Insofern die Schwierigkeiten des Verstehens in unbekannteren und distanzierteren sozialen Kontexten wachsen und also das Bedürfnis nach reflexer Orientierung dort dringender wird, transzendiert sie freilich die Freundschaftstheorie im engeren Sinne, stellt jedoch die Verbindung zu dieser selbst wieder her, indem sie auch freundschaftliche Vertrautheitsverhältnisse als Anwendungsgebiet der Stilistik eigens begründet (vgl. 366,26 - 327,1).

2.1. Das Problem der Kommunikation Schleiermacher setzt das Bedürfnis, sich anderen mitzuteilen bzw. die Selbstmitteilungen anderer zu rezipieren, unerörtert voraus; man wird dafür die in den Aristoteles-Anmerkungen entwickelten Motive interpolieren dürfen 2 5 . Die Notwendigkeit der Selbst-Verständigung betont er hingegen ausdrücklich; sie illustriert die grundlegende Unterscheidung der Vorstellung als des psychischen Elementarereignisses von deren zeichenhafter Darstellung und die Funktion der Transformation von jener in diese für die Etablierung und Kontinuierung eines individuellen Selbstverhältnisses. Schleiermacher akzentuiert diese ungemein folgenreiche Unterscheidung auf zweierlei Weise: Einmal hebt er die »Schnelligkeit (...), mit welcher die Gedanken in unsrer Seele auf einander folgen und einander gleichsam vertreiben« (384,9-11), als den gewissermaßen natürlichen Grund dafür hervor, daß die dadurch entstehenden Ideenketten dem Einzelnen selber in ihrem Zusammenhang und in ihrer Komplexität und dauernden Bewegung nicht unmittelbar zugänglich und als sie selber reproduzierbar sind; umgekehrt 'arbeitet' die Seele mit elliptischen, nur angedeuteten, assoziativen Anschlüssen, die das Bewußtsein nicht ohne Explikationsanstrengungen mit- und nach vollziehen kann. Diese reflexiv uneinholbare Komplexität und Schnelligkeit der seeleninternen Prozesse sucht er zum andern durch eine psychologische Theorie von Sinnlichkeit, Verstand und Einbildungskraft (Fantasie) als den »drei Geseze(n) nach denen unsre Vorstellungen in uns entstehn und auf einander folgen« (373,3f.) zu begründen, wonach bei Bildung einer Gedankenreihe gemäß dem einen Gesetz die anderen Gesetzmä24

Die Eigenständigkeit wird noch dadurch unterstrichen, daß Schleiermacher für Begriffe und Anwendungsbeispiele häufig auf Johann Christoph Adelungs dreiteiliges Werk »Ueber den Deutschen Styl« (in der dritten Auflage, Berlin 1789) zurückgreift, ohne aber von dessen Anlage konzeptionell beeinflußt zu sein.

25

Vgl. oben Kap. 1, 1.2. und 2.5. - Zu beachten ist jedoch, daß das Interesse erst erweckt werden muß.

160

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

ßigkeiten immer mitpräsent bleiben und in die Reihenbildung einzugreifen bestrebt sind, so daß einlinige Konsequenz nie von selber erreicht wird, sondern in einem zugleich Komplexität reduzierenden und Komplexion explizierenden, zugleich seligierenden und entfaltenden, nachgängigen Verfahren erst errungen werden muß. Die Selbstverständigung ist mithin zwar notwendig, aber sie ist immer eine Selbstobjektivation mit dem Risiko der Selbstverfehlung durch falsche oder zu starke Reduktion oder durch verzerrende Explikation. Eine gewisse begriffliche Kontrolle der Angemessenheit dieser Selbstobjektivation ermöglicht die Unterscheidung von Hauptvorstellung und Nebenvorstellung, die die Theorie der Reihengesetze so reformuliert, daß die einer Gesetzmäßigkeit folgende dominierende Vorstellung (bzw. Vorstellungsreihe) immer von Vorstellungsreihen der anderen Gesetzmäßigkeiten begleitet wird; denn dann bildet die Gewichtung zwischen Haupt- und Nebenvorstellungen ein Kriterium der Sachgemäßheit der Objektivierung - wobei allerdings die Schwierigkeit bestehen bleibt, daß die Hauptvorstellung faktisch nie ohne die nicht vollständig reproduzierbare konkrete Fülle der Nebenvorstellungen existiert, so daß die Selektion von Nebenvorstellungen auch das Verständnis der Hauptvorstellung mitbestimmt. Die Selbstverständigung ist freilich nur ein abkünftiger Sonderfall des zu behandelnden Problems (der als Moment der Steigerung der Differenziertheit der Darstellung immerhin im Auge behalten werden muß). Grundkonstellation ist vielmehr die Mitteilung eigener Vorstellungen an Andere. Das wird deutlich bei der Erörterung des Mediums, worin sich die Darstellung und Deutung, kurz: der »Ausdruk« (365,11) der Vorstellungen als desjenigen, »was wir in unsrer Seele gewahr werden, es sei Gedanke, Begriff oder Empfindung« (365,8f.), vollzieht, indem als dieses Medium die Sprache und ausdrücklich als konventionelles und mithin sozial vermitteltes Zeichensystem namhaft gemacht wird 26 . Einen für die Verständigung hinreichenden 2f

> Schleiermacher geht aus von einem allgemeinen Zeichenbegriff, unterscheidet bei diesem zwischen natürlichen, wesentlichen und willkürlichen Zeichen und ordnet diesen jeweils den »Styl« der verschiedenen »schönen Künste und Wissenschaften« zu (365,23) - ein erster Versuch der Systematisierung und anthropologischen Verortung der Künste -: Sind die natürlichen Zeichen unmittelbare Folgen der bezeichneten Sache (etwa Mimik und unartikulierte Ausrufe als Zeichen innerer Bewegtheit) - die entsprechende Kunstform ist die Musik -, so konstituiert die wesentlichen Zeichen eine Ähnlichkeit von Zeichen und Bezeichnetem, was in der bildenden Kunst der Fall ist. Schleiermachers eigentliches Interesse in diesem Aufsatz gilt aber den willkürlichen Zeichen, die »blos durch Verabredung an die Sache gebunden« sind (365,20f.), nämlich der Sprache als einem System von Wörtern und der zugehörigen Kunstform der Literatur.

2. »Ueber den Styl«

161

Grad an Gegenständlichkeit ('Objektivität'), Festigkeit und Bearbeitbarkeit erreicht die Sprache freilich noch nicht als gesprochene - die Wörter sind hier zwar unmittelbare Zeichen der Vorstellungen, aber kaum weniger flüchtig als diese -, sondern erst, wenn diese ihrerseits in das sie bezeichnende System der Schrift transformiert und dadurch fixiert sind 27 . Genauer muß man sagen: Das Niveau der Konkretion und situationsüberdauernden Dauerhaftigkeit, der Identifizierbarkeit und Korrigierbarkeit, der Zugänglichkeit und Diskutierbarkeit, das dem schriftlich Niedergelegten eignet, ist der Maßstab für die Ansprüche an die Aussagekraft auch der mündlichen Kommunikation. Gewährleistet die durch die Orientierung an den Standards der Verschriftlichung noch verstärkte Allgemeinheit der Sprache die Gemeinsamkeit des Mitgeteilten, so verschärft sich jedoch noch die Frage, ob in diesem Medium die individuellen Vorstellungen überhaupt vermittelt werden können. Denn zwar vollzieht sich deren Versprachlichung durchaus auf individuelle Weise - das allgemeine Kommunikationsmedium wird immer je individuell angeeignet und angewendet -, aber dies stellt gleichwohl eine Entäußerung in eine vom Individuum nicht vollständig zu kontrollierende Sphäre dar, da auch die Rezeption der allgemeinen Sprachzeichen und die Rückübersetzung in Vorstellungen durch Andere je individuell ist und die ursprüngliche Vorstellung von einem Bezugssystem her versteht und in dieses integriert, das ihr fremd ist. Zieht man die oben erörterte unvermeidliche Selektivität und Verzerrungstendenz schon der individuellen Selbstverständigung hinzu, so ergibt sich ein komplexes Bild der Unwahrscheinlichkeit des Verstehens, das in der Tat die »Neigung zum Mißverstand« (377,20) als die realistische Anfangsunterstellung bei jeder Kommunikation anzunehmen geraten sein läßt: (1) sind die momentanen Vorstellungen eines Menschen in ihrer Konfiguration von Haupt- und Nebenvorstellungen, in der Kopräsenz von Sinnlichkeit, Verstand und Fantasie als reihenbildenden Instanzen je individuell und werden (2) schon bei der wiederum individuellen Versprachlichung seligiert und dabei der Gefahr der Verzerrung und Verfehlung ausgesetzt, wobei die Funktion der Versprachlichung - Selbstverständigung oder Mitteilung, und bei der letzteren auch die konkreten Adressaten - die Selektion der Selektionskriterien bestimmt, so daß von einer unabhängig davon gegebenen, absoluten Ausdrucksgestalt einer Vorstellungskonstellation gar nicht gesprochen werden kann. (3) stellt diese wenngleich individuelle Versprachli-

Konsequenterweise empfiehlt Schleiermacher auch für die Selbstverständigung die schriftliche Objektivation (Tagebücher etc.). Vgl. 366,19-26.

162

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

chung gleichwohl eine Entäußerung in die Allgemeinheit der Sprache dar, die zwar unvermeidlich ist, wenn überhaupt Verständigung gesucht wird, die aber (4) das Verständnis des Mitgeteilten der ihrerseits individuellen Sprachverwendung der Adressaten überlassen muß, bei denen zudem noch (5) der Erfahrungsschatz und die Imaginationsfähigkeit die Dechiffrierung der Sprachzeichen in individuelle Vorstellungskonfigurationen ermöglichen muß, die den Ausgangskonfigurationen entsprechen. Dabei ist nicht nur damit zu rechnen, daß der Adressat mit bestimmten Sprachzeichen andere Vorstellungsgehalte (Bedeutungen) verbindet als der Mitteilende, sondern auch daß er bei der Rezeption die Gewichtung von Haupt- und Nebenvorstellungen verändert, und sogar daß er in Kombination dieser Verfehlungen einen Nebenton der Mitteilung mißversteht und zugleich in den Mittelpunkt seines Verständnisses stellt 28 . Diese Fülle der Mißverstehensmöglichkeiten ist auch in der Freundschaft nicht so stark reduziert, daß bei der wechselseitigen brieflichen »freundschaftlichein) Ergießung des Herzens« (366,29) ein solches intuitives Verständigt-Sein vorausgesetzt werden könnte, das sprachliche Präzision (guten Stil) bei der Selbstmitteilung unnötig macht, da der Andere Fehlendes ohne weiteres hinzuimaginieren oder Verwischtes mühelos sich verdeutlichen könne. Denn zwar fällt im freundschaftlichen Briefwechsel der Zwang zu konventionell-äußerlichen Sprachformen weg, aber zugleich erhöhen sich auch die Ansprüche an die Individualität des Mitgeteilten und damit an die Differenziertheit der Mitteilungsform. Mag so die gewachsene Vertrautheit mit der Vorstellungswelt und mit der Sprachverwendung des Freundes sowie die Entstehung einer Sphäre seelischer Gleichstimmung das Verständnis für dessen Selbstmitteilungen erleichtern, so bricht gerade das freundschaftliche Interesse für immer neue Individualitätswahrnehmungen diese in sich ruhende Gleichstimmung immer wieder auf und verlangt nach überraschenden, nicht intuitiv vorwegnehmbaren, vielmehr den Spielraum des zu Erwartenden sprengenden Selbstmitteilungen des Anderen, deren sprachliche Formung deswegen keineswegs durch die Unterstellung stabil harmonischer Vorstellungswelten von Präzisionsansprüchen entlastet, sondern durch das dynamische Verständnis von Freundschaft zur Präzision geradezu genötigt ist. 28 Noch gar nicht miterfaßt sind bei dieser Auflistung mögliche Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Ausdrucksarten bei einem Menschen in einer bestimmten Situation, also etwa zwischen Mimik und sprachlicher Selbstauslegung oder Selbstmitteilung, welche Diskrepanzen den Beobachter hinter die Selbstauslegung zurückfragen und ggf. ein Selbstmißverständnis, einen Ubertragungsfehler von der Vorstellung in die Sprache vermuten lassen - von bewußter Täuschung ganz zu schweigen.

2. »Ueber den Styl«

163

2.2. Stilistik als methodische Kontrolle und Förderung kommunikativer Vollzüge Ist Verstehen mithin unwahrscheinlich, so ist es doch nicht unmöglich. Die Analyse der Verständnisbarrieren markiert zugleich die Voraussetzungen gelingender Verständigung. Der Aufweis der Nichtselbstverständlichkeit indiziert nur eine zu leistende Aufgabe. Nach dem Bisherigen handelt es sich bei dieser Aufgabe um die Kontrolle der Versprachlichung und Verschriftlichung von Vorstellungen und die Rezeption und Identifikation dergestalt versprachlicht vermittelter Vorstellungen sowie um die Förderung derartiger Verständigungsprozesse durch Einsicht in die Eigentümlichkeit sprachlicher Kommunikation und in daraus abgeleitete Regeln für die konkrete Sprach Verwendung. Insofern nun »Styl« als die Kunst der deutlichen Darstellung von Vorstellungen durch Worte bzw. durch Schriftzeichen zu bezeichnen ist (vgl. 365,33 - 366,7), bildet die Stilistik als die Entwicklung und Systematisierung der Regeln reflektierten Sprachgebrauchs die gesuchte praxisorientierte Kunstlehre. Ihre Kriterien gewinnt diese Kunstlehre aus der Analyse der Kommunikationssituation und aus basalen anthropologischen Annahmen über das Bedürfnis und die Funktion intersubjektiver Verständigung. Grundlegend ist dabei die Bestimmung der »Absicht des Styls« (369,1): Die Reflexion des kommunikativen Sprachgebrauchs hat nicht nur die Verständlichkeit des Mitgeteilten (1), sondern auch die Weckung und Erhaltung des Interesses (2) des Rezipienten an der Mitteilung zu intendieren. 'Stilisierung' dient mithin nicht allein der propositionalen Verdeutlichung des Sinnes der mitzuteilenden Wörter und Sätze um ihrer Adäquatheit zu den darin ausgedrückten Vorstellungen willen, sondern ebenso der performativen Akkommodation der Sprachgestalt an die vermutete Stimmungslage, Erwartungshaltung und Sprachbildung des Adressaten bzw. genereller der spezifischen Rezeptionsöffentlichkeit 29 . Mittel zur Erreichung dieses doppelten Zweckes ist nun zunächst die Selektion der zur Mitteilung

In dieser Doppelung der Abzweckung des Stils schlägt sich Eberhards Lehre von den deutlichen Vorstellungen nieder, die für sich allein der Lebhaftigkeit und deshalb der Motivationskraft entbehrten (vgl. oben Kap. 2, 2.2.). Bezeichnenderweise begegnet dieses Eberhardische Moment aber wiederum wie in den Aristoteles-Anmerkungen im Zusammenhang einer sozialtheoretischen Verortung rationaler Orientierung in intersubjektiven Kommunikationsprozessen, in denen die kontingente Situation und die emotionale Gestimmtheit mitbestimmend wirken. - Zur Auswirkung dieses Moments in Ethik und Anthropologie vgl. unten Kap. 4, 1. die Behandlung der Schrift »Ueber das höchste Gut«.

164

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

geeigneten Vorstellungen - bei der freilich strittig ist, ob sie bereits zur Stilistik selbst gehört oder nicht vielmehr zu deren psychologischen Voraussetzungen (vgl. 370,18-22) -, dann aber vor allem die Auswahl geeigneter Wörter und deren Anordnung im Satz, sowie auf der Makroebene des Textes die Wahl und Anordnung der Sätze (vgl. 370,32 371,9). Zieht man schließlich die beiden oben beschriebenen 30 Haupthindernisse der Hinordnung der Sprache auf diesen Zweck hinzu - (a) die Verbindung der Subjektivität der individuellen Sprachverwendung mit der 'Objektivität' des Sprachmaterials und (b) die schwierige »Regierung der Nebenvorstellungen« (373,33f.) so ergibt sich ein vierstelliges Raster der »allgemeine(n) Eigenschaften« des Stils (374,1), deren konkrete kriterielle Bedeutung für Wortwahl und Wortstellung, Satzwahl und Satzstellung im einzelnen jeweils aufgewiesen werden muß - wobei dann der ganze materiale Bestand der Wort- und Satzbildungslehre (und auch der Orthographie, vgl. 366,5-11) systematisch erfaßt werden kann: Grundlegend ist die Klarheit (1/a) als Eindeutigkeit des Bezuges des sprachlichen Ausdrucks auf die ausgedrückte Vorstellung. Sie wird flankiert (1/b) durch die Angemessenheit, nur solche Nebenvorstellungen mitzukommunizieren, die der Mitteilung der Hauptvorstellung nicht widerstreiten. Durch Lebhaftigkeit (2/b) hingegen evoziert der Ausdruck beim Rezipienten »Nebenvorstellungen (...), welche das Interesse befördern« (374,9f.). Leichtigkeit (2/a) schließlich bewirkt, daß der Leser die kommunizierten Vorstellungen ohne Mühe »als seine eignen ansehn kann« (374,8), d.h., daß er dazu motiviert wird, die sprachliche Gestalt im Kontext seiner Vorstellungswelt zu dechiffrieren und damit zu resubjektivieren. Eindeutig ist hier die Priorität des Verstehens vor dem Interesse, das auch nur als Interesse am Verstehen geweckt werden soll. Deshalb kommt der Klarheit die entscheidende Bedeutung für den guten Stil zu; insofern ist der Mangel zwar nicht unerheblich, aber für die Einsicht in die Gesamtkonzeption doch zu verkraften, daß Schleiermacher von den Eigenschaften des Stils nur sie behandelt hat 31 . Dabei fällt auf, daß Schleiermacher sich bei der Diskussion und Beurteilung der Stilmittel hinsichtlich ihrer Klarheit generell an der allgemeinen Öffentlichkeit einer Nationalsprache - genauer: des Deutschen, da jede Stilistik sich immer nur auf eine bestimmte Sprache beziehen kann (vgl. 366,7-11) - in ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstand orientiert, dies freilich immer im Zusammenhang mit einer Konzeption der 30

Vgl. oben 2.1.

31

Der Text bricht kurz vor Ende der Behandlung der Klarheit mitten im Satz ab. Vgl. 390,37.

2. »Ueber den Styl«

165

Entwicklungstendenz von Sprache überhaupt hin auf größere Differenziertheit und Spezifikation der Bedeutungen und auf Ausweitung der sprachlich erfaßten Phänomene und Sachverhalte. So lehnt er die Verwendung veralteter, dem gegenwärtigen Zustand der Sprache nicht mehr angemessener entweder überhaupt unverständlich gewordener oder in veränderter bzw. spezifizierter (engerer) Bedeutung gebräuchlicher (vgl. 379,22 - 380,8) Wörter ebenso ab wie den Gebrauch provinzieller, nur regional bekannter Wortbildungen und Wortbedeutungen - die er nicht einmal im Roman als Mittel der lebendigen Charakterisierung einfacher Leute akzeptiert, sofern darunter die Verständlichkeit leidet (vgl. 380,20-26). Die zu seiner Zeit gängige Kritik der Fremdwörter und die Forderung der Eindeutschung vollzieht er, freilich im Gefalle seiner Konzeption behutsam differenzierend, mit: Einerseits sollen Fremdwörter vermieden und durch deutsche Äquivalente ersetzt werden, sie seien denn durch langen Gebrauch bereits gewissermaßen 'eingebürgert' (vgl. 378,10-12), andererseits soll die Tendenz der Verdeutschung - so »wolthätig für die Sprache« sie »an sich« ist (378,36) nicht zu einem solchen »Purismus« gesteigert werden, der auch bewährte Fremdwörter zu eliminieren sucht, und jedenfalls ist die Übernahme fremdsprachiger Begriffe so lange unvermeidlich, wie das Deutsche noch nicht den Differenzierungsgrad etwa des Französischen erreicht hat (vgl. 378,1217). Eindeutig positiven Funktionswert hat die Verwendung von Fremdwörtern sogar in der wissenschaftlichen Kunstsprache, wo Fachbegriffe, die ein Ensemble von Einsichten und Regeln bündeln und symbolisiert appräsentieren, die Verständigung der Experten beschleunigen. Diese Fachbegriffe müssen konventionell eindeutig bestimmt sein, und dies ist bei Fremdwörtern leichter, da hier nicht noch die mitschwingenden umgangssprachlichen Bedeutungsfelder ausgeschaltet werden müssen, sondern das bisher unbekannte Wort zugleich mit seiner Definition mitgeteilt werden kann. Allerdings ist diese SpezialSprache der Experten eindeutig als Sonderfall gegenüber der Normalität und Normativität der Allgemeinverständlichkeit gekennzeichnet; eine Verwendung der wissenschaftlichen Begriffschiffren in geselligem Umgang ist deshalb unstatthaft, sie wirkt entweder pedantisch oder affektiert (vgl. 380,27 - 381,26). Im Gegensatz zu solcher deplacierter Begriffsesoterik wird die (allgemeine) Verständlichkeit gefördert durch erläuternde Zusätze, von denen Schleiermacher allgemeine Sätze, Beispiele (einzelne Sätze) und Bilder behandelt (388,10 - 390,37). Allgemeine Sätze helfen den Rezipienten, die dargelegte »Idee« in den »Zusamenhang mit ihren übrigen Einsichten« zu integrieren (388,17f.), jedenfalls dann, wenn sie weder so weit vom einzelnen Fall abstrahiert sind, daß sie der für alle Fälle gültigen »Verstandesregel« nahekommen und

166

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

also für dessen Verständnis nicht austragen, noch so nahe am Einzelfall bleiben, daß sie ihn nicht erläutern, sondern nur verdoppeln (vgl. 388,2125). Ratsam ist hier oft eine Reihe von Erläuterungen, die (induktiv oder deduktiv) schrittweise eine Verbindung zwischen Einzelfall und Verstandesregel herstellen (vgl. 388,26 - 389,1). Beispiele veranschaulichen einen an sich bereits geklärten Sachverhalt durch Darstellung einer »Anwendung« desselben; sie erfüllen ihren Zweck aber nur, wenn sie leicht und schnell faßlich sind und nicht ihrerseits der Erläuterung bedürfen (vgl. 389,11-26). Bilder schließlich »erläutern die Beschaffenheit der Sache durch ein ähnliches Verhältniß« (390,2f.; Zitatumstellung von mir) - wobei der »Vergleichspunkt« aber »leicht zu finden« und die »Aehnlichkeit« »so treffend sey(n)« muß, »daß sie einen hohen Grad von Klarheit über die Sache verbreitet« (390,4f.). Darf dabei freilich weder eine Art von Erläuterung im Überfluß verwendet noch der Stil durch eine Anhäufung aller drei Arten »überlad(en)« werden (390,9), so dürfen die Arten auch nicht vermischt werden, so daß der allgemeine Satz witzig oder Beispiel und Bild allgemeingültig zu sein beanspruchen; denn dann läuft man »Gefahr Unsinn zu sagen« (390,18) und mithin den intendierten klärenden Effekt zu konterkarieren. Überhaupt sichert die Menge der explizierenden Worte keineswegs die Verständlichkeit; vermeidet sie zwar den Fehler der allzuknappen Darstellung, in der Regel unbegründet einen Konsens der Vorstellungswelten zu unterstellen 32 , so rechnet sie doch vorschnell mit einem Konsens der individuellen Sprachverwendungen und übersieht, daß mit jedem Wort möglicherweise differierende individuelle Konnotationen mitgesetzt und deshalb die Gefahr des Mißverstehens erhöht ist (vgl. 382,33 - 383,12). Schleiermachers Stilistik ist eindeutig am Ideal der klaren und distinkten und vor allem zusammenhängenden Mitteilung von Ideen (propositionalen Gehalten) orientiert. Deshalb paßt sie auf der einen Seite in den Zusammenhang der anhand der Freundschaftstheorie entwickelten intersubjektivitätstheoretischen Konzeption der wechselseitigen Individualitätswahrnehmung und -kommunikation und präzisiert diese Konzeption in entscheidenden Punkten, übersteigt freilich ihre auf die Sozialform Freundschaft bezogenen Prämissen hin auf die Erhellung allgemeiner Verständigungsbedingungen; auf der anderen Seite jedoch kann sie Sprache nur als notwendiges, aber sekundäres Medium der Mitteilung von Vorstellungen wahrnehmen. Für die Sprache an sich, für ihre Brüche, Zweideutigkeiten, Ungleichzeitigkeiten, Unregelmäßigkeiten, hat er nur beschränktes Verständnis. Ihre vollständige Elimination gilt ihm zwar als nicht nur nicht realisierbar, sondern 32

Vgl. oben 2.1.

3. »An Cecilie«

167

auch als nicht wünschenswert, da dies der Sprache »viel von ihrer Schönheit rauben« würde (375,18f.); aber ein spielerischer, experimenteller, der Kontrolle des Darstellungs- und Mitteilungsinteresses und dem Zwang zur Kohärenz entzogener Umgang mit den Stilmitteln der Sprache liegt außerhalb seines Gesichtsfeldes. Dies verdient festgehalten zu werden als Kontrast zu der hochartistischen Sprachkunst und dem Lob der fragmentarischgebrochenen Darstellung, wie sie Schleiermacher einige Jahre später im Kreise der Frühromantiker begegneten - zumal deshalb, weil das in der Schrift »Ueber den Styl« dokumentierte Zuordnungsverhältnis von Vorstellung und Sprache eine nie mehr aufgegebene Konstante in Schleiermachers Theorieentwicklung bildet 33 .

3. Krisis der Ordnungsgewißheit und biographische Integration: »An Cecilie« Die (unvollendete) fiktive Brieffolge »An Cecilie« (KGA 1/1, 1 8 9 - 2 1 2 ) steht in doppelter Hinsicht mit dem herausgearbeiteten geselligkeitstheoretischen Ansatz in Beziehung: Zum einen ist die die Erörterung auslösende Situation als Störung einer - im engeren Sinne freundschaftlichen, also nicht nur konventionellen - Geselligkeit beschrieben (dem entspricht die dialogische Struktur der Briefform, die auch dann vorliegt, wenn wie hier keine Antwortbriefe mitgeteilt werden); zum anderen aber wird die Krisis der Vertrauenswürdigkeit und der unmittelbaren, unbefragten Geltung der sozialen Strukturen und Ordnungsinstanzen thematisiert, in die der Einzelne durch Geburt und Sozialisation hineingestellt ist, und zu diesen gehört auch die Freundschaft (vgl. 207,11-26). Das Einheitsinteresse der Vernunft, das diese Entzweiung mit der Lebenswelt auslöst und deren Überwindung begleitet und begründet, erscheint dabei erstmals eingebunden in ein umfassendes anthropologisches Konzept der biographisch-genetischen Rekonstruktion der Entwicklung und Bildung aller Seelenvermögen und ihres Verhältnisses zueinander - welches Konzept (wie zu zeigen sein wird) den im Medium der Schulphilosophie Kant aufnehmenden philosophischen »Rhapsodien« und Abhandlungen zugrunde liegt und in diesen präzisiert 33

Vgl. nur die »Reden« und die »Glaubenslehre«. Dazu: R. Leuze: Sprache und frommes Selbstbewußtsein. Bemerkungen zu Schleiermachers Glaubenslehre. In: K.-V. Selge (Hg.): Schleiermacher-Kongreß. Band 2. Berlin - New York 1985, 917 - 922. - Die Differenz zwischen dem 'frühromantischen' Schleiermacher und F. Schlegel im Sprachverständnis hat herausgearbeitet K. Nowak, Frühromantik, 222 - 224.

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I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

und begrifflich strenger Entfaltung zugeführt wird 34 und das in der Schrift »Ueber den Werth des Lebens« zum Zwecke der Erhellung der Selbstverhältnisse von Individuen um eine umfassende Darstellung der menschlichen Lebenssphären erweitert wird 35 , bei der wiederum die Geselligkeit in herausragender Stellung erscheint. Da schließlich hier erstmals die Religion in ihrem Verhältnis zu Herz und Vernunft, in ihrer biographisch-faktischen und in ihrer rational verantworteten Bedeutung - ausführlich zur Sprache kommt und damit zudem ein - freilich typologisierend-verallgemeinerter und theoretisch reflektierter - Rückblick auf »Schleiermachers und C.G. von Brinkmanns Gang durch die Brüdergemeine« 36 vorliegt, kann Meckenstocks hohe Meinung vom Rang dieses Textes nur unterstrichen werden 3 7 .

3.1. Dissonanz in freundschaftlicher Geselligkeit Ausgelöst wird der Briefwechsel durch eine Verstimmung im freundschaftlichen Umgang zwischen dem Briefschreiber 38 und der Adressatin Cecilie. Diese Verstimmung ist verursacht durch den im Medium seiner von Schleiermacher verlesenen Gedichte gewissermaßen mitanwesenden Selmar (d.h. Brinckmann) 39 . Cecilie, die diese Gedichte offenkundig als unmittelbare Selbstexpression des Dichters als Individuum auffaßte, reagierte verstört auf den »Sprung« (191,14), den sie zwischen jenen »oft so erhabenen, immer so gefühlvollen Stellen« voller »Unsterblichkeitsahndung« und »liebliche(r) Vorempfindung eines ewigen Wiedersehns« (191,19f.) und einem einzelnen 34

Vgl. unten Teil II.

35

Vgl. unten Kap. 6.

36

So der Titel des Buches von Ernst Rudolph Meyer, Leipzig 1905.

37

Vgl. Deterministische Ethik, 132 (»Schlüsselroman«) sowie insgesamt 132 - 147. Ähnlich auch K. Nowak in seiner Sammelrezension »Die neue Schleiermacher-Ausgabe« in: T h L Z 109 (1984), Sp. 917-926, hier: 924. Anders Albert L. Blackwell in New Athenaeum 1 (1989), 370 - 382, hier: 374: »A few of the nineteen manuscripts of the present volume [sc. KGA 1/1] will perhaps prove to be little more than historical curiosities. The newly revealed essay An Cecilie (ca. 1790), for example, is an almost impenetrable meditation on the verse of Schleiermacher's close friend Karl Gustav von Brinckmann (pen name Selmar), today all but forgotten as a poet.* Blackwell scheint aber sein Urteil über die poetischen Qualitäten Brinckmanns auf den doch nur in sehr eingeschränktem Maße als Kommentar der Brinckmannschen Gedichte zu bezeichnenden Text Schleiermachers zu übertragen.

38

Er wird im folgenden der Einfachheit halber mit Schleiermacher identifiziert.

39

Gedichte von Selmar. 2 Bände. Leipzig 1789. Die entscheidenden Passagen sind zitiert bei Meckenstock, Deterministische Ethik, 132f.

3. »An Cecilie«

169

»Blatt« wahrnahm, »wo selbst die Spuren dieser Gesinnungen gewaltsam weggewischt« scheinen (191,28f.). Sie vermochte also die disparaten Äußerungen nicht zu einer konsistenten Einheit der Person zu bündeln, bzw. sie konnte eine solche Einheit nur finden, indem sie die »vortreflichsten Stüke« (192,6) als durch die Unsterblichkeitsskepsis negiert und zur scheinhaften Oberfläche degradiert betrachtete und jene Skepsis - die eo ipso Immoralität impliziert - als das eigentliche Integrationszentrum dieser Person erkannte 40 . Schleiermacher seinerseits ist verstimmt durch diese (in seinen Augen) Verkennung der Vortrefflichkeit des Charakters seines Freundes durch die Freundin. Diese Vortrefflichkeit, die in der Treue zur Tugend als dem »hauptsächlichste(n)« Gegenstand des Glücksstrebens besteht (vgl. 191,6f.), gilt ihm unabhängig von allen »Meinungen und Vorstellungen«, die der Freund im übrigen »zu seiner Zufriedenheit nothwendig findet« (191,7f.). Deutet sich hierin die Ablösung der Moralität von allen religiösen Bestimmungen an, wie Schleiermacher sie in hG erarbeitet hatte 41 , so sieht er sich doch genötigt, der Freundin nicht nur die Kompatibilität der Unsterblichkeitsskepsis mit einer sittlich hochstehenden Gesinnung, sondern geradezu die Notwendigkeit der Entstehung solcher skeptischer Ideen aus dieser Gesinnung plausibel zu machen. Damit hofft er, die freundschaftliche Harmonie der drei Beteiligten wiederherzustellen: Indem Cecilie die tugendzentrierte Einheit und Authentizität der Person Selmars anerkennt, verschwindet auch Schleiermachers Dissens mit ihr. Die Methode der Plausibilisierung ist die biographisch-genetische Rekonstruktion. Das disparat Erscheinende soll dabei als Moment oder als Phase in den kontinuierlichen und konsequenten Zusammenhang des als Entwicklung und Selbstbildung verstandenen Lebensweges integriert, Widersprüche sollen mithin durch temporale Entzerrung mit der Einheit der Person harmonisiert, ja als von dieser Einheit hervorgebracht und diese umgekehrt weiterentfaltend interpretiert werden. Durch die Integration in die Totalität der Biographie werden Gegensätze also einerseits nivelliert, andererseits aber gerade erklärt und - als nicht-kontradiktorisch - stabilisiert (plausibel gemacht). Schleiermachers Interesse ist freilich nicht die 'historische' Rekonstruktion des moralischen Bildungsganges des Individuums Selmar. Es geht ihm um die allgemeine Frage, wie ein tugendhafter Charakter unter konsequen4

® Zum Problem der Wahrnehmung oder Zuschreibung von Einheit in den Lebensäußerungen des Freundes als Kriterium für deren Authentizität vgl. bereits oben Kap. 1, 2 . 3 . unter (b) und (c).

41

Vgl. unten Kap. 4, 1.

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I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

ter Tugendorientierung zu religiöser Skepsis gelangen kann, ohne damit die Tugend - was für Schleiermacher heißt: die »Richtschnur« der Orientierung und Verstetigung der Lebensführung (vgl. 199,6-8) 42 - zu verlieren. Bei dieser Beschränkung des Konkretionsgrades des Erklärungsanspruchs mag die freundschaftstheoretische Erwägung eine Rolle spielen, daß auf der einen Seite authentische Selbsterklärung letztlich nur Selmar zustehe 43 und auf der anderen Seite auch Cecilie die Aufgabe, sich ein Bild von Selmar zu machen, nicht abgenommen werden dürfe - weshalb Schleiermacher sie auffordert, selbst zu urteilen, welche Momente seiner allgemeinen Darstellung nach ihrer Einsicht auf Selmar zutreffen (vgl. 193,9f.). Wichtiger scheint jedoch zu sein, daß es Schleiermacher tatsächlich um eine idealtypische Darstellung des Zerbrechens der Vertrauenswürdigkeit überkommener geistiger Ordnungsinstanzen und vertrauter sozialer Strukturen gerade bei einem nicht deformierten, nicht eingeschränkten, sondern anthropologischidealen Charakter geht 44 . Diese Idealität wird dadurch unterstrichen, daß Schleiermacher unter Anwendung eines psychologischen Schemas, das Menschentypen gemäß den verschiedenen Kombinationen von starker oder schwacher Denkkraft und starkem oder schwachem Empfindungsvermögen einteilt 45 , Selmar zu derjenigen Gruppe zählt, die große »Empfänglichkeit 42

Hier scheint eine Differenz zu Schleiermachers Position in den - teilweise zeitgleich entstandenen - philosophischen Texten und zu W L vorzuliegen. Diese setzen alle voraus, daß das Sittengesetz die biographische Kontinuität des individuellen Lebens nicht zu gewährleisten vermöge, da es keineswegs in jedem Lebensmoment - und auch nie vollständig - dominant werden könne. Vgl. unten Kap. 4 - 6 . Jedoch wird auch in »An Cecilie« die kriterielle und orientierende Bedeutung des Sittengesetzes nirgends in Frage gestellt, und die Tugend ist das Hauptmoment der »Bestimmung des Menschen«, so daß nach ihr zu streben unter der Verheißung bestimmungsgemäßer Existenz steht.

43

Obwohl die Freundschaftskonzeption j a auch die Kommunikation von Bildern der Individualität Anderer - freilich gegenüber diesen selbst, und mit der Möglichkeit authentischer Korrektur - enthält. Vgl. oben Kap. 1, 2.3.

44

Man wird deshalb die biographisch-autobiographische Komponente des Textes nicht überbewerten dürfen. Zumindest darf man ihn nicht primär als verschlüsselte Autobiographie lesen, abstrahiert er doch nach eigenen Angaben von Brinckmanns Bildungsweg und reflektiert mithin unmittelbar allenfalls die Entwicklung eines vernunftbegabten und zugleich (religiös) empfindsamen jungen Mannes, der von der Brüdergemeinde zunächst angezogen, dann aber abgestoßen wird - was für Schleiermacher und Brinckmann zutrifft. Es scheint sogar, als wollte Schleiermacher an einigen Stellen durch den Hinweis auf alternative, aber in ihrer Wirkung und für den typologischen Zusammenhang äquivalente Verhaltensoptionen die Darstellung für den 'Weltmann' Brinckmann wie für den 'Philosophen' Schleiermacher offenhalten (vgl. 199,14-16 mit 199,25f.). Freilich ist auch jede konkrete Anspielung auf die Brüdergemeinde getilgt.

45

In der Dualität der Vermögen - die Schleiermacher für erfahrungsevident hält (vgl. 200,32) - liegt der Einfluß der Vorstellungstheorie Eberhards am Tage; er zeigt sich

3. »An Cecilie«

171

des Gefühls« mit hohem »Bewustseyn des Vernunftprincips« verbindet (200,36 - 201,1). Freilich: Kann deshalb zwar die Rekonstruktion der Moralität der Unsterblichkeitsskepsis nicht durch die Unterstellung der Unzulänglichkeit des betreffenden Charakters angegriffen werden, so steht für die Zugehörigkeit des Individuums Selmar zum vollkommenen Charaktertyp nur das Urteil Schleiermachers selbst ein (und ggf. das Cecilies, sofern sie sich von Schleiermachers Rekonstruktion überzeugen läßt). An dieser Zuordnung hängt aber die ganze Rekonstruktion, da sie in einer Lebensphase ansetzen muß, in der die Differenzen der Charaktere noch gar nicht ausgefaltet sind (vgl. 200,14-17).

3.2. Die Krisis der Ordnungsinstanzen Der für »Sittlichkeit« und »Wahrheit« (also für 'spekulative' und praktische Vernunft) aufgeschlossene (193,12-18) und empfindungsstarke Charakter unterscheidet sich schon in der ersten Phase nach Eintritt »in die Welt des Verstandes« (194,18f.) vom »gewöhnliche(n) Mensch(en)« (194,17) dadurch, daß er sich nicht »behaglich()« (194,19) einzufügen vermag an dem Ort, wo er gepflanzt ist, und sich nicht zufriedengeben kann mit den hier zufällig möglichen und gegebenen Kenntnissen und Erfahrungen, selbst wenn diese den engen Raum der Herkunft transzendieren. Sein (latentes, sich nur in einer unbestimmten Sehnsucht und Defizitahnung artikulierendes) Einheits- und Begründungsinteresse findet auch an der Schulbildung keine Genüge, weil diese nur parzelliertes Einzel wissen vermittelt ohne »einen Gesichtspunkt (...), wo sich [dessen] allgemeiner Zusammenhang darstelltO« ( 1 9 5 , l l f . ) . Auch die reichlich zuhandenen »geselligen und ästhetischen Empfindungen« (195,16) verfliegen nach kurzem Rausch, da er die Fähigkeit noch nicht ausgebildet hat, »sich alle einzelnen Theile seiner Gefühle zu widerholen, einen Genuß mit dem andern und Wirkungen mit Ursachen zu vergleichen, um auch hier Einheit der Kraft und des Endzweks und Geseze der Wirksamkeit und der Bestrebungen zu finden« (195,19-22; Hervorhebung von mir). Aufgrund seiner Jugend und seines noch sehr eingeschränkten Wissenshorizontes kann das Interesse an »Einheit und Vollständigkeit« (195,30) sich freilich nicht an Gegenständen realisieren, wo

auch, wenn bei der Kombination von starkem Verstand und schwachem Gefühl die Ohnmacht des Verstandes, verhaltensorientierend zu werden, herausgestellt wird (vgl. 202,22-37). Das Verfahren des Schematisierens hingegen scheint Schleiermachers eigene Leistung zu sein; jedenfalls hat er es in seinen reifen Arbeiten, v.a. der Ethik, zur Virtuosität perfektioniert. Vgl. aber schon ÜdS und dazu oben 2.2.

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I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

das Ganze sich erst aus der »Uebersicht aller einzelnen Theile« (195,31; Hervorhebung von mir) ergibt, sondern nur da, wo die »Idee des Ganzen (...) zuerst da seyn muß« (195,33f.), der dann einzelne Teile zugeordnet werden können. Als solche Ideen oder »Gesichtspunkte« (195,32) nennt Schleiermacher Tugend und Religion (vgl. 196,4). Während in der Jugend freilich (vgl. 196,4-13) die »Abhängigkeit des Willens« und der »Bewegungsgründe« von der »Willkühr anderer«, die Nötigung zur Unterwerfung ohne oder gegen eigene Einsicht die Ausbildung der Idee der alle Lebensäußerungen durchdringenden Tugend verhindert sie »wächst nur in den ofnen Gärten der Freiheit« (196,12f.) -, ist die Religion indifferent gegen diese sittliche Heteronomie, ja relativiert sogar die diese begleitende, momentan unabwendbare Einschränkung, indem sie »eine noch größere Abhängigkeit predigt und (...) gleichsam über die kleinere trösten kann (,) welche ein Bild von jener ist« (196,14f.; Hervorhebung von mir) 46 . Da sie zudem keine sittliche und spekulative Eigenleistung verlangt, sondern »mit einer mildthätigen Willigkeit überall [wächst,] wo der Mensch sie ausstreut« (196,15f.) 47 , ist sie die der Jugend offenstehende Einheitsinstanz, die einen individuellen Daseinszweck vermittelt, der in einem »Zusammenhang (...) mit der ganzen Welt« (196,19) steht, und so eine einheitliche Orientierung aller Handlungen und Seelentätigkeiten ermöglicht. Bei der natürlichen Suche nach Gleichgesinnten, nach religiöser Vergesellung führt freilich die jugendliche Faszination für starke Empfindungen und lebhafte Äußerungen zu einer folgenschweren Verirrung: Gerade der begabte Jugendliche schließt sich nicht einer weltoffenen, Wahrheit und Tugend auch bei Außenstehenden wahrnehmenden, teilnehmend-tolerant die Vielfalt der individuellen Lebenswege anerkennenden Gestalt religiöser Gemeinschaft an (vgl. 197,9-18) - hier dokumentiert sich offenkundig

Es ist dies m . W . die erste Äußerung Schleiermachers, die die Religion ausdrücklich als Abhängigkeit bestimmt und - dem Wortlaut nach quantitativ, dem Wortsinn nach hingegen kategorial - unterscheidet von innerweltlichen Abhängigkeiten. Eigentümlich ist allerdings das Analogie- oder Abbild-Verhältnis, in dem die irdische zur religiösen Abhängigkeit steht und das die innerweltliche (relative) Freiheit von der Religion her abzuwerten scheint. Freilich ist zu beachten, daß die Religion j a über einen momentan unabwendbaren, aber keineswegs als dauerhaft wünschbaren und deshalb zu überwindenden Zustand trösten, d.h. gegenwärtiges Weiterleben tragen und Lebensmöglichkeiten für eine bessere Zukunft konservieren soll. Jedoch bleibt die Bedeutung der Religion für den Befreiungsprozeß selbst unklar: Muß er notwendig gegen die Religion durchgesetzt werden, oder ohne sie - oder gar mit ihrer Unterstützung? 47

Vgl. zur Metaphorik auch die Reden »Über die Religion«, etwa KGA 1/2, 305,14-19. Möglicherweise liegt auch eine Anspielung vor auf das biblische Gleichnis von der selbstwachsenden Saat, vgl. Mk 4,26-29.

3. »An Cecilie«

173

Schleiermachers eigenes Leitbild human temperierter religiöser Sozialität -; attraktiv erscheinen ihm gerade asketische, das Leben ihrer Mitglieder gemäß ihrem sehr engen Begriff von Religion durchgängig und rigoros regulierende, sich gegen die Außenwelt abschottende, »alle Urtheile der Welt« ignorierende Gruppierungen, da an diesen der religiöse »Enthusiasmus« besonders lebhaft zu Tage tritt (197,19-21). Dieser Enthusiasmus durchstrahlt alle Lebensvollzüge der Gruppe und nötigt den Einzelnen zu unkritischem Mitvollzug; dazu gehört auch, aufgrund der Autorität des Gruppengeistes die orthodoxe Form der Lehre (»die abgetragenen Hüllen verjährter Meinungen«, 197,26f.) entgegenzunehmen, die sich die Gruppe gegeben hat, damit sie - wie Schleiermacher ironisch anmerkt - »von dem Glanz ihrer [sc. der »Göttin« (197,26) Religion] himmlischen Gestalt nicht geblendet« würde (197,28). 'Selbstdenken' als gleichsam unverhüllter Blick auf die Gottheit, rationale Prüfung, kritische Distanz ist nicht möglich, wird gleichgesetzt mit dem Verlust der Religion selbst; die Vernunft liegt in »Sklavenfesseln« (198,11). In dieser Gestalt hindert die Religion tatsächlich die Entwicklung rationaler Eigenständigkeit. Allerdings kann die praktische Vernunft nie vollends unterdrückt werden. Wenn auch »oft unter einem fremden Namen« (198,20), bleibt selbst unter Bedingungen, die dem Partikularismus der Einbindung ins Überkommene ähneln, das Interesse an überindividueller, situationstranszendenter Geltung von Verhaltensorientierungen präsent und sogar anerkannt (vgl. 198,25-29). Die praktische Vernunft bildet mithin die Statthalterin von Rationalität und Allgemeinheitsinteresse - und das Enzym der Überwindung jener Einschränkung der Vernunft. Denn unvermerkt ändert sich das ethische Begründungsgefälle: Anstelle der »unbestimte(n) Idee des göttlichen Willens« übernimmt nun die »bestimmte() Vernunftidee von Einheit der Grundsäze« (198,30f.) die Funktion ethischer Letztbegründung und begründet mithin auch die Berufung auf den göttlichen Willen 4 8 , selbst wenn diese an der semantischen Oberfläche noch als dominant erscheint. Dieser »Grundkeim von dem Leben des Geistes in dem bessern Zustand, welchen die Vernunft ihm bereitet« (198,32 - 199,2), ermöglicht allererst eine einheitliche, keiner göttlichen oder menschlichen Willkür und ebensowenig den Exzessen und Schwankungen des Gefühls wehrlos ausgesetzte Verhaltensorientierung und gibt damit der Seele die Möglichkeit des situationsunabhängigen Selbstbezugs und der inneren »Festigkeit und Consistenz« wieder, »welche sie sich selbst« durch den Enthusiasmus »rauben zu wollen«

Eine Argumentationsfigur, die übrigens in Eberhards »Sittenlehre der Vernunft« sehr schön zu beobachten ist. Vgl. oben Kap. 2, 1.3.3.

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schien (199,8f.). Jetzt entwickelt sich die Idee der Tugend als diejenige Einheitsinstanz, die eine Selbststabilisierung und Selbststeuerung des Einzelnen auch gegen den Gruppengeist möglich macht. Die Gefangenschaft der spekulativen Vernunft ist freilich dadurch noch nicht aufgehoben. Sie wird dem jungen Menschen - obwohl er einsieht, »daß kein praktischer Grundsaz, der doch immer als ein Lehrsaz, als eine Wahrheit gedacht werden muß, mit den ersten Grundsäzen aller Erkenntniß, oder gar mit den Bedingungen ihrer Möglichkeit in Widerspruch stehn dürfe« (204,9-12) - lange Zeit verborgen gehalten durch ein von den »Verfechter(n) der Schwärmerei« (204,15) hochgehaltenes Verständnis der Vernunft, das diese vermeintlich von dem Vorwurf der Vernunftfeindschaft salviert (vgl. 204,15-32). Sie behaupten nämlich, nur die »Anmaßungen« (204,20) der Vernunft zu bekämpfen: Diese sei aus sich selbst heraus weder zum Urteil über noch zur Gesetzgebung für die Bestimmungen der »innern Gefühle« (204,25) fähig und befugt, sie sei vielmehr bloß das ausführende Organ für deren Realisierung in allen Lebensverhältnissen. Die 'Schwärmer' nehmen für sich in Anspruch, das innere Gefühl - durch welches allein »die Mittel zur Glükseligkeit des Ganzen hervorgebracht werden« könnten (204,27f.) - vom »Despotismus« (204,20) einer sich aufblähenden Vernunft befreit und diese umgekehrt in ihre wahre, nämlich dienende Funktion bei der Hervorbringung der menschlichen Glückseligkeit wiedereingesetzt zu haben 49 . 49

Bemerkenswerterweise formuliert Schleiermacher diese Konzeption in der staatstheoretischen Semantik der Französischen Revolution, so daß seine Äußerungen sich auch als indirekte Stellungnahme zu dieser lesen lassen (die folgenden Zitate 204,15-32): Die »Empörerrotte« beansprucht, nicht Herrschaft an sich zu bekämpfen, sondern nur den »Despotismus«, der sich auch Legislative und Judikative gefügig mache. Sie will statt dessen die Macht anstelle einer vom »Staatskörper« unabhängigen, absolutistischen Gewalt zur bloßen Exekutive machen, zur Funktionärin des »Tiers-état«, der deshalb »der wichtigste [Stand] von allen« ist, »weil nur durch ihn die Mittel zur Glükseligkeit des Ganzen hervorgebracht werden können« (womit möglicherweise die ökonomische Kraft dieses Standes gemeint ist). Die Interessen (»Dekrete«) jener - das Wohl des Ganzen tragenden und insofern die führende Rolle beanspruchenden - Schicht hat die »ausübende() Gewalt« ohne Vetorecht im »ganzen Staatskörper« durchzusetzen. Diesen Zustand, der der normale, rechtmäßige und angemessene ist, soll die Revolution herstellen. Schleiermachers scharfe Kritik an der von ihm unterstellten Selbstverabsolutierung von Partikularinteressen in der Französischen Revolution überrascht angesichts sehr viel positiverer anderer Äußerungen zu diesem Thema, die gerade die Orientierung an der Vernunft und den allgemeinen und gleichen Menschenrechten hervorheben. Wenn er die Exzesse bei der Durchführung ablehnt, dann deshalb, weil die Revolutionäre dabei ihren eigenen Prinzipien von Gleichheit und Gerechtigkeit untreu werden, indem sie etwa den Adligen jene allgemeinen Rechte absprechen. Vgl. im Briefwechsel den Bericht über diverse Diskussionen anläßlich der Enthauptung

3. »An Cecilie«

175

Diese Konzeption einer dem inneren Gefühl dienstbaren instrumenteilen Vernunft - die im übrigen erstaunliche strukturelle Parallelen zu Jacobis Philosophie der allem rationalen Wissen zugrundeliegenden und von diesem nicht einholbaren und kritisierbaren Glaubensgewißheit aufweist 5 0 - kann in ihrer sophistischen Vermischung richtiger und falscher Sätze nur durch eine spekulative Theorie der Vernunft, die der Vernunft gewissermaßen an sich selbst ansichtig wird, kritisiert werden. Der Ausbildung einer solchen Theorie steht aber im Wege, daß der junge Mensch auch im Praktischen und im Religiösen selber noch nicht hinreichend zwischen Gefühl und Wissen zu unterscheiden vermag und aufkeimende »Zweifel der spekulativen Vernunft« zurückstellt, da ihm seine emotionale Zufriedenheit die »Richtigkeit« seiner »Grundsäze« zu verbürgen scheint (204,32 - 205,2). Diese Zufriedenheit in den »romantischen Gefilden der Schwärmerei« und den »steifen Alleen der Rechtgläubigkeit« (199,13f.) und der damit verbundenen sozialen Geborgenheit kann lange währen. Es können äußere Faktoren sein, die schließlich den Durchbruch zur reinen Rationalität vorbereiten: Auf der einen Seite dämpfen Sorgen den Enthusiasmus, auf der anderen Seite erfordern die »Geschäfte« des Lebens eine geschärfte »praktische Urtheilskraft des gesunden Verstandes« (199,15f.), wenn nicht gar die »Bestimmung für den Dienst der höheren Wissenschaften es nothwendig macht, den Spielraum der Vernunft zu erweitern« (199,25f.). Der eigentliche Anstoß aber ist, daß das theoretische »System der Schwärmerei« (205,35), die theologische Begründung jener Unterordnung der Vernunft unter das innere Gefühl, sich als unhaltbar erweist. Zurecht interpretiert Meckenstock 51 die folgenden Andeutungen über diejenigen Lehrstücke, die gegen rationale Kritik nicht gehalten werden können, von Schleiermachers im Briefwechsel belegter christologischer Krise her 5 2 . Denn es ist sicherlich die Unverträglichkeit der Lehre vom stellvertretenden Sühneleiden Christi mit einer rationalen Anthropologie und Ethik gemeint, wenn es heißt, von Sätzen, »welche nicht begriffen werden können« (206,3f.; Hervorhebung von mir), könne unmöglich die »Glükseligkeit des Menschengeschlechts« abhängen (206,4). Solche Sätze könnten auch nicht Ludwigs XVI.: KGA V/1, 280f. (Brief 209 [14.2.1793], Z. 101-148). Zum Thema überhaupt vgl. K. Nowak: Die Französische Revolution in Leben und Werk des jungen Schleieimacher. In: K.-V. Selge (Hg.): Schleiermacher-Kongreß. Band 1. Berlin - New York 1985, 103 - 125. 50

Auch hierin erweist die Passage sich als sperrig gegen spätere Äußerungen Schleiermachers.

52

Vgl. aber auch im Text selbst 208,8-10.

Deterministische Ethik, 139.

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durch Verweis auf die legitimierenden Wundertaten Christi gestützt werden, da diese ihrerseits »unbegreifliche Begebenheit(en)« (206,5f.) darstellten - ganz abgesehen davon, daß es dem »Begrif von Gott« widerspräche, wenn Gott sich durch bestimmte »individuelle() konkrete() Thätigkeit(en)« auswiese, die »seiner allgemeinen Thätigkeit in Erhaltung der Naturgeseze entgegen« seien (206,7-9) 5 3 . Erst die Einsicht in die innere Widersprüchlichkeit (vgl. 2 0 6 , l l f . ) der in der religiösen Gemeinschaft geltenden Lehre nötigt dazu, von dieser unabhängige Instanzen der Vergewisserung über Zusammenhang und Einheit der Welt (und der menschlichen Existenz in ihr) zu suchen, genauer: die Vernunft unabhängig von der Religion und umgekehrt als »profane(s)« (207,3) Kriterium für die Beurteilung von deren »Meinungen und Lehrsäzen« (206,40) zu bestimmen. Erst jetzt, da gewissermaßen der Rückweg abgeschnitten ist, findet der junge Mensch auch die Kraft, sich aus der trügerischen und einschränkenden Geborgenheit der Gruppe zu lösen und sich der Vereinzelung des 'Selbstdenkens' auszusetzen. Denn die in der Gruppe gepflegte Freundschaft wirkt bei ihm nicht mehr als »Hülfsmittel« »bei jeder unangenehmen Begebenheit« (207,12f.), da die Basis der Freundschaft, die gemeinsamen »Gesinnungen«, »für ihn nicht mehr« gegeben ist (207,23f.), so daß »wechselseitige Herzensergießungen« (207,26) ihn allenfalls noch für Augenblicke befriedigen 5 4 . Schleiermacher betont die Labilität, den psychisch kritischen und risikoreichen Charakter dieses Zustandes der Emanzipation vom inneren Gefühl und von religiös stabilisierter Geselligkeit. Wenn schon nicht mehr die Umkehr in die ehemals als »prächtige() Gebäude« bewunderten, jetzt enttarnten »Luftschlösser« (206,32) in den »romantischen Gefilden« (199,13) droht, so ist doch jetzt die Orientierung an den »reinen Begriffen von absoluter Tugend« (208,4) von keinen »sittlichen Empfindungen« (208,6) begleitet, die das Herz ähnlich wärmen wie vorher die gefühlsmäßige Anknüpfung »an das Kreuz des Erhöhten oder an die Lohnungskränze der Ewigkeit« (208,9f.). Kalte »Ueberlegung« (208,10) muß in dieser »öde(n) und leere(n) Ebene« (206,31) das religiös-emotionale Motivationspotential ersetzen. Zwar kann dieser Zustand aufgrund der zugrundegelegten anthropologischen Dualität und Komplementarität von Verstand und Herz und des (als 53

Die Forderung der Einheit von Schöpfung und Neuschöpfung als im strengen Sinne theologisches Erfordernis begegnet auch in WL. Vgl. 421,28-37 und dazu unten Kap. 6, 2.2. Ebenso verliert auch das Naturerlebnis seine die »Gefühle() über die Gottheit« (207,31) bestätigende Bedeutung; die Natur ist jetzt »für ihn todt« und stumm (207,29). Zum Verlust lebendiger Naturerfahrung bei einseitiger Pflege der Rationalität vgl. auch WL (dazu unten Kap. 6, 2.6.).

3. »An Cecilie«

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gegeben vorausgesetzten) existentiellen Interesses an der Religion nicht lange dauern; bald wendet sich der junge Mann der kritischen Sichtung und der vernünftigen Neubegründung der »theoretischen Säze« und »der religiösen Gefühle« zu (208,30.32). Doch gerade hier besteht die Gefahr, daß die Identifizierung einzelner »falsche(r) Münzen der Fantasie« (208,33) ein »allgemeines Mißtrauen gegen alle jene überschäzten Empfindungen« erzeugt (208,38 - 209,1; Hervorhebung von mir), das dann - verstärkt durch die (nur durch die Anerkennung des subjektiven guten Willens gelinderte) Bitterkeit des Rückblicks auf »mißverstandne und verlorene Theile des Lebens« (209,7f.) - eine radikale Skepsis gegen »alle() höheren Kenntniße« und »kalte Verachtung aller erhabenen Empfindungen« (209,20f.) nach sich zieht. Gegen einen solchen Umschlag ins andere Extrem ist Selmar freilich gefeit durch sein Einheitsinteresse, und zwar im Blick auf Verstand und Herz: Während andere angesichts des Verdämmerns der einen Gestalt religiöser Empfindungen (die im Sinne Eberhards zu den übersinnlichen gehören 55 ) sich resignativ nur noch an der ungeordneten Vielfalt der sinnlichen Empfindungen orientieren (vgl. 210,13-22), sucht er weiterhin nach einer vernünftig geordneten »Einheit seiner Gefühle« (210,23; Hervorhebung von mir), die er mehr in seiner Seele - in seinen »eignen Ideen« - findet als an den »sich so mannigfaltig durchkreuzenden und widersprechenden äußern Gegenstände(n)« (210,26-28). Ebenso wenig »verzweifelt« (210,4) er über dem Scheitern eines theoretischen Systems an der Einheit der Wahrheit überhaupt und gibt sich wie andere mit der skeptisch-relativistischen Auskunft zufrieden, es gebe »wol Wahrheiten aber keine Wahrheit« (209,30). Denn weil es eine Vernunft gibt, muß Wahrheit »nothwendig da seyn« (210,4), und als zur Vernunft gekommen muß Selmar sie auch »entdeken« können (210,5). Dies alles führt allerdings nur unter der Voraussetzung zu einer Neukonstitution der Religion, daß das Einheitsinteresse der Vernunft in einem notwendigen vernünftigen Zusammenhang steht mit den »erhabnen Ideen von dem höchsten Wesen und der ewigen Dauer der menschlichen Seele« (211,7f.). Diesen Zusammenhang eruiert Selmar auf dem Boden der von Schwärmern und Aufklärern gemeinsam, wenn auch mit unterschiedlichen Gründen und Motiven, anerkannten und deshalb von der Krisis unbehelligten »sittlichen Geseze()« (211,3). Es ist die anthropologische Dürftigkeit der rein rationalen Tugendorientierung, die »Herz und Vernunft« (211,6) darin übereinstimmen läßt, »daß wenn auch die Verbindlichkeit zur Tugend von 55

Vgl. SdV, § 118 Anm. 3 (S. 129): »übersinnliche Begriffe«; vgl. oben Kap. 1, 1.2.2. und Kap. 2, 2.4.

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allem übrigen unabhängig allein in dem Wesen der Vernunft gegründet wäre, diese Einrichtung nur ein Fehltritt der Natur und eine traurige Nothwendigkeit bleiben würde, wenn es nicht eine höhere Bestimmung des menschlichen Geistes gäbe und wenn nicht das Daseyn eines höchsten Wesens uns die Weisheit und verborgene Harmonie dieser Beschaffenheit unseres Wesens verbürgte« (211,13-19). Die Religion hat also eine notwendige Funktion bei der Überwindung der Weltlosigkeit der Tugend, indem sie die innere Konsistenz einer Ratio und Empfindung, Tugend und Glückseligkeit umfassenden wesentlichen Bestimmung des Menschen und deren Zusammenhang mit der Totalität der Welt durch den Gottesbegriff vergewissert. Zudem erhöht sie - wenn das denn nötig zu sein scheint 56 - die Verbindlichkeit der sittlichen Gesetze durch den äußeren Grund des Verweises auf den göttlichen Willen 57 und steigert durch die Verheißung ewigen Lebens die Motivation zur »Pflicht der Selbstliebe«, da diese nun »in allen Kräften der Seele [sc. durch deren tugendgemäße Betätigung] schon jetzt den Grund zu ihrer geistigen und himmlischen Glükseligkeit in einem unsterblichen Daseyn zu legen« vermag (211,22-25). Unklar bleibt bei diesen überhaupt etwas unsicher wirkenden Aussagen freilich, warum auf diesen beiden durch rationale Zweifel »unerschütterlichen Felsen« - Gott und Unsterblichkeit - »allein das schwere Gewölbe strenger Pflichten ruhen« können soll (211,25-27; Hervorhebung von mir). Deutlich ist jedenfalls, daß auf diese Weise die Versöhnung der rational emanzipierten Seele mit der Welt, die Aufhebung der Vereinzelung von statten gehen soll - wobei offenbleibt, ob mit dieser »allgemeine(n) Religion der besseren Menschheit«, in deren »schöne(m) Klima« alle »Kräfte des Geistes« Wiederaufleben (211,33-35), auch eine Wiedergewinnung religiöser Vergesellung einhergeht, die dann freilich mit einem höheren Grad der Selbständigkeit und sittlichen Individualität der Beteiligten verbunden gedacht werden müßte. Diese harmonische Balance von Vernunft und Religion scheint die Stufe der Bildung zu sein, die Cecilie bei Selmar erwartet hatte - und die ja auch lange Passagen von dessen Gedichten widerspiegelten, weshalb die Zerstörung der Balance, die Verwerfung von Gott und Unsterblichkeit als rationalen Ideen um so brüskierender wirken mußte. Schleiermachers eigentliche Intention mit seinen Briefen ist es, gerade diesen letzten Schritt als in

56

Vgl. Schleiermachers vorsichtige und vage Formulierung 211,19-21.

57

Genauso - wenngleich ohne die vage Einschränkung - argumentiert Eberhard, vgl. SdV § 131 (S. 146) und oben Kap. 2, 1.3.3. Für Eberhard reicht die möglicherweise motivationssteigernde Kraft des Gehorsams gegen den göttlichen Willen aus, diesen seinerseits zur sittlichen Pflicht zu erheben.

3. »An Cecilie«

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der Konsequenz dieses Charakters liegend und mithin als seinerseits moralisch plausibel zu machen. Die ganze bisherige Rekonstruktion diente nur dem Zweck, die Moralität, die Kontinuität der Entwicklung und die Sichselbstgleichheit dieses Charakters im Prozeß seiner Bildung zu demonstrieren (vgl. 212,18-24). Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß er »auch in dem übrigen Theil seines Weges sich gleich bleiben wird« (212,23f.). Zudem hat sie eine dialektische Entwicklungslogik offenbart, der gemäß Phasen der Einbergung in den konkret-partikularen sozialen Lebenskontext mit den in diesen virulenten Ideen und eingespielten Haltungen regelmäßig abgelöst werden von Phasen der Vereinzelung, der Herauslösung aus dem Gewohnten und Vertrauten aufgrund des anthropologisch konstitutiven (wenngleich nur bei wenigen sich tatsächlich durchsetzenden) Einheits- und Universalitätsinteresses der Vernunft, die freilich in sich instabil sind und immer auf eine erneute, der neuen Bildungsstufe angemessene Einbindung in soziale Lebenskontexte und eine Wiedergewinnung emotionaler Vertrautheit hin tendieren - bis auch diese wieder transzendiert wird. Diese »schöne Oekonomie in dem Reich der Wahrheit (...), vermöge welcher der fromme Pilger nach langen Leiden auf dornenvollen Irrwegen« - die im übrigen sowohl im Bereich der Geborgenheit wie in dem der Entzweiung liegen können - »von Zeit zu Zeit in ein schönes Gefild kommt«, das ihn »durch eine süße Täuschung, 'als ob er schon am Ziel seines Weges wäre 1 zu neuen Wanderungen und neuen Mühseligkeiten stärkt« (212,4-8) - diese Entwicklungslogik ist zu beschreiben als ein komplexer Prozeß der Ausdifferenzierung und der Redintegration der ausdifferenzierten Momente, der eine Steigerung der 'Autonomie' sowohl der einzelnen innerseelischen Vermögen im Verhältnis zueinander als auch des einzelnen Individuums als ganzen im Verhältnis zu anderen Individuen und zur Gesellschaft verbindet mit der Gewinnung von entsprechend komplexeren Formen der Zuordnung und Einheit sowohl in der Seele als auch in der Gesellschaft, wobei die jeweils neue, höhere Stufe die Funktionen mindestens der beiden vorhergehenden Stufen erhalten und erfüllen muß; dadurch manifestiert gerade der Prozeß die Kontinuität und Identität einer ihm selbst vorgegebenen Wesensbestimmung des Menschen (die allerdings erst retrospektiv im Verlauf des Differenzierungsprozesses zu Bewußtsein kommt). Da diese Bestimmung nun aber nicht in der völligen Vergeistigung, in der All-Einheit der Vernunft, sondern in der vernünftig strukturierten Einheit aller Seelenkräfte, nicht in der Vereinzelung der totalen Selbstbestimmung, sondern in der Kommunikation von Individualität besteht, wird deutlich, daß der Prozeß im sinnlich bestimmten, permanent den unberechenbaren Veränderungen

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I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

der Außenwelt und der Eigenmacht der Gefühle ausgesetzten Leben nicht zu einem definitiven Ende kommen kann. Wird diese Entwicklungslogik akzeptiert, so ergibt sich Selmars erneuter Aufbruch »in jene unfruchtbare und trostlose Provinzen« der Philosophie (212,16f.) nachgerade von selbst. Schleiermacher stellt diesen Schritt an dieser Stelle nicht mehr dar - der Text bricht unvollendet ab -; es ist aber genau jene Kritik der Ideen von Gott und Unsterblichkeit im Namen der Reinheit der (praktischen) Vernunft, die Schleiermacher in der Schrift »Ueber das höchste Gut« mit großem Scharfsinn durchführt 58 . Motiviert ist dieser Schritt ohne Zweifel durch die Kritik der reinen Vernunftideen in Kants Transzendentaler Dialektik 59 und durch Kants Programm der Reinigung der Ethik von allen emotionalen und religiösen Bewegungsgründen; er wendet sich dann aber kritisch auch gegen Kants eigene Wiedereinführung des Glückseligkeitsmotivs und der Vernunftideen von Gott und Unsterblichkeit in die Sittenlehre und gewinnt so ein eigenes Gepräge 60 . Überhaupt läßt sich die Entwicklung von Schleiermachers Theoriegefüge in den folgenden Texten 61 durchaus in die herausgearbeitete Entwicklungslogik einzeichnen: als Ausdifferenzierung von Tugend und Glückseligkeit, Vernunft und Empfindung, Ethik und Religion (Kap. 4 und 5) und als deren erneute Zusammenführung und Neubegründung in einem integrativen anthropologischen Konzept, das in der Schrift »Ueber den Werth des Lebens« unter Aufgreifen des Begriffs der sinnlich-rationalen Doppelbestimmung des Menschen zu einer ersten umfassenden positiven Darstellung gelangt (Kap. 6). Dabei ist freilich die selbständige Neubegründung der Religion jeweils nur erst angedeutet.

58

Vgl. unten Kap. 4, 1.

59

Vgl. KrV B 396 - 732 (Weischedel, Band 4, 339 - 361 und 399 - 605).

60

Dies, sowie die - wie zu zeigen sein wird - höchst komplexe Gemengelage der Rezeption, Variation, Kritik und wechselseitigen Interpretation und Vermittlung von Schulphilosophie und Kantianismus lassen es geraten erscheinen, den »an Cecilie« nur angedeuteten und noch ausgesparten Schritt nicht unmittelbar als »Ubergang von der Halleschen Schulphilosophie zur Transzendentalphilosophie« aufzufassen (so Meckenstock, Deterministische Ethik, 147). Meckenstock selber weist daraufhin, daß Schleiermacher in »An Cecilie« für die Rekonstruktion des Bildungsprozesses eine Terminologie verwendet, die »sowohl auf den aufklärerisch-schulmäßigen als auch auf den Kantischen Vemunftbegriff hin konkretisiert werden kann« (a.a.O., 137; vgl. auch ebd., Anm. 21); er schreibt also nicht aus einer geklärten Kantischen Position. Und selbst dann wäre der Kritizismus nur als Moment der Entwicklungslogik gekennzeichnet.

61

Vgl. unten Kap. 4 - 6.

181

4. Die Weihnachtspredigt 1791

4. Freundschaft und Liebe zur Gattung: Die Weihnachtspredigt

1791

Hatte Eberhard Freundschaft bloß als Konkretisierung der allgemeinen Menschenliebe bestimmt 62 , so erschien sie bei Schleiermacher in den Aristoteles-Anmerkungen als eine spezifische Form der Sozialbeziehung, die sich von anderen Sozialformen dadurch abhebt, daß sie ein (sittlich gefordertes) Interesse an der sittlichen Vollkommenheit und Vervollkommnung des je Anderen verbindet mit einem Interesse der wechselseitigen Wahrnehmung, Kommunikation und Förderung von Individualität. Aufgrund dieser Verbindung ist Freundschaft die zwar seltene, da Zeit des Vertrautwerdens und Intensität des Engagements verlangende, aber zugleich die anthropologisch paradigmatische Gestalt der Sozialität. Das sittliche Verhältnis zu anderen Menschen fallt dagegen ab als reine Pflicht, die keine Wahrnehmung der Individualität der Betreffenden verlangt, die vielmehr sogar mit manifester Verachtung und Misanthropie einhergehen kann. Jedenfalls entbehrt sie des motivationsfördernden Potentials, das in der freundschaftlichen Anteilnahme liegt. Angesichts dieser Wertungsdifferenz könnte man meinen, Schleiermachers Interesse an vernünftiger Sittlichkeit erschöpfe sich in dem engen Kreise des freundschaftlichen wechselseitigen Vervollkommnungsstrebens, und man könnte allenfalls vermuten, das mit dem Rationalitätsanspruch mitgesetzte Erfordernis der Universalisierung und Allgemeingültigkeit denke Schleiermacher sich als Ausbreitung von Freundschaftsverhältnissen, Gesellschaft mithin als großen Freundschaftsbund 6 4 . Unerachtet mancher diesbezüglicher Tendenzen in den AristotelesAnmerkungen zeigt freilich - neben dem gewissermaßen realistischen Kontrapunkt der Abhandlung »Über das Naive« 65 , aber in anderer Hinsicht als diese - die Weihnachtspredigt von 1791 66 , daß Schleiermacher weder die allgemeine Menschenliebe in der exemplarischen Gestalt der Freundschaft aufgehen läßt noch die Motivation zur »Theilnahme des guten Menschen an dem wahren Wohl der Menschheit« (so die Überschrift der Predigt) auf die nackte Pflicht gründet, sondern die Liebe zur Gattung als eigenständiges

62

Vgl. oben Kap. 2, 1.5.

63

Vgl. oben Kap. 1, 1.2.

64

Das entspräche der aristotelischen Doppelbedeutung von philia als Freundschaft zwischen Einzelmenschen und als Einheitsband der Polis. Vgl. NE IX,6; besonders 1167a 2-4.

65

Vgl. oben 1.

66

SW II/7, 117 - 134. Dort fälschlich auf 1792 datiert. Zur richtigen Datierung vgl. KGA V/1, 252.

182

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

Gefühl und als spezifischen Motivationsverstärker der Sittlichkeit neben der Freundschaft und über sie hinaus anerkennt67. Die Grenzen der Freundschaft und ihre ethische Problematik treten dabei deutlicher in den Blick als bisher: Die Intensität der Nahbeziehungen absorbiert die Aufmerksamkeit und die Energie, die zur Wahrnehmung und Unterstützung der Fernerstehenden erforderlich wäre (vgl. 119). Das Engagement für Gleichgesinnte - und im weiteren Sinne für die Mitglieder der Gruppe, der man selber angehört (etwa Volk, Vaterland, Religion; vgl. 121) - ist zudem zwar natürlich und an sich nicht zu tadeln; aber der dabei immer mitgegebene Eigennutz (der Einsatz für die Gruppe nützt vermittelt auch dem sich einsetzenden Mitglied) führt doch die Tendenz des Mißbrauchs, der egoistischen Instrumentalisierung der Anderen, der Selbstzentrierung und der Selbstbeschränkung auf die Perspektive des eigenen »kleine(n) Ich(s)« (128) mit sich. Umgekehrt kann die Integration in partikulare Gesinnungsgruppen die Ausbildung oder Bewährung einer unabhängigen Urteilsfähigkeit »über das, was den Menschen allgemein gut ist«, behindern (ebd.; im Original gesperrt); eine inhaltlich falsch bestimmte Menschenliebe beschränkt dann das 'allgemeine' Wohlwollen auf die eigene Gruppe (vgl. ebd.). Der dadurch entstehende Gruppenegoismus verschärft schließlich noch die Wohlstandsdifferenz zu den Außenstehenden, obwohl doch deren Nivellierung ethisch geboten wäre (vgl. 122)68. Die Liebe zur Gattung soll nun keineswegs die Bedeutung partikularer, intensiver Sozialformen aufheben; sie wirkt vielmehr sogar auf diese zurück als Korrektur gegen die dargestellten möglichen Deformationen. Dies kann sie freilich, gerade weil sie zunächst den Nahbereich der angenehmen, unmittelbar erfüllenden, emotional bejahten Beziehung transzendiert - indem sie eben dadurch eine Distanz zu den darin gültigen und üblichen Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen und eine kritische Perspektive darauf und auf die eigenen Emotionen und Motive, sowie eine realistische Weite des Blickes auf die gegebenen menschlichen (individuellen und sozialen) Zustände überhaupt ermöglicht. Denn sie impliziert das Wissen von einem einheitlichen »Gesichtspunkt, worauf (...) alle Begebenheiten und alle Handlungen der Menschen« (122f.) bezogen werden können: einem Begriff von der allgemeinen »Bestimmung« des Menschen (122). Ist dieses Wissen

Es ist im übrigen bemerkenswert, daß im Blick auf das allgemeine Wohlwollen Schleiermachers Weg von der Berufung auf die reine Pflicht hin zur Erörterung eines motivierenden Gefühls führt, während man doch bei Annahme einer Art Kantianischer Wende genau das Gegenteil erwarten sollte. Zur Frage des sozialen Ausgleichs vgl. oben Kap. 1, 1.1.

4. Die Weihnachtspredigt 1791

183

hinreichend fest im Hetzen verankert (vgl. 129) - und erst dann kann man von allgemeiner Menschen -Liebe sprechen so erweckt es den »lebhaften (...) Wunsch«, daß unabhängig vom eigenen Wohlergehen jeder andere Mensch »immer mehr und mehr seiner Bestimmung nachkommen möchte« (122). Diese Distanzierung vom Eigeninteresse ist nun aber inhaltliches Moment der wesentlichen menschlichen Bestimmung selbst, die Schleiermacher mehrfach mit dem Begriffspaar Tugend und Religion charakterisiert (vgl. 123 und 129). Sie orientiert insofern bereits die Selbstbetrachtung, indem sie die Unabhängigkeit von den eigenen partikularen Neigungen, Meinungen, Leitbildern, Haltungen, Lebenskontexten als das Kriterium der Selbstbeurteilung kenntlich macht, deren Vollzug seinerseits umgekehrt ein gewisses Maß bereits erreichter Situationsdistanz voraussetzt und indiziert. Schon deshalb offenbart die reflexe Selbstwahrnehmung immer eine komplexe Gemengelage von Abhängigkeit und Unabhängigkeit bzw. Selbstbindung, von Situationsverhaftung und Situationstranszendenz, von Unmittelbarkeit und Reflexivität, von partiell ausstehender und partiell realisierter Bestimmungsadäquanz. Genau dies gilt aber auch für die Wahrnehmung und Beurteilung Anderer. Leuchtet nun das Wissen von der Bestimmung des Menschen erst bei einem bestimmten Grad der Unabhängigkeit von der partikularen Lage und den individuellen Neigungen auf, so realisiert sich die allgemeine Menschenliebe darin, daß derjenige, der diesen Grad erreicht und dieses Wissen erlangt hat und bei dem es den Willen dominierend geworden ist, andere 1) bei der Minderung ihrer Leidenschaften und ihres Irrtums, 2) durch Erleichterung und Ausbreitung des Guten und 3) durch Darstellung der erhabenen Wahrheiten von Tugend und Religion bei der Erkenntnis und Realisierung bestimmungsgemäßer Lebensführung unterstützt (vgl. 123) 69 . Der Unterschied zur Freundschaft besteht darin, daß die allgemeine Menschenliebe nicht auf dem konkreten Interesse an dem bestimmten Individuum und nicht auf individueller Neigung aufbaut und nicht auf Resonanz und Wechselseitigkeit, nicht auf Integration des Anderen in den eigenen Lebenskontext oder genauer: nicht auf den Aufbau einer gemeinsamen Lebenssphäre ausgerichtet ist. Deshalb kann Schleiermacher auch den Einwand entkräften, die allgemeine Menschenliebe ziele auf die Verallgemeinerung individueller Leitbilder gelungenen Lebens oder gar auf die Ausbreitung eines

Es begegnet hier beiläufig jene Dreigliederung des sittlichen Handelns, die in Schleiermachers »Christlicher Sitte« grundlegend ist: reinigendes, verbreitendes und darstellendes Handeln.

184

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bestimmten äußeren Lebensstandards (vgl. 127). Vielmehr bezweckt sie eine innere Haltung, die unabhängig von allen äußeren Umständen, aber eben in diesen das »Interesse für Tugend und Religion« (129) als »das beste der Menschheit« (130) durchzuhalten vermag; Schleiermacher nennt diese Haltung, die von der Situation zu derem Gestaltung befreit, »Gelassenheit«10. Sie ist in sich freudebringend, hängt also nicht ab von äußerem Erfolg und sozialer Resonanz, wird freilich durch sich selbst verstärkt. Die Religion hat dabei in mehrfacher Hinsicht Bedeutung: Zum einen radikalisiert sie die Distanzierung von kontingent-partikularen Verhaltensmotiven, indem sie die menschliche Bestimmung die empirische Lebenszeit schlechthin transzendieren läßt (vgl. 125) und mithin die Orientierung an der Todesvermeidung als die letzte Bastion der unmittelbaren Selbstbezogenheit schleift. Sie verstärkt zudem die Motivation zur Überwindung der Selbstzentrierung und Nahgruppenbindung. Denn sie stellt Christus als prägnantes (Vor-) Bild dafür dar: Christus habe sein Leben nicht ausschließlich für seine Freunde, vielmehr ebenso für seine Feinde hingegeben (vgl. 117; vgl. Joh 15,13 mit Rm 5,8.10); überhaupt sei »sein ganzes Leben (...) ein Leben für andere« gewesen (117); auch sein kommunikativer Mißerfolg, seine Resonanzlosigkeit in der Gegenwart und die Erwartbarkeit von Wirkung erst in einer Zukunft, wo er sie nicht mehr erleben würde, und unter Menschen, »von denen er nichts wußte, als daß sie Menschen wären wie er« (118), hätten ihn nicht davon abgehalten, seine Sendung zu erfüllen, »die göttliche Wahrheit (...) unter den Menschen auszubreiten« (118); allein das alle räumlichen und zeitlichen Schranken übersteigende »erhabene() Gefühl der wärmsten allgemeinsten Menschenliebe« (118) habe ihn dazu befähigt. Die Jünger hätten dieses Gefühl geerbt und sich bei ihrem Zeugnis für die Wahrheit nicht auf die kommunikative Stabilisierung ihrer homogenen Kleingruppe oder auf den Bereich ihrer Herkunft beschränkt, sondern Weltmission betrieben (vgl. 118) 71 . Durch diese Beispiele vergewissert die Religion schließlich die Gläubigen über die Realität und die Realistik einer solchen Haltung, die ohne solche Vergewisserung leicht als lebensferne »Träumerei«, als »übertriebene Spannung der Seele, worin sie sich höchstens nur auf Augenblikke erhalten kann«, erscheint (118). Umgekehrt entlarvt sie die verbreiteten bösen Urteile über andere als vorschnelle OriEine sehr viel umfassendere Darstellung dieser Distanz und Engagement verbindenden Haltung bietet die Schrift »Ueber den Werth des Lebens«, vgl. unten Kap. 6. Dort tritt auch die quietistische Tendenz (vgl. aber unten Kap. 6, 2 . 4 . 4 . ! ) und die Gefahr des Ubermaßes an Verhaltenskontrolle und Reflexivität deutlicher ans Licht. Schleiermacher verlängert diese Reihe in die Gegenwart, führt hier aber inkonsequenterweise unter Bezug auf Joh 13,14 die wechselseitige Liebe in der Gemeinde

an.

4. Die Weihnachtspredigt 1791

185

entierung am »ersten Schein« (133) in Verbindung mit der Neigung, »das böse als wahr anzunehmen« (ebd.), mithin als vorurteilsgeleiteten »Mangel an Aufmerksamkeit« (ebd.). Für die Fälle jedoch, »wo sich wirklich die göttliche Weisheit vor menschlichen Augen verbirgt« (ebd., im Original vom Herausgeber - gesperrt), vermittelt sie den Trost der Annahme einer »nicht bemerkten vortheilhaften Beziehung aufs ganze« (ebd.). Weihnachten ist deshalb das »Fest der Menschenliebe«, weil das Erscheinen Christi »uns am lautesten dazu aufruft und uns durch sie erhebt« (134). Es ist also keineswegs der theologische Gedanke der Inkarnation des Wortes, sondern der anthropologische Aspekt der Einpflanzung und sichtbarkonkreten Darstellung einer universalistischen Gesinnung und des Beginns von deren Ausbreitung »unter einem großen Theil der Menschen« (134), was in Schleiermachers Augen die Bedeutung des Weihnachtsfestes ausmacht. Erst vermittelt über diese anthropologische Universalität - in Zusammenhang mit »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen« (134; Lk 2,14) - tritt auch die »Ehre« Gottes in den Blick: Mit der Ausbreitung der Gesinnung wird auch die »wahre Erkenntniß des Höchsten« (134) ausgebreitet. Die Betonung der allgemeinen Menschenliebe sprengt nicht notwendig den sozialtheoretischen, psychologischen und ethischen Rahmen der Freundschaftstheorie. Der psychologische Aspekt der notwendigen Motivationsverstärkung nur-gewußter Einstellungen, die auf die christliche Gemeinde verweisende (freilich nicht ganz stimmige) Beschreibung der Gegenwartsgestalt der allgemeinen Menschenliebe in der wechselseitigen Liebe in der Predigt auf der einen Seite, das Interesse an der wechselseitigen Versittlichung in den Aristoteles-Anmerkungen auf der anderen markieren deutliche Kontinuität. Die Kritik an der Selbstbezogenheit und Selbstgenügsamkeit der Gruppe und die Forderung des Nach-außen-Wirkens kann dann als Verdeutlichung von Zügen erscheinen, die schon die Freundschaftstheorie prägten, und als Abgrenzung gegen deren mögliche Mißverständnisse. Die wechselseitige Wahrnehmung und Kommunikation von Individualität, die Etablierung einer gemeinsamen Sphäre der Wechselseitigkeit bilden dann den Überschuß, der die anthropologische Idealität der Freundschaft begründet und bestätigt, aber keineswegs die Selbstabschließung in partikularen Zirkeln oder caritative Untätigkeit legitimiert. Auch die unbefangene Verwendung des Begriffspaares 'Tugend und Religion 1 belegt - wie der Vergleich mit der ' Epochengliederung' in »An Cecilie« zeigt 7 2 - den Zusammenhang der Predigt mit der 'vorkantischen' 72

Vgl. oben 3.2.

186

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

Arbeitsphase Schleiermachers 73 . Im folgenden wird zu untersuchen sein, inwieweit auch jene Texte, in denen sich die Auseinandersetzung mit Kant niedergeschlagen hat, den herausgearbeiteten geselligkeitstheoretischen Ansatz oder jedenfalls die herausgehobene Bedeutung der Sozialdimension in Schleiermachers Denkentwicklung widerspiegeln oder inwieweit die Beschäftigung mit Kant nicht nur den erkenntnistheoretischen, sondern auch den sozialtheoretischen Rahmen seines bisherigen Denkens sprengt.

73

Dabei ist freilich zu beachten, daß die explizite 'Epochengliederung' selbst keineswegs eindeutig ist und undurchlässige Grenzen beschreibt - ebenso wenig wie der Textbestand selbst eine scharfe Trennung einer 'vorkantischen' von einer 'kantischen' und ggf. einer 'nachkantischen' Arbeitsphase erlaubt. Das gilt - wie im folgenden dargelegt werden soll (vgl. Teil II) - für die wissenschaftlichen »Schriften und Entwürfe«, in weit höherem Maße aber für die Predigten. Die behandelte Weihnachtspredigt von 1791 etwa reflektiert die intensive Beschäftigung mit Kant in keiner Weise. Gerade die Differenziertheit der expliziten Kant-Rezeption verbietet es aber, diesen Befund mit Schleiermachers angeblicher beflissener Anwendung der vom Vater empfohlenen Akkomodationsstrategie zu erläutern und die Predigten damit für die Erhellung von Schleiermachers Denkentwicklung zu neutralisieren. Besser als zur Epochengliederung scheint sich die Beziehung auf Kant deshalb zur Charakterisierung von Texttypen zu eignen: zur Unterscheidung jener Texte, die sich ausdrücklich der Aneignung und Kritik Kants widmen, von jenen, die das nicht tun.

Zweiter Teil Sittlichkeit

Einleitung Schleiermachers Entwicklung hob an mit einer Konzeption der Kommunikation zwischen kontingenten Einzelnen, die sowohl der Vermittlung von (Erinnerung an) Wissen über ihre eigene Bestimmung - im Doppelsinn der moralischen Vollkommenheit und der Individualität - als auch der Wahrnehmung der irreduziblen Andersheit begegnender Individuen bedürfen. Schleiermacher faßt mithin am Anfang seiner Entwicklung die Individualitätstheorie so, daß Individualität als sich in sozial vermittelten Konkretionsprozessen bildend und stabilisierend erscheint. Zugleich hält er aber an der Objektivität und Allgemeinheit der menschlichen Bestimmung und an der vorgängigen Identität der Einzelseele fest, das eine um der Kommunikabilität und Verbindlichkeit von Verhaltensorientierungen, das andere um willen der Zurechenbarkeit vergangener Handlungen willen, die die Kontinuität eines Handlungssubjekts voraussetzt. Die Beschäftigung mit Eberhard hat gezeigt, daß auch bei diesem eine Spannung zwischen empirisch-induktivem und rational-deduktivem Vorgehen besteht, die auch durch seine Theorie stetiger Übergänge zwischen Empfinden und Denken und umgekehrt nicht aufgelöst wird. An dem damit bestimmten Problemkomplex des Verhältnisses von ethisch-vernünftiger Allgemeinheit und konkreter, genetisch-kontextueller Individualität setzen die Texte ein, die im Zusammenhang mit Schleiermachers intensiver Beschäftigung mit Kant entstanden sind: die philosophische »Rhapsodie« »Ueber das höchste Gut«, die »Notizen zu Kant: Kritik der praktischen Vernunft«, das »Freiheitsgespräch« (alle von 1790) sowie die zwischen 1790 und 1792 verfaßte große Abhandlung »Über die Freiheit«. Keineswegs erfolgt die Kant-Rezeption mithin gleichsam voraussetzungslos, so daß man sie als Schleiermachers entscheidendes theoretisches Initialerlebnis auffassen müßte 1 ; ebenso wenig geht Schleiermacher (unbeschadet seiner denkerischen Eigenständigkeit) einfachhin ins kritizistische Lager über 2 . Vielmehr bestätigt der nun vollständig edierte Textbestand eindrucksvoll die These von E. Herms, daß Schleiermacher Kant mit schul-

Einen solchen Eindruck legt die Anlage der Arbeit von G. Meckenstock immerhin nahe. Seine Hinweise auf Schleiermachers Vorprägungen bleiben jedenfalls seltsam pauschal und konturlos; vgl. Deterministische Ethik, 26f. Auch diese These wird von Meckenstocks Vorgehen insinuiert. Vgl. dazu unten 2 . 5 . 2 .

190

II. Sittlichkeit

philosophischen Verständnisvoraussetzungen liest, daß sich ebenso wie seine Verständnisschranken auch seine Kritik an Kant 'Hallischen' Motiven verdankt und daß diese Motive sich schließlich in Schleiermachers Frühwerk überhaupt durchhalten 3 . Diese These wird in der vorliegenden Untersuchung dahingehend präzisiert und modifiziert, daß Schleiermachers Denken bereits unter schulphilosophischen Bedingungen eine eigenständige sozialtheoretische Leitkonfiguration kennzeichnet, die die Kontinuität von Schleiermachers Theorieentwicklung indiziert, indem sie es ist, die sich entwickelt, und indem Veränderungen, Neueinsätze, neue Theorieeinflüsse und Themenstellungen an sie angeschlossen, von ihr her interpretiert werden können 4 . Insofern diese Leitkonfiguration ihre erste Gestalt an der Beschäftigung mit Aristoteles gefunden hat und dabei auch nicht ohne strukturell aristotelische Momente geblieben ist 5 , nimmt die so gefaßte Untersuchungsperspektive zugleich die These Michael Moxters von der »zunehmendein) Aristotelisierung« von Schleiermachers Ethik auf 6 , freilich wiederum in modifizierter Gestalt: Sie konkretisiert sie an der Freundschaftstheorie; sie behauptet eine ursprüngliche (schulphilosophisch-)aristotelische Komponente in Schleiermachers Denken; sie muß dann aufweisen, daß Schleiermachers Ethik nicht nur »als der früheste Versuch eines nachkantischen Aristotelismus« 7 aufzufassen ist, sondern daß sich bereits in der frühen Kant-Rezeption vermittels der sozialtheoretischen Leitkonfiguration 'aristotelische' Motive bewahren. Die scharfe, von Kant inspirierte AristotelesKritik in hG - verbunden mit dem auffällig psychologisch-individualzentrierten Ansatz des »Freiheitsgesprächs« - ist dann nicht bloß gewissermaßen der Nullpunkt einer beginnenden Entwicklung, sondern die härteste kritische Bewährungsprobe für die Interpretationsperspektive: An den Texten der Kant-Rezeption selbst muß ersichtlich werden, daß ihnen die sozialtheoretische Leitperspektive nicht äußerlich ist, daß sie vielmehr in ihren sachlichen Pointen darauf bezogen ist. Genau dies ist aber durchaus zu leisten. Es läßt sich zeigen, daß die genannten Texte auf Aporien der bisherigen Konzeption reagieren, indem sie deren moralphilosophischen und ontologischen Grundlagen, Voraussetzungen und Implikate erarbeiten. Die Schrift »Ueber das höchste Gut«

3

Vgl. summarisch Herkunft, 265 - 269.

4

Vgl. oben die Einführung.

5

Vgl. oben Kap. 1, 5.

6

Güterbegriff, 29.

7

So Moxter, Güterbegriff, 16; Hervorhebung von mir.

Einleitung

191

behandelt das in den Aristoteles-Anmerkungen offengebliebene Problem der Bestimmbarkeit und Bestimmtheit der Objektivität sittlicher Verhaltensorientierungen; sie differenziert dabei (sinnlich verstandene) Glückseligkeit aus den - dann allein zurückbleibenden - rein vernünftigen Handlungsmotiven aus, nicht ohne ihr freilich eine bleibende, wenn auch nachgeordnete »Hebammen«-Funktion für das bei endlichen, falliblen Wesen immer kontingente Dominantwerden sittlich-vernünftiger Orientierungen zuzuschreiben (Kap. 4, 1.). Das »Freiheitsgespräch« thematisiert mit den Mitteln der schulphilosophischen Psychologie und Vorstellungstheorie die Bedingungen ebendieses Dominantwerdens unter der betonten Frage, wie die Vernunft handlungsleitend werden könne (Kap. 4, 2.). Exakt mit dieser Frage nach der Möglichkeit intentionalen, zurechenbaren, ungenötigten Handelns 8 beschäftigt sich auch die große Freiheitsschrift (Kap. 5), die aufzuzeigen versucht, daß die Bestimmung der Wirklichkeit als Kausalkontinuum nicht nur nicht der Möglichkeit von Intentionalität widerstreitet, sondern diese umgekehrt geradezu in Kraft setzt. Äußerst diffizilen Beschreibungen innerpsychischer Vorgänge korrespondiert hier eine komplexe Theorie externer Wirkung, was ein Gefälle der Theorie von rationaler Willensbestimmung hin auf Handlungsvollzug initiiert; dies erlaubt allererst die in den Aristoteles-Anmerkungen vorausgesetzte Möglichkeit wechselseitiger Beeinflussung präziser zu bestimmen und erhöht damit insgesamt Schleiermachers Fähigkeit zur Beschreibung sozialer Prozesse. Diese Beschreibung selber und die Thematisierung von Formen des sozialen Lebens treten bei diesen 'Grundlagenreflexionen' aber in den Hintergrund. Wichtig ist jedoch, daß Schleiermacher weiterhin keineswegs ausgeht vom Problem sich selbst wissender Subjektivität, sondern den Einzelnen erfaßt als in Bildung begriffen, nicht suisuffizient, sondern Einflüssen ausgesetzt, der Unterstützung bedürftig, in beständigem Ausgleich der einzelnen Seelenkräfte befindlich, d.h. auch, daß er keinen Sprung macht von einem eben so zu beschreibenden empirischen zu einem 'transzendentalen' Subjekt, für das dies nicht gilt. Schleiermachers Interesse bleibt die Erfassung konkreter, endlicher, nicht absolut-freier, nur bedingt sich selbst erkennender und steuernder, untereinander dependenter Menschen. Das unterscheidet ihn entscheidend von Kant und leitet auch seine Kant-Rezeption. Von daher wird auch verständlich, daß er sich um eine bleibende kritische Außenperspektive auf Kant bemüht, wobei er zunächst (besonders auffällig im »Freiheitsgespräch«) dezidiert auf Positionen der Schulphilosophie als Wahrnehmungsraster zurückgreift, während er in der großen FreiheitsVgl. dazu Moxter, Güterbegriff, 43 - 48.

192

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

schrift unter Berufung auf die vorherrschende Sprachverwirrung aufgrund der Differenzen der philosophischen Schulen im Duktus spröder Begriffsklärung und radikaler Sachorientierung eine gewisse Apositionalität, die Distanz zu allen vergangenen und gegenwärtigen Systemen und deren kritische Betrachtung ermöglicht, zu erlangen sucht 9 . Diese Tendenz zur Formalisierung und zum Vergleich verschiedener Konzeptionen verbindet sich mit einem (kultur- und) philosophiegeschichtlichen Entwicklungsgedanken zu historischen Längsschnitten (hG und ÜdF), die durchaus in systematischer Absicht erfolgen 10 und in der kritischen (Kantischen) Ausdifferenzierung der reinen Vernunft kulminieren und von daher ihr Kriterium erfahren, zugleich aber das an den und für die Individuen entwickelte Fragilitäts- und Bildungskonzept in die Menschheitsgeschichte spiegeln. Dabei konnte er im übrigen zurückgreifen auf Material und Anlage von Eberhards »Allgemeine(r) Geschichte der Philosophie« (Halle 1788), die programmatisch den Zusammenhang von Kultur-, Politik-, Wissenschafts- und Ideenhistorie herausstellt 11 .

"

Schon dies, daß er Kant als Position unter Positionen behandelt, zeigt im übrigen an, daß er diesen nicht dessen eigenem Programm adäquat rezipiert, hatte Kant doch ebenfalls beansprucht, mit seinen Kritiken die Bedingungen aller möglichen Positionen aufgewiesen zu haben. Schleiermacher wendet durch sein Verfahren gewissermaßen Kants kritische Methode auf sie selber an.

10

So Meckenstock, Deterministische Ethik, 116.

11

Vgl. zum Verhältnis Schleiermachers zu Eberhards Philosophiegeschichte genauer unten Kap. 4, 1 . 5 . 3 . 2 .

Viertes Kapitel Kontingente Realisierung von Sittlichkeit: Schleiermachers Beschäftigung mit Kant

Einleitung Die Aristoteles-Anmerkungen hatten den Menschen bestimmt als zugleich frei, d.h. virtuell der Maximenbildung fähig, und bedürftig, d.h. faktisch unter innerpsychischen und äußeren Bedingungen existierend, die freie Selbstbestimmung und selbstbestimmtes Handeln nur eingeschränkt ermöglichen 1 . Dabei hatten sie besonders die Faktoren beleuchtet, die ein Dominantwerden und -bleiben sittlicher Verhaltensorientierungen behindern und hintertreiben - es fehlt die für Selbstbesinnung notwendige Zeit und Distanzierungsfähigkeit vom Andringen der alltäglichen Verhaltensnötigungen, es fehlt an individueller Kraft und Disziplin, das als richtig und geboten Erkannte konsequent zu realisieren, der sittliche Einzelne bleibt singulär in der Masse von Indifferenz und resigniert angesichts der Übermacht der Umstände -, und hatten Religion, Sittengefühl und Freundschaft als die Instanzen namhaft gemacht, die in kontingenter Weise den ebenfalls kontingenten Hemmnissen der Moralität entgegenwirken. Sie hatten so allerdings zwar komplexe Formen sozialer Beziehungen beschreiben und sogar einen Zusammenhang von Individualitätswahrnehmung und Entfaltung von Moralität offenlegen können; unklar war jedoch geblieben, wie die Allgemeinheit und Verbindlichkeit des ethischen Wissens zustande kommt und wie die interne Beschaffenheit des Menschen so gedacht werden kann, daß sie ursprüngliche Offenheit für das Allgemein-Sittliche, Möglichkeit und Wirklichkeit kontingenter Deformationen und Chancen kontingent-relativer Appräsentation und Realisierung vernünftiger Verhaltensorientierungen einschließt. Sowohl die Konstitution der Ethik als auch die Anthropologie waren also nur implizit vorausgesetzt, wurden nicht selber thematisch. Der Rückgriff auf die einschlägigen Arbeiten Eberhards zeigte zwar, daß bei

Vgl. 5,23-25 und insgesamt oben Kap. 1, 1.2.

194

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

dessen Bestimmung des ethischen Zweckes als Selbstvervollkommnung, die als in sich und untereinander harmonische Entfaltung aller Seelenvermögen verstanden wurde und in deren Wahrnehmung eo ipso Glückseligkeit besteht, eine Verbindung von Versittlichung und Individualisierung sich nahelegen konnte (wenngleich dies bei Eberhard nicht geschah); allein, für die Allgemeinheit und Rationalität seines ethischen Zweckes konnte Eberhard nur gesellschaftsfunktionale Notwendigkeit anführen, und für den Nachweis der Fähigkeit des Einzelnen zur Einsicht in seine sittliche Aufgabe und zu deren Realisierung blieb er auf eine in ihrer Plausibilität durchaus problematische empirische Beschreibung der menschlichen Vermögen (einschließlich des Vermögens, die Vermögen zu erkennen) und ihrer Fähigkeit zur Selbstentfaltung angewiesen2. Genau an diesen Zusammenhang von Ethik und Anthropologie, und dies genau in der dergestalt vorgegebenen Problemlage, schließen Schleiermachers Überlegungen zum höchsten Gut und zur Freiheit an. Genau an dieser Stelle konnte er auch Aufschlüsse aus der Beschäftigung mit Kant erwarten, und es wird sich zeigen, daß ebenfalls hier Gründe für seinen Dissens zu diesem zu benennen sind3.

1. Die Neubestimmung des Verhältnisses von Tugend und Glückseligkeit in der Schrift » Heber das höchste Gut«

1.1. Die Beurteilung von Schulphilosophie und Aristoteles und die Bedeutung Kants Schleiermachers pointiertes Interesse an der radikalen Reinigung der Sittenlehre von allen empirischen (und religiösen) Motiven ist offenkundig durch die Beschäftigung mit Kant inspiriert. Dementsprechend häufig wird

2

Vgl. oben Kap. 2, 1.4.

3

Anders als bei Eberhard wird die Behandlung Kants nicht in ein eigenes Kapitel ausgelagert werden, sondern in Zusammenhang der Darstellung Schleiermachers erfolgen. Denn zum einen setzt sich Schleiermacher selbst ausdrücklich und ausführlich zu Kant ins Verhältnis, und zum anderen kann die Kenntnis Kants weit eher vorausgesetzt werden, j a es ist sogar zu vermuten, daß die in heutiger Perspektive singulare Bedeutung Kants für die Philosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allzu oft anachronistisch dem Bewußtsein dieser Zeit selber unterstellt wird, und daß dies zu einer Überschätzung des Einflusses Kants auf Schleiermacher führt.

1. »Ueber das höchste Gut«

195

dieser in der »Rhapsodie« (106,37) »Ueber das höchste Gut«4 erwähnt, und es ist höchstes Kompliment, wenn es etwa von Piaton heißt, obzwar »er uns das Bild des Vernunftgesezes (...) nicht so vollendet und mit so lebhaften Farben« dargestellt habe »wie HErr Kant, so finde() man doch mit leichter Mühe die Hauptzüge desselben in seinem Gemälde« (109, 31-33). Gleichwohl kann man nicht sagen, daß dieses Interesse einen völligen Bruch in Schleiermachers Entwicklung, eine weitgehende Selbstdistanzierung von der schulphilosophischen Prägung anzeigt. Schleiermacher erkennt selbst an, daß im »System der Vollkommenheit«, das »zu unsern Zeiten das gewöhnlichste ist« (120,26f.), mithin in der Ethik der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie, der »Grundsaz (...): befördere Deine größtmöglichste zufällige Vollkommenheit« (121,4f.) »das reine Sittengesez voraus(setze), er ist eine Anwendung desselben auf eine gegebne psychologische Natur und es ist so weit nichts daran auszusezen« (121,11-13). Seine Kritik entzündet sich erst an der Behauptung, die Orientierung am höchsten Gut der Vollkommenheit ziehe ipso facto - »und zwar nothwendiger weise« (121,16) Glückseligkeit nach sich (vgl. 121,14-16), oder die Verbindung von höchstem Gut und Glückseligkeit sei »synthetisch« und erfolge durch »natürliche CausalVerbindung« (124,4f.; im Original hervorgehoben). Schleiermacher sieht freilich deutlich, daß die Vollkommenheitsethik keineswegs eudämonistisch ist 5 . Der ursprüngliche, auf das momentane empirische Wohlergehen bezogene Glückseligkeitsbegriff könne »sich mit ihrem Begrif der Vollkommenheit eben so wenig vertragen als mit andern Ideen des höchsten Guts« (121,21-23). In der Tat hatte Eberhard Glückseligkeit näherbestimmt als Zustand, worin jemand »wahres Vergnügen ununterbrochen genießt« (SdV §3, S.3; im Original durchgängig gesperrt), das Kriterium der Wahrheit hatte er aber nicht im Vergnügenscharakter des Vergnügens selber, nicht in Intensität und Extension der vergnügenbereitenden

4

KGA 1/1, 81-125. Die Schrift ist wahrscheinlich noch während Schleiermachers »Hallenser Studienzeit in den ersten Monaten des Jahres 1789« entstanden (so Meckenstock, KGA 1/1, XLI). Schleiermacher hatte offenkundig vor, ihr eine Reihe von weiteren »Philosophischen Versuchen« (KGA V/1, 139: Brief 119 vom 22.7.1789, Z. 240) folgen zu lassen, wozu Pläne von Dilthey in den »Denkmalen« auszugsweise mitgeteilt sind (vgl. KGA 1/1, XX). Davon kamen allerdings wohl nur eine (nicht überlieferte) Abhandlung über den »gemeinen Menschenverstand« (Denkmale, 5) und der (in der Planskizze nicht erwähnte) Aufsatz »Ueber das Naive« (KGA 1/1, 177 - 187; vgl. dazu oben Kap. 3, 1.) zustande. Ebenso unausgeführt blieb der Plan, zusammen mit Brinckmann »kritische() Briefe« zu verfassen (Denkmale, 5; vgl. KGA 1/1, XXIf.).

5

Vgl. oben Kap. 2, 1.2.

196

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

Empfindung gefunden, sondern in der externen Instanz der Vernunft 6 . Die Glückseligkeit der Vollkommenheitsethiker besteht also, wie Schleiermacher zurecht konstatiert, im »Genuß der meisten und besten Vergnügungen (...), welche in einem gewißen Zustand zusammen bestehn können« (121,24f.), und schließt deshalb viel Angenehmes aus, viel Unangenehmes ein (vgl. 121,25f.), indem die Vernunft nach Maßgabe der von ihr selbst erkannten und bestimmten »wesentlichen Vollkommenheit der menschlichen Seele«, die in einem harmonischen »Verhältniß der Kräfte und Neigungen in Absicht auf ihren praktischen Einfluß« besteht (121,7-9), zwar an sich angenehme, aber momentan zu Disproportionalität führende, oder momentan angenehme, jedoch zukünftige Störungen des Gleichgewichts erwarten lassende Neigungsrealisierungen verhindert oder umgekehrt zugunsten längerfristiger Wesensentsprechung kurzfristige und partielle Einschränkungen des Wohlbefindens einzugehen und zu ertragen lehrt. Durch diese Rückbindung des Glückseligkeitsbegriffs an die Harmonie aller in einem Seelenmoment enthaltenen Kräfte und Neigungen scheint dieser nun zwar an Konkretheit und Realisierbarkeit zu gewinnen, in Wahrheit aber verliert er dadurch alle Bestimmtheit, da die Selektion der momentan zu betätigenden Einzelneigung(en) und deren Redintegration in das Ensemble der Seelenkräfte schon für jeden Moment der Einzelseele, um so viel mehr jedoch unter verschiedenen Menschen, eine differente Relationierung der Seelenregungen und damit eine differente Gewichtung der einzelnen Neigungen ergibt, so daß die Glückseligkeit »in jedem Subjekt, in jedem Zustand gewiße Theile haben [wird,] die bei keinem andern dazu gehören würden« (121,34f.). Über diese Inkommensurabilität der einzelnen Glückseligkeitsmomente hinaus gerät diese Konzeption in den Widerspruch, daß sie zugleich die Harmonie aller Seelenkräfte bewahren und die Realisierung möglichst vieler einzelner Neigungen fördern muß, wo doch die Realisierung einer Neigung diejenige zumindest einiger anderer Neigungen im selben Moment verhindert, deren Bildung und Entfaltung dadurch möglicherweise nachhaltig gestört wird, was wiederum schwerwiegende und schwer zu behebende Gleichgewichtsverschiebungen in der Gesamtseele verursacht. Um das zu vermeiden, kann die Vernunft als Selektions-, Steuerungs- und Gewichtungsorgan wie gezeigt zwar die Betätigung gewisser Einzelvermögen zeitweise unterdrücken; damit handelt sie aber strenggenommen ihrem eigenen Auftrag zuwider, indem sie dann »befehlen [wird,] grade diejenigen Neigungen im Zaum zu halten, grade diejenigen Vermögen etwas zu schwächen, von welchen wir uns bewußt sind, daß sie 6

Vgl. ebd.

1. »Ueber das höchste Gut«

197

den meisten Reiz für uns haben, daß sie uns das meiste Vergnügen gewähren«, weil sie andernfalls »ja befürchten [müßte], daß diese mit der Zeit die Oberhand gewinnen, und die Maximen ihres Interesse(s) nach und nach alle übrigen verdrängen möchten« (122,6-11). Glückseligkeit und Vollkommenheit erhalten sich dann gegen die Voraussetzung nicht proportional zueinander: Vervollkommnung geht einher mit Glückseligkeitseinbußen (vgl. 122,11-13). Daß Vollkommenheit keineswegs notwendig Glückseligkeit mit sich führt, zeigt sich schließlich auch in der Überlegung, daß Vollkommenheit nichts weiteres als eine interne Relation von Seelenvermögen darstellt, Glückseligkeit aber jedenfalls nicht unabhängig von der »Art wie diese Kräfte von außen afficirt werden« (123,3f.; Hervorhebung von mir) und mithin nicht unabhängig von den kontingenten »Umständen« (123,5) gedacht werden kann. Selbst wenn wie bei der Selbstbetrachtung das Bewußtsein von der erreichten eigenen Vollkommenheit höchst angenehm affiziert sein sollte, so kann es nicht ausschließen, daß bei widrigen externen Verhältnissen das der Vollkommenheit entspringende Vergnügen von den Dissonanzen der Außenwelt bei weitem übertönt wird, so daß Sittlichkeitsbewußtsein (Vollkommenheitsbewußtsein) und das Gefühl von Unglück zusammen auftreten können (vgl. 122,37 - 123,13). Als Resultat ergibt sich somit, daß der Vollkommenheitsbegriff genau dann nicht zur Bestimmung des höchsten Gutes tauglich ist und genau dann inkonsistent wird, wenn er über die Darstellung des sittlichen Ideals hinaus die konkrete, der Empfindung der harmonischen Entfaltung der Seelenkräfte sich verdankende Glückseligkeit von Individuen zu integrieren sucht und sich damit von Faktoren abhängig macht, über die die Selbsttätigkeit (auf der allein aber sittliche Zurechnung aufruht) gar nicht verfügt. Der Vollkommenheitsbegriff selbst (in der 'gereinigten' Fassung) scheint von dieser Kritik nicht getroffen zu werden. Es mag damit zusammenhängen, daß Schleiermacher das Vernunft-Verständnis der Schule hier nicht kritisiert, obwohl die Beschreibung der Vernunft als kybernetische Instanz der Harmonisierung der Seelenkräfte doch recht genau jener Funktionalisierung der Vernunft zum »Verwalter und Rechnungsführer der übrigen« Neigungen entspricht (94,22), die Schleiermacher zufolge blind ist »für das besondre Interesse der Vernunft« (94,21). Schleiermacher sieht durchaus die Ambivalenz, wenn nicht gar Doppelung des schulphilosophischen Vernunftbegriffs, die immer hinter oder neben jener die Empirie organisierenden Vernunft eine zumindest dem Anspruch nach reine, von der Empirie unabhängige, deduktiv vorgehende Vernunft aufscheinen läßt, wenngleich diese Reinheit bloße Behauptung bleibt bzw. sogar als auf verdeckten empi-

198

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

rischen Bedingungen beruhend aufgewiesen werden kann 7 . Er kennzeichnet die schulphilosophische Ethik nämlich als »Vermischung des Platonischen und Aristotelischen« (120,28f.). Dabei bilden die Annahme einer rein vernünftigen Bestimmbarkeit des Menschen und die Zielangabe der Dominanz der Vernunft über »unsre übrigen Kräfte« mitsamt der »Regel (...,) daß wir alle unsre Seelenvermögen nur in dem Maaß anbaun, cultiviren und stärken sollen, als sie die Gebote der Vernunft annähmen (...), diejenigen aber (,) die sich ihr gänzlich widersezten und ihrer Natur nach immer widersezen müßten, die sollen wir so viel möglich schwächen und im Zaum halten« (120,30-36), die platonische Seite, die von Schleiermacher als mit der »Vollkommenheit unserer neuen Sittenlehre« (120,36f.) übereinstimmend approbiert wird. Die ganze Wucht der mit schneidender Schärfe vorgetragenen Verwerfung trifft hingegen Aristoteles und sein in der Vollkommenheitsethik präsentes Erbe (vgl. zunächst 120,37 - 121,3, dann aber vor allem 110,20 - 112,12). Dieser gilt ihm als der »consequenteste() der empirischen Moralphilosophen«, den er nur anführe, um »zu zeigen (,) wie nichtig alle diese Systeme sind und wie häßlich sie aussehn, wenn man sie näher zergliedert« (110,26-28). Sein höchstes Gut bestehe allein in der Glückseligkeit (vgl. 110,23f.), die einem Agglomerat von empirisch aufgelesenen »Tugenden« (110,35) entspringe, wobei die Vernunft nur noch die nachgeordnete Aufgabe von deren vergnügensteigernder Strukturierung und Zusammenordnung habe (vgl. 110,33-35). Je nach Umständen und individuellen Vorlieben vermag eine solche Vernunft dann untereinander völlig verschiedene und nicht aufeinander oder auf eine ihnen zugrundeliegende und ihre Beurteilung ermöglichende Einheit zurückzuführende, jede für sich gleich schlüssige Systematisierungen hervorzubringen; Aristoteles' System kann daher nicht verhindern, daß es selbst als willkürlich (ohne »Nothwendigkeit« [111,8]) und sich »einer bloßen Voraussezung« (111,9) verdankend erscheint. Da er mithin keine reine (von der Empirie und ihren Bedingtheiten unabhängige) und zugleich praktische (Willensbestimmung ermöglichende) Vernunft kenne, müsse er auch die Bedeutung der innerpsychischen intentionalen Prozesse (»Gesinnungen«, »innere Beschaffenheit der Seele«, »Verhältniß der Neigungen gegen einander« [ l l l , 2 6 f . ] ) zu einer bloßen »todte(n) Kraft« (111,28) herabstufen; ethisch relevant werde ihm erst »die Anwendung derselben in äußern concreten Handlungen« (11 l,28f.). Dementsprechend kenne er auch nicht die »Idee des wahren persönlichen Werths« (111,25), der ja unabhängig sein muß von allen nicht selbst zu verantwortenden, und das heißt von den allermeisten äußeren Um7

Vgl. oben Kap. 2, 1.4.

1. »Ueber das höchste Gut«

199

ständen, bzw. genauer gelange der Mensch zu einer ebensolchen persönlichen Bestimmung nur durch praxisferne, weitabgewandte Spekulation, durch welche Schlußpointe seines Systems Aristoteles freilich implizit sein »mit so vielem Aufwand zusammengesezt(es)« (112,9) Glückseligkeitskonzept wieder dementiere und faktisch reine (wenngleich irrigerweise nicht praktische) Vernunft in ihr angestammtes Regime wiedereinsetze. So hellsichtig Schleiermacher hier die Inkonsistenz der schulphilosophischen Synthese von reiner Vernunft und empirischer Psychologie diagnostiziert (und deren eklektizistische Methode trefflich durch idealtypische Zuordnung zu Piatonismus und Aristotelismus kennzeichnet), so entschieden er Aristoteles zum Gegenbild einer nicht-allgemeinen, empirisch-beliebigen, selbstbesonnene Distanz zu den kontingenten Verhaltensnötigungen verunmöglichenden Ethik stilisiert 8 , und so sehr die Konzentration der Sittenlehre auf die vernünftige Willensbestimmung sich Kant verdankt: ebenso deutlich ist, daß von dieser Kritik Schleiermachers von Eberhard angeregte Aristoteles-Anmerkungen nicht mitgetroffen sind. Denn diese hatten zwar hohe Unsicherheit gezeigt in der Bestimmung von Genese und materialem Gehalt des Sittlichkeitswissens, und es hatte sich der Interpretation nahegelegt, eine Erzeugung von sittlicher allgemeiner Verbindlichkeit im Medium intersubjektiver Ausbreitung und wechselseitiger Plausibilisierung von Verhaltensorientierungen, gekoppelt mit der wechselseitigen Annahme und Zuschreibung eines ursprünglichen und latenten, vermittels sozialer Anamnese wiederzuerweckenden bei allen identischen Tugendwissens, zu erwägen 9 ; gleichwohl hatte Schleiermacher keinen Zweifel daran gelassen, daß er eine situative, die Verhaltensnormen rein aus kontingent-empirischen Bedingungen induktiv ableitende Ethik ablehnte 10 . Zudem - und das ist der entscheidende Punkt - läßt es sich zeigen, daß die an den Aristoteles-Anmerkungen herausgearbeitete Problem- und Motivkonstellation sich auch in den jetzt zu

8

Dieses Bild verdankt sich nicht eigener eingehender Beschäftigung mit Aristoteles, sondern trägt Kants Glückseligkeits-Begriff in die Aristoteles-Deutung ein. Allerdings plante Schleiermacher in seiner Drossener Zeit (ab Mai 1790), in einer »Abhandlung über den gemeinen Menschenverstand« die »empiristische Meinung« des Aristoteles zu widerlegen, die grundlegenden »ersten Urtheile« für das sittliche »Orientiren« beruhten »auf Analogie und Induktion« (Dilthey, Denkmale, 5, zitiert nach KGA 1/1, XX). - Zu Schleiermachers späterer sehr viel ausgewogeneren Beurteilung des Aristoteles vgl. Moxter, Güterbegriff, 61.

9

Vgl. oben Kap. 1, 2.1. und 2.6.3. Vgl. oben Kap. 1, 2.1. und 3.1. Das gleiche gilt im übrigen für Eberhard: Die Empfindung trägt das Kriterium ihrer Sittlichkeit nicht in sich; vgl. oben Kap. 2, 1.2. und 1.4.

200

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

behandelnden Texten - bei modifizierten und vielfältig geklärten Theoriemitteln - durchhält. Denn Schleiermacher entkoppelt zwar in durchaus (aber, wie der Verweis auf Piaton zeigt, nicht ausschließlich) Kantischer Manier Sittlichkeit und Orientierung am Wohlbefinden, vernünftige Willensbestimmung und Realisierungsoptionen, Sittenlehre und Glückseligkeitsregeln und radikalisiert diese Diastase sogar noch, indem er auch Kants subtile Wiedereinführung der Glücksvorstellung in das höchste Gut (und damit - da daran Kants Postulatenlehre hängt - auch allen religiösen Einfluß auf die Ethik) eliminiert; durch eine feine, aber ungemein folgenschwere Unterscheidung von Kant wird er jedoch genötigt, das Interesse an der Realisierung vernünftiger Willensbestimmungen bzw. an den Bedingungen solcher kontingenter Realisierungen und an der Beeinflußbarkeit dieser Bedingungen festzuhalten. Indem er nämlich gegen Kant eine unmittelbare Wirkung der Vernunft auf den Willen bzw. genauer den nicht-'pathologischen', die 'pathologisch'-sinnlichen Neigungen nur niederschlagenden Charakter des als Vermittlungsorgan (»Triebfeder«) der Vernunft in der Psyche fungierenden moralischen Gefühls der Achtung vor dem Gesetz ablehnt 11 , steht er vor der Frage, wie das dann in das Ensemble der Neigungen integrierte (wenngleich rein vernünftig bestimmte) moralische Gefühl einen Seelenmoment so zu dominieren vermag, daß der Mensch sich zu sittlichem Handeln entschließt, und über die externe Affizierbarkeit der Seele stellt sich die weitere Aufgabe ein, zumindest zu untersuchen, welche kontingenten äußeren Verhältnisse dem Dominantwerden sittlicher Orientierungen in der Psyche förderlich sind, wie die Herstellung solcher Verhältnisse ihrerseits durch eigenes oder fremdes Handeln oder Unterlassen gefördert werden kann und besonders wie kontingent-partikulares Realisieren (Darstellen) sittlicher Willensbestimmungen zurückwirkt auf die innerseelischen Durchsetzungschancen des Sittengefühls. Es führt deshalb in die Irre, sich von Schleiermachers emphatischer Abstoßung der Glückseligkeitsthematik aus dem Feld der Moralphilosophie die Richtung vorgeben zu lassen; die entscheidende Pointe der Gedankenführung liegt vielmehr in jenem vorgeblichen Appendix des Textes, wo die trotz sittlich-vernünftiger Irrelevanz noch verbleibende Bedeutung der Glückseligkeitsidee behandelt wird 1 2 . Hier wird die die weitere Denkentwicklung Schleiermachers antrei-

11

Dies ist genauer entfaltet in den Notizen zu Kants Kritik der praktischen Vernunft (KGA 1/1, 127 - 134). Vgl. unten 2.

' 2 Vgl. auch den Hinweis bei Herms, Herkunft, 116 Anm. 27!

1. »Ueber das höchste Gut«

201

bende Spannung gegründet und fixiert, wie sich an den Freiheitsschriften zeigen wird 1 3 . Doch zunächst ist der Weg dorthin zu skizzieren.

1.2. Kulturhistorische Rekonstruktion des Glückseligkeitsbegriffs und Nachweis von dessen systematischer Inkonsistenz Schleiermacher kann die Frage offenlassen, ob »(r)eine Vernunftbegriffe« wie der des höchsten Gutes »schon von Natur in uns vorhanden« seien (84,7f.); denn jedenfalls können sie nicht durch sich selber »an das Tageslicht« kommen (84,10), sondern bedürfen einer sinnlichen »Veranlaßung« (84,11). Diese Veranlassung darf aber nicht in den Begriff selbst hineingenommen werden, da dieser sonst seinen unbedingten und allgemeinen, sprich: seinen Vernunftcharakter verliert. Eben dies ist aber beim Begriff des höchsten Gutes geschehen, indem er mit dem Begriff der Glückseligkeit (des sinnlich-empirischen Wohlbefindens), der eigentlich nur die Funktion einer veranlassenden »Hebamme« (84,14) haben sollte, notwendig verbunden wurde. Eine Begriffsbestimmung des höchsten Gutes geht deshalb am besten so vor, daß sie historisch die Genese dieser Verquickung rekonstruiert, systematisch deren Unhaltbarkeit aufweist und einen alternativen, »reinen« Begriff entwickelt. Die Begriffsklärung vollzieht sich deshalb zunächst und weitgehend als Begriffsgeschichte in systematischer Absicht (vgl. 83,3 - 84,5). Schleiermacher entfaltet dabei zunächst die anthropologische Unvermeidlichkeit einer Idee der Glückseligkeit in gattungsgeschichtlicher Perspektive (wobei der Urgeschichte der Menschheit die Bildungsgeschichte jedes Individuums exakt korrespondiert [vgl. 107,10f.]), unter bemerkenswerter beständiger Berücksichtigung sozialstruktureller Faktoren und Entwicklungen. Als Reflexions-Idee setzt sie die Gelegenheit voraus, »ein wenig Aufmerksamkeit auf sich selbst [zu] wenden«, »sich in sich selbst [zu] orientiren« (85,2f.), und erfordert mithin ein Minimum von Freiheit von der permanenten Nötigung unmittelbarer Lebenserhaltung und Bedürfnisbefriedigung (vgl. 84,23 - 85,1). Die dabei freigesetzte elementare Orientierung des Wünschens an dem Erstreben angenehmer und dem Vermeiden unangenehmer Empfindungen (vgl. 85,4) findet freilich in primitiven Gesellschaften nur einen höchst eingeschränkten und wenig variablen Gegenstandsbereich vor (vgl. 85,8f.), und so ist »Wiederholung« (85,11) bzw. »Verlängerung« (85,17; im Original gesperrt) von einmal als

'3

Thematisch wird diese Spannung in WL. Vgl. unten Kap. 6.

202

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

angenehm Empfundenem die erste Technik der Erlangung und Wahrung von Wohlbefinden; es bildet sich ein gleichsam realistischer Fundus von Wünschenswertem. Durch die Wahrnehmung gradueller Unterschiede in den Empfindungen tritt bald auch die Möglichkeit der Intensitätssteigerung angenehmer Erfahrungen in das Blickfeld (vgl. 85,13-18). Aber erst der Übergang vom gleichförmigen Hirten- ins abwechslungsreiche, Findigkeit erfordernde Jäger- und Fischerdasein habe »das wichtigste Stük der Zusammensezung« (85,19f.) des Begriffes ermöglicht, nämlich die Ausweitung des Gesichtskreises möglicher Gegenstände des Vergnügens, was, da die »Fantasie« von den ihr durch die Empfindungen vorgezeichneten Bahnen abhängig bleibt (vgl. 85,5-8 14 ), deren Fähigkeit zur Vergegenwärtigung von nicht-präsentem und auch real momentan nicht präsentierbarem Angenehmen ungemein erhöht. Genau hier zeigt sich aber bereits die Aporie des nun vollständig als Zustand größtmöglicher Verlängerung, Erhöhung (Intensivierung), Vermehrung und Abwechslung angenehmer Empfindungen bestimmten Glückseligkeitsbegriffs. Denn dieser Zustand ist nicht als real zu denken, da die »Einbildungskraft« als zu ihm gehörig immer mehr Angenehmes appräsentiert, als der Augenblick zu fassen vermag, und da es auch in sich gegensätzliche Neigungen gibt, die prinzipiell nicht gleichzeitig realisiert werden können 15 . Aber auch der Gedanke einer sukzessiven, die Entfaltung widerstreitender Neigungen auf verschiedene Zeitstellen verteilenden Realisierung der Vergnügenstotalität hilft nicht weiter; denn die bereits realisierte Neigung hindert die Entfaltung der noch nicht realisierten entgegengesetzten, und zwar sowohl direkt durch ihren 'Entwicklungsvorsprung1 als auch indirekt, indem sie eben dadurch ein unverhältnismäßiges Gewicht im Gesamtzusammenhang gewinnt und dessen innere Harmonie stört, wenn nicht zerstört (vgl. 87,12-15, besonders 14f.). Das »Land der Glükseligkeit« kann mithin »nur in den wundervollen Gegenden liegen (...), wo die Einbildungskraft allein unumschränkt herrscht und mit einem einzigen magischen Schlag alles zusammenbringt (,) was uns übrigen ewig unvereinbar scheinen muß« (87,9-12). Schleiermacher setzt in seiner Argumentation freilich implizit bereits die schulphilosophische Verbindung des Glückseligkeitsgedankens mit einem Begriff von Vollkommenheit voraus, der diese als harmonische Entfaltung aller Neigungen faßt. Nur dann leuchtet nämlich ein, warum es nicht hinreichend sein sollte, Glückseligkeit

Vgl. ähnlich in FG das Verhältnis von Empfindungsfähigkeit und Einbildungskraft; vgl. unten 2. Vgl. 87,12: »was uns übrigen ewig unvereinbar scheinen muß«; Hervorhebung von mir.

1. »Ueber das höchste Gut«

203

in der Abfolge beliebiger Vergnügungen und in einem kontingenten, je individuell-partikularen System untereinander kompatibler Neigungsrealisierungen zu suchen. Andererseits geht Schleiermacher weit über die Schulphilosophie hinaus, wenn er die Totalität aller möglichen angenehmen Empfindungen als das (notwendig als erreichbar zu unterstellende) Ziel allen menschlichen Glücksstrebens behauptet und daraufhin aufgrund erwiesener Inkonsistenz verwirft, eine 'regulative' Verwendung des Glückseligkeitsbegriffs dagegen gar nicht erst erwägt. Er unterschiebt also seiner phänomenal-entwicklungsgeschichtlichen Rekonstruktion des Glückseligkeitsbegriffs das Vollkommenheitsverständnis der Schule, argumentiert aber gewissermaßen schulgemäßer als die Schule, indem diese inkonsequenterweise nicht die radikale und unbedingte Aktualisierung und Intensitätssteigerung aller Neigungen fordert, sondern nur die der momentan gegenwärtigen und der mit der momentanen Konstellation vereinbaren. Erst Schleiermachers Konsequenz, den Einheits- und Totalitätsanspruch des Vollkommenheitsbegriffs voll auf den Glückseligkeitsbegriff anzuwenden, offenbart (oder sollte man sagen: produziert?) dessen Inkonsistenz. Eberhard etwa konnte dagegen durchaus ganz harmlos von der anzustrebenden Akkumulation und Abwechslung möglichst vieler angenehmer Empfindungen ohne Anspruch auf (ja nie gänzlich erreichbare) Vollständigkeit sprechen 16 . Beachtet man freilich, daß Schleiermacher diesen Glückseligkeitsbegriff als unbestimmt kritisiert hatte 17 , so ergibt sich als die präzise Pointe der »natürliche(n) Geschichte« (107,6) 18 der Glückseligkeits-Idee, daß diese sich zwar in der Gattung und in jedem ihrer Individuen notwendig (»unvermeidlich[]«, 86,28) entwickelt, daß sie aber zur Verhaltensorientierung deshalb untauglich ist, weil sie entweder, wenn sie auf die konkretpartikularen Möglichkeiten der einzelnen Individuen bezogen wird, in allgemeiner Hinsicht unbestimmt ist und darum letztlich auch dem Einzelnen selbst keine Distanz zu seinen eigenen Neigungen ermöglicht, oder, wenn sie durch die ordnende Vernunft in einen systematischen und vollständigen Zusammenhang gebracht wird, ihre logische Inkonsistenz und psychologisch-empirische Unrealisierbarkeit erweist. Damit ist der weitere Weg der Argumentation vorgezeichnet: Einerseits sind alle Versuche aufzugeben, die Orientierung des Verhaltens an Glückseligkeitsvorstellungen durch Verbesserungen oder Einschränkungen des GlückseligkeitsZ>egn#s oder durch kla16

Vgl. SdV § 8, S. 8; § 15, S. 17; § 17, S. 20.

17

Vgl. oben 1.1.

18

Vgl. 107,28f.: »Uebergang von der natürlichen Geschichte zur wirklichen«.

204

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

rere Bestimmungen des Weges zur Glückseligkeit aufrechtzuerhalten (vgl. 87,31 - 88,6); vielmehr muß versucht werden, »die Frage: in wie fern es möglich sei (,) die menschlichen Handlungen gewißen Regeln zu unterwerfen (,) die unter sich in einem ordentlichen Zusammenhang wären« (88,1316; im Original ab »in wie fern« gesperrt), ohne Bezug auf die Glückseligkeitswünsche zu beantworten, und das heißt für Schleiermacher: eine rein vernünftige Sittenlehre zu entwerfen. Andererseits müssen diese Wünsche, eben weil sie unvermeidlich aufsteigen, einen Ort in der Theorie vom Menschen zugewiesen bekommen, an dem sie in ebenfalls unvermeidlicher, aber für die Sittlichkeit selbst keineswegs konstitutiver Beziehung zur Sittlichkeit stehen.

1.3. Der Vernunftbegriff des höchsten Gutes und das reine Sittengesetz Die anthropologische Unvermeidlichkeit der Glückseligkeitsidee und die offensichtliche Diskrepanz zwischen der geforderten Allgemeinheit und inneren Einheit der Vernunftgesetze (vgl. 88,16-19) und der prinzipiell unüberschaubaren Pluralität und Individualität kontingenter empirischer Konstellationen behindern freilich beständig die Emanzipation der praktischen Vernunft von der Sinnlichkeit, verdunkeln die sachliche Angemessenheit dieses 'gereinigten' Vorgehens und damit dessen Überzeugungskraft und führen schließlich (wie die Sichtung der philosophischen Tradition Schleiermacher zur Genüge zeigt [vgl. 107 - 123]) immer wieder zum mehr oder weniger verdeckten Wiedereindringen empirischer Maximen in die Sittenlehre. Diese Problemlage ist in Schleiermachers Entwicklung des Begriffs des höchsten Gutes immer mit präsent und bestimmt unterschwellig die Argumentationsrichtung. »Der Begrif des höchsten Guts (...) sagt die Totalität dessen aus, was durch reine Vernunftgeseze möglich ist« (92,12-14). Damit ist - wie Schleiermacher unter Berufung auf Kant festhält - ausgeschlossen, daß er unabhängig von dem Begriff eines rein vernünftigen Sittengesetzes gebildet wird (vgl. 89,23 - 90,4). Ausgeschlossen ist damit ebenfalls, daß dieses Sittengesetz nur als »Mittel« zur Erreichung eines »Zwekes« in Gestalt eines wenngleich vernunftgemäßen Guten erscheint. Denn das höchste Gut kann kein Zweck sein: Ein Zweck heiligt Mittel, die ihm äußerlich sind, Gutes darf aber nur durch Gutes angestrebt werden, das Mittel wäre dann jedoch Teil des Zweckes, ein Teil kann aber nicht Mittel des Ganzen sein (vgl. 90,1036). Ebenso wenig ist das Sittengesetz ein Mittel: Es enthält nur die »Form« (90,38; Hervorhebung von mir) der Realisierung der Teile des höchsten

1. »Ueber das höchste Gut«

205

Gutes, ist also nicht aus sich selbst der Realisierung fähig (vgl. 90,36-39). Dem Verhältnis entspricht vielmehr eher die mathematische Metapher von Funktion und Kurve: Das Sittengesetz ist die Zuordnungs-, Identifizierungs- oder Beurteilungsregel, das höchste Gut der vollständige »Inbegrif« (90,40), der graphisch als kohärente Linie darstellbare Zusammenhang alles durch Anwendung der Regel Realisierbaren. Die Kenntnis der Formel ermöglicht die Identifikation von bereits realisiertem oder von zu realisierendem Guten. Die Einheit des Sittengesetzes begründet mithin unmittelbar die innere Konsistenz des höchsten Gutes und die Kompatibilität von allen dessen Teilen. Aus dem damit gegebenen »Grundsaz der Consequenz« (91,23) folgt für Schleiermacher, daß es keine »Pflicht(-)Collisionen« (93,10) geben kann; diese können nur daher rühren, daß das Sittengesetz »unter einer unrichtigen Formel gedacht und angewandt wurde« (93,11 f.). Per definitionem kann kein Gutes in Konkurrenz zu anderem Guten treten. Faktisch auftretende »Collisionen sowol der Neigungen, als [auch] der zu allgemein entworfenen sittlichen Maximen« (93,24f.; Hervorhebung von mir) müssen vor dem »oberste(n) Richterstuhl« (93,24) der Vernunft durch Korrektur der Maximen bzw. durch Überprüfung der Adäquanz an sich korrekter Maximen für eine bestimmte Situation zur ursprünglichen Harmonie zurückgeführt werden können. Der »Grundsaz der Consequenz« scheint freilich nur die Nichtwidersprüchlichkeit aller sittlichen Maximen aussagen, nur formal das Nichtkompatible ausschließen zu können. Ein positives Kriterium gewinnt das Sittengesetz erst, wenn der Charakter der Vernunft beachtet wird, »daß sie überall, wo sie für sich allein handelt, mit Verachtung alles kleinlichen und subjektiven und aller Einschränkungen und Verhältniße des individuellen, in der größten Allgemeinheit schließt und beschließt« (91,31-34; Hervorhebung von mir); eben dies muß nun für »ein jedes einzelnes ihrer Geseze« (91,35) gelten: »das Gebot, was sie [sc. die Vernunft] mir auflegt (,) ist nicht ein Gesez, welches sie blos mir gibt; es muß sich über alles erstreken, was unter der Herrschaft der Vernunft steht, und so muß es die Probe der Consequenz aushalten« (91,36 - 92,2; Hervorhebung von mir). Blieb schon bei der Metapher von Funktion und Kurve unklar, wie das Verhältnis der einen Kurve des realisierbaren Guten zur Zeit und zu den in der Zeit vielfältig wechselnden Perspektiven einer unendlichen Pluralität endlicher Individuen zu denken sei - muß es nicht individuelle Kurven geben, deren Formel sozusagen eine personbezogene Invariable hinzugefügt

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II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

ist, so daß (wie bei Eberhard 19 ) eine Art individuelles Ideal entsteht? gibt es in jedem Zeitmoment nur genau ein zu realisierendes Gut bzw. genau einen konsistenten Komplex zu realisierender Güter? etc. -, so stellt sich jetzt um so dringlicher die Frage nach der Realisierung des Realisierbaren eben unter den Bedingungen der »Einschränkungen und Verhältniße des individuellen« (91,32f.). Der Begriff des höchsten Gutes »stellt uns (...) den Zustand eines Willens, deßen einzelne Handlungen und Maximen sämtlich den Gesezen der Vernunft gemäß bestimmt sind (,) als [sc. denk-]möglich und mit sich selbst einstimmig vor« (93,1-4). Nun ist aber bei einem Willen, der vollständig, ausschließlich und unmittelbar durch die Vernunft bestimmt ist und der deshalb notwendig und ununterbrochen Teile des höchsten Gutes realisiert, das Vernunftgesetz Naturgesetz. Das aber kann nur von einem der Empirie nicht ausgesetzten Wesen ausgesagt werden (vgl. 100,11-13). Ein solcher Wille kann nicht einmal mehr tugendhaft, sondern nur noch heilig genannt werden, man könnte ihn nur als das »Schema des höchsten Guts ansehn« (93,17f.; Hervorhebung von mir), dessen »Wirklichkeit (...) nur die Einstimmung der Vernunft mit sich selbst beweisen« würde (93,14f.). Es ist aber auch ein Wille denkbar, der nicht notwendig in jedem Moment ausschließlich durch die Vernunft bestimmt sein muß (weil er nämlich im Bereich der Empirie existiert), aber sehr wohl kann und faktisch jedesmal so bestimmt wird. Bei einem solchen Willen erfolgt die vernünftige Willensbestimmung nicht naturgesetzlich automatisch, sondern kontingent durch die zurechenbare Selbsttätigkeit der Entscheidung für die Motive der Vernunft gegen die »besondern subjektiven Begehrungsgeseze« (93,19); erst hier kann man von Tugend sprechen. Aber auch dies ist noch nicht der 'Normalfair unter den Bedingungen des Endlichen. Ein Wille »wie der unsrige« (100,16) kann nämlich gar nicht gegen die »subjektiven Begehrungsgeseze« unmittelbar von der Vernunft bestimmt werden, sondern nur »vermittelst subjektiver von dem Sittengesetz abgeleiteter Bewegungsgründe« (100,17f.). Das hat aber zur Konsequenz, daß diese Bewegungsgründe das Bewußtsein keinesfalls notwendig ununterbrochen, sondern nur kontingent und zeitweise bestimmen, weil sie als kategorial identisch mit anderen subjektiven »Triebfedern« (100,20) zu diesen in Konkurrenz stehen und sich gegen sie jeweils erst durchsetzen müssen. Ein so beschaffener Wille kann nicht kontinuierlich Gutes schaffen. Denn nicht die Vernunft, sondern die »Umstände(), wodurch allein die Wirksamkeit aller subjektiven (...) Triebfedern bestimmt werden kann« (100,25-27; Hervorhebung von mir), bemessen, wie viel »ein solches Begehrungsver19

Vgl. oben Kap. 2, 1.3.1.

1. »Ueber das höchste Gut«

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mögen von dem höchsten Gut realisiren will [!] und kann« (100,23f.). Dies bedeutet aber nicht weniger als eine Kritik von Kants Behauptung, das sittlich Gute müsse als jederzeit faktisch realisierbar angenommen werden, da es uns zu realisieren von der Vernunft unbedingt geboten sei (»Du kannst, denn du sollst«!); es ist für sinnlich affizierte Wesen vielmehr kein »constitutive(s)« Prinzip, »als ob es zu erreichen uns nicht nur möglich sondern auch nothwendig wäre« (100,38 - 101,1), sondern »nur ein regulatives Princip welches wir zum Ziel unsrer Willensbearbeitung sezen müßen, ohne bei irgend einem Grad der Vollkommenheit als dem höchstmöglichsten stehn zu bleiben« (100,35-37). Die Vorstellung eines Willens, der durchgängig kontingent vom vernünftigen Sittengesetz bestimmt ist, gewinnt für den konkreten Einzelnen dann die Funktion eines »genaue(n) Modell(s) der ganzen sittlichen Welt« (93,27f.; Hervorhebung von mir), das je individuell gefärbt ist dadurch, daß es einerseits die präzise Wahrnehmung eigener Unvollkommenheiten ermöglicht und herbeiführt und daß ebendiese Defizienzwahrnehmung andererseits die spezifisch fehlende Vollkommenheit »in einem hervorragenden Glanz« (93,3lf.) erscheinen lassen wird. Freilich bricht durch das Aufgeben der Annahme der Erreichbarkeit des höchsten Gutes eine Kluft zwischen sittlichem Ideal und faktischem Lebensvollzug auf, was erhebliche Schwierigkeiten für die Frage sittlicher Zurechenbarkeit von Handlungen mit sich bringt. In der Schrift »Ueber die Freiheit« bestreitet Schleiermacher denn auch ganz konsequent einen Zusammenhang zwischen der Zurechnung sittengesetzwidrigen Verhaltens und der faktischen Möglichkeit oder Unmöglichkeit, dieses Verhalten zu vermeiden 20 .

1.4. Die Funktion der Glückseligkeit für das Dominantwerden reinvernünftig konstituierter Verhaltensorientierungen in der Einzelpsyche Die beschriebene Kluft zwischen dem Ideal reinvernünftiger Willensbestimmung ohne individuell-empirische Beimischung und individuell-konkretem Lebensvollzug soll »Gewißheit und Verbindlichkeit« (92,21) des Sittengesetzes für diesen Lebensvollzug gerade sichern und keineswegs abschwächen. Die Leugnung unmittelbarer Wirkung der Vernunft auf das Begehrungsvermögen setzt aber die Aufgabe frei, die 'Implantation' sittlicher Orientierungen in kontingente, von vielen Faktoren bestimmte Situationen, die Transformation vernünftiger Gesetze in sinnliche Motive zu 20

Vgl. dazu unten Kap. 5, 2.

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beschreiben. Denn kann die Vernunft das Begehrungsvermögen nicht durch Niederschlagung aller Neigungen sich unterwerfen, sondern muß sich im Ensemble der Neigungen durchsetzen und diese für sich instrumentalisieren, so setzt das voraus, daß sie im Begehrungsvermögen ihrerseits als Neigung präsent sein kann: Die Dominanz sittlicher »Bewegungsgründe« muß auf exakt dieselbe Weise Zustandekommen wie die Dominanz sinnlicher Neigungen. Es muß daher ein moralisches Gefühl geben, das sich - anders als Kant meinte - nicht als nicht-sinnlich von allen anderen Gefühlen unterscheidet, sondern das selber sinnlich ist, wenngleich es den Inhalt, den es appräsentiert, nämlich das vernünftige Sittengesetz, keineswegs sinnlich affiziert oder gar selbst hervorbringt 21 . Die völlige Unabhängigkeit und Ferne des vernünftigen Sittengesetzes von aller Empirie führt mithin paradoxerweise zu einem besonders intimen Eingehen moralischer Verhaltensbestimmungen in die Bedingungen der Sinnlichkeit. Schleiermacher kennt kein der Sinnlichkeit enthobenes, sich selbst ungehindert und unversucht vernünftig bestimmendes und insofern absolut freies intelligibles Subjekt gleichsam 'hinter' dem konkreten Individuum, die beide im sich von der Empirie und ihren Einschränkungen emanzipierenden Willen zusammenkommen; er kennt nur das konkrete Individuum mit dem durchgängig sinnlich bestimmten Begehrungsvermögen, von dem nun in Frage steht, wie sich in ihm unter den nicht abstrahierbaren gegebenen sinnlichen (psychischen, physischen, sozialen) Umständen und Bedingtheiten sittlichvernünftige Orientierungen kontingent Gehör verschaffen und partiell verhaltensbestimmend werden können, so daß - wie auch immer approximativ - das höchste Gut realisiert wird. Erinnert man sich an Eberhards Lehre der fehlenden Stärke und Lebhaftigkeit deutlicher Vorstellungen und der mangelnden Orientierungsfähigkeit von Empfindungen - so daß Denken und Empfinden wie Ruder und Segel eines Schiffes aufeinander angewiesen sind - 2 2 , so wundert nicht, daß durch die oberflächlich betrachtet geringfügigen Verschiebungen im Vergleich zu Kant - die aber eine fundamentale Differenz der Perspektiven indizieren - schulphilosophische Probleme und Konzepte wiederauftauchen. Denn wenn auf der Ebene konkreten Lebensvollzugs die Glückseligkeitsidee sich als unvermeidlich erwiesen hat 2 3 , wenn diese Idee so mit dem Vollkommenheitsbegriff verbunden ist, daß sie in der größtmöglichen gleichmäßigen und untereinander harmonischen Ent21

Vgl. dazu die »Notizen« zu Kants Kritik der praktischen Vernunft (KGA 1/1, 127 134); dazu unten 2.

2 2

Vgl oben Kap. 2, 2 . 2 .

23

Vgl. oben 1.2.

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faltung aller Neigungen besteht, wenn umgekehrt die Realisierung jeder einzelnen Neigung durch den harmonischen Gesamtzustand der Seele gefördert wird (jedenfalls die unverhältnismäßige Dominanz einer Neigung den Gesamtzustand so nachhaltig stört, daß diese Neigung damit die Kontinuität ihrer eigenen Realisierungsbedingungen auf Spiel setzt), wenn aber Sittlichkeit nur als besondere Neigung wirklich werden kann - dann erhöht das Streben nach so verstandenem empirischen Wohlbefinden mittelbar die Realisierungschancen vernünftiger Verhaltensbestimmungen. Dies gilt zumal deshalb, da das Sittengefühl - weil sein »Objekt in einer gewißen Entfernung von unsem Sinnen liegt« - den »Charakter (...) eine(r) leidenschaftlose(n) Sanftmuth« trägt (124,38f.) und so nur einen Seelenzustand dominieren kann, in dem alle Neigungen in einem Gleichgewicht stehen, in dem also nicht bereits eine Neigung die 'Herrschaft' übernommen hat. Indem die Glückseligkeitlehre Regeln vermittelt, wie das Gleichgewicht herzustellen oder zu erhalten ist, also wie etwa eine dominant gewordene Neigung auf eine dem Gesamtzustand zuträgliche Stärke zurückgeführt werden kann, lehrt sie, die Hindernisse vernünftiger Verhaltensbestimmung zu minimieren.

1.5. Systematisch-kritische Rekonstruktion der Geschichte des Begriffs des höchsten Gutes Mit der strikten Aussonderung der Glückseligkeit aus der Handlungsorientierung, mit der positiven Bestimmung der Vernunft als Form und des vernunftgemäßen höchsten Gutes als Inhalt sittlicher Handlungen und mit der These, daß das höchste Gut nicht durch menschliche Handlungen vollständig und permanent realisiert werden kann, hat sich Schleiermacher bei der systematischen Klärung des Begriffs des höchsten Gutes ein Kriterienraster geschaffen, das ihn befähigt, die vorgegebenen Konzeptionen der moralphilosophischen Tradition untereinander zu vergleichen und sachlich zu beurteilen. Umgekehrt läßt die kritische Sichtung der Tradition zusätzliche Aufschlüsse und Präzisierungen hinsichtlich des Begriffes selbst erwarten. Das zirkuläre Verhältnis von Begriffsklärung und historischer Rekonstruktion ist freilich dadurch aufgebrochen, daß die zentrale Pointe der Begriffsbestimmung, nämlich die reine Vernünftigkeit des Sittengesetzes, sich vor allem der Beschäftigung mit Kant verdankt, wenngleich sich schon hier, in der Frage des kontingenten Motivationspotentials der Vernunft und damit zusammenhängend der Realisierbarkeit des höchsten Gutes, eine Selbständigkeit gegen diesen und die Bewahrung schulphilosophischer Problemstel-

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lungen offenbarten. Es ist deswegen keineswegs nur ein Zeichen der Schwäche, die Schleiermacher mit den »gewöhnlichen Menschenkindern« teilt, »welche von dem (,) was sie zulezt gesehen haben (,) am stärksten gerührt werden« (106,34f.), »gleich von der Entstehung des Begrifs vom höchsten Gut bis zu seiner neuesten Bearbeitung überzuspringen« (106,32f.); das Bedürfnis, sich zuerst zu Kant kritisch ins Verhältnis zu setzen, entspricht vielmehr durchaus dessen Bedeutung für die Erarbeitung der kritischen Gesichtspunkte für den Theorievergleich. Das Kokette an diesem Bekenntnis zum Fasziniertsein durch das Aktuelle (angesichts einer Theorie, die die Bedingungen des Dominantwerdens sittlich-vernünftiger Verhaltensorientierungen über sinnlich-empirische 'fascinosa' reflektiert!) sollte gleichwohl den darin liegenden Unterton ironischer Distanzierung nicht überhören lassen, zumal die explizite Kant-Kritik an Schärfe nichts zu wünschen übrig läßt.

1.5.1. Kants Inkonsequenz Kant habe nämlich selber Glückseligkeit in seinen reinvernünftigen Begriff des höchsten Gutes hineingenommen, und zwar weil er die Annahme der Proportionalität von »Wolverhalten und Wolbefinden«, von Tugend und Glückseligkeit, für vernunftnotwendig hielt (vgl. 102,29-31). Diese Notwendigkeit besteht aber nach Schleiermacher nur für einen »unmittelbar und allein durch reine Vernunft« bestimmbaren Willen, bei dem die »völlige Angemessenheit« des Willens »und aller seiner Maximen und Handlungen mit den reinen Vernunftgesezen« notwendig »den besten Zustand und das vollkommenste Wolbefinden« ausmacht (104,19-23). Kants »proton pseudos« (104,31) sei, daß er diese Glückseligkeit »mit der Glükseligkeit eines sinnlich afficirten und durchgängig [!] nur sinnlich bestimmten Begehrungsvermögens« (104,23-25) verwechsle, daß er mithin »die subjektiven Bestimmungsgründe unseres Willens, die aus dem reinen Vernunftgesez abgeleitet werden (,) mit demselben zu sehr identificir(e), und die Vernunft dem Begehrungsvermögen über die Gebühr« nähere (104,32-35). Da er damit das menschliche Begehrungsvermögen mit dem reinen Willen vermische, ohne jedoch die sinnliche und notwendig Wohlbefinden anstrebende Bestimmtheit des Begehrungsvermögens zu eliminieren, gewinne der recht verstanden »ganz unmöglich als ein reiner Vernunftbegrif« denkbare (105,3; vgl. 105,7 - 106,22) Glückseligkeitsbegriff unter der Hand mit einem Mal Vernunft- und Notwendigkeitscharakter. Da Kant aber durchaus sehe (vgl. 102,4f.), daß die Korrespondenz von Tugend und Wohlbefinden unter

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den gegenwärtigen Bedingungen der Sinnlichkeit nicht durch tugendhafte Selbsttätigkeit herzustellen sei, habe er seine Zuflucht in die Postulate einer infiniten Prolongation der Existenz der Einzelseele einerseits, eines die Adäquanz von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit im Jenseits garantierenden und realisierenden Weltrichters andererseits genommen. In einem langen Exkurs (96,24 - 101,27) sucht Schleiermacher zunächst zu zeigen, daß das Gottespostulat im Unsterblichkeitspostulat bereits impliziert ist (vgl. 98,8 99,20) 2 4 , dann aber daß die Verschiebung ins Jenseits das Problem der Proportionalität von Tugend und Glückseligkeit überhaupt nicht lösen kann, da im Jenseits entweder weiterhin die Bedingungen der Sinnlichkeit obwalten und damit die Einschränkungen fortbestehen, die dem Tugendhaften sinnliches Wohlbefinden vorenthalten, oder, wenn dies nicht der Fall ist, über den dermaligen Zustand gar nichts ausgesagt werden kann, und besonders nicht darüber, ob es dann noch so etwas wie Glückseligkeit geben werde (vgl. 102,7-16, vgl. 17-21) 25 . Die Ideen von Unsterblichkeit und Gott sind mithin in praktischer Hinsicht ebenso »überschwenglich()